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German Pages 689 Year 2020
Christoph Nonn
12 TAGE UND EIN HALBES JAHRHUNDERT
Christoph Nonn
1 2 TAG E U N D E I N H A L B E S JA H R H U N D E RT Eine Geschichte des deutschen Kaiserreichs 1871–1918
C.H.Beck
Mit 16 Abbildungen © Verlag C.H.Beck oHG, München 2020 Umschlagentwurf: Kunst oder Reklame, München Umschlagabbildung: Anton von Werner, Die Proklamation des deutschen Kaiserreiches; Gemälde 1885 (3. sogenannte Friedrichsruher Fassung), © akg-images Satz: Janß, Pfungstadt ISBN Buch 978 3 406 75569 9 ISBN eBook (epub) 978 3 406 75570 5 ISBN eBook (PDF) 978 3 406 75571 2 Die gedruckte Ausgabe dieses Titels erhalten Sie im Buchhandel sowie versandkostenfrei auf unserer Website www.chbeck.de. Dort finden Sie auch unser gesamtes Programm und viele weitere Informationen.
I N H A LT S V E R Z E I C H NIS
Gebrauchsanweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Versailles, 18. Januar 1871 . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Bildnis des Künstlers als junger Mann 14 – Festakt mit Hindernissen 19 – Eine schwere Geburt 24 – Risse hinter der Einheitskulisse 31 – Erinnern an die Reichsgründung: Die liberale Ära 41 – Konservative Perspektivwechsel 48 – Nationalgedenken, Heimatgedanke und Moderne 54
Marpingen, 3. Juli 1876 . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Gretchen Kunz sieht die Muttergottes 62 – «Eine einzige grosse Lüge» 68 – Der Wille zu glauben 77 – «Kulturkampf» 85 – Die Zentrumspartei 95 – Religion und Konfession im Kaiserreich 102
Leipzig, 2. Juni 1878 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ein Schock für Julie Bebel 112 – Wege zum Sozialismus 118 – Im Verein ist man weniger allein 129 – «Reichsfeinde» 137 – Die Frau und der Sozialismus 146 – Sozialdemokratie und parlamentarische Demokratie 156
Berlin, 27. September 1883 . . . . . . . . . . . . . . . . . Theodor Lohmann kann nicht anders 162 – Ein Bürger und christlicher Sozialreformer 167 – Vom langsamen Bohren dicker Bretter 173 – Die Grundlegung der deutschen Sozialversicherung 183 – Wessen Sozialversicherung? 193
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Okahandja, 21. Oktober 1885 . . . . . . . . . . . . . . . .
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Samuel Maharero unterschreibt einen «Schutzvertrag» 208 – Die Deutschen und Afrika 215 – Geschäfte auf Gegenseitigkeit 223 – Siedlungskolonie «Deutsch-Südwest» 233 – Der Weg zum Völkermord 244 – Dunkler Kontinent Europa 250
Berlin, 15. März 1890 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ein alter Herr mag nicht gehen 262 – Kanzler und Kaiser 270 – Land im Umbruch 278 – Bismarck und die letzte Forelle 287 – «Neuer Kurs»? 295 – «Der Kurs bleibt der alte, und nun Volldampf voraus!» 303
Kiel, 3. Januar 1896 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Der Admiral kann warten 314 – Leben von der Marine 321 – Flottenpolitik, Weltpolitik, Bündnispolitik 329 – Schlachtflotte und «nationale Sammlung» 338 – Faszinierende Spektakel 348
Konitz / Westpreußen, 11. März 1900 . . . . . . . . . . . .
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Stolz und Vorurteil 358 – Anna Roß, Meistererzählerin des Ritualmordgerüchts 367 – Ganz andere Gerüchte 376 – Die Faszination des Bizarren 384 – Soziale Konflikte, Sündenböcke und Rituale der Demütigung 391 – Antisemitismus im deutschen Kaiserreich 396 – Die «Barbarei längst verflossener Jahrhunderte»? 406
Köpenick, 16. Oktober 1906 . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Wilhelm Voigt kauft eine Uniform 412 – Der Hauptmann von Köpenick 419 – Eine Legende wird gemacht 427 – Der Militarismus der anderen 438 – Zivilisten, Soldaten und europäische Moderne 446 – Dreierlei Militärpolitik 453
Norderney, 2. Oktober 1908 . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Reichskanzler hat Urlaub 466 – «Bülow soll mein Bismarck werden» 472 – Novemberstürme 480 – Kaiser, Kanzler und öffentliche Meinung 494 – Das Parlament und die politische Verantwortung 504
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Freiburg, 30. Juli 1914 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die Tränen der Charlotte Herder 518 – Julikrisen 528 – Augusterlebnisse 539 – Fronterfahrungen 551 – Heimatfronten 561
München, 7. November 1918 . . . . . . . . . . . . . . . .
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Felix Fechenbach macht eine Revolution 574 – Der Machtzerfall der Monarchie 584 – Dem Ende entgegen 595 – Die Dolchstoßlegende und andere Hypotheken 606 – Das Erbe des Kaiserreichs 614
Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literaturverzeichnis Zum Weiterlesen . . Anmerkungen . . . Dank . . . . . . . . Bildnachweis . . . .
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G E B R AU C H S A N W E I S UNG
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an kann dieses Buch von Anfang bis Ende lesen. Man muss es aber nicht. Man kann auch am Ende anfangen. Oder mittendrin. Das Buch besteht aus zwölf Geschichten, die einzeln für sich gelesen werden können. Jede dieser zwölf Geschichten behandelt einen Aspekt der Geschichte des deutschen Kaiserreichs. Den Ausgangspunkt bildet jeweils ein bestimmtes Ereignis. Manche dieser Ereignisse haben einen festen Platz in historischen Handbüchern und Zeittafeln. Das gilt etwa für die Proklamation des preußischen Königs Wilhelm zum deutschen Kaiser in Versailles am 18. Januar 1871, für das auf ihn verübte Attentat vom 2. Juni 1878, für die Entlassung Bismarcks am 15. März 1890, für die Julikrise 1914, für die Revolution in München am 7. November 1918. Andere sind weniger bekannt. Wer mit den Orten und Daten, die als Kapitelüberschriften dienen, nichts anzufangen weiß, dem sollten die Zwischentitel im Inhaltsverzeichnis einige Hinweise geben. Oder man schlägt hinten im Buch unter «Zum Weiterlesen» nach, um sich darüber zu orientieren, welche Themen die Kapitel behandeln. Dort finden sich auch einige Bemerkungen zu den wichtigsten Quellen und zentraler Literatur. Die Kapitel sind nach den Daten, die ihnen die Titel geben, chronologisch angeordnet. In dieser Reihenfolge gelesen, ergeben sie vielleicht auch eine Art umfassendere Geschichte des Kaiserreichs, oder zumindest von dessen zentralen Themen: Reichsgründung, «Kulturkampf», Sozialistengesetz, Sozialversicherung, Kolonialpolitik, wirtschaftliche und gesellschaftliche Umbrüche, Flotten- und Außenpolitik, Antisemitismus, Militarismus, das Verhältnis von Parteien, Parlament und Regierung, schließlich der Erste Weltkrieg und der Untergang der Monarchie in der Revolution. Die behandelten Ereignisse dienen dabei jeweils als Aufhänger für längerfristige Entwicklungen. So geht es im Kapitel über die Reichsgründung auch um die Erinnerung daran, und wie sich in dieser
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der Wandel des nationalen Selbstverständnisses und des Nationsgedankens nach 1871 zeigte. Das Kapitel über den «Kulturkampf» behandelt auch den Stellenwert von Religion und die Entwicklung der Zentrumspartei. Die Geschichte des Sozialistengesetzes dient als Aufhänger für die Entwicklung der Sozialdemokratie, und so weiter. Natürlich ist dieses Buch aber keine «Gesamtdarstellung» des Kaiserreichs. Die gibt es nicht und wird es nie geben. Die historische Forschung über die deutsche Geschichte zwischen 1871 und 1918 füllt schließlich ganze Bibliotheken. Zudem kommen ständig neue Erkenntnisse über diese Zeit hinzu, werden lange für Gewissheit gehaltene Annahmen widerlegt, ändern sich die Fragen, die in der Gegenwart an die Vergangenheit gestellt werden. Jeder Versuch, eine alle Aspekte der Zeit berücksichtigende, definitive Geschichte des Kaiserreichs zu schreiben, wäre deshalb von vornherein zum Scheitern verurteilt. Die meisten Leser werden daher auf den folgenden Seiten das eine oder andere vermissen. Mir als Autor geht es nicht anders. Aber irgendwann muss jedes Buch einmal fertig werden. Das geht nicht ohne das manchmal schmerzhafte Setzen von Prioritäten, über die sich dann im Einzelnen streiten lässt. Das Buch ist kein «Handbuch». Es ist ein Lesebuch. Das hat zum einen etwas mit meiner grundsätzlichen Skepsis gegenüber der Idee des Handbuchs zu tun. Diese Idee scheint mir der naiven Vorstellung verwandt zu sein, dass man getrost nach Hause tragen kann, was man schwarz auf weiß besitzt. Tatsächlich vermitteln aber sogenannte Handbücher ebenso wenig zweifelsfreie Wahrheiten wie das Internet oder die Zeitung. Zum anderen gibt es bereits viele solcher Handbücher über die Geschichte des Kaiserreichs. Manche davon erinnern an ein Sandwich: Sie bestehen aus zwei Hälften Politik mit sozialhistorischer Füllung in der Mitte und einem Klecks Geschlechtergeschichte als Zugabe obendrauf.1 Andere kultivieren die Disziplin des Dreisprungs: Sie handeln nacheinander Wirtschaft, Gesellschaft und Politik ab. Manchmal wird dann noch Kultur als vierter Kategorie größerer Platz eingeräumt,2 manchmal wirken die wenigen Seiten darüber aber auch eher wie ein kümmerlicher Wurmfortsatz.3 Vor allem aber konzentrieren diese Handbücher sich auf Strukturen und vermitteln damit ein eher statisches Bild des Kaiserreichs. Im vorliegenden Buch stehen stattdessen die Menschen im Mittelpunkt, ihr Han-
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deln und ihre Erfahrungen. Natürlich wirken Strukturen auf Menschen ein, prägen sie, setzen ihnen Grenzen. Aber es sind auch Menschen, die diese Strukturen machen, sie verändern oder zerstören. In jeder der Geschichten dieses Buches spielt ein bestimmter Mensch die Hauptrolle. Unter den Akteuren sind Reichskanzler, Kaiser und ein Admiral – aber auch ein katholisches Bauernmädchen von der Saar; eine politisch engagierte Putzmacherin, Hausfrau und Mutter aus Leipzig; ein gewitzter Schuhmacher mit Faible fürs Militärische; eine skrupellose Gesindevermittlerin aus Westpreußen; der erst Sozialdemokrat und dann Soldat werdende Sohn eines jüdischen Bäckers; ein Herero aus Südwestafrika, der deutsches Interesse an seiner Heimat zu eigenen Zwecken nutzen will. Andere Geschichten werden erzählt aus der Sicht eines protestantischen Sozialreformers aus Niedersachsen, der frustrierten Frau eines Freiburger Verlegers, eines in Frankfurt an der Oder geborenen Tischlersohns mit künstlerischen Ambitionen. In weiteren Rollen treten außerdem auf: ein in Deutz zur Welt gekommener, vielseitig talentierter Drechslermeister, ein Bauer aus Mainfranken, ein unterschätzter Köpenicker Kommunalpolitiker, Städterinnen und Dorfbewohner, Bürger und Bäuerinnen, Arbeiterinnen und Fabrikanten, Offiziere und Soldaten, Großgrundbesitzer, Dienstmädchen, Parlamentarier, Pfarrersfrauen, Metzger, jede Menge Journalisten, Juden, Historiker und viele andere. Ziel ist eine multiperspektivische Darstellung, eine Art Kaleidoskop, das die ungeheure Vielschichtigkeit des Lebens im deutschen Kaiserreich zumindest ansatzweise abbildet. Dieses Leben war geprägt von immenser wirtschaftlicher Dynamik bei weitgehendem politischem Stillstand, demokratischen Lernprozessen und autoritärer Verkrustung, bahnbrechenden Sozialreformen und heftigsten sozialen Konflikten. Vor allem aber war die Zeit des Kaiserreichs eine faszinierend bunte Epoche mit lebendigen Menschen, die sie gestalteten und durchlebten.
VE RS A I L L E S , 18 . JA N UA R 1871
Bildnis des Künstlers Versailles,als 18.junger JanuarMann 1871
Anton von Werner in Frankreich 1870
Bildnis des Künstlers als junger Mann
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as Telegramm wurde dem Künstler am Vormittag des 15. Januar auf dem Eis zugestellt, als er mit seiner Braut Schlittschuh lief. Es kam vom Hofmarschall des preußischen Kronprinzen aus Versailles. Dort befand sich das Hauptquartier der preußischen und verbündeten Truppen, die seit Monaten Paris belagerten. Die Nachricht war ebenso kurz wie ihr Inhalt mysteriös. Sie lautete: «Geschichtsmaler v. Werner, Karlsruhe. Seine Königliche Hoheit der Kronprinz läßt Ihnen sagen, daß Sie hier Etwas Ihres Pinsels Würdiges erleben würden, wenn Sie vor dem 18. Januar hier eintreffen können. Eulenburg, Hofmarschall.»1 Der «Geschichtsmaler» Anton von Werner war damals 27 Jahre alt. Er stammte aus verarmtem ostpreußischen Dienstadel. Einer seiner Vorfahren hatte als Diplomat die Krönung des brandenburgischen Kurfürsten zum König am 18. Januar 1701 mit vorbereitet. Dafür war der Vorfahr mit einem Adelspatent belohnt worden. Doch auf diesen Aufstieg der Familie folgte bald ein steiler gesellschaftlicher Abstieg. Anton von Werners Urgroßvater wurde als Offizier im Siebenjährigen Krieg schwer verwundet. Dann brannte das Familiengut in Ostpreußen wiederholt ab und musste verkauft werden. Der Großvater sah sich gezwungen, eine Militärkarriere wegen schwerer Krankheit abzubrechen. Als Steuerbeamter schlug er sich mehr schlecht als recht durch und starb jung, «seine Familie in Not und Bedrängnis zurücklassend».2 Antons Vater, mit vier Jahren Halbwaise geworden, fristete sein Leben schließlich als Tischler in Frankfurt an der Oder. Dort wurde Anton selbst 1843 geboren. Die Einstellung, die der Junge in der Familie zu Preußen und dessen Kriegen vermittelt bekam, war nicht unbedingt allzu positiv. Zwar erzählte die Großmutter ihm viel vom «alten Fritz», zu dessen Lebzeiten sie noch geboren worden war. Dabei spielte allerdings die verheerende Niederlage Preußens in der Schlacht von Kunersdorf 1759 eine prominente Rolle. Dass der in dieser Schlacht verwundete Urgroßvater die ihm deswegen eigentlich zustehende Zivilversorgung nie erhalten hatte, nahm einen zentralen Platz in
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der Familienerinnerung ein. Offenbar nicht ohne Stolz wurde dem Jungen wiederholt von einer Ohrfeige berichtet, die sein Urgroßvater dem verantwortlichen preußischen Minister deshalb einst verabreicht haben soll. Auch sonst waren es weniger die «glanzvollen» Seiten preußischer Geschichte, von denen der kleine Anton in der Familie erfuhr: So erzählte die Großmutter viel und gerne von der Vernichtung der preußischen Armee bei Jena 1806 und den darauffolgenden Jahren französischer Besatzung – insbesondere von einem bestimmten französischen Offizier, den sie offenbar als junge Frau gekannt hatte. Dennoch: Für den jungen Anton von Werner und seine Spielkameraden hatte «alles Militärische», wie er sich später erinnerte, «einen erhöhten Reiz». Auf Jahrmärkten drängten sie sich vor den Schaubuden, die, «mit beweglichen, auf Rädern laufenden Figuren ausgestattet», die Feldzüge in Schleswig-Holstein 1849 und später «aus dem Krimkrieg allerlei Episoden mit viel Pulvergeknalle zur Anschauung brachten. Gerade diese Darstellungen entzückten uns Jungens und regten uns zur Nachahmung an.» Es war «vor allem aber die Erinnerung an die Befreiungskriege», die die liberale deutsche Nationalbewegung für sich reklamierte und zelebrierte, «wenn einer der alten Krieger von 1813 zu Grabe getragen wurde», die von Werner nach eigener Aussage prägte. Tief beeindruckt hatten schon den Fünfjährigen danach auch die Schießübungen der Bürgerwehr 1848, als die preußischen Truppen seine Heimatstadt vorübergehend räumten.3 Vom Vater zunächst zu einer Ausbildung als Anstreicher gezwungen, begann er danach ein Studium an der Berliner Kunstakademie. Doch das Berlin der frühen 1860er Jahre erschien dem mit liberalen Ideen sympathisierenden Kunststudenten muffig und finster. Die Hoffnungen auf «den Anbruch einer neuen Zeit, den Beginn einer Ära voller Glück und freiheitlicher Entwicklung», die auch er wie viele Zeitgenossen mit der Übernahme der Regierung durch Wilhelm I. verbunden hatte, hatten der Konfrontation zwischen Monarch und Volksvertretung im preußischen Verfassungskonflikt Platz gemacht. Der junge von Werner geriet in die Gesellschaft «alter Achtundvierziger», wurde Mitglied eines Turnvereins und trat in die oppositionelle Fortschrittspartei ein.4 1862, auf dem Höhepunkt des Verfassungskonflikts, beschloss er schließlich, der preußischen Heimat den Rücken zu kehren und an die Kunstschule nach Karlsruhe zu gehen. Enttäuschung über die Lehrer an
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Versailles, 18. Januar 1871
der Berliner Akademie spielte auch eine Rolle dabei, zudem der Eindruck, bei Preisverleihungen übergangen worden zu sein. Nicht zuletzt aber war Baden «bei uns längst als konstitutioneller Musterstaat bekannt und gepriesen. Hier nun fühlte ich in der Tat den Hauch einer neuen Ära in dem Zusammenleben und Zusammenwirken von Fürst und Volk, die glückverheißend schien.» So zeigte Anton von Werner sich bald nach seiner Ankunft in Karlsruhe tief beeindruckt vom zivilen Auftreten des jungen badischen Großherzogs, des Schwiegersohns des Preußenkönigs Wilhelm I., von dem er eine so ganz andere, «stramm militärische Erscheinung» gewohnt war. «Auch dass man Offiziere mit Zivilisten zusammen am Biertisch sah, imponierte mir, weil ich es bei uns nie gesehen hatte.» Auf Reisen in Württemberg und Bayern machte er ähnliche Erfahrungen: «Der Vergleich zwischen Preußen, das als Inbegriff finsterster Reaktion galt, und Süddeutschland, dem Land der Freiheit, drängte sich überall und nicht gerade freundlich auf.»5 1866 sah der junge Kunststudent den Krieg zwischen den süddeutschen Staaten und Österreich auf der einen, Preußen auf der anderen Seite mit sehr gemischten Gefühlen aufziehen. Er spielte mit dem Gedanken, sich dem «verwünschten ‹Bruderkrieg›» durch Auswanderung in die USA oder nach Großbritannien zu entziehen.6 Preußen war zwar seine alte Heimat. Aber südlich des Mains hatte er mittlerweile viele Freunde und in Malvina Schroedter, der Tochter eines seiner Karlsruher Lehrer, die Liebe seines Lebens gefunden. Mit diesen hoffte er zeitweilig sogar darauf, «daß vorher in Preußen noch eine Revolution ausbricht». Um sich der Gefahr einer Rekrutierung für den Dienst im preußischen Militär zu entziehen, bat er seine Eltern, bei einem eventuellen Einberufungsbescheid den Behörden vorzuflunkern, der Sohn sei mit unbekannter Adresse in die neutrale Schweiz verzogen.7 Nach dem preußischen Sieg im deutsch-deutschen «Bruderzwist», der für die meisten Zeitgenossen überraschend kam, änderte sich Anton von Werners Einstellung. Damit war er repräsentativ für viele, die zuvor dem Preußen Wilhelms I. und Bismarcks kritisch gegenübergestanden hatten. Während in Berlin eine Mehrheit der Abgeordneten der Fortschrittspartei die Nationalliberale Partei gründete, um fortan mit der Regierung zusammenzuarbeiten, besann von Werner in Karlsruhe, geblendet vom «glänzenden Feldzug unserer Truppen», sich wieder auf seine preußischen Wurzeln. Nachdem er sich kurz zuvor vorm Militär-
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dienst noch hatte drücken wollen, bedauerte er es nun auf einmal selbst, nicht Soldat geworden zu sein! Speziell dazu mochte auch beitragen, dass man in dem von Kampfhandlungen weitgehend verschont gebliebenen Baden «vom Kriege gar nichts bemerkt» hatte.8 Bei Werner wurde die Versöhnung mit der alten preußischen Heimat außerdem noch dadurch befördert, dass ihm die Berliner Akademie der Künste im August 1866 nun doch einen Preis verlieh. Das Preisgeld und wachsende künstlerische Erfolge ermöglichten ihm in den nächsten drei Jahren längere Studienaufenthalte in Frankreich und Italien. Während der Norddeutsche Bund entstand, sich konsolidierte und mit den süddeutschen Staaten Verteidigungsbündnisse abschloss, sprach Werner im Ausland und in seinen Briefen an die Eltern mit wachsendem Respekt über Bismarck und «unser» Preußen. Ende 1869 kehrte er wieder nach Deutschland zurück und übernahm die «patriotische» Aufgabe, ein Kieler Gymnasium mit Wandbildern zu Luther und der «nationalen Erhebung von 1813» zu verschönern. Dort traf ihn im Juli 1870 die «Nachricht von der französischen Kriegserklärung wie ein Blitz aus heiterem Himmel».9 Der Beginn der Feindseligkeiten zwischen Frankreich und dem nun von den süddeutschen Staaten unterstützten Preußen machte dem Künstler vorerst nicht nur einen Strich durch seine Heiratspläne. Seinem Vater gegenüber klagte er deswegen spontan: «Wenn nur jetzt nicht der Krieg gekommen wäre!» Auch um die in Karlsruhe, in unmittelbarer Nähe der nun Front gewordenen Grenze, zurückgelassene Braut Malvina machte er sich zunächst große Sorgen. Dazu kamen beunruhigende Nachrichten über hohe Verluste des Regiments aus seiner Heimatstadt in den ersten Schlachten des Krieges. Vielleicht waren Freunde und Bekannte darunter? Schließlich fühlte er sich in Kiel selbst nicht ganz sicher: Was, wenn die Dänen auf Seiten Frankreichs in den Krieg eintraten? Oder die französische Flotte Kiel bombardierte? Andererseits bot sich bei einem solchen Angriff, trotz mittlerweile aus gesundheitlichen Gründen erfolgter Ausmusterung in Preußen, vielleicht doch noch die Möglichkeit, in einer Landwehrkompanie die 1866 im Nachhinein vermissten Kriegserfahrungen zu sammeln. Zudem steckte die Kriegsbegeisterung an, die sich wie ein Lauffeuer in Kiel ausbreitete. Denn diese war «kolossal und allgemein – wie überall», wie Anton von Werner schon kurz nach Kriegsbeginn registrierte. Als preu-
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ßische und verbündete Truppen bald tiefer und tiefer in Feindesland eindrangen, wurde er nicht nur zunehmend optimistischer. In wachsendem Maß sah er im Krieg auch ein mögliches Karrieresprungbrett. Im August 1870 noch von der Hoffnung erfüllt, dass die Feindseligkeiten «allem Anschein nach rasch und glücklich zu Ende gehen» würden, wünschte er sich zwei Monate später sogar deren Verlängerung. Denn er könne, wie er dem Vater mit einer Mischung aus Pathos und Torschlusspanik erläuterte, «die Gelegenheit, die hoffentlich nie wiederkehrt, nicht vorbeigehen lassen, ohne aus eigener Anschauung, so viel es jetzt noch möglich ist», die Realität des Krieges kennenzulernen, um sie «einst künstlerisch zu verarbeiten».10 Deshalb ließ er seine Beziehungen zum Karlsruher Hof spielen. Von der Großherzogin erhielt er ein Empfehlungsschreiben an ihren Bruder, den preußischen Kronprinzen. So ausgerüstet, reiste er mit einigen Künstlerkollegen im Oktober 1870 über Straßburg, dessen von deutscher Artillerie zerschossene Vorstädte «einen fürchterlichen Eindruck» auf ihn machten, in das preußische Hauptquartier nach Versailles. Dort ebnete ihm die Empfehlung aus Karlsruhe nicht nur den Weg zum Kronprinzen, sondern auch zum preußischen Generalstabschef Helmuth von Moltke und anderen hohen Militärs. Die aristokratische und militärische Elite Preußens, die er bisher aus der Ferne als arrogant und unnahbar erlebt hatte, wirkte aus der Nähe jetzt «jovial» und umgänglich auf ihn. Mit Überraschung registrierte Werner zudem: «Sie hatten alle soviel Zeit und Interesse für die Kunst!» Das Bemühen seiner neuen Bekannten, ihre Rolle im deutsch-französischen Krieg durch künstlerische Werke gebührend hervorheben zu lassen, bescherte ihm eine ganze Reihe von lukrativen Aufträgen.11 So waren es wohl nicht allein die Erweiterungen seines Erfahrungsschatzes durch das, was er auf dieser ersten Fahrt nach Versailles gesehen hatte, die ihn dem Vater berichten ließen: «Ich kann dir nicht sagen, wie sehr ich mich freue, daß ich noch den Krieg soviel jetzt davon noch zu sehen, mitmachen konnte.»12 Ende November 1870 kehrte Werner nach Karlsruhe zurück. Während der nächsten Wochen war er damit beschäftigt, die Verlegung seines Wohnsitzes nach Berlin vorzubereiten. Die im Versailler Hauptquartier geknüpften Verbindungen und angebahnten Geschäftsbeziehungen schienen diesen schon vorher erwogenen Umzug nun erst recht sinnvoll zu machen. Am 16. Januar 1871 wollte er deswegen in die preu-
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ßische Hauptstadt reisen. Doch am Tag davor erreichte Werner die rätselhafte Nachricht des Kronprinzen, er könne etwas seines «Pinsels Würdiges erleben», wenn er vor dem 18. Januar in Versailles eintreffen werde.
Festakt mit Hindernissen Festakt mit Hindernissen
Der Künstler zögerte nicht. Er kaufte sich «einen dicken Reisepelz» – die Temperatur lag, bei stahlblauem Himmel, um zehn Grad unter null – und machte sich noch am selben Tag um 14 Uhr, vier Stunden nach Ankunft des Telegramms, auf die Reise. Diesmal kam er schneller voran als im Oktober. Dennoch dauerte es zwei Tage, bis er über Straßburg und Epernay mit dem Zug Lagny-sur-Marne, den Endpunkt der Bahnstrecke vor dem deutschen Belagerungsring um Paris, erreicht hatte. Am 17. Januar traf er dort um fünf Uhr nachmittags ein. Mittlerweile hatte Tauwetter mit Regen eingesetzt, und es dämmerte bereits. Für die Weiterfahrt hatte der Hofmarschall des Kronprinzen einen Platz für ihn in der Armeepostkutsche reserviert. «So ging’s in die pechschwarze Nacht hinein», Werner mit einem preußischen Feldjäger und dem Kutscher «zu dritt in dem mit Postpaketen gefüllten Wagen zusammengepreßt, wie in der Schachtel die Sardinen». Aus Furcht vor Angriffen französischer Partisanen wurde die Kutsche von einem weiteren Soldaten aus Bayern bewacht, der «oben auf dem Verdeck des Wagens schaukelte». In halsbrecherischer Fahrt durch die Nacht legte Werner auf diese Weise die letzten gut 50 Kilometer der Reise zurück. «Um 4 Uhr früh kamen wir ohne Unfall, nur tüchtig durchgerüttelt und etwas steif in den Gliedern in Versailles an.» Der Künstler schlief noch zwei Stunden im Quartier des preußischen Feldjägers, der ihn in der Postkutsche begleitet hatte. Kaum erholt, ging er «gegen 8 Uhr ins Quartier des Kronprinzen nach der mir wohlbekannten Villa Les Ombrages, gestiefelt und gespornt, denn ich glaubte nichts anderes, als daß ein Sturm auf Paris oder etwas Derartiges beabsichtigt sei, eine Meinung, die auch die Herren vom Etappenkommando in Straßburg und Epernay ausgesprochen hatten». Der Kronprinz begrüßte ihn nur kurz im Vorübergehen und be-
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Versailles, 18. Januar 1871
auftragte den Hofmarschall, «das Weitere» zu organisieren. Der fragte Werner «zu meiner höchsten Verwunderung, ob ich einen Frack mitgebracht hätte». Dann stellte er ihm für «heute vormittag zu der Festlichkeit im Schloss» einen Passierschein aus.13 In aller Eile besorgte sich der Künstler bei einem französischen Herrenausstatter den Frack. Von der Festlichkeit im Schloss hatte der Franzose auch bereits gehört, wusste aber genauso wenig, worum es sich handelte. Die wildesten Gerüchte machten die Runde. Weil deutsche Truppen an allen Frontabschnitten ihre Fahnen eingerollt und nach Versailles gebracht hatten, vermuteten manche Einheimische sogar, die Deutschen beabsichtigten, vor den sich erfolgreich verteidigenden Parisern zu kapitulieren.14 Gegen elf Uhr eilte Werner schließlich zum Schloss, einigermaßen in Sorge um die Sauberkeit seiner Frackhosen. Denn das Eis und der Schnee der letzten Tage hatten sich mit dem Tauwetter in «furchtbaren Dreck» verwandelt, wie ein Offizier des preußischen Generalstabs in seinem Tagebuch notierte. Auf der zum Schloss führenden Avenue de Paris und der davorliegenden Place d’Armes wimmelte es dennoch von Soldaten. Allen dienstfreien Mannschaften der deutschen Garnison war «gestattet» worden, sich in Paradeuniform dort zu versammeln.15 Kurz vor zwölf Uhr fuhr der Kronprinz vor und ging mit seinen Adjutanten ins Schloss. Bald darauf folgte König Wilhelm im offenen, von vier Pferden gezogenen Wagen. Trotz der Hurrarufe der Soldaten hatten allerdings sogar zum Pathos neigende Betrachter den Eindruck, dass sich eine wirklich feierliche Atmosphäre nicht einstellen wollte. Denn nicht nur mischte sich in das Hurra von Paris her der Donner französischer Festungsartillerie. Der Wagen des Königs musste zudem seinen Weg nehmen «zwischen Kriegsfuhrwerk, Proviantladungen und Viehzutrieb, durch den lebhaften städtischen Verkehr hindurch, der am Markttage herrschte».16 Vor dem Schloss stieg der König aus dem Wagen und schritt zunächst die dort aufgestellte Ehrenwache seines Garderegiments ab. Bei den von einem Unteroffizier gehaltenen Resten der Fahne des Regiments blieb er stehen. Das Fahnentuch war bei einem der ersten Gefechte des deutsch-französischen Krieges, der Schlacht von Weißenburg, zerfetzt und die Fahnenstange zersplittert worden. In dieser Schlacht hatte auch das Regiment aus Anton von Werners Heimatstadt
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Frankfurt an der Oder große Verluste erlitten. Bis zum 18. Januar 1871 betrug der Blutzoll des Krieges auf beiden Seiten zusammen mehr als 170 000 Tote und über 220 000 Verwundete, und es sollten noch einige Tausend dazukommen. Der König befahl, die Fahne des Garderegiments zu den bereits in den Spiegelsaal des Schlosses gebrachten anderen zu tragen, und ging selbst hinein. Im Spiegelsaal wartete Anton von Werner als einer von einer Handvoll Zivilisten unter Hunderten von Uniformträgern bereits seit einer guten halben Stunde. An der vom Eingang aus linken Längsseite standen vor den Fenstern ordensgeschmückte preußische und bayerische einfache Soldaten und Unteroffiziere, die von verschiedenen Truppenteilen abgeordnet worden waren. Auf der rechten Seite, an der große Spiegel das durch die Fenster gegenüber eindringende Tageslicht zurückwarfen, standen Offiziere im Generalsrang und Ministerialbeamte, auch diese allesamt in Uniform. Gegenüber dem Eingang, an der Stirnseite des Spiegelsaals, waren auf einem Podium die Fahnenträger in Reih und Glied aufgestellt. Mit dem Auge des Malers taxierte Werner schon das künstlerische Potential der in den Spiegeln reflektierenden bunten Uniformen, der blitzenden Orden und Waffen und des Lichts. Allerdings tappte er immer noch völlig im Dunkeln, «was aus diesem Gewirr ‹meines Pinsels Würdiges› sich entwickeln würde». Auf den Sinn der ganzen Veranstaltung konnte er sich nach wie vor keinen Reim machen. Angesichts des Datums schien es ihm am wahrscheinlichsten, dass ein Gedenken an die erste preußische Königskrönung am 18. Januar 1701 vorgesehen war, an deren Vorbereitung sein Vorfahr Anteil gehabt hatte. Der höchste Orden Preußens, der Schwarze Adlerorden, war damals gestiftet worden, und das daran erinnernde Ordensfest galt in Hofkreisen als wichtige Feier. Dass König Wilhelm diesen Orden an prominenter Stelle trug, als er den Spiegelsaal betrat, war geeignet, die Vermutung zu bestärken. Der König, sein Sohn, die mit ihnen eingetretenen Angehörigen anderer deutscher Fürstenhäuser und der preußische Ministerpräsident Bismarck stellten sich gegenüber von einem Altar in der Mitte der Fensterseite auf. Werner, der in nächster Nähe stand, nahm sein Skizzenbuch heraus und begann ihre Porträts zu zeichnen. Der Kronprinz kommandierte: «Helm ab zum Gebet», und mit dem Absingen eines Chorals begann ein Got-
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tesdienst. In seine Arbeit versunken, bekam der Künstler davon «natürlich so gut wie nichts» mit, ebenso wenig wie von der folgenden Ansprache des preußischen Hofpredigers.17 Er war allerdings nicht der Einzige, dem es so ging. Die unerwartet lange Predigt war nach der Erinnerung vieler Anwesender auch nicht sonderlich geeignet, die Aufmerksamkeit zu fesseln. So ließ der Kronprinz, abgestoßen von der «ziemlich taktlosen, langen, historisch-religiösen Abhandlung» des Hofpredigers, seine «Blicke während dieses Teils der Feier über die Versammlung und an die Decke schweifen». Der Generalstäbler Oberstleutnant Paul Bronsart von Schellendorf urteilte in seinem Tagebucheintrag zum 18. Januar, die «lange, aber ziemlich schwache Rede» habe «mehr den Charakter einer Hausandacht» gehabt. Überdies wurde seine Aufmerksamkeit wie die Werners von dem Gottesdienst durch ein Kunstwerk abgelenkt: Denn der «improvisierte Altar stand einer nackten Venus gegenüber, ein allerdings im Schloß von Versailles schwer zu vermeidendes Verhältnis».18 König Wilhelm dagegen ignorierte die Nackte oder nahm sie nicht wahr. Er blickte während des Gottesdienstes andächtig zu Boden und dankte dem Hofprediger nachher herzlich. Dann ging er zum Podium an der Stirnseite des Spiegelsaals, auf dem die Fahnenträger warteten. Wilhelm komplimentierte zunächst die 32 Angehörigen anderer deutscher Fürstenhäuser auf das Podium, bevor er sich selbst, flankiert vom Kronprinzen und seinem Schwiegersohn, dem badischen Großherzog, dort aufstellte. Die hohen Herrschaften standen nun bereits sehr gedrängt, in stetiger Gefahr, sich gegenseitig auf die Füße zu treten. Den König hielt das aber nicht davon ab, noch zwei weitere Fahnenträger heraufzukommandieren. Mit der Bewegung der Fürsten war der Rest der Teilnehmer ebenfalls in Bewegung geraten. Angeführt von Bismarck, verlagerten Minister, Generalstäbler und andere hohe Würdenträger ihre Position an die Stufen vor dem Podium. Doch es konnte, wie selbst eine die besondere Würde des Festakts betonende Darstellung vermerkte, «nicht fehlen, daß im Drange, der feierlichen Handlung so nahe wie möglich zu sein, auch die Versammlung selbst nachzufolgen suchte».19 Anton von Werner machte keine Ausnahme. Hinter einem Hauptmann arbeitete er sich «durch die dichtgedrängte Masse der Offiziere zu einem günstigeren Platz» vor – nicht ohne von einem Hofmarschall an-
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geraunzt zu werden, was er als Zivilist denn überhaupt hier zu suchen habe. «Und nun ging in prunklosester Weise und außerordentlicher Kürze das große Ereignis vor sich, das die Errungenschaft des Krieges bedeutete: die Proklamierung des Deutschen Kaiserreiches! Das also war es, was der Kronprinz Friedrich Wilhelm als etwas meines Pinsels Würdiges in seinem Telegramm bezeichnet hatte!» Reflexartig zeichnete der Künstler weiter. Dafür hatte er sich schließlich auf einen besseren Platz vorgedrängelt. Denn so prunklos die Sache ihm auch scheinen mochte: «Der Vorgang war gewiß historisch würdig, und ich wandte ihm meine gespannteste Aufmerksamkeit zu, zunächst natürlich seiner äußeren malerischen Erscheinung, notierte in aller Eile das Nötigste, sah, daß König Wilhelm etwas sprach und daß Graf Bismarck mit hölzerner Stimme etwas Längeres verlas, hörte aber nicht, was es bedeutete.»20 Wilhelm hatte den Fürsten dafür gedankt, dass sie die Aufforderung Ludwigs II. von Bayern unterstützten, die Kaiserwürde im neuen Deutschen Reich anzunehmen. Bismarck las anschließend die Proklamation Wilhelms «an das deutsche Volk» vor, in dem der König sich dazu bereiterklärte. Dass der preußische Ministerpräsident dabei keine allzu imposante Vorstellung ablieferte, war nicht nur Anton von Werners Eindruck. Später für die Veröffentlichung überarbeitete und offenbar geschönte Berichte attestierten beiden Rednern zwar «kräftige» Stimmen. Der Kronprinz notierte dagegen am 18. Januar in sein Tagebuch, dass Bismarck, «der ganz grimmig verstimmt aussah,» seine Ansprache «in tonloser, ja geradezu geschäftlicher Art und ohne jegliche Spur von Wärme oder feierlicher Stimmung» verlas.21 Nach dem Ende von Bismarcks Vortrag brachte der Großherzog von Baden als ranghöchster der anwesenden deutschen Fürsten – die Könige von Bayern, Württemberg und Sachsen fehlten bei der Zeremonie – ein Hoch auf den Kaiser aus. Das Publikum antwortete mit mehrfachen Hoch- und Hurrarufen. Fahnen, Helme und Waffen wurden geschwenkt, nicht ganz ungefährlich in dem proppenvollen Saal, aber niemand kam zu Schaden. Anton von Werner «schrie mit und konnte dabei natürlich nicht zeichnen». Vor dem Schloss «antwortete wie ein Echo das Hurra der dort aufgestellten Truppen. Der historische Akt war vorbei: Es gab wieder ein Deutsches Reich und einen Deutschen Kaiser! Ich sah noch, wie der Kaiser den Kronprinzen umarmte und von den ihn umgebenden
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deutschen Fürsten beglückwünscht wurde. Eine beabsichtigte Defiliercour der anwesenden Offiziere mißglückte.»22 Dass die nicht geplante Gratulation des Monarchen durch die Militärs «des unvermeidlichen Gedränges wegen keinen rechten Charakter hatte», registrierten auch der Kronprinz und andere Teilnehmer. Doch damit nicht genug der peinlichen Momente und Pannen. Die Musikkorps waren angewiesen worden, nach dem Ende des offiziellen Teils der Feier im Vorraum des Spiegelsaals einen Marsch anzustimmen. «Aber so sehr waren der Kaiser und die Fürsten noch in der Unterredung mit den sie umringenden Festgenossen begriffen, daß der zu lauten Musik sofort wieder Einhalt geboten werden mußte.»23 Irritiert sah Werner «dann den Kaiser die Stufen der Estrade hinabschreiten, an Bismarck vorbei, den er nicht zu bemerken schien».24
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Jahre später sollte er von Bismarck selbst erfahren, dass es sich dabei um alles andere als Zufall gehandelt hatte. Denn bei der Vorbereitung der Versailler Kaiserproklamation waren der zukünftige Kaiser und sein Kanzler massiv aneinandergeraten. Deshalb grollte Wilhelm und ignorierte Bismarck nach dem Festakt. Und das war auch der Grund, warum der Kanzler «ganz grimmig verstimmt» war und seine Rolle in der Zeremonie sichtlich unmotiviert spielte. Noch einige Tage später klagte Bismarck seiner Frau in einem Brief: «Diese Kaisergeburt war eine schwere, und Könige haben in solchen Zeiten ihre wunderlichen Gelüste, wie Frauen, bevor sie der Welt hergeben, was sie doch nicht behalten können. Ich hatte als Accoucheur [Geburtshelfer] mehrmals das dringende Bedürfnis, eine Bombe zu sein und zu platzen, daß der ganze Bau in Trümmer gegangen wäre.»25 Was war geschehen? Den Funken für den Streit hatte die Frage gezündet, welchen Titel Wilhelm als Kaiser zukünftig tragen sollte. Auf den ersten Blick war das in der Tat ein kurioser Anlass. Allerdings handelte es sich dabei um ein Thema, das nicht nur tiefe Einblicke in die Befindlichkeiten und Eigenheiten der zentralen Akteure der Reichsgründung bietet. Der Streit um des Kaisers Titel beleuchtet auch grell ein
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hartnäckiges Hindernis der nationalen Einigung Deutschlands, das Anton von Werner als Wandler zwischen den Welten seit 1862 schon am eigenen Leib erfahren hatte: den Gegensatz zwischen Preußen und dem Süden. Mit der Zeremonie in Versailles war dieser Gegensatz nicht wirklich überwunden. Die Auseinandersetzung zwischen König Wilhelm und Bismarck um den Kaisertitel war, um im Bild zu bleiben, tatsächlich nur ein vorläufiger Höhepunkt der Geburtswehen des deutschen Kaiserreiches. Seit dem Sieg über Österreich 1866 herrschte Preußen nördlich des Mains unangefochten. Die Gründung des von ihm dominierten Norddeutschen Bundes war der sichtbare Ausdruck dafür. Südlich des Mains sah die Lage zunächst aber noch anders aus. Obwohl die süddeutschen Staaten nun notgedrungen mit Preußen durch Verteidigungsallianzen verbunden waren, zeigten sie sich wenig interessiert, die Beziehungen enger zu gestalten. Das merkte der aus dem Norden stammende Anton von Werner selbst in Baden, trotz der engen dynastischen Verbindungen des dortigen Großherzogs zur preußischen Königsfamilie. Das persönliche Verhältnis zu einem bis dahin guten Freund, dem Karlsruher Schriftsteller Viktor von Scheffel, verschlechterte sich nach 1866 sogar, weil diesem «der Unmut über die neuen Verhältnisse in Deutschland noch immer böse Stunden bereitete, während seine sonst gleichgesinnten Freunde schon angefangen hatten, die Sache von der praktischen Seite zu sehen». Die gemeinsamen Abende in Scheffels Mansarde gestalteten sich deshalb «nicht mehr so harmlos und heiter wie früher».26 In Bayern und Württemberg stand sogar eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung Preußen feindlich gegenüber. Mit dem Beginn des Krieges gegen Frankreich im Juli 1870 änderte sich das, und damit eröffneten sich auch der preußischen Politik neue Perspektiven. Durch die süddeutschen Staaten lief eine Welle nationaler Begeisterung. Eine erneute Machterweiterung der preußischen Monarchie geriet so in den Bereich des Möglichen. Gespräche über den Eintritt Süddeutschlands in den Norddeutschen Bund wurden begonnen. Nach langwierigen Verhandlungen war bis Ende November 1870 in Versailles darüber weitgehende Einigkeit erzielt. Am 1. Januar 1871 traten die entsprechenden Verträge formell in Kraft. Tatsächlich war jedoch vieles noch offen. Offiziell hieß das Resultat der Verhandlungen in den Verträgen «Deutscher Bund». Zumindest auf preußischer Seite sprach man aber bereits ganz ungeniert von einem
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«Deutschen Reich». Im Süden bestanden Animositäten gegen die Dominanz Preußens weiter fort. Dass die «Kaiserkrone auf dem Haupt eines Hohenzollern» Anton von Werners badischem Freund Viktor von Scheffel weiterhin «eine ganz unmögliche und unnatürliche Sache» erschien und Werner wegen seiner preußischen Herkunft auch an der Karlsruher Kunstschule offene Feindschaft entgegenschlug,27 ließ sich zwar ignorieren. Beträchtliche Teile der Bevölkerung Württembergs und vor allem Bayerns lehnten die Reichsgründung aber nach wie vor ab. Die notwendige Ratifizierung der Einigungsverträge im bayerischen Landtag zog sich hin. Schließlich sollte sie am 17. Januar stattfinden, am Tag vor dem für die Kaiserproklamation vorgesehenen Termin, wurde aber dann erneut verschoben. Der bayerische und der württembergische König waren überhaupt nur durch eine Reihe von Sonderrechten zur widerstrebenden Unterzeichnung der Verträge bewegt worden. Bayern und Württemberg würden im neuen Bund weiter über eigene Postdienste und Eisenbahnen verfügen, die Besteuerung von Bier und Branntwein selbst regeln, ihre Monarchen zumindest noch eingeschränkte militärische Kommandogewalt besitzen. König Ludwig II. von Bayern hatte auch keineswegs selbst die Idee gehabt, seinen preußischen Kollegen Wilhelm zur Annahme der Kaiserkrone aufzufordern. Der entsprechende Text war vielmehr in Berlin formuliert worden. Damit der bayerische «Märchenkönig» diesen schließlich unterschrieb, musste Bismarck erst unter der Hand viel Geld versprechen, das Ludwig unter anderem für den Bau von Schloss Neuschwanstein brauchte. Mit Blick auf die Kaiserproklamation plädierte Bismarck für äußerste Vorsicht, um die Empfindlichkeiten der Süddeutschen nicht zu verletzen. Wenn die Ratifizierung des Vertrages mit Bayern im Münchner Landtag scheiterte, stand die fast erreichte deutsche Einigung wieder in Frage. Schon das für den Festakt von König Wilhelm festgelegte Datum stellte in dieser Hinsicht ein Problem dar: Als Jahrestag der Krönung von 1701 stand der 18. Januar in einer rein preußischen Tradition. Die Gefahr war nicht von der Hand zu weisen, dass die übrigen deutschen Fürsten sich degradiert fühlten zu rein dekorativen Zaungästen einer Erhöhung Preußens und seiner Monarchie, die mit ihrer eigenen Erniedrigung einherging. Das galt umso mehr, als Wilhelm sich zunehmend auf die Forderung
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versteifte, zum «Kaiser von Deutschland» ausgerufen zu werden. Bismarck, zumindest nach außen hin kühl logisch argumentierend, riet davon unter Hinweis vor allem auf die Lage in Bayern ab. Wenn man den preußischen König zum «Kaiser von Deutschland» ausrufe, könne das als Anspruch auf territoriale Herrschaft auch in den Gebieten der anderen Bundesfürsten verstanden werden. Es komme aber darauf an, «den Gegnern der deutschen Sache jede Waffe zur Verdächtigung unserer Absichten zu entziehen». Deshalb plädierte er für den unverfänglicheren Titel «Deutscher Kaiser».28 Sosehr Wilhelm sich zeitweilig bereitfand, diese taktischen Argumente anzuerkennen, so wenig konnte er sich prinzipiell mit dem von Bismarck vorgeschlagenen Titel anfreunden. Ohne territoriale Herrschaft auszudrücken, war der Kaisertitel in seinen Augen weniger wert als der des preußischen Königs. Am Vortag der Kaiserproklamation «brach er in die Worte aus, nur ein Scheinkaisertum übernähme er, nichts weiter als eine andere Bezeichnung für ‹Präsident›». Bei aller Emotionalität sah der greise Wilhelm in mancher Hinsicht weiter als sein Ministerpräsident. Preußen gewann durch die Verbindung mit Deutschland zwar auf den ersten Blick Macht. Auf lange Sicht ging es aber damit in der Nation auf – und letztlich unter. Zu Bismarck und dem diesen unterstützenden Kronprinz «sagte er in äußerster Erregung, er könnte uns gar nicht schildern, in welcher verzweifelten Stimmung er sich befände, da er morgen von dem alten Preußen, an welchem er allein festhielte und fernerhin auch festhalten wollte, Abschied nehmen müßte. Hier unterbrachen Schluchzen und Weinen seine Worte.» Eigentlich war die Besprechung am 17. Januar anberaumt worden, um den Festakt am nächsten Tag insgesamt zu planen, und dabei in letzter Minute auch endlich eine Einigung in der umstrittenen Titelfrage zu erzielen. Beides misslang völlig. Die Teilnehmer verzettelten sich stattdessen in Debatten über die Geschichte Brandenburg-Preußens und das historische Verhältnis von Kaiser und Königen. Beide Seiten bemühten dabei die abstrusesten Argumente, um ihren Standpunkt in der Titelfrage zu untermauern. «Im höchsten Zorn sprang der König schließlich auf, brach die Verhandlungen ab und erklärte, von der zu morgen angesetzten Feier nichts mehr hören zu wollen.»29 Wilhelm war dermaßen aufgebracht und aufgewühlt, dass er sogar «drauf und dran war, zurückzutreten».30 Natürlich konnte keine Rede davon sein, den Festakt abzusagen. Jede
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detailliertere Planung unterblieb jedoch, zumal der König sich für den Rest des Tages ganz zurückzog und unansprechbar war. Ein Großteil der Pannen und Peinlichkeiten bei der Zeremonie am 18. Januar hätte sonst wohl vermieden werden können. Der größte anzunehmende Unfall blieb immerhin aus, weil der badische Großherzog in buchstäblich letzter Minute spontan eine salomonische Lösung für die umstrittene Titelfrage fand. Frühmorgens von Wilhelm schriftlich dazu aufgefordert, im Spiegelsaal nach der Proklamation das Hoch auf ihn als «Kaiser von Deutschland» auszubringen, was auch immer Bismarck sage, versuchte der Großherzog unmittelbar vor dem Festakt zu vermitteln. Der zuerst von ihm angesprochene Kanzler «war ganz außer sich vor Ärger», während Wilhelm ebenfalls «sehr ungehalten» reagierte und «sich in heftigen Ausdrücken über Bismarck» äußerte. Beide wandten sich unwirsch mit den Worten ab, der Großherzog müsse eben tun, was er für richtig halte. Und das tat dieser dann auch, indem er das Hoch weder auf den «Kaiser von Deutschland» noch auf den «deutschen Kaiser» ausbrachte, sondern auf «Kaiser Wilhelm».31 Obwohl damit wenigstens ein Fettnäpfchen geschickt umgangen worden war, hinterließ die Feier nicht allein bei Wilhelm und Bismarck, die noch tagelang schlecht aufeinander zu sprechen blieben, einen üblen Nachgeschmack. Angesichts des Aufgalopps fürstlicher Prominenz in Versailles konnte es nicht ausbleiben, dass die Abwesenheit der drei Könige von Bayern, Württemberg und Sachsen umso mehr auffiel. Ihr Fehlen war kein Zufall: Sie blieben dem Festakt, in dem ihr preußischer Kollege über sie erhöht wurde, demonstrativ fern. Einige ihrer Verwandten waren freilich da. Und bei diesen war schon die Ansprache des preußischen Hofpredigers am 18. Januar geeignet, schlummernde Ressentiments wieder zu wecken. Denn die König Wilhelm so gut gefallende, unerwartet lange Predigt thematisierte vor allem die Größe Preußens und seiner Monarchen. Nur kurz und am Ende sprach der Prediger auch die nationale Einigung an, die so zum i-Tüpfelchen auf einer jahrhundertelangen Geschichte des preußischen Aufstiegs wurde. Der sächsische Kronprinz schimpfte nachher voll Ingrimm über diese «taktlose Rede voll preußischer Selbstvergötterung» – eine Einschätzung, die auch andere teilten, so dass Bismarck sich zu eifrigen Versuchen der Schadensbegrenzung unter den nichtpreußischen Teilnehmern veranlasst sah.32
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Vollends verstimmt, und das von dem ganzen Festakt, reagierte Prinz Otto von Bayern, der Bruder des bayerischen «Märchenkönigs». Noch mehr als zwei Wochen nach der Kaiserproklamation schrieb er Ludwig II. nach München, er könne «gar nicht beschreiben, wie unendlich weh und schmerzlich es mir während jener Zeremonie zumute war, wie sich jede Phase in meinem Innern sträubte und empörte gegen all das, für was ich innerlich tief glühe und was ich von Herzen liebe und wofür ich mit Freuden mein Leben einsetze […] Welchen wehmütigen Eindruck machte es mir, unsere Bayern sich da vor dem Kaiser neigen zu sehen […] Alles so kalt, so stolz, so glänzend, so prunkend und großtuerisch und herzlos und leer.» Kaum habe er es erwarten können, aus dem Spiegelsaal herauszukommen: «Erst draußen in der freien Luft atmete ich wieder auf. Dieses wäre also vorbei.»33 Dass es mit der Eigenstaatlichkeit nun faktisch «vorbei» war, erfüllte besonders in Bayern, aber auch anderswo im neuen Deutschen Reich nicht wenige mit Bitterkeit. Bis zur inneren Einigung dieses Reiches war es nach dem Abschluss der äußeren Formalitäten und Festivitäten noch ein langer Weg. Der Abschied vom Alten fiel aber nicht nur südlich des Mains, sondern gerade auch in Preußen vielen schwer. Der preußische König Wilhelm blickte in einem Brief an seine Frau fast mit gleichen Worten und identischen Bildern von Sprachlosigkeit, psychischen und physischen Beschwerden auf die Kaiserproklamation zurück wie der bayerische Prinz: «Ich kann dir nicht sagen, in welcher morosen Emotion ich in diesen letzten Tagen war […] vor allem über den Schmerz, den preußischen Titel verdrängt zu sehen!»34 Nicht allein die Angehörigen des bayerischen und württembergischen Königshauses fürchteten um Vorrechte und Symbole ihrer Herrschaft. So feilschte der Onkel Ludwigs II. und Ottos, der spätere Prinzregent Luitpold von Bayern, auf eigene Initiative in den Tagen vor dem 18. Januar in Versailles noch um die Bewahrung des Eigencharakters der Armee Bayerns. Auch der Preußenkönig Wilhelm erklärte in der Besprechung mit Bismarck am Vortag der Kaiserproklamation erregt, wenn er schon «das Kreuz» tragen solle, deutscher Kaiser zu werden, so verbitte er sich doch entschieden, «der preußischen Armee eine gleiche Zumutung wie seiner eigenen Person zu machen; er wolle daher nichts von einem ‹Kaiserlichen Heere› hören, weil er wenigstens unsere Armee vor dergleichen bewahren möchte und nicht dulden könnte, daß die
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Truppen gar ‹deutsche› Namen und Bezeichnungen sich gefallen lassen müßten». Von Reichsministern wollte er aus dem gleichen Grund nichts wissen. Eine vom Kronprinzen favorisierte Idee, die Kaiserproklamation unter einem Wappen des neuen Reiches stattfinden zu lassen, lehnte Wilhelm brüsk ab. Die schwarzweißrote Reichskokarde wollte er «nur neben der preußischen dulden».35 Dass am preußischen Hof eigenstaatliches Bewusstsein und renitenter Partikularismus eher noch stärker ausgeprägt waren als in den süddeutschen Staaten, konnte unter diesen Umständen nicht verwundern. Das Amt des Hofmarschalls lud für den 18. Januar bezeichnenderweise zum Fest des preußischen Schwarzen Adlerordens in den Spiegelsaal des Versailler Schlosses ein. Danach finde dann auch noch die Kaiserproklamation statt! Das stieß sogar dem badischen Großherzog sauer auf: Entgeistert konstatierte er, aus preußischer Sicht erscheine die Proklamation offenbar «als eine nebensächliche Zutat zum ‹Ordensfeste›. Der Kaisertitel wird als eine Degradation des Königs von Preußen betrachtet.»36 Obwohl der Kronprinz und Bismarck diese Sicht nicht teilten, waren Wilhelm und seine Hofbeamten damit alles andere als allein. Die meisten preußischen Militärs stimmten mit ihrem obersten Kriegsherrn vielmehr völlig überein. Der Generalstäbler Bronsart von Schellendorf nannte die Kaiserproklamation «am alten Krönungstag der preußischen Könige» in seinem Tagebuch abfällig einen «großen Mummenschanz». Selbst Kriegsminister Albrecht von Roon, ein enger Vertrauter Bismarcks, hegte «schwere Bedenken» gegen die «Titelvermehrung» des preußischen Monarchen. Wie sein Schwager, der Hofprediger, sah Roon das deutsche Kaisertum vor allem «als fernere Etappe für die weitere historische Entwicklungsphase unserer Preußischen Königsherrlichkeit».37 Vielleicht am treffendsten charakterisierte Leonhard von Blumenthal, Chef des Generalstabs bei der Armee des Kronprinzen, in einer Tagebucheintragung am Abend des 18. Januar die ambivalente Einstellung der aristokratischen Elite Preußens gegenüber der Kaiserproklamation. Wie Roon, Bronsart und der Hofprediger sah auch er diese als eine logische Fortführung einer Entwicklung, die exakt 170 Jahre zuvor mit der Königskrönung des brandenburgischen Kurfürsten begonnen hatte. Die Geschehnisse dieses «historischen Tages» seien insofern durchaus «eine historische Notwendigkeit». Und doch: «Es war sehr feierlich, mir aber wehmütig zu Muth bei dem Tode des schönen Königthums.»38
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Der preußisch-süddeutsche Gegensatz und die partikularistischen Vorbehalte auf beiden Seiten waren nicht die einzigen Risse hinter der am 18. Januar 1871 zur Schau gestellten Kulisse nationaler Einheit. Im Vorfeld der Kaiserproklamation kam es auch von ganz anderer Seite zu einem Vorstoß, der die Dauerhaftigkeit von alten Konflikten in dem neu gegründeten Nationalstaat illustriert: Das Parlament des Norddeutschen Bundes sandte eine Abordnung nach Versailles, um seinen Anspruch auf Mitgestaltung des neuen Reiches anzumelden. Offiziell war der Zweck dieser Aktion, den preußischen König aufzufordern, «durch die Annahme der deutschen Kaiserkrone das Einigungswerk zu weihen». Tatsächlich ging es darum, die Rolle der Volksvertretung in diesem «Einigungswerk» symbolisch aufzuwerten. Der Kaiserkrone sollte, wie es einer der Initiatoren des Unternehmens, der nationalliberale Abgeordnete Eduard Lasker, intern formulierte, «der populäre Ursprung aufgedrückt» werden.39 Die Abordnung der Parlamentarier gelangte Mitte Dezember 1870 auf dem gleichen Weg nach Versailles wie Anton von Werner: Mit der Eisenbahn bis Lagny, dann weiter in Postkutschen, von einer bewaffneten Militäreskorte gegen befürchtete Partisanenangriffe geschützt. Am 16. Dezember 1870 erreichten die 27 Abgeordneten das preußische Hauptquartier. Doch dort ließ man sie erst einmal warten. Am Hof herrschte die Furcht, «der Reichstag wolle den Fürsten die Kaiserfrage aus den Händen winden». Wilhelm hatte zuvor bereits erregt erklärt, «er wolle sich die Krone nicht vom Parlament anbieten lassen, sonst komme es auf den Fall von 1849 zurück, und das dürfe nicht sein».40 Die Erinnerung an die Revolution von 1848 /49 wurde auch dadurch heraufbeschworen, dass die Abgeordneten mit Eduard Simson von demselben Parlamentarier angeführt wurden, der damals im Namen der deutschen Nationalversammlung Wilhelms Bruder und Vorgänger die Kaiserkrone offeriert hatte. Der König weigerte sich deshalb kategorisch, die parlamentarische Abordnung zu empfangen, ehe nicht die Zustimmung sämtlicher Fürsten zur Kaiserproklamation gegeben wurde. Erst nachdem diese eingetroffen war, fand Wilhelm sich dazu bereit, der Abordnung eine Audienz zu gewähren. Die verlief dann durchaus harmonisch, auch wenn man sich am
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Hof darüber mokierte, dass die Parlamentarier «in den primitivsten Wagen» vorfuhren. Allen Versuchen allerdings, den Volksvertretern einen Anteil an der Reichsgründung zuzubilligen, schob Wilhelm entschieden einen Riegel vor. Er nehme zwar, erklärte er in seiner Antwort auf die Ansprache des Führers der Parlamentsdeputation, den «Wunsch der deutschen Nation und ihrer Vertreter» wohlwollend und dankend zur Kenntnis. Die Grundlage für die Kaiserproklamation könne er aber «nur in der einmüthigen Stimme der deutschen Fürsten» sehen.41 Über diese höfliche Abfuhr für die Volksvertreter kam es zwischen Wilhelm und Bismarck zu keinem Streit, wie es ihn um die Titelfrage und die damit zusammenhängende Verstimmung der süddeutschen Fürsten gab. Das Kanzleramt wurde an der Formulierung der vom König vorgelesenen Antwort auf die Stellungnahme der parlamentarischen Deputation beteiligt. Der Kanzler selbst hatte die Verhandlungen mit den Parlamentariern geführt, in denen der Ablauf der Audienz vorab minutiös festgelegt worden war. Während Bismarck sich mit seinem König tagelang Wortgefechte darüber lieferte, ob dieser sich zum «Deutschen Kaiser» oder «Kaiser von Deutschland» krönen lassen sollte, zog keiner der beiden auch nur eine Minute die Variante «Kaiser der Deutschen» in Betracht. Das war der Vorschlag der Nationalversammlung von 1849 gewesen. Und damit wäre man auch der parlamentarischen Abordnung 1870 entgegengekommen, hätte den Volksvertretern eine begriffliche Brücke gebaut: ein Kaiser, der von den Deutschen legitimiert war und für sie regierte, nicht über sie. Doch wie die Erinnerung an 1849 König Wilhelm, seinem Kanzler und seinem ganzen Hof Gänsehaut bereitete, so war der Gedanke an eine solche «volkstümliche» oder demokratische Legitimation der Aristokratie, die Preußen und bald das neue Reich regierte, zutiefst zuwider. Gerade die Umstände, unter denen es zur Kaiserproklamation gekommen war, schienen den Angehörigen dieser alten Elite einmal mehr die Unterlegenheit demokratischer und parlamentarischer Regierungsweise zu belegen. Nach der Gefangennahme des französischen Kaisers Napoleon III. in den ersten Wochen des Krieges war in Paris die parlamentarische Republik ausgerufen worden. In den Provinzen Frankreichs mobilisierte die Republik neue Armeen. Doch vergleichsweise leicht gelang es den deutschen Truppen im Dezember 1870 und Januar 1871, diese improvisierten französischen Volksarmeen zu besiegen. Die militärischen
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Erfolge im Vorfeld der Kaiserproklamation bestärkten die aristokratischen Eliten Preußens noch einmal in ihrer Überzeugung von der Überlegenheit ihrer eigenen Herrschaft und der Unzulänglichkeit der Demokratie. Generalfeldmarschall Leonhard von Blumenthal, Stabschef der in Versailles stationierten Armee des Kronprinzen, fasste solche Gedanken am 15. Januar 1871 in einer Tagebucheintragung zusammen. Das republikanische Frankreich, schrieb Blumenthal, stehe vor der endgültigen Niederlage und dem Zerfall. Am besten sei es in dieser Situation, den sich in deutscher Gefangenschaft befindenden Napoleon III. wieder als französischen Kaiser einzusetzen und mit ihm Frieden zu schließen: «Wir haben dann der Welt und namentlich unseren demokratischen Landsleuten gezeigt, daß Volksheere gegen geschulte Truppen, die gut geführt werden, nichts ausrichten können, und vor allen Dingen, wir haben die Republik beseitigt, die uns augenscheinlich in unserem inneren Lande die größten Gefahren bereiten und uns nie zur Ruhe kommen lassen würde. Bei der demokratischen und liberalen Denkungsweise der Deutschen haben wir die Republik mehr zu fürchten als Frankreich, bei uns würde mit der Republik alles aus dem Leim gehen».42 Die Form, in der der König von Preußen am 18. Januar zum «Kaiser Wilhelm» proklamiert wurde, war ein konsequenter Ausdruck dieses Denkens. Symbolsprache und Ablauf des Festakts sollten in jeder Hinsicht signalisieren, dass hier eine Kaisererhebung aus ausschließlich fürstlicher Machtvollkommenheit vorgenommen wurde. Die Reden Wilhelms, Bismarcks und die Ansprache des Hofpredigers vermieden peinlich genau jedes Wort, das diese Aussage hätte in Frage stellen können. Das «Volk» wurde nur als Adressat der Proklamation erwähnt, die Bismarck nach Anton von Werners Wahrnehmung «mit hölzerner Stimme» reichlich teilnahmslos verlas. Präsent war es allenfalls in Uniform, als die von der Militärführung ausgesuchten Ordensträger unter den Unteroffizieren und Mannschaften der verschiedenen Truppenteile. Von Werner wirkte als einer von ganz wenigen Zivilisten wie ein Fremdkörper. Zugelassen war er wohl auch nur deswegen, weil die aristokratischen Eliten ihn wegen seines Adelstitels als Standesgenossen ansahen. Die Botschaft, die der Festakt vermittelte, war klar: Der neue Nationalstaat sollte ein Reich der Fürsten und der Aristokratie sein. Die Distanz zu den Parlamenten, zur Nationalbewegung hätte größer kaum sein
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können. Von den Parlamentariern war keiner in den Spiegelsaal des Versailler Schlosses eingeladen. Nach ihrer ergebnislosen Audienz beim preußischen König hatte die Deputation der Volksvertreter unverrichteter Dinge wieder aus Versailles abreisen müssen. In der Anfang Januar 1871 formell in Kraft getretenen Verfassung kam dem Reichstag folgerichtig die Funktion eines demokratischen Feigenblatts zu. Neben dem preußischen König, der als Kaiser das Reich nach außen vertrat, die Streitkräfte befehligte, den Kanzler ernannte und die übrigen Verfassungsorgane einberufen konnte, sollte der Bundesrat, die Vertretung der fürstlichen Regierungen, das Machtzentrum sein. Dagegen sah die Verfassung für den von allen erwachsenen Männern zu wählenden, demokratisch legitimierten Reichstag nur eng begrenzte Kompetenzen vor. Er durfte den Etat bewilligen – wobei der Verfassungskonflikt in Preußen bereits gezeigt hatte, dass dieses parlamentarische Recht in der politischen Praxis auch ignoriert werden konnte. Zusammen mit dem Bundesrat war der Reichstag zudem an der Gesetzgebung beteiligt. Allerdings konnte nicht nur die Fürstenkammer als Ganzes, sondern schon der preußische König oder ein Bündnis der Fürsten von drei Mittelstaaten jedes Gesetz durch ein Veto zu Fall bringen. Der Bundesrat verfügte zudem bei Zustimmung des Kaisers über das Recht, den Reichstag jederzeit aufzulösen und Neuwahlen anzusetzen. Diese Verfassung, die den alten fürstlichen Eliten die entscheidenden Machtpositionen reservierte, war genau genommen noch nicht einmal die eines deutschen Nationalstaats, den die liberalen Mehrheiten der meisten deutschen Parlamente befürworteten. Sie trug vielmehr den Namen «Verfassung des Deutschen Bundes». Das seit Anfang 1871 zumindest in der Theorie bestehende staatliche Gebilde, dem mit der Kaiserproklamation vom 18. Januar ein Oberhaupt gegeben wurde, war anfänglich eine Föderation, ein Bund der Fürsten. Sosehr freilich das Volk und seine parlamentarischen Vertreter zugunsten der traditionellen aristokratischen Machteliten marginalisiert, sosehr die eigentlichen Repräsentanten und die Idee der Nation in diesem Fürstenbund ausgeschlossen waren: Durch die Hintertür der Sprache kamen sie doch wieder herein. Selbst die Aufzeichnungen und Ansprachen der am 18. Januar 1871 unter sich bleibenden alten Elite legen davon beredtes Zeugnis ab. In kaum einer Rede oder Tagebucheintragung dieser Elite an diesem Tag fehlten die Begriffe «Deutsches Reich», «deutsches Volk» und
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«Deutschland». Selbst in den wenigen Sätzen der kurzen Ansprache des überzeugten preußischen Partikularisten Wilhelm, die sich zudem an die Fürsten richteten, kamen sie vor. Obwohl sein Kriegsminister Roon die Kaiserproklamation als Etappe des preußischen Aufstiegs verstand, sah er in ihr doch gleichzeitig das Ergebnis von «Deutschlands Aufraffung und Einigung». In der von Bismarck verlesenen «Proklamation an das Deutsche Volk» war gleich dreimal die Rede vom «Deutschen Reich». Bismarck sprach in ihr von der «deutschen Nation» als dem «Vaterlande», dem jetzt «die seit Jahrhunderten entbehrte Sicherung gegen erneute Angriffe Frankreichs» gewährt sei.43 Kaum einer der am 18. Januar im Spiegelsaal Anwesenden, der Aufzeichnungen über diesen Tag machte, versäumte dabei, den Ort des Geschehens in einem nationalhistorischen Narrativ zu verorten. Wie viele zog auch Bismarcks enger Mitarbeiter Heinrich Abeken eine Linie von der ersten preußischen Königskrönung 1701 zur Kaiserproklamation eines Hohenzollern 170 Jahre später «im Schloß von Versailles nach Niederwerfung des stolzen Frankreich an der Spitze eines Heeres, wie es Ludwig XIV. nie gesehen». Der schlesische Malteserritter Friedrich Graf Frankenberg sah eine «Wiedergeburt des Deutschen Kaiserreiches […] in der Halle des mächtigsten, grausamsten Feindes des alten Deutschen Reiches». Auch der Kronprinz kontextualisierte die Ereignisse des Tages in einem nationalhistorischen Rahmen, als er seinem Tagebuch anvertraute: «Erst im Laufe der Zeiten wird uns das ganze volle Gewicht dessen bewußt werden, was es heißt, im Prachtsaal von Ludwigs XIV. Schloß zu Versailles die Wiedereinsetzung des auf den französischen Schlachtfeldern geschaffenen Deutschen Reiches» miterlebt zu haben. Dem Hofprediger blieb es vorbehalten, in seiner Ansprache am deutlichsten einen Zusammenhang zwischen dem «Sonnenkönig» als Erbauer des Spiegelsaals und der Gegenwart zu konstruieren: Mit der Kaiserproklamation Wilhelms sei «die Schmach gesühnt, die von dieser Stätte und von diesem Königssitze aus dereinst auf unser Deutsches Volk gehäuft worden ist».44 In all diesen Aussagen offenbart sich die Orientierung an der Vorstellung einer Jahrhunderte zurückreichenden «deutsch-französischen Erbfeindschaft». Das Deutsche Reich wurde in dieser Konstruktion 1871 nicht begründet, sondern wiederhergestellt, nachdem es seit der Zeit Ludwigs XIV. von den Franzosen gedemütigt und schließlich zer-
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stört worden sei. Die in Preußen regierenden konservativen und aristokratischen Eliten zeigten damit ihre Beeinflussung durch die Nationsidee als erfundener Tradition, wie sie seit den «Befreiungskriegen» von liberalen Historikern produziert worden war. Die alten Eliten mochten sich dem Anspruch der in den Volksvertretungen dominierenden liberalen Nationalbewegung auf politische Mitbestimmung noch so stur verweigern: Kulturell konnten sie sich der Suggestivkraft von deren ideologischen Konstruktionen nicht entziehen. Bei vielen der Zeitzeugen wurde das nationalhistorische Narrativ durch die Kunstwerke des Spiegelsaals aktiviert. Der Großherzog von Baden fand sich durch deren Betrachtung zu Gedanken über den Kontrast zwischen französischem Prunk einerseits, deutscher «Einfachheit», Sitte und «Kraft» andererseits angeregt – eine Gegenüberstellung, die Bronsart von Schellendorf, ironisch gebrochen in seiner Kontrastierung von preußischem Altar und nackter französischer Venus, ebenfalls vornahm. Der Hofprediger entdeckte in den Wandgemälden des Spiegelsaals «hochmütige Vermessenheit» im Gegensatz zu deutscher Demut. Der vom Prediger gelangweilte Kronprinz ließ derweil seinen Blick «an die Decke schweifen, wo Ludwigs XIV. Selbstverherrlichungen, riesig in Allegorien und erläuternden, prahlenden Inschriften abgebildet, namentlich die Spaltung Deutschlands zum Gegenstand haben», und fragte sich «mehr als einmal, ob es denn wirklich wahr sei, daß wir uns in Versailles befänden, um hier die Wiederherstellung des deutschen Kaisertums zu erleben – so traumartig wollte mir das Ganze erscheinen».45 Die historische Konstruktion des preußischen Thronerben einer «Wiederherstellung» von Reich und Kaisertum deckte sich mit der vieler anderer Angehöriger der alten Herrschaftselite. Sie entsprach aber auch ganz der Sicht Anton von Werners. Überraschenderweise brauchte der Künstler dafür gar keine Anregung durch das Bildprogramm im Spiegelsaal: Es reichte offenbar schon seine nationale Sozialisierung bei der liberalen Fortschrittspartei. Auch wenn die liberale Bewegung es nicht vermochte, der Geburt des Kaiserreiches 1871 ihren politischen Stempel aufzudrücken – das von ihr produzierte nationalhistorische Narrativ erwies sich als ausgesprochen wirkungsmächtig. Selbst aus der im Januar 1871 veröffentlichten «Verfassung des Deutschen Bundes» wurde bei einer redaktionellen Überarbeitung wenige Monate später doch noch die «Verfassung des Deutschen Reiches».
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Das von den aktuellen Ereignissen befeuerte Konzept der «deutschfranzösischen Erbfeindschaft» beeinflusste Denkweisen und Sprachmuster so mit weitreichenden politischen Konsequenzen. Obwohl regierende konservative Eliten und die in den Parlamenten dominierenden Liberalen in mancher Hinsicht Widersacher blieben, wirkte die von beiden gleichermaßen wahrgenommene Frontstellung gegen den «Erbfeind» Frankreich als Katalysator der nationalen Einigung. Wie die bleibenden partikularistischen Vorbehalte in Preußen und den süddeutschen Staaten wurden auch die Gegensätze zwischen Konservativen und Liberalen, zwischen Regierung und Parlament am 18. Januar 1871 nicht beseitigt. Die echte nationale Begeisterung, die in den durch den Spiegelsaal des Versailler Schlosses brausenden Hochrufen ebenso greifbar ist wie in den Briefen und Tagebucheintragungen der Beteiligten, deckte diese Gegensätze aber einstweilen zu. Während der Krieg gegen Frankreich manche Konflikte entschärfte, verschärfte er gleichzeitig einen anderen: den zwischen militärischer und ziviler Führung in Preußen. Nach der Kaiserproklamation am 18. Januar lud der frischgebackene Kaiser Wilhelm Fürsten und Generäle zu einem Diner ein. Im Anschluss trafen die meisten Teilnehmer sich in der Villa des Kronprinzen zu Gesprächen, an denen auch Anton von Werner teilnahm. Bei dieser Gelegenheit beklagte Reichskanzler Bismarck sich beim badischen Großherzog bitter nicht nur über Wilhelm, sondern auch über den Generalstab und dessen Leiter Helmuth von Moltke: Die preußische und damit auch die deutsche Politik sei ein Spielball der «Launen des Generalstabs». Wilhelm höre nur auf Moltke, und deswegen könnten «sich die Herren Militärs alles gegen mich erlauben».46 Auseinandersetzungen zwischen militärischer und politischer Führung gab es im preußischen Hauptquartier nahezu seit Beginn des Krieges. Als Anfang September 1870 in der Schlacht von Sedan Napoleon III. und ein großer Teil des französischen Heeres in deutsche Gefangenschaft gerieten, drängte Bismarck auf einen schnellen Friedensschluss. Um die Franzosen an den Verhandlungstisch zu bekommen, war er auch bereit, den deutschen Vormarsch zu unterbrechen. Moltke, militärischer Logik folgend, wollte stattdessen die Offensive in Richtung Paris fortsetzen – und konnte Wilhelm als Oberbefehlshaber dafür gewinnen. Zudem erschwerte der Generalstab Verhandlungen durch die kategorische For-
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derung, bei einem Friedensschluss müsse Frankreich das Elsass und Lothringen abtreten. Es waren nicht unbedingt Motive der Humanität, die Bismarck bewegten. Angesichts des von der neuen republikanischen Regierung Frankreichs ausgerufenen Volkskrieges drängte er die Militärs sogar, «weniger Gefangene» zu machen, und bemängelte die «Schwäche, mit der das Kriegsrecht von Seiten der militärischen Befehlshaber gehandhabt wird».47 Sein Drängen auf einen schnellen Frieden war vielmehr von der Sorge motiviert, dass sonst andere europäische Mächte in den Krieg eintreten könnten. Nach der Einkesselung von Paris forderte die zivile Führung deshalb auch, die Verteidiger der französischen Hauptstadt erst durch massiven Artilleriebeschuss zu zermürben. Dann sollte möglichst bald ein Sturmangriff folgen, um die Feindseligkeiten zu beenden. Der Generalstab lehnte das zunächst ab. Moltke war zwar wie Bismarck nicht eben zimperlich: Er setzte darauf, die Pariser auszuhungern. Auch wenn das länger dauern sollte, würde es der deutschen Seite die bei einem Sturmangriff zu erwartenden hohen Verluste ersparen. Ende Dezember 1870 konnte der Kanzler den Monarchen jedoch für seinen Plan gewinnen. Die Zahl der für die Beschießung von Paris eingesetzten Artilleriegeschütze stieg aber nur schleppend an, und Bismarck argwöhnte, dass Moltke und der Generalstab logistische Probleme vorschoben, um die Ausführung des Befehls absichtlich zu verzögern. Im Vorfeld der Kaiserproklamation steigerte der immer reizbarer werdende Kanzler sich geradezu in den Glauben hinein, es liege eine regelrechte Verschwörung der Militärs gegen ihn vor. Diese wüssten wohl, meinte Bismarck, «daß sie einen königlichen Befehl nicht oder nur mangelhaft zu vollziehen brauchten», um ihm «einen Hieb auszuteilen». Im Generalstab halte man ihn ohnehin «für einen verkappten Demokraten». Zu den militärischen Lagebesprechungen werde er von den «Halbgöttern» in Uniform nicht eingeladen. Informationen über neue Entwicklungen an der Front erhalte er erst, wenn diese schon an die Presse gelangt seien. Vom Monarchen bekomme er keine Unterstützung. «Der Kaiser hat kein wahres Vertrauen mehr zu mir», jammerte er am Abend der Proklamation in Versailles schließlich und kündigte – nicht zum ersten Mal – seinen Rücktritt nach dem Ende des Krieges an.48 Bismarck war selbst nicht ganz unschuldig an dem gestörten Verhältnis zur militärischen Führung. Regelmäßig machte er die Nacht zum
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Tag, schlief dann bis gegen Mittag und verpasste die vom Frühaufsteher Moltke anberaumten Lagebesprechungen. Im Generalstab hielt man es auch deshalb zunehmend für überflüssig, ihn zu informieren. Als der Kronprinz die beiden Streithähne zu einem gemeinsamen Abendessen einlud, um zu vermitteln, kam Bismarck erst eine halbe Stunde zu spät. Dann riss er sofort das Gespräch an sich und warf Moltke vor, es sei der «größte Fehler» gewesen, Paris zu belagern. Der sonst vergleichsweise sehr zurückhaltende Generalstabschef antwortete mit gleicher Schärfe, um dann stur zu schweigen. Der Rest des Abends verlief eisig, und der Kronprinz bedauerte es im Nachhinein, den Vermittlungsversuch überhaupt unternommen zu haben.49 Allerdings lag der Kanzler durchaus richtig damit, dass Moltke und die Generalstäbler selbstherrlich agierten. Denn die Militärs verbaten sich nicht nur jedes Hineinreden der zivilen Führung in militärische Entscheidungen. Sie neigten auch dazu, Zivilisten grundsätzlich für Dilettanten zu halten, denen man deshalb eigentlich nicht einmal die Politik überlassen könne. Eine solche Einstellung war unter hohen Offizieren fast Allgemeingut. So notierte Paul Bronsart von Schellendorf am Tag der Versailler Kaiserproklamation als einhellige Meinung seiner Kollegen im Generalstab, die Politiker seien wieder einmal dabei, die militärischen Erfolge zu verspielen. Spöttisch vermerkte er, Bismarck tue zwar «natürlich das seinige, um seine Feldherreneigenschaften ins hellste Licht zu stellen». Tatsächlich aber sei der Kanzler «schwach». Sein Pochen auf einen Verhandlungsfrieden mit den Franzosen atme die «Idee des Rückzuges und der Defensive». Stattdessen sei der Angriff, sei die Weiterführung des Krieges geboten – bis zur «völligen Vernichtung» des Feindes.50 Solche Einstellungen der Generäle wurzelten bereits tief in der Geschichte Preußens. Durch die Erfolge der Kriege von 1866 und 1870 / 71 gewann in ihren Kreisen die Überzeugung eigener Überlegenheit, sei es gegen äußere Feinde oder gegenüber Zivilisten und Politikern, noch einmal beträchtlich an Stärke. Die preußischen Militärs hatten schon lange einen Staat im Staate gebildet. Doch nachdem der König von Preußen durch ihre Bajonette zum deutschen Kaiser erhoben worden war, kannte ihre Selbstüberschätzung kaum Grenzen mehr. Sedan und Versailles schrieben die Selbstherrlichkeit der preußischen Generalität tief in das Erbgut des neuen Deutschen Reiches ein. Begründet durch
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ihre Rolle bei der Nationalstaatsgründung, legitimiert durch den Verweis auf die kaiserliche Kommandogewalt und charakterisiert durch maßlose Überheblichkeit, war die Abneigung der Militärs gegen zivile Interventionen fortan ebenso gewaltig wie die Neigung, selbst in die Politik einzugreifen. Die Denkfigur der «völligen Vernichtung» von Feinden legt darüber hinaus nahe, dass solche militärischen Mentalitäten selbst über die Zäsur von 1918 wirksam waren. Zwar ist bei der Konstruktion von Kontinuitäten anhand von Begriffen einige Vorsicht angebracht. Im Denken der Generalstäbler von 1871 zielte «Vernichtung» nicht notwendigerweise auf den Tod des Gegenübers. Gedacht war vielmehr an jede Form des militärischen Erfolgs, der dem Feind die Möglichkeit zum Weiterkämpfen nahm, also auch an Entwaffnung und Gefangennahme. Eine Strategie der «völligen Vernichtung» gewann zudem erst angesichts der Erfahrungen mit dem Volkskrieg, den die französische Republik ausrief und der die Grenzen zwischen Kombattanten und Zivilisten verschwimmen ließ, unter deutschen Militärs größere Sympathien. Doch so lang und gewunden der Weg war, der von 1871 über die Kolonialkriege des Kaiserreiches und den Ersten zum Zweiten Weltkrieg führte, und sowenig damit eine Pfadabhängigkeit begründet wurde – ein Anfang war gemacht. 1871 wurde eine weitere militärische Eskalation verhindert durch das schnelle Ende des Krieges. Für die meisten Zeitgenossen kam es überraschend. Als Anton von Werner am Morgen nach dem Tag der Kaiserproklamation ausging, um sich in Versailles Papier für eine größere Skizze des Festakts zu besorgen, bemerkte er «in den Straßen auffallende militärische Bewegung. Dragoner-Patrouillen durchritten die Stadt, auf der Place d’Armes und den Avenues de Paris und St. Cloud waren bayerische und preußische Bataillone aufgestellt», und heftiges Geschützfeuer war zu hören. Von einem Offizier erfuhr Werner schließlich, dass die in Paris eingeschlossenen französischen Truppen einen massiven Angriff gegen die deutschen Stellungen begonnen hatten. Den ganzen Tag über beobachtete er Wagen mit Verwundeten, die von der Kampflinie nach Versailles zurückkehrten. Der Spiegelsaal des Schlosses wurde in aller Eile zu einem improvisierten Lazarett umfunktioniert.51 Am Abend gaben die Franzosen den Versuch auf, die deutsche Belagerung zu sprengen. Es sollte ihr letzter gewesen sein. Insgesamt wur-
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den bei den Kämpfen am 19. Januar fast 5000 Menschen getötet, mehr als vier Fünftel davon Franzosen. Unter den Toten war auch ein französischer Maler, den Werner zwei Jahre zuvor in Rom kennengelernt hatte. Angesichts des fehlgeschlagenen Ausbruchs, der hohen Zahl von Opfern und der zu Ende gehenden Nahrungsvorräte brach die Kampfbereitschaft in Paris zusammen. Gleichzeitig wurden an der Loire und im Norden die letzten Feldarmeen Frankreichs geschlagen. Am 23. Januar bot die französische Regierung Verhandlungen über einen Waffenstillstand an. Tags darauf begonnen, konnten sie bis zum Ende des Monats erfolgreich abgeschlossen werden.
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Für Anton von Werner kam das Ende der Kampfhandlungen zu früh. Am Tag nach dem gescheiterten letzten Ausbruchversuch der Franzosen aus Paris schrieb er seinem Vater, dass der Großherzog von Baden bei ihm ein großes Bild der Kaiserproklamation in Auftrag gegeben habe. Das Gemälde, gedacht für das Berliner Schloss, solle dem Kaiser geschenkt werden. Der Auftrag sei nicht nur «ehrenvoll», sondern auch «für meine Zukunft von allergrößtem Werthe». Für das monumentale Werk wollte Werner allerdings Dutzende Porträtskizzen anfertigen und musste sich nun Sorgen machen, ob ihm das vor einer Verlegung der militärischen Einheiten, zu denen die im Spiegelsaal Anwesenden gehörten, noch gelingen würde.52 Der Waffenstillstand wurde am 28. Januar unterzeichnet. Am Abend desselben Tages legte Werner dem preußischen Kronprinzen Entwürfe des geplanten Gemäldes vor. Manches daran war noch skizzenhaft, auf der Empore fehlten etwa noch, wie Werner entschuldigend anmerkte, «ein Stücker sechs Fürsten». Der Kronprinz war jedoch nicht nur amüsiert darüber, wie der Künstler die hohen Herrschaften als Dutzendware klassifizierte. Er notierte auch, «der sehr geniale Maler von Werner» habe «äußerst gelungene Skizzen» für ein monumentales Gemälde erstellt, mit dem an die Kaiserproklamation erinnert werden könnte. Voll des Lobes schlug er Werner vor, selbst einen geeigneten Ort im Berliner Schloss auszusuchen, an dem das Gemälde präsentiert werden sollte.53
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Nachdem Ende Februar 1871 der Vorfriede von Versailles abgeschlossen worden war, reiste Anton von Werner im Gefolge des badischen Großherzogs zurück nach Karlsruhe. Bald darauf siedelte der Künstler, wie lange geplant, nach Berlin über – ein Schritt, der sich nun mit der Erwartung verband, die im preußischen Hauptquartier von Versailles etablierten Kontakte in der neuen Reichshauptstadt für eine steile Karriere nutzen zu können. Im Sommer heiratete er in Berlin seine Malvina. Zusammen mit dem Kronprinzen hatte er dort schon Ende April eine Wand des königlichen Thronsaals im Schloss als Platz für das geplante Gemälde ausgewählt. Die Ausführung des Werkes verzögerte sich allerdings. Eigentlich sollte das Bild dem Kaiser von allen deutschen Fürsten gemeinsam geschenkt werden. So war es in Versailles besprochen worden. Doch die partikularistischen Ressentiments, die schon bei der Kaiserproklamation selbst offenbar geworden waren, belasteten auch das Bemühen um die Erinnerung an den Festakt. Die Verhandlungen zwischen den Fürsten über die Finanzierung des geplanten Gemäldes zogen sich hin. Schließlich musste der badische Großherzog eine finanzielle Garantie geben, damit der Vertrag mit dem Künstler aufgesetzt werden konnte. Mitte 1872 wurde er unterzeichnet. Als Termin für die Fertigstellung war ursprünglich März 1875 vorgesehen; das Gemälde sollte Wilhelm zu seinem 78. Geburtstag geschenkt werden. Aber Anton von Werner kam mit der Arbeit an dem Bild der Kaiserproklamation nur langsam voran, weil er sich bald von anderen Aufträgen schier überhäuft sah. Schon 1871 erhielt er die Aufgabe, eines der fünf riesigen Segeltücher zu bemalen, die bei der Siegesparade Unter den Linden aufgespannt wurden. Im nächsten Jahr bekam er den Auftrag, die Vorlage für das Mosaik zu schaffen, mit dem die Säulenhalle auf dem Sockel der Siegessäule geschmückt werden sollte. Fast schon nebenher vollendete Werner 1873 das Monumentalgemälde «Moltke und der Generalstab vor Paris», für das er im Auftrag des Schleswig-Holsteinischen Kunstvereins 1870 das erste Mal nach Versailles gereist war, und begann mit der Arbeit an einem Bilderzyklus für das Saarbrücker Rathaus über den deutsch-französischen Krieg vor Ort. Über seinen Kontakt zu Moltke und vor allem zum Kronprinzen, mit dem eine freundschaftliche Beziehung entstand, kam Werner auch in engeren Kontakt zum Kaiser. Während der Zeit des preußischen Ver-
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fassungskonflikts hatte der junge Werner dem Monarchen ausgesprochen kritisch gegenübergestanden. Nun avancierte er fast zu Wilhelms Hofmaler. Dabei legte Werner allerdings stets Wert auf Unabhängigkeit. Als er 1874 in die preußische Kunstakademie aufgenommen und zum Direktor der Hochschule der bildenden Künste ernannt wurde, lehnte er die bis dahin übliche Ernennung auf Lebenszeit ab und akzeptierte nur einen befristeten Direktorenvertrag. In der Hochschule engagierte er sich für eine durchgreifende Reform des Lehrprogramms, dessen Attraktivität dadurch beträchtlich wuchs: Die Zahl der Studenten stieg in den nächsten Jahren um mehr als das Doppelte. Wie bei Studierenden und Fürsten erfreute Anton von Werner sich auch bei privaten Auftraggebern großer Popularität. Berliner Großbürger rissen sich geradezu darum, dass er und seine Werkstatt ihre Häuser mit Wand- und Deckenmalereien ausstatteten. Die ersten Jahre nach der Bildung des deutschen Nationalstaats waren, wie Werner sich später erinnerte, «gute Zeiten für die Kunst». Und nicht nur für diese: Wachsender internationaler Warenaustausch, begünstigt durch Freihandel und eine Liberalisierung des Wirtschaftsrechts im neuen Deutschen Reich, schuf die Voraussetzung für einen wirtschaftlichen Aufschwung. Zusätzlich angekurbelt wurde die Hochkonjunktur noch durch öffentliche Investitionen aus den französischen Entschädigungszahlungen für den Krieg von 1870 / 71. Auch als diese 1873 ausliefen, auf den Gründerboom ein «Gründerkrach» folgte und die Wachstumsraten einbrachen, blieb die Auftragslage für Künstler weiterhin gut. Die Politik der Liberalen, denen Werner politisch nach wie vor nahestand, verlor durch die Änderung der wirtschaftlichen Großwetterlage zwar auf die Dauer an Sympathien. Für den Künstler galt das aber noch lange Zeit nicht.54 Anfang 1875 musste Werner den badischen Großherzog um eine Verschiebung des vertraglich vereinbarten Termins für die Fertigstellung des Bildes zur Kaiserproklamation bitten. Der Aufschub wurde gewährt, aber die Arbeit an dem Monumentalgemälde zog sich weiter hin. Immer wieder musste der Künstler spontane Wünsche des Großherzogs und des preußischen Kronprinzen erfüllen, bestimmte Personen noch auf dem Gemälde zu verewigen. Zum 80. Geburtstag von Kaiser Wilhelm am 22. März 1877 wurde es schließlich im Berliner Schloss enthüllt. Diese Schlossfassung von Werners «Kaiserproklamation» gibt es heute nicht mehr. Sie verbrannte im April 1945 bei einem Luftangriff auf
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Anton von Werner, Die Proklamation des deutschen Kaiserreiches 1871 (Schlossfassung von 1877)
Berlin. Mit ihrem Format von gut vier mal acht Metern war sie nicht nur wesentlich größer als die einzig erhaltene, später entstandene Friedrichsruher Fassung. Die Schlossfassung stellte den Festakt auch aus einer ganz anderen Perspektive dar als die spätere Version, die heute als ikonische Darstellung des Ereignisses vom 18. Januar im Spiegelsaal des Versailler Schlosses schlechthin gilt. Für beide Bildfassungen wählte Werner den gleichen Zeitpunkt im Ablauf der Zeremonie: den Moment nämlich, in dem der badische Großherzog Wilhelm zum Kaiser ausrief und das Publikum mit begeisterten Hochrufen reagierte. Der Blickwinkel auf diesen Moment könnte aber kaum verschiedener sein. In der späteren und bekannteren Friedrichsruher Fassung steht eindeutig Bismarck im Mittelpunkt des Bildes. In der Schlossfassung von 1877 dagegen gibt es keinen Mittelpunkt, keinen klaren Fluchtpunkt, auf den der Blick des Betrachters gelenkt wird. Bismarck ist in der Fassung von 1877 auf der linken Seite des Bildes unterhalb der Treppenstufen zur Fürstenempore zwar auszumachen. Hervorgehoben ist seine Figur allerdings nicht, zumal er anders als in der späteren Fassung nicht mit einem weißen Uniformrock abgebildet ist, sondern mit dem blauen, den er bei dem Festakt tatsächlich trug. Das Gleiche gilt für den rechts hinter ihm zu erkennenden Moltke. Auch die
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Fürsten und Fahnenträger auf der Empore sind in der Schlossfassung nicht in den Vordergrund gerückt. Wilhelm steht in der Mitte der Empore als eine von ganz wenigen der dargestellten Personen immerhin frei, ist also von anderen Figuren nicht teilweise verdeckt. Aber auch auf ihn wird der Blick des Betrachters nicht besonders gelenkt. Wie die übrigen Fürsten erscheint der Kaiser, bedingt durch den Blickwinkel von der Fensterseite am Eingang des Spiegelsaals, sogar deutlich kleiner als die Hochrufer im Vordergrund. Diese nehmen den größten Teil der Bildfläche ein. Anton von Werner hat in penibler Detailarbeit 128 der mehr als tausend Teilnehmer der Kaiserproklamation porträtiert. Die individuellen Porträts befriedigten zum einen das Geltungsbedürfnis der Dargestellten. Das Tauziehen zwischen Stiftern und Künstler während der Arbeit an dem Gemälde darüber, wer abzubilden sei, belegt das deutlich. Die Individualität der Porträtierten nimmt den Hochrufern zudem den Charakter einer anonymen Masse oder Menge, als die sie Werner offensichtlich nicht darstellen wollte. Allerdings sind die Hochrufer bestenfalls im Profil gezeigt. Man kann Einzelne hier nur wiederfinden, wenn man sie denn gezielt sucht. Auch unter ihnen wird keiner hervorgehoben. Keiner von ihnen schaut in Richtung des Betrachters. Weder einer der porträtierten Generäle und Offiziere noch einer der Fürsten zieht auf Werners Darstellung der Kaiserproklamation von 1877 die Augen des Betrachters besonders auf sich. Wenn es eine Person auf dem Gemälde gibt, die das tut, so ist es am ehesten die Figur des Gardesoldaten am Fuß der Stufen zur Empore. Anton von Werner porträtierte dafür Louis Stellmacher aus Lychen in der Uckermark, einem kleinen Ort im Norden der Provinz Brandenburg – einen einfachen Soldat, der sonst keinerlei Spuren von irgendwelcher «historischen» Bedeutung hinterlassen hat. Dieser Gardesoldat steht nicht nur so isoliert und frei wie kein anderer der auf dem Gemälde dargestellten Personen. Er wird auch durch seinen weißen Uniformrock zusätzlich hervorgehoben – wie Bismarck auf der späteren Friedrichsruher Fassung der «Kaiserproklamation». Zudem ist der Soldat eine der ganz wenigen Figuren auf dem Bild, die annähernd in Richtung des Betrachters blicken. Neben dem Gardesoldaten sind vier Personen auf dem Bild dargestellt, die weder hohe Offiziere noch Fürsten sind. In der linken unteren Bildecke stehen zwei weitere preußische Gardesoldaten, ebenfalls in auf-
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fälligen weißen Uniformröcken, die jubelnd ihre Säbel heben. Betrachtet man das Bild länger, fällt auf, dass sie auf zwei marmornen Treppenstufen stehen, die zum eigentlichen Boden des Saals hinaufführen – und die es im Spiegelsaal des Versailler Schlosses tatsächlich gar nicht gibt. Das Gegenstück dieser beiden preußischen Gardisten bilden in der rechten unteren Bildecke zwei Soldaten in bayerischen Uniformen. Sie stehen mit dem Rücken zum Betrachter. Diese preußischen und bayerischen Soldaten vertreten die Gruppe der Mannschaften, die am 18. Januar 1871 auf der Fensterseite des Spiegelsaals aufgestellt waren. Tatsächlich hat Anton von Werner den Betrachter des Gemäldes mitten unter diese gestellt. Er selbst befand sich zwar auch auf der Fensterseite, ist aber am rechten Bildrand zu sehen. Nicht seine eigene Sicht auf den Festakt der Kaiserproklamation hat er also in dem Gemälde von 1877 abgebildet, sondern die der Soldaten – der Vertreter des einfachen «Volks». Der Künstler hat damit ebenso technisch geschickt wie diplomatisch raffiniert die Erwartungen der fürstlichen Stifter des Bildes und der in Versailles anwesenden hohen Offiziere erfüllt, wie er das weitgehend von der Zeremonie ausgegrenzte «Volk» als Soldaten und als Betrachter integriert hat. Zudem ist es ihm gelungen, die im Umfeld der Proklamation aufbrandenden und 1877 noch keineswegs überwundenen Gegensätze zwischen Süddeutschen und Preußen zumindest künstlerisch auszugleichen – was seinem wichtigsten fürstlichen Gönner, dem badischen Großherzog, ebenso ein großes Anliegen war wie ihm selbst. Dazu dienten einmal die das Bild links und rechts unten flankierenden preußischen Gardisten und bayerischen Soldaten. Darüber hinaus hat Werner auch viel Mühe darauf verwendet, bei den individuell porträtierten Honoratioren ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Preußen und Süddeutschen herzustellen. Werner malte mit der ersten Fassung der «Kaiserproklamation» von 1877 so im wahrsten Sinne des Wortes das Bild einer «Reichseinigung». Seine Darstellung entsprach vor allem den Idealen der liberalen Nationalbewegung, denen er selbst ebenso nahestand wie sein Patron und Auftraggeber, der Großherzog von Baden. Alle wesentlichen Gruppen wurden miteinbezogen, während Werner die Gegensätze zwischen Nord und Süd mit seiner Darstellung, in der alle Anwesenden dem Kaiser ohne Ausnahme begeistert zujubelten, gleichermaßen «übermalte»
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wie die weitgehende Ausgrenzung der Vertreter des «Volkes» von dem Festakt. Dieses Bild der Reichsgründung stammte ursprünglich aus bürgerlich-liberalen Kreisen. Angesichts des Sieges der von adligen preußischen Offizieren geführten deutschen Armeen gegen die Volksheere der französischen Republik 1871 verabschiedete sich das liberale Bürgertum endgültig vom Ideal der Miliz als Verkörperung des «Volks in Waffen». Wie Frank Becker gezeigt hat, war die Folge allerdings keine «Feudalisierung» der Mittelschichten, keine Anpassung an den Wertehorizont eines traditionellen, elitär-aristokratischen preußischen Militarismus. Das Bürgertum konstruierte vielmehr ein neues nationales Narrativ in Form einer Symbiose von Adel, Monarchie und «Volk». Dieses Narrativ zeichnete die aristokratischen «Helden der Einigungskriege» sachte als Menschen mit bürgerlichen Zügen: Moltke als «Professor in Uniform», Wilhelm als bieder-bescheidenen, einem mittelständischen Arbeitsethos verpflichteten König. Der militärische Führungsanspruch Preußens und seines adligen Offizierskorps wurde dabei durchaus anerkannt. Gleichzeitig aber wurde auch ein Anspruch auf Anerkennung des Anteils der Süddeutschen und der einfachen Soldaten, der «Bürger in Uniform», an den Siegen von 1870 / 71 angemeldet.55 Für große Teile der alten aristokratischen Eliten war das durchaus akzeptabel. Anton von Werners Schlossfassung der «Kaiserproklamation» von 1877 stand für eine Erinnerung an die Reichsgründung, auf die sich eine Mehrheit von Konservativen und Liberalen nördlich wie südlich des Mains einigen konnte. Als Geschichtskonstruktion bildete sie den Hintergrund für die Politik, mit der seit 1871 die äußere Einigung der Nation im Innern fortgesetzt wurde. Diese innere Reichsgründung trieb besonders die 1866 gegründete Nationalliberale Partei voran, mit anderen liberalen Gruppen und den pragmatisch orientierten Freikonservativen der Deutschen Reichspartei als Juniorpartnern. Altkonservative und Partikularisten in Preußen und den süddeutschen Staaten blieben dagegen zunächst weiter auf Distanz zu dem neuen Deutschen Reich. Die äußere Hülle des Reiches, dessen Gründung am 18. Januar 1871 in Versailles gefeiert worden war, wurde so in den nächsten Jahren vor allem mit liberalen Inhalten gefüllt. Das Deutsche Reich war als Staatenbund gegründet worden. Im Zuge der inneren Reichsgründung verwandelte es sich mehr und mehr
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in einen Bundesstaat. 1867 hatte es in Deutschland noch zehn verschiedene Währungen und drei Dutzend Notenbanken gegeben. Durch Münz- und Bankgesetze wurde innerhalb weniger Jahre eine Währungsunion geschaffen. Gleichzeitig entstand auch eine Wirtschaftsunion. Der 1834 gegründete Zollverein hatte in dieser Hinsicht zwar schon vor der Reichsgründung manches vorbereitet. Die wirtschaftsrelevante Gesetzgebung der Gliedstaaten des Deutschen Reiches zu vereinheitlichen dauerte jedoch noch ein gutes Jahrzehnt. Während der liberalen Ära der 1870er Jahre kamen in langwierigen Aushandlungsprozessen ein nationales Aktienrecht, Strafrecht und Pressegesetz zustande. Mit der Metamorphose des ursprünglichen Staatenbundes in einen Bundesstaat gingen immer mehr Kompetenzen auf das Reich über. Eine Reichsbank wurde gegründet, ein Reichsgericht, eine Reichspost, Reichskanzleramt, Reichsschatzamt, Reichsmarineamt. Weitere Reichsämter folgten. Das kostete Geld, allein schon für eine wachsende Zahl von Reichsbeamten. Größere finanzielle Bedürfnisse zentraler Institutionen aber waren in der ursprünglichen Verfassungskonstruktion eigentlich nicht vorgesehen gewesen. Das Reich war ein «Kostgänger» seiner Gliedstaaten, wie man sagte: Seine Institutionen wurden durch Überweisungen der Einzelstaaten finanziert, durch sogenannte Matrikularbeiträge. Über die Höhe dieser Matrikularbeiträge bestimmten jährlich die Parlamente der Einzelstaaten, und der Reichstag gab das Geld dann frei. Den Liberalen, die in den Volksvertretungen zunächst dominierten, diente die wachsende Finanznot des Reiches deshalb als willkommenes Druckmittel: Geld wollten sie nur gegen Zugeständnisse an liberale Interessen, gegen Machtgewinn des Reichstags bewilligen.
Konservative Perspektivwechsel Konservative Perspektivwechsel
Die konservative Reichsleitung um Bismarck begann Mitte der 1870er Jahre zu überlegen, wie ein solcher Machtgewinn des Parlaments verhindert werden könnte. Der Wechsel in der wirtschaftlichen Großwetterlage kam ihr zu Hilfe: Als auf den Boom der Reichsgründungszeit Krisenjahre folgten, geriet die liberale Wirtschaftspolitik in die Kritik. Teile der Industrie und des Handwerks, vor allem aber die Landwirte forder-
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ten Schutzzölle gegen die Konkurrenz des Auslandes. Die liberale Mehrheit in den Parlamenten hielt dennoch weiter am Freihandel fest. Allerdings begann diese Mehrheit deshalb bei den Wahlen zum preußischen Landtag und zum Reichstag nun langsam zu schrumpfen. Gleichzeitig gaben die preußischen Altkonservativen ihre bisherige Opposition gegen die Reichsgründung auf. 1876 formierten sie sich als Deutschkonservative Partei neu. Der Name war Programm: Statt weiter über das Aufgehen Preußens in Deutschland zu schmollen, wollten sie sich jetzt aktiv an der Gestaltung der neuen Nation beteiligen. Auf der Welle der landwirtschaftlichen Protestbewegung ritten die Konservativen von Wahlerfolg zu Wahlerfolg. Die Liberalen verloren im Reichstag 1877 ihre bisherige absolute Mehrheit für immer. Im nächsten Jahr büßten sie bei vorgezogenen Neuwahlen weiter an Stimmen ein. Bei den Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus erlitten die liberalen Parteien 1879 eine geradezu vernichtende Niederlage. Nach dem inneren Ausbau des Nationalstaats im liberalen Geist, der Norddeutschen Bund und Deutsches Reich für ein gutes Jahrzehnt geprägt hatte, wehte nun ein deutlich konservativerer Wind. 1879 wurden Zölle eingeführt. Den Liberalen nahestehende Minister und Staatssekretäre mussten im Reich wie in Preußen ihre Posten räumen. Selbst in untergeordneten Verwaltungspositionen wurden seit Anfang der 1880er Jahre bevorzugt konservative Aristokraten eingestellt. Der Reichstag revidierte die gerade erst liberalisierte Gewerbeordnung im konservativen Sinn. Antisemitische Kampagnen stellten die von den Liberalen durchgesetzte Emanzipation der Juden wieder in Frage. Anton von Werner gehörte zwar zu der kleiner werdenden Gruppe, die sich weiterhin zu liberalen Anschauungen bekannte. Im Antisemitismus sah er eine «widerliche Bewegung», gegen die er in der preußischen Akademie der Künste offen Stellung bezog. Als ihm im Zusammenhang mit der Einführung des Zollschutzes fehlende nationale Gesinnung vorgeworfen wurde, weil er als Direktor der Kunsthochschule den Studenten kein deutsches Zeichenpapier empfahl, entgegnete er nur spöttisch, französisches Papier sei nun einmal besser.56 Dennoch reflektierten seine nach der konservativen Wende des Kaiserreiches entstandenen, späteren Darstellungen der Kaiserproklamation, ob auf Druck der jeweiligen Auftraggeber oder unbewusst, den veränderten Zeitgeist. Nach der Enthüllung der Schlossfassung von 1877 erreichten Wer-
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Anton von Werner, Die Proklamation des deutschen Kaiserreiches 1871 (Holzschnitt 1880)
ner zahlreiche Bitten, die «Kaiserproklamation» zu reproduzieren – sei es als Einzelstück in Öl, sei es zur massenhaften Verbreitung als Holzstich und Buchillustration. Exakte Kopien der ersten Fassung waren allerdings bereits aus praktischen Gründen problematisch. Der mit dem badischen Großherzog für die Schlossfassung abgeschlossene Vertrag untersagte dem Künstler solche Repliken. Und der monumentale Charakter des gut vier mal acht Meter messenden Gemäldes mit seinen über hundert Figuren machte es für eine Reproduktion im kleineren Format wenig geeignet. Seine Überbreite war zudem für die Verwendung als Buchillustration ein schwer zu überwindendes Hindernis. Das gleiche Problem ergab sich auch bei dem 1880 erteilten Auftrag, für die Umgestaltung des Berliner Zeughauses in eine preußische «Ruhmeshalle» den Moment der Kaiserproklamation erneut darzustellen: Denn die dafür vorgesehene Wandnische war bei einer Breite von sechs Metern bis zu fünf Meter hoch.
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Werner experimentierte deshalb in den nächsten Jahren mit Varianten der ursprünglichen Darstellung. In der ersten dieser Varianten verschob der Künstler 1880 den Blickwinkel radikal: Statt in die hintere Ecke des Spiegelsaals positionierte Werner den Betrachter jetzt direkt vor die Empore mit den Fürsten. Damit rückte der Kaiser in den Mittelpunkt des Bildes, flankiert vom Kronprinzen links und dem badischen Großherzog rechts. Darunter stand am Fuß der Treppe Bismarck mit Moltke. Diese Variante illustrierte zahlreiche während der 1880er und 1890er Jahre erschienene Bücher. In manchen Versionen wurde das Duo Bismarck und Moltke um den preußischen Kriegsminister Albrecht von Roon, der bei dem Festakt am 18. Januar wegen Krankheit tatsächlich gar nicht präsent gewesen war, zu einem Trio erweitert. Ebenfalls 1880 entstand ein erster Entwurf für das Gemälde in der «Ruhmeshalle». Diese dann 1882 ausgeführte «Zeughausfassung» wurde wie die im Berliner Schloss während des Zweiten Weltkriegs zerstört. Sie diente auch als Vorlage für die erhaltene Friedrichsruher Fassung (siehe Umschlag). In dieser Darstellung verschob der Künstler die Perspektive weniger radikal, aber mit ähnlich gravierenden Folgen für die Gewichtung der Personengruppen. Der Betrachter blickt darin wie in der Schlossfassung von einem Standpunkt an der Fensterseite des Versailler Spiegelsaals auf die Kaiserproklamation – allerdings nicht hinten im Saal stehend, sondern vorne, etwa auf der Höhe der Treppe zur Empore. Mehr als die Hälfte des jubelnden Publikums aus der Schlossfassung fällt damit weg. Der Rest der Zuschauer bildet in der neuen Fassung das Gegengewicht zu der auf der Empore nun zahlenmäßig etwa gleich starken Gruppe der Fürsten, deren Position jetzt zudem erhöht ist. Zwischen den beiden Gruppen sticht Bismarck hervor. Anders als noch auf der Darstellung von 1877 ist der Kanzler durch eine auffallende weiße Kürassieruniform hervorgehoben, die er am 18. Januar 1871 in Wirklichkeit nicht trug. In beiden neuen Varianten wird also der Blick auf «große Männer» gelenkt – entweder auf Wilhelm oder auf Bismarck. Die Reichsgründung wird damit zur Leistung von heroisierten Einzelpersonen verklärt, während sie in der Schlossfassung 1877 noch als Leistung der ganzen Nation dargestellt worden war. In den frühen 1880er Jahren vermitteln die Versionen von Werners «Kaiserproklamation» so statt einer national-liberalen eine deutlich konservativere Sicht der Reichsgründung: Den Fürsten kommt jetzt eine wesentlich wichtigere Rolle zu. Andere Vertreter der
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Nation treten dagegen zurück. Besonders gilt das für die Repräsentanten des «Volks». In der Fassung des Bildes von 1877 zog der einfache Gardesoldat am Fuß der Empore noch mehr als jede andere der dargestellten Personen die Blicke des Betrachters auf sich. In einer Federzeichnung von 1878, in der Werner bereits mit der neuen Perspektive experimentierte, die er dann auch in der Zeughausfassung nutzte, war dieser Gardist in auffallend weißem Waffenrock immer noch ein Blickfang im Zentrum des Bildes. Bismarck dahinter hob sich, in dunkler Uniform, von den übrigen Dargestellten nicht ab. In den späteren Versionen rückte der Gardesoldat dann aber an den Rand und aus dem Fokus, oder er fehlte sogar ganz. «Um Bismarck sichtbar zu machen», verpasste Werner dagegen dem Reichskanzler die von ihm in Versailles nicht getragene helle Uniform.57 In der 1882 fertiggestellten Zeughausfassung ist der konservativelitäre Fokus der Darstellung sogar noch offensichtlicher als in dem Entwurf von 1880. Im Entwurf wurde die Darstellung noch rechts und links von jubelnden Soldaten flankiert. In der Endfassung fehlen diese. Während das «Volk» in der Schlossfassung von 1877 also bei der Kaiserproklamation präsent und beteiligt war, wurde es 1882 vom aktiven Teilhaber der Reichsgründung zum distanzierten Betrachter degradiert. Die Rolle der Nation beschränkte sich jetzt darauf, das Werk der aristokratischen Eliten in der Berliner «Ruhmeshalle» aus respektvoller Entfernung anstaunen zu dürfen. Konsequenterweise übertrug Anton von Werner das Motiv der preußisch-süddeutschen Waffenbrüderschaft und Einheit, in der Schlossfassung 1877 noch von den jubelnden Soldaten in den unteren Bildecken verkörpert, 1882 von diesen Vertretern des «Volks» auf Angehörige der aristokratischen Eliten. Dafür wählte er in der Zeughausfassung genau das Zentrum des Gemäldes, direkt neben der die Blicke auf sich ziehenden Figur Bismarcks. Hier fügte er den bayerischen General Jakob von Hartmann und den preußischen Generalstäbler von Blumenthal ein, die sich inmitten des sie umgebenden Jubels die Hände gaben. Werner dürfte sich dafür an ein «unvergeßliches Bild» erinnert haben, dessen Zeuge er im März 1871 auf der deutschen Siegesparade in Paris nach Abschluss des Vorfriedens geworden war, wo Hartmann und Bismarck «sich in freudiger Erregung die Hände schüttelten, als ob sie den neuen Bund besiegeln wollten: keine Mainlinie zwischen Nord- und Süddeutschland mehr!»58
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1885 entstand mit der Friedrichsruher schließlich die einzig erhaltene Gemäldefassung von Werners «Kaiserproklamation». Ihre Entstehungsgeschichte ist von allen die kurioseste. Kurz vor Bismarcks 70. Geburtstag am 1. April des Jahres kam in der königlichen Familie die Idee auf, dem Kanzler ein Gemälde nach dem Vorbild der Zeughausfassung zu schenken. Der Adjutant des Kaisers überbrachte Anton von Werner den Auftrag dazu im Februar. Weil dem Künstler nur vier Wochen Zeit für die Ausführung blieben, kolorierte er kurzerhand einfach den großformatigen Entwurf mit den Umrissen der Figuren, den er für das Wandgemälde im Zeughaus angefertigt hatte. Die heute bekannteste Version des Bildes ist also eigentlich eine eilig aufgehübschte Vorstudie. Der Druck, unter dem die Friedrichsruher Fassung entstand, resultierte noch in einem anderen Kuriosum, das allerdings erst bei näherem Hinsehen offenbar wird. Kaiser Wilhelm wollte unbedingt Bismarcks persönlichen Freund Kriegsminister Albrecht von Roon auf dem Bild verewigt sehen – obwohl Roon am 18. Januar 1871 an dem Festakt im Spiegelsaal von Versailles gar nicht hatte teilnehmen können. Werner beugte sich dem kaiserlichen Wunsch und manipulierte Roon links von Bismarck in das Gemälde hinein, hinter den Treppenstufen zur Empore. Roons Figur verdeckte nun allerdings den Handschlag zwischen dem Bayern Hartmann und dem Preußen Blumenthal. Blumenthals ausgestreckter Arm verschwindet auf dem Gemälde von 1885 deshalb in der Höhe von Roons Becken. In der einzig überlieferten Gemäldefassung der «Kaiserproklamation» sieht es deshalb so aus, als ob ein preußischer General seinem Kriegsminister entweder in die Tasche greift oder den Po tätschelt. Mit der Übermalung des symbolischen Händedrucks zwischen Preußen und Bayern verschwand das Motiv der Überwindung des Nord-SüdGegensatzes, das bis dahin in Anton von Werners Darstellungen der Reichsgründung eine Konstante gebildet hatte. Das geschah 1885 wegen einer Laune des Kaisers, war im Grunde also zufällig. Es passte freilich zu Entwicklungen auf anderen Gebieten, in denen es ebenfalls um die Erinnerung an die Reichsgründung ging. Die erinnerungspolitischen Deutungskämpfe zwischen Preußen und Süddeutschen, zwischen Nationalisten und Partikularisten verloren um die Mitte der 1880er Jahre langsam an Zündstoff. Einzelstaatliche Identitäten und Traditionen wurden zunehmend mit denen des Reiches verschmolzen, der Gegensatz zwischen Nord und Süd verlor an Bedeutung.
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Nationalgedenken, Heimatgedanke und Moderne Nationalgedenken, Heimatgedanke und Moderne
Das illustriert unter anderem die Geschichte der vielfältigen Erinnerungsarbeit an 1871. Die Gründung des Deutschen Reiches war in Versailles am 18. Januar kaum verkündet, als diese schon begann. Im Bereich der Kunst waren die Vorlaufzeiten länger, wie die Entstehung schon der ersten Fassung von Werners «Kaiserproklamation» illustriert. Dagegen setzte das Bemühen um Gedenktage an die Reichsgründung fast sofort ein. Noch im Januar 1871 rief das in Leipzig erscheinende Kirchliche Gemeindeblatt zur Einführung eines Feiertags auf, an dem in ganz Deutschland der Bildung des Nationalstaats gedacht werden sollte. Die Berliner Neue Evangelische Kirchenzeitung sekundierte kurz darauf, und im März wandte sich eine Adresse des Deutschen Liberalen Protestantenvereins mit demselben Anliegen direkt an Kaiser Wilhelm. Doch der Kaiser reagierte zurückhaltend. Er stehe der Idee eines Nationalfeiertages an sich zwar nicht ablehnend gegenüber. Eine solche Tradition müsse aber spontan aus dem Volk heraus entstehen, nicht von oben verordnet werden. Als Anton von Werners Gönner, der badische Großherzog, im Sommer 1872 bei Wilhelm einen erneuten Vorstoß unternahm, den 18. Januar zum Nationalfeiertag zu erheben, offenbarte der intern den wahren Grund seiner Zurückhaltung: Dieser Tag des preußischen Ordens- und Krönungsfestes sollte ein spezifisch preußischer Feiertag bleiben, Preußens Traditionen nicht in solchen des neuen Reiches untergehen. Auch bei anderen Fürsten traf der Großherzog mit seinem Vorschlag auf wenig Gegenliebe. Angesichts der partikularistischen Vorbehalte und Ressentiments der Fürsten entstand die Tradition eines alljährlichen Erinnerungstages an die Reichsgründung so tatsächlich «von unten», aus der Bevölkerung selbst. Das war auch ein wichtiger Grund dafür, warum nicht der 18. Januar, an dem Fürsten und aristokratische Elite bei der Kaiserproklamation in Versailles weitgehend unter sich geblieben waren, sich zum Gedenktag entwickelte. Stattdessen setzte sich der 2. September als nationaler Feiertag durch – der Tag, an dem das «Volk in Waffen» 1870 in der Schlacht von Sedan den entscheidenden Sieg über das Frankreich Napoleons III. erkämpft hatte. Die Initiativen dazu gingen vor allem von den Trägern der liberalen
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Nationalbewegung aus. Es waren meist nationalliberal dominierte Stadträte, die in den frühen 1870er Jahren Sedanfeiern anregten. Neben den Stadtverwaltungen und Veteranenverbänden engagierten sich besonders Lehrer bei der Organisation der Feiern. Die Bürger wurden zur Beflaggung ihrer Häuser aufgefordert. Am Morgen des 2. September begannen die Sedanfeiern in der Regel mit Böllerschüssen. Bei einem Gottesdienst gedachte man der im Krieg Getöteten. Meist folgten Festumzug, Bankette, patriotische Reden. Zu wirklichen Volksfesten, an denen im ganzen Reich die gesamte Bevölkerung teilgenommen hätte, wurden die Sedanfeiern freilich nicht. Besonders in Süddeutschland blieben jene liberal gesinnten Bürger der Städte, die 1870 die lautstärksten Befürworter eines Anschlusses an den von Preußen geführten Norddeutschen Bund gewesen waren, beim Feiern vielfach unter sich. Beflaggt waren meist nur die bürgerlichen Wohnviertel der Innenstädte. Weder in den zunehmend industriell geprägten Vorstädten noch auf dem Land fanden die Sedanfeiern größeren Anklang. In Bayern spöttelte die katholische Presse über den «neuen Nationalheiligen St. Sedan». Unter bayerischen Priestern, die zunächst das Glockengeläut am 2. September oft rundheraus verweigerten, machte sogar das Wort vom Kult um «Sankt Satan» die Runde.59 Aber auch im protestantisch geprägten Sachsen blieben neben Arbeitern selbst manche Konservative und linke Liberale den Feierlichkeiten am Sedantag fern. Hier wie südlich des Mains verband sich die Opposition gegen den Feiertag während der 1870er Jahre mit einer andauernden Ablehnung preußischer Dominanz. In Württemberg nahmen die weiter in Distanz zu Preußen verharrenden süddeutschen Demokraten zunächst nicht teil. Wenn sie aber zu den Festbanketten auftauchten, warf man sie gelegentlich sogar hochkant hinaus. Denn für die Organisatoren der Sedanfeiern war das Gedenken an die Reichsgründung nicht allein nationales Anliegen, sondern auch politisches Kapital. Die Erinnerung an 1870 / 71 sollte zwar der nationalen Erbauung und Belehrung der Bevölkerung dienen. Aber das sollte doch in einem spezifisch liberalen Sinn geschehen. Es ging um die Formung der noch nicht auskristallisierten Erinnerung an die nationale Einigung, um historische Deutungshoheit. Die Sedanfeiern der 1870er Jahre waren nicht zuletzt ein Ausdruck des Bemühens der Liberalen, durch Geschichtspolitik ihre gesellschaftliche Dominanz zementieren zu helfen.
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Mit der Erinnerung an die Gründung des Nationalstaats wollten sie sich auch diesen selbst als Besitz dauerhaft aneignen. Ein eifersüchtiges Pochen auf ausschließliche Deutungshoheit bis hin zum handgreiflichen Ausschluss anderer von den Gedenkfeiern stellte sich freilich dafür langfristig als nur wenig geeignetes Instrument heraus. Mit dem politischen Niedergang des Liberalismus setzte auch ein Niedergang der Sedanfeiern ein. In Augsburg fanden sich zur Festansprache des Bürgermeisters schon 1880 deutlich weniger Zuhörer als in den 1870er Jahren ein. Allenfalls die Bierzelte erfreuten sich noch ungebrochener Anziehungskraft. Wie in Augsburg mussten die Feiern auch in Ulm statt am 2. September nun öfter am folgenden Sonntag stattfinden, weil die Unternehmer für die Feierlichkeiten keinen Arbeitstag mehr opfern wollten. Weil die Besucher wegblieben, wurde in Württemberg ab den 1880er Jahren oft nur noch unregelmäßig oder überhaupt nicht mehr gefeiert. Im nächsten Jahrzehnt degenerierte der Sedantag dann dort, wo er noch stattfand, meist zur reinen Veteranenveranstaltung. Der Krise des inoffiziellen Nationalfeiertages seit den 1880er Jahren entsprach allerdings keine Krise in der Entwicklung des Nationalbewusstseins. Das Gegenteil war der Fall. Schon im Lauf des ersten Jahrzehnts nach der Reichsgründung hatten die partikularistischen Reserven gegenüber dem neuen Nationalstaat vielerorts nachgelassen. Die Neugründung der preußischen Altkonservativen unter dem Namen Deutschkonservative Partei 1876 war nur ein Ausdruck davon. Parallel dazu registrierte Anton von Werner, dass unter seinen Bekannten in Thüringen oder Baden, die anfangs das «neue deutsche Reich» wegen der verlorenen Eigenstaatlichkeit noch abgelehnt hatten, «die Erinnerungen an die Vergangenheit Hoffnungen auf die Zukunft gewichen waren».60 Nach 1880 war die fundamentale Ablehnung des neuen Nationalstaats erst recht auf dem Rückzug. Die süddeutschen Demokraten akzeptierten seit dem Anfang der 1880er Jahre die Legitimität des Reiches. Die Katholiken südlich des Mains verabschiedeten sich von lange gehegten «großdeutschen» Träumen einer Verbindung mit dem katholischen Österreich statt mit dem protestantischen Preußen. Katholische Priester fanden sich immer öfter dazu bereit, bei Nationalfesten die Kirchenglocken zu läuten. Die grundsätzliche Akzeptanz der Zugehörigkeit zum neuen Nationalstaat ging dabei durchaus mit einem Festhalten an alten antipreußischen
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Ressentiments einher. Mehr noch, kulturelle Stereotype verfestigten und verstärkten sich während dieses Prozesses der Nationalisierung sogar. Witze über Preußen, Bayern, Schwaben boomten seit den 1880er Jahren erst recht. Die Pflege kultureller Vorurteile trat an die Stelle antinationaler politischer Vorbehalte. Aus der partikularistischen Opposition gegen die neue Nation wurde der unpolitische Wettbewerb darum, wer das bessere Bier braute. Die Süddeutschen und vor allem die Bayern pflegten weiterhin ihr Sonderbewusstsein, gingen auch weiter manche Sonderwege. Die Zugehörigkeit zum deutschen Nationalstaat wurde jedoch südlich des Mains seit den 1880er Jahren immer weniger in Frage gestellt. Verantwortlich dafür war eine lange Reihe von Entwicklungen und Institutionen, die wechselseitig verstärkend als Agenten der Nationalisierung wirkten. Der rasante Ausbau von Transport- und Kommunikationswesen ließ Deutschland bereits in den ersten Jahren nach der Reichsgründung zusammenwachsen. Das galt selbst dann, wenn die Mittel dafür teilweise in der Regie der Einzelstaaten verblieben waren, wie Eisenbahn und Post. Denn ob Einheitsporto oder Briefformate, Tarifvereinheitlichung oder Koordination des Netzausbaus: Sachzwänge wirkten ebenso wie Ausdehnung und Profilierungsdrang zentraler Bürokratien nicht nur national homogenisierend. Sie veränderten letztlich auch die Landkarten in den Köpfen der Menschen. Gleiches gilt für die Vereinheitlichung der Währung und der Rechtssysteme in den 1870er Jahren. Kaum zu überschätzen ist zudem die Funktion des Reichstags als nationales Symbol und Vehikel der Nationalisierung. In den 1880er Jahren war der Reichstag zum wichtigsten Forum geworden, in dem die Nation sich repräsentiert sah und über sich selbst verständigte – ganz entgegen der Intentionen der konservativen Eliten um Bismarck, die diese Funktion mit der Verfassung von 1871 eigentlich dem Bundesrat zugedacht hatten. Während der Bundesrat in der Gesellschaft kaum Interesse auf sich zog, genossen die öffentlichen Verhandlungen des Reichstagsplenums eine ungeheure Aufmerksamkeit. Parlamentsdebatten waren allgemeines Tagesgespräch. Sie bewegten die Menschen des Kaiserreichs in einem Ausmaß, das heute kaum noch vorstellbar ist. Die Wahlbeteiligung bei den Wahlen zum Reichstag stieg entsprechend an. Ging 1871 gerade einmal jeder zweite Wahlberechtigte zur Urne, waren es in den späten 1880er Jahren schon mehr als drei von vier.
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Wie das allgemeine Wahlrecht wirkte auch die «Schule der Nation» – die allgemeine Wehrpflicht – national integrierend auf die männliche Bevölkerung. Von noch größerer Bedeutung für den Prozess der nationalen Integration war allerdings die allgemeine Schulpflicht. Denn die Volksschulen erfassten außer den Männern auch die Frauen, die für eine Weitergabe kognitiver Landkarten durch die Generationen eine noch wichtigere Rolle spielten. Die Schulen trugen bei zu nationalen Feiern und dem Kult um nationale Symbole, zur Glorifizierung des «Einigungskrieges» von 1870 / 71 und der Kaiserproklamation von Versailles. Sie verbreiteten in Jahrzehnten nicht nur eine einheitliche, standardisierte deutsche Hochsprache in verschiedenen Regionen des Reiches, deren Bewohner sich noch 1871 oft kaum miteinander verständigen konnten. Und sie spielten schließlich auch eine zentrale Rolle bei der Etablierung und Transformierung von Heimatbildern in den Köpfen. In den 1880er Jahren löste die Heimatbewegung die Sedanfeiern als zentraler Ausdruck des nationalen Gedenkens ab. Damit einher gingen eine Intensivierung und beträchtliche Verbreiterung der sozialen Basis des Nationalbewusstseins. Wo der Sedantag im Wesentlichen nur eine bürgerlich-liberale Elite zu mobilisieren vermocht hatte, erfasste die Heimatbewegung auch die gesellschaftliche Basis. An die Stelle elitärer Bankette trat eine Massenbewegung. Auch die Heimatbewegung wurde zwar von städtischen Eliten initiiert, aber sie strahlte weiter aus. Ob in Württemberg, der Pfalz, dem Rheinland, Schleswig-Holstein oder Sachsen: Die Heimatbewegung wurzelte in der Region, verstand diese aber immer als Teil eines nationalen Ganzen. Das Naturerlebnis beim organisierten Wandern, die Pflege der Landschaft, das Bemühen um «deutsche Eichen» sollte letzten Endes der Erfahrung des Nationalen im Regionalen und Lokalen dienen. Bäuerliche Trachten, Volkslieder, Volksfeste und andere «Traditionen» wurden «entdeckt» oder «wiederbelebt», nicht selten dabei erst konstruiert, jedenfalls aber immer in nationale Geschichtserzählungen integriert. Diese historischen Meistererzählungen, die Regionales und Nationales verbanden, suchten und fanden Fluchtpunkte, die weit hinter den 18. Januar 1871 zurückgriffen. Museen, Publikationen von historischen Vereinen und dynastische Jubiläumsfeiern stellten sächsische, bayerische, hessische oder preußische Geschichte bald als die «deutscher Stämme» dar, deren Gemeinsamkeiten mindestens Hunderte, wenn nicht Tausende von Jahren zurückgingen.
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Die Heimatbewegung ist lange als Ausdruck eines deutschen «Sonderwegs» interpretiert worden. Sie galt als Wegbereiterin des Nationalsozialismus, als Vorbotin einer «dunklen Moderne». Vieles schien dafürzusprechen: ihr Charakter als nationale Einigungs- und Massenbewegung; die ihr eigene Natur- und Agrarromantik; der Fokus auf «Volks»traditionen. Auch die Beschwörung einer tausendjährigen gemeinsamen deutschen Geschichte seit mindestens dem Mittelalter, wenn nicht seit der Schlacht im Teutoburger Wald legte es nahe, in der Heimatbewegung eine Vorläuferin des Nationalsozialismus zu sehen. Nicht zuletzt begrüßten viele ihrer Funktionäre 1933 begeistert die nationalsozialistische Machtübernahme. Die neuere historische Forschung hat dieses Bild in Frage gestellt.61 Zumindest aber ist die Sicht auf die Heimatbewegung als Ausdruck des Nationalbewusstseins im Kaiserreich deutlich differenzierter geworden. So hat der Heimatgedanke zwar im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg eine Rolle in der deutschen Propaganda gespielt. Gegenüber den Sedanfeiern war er freilich dennoch die weniger militaristische, friedlichere Alternative. Anders als die Atmosphäre bei den Sedantagen war die in den Heimatvereinen des Kaiserreichs zudem deutlich weniger von Testosteron belastet: Während bei den Banketten und Festreden am 2. September Männer weitgehend unter sich blieben, spielten Frauen in der Heimatbewegung eine wesentlich größere und wichtigere Rolle. Die Heimatbewegung verband nicht nur viele Menschen, sondern auch vieles miteinander: Frauen und Männer, Professoren und Handwerker, Arbeiter und Bürger, Gegenwart und Vergangenheit, Stolz auf Traditionen und Innovation in der Darstellung der Nation. Rückwärtsgewandte Agrarromantik mischte sich in ihr mit Ideen nachhaltiger Naturpolitik. Nostalgie und Zukunftsangst gingen Hand in Hand mit dem Versuch, die aufdämmernde Moderne konstruktiv zu gestalten und zu bewältigen. Vor allem aber verband die Heimatbewegung die Landschaft mit der Nation, Ost mit West, Nord mit Süd. Traditionelle einzelstaatliche Identitäten wurden dabei verschmolzen mit der des in Versailles ausgerufenen Reiches. Regionales wurde statt in Konkurrenz als komplementär zu Nationalem konstruiert. Die alten partikularistischen Ressentiments aus der Zeit vor der Reichsgründung, die am 18. Januar 1871 hinter der Fassade inszenierter Einheit noch einmal sehr deutlich zutage getreten
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waren, verschwanden damit nirgendwo ganz. Die politischen Partikularismen in Nord und Süd verloren aber an Relevanz. Die in Versailles bei der Kaiserproklamation ebenfalls unterschwellig offenbarten Gegensätze von Demokratie und Aristokratie, von Zivilgesellschaft und Militärelite wurden dagegen bis zum Ende des Kaiserreiches immer wieder virulent. Zu ihnen trat noch ein weiterer Konfliktherd, der sich in den Auseinandersetzungen um das Gedenken an die Reichsgründung schon früh ankündigte. Während die Initiativen zu einem Nationalfeiertag von protestantischer Seite ausgingen, hielten die Katholiken im neuen Reich sich damit zurück. Auf die Sedanfeiern reagierte die katholische Bevölkerung mit Desinteresse, katholische Presse und Priester nicht selten mit offener Gegnerschaft. Denn die Reichsgründung trug auch dazu bei, einen weiteren nicht ganz neuen gesellschaftlichen Gegensatz auf Gluthitze anzufachen – den zwischen den Konfessionen.
MA R P I N G E N, 3 . J U L I 1876
Margaretha Kunz (sitzend links), Susanna Leist (sitzend rechts) und Katharina Hubertus (stehend) 1876
Gretchen Kunz sieht die Muttergottes 3. Juli 1876 Gretchen KunzMarpingen, sieht die Muttergottes
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s war ein heißer Tag, aber im kühlenden Schatten der Bäume ließ es sich aushalten. Unten im Tal schwitzten die Kuhbauern bei der Heuernte. Wer von den Dorfbewohnern kräftig genug dazu war, schwang eine Sichel. Die anderen sammelten das geschnittene Heu oder versorgten die Tiere. Anfang Juli wurde jede Arbeitskraft gebraucht in Marpingen, einem Dorf dreißig Kilometer nördlich von Saarbrücken. Nur die Kinder, die zu klein waren, um bei der Arbeit zu helfen, schickte man in den oberhalb des Dorfes gelegenen Härtelwald. Dort sollten sie Heidelbeeren sammeln. Auf der Suche nach Beeren streiften am späten Nachmittag des 3. Juli drei acht Jahre alte Mädchen durch den Härtelwald. Susanna Leist, Katharina Hubertus und Margaretha Kunz, genannt Gretchen, waren Freundinnen. Die drei hatten einander beim Beerensammeln aus den Augen verloren, als Glockengeläut sie aufschreckte: das abendliche Angelusläuten, das der Westwind von der Dorfkirche aus in den Wald hinaufwehte. Höchste Zeit, nach Hause zu kommen. Eilig griffen die drei ihre Körbe mit den gepflückten Heidelbeeren und machten sich auf den Heimweg. Zwischen Marpingen und dem Härtelwald lag eine Wiese mit hochaufgeschossenem Gras und Wildblumen, umwuchert von dichten Büschen. Hinter dem Tal stand die Sonne schon tief am Abendhimmel und schien den Mädchen ins Gesicht, als sie getrennt voneinander aus dem Wald traten. Immer noch begleitet vom Läuten der Glocken aus dem Dorf, machten sie sich daran, die verwilderte Wiese zu durchqueren. Da durchbrach ein lauter Ruf von Susanna das Glockengeläut. Gretchen und Katharina liefen zu der Freundin. Als die drei einige Minuten später vor Susanna Leists Elternhaus eine Gruppe von Dorfbewohnern trafen, wirkten sie verängstigt und aufgeregt. «Wir mussten schrecklich ausgesehen haben», erinnerte Gretchen sich später. Die Kinder erzählten, zuerst Susanna und dann auch die beiden anderen hätten eine in Weiß gekleidete weibliche Gestalt gesehen,
Gretchen Kunz sieht die Muttergottes
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die ein Kind auf dem Arm trug. Susanna war so aufgeregt, dass sie nicht ins Bett gehen wollte. Gretchen betete viel und schlief schlecht. Katharina träumte von der weiß gekleideten Frau. Die Aussagen über die ersten Reaktionen der erwachsenen Zuhörer auf die Geschichte der Mädchen sind widersprüchlich. In späteren Verhören unterstellten preußische Staatsbeamte den Eltern, sie hätten ihre Kinder angeregt, die Vision von der Frau in Weiß auszuschmücken, wenn nicht diese den drei ganz eingeflüstert, und damit ungesetzliche «Zusammenrottungen» der Marpinger Dorfbevölkerung provoziert. Dass die Eltern bestritten, sich auf diese Weise strafbar gemacht zu haben, ist wenig überraschend. Gretchens verwitwete Mutter und Susannas Vater erklärten in den Verhören, die Geschichte von der Erscheinung der weiß gekleideten Frau anfänglich für «dummes Zeug» gehalten zu haben. Die Eltern von Katharina sagten ebenfalls aus, sie hätten ihrer Tochter das Erzählen solcher «Märchen» zunächst verboten. Andere Quellen zeichnen jedoch ein abweichendes Bild. Gretchen Kunz widersprach in einer späteren Erklärung den Angaben der Erwachsenen deutlich: «Anstatt uns zu beruhigen, glaubte man sofort.» Insbesondere Susanna Leists Mutter tat danach noch mehr als das. Frau Leist gehörte zu der Gruppe von Dorfbewohnern, die den drei Kindern vor Susannas Elternhaus am Abend des 3. Juli zuerst begegneten. Gretchen zufolge soll sie den Mädchen, nachdem diese von der weiß gekleideten Frau mit dem Kind erzählt hatten, dort gesagt haben: «Geht morgen wieder in den Wald, betet, und wenn ihr sie dann wieder seht, fragt wer sie sei. Gibt sie euch die Antwort: Ich bin die unbefleckt Empfangene, dann ist es die Muttergottes.»1 Am nächsten Tag taten die drei Mädchen genau das. Sie kehrten zurück an die Stelle, wo ihnen die Vision angeblich erschienen war. Diesmal folgten ihnen zwanzig andere Kinder, darunter Geschwister der drei. Sechs Erwachsene begleiteten die Mädchen ebenfalls. Einige davon, unter ihnen auch der einzige Mann in der Gruppe, waren mit Susanna Leists Mutter verwandt, eine Frau mit Katharina Hubertus. Die Mädchen knieten nieder und beteten dreimal das Vaterunser. Nach dem dritten Mal erschien die Frau in Weiß Gretchen und Katharina erneut. Von diesen befragt, wer sie sei, erklärte die Erscheinung: «Ich bin die unbefleckt Empfangene.» Auf die Frage der beiden Mädchen, was sie wünsche, bat die Vision um eine Fortsetzung der Gebete. Dann verschwand sie.2
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Marpingen, 3. Juli 1876
Während Gretchen und Katharina mit der Erscheinung der Muttergottes sprachen, blieb die ursprüngliche Seherin, Susanna Leist, stumm. Den Begleitern sagte Susanna, sie habe weder etwas gesehen noch gehört. Erst Wochen später berichtete auch sie wieder von Visionen. Das änderte allerdings nichts mehr daran, dass Gretchen seit dem 4. Juli als die Sprecherin der drei wahrgenommen wurde. Auf dem einzigen zeitgenössischen Foto, das die drei Mädchen zusammen zeigt, dominiert Gretchen die Gruppe. Sie erscheint größer und kräftiger als die anderen beiden. Susanna lehnt sich auf dem Bild an sie an, Katharina stützt sich auf ihren Schultern ab. Gretchen, die auf dem Foto als einziges der Mädchen ein Buch in Händen hält, erschien den Dorfbewohnern und anderen Zeitgenossen auch als die intelligenteste der drei. Ein katholischer Publizist, der Marpingen besuchte, fand sie «im Allgemeinen mehr entwickelt, als die zwei Andern». Die Dorfschullehrerin hielt sie für «sehr geweckt». Susanna sei dagegen nur durchschnittlich intelligent, Katharina für ihr Alter geistig zurückgeblieben. Ein Pädagoge aus Saarbrücken, in dessen Obhut die drei Mädchen im Herbst 1876 vorübergehend kamen, hatte den Eindruck, Gretchen Kunz sei «geweckter als die andern, und scheint sie zu beeinflussen».3 Am 5. Juli, dem dritten Tag der Visionen, fand sich aus dem Dorf am Rande des Härtelwaldes auch Gretchens Mutter ein, die nach dem späteren Zeugnis ihrer Tochter zunächst tatsächlich skeptisch gewesen war. Dazu kamen schon nachmittags wieder Dutzende Zuschauer, darunter die Eltern von Katharina Hubertus. Bis zum Abend wuchs die Menge auf über hundert Personen an. Unter ihnen fanden sich erstmals auch einige der männlichen Honoratioren des Dorfes. Diesmal wagten es die Anwesenden, über die beiden Mädchen Fragen an die Muttergottes zu stellen. Schließlich wollte jemand wissen, ob Kranke herbeigerufen werden sollten. Auf die bejahende Antwort wurde ein Schwager von Katharinas Vater geholt, ein Veteran des deutsch-französischen Krieges von 1870 / 71, der über Rheumatismus klagte. Auf die Bitte des Mannes führten die Mädchen seine Hand an die Stelle, wo sich nach ihren Angaben der Fuß der Muttergottes befand. Der Mann fühlte sich daraufhin geheilt: Das Rheuma sei auf wunderbare Weise verschwunden. Auch eine Schwester Katharinas behauptete, seit langem anhaltende Schmerzen in ihrem Fuß auf einmal nicht mehr zu verspüren. Die Nachricht von den wundersamen Heilungen machte einem
Gretchen Kunz sieht die Muttergottes
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Lauffeuer gleich die Runde durch das ganze Dorf. Am darauffolgenden Morgen des 6. Juli erschien Marpingen einem zeitgenössischen Beobachter wie ein vor Aufregung brummender Bienenstock, der «schwärmen will». Tatsächlich schwärmten im Lauf des Tages Hunderte Dorfbewohner in Richtung Härtelwald aus. Ihre hochgesteckten Erwartungen wurden nicht enttäuscht. Am Abend behaupteten zwei Kinder, ein sieben Jahre altes schwindsüchtiges Mädchen und ein über Rückenschmerzen klagender vierjähriger Junge, ebenfalls durch eine Berührung der Muttergottes plötzlich geheilt zu sein. Der Vierjährige erklärte sogar, die «unbefleckt Empfangene» gesehen zu haben. Doch das ging in den sich nun überstürzenden Ereignissen unter. Ein 17 Jahre altes Mädchen rief, sie könne die Erscheinung auch sehen, und wurde ohnmächtig. Vier ältere Männer beanspruchten für sich das Gleiche: Die Muttergottes, sagten sie, strahle «wie das grelle Licht der Mittagssonne» und trage ein Diadem mit Edelsteinen, die «schimmerten wie Sterne». Bis Mitternacht beteten die Anwesenden am Waldrand voller Eifer. Am nächsten Morgen errichteten Dorfbewohner an der Stelle ein Kreuz mit der Aufschrift: «Hier ist der Ort.»4 In Marpingen gab es jetzt kaum noch jemanden, der Zweifel an der Echtheit der Erscheinungen hegte – oder jedenfalls kaum jemanden, der sich öffentlich zu solchen Zweifeln bekannt hätte. Nicht nur der Glaube an die Visionen, auch diese selbst verbreiteten sich unter den Einwohnern des Dorfes wie eine ansteckende Krankheit. Allerdings hatte keiner von den neuen Visionären bisher behauptet, die Muttergottes habe auch zu ihnen gesprochen wie zu Gretchen und Katharina. Und diese beiden verfielen nach dem 6. Juli auf einmal in Schweigen. Mehrere Tage lang blieben sie stumm, meldeten keine Marienerscheinungen mehr. Nach der späteren Erklärung von Gretchen fühlte diese sich von der Entwicklung der Ereignisse schlicht überrollt: «Ich weiss selbst nicht wie es möglich war, dass das Ganze soweit gekommen ist.» Aber der einmal ins Rollen gekommene Stein ließ sich nicht mehr aufhalten. Die Nachricht von den Ereignissen in Marpingen zog weitere Kreise. Händler, Hausierer, wandernde Musikanten hatten die Nachricht von der Marienerscheinung im Dorf bereits in die benachbarten Dörfer gebracht. Der 6. Juli war ein Donnerstag. Am Freitag und am Samstag trafen die ersten Besucher aus Nachbarorten ein, die den Erscheinungsort am Härtelwald sehen wollten. Wie in Marpingen selbst wohnten
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Marpingen, 3. Juli 1876
auch im Umland fast ausschließlich Katholiken, bei denen die angeblichen Marienerscheinungen auf großes Interesse stießen. Am Sonntag, dem 9. Juli, war die Wiese am Härtelwald zum ersten Mal voller Menschen. Die auswärtigen Besucher verbreiteten die Neuigkeit von den Marpinger Erscheinungen weiter. In der darauffolgenden Woche wuchs die Zahl der Menschen aus der Umgebung, die singend und betend in das Dorf pilgerten, weiter an. Manche wollten nur den Erscheinungsort sehen, andere hofften auf Heilung von Krankheiten und Gebrechen. Am Abend des 11. Juli notierte der Dorfpfarrer: «Gewaltige Begeisterung. Noch nach 10 Uhr hörte ich von Sotzweiler 4 Prozessionen heraufkommen. Von allen Seiten kamen sie die ganze Nacht und brachten auf Wagen ihre Kranken.» Die Pilgermassen verglich der Pfarrer mit einem «gewaltigen Strom, der hier alle Dämme bricht». Am 12. Juli bewegten sich 20 000 Pilger durch die Gassen des 1600 Einwohner zählenden Marpingen. Die ins Dorf führenden Straßen und Wege waren in alle Richtungen mit Menschen und Wagen verstopft. An der Erscheinungsstätte im Härtelwald drängten sich die Massen. Angesichts des Ansturms hungriger und durstiger Pilger begannen die Vorräte an Lebensmitteln und Getränken im Dorf knapp zu werden. Der Marpinger Pfarrer war Tag und Nacht damit beschäftigt, Beichten abzunehmen. Marpingen zog zu dieser Zeit mehr Katholiken an als der Wallfahrtsort Lourdes in Südfrankreich. In Lourdes war 1858 der 14 Jahre alten Bernadette Soubirous ebenfalls die Muttergottes erschienen. Es war die erste Marienerscheinung seit der Verkündung des Dogmas der «unbefleckten Empfängnis» durch die römische Kurie vier Jahre zuvor. Nach Lourdes pilgerten seitdem Zehntausende Menschen, darunter viele Invalide, die sich vom Wasser aus der Quelle am Erscheinungsort Gesundung versprachen. Marpingen wurde 1876 zum «deutschen Lourdes», dessen Attraktivität die des französischen Modells zeitweise weit übertraf. Auch in Marpingen gab es in der Nähe des Erscheinungsorts eine Quelle. Dorfbewohner und Pilger begannen bald, dem Wasser der Quelle heilende Kräfte zuzuschreiben. Durch die Visionärinnen bestätigte die Muttergottes diese Annahme. Vor der Quelle bildeten sich daraufhin lange Schlangen von Menschen, die das Wasser in alle möglichen Behäl-
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ter abfüllten. Um den Zugang zu regeln, spannten Dorfbewohner einen Zaun auf, der allerdings immer wieder ausgebessert und erneuert werden musste, weil Pilger ihn niedergetrampelt oder durchschnitten hatten. Die Menschen brachen Laub und Zweige rund um die Wiese am Härtelwald ab, bis die Büsche und Bäume in der Umgebung alles Grün verloren hatten. Viele nahmen Erde mit. Manche aßen diese auch. Sosehr die Pilger sich freilich für Talismane und materielle Erinnerungsstücke an den vermeintlich heiligen Ort interessierten, verlangten sie doch vor allem nach spiritueller Nahrung. Sie wurden nicht enttäuscht. Am 11. und 12. Juli, den Tagen des bisher größten Ansturms auf Marpingen, behaupteten drei weitere Kinder erstmals, die Muttergottes zu sehen. Zwei davon waren vier Jahre alt. Bei dem dritten handelte es sich um einen Jungen von acht Jahren, der also im selben Alter war wie die ursprünglichen Seherinnen. Und diese fingen nun auch wieder an, von Visionen zu berichten. Gretchen Kunz erklärte später, der Erwartungsdruck der Menge sei zu groß geworden, um sich diesem länger zu verweigern, «denn es war einmal so weit, ich konnte nicht mehr zurück».5 Mitte Juli begann die regionale Presse, und bald auch die mit deutschlandweiter Verbreitung, von Marpingen zu berichten. In der zweiten Hälfte des Monats hielt der Zustrom der Pilger an. Die meisten kamen nach wie vor zu Fuß, mit dem Ochsenkarren oder Pferdewagen aus der Saarregion. Doch der Einzugsbereich erweiterte sich jetzt auf das nördliche Rheinland und das angrenzende Lothringen. Unter denen, die auf wunderbare Weise von einer Krankheit geheilt worden sein wollten, nachdem sie aus der Quelle im Härtelwald getrunken oder die Erscheinung berührt hatten, war ein Pilger aus Elberfeld. Ein anderer kam sogar aus Paderborn, ein Dritter aus Belgien. Mehr und mehr Gläubige reisten mit der Eisenbahn an. Vom nächsten Bahnhof in der benachbarten Kreisstadt Sankt Wendel gingen die meisten davon die knapp zehn Kilometer bis Marpingen weiter zu Fuß. Wer es sich leisten konnte, nahm stattdessen die Dienste von Kutschenunternehmen in Anspruch. Denn nicht nur Bauern und Handwerker strömten nach Marpingen. Aus dem ganzen Deutschen Reich kamen neben Priestern und Journalisten auch viele katholische Adlige, vor allem Frauen – wie überhaupt Frauen unter den Pilgern überwogen. Selbst Angehörige des österreichi-
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schen Kaiserhauses scheuten die weite Reise nicht und besuchten Marpingen. Auch sonst erregten die Geschehnisse bis ins Ausland Aufmerksamkeit. Der Marpinger Pfarrer erhielt Briefe und Anfragen zu den Marienerscheinungen etwa aus den Niederlanden, der Schweiz, Italien und den USA. Ein zeitgenössischer Publizist erklärte es vollmundig für «eine unläugbare Thatsache, daß alle Welt von Marpingen spricht». Das mochte ebenso übertrieben sein wie die Ansicht eines katholischen Priesters aus Paderborn, das Dorf in der Saarregion sei «der Mittelpunkt von Ereignissen geworden, welche gleichsam die Welt erschüttern». Doch eindeutig war Marpingen im ganzen Deutschen Reich zum Tagesgespräch geworden. Das Dorf, bisher den meisten Bewohnern des Reiches völlig unbekannt, machte auf einmal Schlagzeilen in Zeitungen, die Hunderte von Kilometern entfernt in der Hauptstadt Berlin erschienen. Marpingen wurde darin «das deutsche Lourdes» genannt, ja «das Bethlehem Deutschlands». Selbst Kaiser Wilhelm schickte schließlich ein Telegramm an die lokalen Behörden, um eines zu erfahren: Was genau steckte hinter den Erscheinungen und der Lawine von Ereignissen, die Gretchen Kunz und ihre Freundinnen am Abend des 3. Juli 1876 losgetreten hatten?6
«Eine einzige grosse Lüge» «Eine einzige grosse Lüge»
Unter den Zeitgenossen gingen die Ansichten über die Echtheit der Marienerscheinungen von Marpingen diametral auseinander. Sie unterschieden sich nach Konfession und persönlichen Glaubensüberzeugungen. Protestanten und Atheisten galten die Erscheinungen entweder als Produkte einer überhitzten Phantasie oder als betrügerischer Hokuspokus. Unter Katholiken war dagegen der Glaube an die Echtheit der Visionen weit verbreitet. Die katholische Kirche kam allerdings zu einem anderen Ergebnis. Die römische Kurie hat Marienerscheinungen von jeher gründlich untersuchen lassen. In einigen Fällen wurden die Visionen dabei als glaubwürdig anerkannt. Das war etwa in Lourdes der Fall: Hier hatte die kanonische Untersuchungskommission keine Zweifel an der Echtheit
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der Vision von Bernadette Soubirous. Auch die Marienerscheinungen im irischen Knock 1879 und im portugiesischen Fatima 1917 wurden als authentisch anerkannt. Im Fall von Marpingen geschah das jedoch nicht. Hier endeten sogar zwei Untersuchungen der katholischen Kirche mit dem eindeutigen Urteil, von einer Authentizität der Erscheinungen von 1876 könne nicht ausgegangen werden. Die erste dieser Untersuchungen fand in den späten 1870er Jahren statt. Im Auftrag des zuständigen Trierer Bistums wurde sie von dem deutsch-luxemburgischen Bischof Johannes Theodor Laurent übernommen. Laurent war Verfasser von Büchern über die Muttergottes und ein glühender Anhänger des Dogmas der unbefleckten Empfängnis Marias, das der Papst 1854 verkündet hatte. Dem preußischen Staat stand er ausgesprochen feindselig gegenüber, weil dieser einen von ihm mitgegründeten Orden aus Deutschland ausgewiesen hatte. Als Direktor dieses Ordens wirkte er im niederländischen Exil. Laurent hatte also eigentlich einige Gründe, Sympathien für den von den preußischen Behörden bekämpften Marpinger Marienkult zu empfinden. Dennoch fällte er ein geradezu vernichtend negatives Urteil über diesen. Laurent kam in seiner Untersuchung zu dem Schluss, «daß die ganze Erscheinung mit allem was daran hängt nichts als eine höllische Gaukelei war». Die angeblichen Heilungen in Marpingen seien aller Wahrscheinlichkeit nach nicht auf himmlische Interventionen zurückzuführen, sondern auf hysterische Einbildung, nervöse Erregungszustände und Zufälle. Die «Heilmethoden», vor allem das Anfassen der Füße der vermeintlichen Marienerscheinung unter Anleitung von Gretchen Kunz und ihren Freundinnen, erschienen hochgradig fragwürdig. Vor allem aber sprachen für den Gutachter die Inhalte der vermeintlich himmlischen Botschaften «gegen die Echtheit der Erscheinungen zu Marpingen». Als Maßstab dienten Laurent dabei die von der Kirche nach gründlichen Prüfungen anerkannten Marienerscheinungen, vor allem die von Lourdes. Dort habe die Muttergottes einige wenige, «große» Botschaften überbracht. Was dagegen die drei Mädchen in Marpingen von der Jungfrau erfahren haben wollten, sei banal, «müßig und niedrig». Vielfach widersprächen die angeblichen Aussagen Marias auch den Evangelien. Gegen die Echtheit der Visionen von Gretchen, Katharina und Susanna spreche zudem «ihr Mangel an Ergriffenheit und Durch-
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drungenheit beim Erzählen». Das Verhalten der Mädchen sei vielmehr gekennzeichnet von einer außerordentlichen «Dreistigkeit». Kurz, die Marpinger Ereignisse, dieses «frevelhafte Spielen mit den höchsten Geheimnissen der Religion», seien nichts als «Lug und Trug» und «eine bloße Nachäffung» von Lourdes. Laurents Stellungnahme hatte nicht den kirchenrechtlichen Rang einer formellen kanonischen Untersuchung. Als Grundlage für sein Gutachten dienten ihm offenbar ausschließlich protokollierte Aussagen von Gretchen und ihren beiden Freundinnen. Ärztliche Gutachten über die angeblichen Heilungen zog er anscheinend nicht heran. Auch lagen ihm wohl keine Berichte von Zeugen vor, die 1876 in Marpingen und im Härtelwald gewesen waren. Sein Gutachten wurde vom Auftraggeber, dem Bistum Trier, unter Verschluss genommen, die Ergebnisse nicht veröffentlicht. Das hatte politische Gründe, auf die noch zurückzukommen sein wird. Auch danach kam es sehr lange zu keiner echten kanonischen Untersuchung auf einer umfangreicheren Grundlage von Quellen und Zeugnissen. Erst mehr als ein ganzes Jahrhundert später strengte das Bistum Trier eine solche umfassende Untersuchung an. Der Anlass dafür waren erneute Visionen von Marienerscheinungen in Marpingen. 1999 behaupteten wieder drei Seherinnen, dieses Mal allerdings erwachsene Frauen, ihnen sei die Jungfrau im Härtelwald erschienen. Der Trierer Bischof beauftragte daraufhin eine Kommission von Priestern, Kirchenrechtlern und Kirchenhistorikern, die Echtheit dieser Erscheinungen zu prüfen und dabei auch die der Visionen von 1876 mit zu untersuchen. Die Kommission wertete sechs Jahre lang alle verfügbaren Quellen und Zeugenberichte aus. Nach Rücksprache mit der Glaubenskommission der Deutschen Bischofskonferenz und der Glaubenskongregation des Vatikans wurde 2005 schließlich das Resultat ihrer kanonischen Untersuchung publik gemacht. Ein bischöfliches Dekret verkündete: «Es steht nicht fest, daß den Ereignissen in Marpingen aus den Jahren 1876 und 1999 ein übernatürlicher Charakter zukommt.» Vielmehr bestünden «schwerwiegende Gründe, die es nicht erlauben, sie als übernatürliches Geschehen anzuerkennen». Dieses Ergebnis sei «klar und eindeutig». Sowohl aus theologischer wie aus humanwissenschaftlicher und historischer Sicht gebe es große Widersprüche und Unstimmigkeiten in dem untersuchten Material. In katholischen Gottesdiensten und
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anderen kirchlichen Verkündigungen darf deshalb nicht von «Botschaften des Himmels» oder Marienerscheinungen in Marpingen die Rede sein. Selbst die Bezeichnung von Gretchen Kunz und ihren Freundinnen als «Seherinnen» ist im kirchlichen Rahmen nicht zulässig.7 Das Urteil der kanonischen Untersuchungskommission stützte sich unter anderem auf eine Erklärung, die Gretchen selbst als junge Erwachsene abgegeben hatte. 1889, im Alter von zwanzig Jahren, war sie kurz davor, in ein Kloster einzutreten. In dieser Situation äußerte sie sich schriftlich umfassend und zum letzten Mal über die Vorgänge in Marpingen, an denen sie als achtjähriges Mädchen zentralen Anteil gehabt hatte. Nach einigen Quellen soll sie den Inhalten dieser Erklärung zwar vor ihrem Tod 1905 widersprochen haben. Die Berichte darüber beruhen allerdings auf Hörensagen. Die schriftliche Erklärung von 1889 ist dagegen nicht nur eigenhändig geschrieben. Sie ist auch ausgesprochen stringent verfasst und in sich logisch. Diese Erklärung Gretchens, die im Trierer Bistum jahrzehntelang unter Verschluss gehalten wurde, beginnt mit den Worten: «Ich bin eines der drei Kinder, die vor beinahe dreizehn Jahren in Marpingen das Gerücht ausstreuten, die Mutter Gottes gesehen zu haben und muß leider das tief demütigende Geständnis machen, dass alles ohne Ausnahme eine einzige große Lüge war.» Dann folgt ein weitgehend chronologischer Bericht über Gretchens eigene Rolle bei der Entstehung des Marpinger Marienkults seit dem 3. Juli 1876. Der Bericht setzt am Abend dieses Tages ein, als die Mädchen im Härtelwald das Angelusläuten hörten und sich auf den Weg nach Hause machten. Auf der verwilderten Wiese am Waldrand rief Susanna Leist danach plötzlich: «Gretchen, Käthchen, seht mal, dort oben steht eine weisse Frau. Erschrocken blickten wir nach der bezeichneten Stelle, sahen wirklich eine weisse Gestalt, vielmehr wir glaubten in unsrer bereits aufgeregten Phantasie und im Halbdunkel eine solche zu erblicken.» Erschreckt ins Dorf gelaufen, erzählten die Mädchen dort von ihrer Wahrnehmung und wurden sofort «mit Fragen bestürmt». Besonders Susannas Mutter bestärkte sie in der Idee, sie hätten die «unbefleckt empfangene» Maria mit dem Jesuskind gesehen. Ihre eigene Mutter, schreibt Gretchen weiter, habe dagegen zunächst mit Skepsis reagiert: Die Gestalt sei wohl nur «ein Klafter Holz» gewesen, «und weil es dunkel war, glaubtet ihr eine Frau zu sehen. Sie hatte Recht, denn später überzeugte ich mich wirklich, dass dort
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aufgeschichtetes Holz lag und mit der weissen Seite nach aussen gekehrt war.»8 Was hatte die Phantasie der Mädchen so aufgeregt, dass sie die weiße Schnittfläche frisch gefällter Baumstämme für eine übernatürliche Erscheinung halten konnten? In ihrer Erklärung sagt Gretchen nahezu nichts darüber, erwähnt nur die Lichtverhältnisse. Die Sonne blendete die Mädchen, als sie aus dem Wald traten, und es wurde langsam dunkel. Die Atmosphäre des Abends und des Ortes mochte eine Rolle gespielt haben. Nach dem langen Tag waren sie müde. Beim Beerensammeln mögen ihnen Geschichten durch den Kopf gegangen sein, die damals in der Gegend kursierten und von unheimlichen Begegnungen handelten, die sich im Wald oder am Waldrand zutrugen. Einige Wochen zuvor war im Nachbardorf Dirmingen gerüchteweise einem Geistlichen und dessen Begleiter im Wald eine geheimnisvolle Frau erschienen. Dabei sollte es sich um die Jungfrau Maria gehandelt haben, die anschließend in den Himmel aufstieg. Der Begleiter des Geistlichen hatte eine Schwester, die mit der Lehrerin der drei Marpinger Mädchen eng befreundet war. Eine Freundin der Haushälterin des Priesters, die ihre eigene Version dieser Geschichte herumerzählte, war mit Gretchen verwandt. Und das war nur die jüngste der Erzählungen über «weiße Frauen», die in Marpingen umliefen. Fünf Jahre zuvor wollte eine Dorfbewohnerin den Ortspfarrer in Begleitung einer überirdisch aussehenden, weiß gekleideten Dame gesehen haben. An der früheren Arbeitsstätte von Gretchens verstorbenem Vater war Gerüchten zufolge ebenfalls eine «weiße Frau» herumgegeistert. In ländlichen Gegenden wurden Erscheinungen der Jungfrau Maria und anderer Heiliger im 19. Jahrhundert meist an Orten gesehen, die wie Waldränder die Grenze zwischen «Zivilisation» und «Wildnis» bildeten, zwischen der von Menschen geformten Kulturlandschaft und der vermeintlich urwüchsigen Natur, im Volksglauben der Ort von Geistern und allem Übernatürlichen. Höchstwahrscheinlich wurden die Wahrnehmung der «weißen Frau» und ihre Identifikation mit der Gottesmutter von Vertretern des Marienkults in Marpingen beeinflusst. Ihre Lehrerin hatte Gretchen und deren Freundinnen von Marienerscheinungen in Lourdes und an anderen Orten erzählt. Der junge Dorfpfarrer Jakob Neureuter war ein glühender Anhänger des Kultes um die Gottesmutter. Unter den vielen Interessen des engagierten Priesters war auch die Malerei. Anfang der 1870er Jahre
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hatte er für die Pfarrkirche ein lebensgroßes Bild Marias mit dem Jesuskind in Öl angefertigt. Oft predigte Neureuter über die «unbefleckte Empfängnis». Nach der Erinnerung von Gretchens Mutter hatte er auch den Erscheinungen in Lourdes, über die er ein Buch besaß, eine Predigt gewidmet. Ein Jahr zuvor, 1875, hatte die erste organisierte Lourdes-Wallfahrt aus Deutschland stattgefunden. Am Tag der Erscheinungen von Marpingen, dem 3. Juli 1876, wurde in Lourdes eine Marienstatue feierlich gekrönt – ein Festakt, an dem 100 000 Gläubige teilnahmen, darunter 35 Bischöfe. Im Vorfeld informierten Predigten katholischer Priester, katholische Zeitungen und andere Presseerzeugnisse im Deutschen Reich vermehrt über Einzelheiten der Visionen, die Bernadette Soubirous in dem südfranzösischen Wallfahrtsort gehabt hatte. An Gretchen Kunz, Katharina Hubertus und Susanna Leist dürfte das nicht vorbeigegangen sein. Alle drei stammten aus sehr religiös geprägten Familien. Eine Schwester von Katharina wollte Nonne werden. Als Erwachsene traten Katharina selbst, Gretchen und eine ihrer älteren Schwestern in Klöster ein. Susanna starb bereits mit 14 Jahren; doch es war offensichtlich ihre Mutter, die den Kindern am Abend des 3. Juli nahelegte, dass sie die «unbefleckt Empfangene» gesehen hätten. Der 3. Juli war ein Montag. Am Sonntag davor hatten die Marpinger mit Mariä Heimsuchung eines der im Rahmen des Marienkults wichtigsten katholischen Feste gefeiert. Der 3. Juli war zudem der Tag, an dem Tausende von Katholiken im Bistum Trier zum Marienheiligtum nach Beurig bei Saarburg pilgerten. In der Lebenswelt der Mädchen waren Gedanken an die Gottesmutter also überreichlich präsent, und am Tag der ersten Vision galt das noch einmal ganz besonders. Das Bild, das die kindlichen Visionäre von den Erscheinungen entwarfen, wies denn auch frappierende Übereinstimmungen mit dem auf, was ihnen Erwachsene vermittelt hatten und weiter suggerierten. Was sie von Maria in ihren Visionen erfahren haben wollten, entsprach vielfach genau den Abschnitten in der Schulbibel, die sie seit Ostern 1876 im Religionsunterricht durchnahmen. Suggestive Fragen der anderen Dorfbewohner nahmen sie bereitwillig auf: Ob die Gottesmutter wünsche, dass Kranke an den Erscheinungsort gebracht werden sollten? Ja. Ob dort ein Kreuz und eine Kapelle errichtet werden sollten? Ja. Ob der Teufel in den Visionen auftauche? Ja, der auch. «Diese Gedanken»,
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schrieb Gretchen rückblickend 1889, «wurden uns alle durch unvorsichtige Bemerkungen und Fragen beigebracht.» Auch das äußere Bild der Erscheinung wurde durch solche Suggestionen geformt. So legte Susanna Leists Mutter den Mädchen nicht nur die Identifikation der «weißen Frau» mit der Gottesmutter nahe, sondern ebenso, dass diese ein blaues Band trage – wie es Maria auf Bildern der Visionen von Bernadette Soubirous in Lourdes trug. Bereitwillig stimmte Gretchen zu, als sie gefragt wurde, ob die Erscheinung das Jesuskind auf dem Arm oder eine goldene Krone trage. Einmal war ein Trierer Theologe im Härtelwald anwesend, als die Kinder während einer Vision vage von einem Kopf redeten, den sie über der Gottesmutter sähen. Der Theologe zeigte ihnen daraufhin ein Bild des seligen Niklaus von Flüe, das er mit sich trug. Die Mädchen bestätigten sofort, genau dessen Kopf gesehen zu haben. Seit dem Abend des 3. Juli standen die Mädchen unter dem Druck der Erwartungen, die ihre erste Offenbarung ausgelöst hatte. Als sie am nächsten Tag wieder in den Härtelwald gingen, wie Susanna Leists Mutter es nahegelegt hatte, geschah das bereits in Begleitung von anderen Kindern und einem halben Dutzend Erwachsenen. In ihrer späteren Erklärung berichtete Gretchen, sie habe dort am 4. Juli tatsächlich nichts Übernatürliches gesehen. Angesichts der Erwartungshaltung der Begleiter stellte sie wie ihre beiden Freundinnen dennoch die Frage nach der Identität der «weißen Frau», die Susannas Mutter ihnen vorgegeben hatte. Dann wiederholten Katharina Hubertus und sie selbst die ebenfalls vorgegebene Antwort, «ich bin die Unbefleckt Empfangene, obwohl ich nichts hörte […] wir stellten eine zweite verabredete Frage, was sollen wir thun? Wir sagten beide wie aus einem Munde die Antwort, fromm beten und nicht sündigen. Wie es möglich war, weiss ich nicht, weiss nur dass ich selbst weder etwas gesehen noch gehört hatte.»9 Damit hatten die Mädchen einen Prozess in Gang gebracht, den sie selbst zunehmend weniger steuern konnten. Bezeichnenderweise verstummten sie für mehrere Tage, als am 6. Juli einige erwachsene Dorfbewohner die Jungfrau auch gesehen haben wollten. Nach dem 11. und 12. Juli drohten dann andere kindliche Seher im Alter der Mädchen diesen den Rang abzulaufen. Bevor die Konkurrenten behaupteten, dass die Jungfrau auch zu ihnen gesprochen hätte, machten Gretchen und Katharina sich wieder zu Sprachrohren der Muttergottes. Als im Sommer 1877
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das Interesse an den Erscheinungen einen neuen Höhepunkt erreichte und die Zahl der Pilger von außerhalb erneut in die Höhe schnellte, gab es sogar eine regelrechte Inflation von kindlichen Sehern. Dutzende Jungen und Mädchen aus Marpingen, aber auch den Nachbardörfern berichteten nun von Erscheinungen Marias. Die ursprünglichen Visionärinnen reagierten darauf mit der Ankündigung, die Jungfrau werde bald in den Himmel zurückkehren, gewannen so die Aufmerksamkeit der Gläubigen zurück und beendeten wie verkündet nach einigen Tagen ihre Rolle als Medien der himmlischen Besucherin. Die Mädchen rivalisierten offenbar aber nicht nur mit anderen potentiellen Mittlern des Übernatürlichen, sondern auch untereinander. Das dürfte jedenfalls die plausibelste Erklärung dafür sein, dass Susanna Leist, nachdem sie am 4. Juli nicht in die von ihren beiden Freundinnen inszenierte Täuschung eingestimmt hatte, vier Wochen später plötzlich wieder die Gottesmutter sehen wollte. Skeptiker belauschten Gespräche zwischen den drei Mädchen, in denen Susanna über Gretchens Geschichten von neuen Erscheinungen spottete: Sie erzähle zu viel und werde deshalb alles verraten. Gretchen gab schnippisch zurück, sie wisse, was sie sagen könne, und sei ohnehin gescheiter als Susanna. In diese Rivalitäten mischte sich zudem Unsicherheit. Selbst Gretchen, die selbstbewusste Sprecherin der drei, war davor nicht gefeit. 1889 gab sie zu, sich mit Susanna und Katharina nie offen über das ausgetauscht zu haben, was sie an den vermeintlichen Erscheinungsorten der Gottesmutter wirklich wahrgenommen hatten. Denn angesichts des bereitwilligen Glaubens der anderen Dorfbewohner an die Echtheit der Erscheinungen verunsicherte die eigene Unfähigkeit, diese zu sehen, sie tief – weshalb sie es «stets, auch in all den späteren Jahren, ängstlich vermied irgend eine Frage an die beiden zu stellen, weil ich glaubte, diese könnten wirklich etwas gesehen haben». Ausgesetzt den Einflüsterungen der Erwachsenen, den bohrenden Suggestivfragen der Gläubigen, verschwammen gelegentlich selbst im Kopf des achtjährigen Mädchens die Grenzen zwischen Realität und Täuschung. Gretchen erinnerte sich später, wie die eigene Erfindung zeitweilig ein Eigenleben entwickelte: «Es war eine aufgeregte Zeit, bisweilen war von allen Fragen und Antworten meine Phantasie so überreizt, dass ich glaubte wirklich etwas gesehen zu haben.» Als die preußischen Behörden sie im Herbst 1876 nach Saarbrücken brachten, gestand
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sie dort, gelogen zu haben – ebenso wie später, als sie Marpingen endgültig verlassen hatte. Doch zurück im Dorf, im Kreis ihrer Familie, umgeben von einem Meer des religiösen Eifers und dem Erwartungsdruck der Menge, behauptete sie wieder, die Wahrheit zu sagen.10 Susanna und Katharina haben im Gegensatz zu Gretchen keine persönlichen Erinnerungen an ihre Rolle bei den Marpinger Marienerscheinungen hinterlassen. Wie bei den übrigen Visionären können wir deshalb über ihre Motive nur spekulieren. Der auch auf ihnen lastende Erwartungsdruck, individuelles Geltungsbedürfnis, die von religiösem Eifer geprägte Atmosphäre kollektiver Begeisterung – all das hat wahrscheinlich eine Rolle gespielt. Zumindest bei einem der erwachsenen Visionäre vom 6. Juli gibt es zudem Hinweise auf das von Gretchen beschriebene Phänomen der Autosuggestion: Der Mann, ein Onkel von Susanna Leist, hatte es bereits vorher dem Einschreiten übernatürlicher Mächte zugeschrieben, dass er bei einem Unfall mit einem Pferdewagen nicht zu Schaden gekommen war. Was aber erklärt die Bereitschaft praktisch sämtlicher Einwohner des Dorfes Marpingen, den Visionen Glauben zu schenken? Was entfachte in den Hunderttausenden von katholischen Pilgern, die das Dorf 1876 / 77 aufsuchten, den Willen zu glauben? Selbst Gretchen Kunz zeigte sich im Nachhinein verblüfft davon, wie bereitwillig, ja begierig die Marpinger Erwachsenen die Geschichte von der Erscheinung der «weißen Frau» aufnahmen: «Anstatt uns zu beruhigen, glaubte man sofort.» Nachbarn und Eltern «glaubten wirklich, daß wir die Mutter Gottes gesehen hätten». Sie formten das äußere Bild der Erscheinung mit, suggerierten mit ihren Fragen den Kindern deren Aussagen, initiierten die Heilungen und trieben den Marpinger Marienkult so voran. «Tausende von Menschen kamen und gingen»; Priester wollten die Mädchen prüfen, «doch sie müssen zu fest geglaubt haben, denn manche kleine Verschiedenheiten unserer Aussagen wurden nicht beachtet».11 Wie also konnte es geschehen, dass Dutzende studierter Theologen, nahezu alle 1600 Bewohner eines Dorfes, ja die meisten der Millionen Katholiken im Deutschen Reich sich von drei achtjährigen Mädchen an der Nase herumführen ließen?
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Die Behörden standen vor einem Rätsel. Die zuständigen Beamten waren zwar überzeugt, dass es sich bei den Ereignissen in Marpingen um Schwindel handelte. Im Landratsamt von Sankt Wendel wie beim Trierer Regierungspräsidium glaubte man sogar an eine regelrechte Verschwörung. Dass allerdings drei achtjährige Mädchen die «Zusammenrottungen» in Marpingen ausgelöst hatten, konnte man sich dort nicht vorstellen. Und eine komplexe Gemengelage aus religiösem Eifer, individuellen Geltungsbedürfnissen und kollektivem Erwartungsdruck lag erst recht außerhalb der Vorstellungskraft der Beamten. Auf der Suche nach den «Anstiftern» vernahmen der Regierungspräsident höchstpersönlich, der Kreissekretär von Sankt Wendel und der zuständige Bürgermeister am 13. Juli zunächst Gretchen und ihre Freundinnen sowie Pfarrer Neureuter. Es war der Beginn einer endlosen Reihe von Verhören. Allein Gretchen erinnerte sich später, mehr als zwei Dutzend Male von Beamten in die Mangel genommen worden zu sein. Hunderte Einwohner von Marpingen und Umgebung erhielten behördliche Vorladungen zu Vernehmungen. Für die vermutete Verschwörung fand sich jedoch kein wirklicher Anhaltspunkt. Aus Berlin wurde deshalb im Oktober 1876 ein Kriminalist entsandt, um inkognito zu ermitteln. Sich als irischer Katholik und Pilger ausgebend, ließ der Detektiv nichts unversucht, um die Dorfbewohner zum Reden zu bringen. Er spendierte in Gasthäusern literweise Bier und bot potentiellen Zeugen hohe Geldsummen an. Schließlich fanden sich auch manche, die bereit waren, dem alles andere als ergebnisoffen ermittelnden Detektiv sein Vorurteil zu bestätigen, dass der katholische Klerus hinter den Erscheinungen stecke. Es folgten Hausdurchsuchungen bei Pfarrer Neureuter in Marpingen und den Priestern der Nachbardörfer. Sogar die Wohnung eines Klerikers in Westfalen und die Redaktionsräume einer katholischen Zeitung in Berlin wurden auf den Kopf gestellt. Doch irgendein Beweis für eine klerikale Verschwörung fand sich nicht. Daraufhin verhafteten die Behörden Pfarrer Neureuter und sieben andere Marpinger Dorfbewohner. Gretchen, Susanna und Katharina wurden in ein Kinderheim nach Saarbrücken verfrachtet. Fünf Wochen lang unterzog man sie dort wei-
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teren Verhören. Ihre Eltern durften die Mädchen in dieser Zeit nicht sehen. Erst mit Verzögerung begannen die Mühlen des Rechtsstaats zu mahlen. Gerichte erklärten die Verhaftung der Dörfler und die Trennung der drei Mädchen von ihren Eltern für unrechtmäßig. Bis Weihnachten 1876 konnten alle wieder nach Marpingen zurückkehren. Die Behörden ließen dennoch nicht locker. Vor dem Landgericht Saarbrücken kam es schließlich zu einem Prozess gegen Pfarrer Neureuter und vier andere Priester, die Eltern der drei Mädchen, acht weitere Bewohner Marpingens und einen katholischen Publizisten. Doch alle Angeklagten wurden freigesprochen. Weil die Behörden für die vermutete Verschwörung keinerlei Belege gefunden hatten, lautete die Anklage in Saarbrücken in den meisten Fällen lediglich auf Betrug. Schon in einer öffentlichen Bekanntmachung am 15. Juli 1876 hatte die Kreisverwaltung in Sankt Wendel unterstellt, «daß die Anstifter des Wunders nur darauf ausgingen, die leichtgläubige Bevölkerung zu betrügen».12 Während des Saarbrücker Prozesses versuchte der Staatsanwalt nachzuweisen, die Angeklagten hätten die Erscheinungen gezielt inszeniert, um sich zu bereichern. Damit scheiterte er freilich auf der ganzen Linie. Zwar brachte der Pilgerstrom viel Geld nach Marpingen. Einiges davon landete direkt im Opferstock der Pfarrkirche. Was die Pilger an Opfergaben im Härtelwald ließen, brachten die Dorfbewohner offensichtlich ebenfalls zum Pfarrer. Insgesamt kamen so 1876 und 1877 etwa 7000 Mark zusammen – eine beträchtliche Summe, mit der Pfarrer Neureuter die baufällige Kirche renovieren ließ. Neureuter war freilich über jeden Verdacht erhaben, Anstifter der Visionen zu sein. Als die Erscheinungen begannen, hielt er sich nicht in Marpingen auf. Dann war er zunächst ausgesprochen skeptisch. Bezeichnenderweise legten Gretchen und Katharina der Muttergottes die Anweisung in den Mund, der Pfarrer solle sich vom Erscheinungsort fernhalten. Auch manche Privatleute profitierten in Marpingen materiell von dem Zustrom der Pilger. Diese belagerten nicht nur die Erscheinungsstätte im Härtelwald, sondern interessierten sich oft ebenfalls für die Elternhäuser der drei kindlichen Visionärinnen. Die Eltern schenkten den durstigen Besuchern zunächst aus christlicher Nächstenliebe Getränke aus. Mit der Zeit begannen sie aber, Geld dafür zu nehmen, und
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brachten Übernachtungsgäste gegen Bares in ihren Räumen unter. Für die Mutter von Gretchen Kunz etwa, eine Witwe mit zehn Kindern, war das eine willkommene und nicht zu unterschätzende Einnahmequelle. Doch wie der Pfarrer hatte Gretchens Mutter anfänglich an der Echtheit der Erscheinungen gezweifelt. Der warme Geldregen, der nach dem Einsetzen der Pilgerströme über sie niederging, mochte zwar dazu beitragen, ihre Einstellung zu ändern. Dass sie die Tochter in Erwartung dieses Geldregens vorsätzlich zu Visionen anstiftete, erscheint aber alles andere als plausibel. Dasselbe gilt für die Eltern der anderen beiden Mädchen. Die Mutter von Susanna Leist war offenbar die Einzige, die am Abend des 3. Juli ihre Tochter zu weiteren Visionen ermutigte. Aber gerade Susanna folgte dieser Empfehlung in den nächsten vier Wochen nicht. In materieller Hinsicht am meisten profitierten ohnehin Gewerbetreibende von den Erscheinungen. Das galt etwa für die Betreiber der Gasthäuser vor Ort. So jubelte ein Marpinger Wirt, dass von den Pilgern «in einem Tage mehr Bier vertilgt werde, als er früher im ganzen Jahr verkauft habe».13 Findige Dorfbewohner verlegten sich darauf, andere als die leiblichen Bedürfnisse der Pilger gegen Geld zu befriedigen. Manche verkauften Erde vom Erscheinungsort oder Wasser aus der vermeintlichen Heilquelle im Härtelwald. Einige handelten mit Marienbildern, Kruzifixen, Kerzen, Rosenkränzen. Reißenden Absatz fanden bald auch Medaillons mit Bildern und Inschriften, religiöse Pamphlete oder Postkarten mit bunten Zeichnungen von Gretchen, Katharina und Susanna vor einer strahlenden Maria mit Jesuskind am Waldrand. Doch keiner dieser gewerblichen Profiteure der Erscheinungen in Marpingen hatte nähere Beziehungen zu den Visionären. Die dicksten Profite strichen ohnehin auswärtige Gewerbetreibende ein: die Inhaber der Kutschenbetriebe, die wohlhabende Pilger von den Bahnstationen der Umgebung ins Dorf brachten; die Blechschmiede, die nach Marpingen zogen, um die explodierende Nachfrage nach Metallkanistern für das Wasser aus der Härtelwaldquelle zu befriedigen; und vor allem die professionellen Andenkenverkäufer, die dort seit dem Sommer 1876 ihre Verkaufsbuden aufstellten. Einer davon wohnte ein Vierteljahr im Elternhaus von Susanna Leist. Deren Eltern zahlte er für Miete und Verpflegung rund ein Zehntel dessen, was er durch seine Verkäufe in Marpingen einnahm. Das war durchaus typisch. Zwar verdienten die
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Einwohner mit daran, dass die Marienerscheinungen Pilger ins Dorf brachten. Der Löwenanteil der Geschäfte mit den Erscheinungen ging allerdings an Auswärtige. Die materiellen Gewinne, die auf die Dorfbewohner abfielen, waren vergleichsweise ebenso geringfügig wie unverhofft. Sie waren eine unerwartete Folge, nicht die Ursache für den Glauben der Marpinger an die Marienerscheinungen. Sosehr die Behörden sich auch bemühten, gelang es ihnen doch nie, Gretchen und ihren Freundinnen nachzuweisen, von Pilgern Geld angenommen zu haben. Für die Herstellung des Kontakts zur Gottesmutter floss in keinem Fall Bares an die kindlichen Visionäre, ihre Eltern oder andere Dorfbewohner – auch nicht bei den zahlreichen «Wunderheilungen». So wenig nachvollziehbar das für die Behördenvertreter blieb: Für die meisten Marpinger ging es wie für die von auswärts ins Dorf kommenden Marienwallfahrer nicht um Materielles. Das heißt freilich nicht, dass die spirituelle Anziehungskraft der Erscheinungen nicht auch mit ganz konkreten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umständen der Zeit zusammenhing. Die Heilungen sind dafür ein gutes Beispiel. Krankheit und Tod waren in den 1870er Jahren noch in einem Ausmaß alltägliche Begleiter des Lebens, wie es heute kaum mehr vorstellbar ist. Die durchschnittliche Lebenserwartung im Deutschen Reich lag damals bei weniger als 40 Jahren. Knapp die Hälfte aller Neugeborenen starb schon im Kindesalter. Die Medizin machte zwar gewaltige Fortschritte. Es sollte aber noch etwa eine Generation dauern, bevor diese der breiten Masse der deutschen Bevölkerung zugute kamen. 1876 war eine medizinische Versorgung besonders auf den Dörfern vielfach noch kaum existent. In Preußen entfiel statistisch auf 3000 Einwohner ein Arzt. In Marpingen und vielen der umliegenden Dörfer praktizierte kein einziger. Viele derjenigen, die, auf Heilung hoffend, zum Härtelwald kamen, hatten vorher nie ein ärztliches Behandlungszimmer von innen gesehen. Die meisten waren Kinder und Frauen aus einfachen Verhältnissen. Aus diesen Gruppen kam überhaupt die Mehrzahl der Pilger. Sie hatten entweder kein Geld oder kein Vertrauen in studierte Mediziner. Denn diese behandelten Patienten aus den Unterschichten entweder von oben herab oder gar nicht. Zwischen den nach Heilung suchenden Pilgern und den Anhängern der Marienerscheinungen in Marpingen selbst gab es auffallende Paral-
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lelen. Von Anfang an überwogen auch unter den Dorfbewohnern, die es zur Erscheinungsstätte am Härtelwald zog, Frauen und Kinder. Kinder waren ebenfalls unter denjenigen überrepräsentiert, die beanspruchten, von der Gottesmutter geheilt worden zu sein oder sie zu sehen. Die ursprünglichen drei Visionärinnen kränkelten selbst häufig; oft fanden sich deshalb nur zwei von ihnen am Erscheinungsort ein. Susanna starb jung, mit 14 Jahren, und sowohl Gretchen als auch Katharina sollten ihren vierzigsten Geburtstag nicht erleben. Die ersten angeblich Geheilten waren Katharinas Schwester und der Schwager ihres Vaters. Die meisten dieser subjektiv empfundenen Heilungen stellten sich zwar als nicht dauerhaft heraus. Viele hatten wie die vorausgegangenen Erkrankungen psychische Hintergründe. In nicht wenigen Fällen scheinen die Krankheiten auch eine Flucht vor als unerträglich angesehenen Lebensumständen gewesen zu sein. All diese Befunde unterstreichen allerdings nur, dass es vor allem der Glaube an Erlösung von Leid war, der das große Echo auf die vermeintlichen Erscheinungen erklärt. Auf Erlösung hofften die Marpinger und die Katholiken, die zu Hunderttausenden von den Marienerscheinungen in dem Dorf angezogen wurden, freilich noch in anderer Hinsicht. Nicht allein von Krankheiten und Elend fühlten sie sich bedrückt. Himmlischen Beistand erhofften sie auch gegen die staatlichen Behörden. Denn das Verhältnis zwischen diesen und der katholischen Bevölkerung war seit geraumer Zeit angespannt. Nach dem 3. Juli 1876 entlud sich die Spannung in massiven Zusammenstößen zwischen Staatsorganen und Dorfbewohnern. Während der ersten Woche nach dem Beginn der Erscheinungen in Marpingen war kein Vertreter der Obrigkeit vor Ort. Bezeichnenderweise verbüßte der einzige Dorfpolizist in diesen Tagen eine Gefängnisstrafe – wegen sexueller Übergriffe. Symptomatisch war auch der Ton der ersten Nachricht über die Lage im Dorf, der die Kreisverwaltung in Sankt Wendel am 12. Juli alarmierte: Ein entsandter Gendarm berichtete, die Reaktion der Marpinger auf seine Ankunft habe ihn an Szenen aus dem deutsch-französischen Krieg von 1870 / 71 erinnert. Die alarmierten Behörden reagierten ihrerseits sofort mit militärischer Mobilmachung. Noch am Abend des 12. Juli ließen sie die nächstgelegene preußische Garnison in Saarlouis in Alarmbereitschaft versetzen. Am nächsten Morgen begab der Kreissekretär sich zusammen mit dem liberalen Amtsbürgermeister und drei Gendarmen nach Mar-
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pingen. Dort forderte er die am Härtelwald versammelte tausendköpfige Menge aus Dorfbewohnern und auswärtigen Pilgern zum Auseinandergehen auf – unter Bezug auf einen Paragraphen des preußischen Strafgesetzbuches, der «Zusammenrottungen» verbot. Die einzige Antwort darauf waren spöttische Rufe, die der liberale Bürgermeister auf sich bezog. Die Behördenvertreter zogen sich daraufhin zurück und forderten Truppen aus Saarlouis an. Gegen acht Uhr abends trafen achtzig Soldaten in Marpingen ein. Sie hatten die Anweisung, das Gelände rund um den Härtelwald zu räumen, «Ausschreitungen» zu verhindern und eine Ausgangssperre durchzusetzen. Viele der Anwesenden an der Erscheinungsstätte zogen sich beim Anrücken des Militärs ins Dorf zurück. Mehr als eintausend Menschen blieben allerdings dort. Die ausharrende Menge machte sich mit lautem Singen und Beten Mut. Erneut wurden auch provozierende Rufe laut. Trommelwirbel und die Aufforderung des kommandierenden Offiziers, den Platz zu verlassen, zeigten wieder keine Wirkung. Der Offizier ließ einen Teil seiner Männer daraufhin die Bajonette aufpflanzen und befahl ihnen, mit Waffengewalt zu räumen. Über die weiteren Ereignisse des Abends gibt es verschiedene Aussagen. Sicher ist, dass sechzig Menschen aus der Menge durch Stöße mit Gewehrkolben und vereinzelt auch Bajonetten verwundet wurden. In der Nacht kam es am Härtelwald noch zu Zusammenstößen von Soldaten und einigen Zivilisten, die sich mit Knüppeln bewaffnet hatten. Währenddessen ließ der kommandierende Offizier den Ortsvorsteher kommen und befahl diesem barsch, Hafer für die Militärpferde heranschaffen zu lassen. Der Vorsteher antwortete, es gebe keinen Hafer im Dorf. Auch darüber, was dann geschah, gehen die Zeugnisse auseinander. Nach Darstellung des Vorstehers schrie der kommandierende Offizier ihn an, «faßte mich am Kragen und würgte mich». Der Offizier gab später vergleichsweise vage zu Protokoll: «Die Einwohner von Marpingen zeigten sich bei Unterbringung der Leute und Beschaffung der nötigsten Nahrungsmittel etc. am ersten Abend lässig und widerwillig.»14 Die Soldaten blieben zwei Wochen. Nach ihrem Abzug wurden sie durch Polizisten ersetzt, die den Härtelwald abzusperren versuchten. Sie bemühten sich auch, die vermeintlich wundertätige Quelle mit Steinen und Lehm zu verstopfen, allerdings ohne Erfolg. Die Gottesmutter scherte das wenig: Sie erschien nun in den Elternhäusern von Gretchen,
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Katharina und Susanna, in Scheunen und Ställen, der Dorfschule, der Kirche oder auf dem Friedhof. In den Visionen der drei Mädchen tauchte jetzt auch der Teufel auf. Dorfbewohner und Pilger von außerhalb spielten derweil am Härtelwald mit den Polizeibeamten Katz und Maus. Sie schlichen sich nachts an die Quelle, die von den Polizisten nach dem Zeugnis eines Priesters «mit der rücksichtslosesten Strenge» bewacht wurde.15 Die Beamten antworteten mit Hunderten von Anzeigen, einige der Gläubigen reagierten mit Steinwürfen. Immerhin mussten die Polizisten im Gegensatz zu den Soldaten von den Marpingern nicht auch noch verpflegt und untergebracht werden. Die Behörden präsentierten dem Dorf im Nachhinein für den Militäreinsatz eine Rechnung über die satte Summe von 4000 Mark, die einen erbitterten Rechtsstreit entfachte. Doch schon während der Zeit der Einquartierung war das Verhältnis zwischen Dörflern und Uniformierten eisig, wenn auch nicht mehr ganz so von Gewalttätigkeit geprägt wie am Abend des 13. Juli. Pfarrer Neureuter erreichten weiterhin Beschwerden über Misshandlungen von Marpingern durch Soldaten. Eine Frau aus dem Dorf verglich das Verhalten der Truppe sogar mit dem der kindermordenden Söldner des Herodes im Neuen Testament. Die Armee, schrieb ein katholischer Publizist, habe «sich benommen wie in Feindesland».16 Auf der Gegenseite wurden ebenfalls kriegerische Metaphern bemüht, um die Lage zu beschreiben. Der am 12. Juli zuerst aus Marpingen berichtende Gendarm war nicht der Einzige, der sich an den DeutschFranzösischen Krieg von 1870 / 71 erinnert fühlte. Vor dem Hintergrund schwelender außenpolitischer Verwicklungen mit Frankreich sahen 1876 manche Vertreter der Behörden tatsächlich den alten Kriegsgegner hinter den «Unruhen» in Marpingen. Den dort eingesetzten Soldaten wurde anscheinend gesagt, dass sie einen von Paris aus gelenkten Aufstand niederschlagen müssten. Der im Dorf ermittelnde Detektiv aus Berlin fantasierte, dass die Loyalitäten der Bewohner nicht dem Deutschen Reich, sondern den Franzosen gehörten. Sogar eine umfangreiche Lieferung von Marienmedaillons für Marpingen aus Frankreich, die im September 1876 in Saarbrücken abgefangen wurde, musste als Beleg für die These einer auswärtigen Verschwörung herhalten. Ende des Jahres zirkulierten Gerüchte, ein französischer Priester sei der Anstifter der Marpinger Erscheinungen.
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So absurd das war, erklärt es doch immerhin, weshalb Behörden und liberale Politiker es für nötig hielten, die Pilger am Härtelwald mit Waffengewalt auseinanderzutreiben. Und es sagt viel über die geheimen Ängste dieser Repräsentanten und Parteigänger des neuen deutschen Nationalstaats aus. Der grundlose Verdacht, hinter der Marpinger Marienverehrung stehe eine Verschwörung, war schon hanebüchen genug. Das Hirngespinst, dahinter stecke der alte Kriegsgegner Frankreich, offenbart symptomatisch die Nervosität von Staat und Liberalen im jungen Deutschen Reich. Hinter der prachtvollen Fassade, mit der dieses Reich von den gesellschaftlichen Eliten am 18. Januar 1871 in Versailles aus der Taufe gehoben worden war, verbarg sich eine tiefe Unsicherheit über die Loyalität der Bevölkerung – insbesondere der katholischen. Die Zweifel an der nationalen Zuverlässigkeit des katholischen Bevölkerungsteils hatten nach der Reichsgründung zunächst dazu beigetragen, Geistlichen unter Strafandrohung Äußerungen zu verbieten, die geeignet schienen, den «öffentlichen Frieden» zu gefährden. Dieser «Kanzelparagraph» diente in den folgenden Jahren als Vorwand für die Inhaftierung von Hunderten katholischer Priester und Bischöfe. Die Katholiken antworteten mit einer Welle der Solidarisierung und des passiven Widerstands. Regierungen und liberale Parlamentsmehrheiten des Reiches und der Einzelstaaten reagierten darauf zwischen 1873 und 1875 wiederum mit den sogenannten Maigesetzen, die Bischöfe, Priester und Ordensgeistliche weiter diskriminierten. Dieser «Kulturkampf» zwischen Staat und Kirche bildete auch den Hintergrund der Ereignisse in Marpingen. Der Marpinger Pfarrer Jakob Neureuter stellte den Zusammenhang bereits am 11. Juli her, als er den beginnenden Pilgerstrom ins Dorf kommentierte: «Prozessionen trotz Maigesetze und Culturkampf.» Später sollten Neureuter und andere Priester im Zusammenhang mit den Marienerscheinungen auf der Grundlage von Kulturkampfgesetzen strafrechtlich verfolgt werden. Die katholische Bevölkerung unterstützte die Kleriker durch öffentliche Massendemonstrationen. Doch schon das Verhalten, das die Menge der Gläubigen bei der militärischen Räumung der Erscheinungsstätte am Härtelwald zeigte, entsprach dem Muster passiven Widerstands, mit dem Katholiken auf den Einsatz staatlicher Machtmittel reagierten. Für viele Zeitgenossen waren aber nicht allein die Massen der Gläubigen, sondern schon die Visionen selbst eine Antwort auf die staatlichen
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Repressionen. Ein katholischer Journalist äußerte Pfarrer Neureuter gegenüber die Überzeugung: «Offenbar stehen die Erscheinungen in unmittelbarem Zusammenhange mit dem Culturkampfe.» Obwohl der Dorfpfarrer zunächst an der Echtheit der Visionen Gretchens und ihrer Freundinnen zweifelte, begrüßte er doch sofort «diese Begeisterung in einer Zeit, wo der Glaube vielfach so flau und der Unglaube alles aufbietet, die Religion zu vernichten». Nachdem er seine anfängliche Skepsis überwunden hatte, zeigte er sich schließlich überzeugt, die Erscheinungen seien vom Himmel «zur Stärkung der Gläubigen» gesandt worden. Unter den Hunderttausenden von Pilgern, die Marpingen anzog, war das offensichtlich die allgemeine Ansicht. Die Jungfrau Maria, so erzählten sie sich, sei endlich erschienen, um den unterdrückten Katholiken beizustehen. Unter den Pilgern kursierten sogar Gerüchte, die Soldaten hätten einen elektrischen Schlag erhalten, als sie das am Erscheinungsort aufgestellte Kreuz zu beseitigen versucht hätten, und nachts erscheine dort ein Engel mit Flammenschwert. Das glaubte nicht jeder. Doch für die große Mehrheit der Katholiken in der preußischen Rheinprovinz und im gesamten Deutschen Reich waren die Marpinger Erscheinungen ein Trost und ein Zeichen. Die Muttergottes und ihr Sohn, formulierte ein Kaplan aus Bonn, hätten sich entschlossen, «unser bedrücktes Rheinland heimzusuchen». Der Wille zu glauben war so auch fundiert in der Hoffnung auf Erlösung von staatlicher Drangsalierung.17
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Die Auseinandersetzungen der 1870er Jahre um das Verhältnis von Staat und Kirche im Deutschen Reich hatten Wurzeln, die weit in die Zeit vor der Nationalstaatsgründung zurückreichten. Vergleichbare Auseinandersetzungen hatte es vor 1871 bereits in Baden und Bayern gegeben. Mit der Reichsgründung erfassten diese Konflikte jedoch nicht nur ganz Deutschland. Sie gewannen auch eine neue Qualität und Intensität. 1873 griff der liberale Abgeordnete und Mediziner Rudolf Virchow bei einer Debatte im preußischen Parlament den ebenfalls bereits älteren Begriff des «Kulturkampfs» dafür auf. Konflikte zwischen Staatsbürokratien und kirchlichen Organisationen
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bildeten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein häufiges Phänomen in Europa. Sie waren in weiten Teilen des Kontinents Ausdruck der scheinbar gegenläufigen Tendenzen des Zeitalters: Säkularisierung des öffentlichen Raumes einerseits, Bemühungen um eine Rechristianisierung der Gesellschaft andererseits. Vielfach rivalisierten zudem Nationalstaaten und Religionsgemeinschaften um die Loyalitäten und Sympathien der Menschen. Im neuen Nationalstaat Italien etwa, der sich zwischen 1860 und 1870 den päpstlichen Kirchenstaat einverleibte, führte das zu einem jahrzehntelang andauernden Zerwürfnis mit dem katholischen Klerus. In Frankreich lebten die Auseinandersetzungen der Revolutionszeit zwischen Staat und Kirche wieder auf. In gemischtkonfessionellen Ländern wie Großbritannien, Deutschland und der Schweiz verbanden sich diese Konflikte auch mit Streit um die Rechte religiöser und nationaler Minderheiten. In der Schweiz führten Auseinandersetzungen um das Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes in Glaubensfragen, die das Erste Vatikanische Konzil 1870 verkündet hatte, bis an den Rand eines Bürgerkriegs. Auch im Deutschen Reich war die Verkündung der päpstlichen Unfehlbarkeit ein Auslöser des «Kulturkampfs». Man muss dabei allerdings unterscheiden zwischen den Motiven von dessen beiden hauptsächlichen Initiatoren, nämlich den konservativen Kreisen um Reichskanzler Otto von Bismarck einerseits und den Liberalen andererseits. Es waren vor allem Letztere, die sich über das Erste Vatikanische Konzil und seine Beschlüsse erregten – umso mehr, als dessen Initiator Papst Pius IX. in öffentlichen Verlautbarungen, wie im «Syllabus Errorum» von 1864, wiederholt bereits zentrale Grundsätze des Liberalismus angegriffen und diese als für Katholiken unannehmbar erklärt hatte. Die liberale Bewegung strebte in Deutschland wie in ganz Europa das Ideal des säkularisierten Nationalstaates an, wo Religion ausschließlich Privatsache sein sollte. Kirchliche Organisationen, die bei der Gestaltung öffentlicher Angelegenheiten mitsprechen wollten oder sogar maßgeblichen Einfluss beanspruchten, mussten aus dieser Sicht grundsätzlich als Gegner erscheinen. Das galt potentiell für die protestantischen Konfessionen ebenso wie für die katholische. Viele Liberale sahen zwar im Konflikt zwischen Staat und Kirche eine Fortsetzung von Gedanken der Reformation. Sie verstanden den neuen deutschen Nationalstaat als ein Projekt, das vor allem auf protestantischen Traditionen aufbauen sollte. Luther galt ihnen als Vorläufer der deutschen
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Nationalidee. So wurde Anton von Werner, selbst ein national denkender Liberaler, 1870 vom Beginn des deutsch-französischen Krieges überrascht, als er in Kiel zwei Wandgemälde über «Die nationale Erhebung von 1813» und «Luther vor dem Reichstag zu Worms» anfertigte. Repliken des Lutherbildes waren auch später unter seinen privaten Auftraggebern aus dem liberalen Bürgertum beliebt. Doch die meisten Liberalen zielten auf mehr als einen nationalen Lutherkult: Es ging ihnen um eine grundlegende Trennung von Politik und Religion. Gerade in Preußen wendeten sie sich deshalb auch gegen das traditionelle «Bündnis von Thron und Altar», die enge Verbindung von preußischem Staat und protestantischer Kirche. Die Motive der Konservativen um Bismarck waren anders gelagert. Wo die Liberalen auf eine Trennung von Staat und Kirche zielten, hielten sie eigentlich an der Idee eines Bündnisses von Staat und zumindest protestantischer Religion, von Thron und Altar fest. Bezeichnenderweise regte Bismarck auf dem Höhepunkt des «Kulturkampfs» in Preußen an, «in das Kirchengebet bei evangelischen Gottesdiensten eine Fürbitte um Bekehrung der sich auflehnenden katholischen Bischöfe aufzunehmen». Bereits bei «sehr viel weniger bedeutenden Vorkommnissen» sei in Preußen «dem staatlichen Gedanken auf der Kanzel Ausdruck gegeben» worden.18 Auch die Reaktion des Reichskanzlers auf das Erste Vatikanische Konzil fiel anders aus als die der Liberalen. Die Diskussionen um die päpstliche Unfehlbarkeit verfolgte Bismarck zunächst ganz entspannt. Tatsächlich bemühte er sich noch 1870 sehr um ein gutes Verhältnis zum Papsttum. Denn der Vatikan erschien ihm lange als eine konservative Macht, die durchaus ähnliche Interessen hatte und mit der deshalb eine Zusammenarbeit zum beiderseitigen Nutzen möglich sei. Der Papst, so hoffte Bismarck, werde von Rom aus die deutschen Katholiken so lenken können, dass sie eine konservative Politik in Preußen und dem Reich unterstützten. Zumindest aber, so hatte er bereits in den späten 1860er Jahren wiederholt an Pius IX. appelliert, möge der katholische Oberhirte «einen mäßigenden Einfluß» auf seine Schäfchen nördlich der Alpen ausüben.19 Das schien dem gläubigen Protestanten Bismarck umso wünschenswerter, als er zeitlebens selbst keine allzu hohe Meinung von diesen Schäfchen hatte. Schon als junger Rechtsreferendar in Aachen hatte er
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über die eingeborene katholische «Canaille» geschimpft. Während der 1850er Jahre polterte er über den deutschen Katholizismus, dieser sei «voll Haß und Hinterlist, der hier im practischen Leben von den Cabinetten der Fürsten und ihrer Minister bis in die bettfedrigen Mysterien des Ehestandes hinab einen unversöhnlichen, mit den infamsten Waffen geführten Kampf gegen die protestantischen Regirungen und besonders Preußen, als die weltlichen Bollwerke des Evangeliums, unterhält». An der Wahrnehmung, dass «Katholik und Feind Preußens gleichbedeutend» seien,20 hatte sich bei ihm bis zur Reichsgründungszeit nichts geändert. Nicht nur südlich des Mains erblickte Bismarck 1868 «in der katholischen Kirche, wie sie dort ist, eine Gefahr für Preußen und Norddeutschland». Auch die katholische Fraktion im preußischen Abgeordnetenhaus, meinte er, sei «die allerfeindseligste im Hause».21 Bismarcks Hoffnungen darauf, dass sich das unter dem Einfluss des Papsttums ändern könnte, zerstoben jedoch bald nach der Reichsgründung. Denn nicht nur schien ihm die Loyalität der Katholiken, die im neuen Reich ein gutes Drittel der Bevölkerung ausmachten, weniger auf Berlin ausgerichtet als vielmehr «ultramontan», also auf das «jenseits der Berge» gelegene Rom. Er glaubte auch, dass die Vertreter des organisierten Katholizismus enge Beziehungen zu den schärfsten Antagonisten des neuen Nationalstaats unterhielten. So unterstütze die katholische «klerikale Fraction» im Osten Preußens den Widerstand der ebenfalls katholischen polnischen Minderheit gegen deren Germanisierung. Ja, der Reichskanzler sah den deutschen Katholizismus gelegentlich sogar als Teil einer international vernetzten Organisation von Verschwörern, «die ihre Befehle von Rom bekommen». Im Rahmen dieser «schwarzen Internationale» würden deutsche Katholiken auch eng mit dem französischen «Erbfeind» zusammenarbeiten.22 Für solche Vorstellungen waren auch manche Liberale empfänglich. Es war jedenfalls die Wahrnehmung des Katholizismus als Gefahr für den gerade erst gegründeten Nationalstaat, die den gemeinsamen Boden zwischen Bismarck und den Liberalen im «Kulturkampf» bildete. Dahinter traten aus der Sicht der Zeitgenossen manche Differenzen zurück. Dahinter verschwimmen auch in der historischen Rückschau manchmal die sonst durchaus verschiedenen Motive, die Bismarck und die Liberalen genauso bewegten: stärker antikatholische Affekte hier, eher ein Streben nach Säkularisierung der Gesellschaft dort.
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Gemeinsamer Nenner war die Frontstellung gegen die katholische Kirche. Der Konflikt mit dieser begann bereits unmittelbar nach der Reichsgründung und eskalierte schnell. Im Sommer 1871 ließ Bismarck die katholische Abteilung des preußischen Schulministeriums schließen, weil er in ihr eine Art trojanisches Pferd von «Reichsfeinden» sah. Ende des Jahres folgte, auf eine Initiative der bayerischen Liberalen hin, die Ergänzung des gerade erst verabschiedeten deutschen Strafgesetzbuchs um den «Kanzelparagraphen». 1872 brach das Deutsche Reich die diplomatischen Beziehungen zum Vatikan ab. In Preußen entzog ein Gesetz die Aufsicht über sämtliche Schulen den Kirchen und übertrug sie dem Staat. Die «Maigesetze» machten unter anderem die Einstellung der Geistlichen von staatlicher Zustimmung abhängig. 1874 wurde die obligatorische Zivilehe in Preußen eingeführt, ein Jahr später in ganz Deutschland. Zu diesem Zeitpunkt hatte der «Kulturkampf» bereits erkennbar in eine Sackgasse geführt. Fast zweitausend katholische Geistliche saßen im Gefängnis, die Jesuiten waren des Landes verwiesen worden, alle Klostergemeinschaften mit Ausnahme der in der Krankenpflege engagierten aufgelöst. Die katholische Kirche erhielt keine staatlichen Zuwendungen mehr, ein Viertel ihrer Pfarrstellen war unbesetzt. Dennoch war das eigentliche Ziel, dem neuen deutschen Nationalstaat die Loyalität der Katholiken zu gewinnen, alles andere als erreicht. Vielmehr war das Gegenteil der Fall: Die katholische Bevölkerung stand den Behörden und den Trägern des nationalen Gedankens feindlicher denn je gegenüber. Das wurde in der Saarregion um Marpingen schon vor den Marienerscheinungen offensichtlich. Der Fall eines Geistlichen, der 1873 vom Trierer Bischof ohne staatliche Einwilligung zum Pfarrer des Nachbardorfes Namborn ernannt worden war, führte zu einer spektakulären Konfrontation zwischen den Repräsentanten des Staats und der Masse der Katholiken vor Ort. Der Gemeindepfarrer spielte ein Jahr lang Verstecken mit den Behörden. Im Sommer 1874 gelang es dem liberalen Amtsbürgermeister Wilhelm Woytt und einem Gendarmen endlich, den Priester festzunehmen. Doch die Dorfbevölkerung nahm eine drohende Haltung an, und nur der Intervention eines anderen Geistlichen war es zu verdanken, dass die Beamten mit ihrem Gefangenen entkommen konnten. Als der Namborner Priester dann von Sankt Wendel mit dem
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Zug ins Gefängnis nach Saarbrücken abtransportiert werden sollte, stürmten fast tausend Katholiken den Bahnhof und blockierten die Gleise. Wie zwei Jahre später in Marpingen musste Militär angefordert werden, um die Menschen zu vertreiben. Bei den Ereignissen rund um die Marpinger Marienerscheinungen setzten diese Frontstellungen sich fort, allerdings in noch einmal zugespitzter Form. Bereits dem ersten Gendarm, der nach Beginn der Marienerscheinungen das Dorf besuchte, schlug unverhohlene Feindseligkeit entgegen. Die Dorfbewohner ignorierten die Autorität der Behördenvertreter völlig. Lauthals verspotteten sie den liberalen Bürgermeister Woytt. In einigen Fällen wurden Einheimische und katholische Pilger nun auch gegenüber Polizisten handgreiflich. Die Feindseligkeit gegenüber den Repräsentanten der Behörden hatte eine lange Vorgeschichte, die Jahrzehnte hinter die Nationalstaatsgründung zurückreichte. Wie überall in Deutschland war die Bevölkerungszahl auch in der Saarregion seit dem 18. Jahrhunderts stark gestiegen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verdoppelte sich Marpingens Einwohnerzahl. Die Verbesserung der landwirtschaftlichen Anbautechniken hielt mit dem Bevölkerungswachstum nicht Schritt. In den 1840er Jahren registrierte der Landrat in Sankt Wendel, die meisten Bauern könnten nur noch mit Mühe ihre Familien ernähren. Missernten bedeuteten unter diesen Umständen den Weg in Verschuldung und wirtschaftlichen Ruin. Auch beim frühen Tod des Vaters drohte kinderreichen Familien ein Abstieg in prekäre Verhältnisse, wie Gretchen Kunz und ihre neun Geschwister es erleben mussten. Finanzielle Unterstützung erhielten sie dann praktisch allein von Organisationen der katholischen Kirche. Vom preußischen Staat, zu dem das Rheinland einschließlich der Saarregion seit 1815 gehörte, hatten die Landwirte dagegen kaum Hilfe zu erwarten. Im Gegenteil: Die preußischen Behörden verwehrten sogar den Zugang zu den Ressourcen des Waldes, auf die Dorfbewohner bisher in Notzeiten hatten zurückgreifen können. Eine «nachhaltige» Forstwirtschaft sollte Geld ausschließlich in staatliche Kassen spülen. Die Behörden verboten deshalb, Tiere im Wald weiden zu lassen oder dort Holz zu sammeln. Die Dörfler hielten sich nicht an die Verbote, und der Staat reagierte mit einer Lawine von Anzeigen und Prozessen wegen «Forstfrevels». Selbst dass Kinder unter zwölf Jahren von ihren Eltern in
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den Wald geschickt wurden, um wie Gretchen und ihre Freundinnen ungestraft Waldfrüchte zu sammeln, weil sie nach geltendem Recht noch nicht strafmündig waren, trieb manchem preußischen Beamten die Zornesröte ins Gesicht. Die Marpinger reagierten auch vor diesem Hintergrund 1876 besonders allergisch, als die Behörden den Härtelwald abzuriegeln versuchten. Wegen steigender Agrarpreise hatte sich die wirtschaftliche Lage der Dorfbewohner während der 1850er und 1860er Jahre zwar zwischenzeitig verbessert. Seit 1873 gingen die Erträge aus dem Verkauf landwirtschaftlicher Produkte angesichts von «Gründerkrach» und internationaler Konkurrenz aber stark zurück. Verantwortlich dafür wurde weithin die liberale Freihandelspolitik gemacht. Um mit ihren Familien über die Runden zu kommen, waren besonders Marpinger Kleinbauern gezwungen, sich nach zusätzlichen Einnahmequellen umzusehen. Sie wurden fündig bei den Kohlegruben, die seit den 1860er Jahren südlich des Dorfs eröffnet hatten. 1876 gab es in mehr als der Hälfte aller Marpinger Familien Männer, die unter Tage als Bergleute arbeiteten. Gretchens ältere Brüder gehörten dazu. Die beiden ersten Dorfbewohner, die von der Muttergottes geheilt worden sein wollten, waren ein Bergmann und die Tochter eines Bergmanns. Auch für die Bergleute aus Marpingen war, selbst unabhängig von den unter Tage lauernden Gefahren, das Leben nicht einfach. Protestantische Vorgesetzte sahen auf die katholischen Wanderarbeiter hinab. In mehreren Zechen an der Saar, wo Marpinger Bergleute arbeiteten, kam es in den frühen 1870er Jahren zu Streiks. Polizei und Militär unterdrückten sie im Interesse der liberalen oder konservativen Arbeitgeber. Als nach dem «Gründerkrach» 1873 der Kohleabsatz zurückging, wurde ein Teil der Belegschaft entlassen. Wer das Glück hatte, beschäftigt zu bleiben, musste niedrigere Löhne bei höheren Arbeitszeiten akzeptieren. Mitte der 1870er Jahre, erinnerte sich ein betroffener Bergmann später, wurde die Situation unerträglich. Weder von den preußischen Behörden noch von den Arbeitgebern gab es Unterstützung. Gewerkschaften existierten in den Kohlezechen der Region zu diesem Zeitpunkt praktisch noch nicht. Die einzigen Organisationen, die sich der Interessen der Bergleute annahmen, waren ein 1867 in Marpingen gegründeter Katholischer Bergarbeiter-Verein und die ebenfalls katholische Sankt-Barbara-Bruderschaft. Beide Gründun-
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gen gingen auf kirchliche Initiativen zurück. Geleitet wurden solche Gemeinschaften in der Regel vom Ortsgeistlichen. Der Marpinger Pfarrer Neureuter engagierte sich ohnehin in jeder erdenklichen Hinsicht für die Dorfbewohner. Als Vorsitzender des Pfarrgemeinderates versuchte er 1876 auch, angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Lage eine Verringerung öffentlicher Lasten der Dorfgemeinschaft zu erreichen. Bei der preußischen Provinzialregierung in Koblenz biss er allerdings auf Granit. Der liberale Amtsbürgermeister Woytt aus Sankt Wendel machte sich währenddessen bei den Marpingern noch unbeliebter, indem er einen höheren Beitrag der Dörfler zu seinem Gehalt forderte. Das war freilich nur ein besonders krasses Beispiel für die fehlende Sensibilität, mit der städtische Liberale den Sorgen und Nöten der Dorfbevölkerung gegenüberstanden. Wie den Vertretern der Behörden ging auch den Repräsentanten des Liberalismus nahezu jede Empathie für die meist auf dem Land lebenden Katholiken ab. Ihr Verhalten gegenüber den Marienerscheinungen in Marpingen war in dieser Hinsicht symptomatisch. Exemplarisch lässt sich hier erkennen, warum der deutsche Liberalismus im «Kulturkampf» so kläglich daran scheiterte, die katholische Bevölkerung für sich zu gewinnen. Wie die preußischen Behörden waren auch die Liberalen überzeugt davon, dass es sich bei den Marpinger Erscheinungen um eine vom Klerus eingefädelte Täuschung allzu gutgläubiger Dorfbewohner handelte. Die liberale Lokalzeitung in Sankt Wendel sah in der ganzen Sache nichts anderes als «einen colossalen, auf die Dummheit berechneten Schwindel». Nur die «eingerissene Dummheit» der «abergläubischen Menge» in katholischen Dörfern mache so etwas möglich. Auch anderswo sahen Liberale «Volksverdummer» am Werk. Im preußischen Abgeordnetenhaus brandmarkten ihre Vertreter den «Muttergottesschwindel» als das Werk von «klerikalen Geheimpolizisten», die sich einen «krassen WunderAberglauben» zunutze machten. Diese «Finsterlinge» hätten mit dem «fanatischen Mob» ein leichtes Spiel, soufflierten liberale Blätter. Die Bewohner von Marpingen seien «bodenlos dumme Leute» und schlicht «unbelehrbar».23 Der elitäre Dünkel, der diese Stellungnahmen durchsetzte, ist mit Händen zu greifen. Sicherlich, die Marpinger waren wundergläubig und fielen auf einen Schwindel herein. Doch sie waren keine blökenden
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Schafe, die von klerikalen «Finsterlingen» manipuliert wurden. Mit ihrem Pfarrer lebten sie in einer engen, von gegenseitigem Respekt geprägten Symbiose. Im Kontrast dazu fällt an den liberalen Äußerungen über Marpingen vor allem die völlige Respektlosigkeit gegenüber der katholischen Dorfbevölkerung auf. Daraus sprach nicht zuletzt Frustration über die eigene Unfähigkeit, die Massen der ländlichen Katholiken zu gewinnen. Und es sprach daraus das völlige Unverständnis von deren tatsächlichem Motiv: die verzweifelte Hoffnung auf Erlösung aus wirtschaftlicher Notlage und politischer Bedrängnis, die ein Ventil in einem neuen Katholizismus fand. Denn die Ereignisse rund um die Marpinger Marienerscheinungen waren nicht, wie die Liberalen glaubten, Auswüchse eines alten Aberglaubens längst vergangener Jahrhunderte. Vielmehr waren sie das Resultat einer religiösen Erneuerungsbewegung. Diese Erneuerungsbewegung ging auch nicht einseitig von der katholischen Hierarchie aus. Sie entstand vielmehr aus einer komplexen Interaktion von Laien, Priestern und Papsttum. Spirituell war die Erneuerung des Katholizismus eine Reaktion auf die Aufklärung. Materiell wurde sie durch die revolutionären Umwälzungen seit 1789 angestoßen. Besonders die Säkularisation ist in dieser Hinsicht kaum zu überschätzen. Die Enteignung ihres Besitzes machte die Kirchen, die bis dahin auch immer Wirtschaftsbetriebe gewesen waren, erst zu wahrhaft religiösen Gemeinschaften. Zudem wuchsen ihre Mitglieder und Funktionsträger durch die Enteignung enger zusammen. Mit dem Wegfall der Privilegien des Klerus schrumpfte dessen Abstand zu den Laien. Auch die sozialen Gegensätze zwischen hohem und niederem Klerus, zwischen Bischöfen und Pfarrern, verringerten sich. Sogar das Papsttum rückte zumindest gefühlt näher an die Gläubigen heran. Mit der Vollendung der Einigung Italiens verlor der Papst 1870 die Herrschaft über den Kirchenstaat. Aus dem letzten geistlichen Territorialherrn Europas wurde das rein spirituelle Oberhaupt der katholischen Kirche. Schmeckte der Verlust an politischer Macht auch bitter, wog der Gewinn an Sympathien unter den Gläubigen ihn doch mehr als auf. Eine Pariserin, die davon gehört hatte, dass der Papst nun armselig und gleichsam als «Gefangener» im Vatikan lebe, sandte in den 1870er Jahren deshalb sogar selbstgenähte Unterwäsche nach Rom.24 Die Frau mochte den Zustand der Garderobe des Heiligen Vaters falsch einge-
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schätzt haben. Doch es war die Geste der Verbundenheit, die zählte und neu war. Überhaupt spielten Frauen eine wichtigere Rolle im erneuerten Katholizismus. Die Lösung von der weiterhin patriarchalisch verfassten Welt der Wirtschaft trug wohl dazu bei. Jedenfalls war das 19. Jahrhundert, sosehr katholische Hierarchien auch in männlicher Hand blieben, eine Zeit der Feminisierung religiöser Praxis. Frauen dominierten zunehmend unter den Besuchern von Gottesdiensten, an Wallfahrtsorten, unter den Visionären bei Heiligenerscheinungen. In Mittelalter und früher Neuzeit waren es überwiegend Männer gewesen, die von Erscheinungen berichteten. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert waren die Seher an den großen Erscheinungsorten – Lourdes, Marpingen, Knock, Fatima – dagegen vor allem Frauen und Mädchen. Der Aufstieg der Marienverehrung im Katholizismus des 19. Jahrhunderts ging einher mit einer Verweiblichung der Religion. Für Liberale war auch das ein Anlass zu abfälliger Kritik. Erzählungen von Marienerscheinungen qualifizierten sie als «Altweibergeschichten» ab. Die Seherinnen von Marpingen wurden von ihnen zu «hysterischen Weibern» pathologisiert. Frauen, ätzten liberale Zeitungen, ließen sich nun einmal leichter von Emotionen lenken, seien durch Massenstimmungen leichter beeinflussbar und rationalem Denken nicht wirklich zugänglich. Ohnehin konstruierten Liberale in Stellungnahmen zu Marpingen wiederholt einen Gegensatz von rationaler, unabhängiger Männlichkeit und emotionaler, wankelmütiger Weiblichkeit. Der weibliche Pol, ob repräsentiert durch «verrückte» und «hysterische Weiber» oder «weibische Pfaffen», wurde dabei jeweils dem Katholizismus zugeordnet. Die «männlichen» Qualitäten beanspruchten die Liberalen dagegen für sich selbst. Oft charakterisierten sie auch Katholiken als quer zu den «natürlichen» Geschlechterrollen stehend: Das galt für die «weibischen Pfaffen» ebenso wie für Nonnen, die sich ihrer Geschlechterrolle in der bürgerlichen Familie als Hausfrau und Mutter entzogen, oder die unter den Marpinger Pilgern immer wieder ausgemachten «schnatternden alten Jungfern», die offenbar ebenfalls dieser weiblichen Berufung nicht gerecht geworden waren. Wie in den liberalen Ausfällen gegen den «geistlosen Aberglauben» und die «bodenlose Dummheit» der Marpinger «Pöbel-Massen» kam
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auch in diesen Äußerungen ein abgehobener Dünkel zum Vorschein. Neben elitärem Denken gehörte auch Frauenfeindschaft zum Liberalismus der 1870er Jahre. Zudem offenbarte sich in solchen Kommentaren eine tief sitzende Unsicherheit. Denn Marpingen und der Katholizismus schien allzu viel von dem in Frage zu stellen, woran Liberale glaubten: die bürgerliche Familie, die rationale Erklärung der Welt durch «männliche» Wissenschaft, die Autorität des neuen deutschen Nationalstaats und seiner Behörden und nicht zuletzt den eigenen gesellschaftlichen Führungsanspruch.25 Dieser war durch den «Gründerkrach» und die Neuformierung der Konservativen im Deutschen Reich Mitte der 1870er Jahre bereits herausgefordert. Nun kam auch noch die Mobilisierung der katholischen Massen dazu. Unter den Bedingungen des allgemeinen und gleichen Männerwahlrechts, das seit 1871 in ganz Deutschland bei den Wahlen zum Reichstag galt, konnte das nichts Gutes für die Zukunft des Liberalismus bedeuten.
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Tatsächlich hatte sich schon während der Reichsgründung eine politische Vertretung des Katholizismus gebildet. Personell und ideell konnte sie an eine längere Tradition anknüpfen. Als nach der Revolution von 1848 zum ersten Mal allgemeine und gleiche Wahlen in Deutschland zu einer Nationalversammlung stattfanden, erlebten die siegessicheren Liberalen eine große Überraschung: In überwiegend katholischen Gebieten wie der preußischen Rheinprovinz wurden mehrheitlich ihnen bisher unbekannte Katholiken als Abgeordnete gewählt. Während der 1850er Jahre gab es im preußischen Abgeordnetenhaus selbst unter den Bedingungen des Dreiklassenwahlrechts, das Besitzende privilegierte, eine einflussreiche katholische Fraktion. Während des Verfassungskonflikts in Preußen löste diese sich zwar schrittweise auf. Doch Ende 1870 bildete sie sich unter dem Namen «Zentrum» erneut. Anlass dafür war zunächst ein liberaler Vorstoß zur Auflösung katholischer Klöster und Orden. Vor dem Hintergrund der Entstehung des deutschen Nationalstaats konstituierte die Zentrumspartei sich dann im
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Winter 1870 / 71 reichsweit. In der ersten Sitzung des nationalen Parlaments beantragten ihre Abgeordneten, Grundrechte wie die Autonomie der Kirchen aus der preußischen in die Reichsverfassung zu übernehmen. Der Antrag wurde mit überwältigender Mehrheit abgelehnt. Selbst die linken Liberalen der Fortschrittspartei, die eigentlich ebenfalls einen Grundrechtekatalog in der Verfassung verankern wollten, argwöhnten dahinter ein rein «klerikales» Manöver. Als die Zentrumsfraktion etwas später die Reichsleitung aufforderte, sich für den Erhalt des Kirchenstaates einzusetzen, galt sie erst recht als bloßes Sprachrohr des Papstes und der katholischen Amtskirche. Der Vorwurf, das Zentrum sei nichts anderes als eine Interessenvertretung des Vatikans und erhalte seine Instruktionen von «ultra montes», also von «jenseits der Berge» aus Rom, begleitete die Partei das gesamte Kaiserreich hindurch. Repräsentanten der protestantischen Mehrheitsgesellschaft von Rechtskonservativen bis hin zum entschiedenen Linksliberalen Rudolf Virchow unterstellten ihr fehlende Loyalität zur Nation: «Diesem undeutschen, römischen, ultramontanen Wesen müssen wir entgegentreten, in jeder gesetzlich zuverlässigen Form.» Im Reichstag charakterisierte der Mediziner Virchow die Zentrumsfraktion 1872 als geradezu pathologische Parasiten: «Ich betrachte das als die eigentliche Aufgabe, welche die neue Zeit hat, dieses fremdartige Wesen, welches sich in uns hineindrängt, welches in Form dieser Fraktion als gesonderter Körper sich zwischen die verschiedenen Bestandtheile des Hauses schiebt, zu überwinden.»26 Umsonst beteuerten die Vertreter der Zentrumspartei ihre Loyalität zum Deutschen Reich. Als katholische Abgeordnete anderer Fraktionen ihnen das Recht absprachen, für den deutschen Katholizismus in seiner Gesamtheit sprechen zu können, betonten sie vergebens, offen für Angehörige aller Konfessionen zu sein. Tatsächlich war das Zentrum nur in mehrheitlich katholischen Wahlkreisen erfolgreich. In rein protestantischen Regionen blieb es völlig chancenlos. Der offensichtlich konfessionelle Charakter der Partei bestärkte die übrigen Parteien in ihrem Misstrauen. In der Wahlprüfungskommission des Reichstags unterzogen sie bereits 1871 die Mandatsgewinne des Zentrums einer rigorosen Kontrolle. Wahlempfehlungen von Pfarrern zugunsten der Partei führten unweigerlich dazu, dass die Ergebnisse in den betreffenden Bezirken annulliert wurden. Über die Einflussnahme von Fabri-
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kanten oder Gutsbesitzern auf die Stimmabgabe ihrer Arbeiter sah die liberale und konservative Mehrheit der Kommission dagegen großzügig hinweg. Umso beeindruckender waren die Wahlerfolge der Zentrumspartei. 1871 gelang es ihr, aus dem Stand mehr als 700 000 Stimmen zu gewinnen. Im Reichstag stellte sie damit auf Anhieb die zweitstärkste Fraktion, hinter den Nationalliberalen. Etwa die Hälfte der katholischen Wähler gewann die Partei für sich. Bei den nächsten Reichstagswahlen 1874 stieg die Wahlbeteiligung dann beträchtlich an. Keine Partei wurde davon mehr begünstigt als das Zentrum. Offenbar profitierte es von den Ereignissen des «Kulturkampfs», die den Wahlkampf dominierten. Vier von fünf der katholischen Wähler gaben vor diesem Hintergrund der Zentrumspartei jetzt ihre Stimme. Die Wählerzahl der Partei verdoppelte sich auf knapp anderthalb Millionen – fast ebenso viele, wie die Nationalliberalen gewinnen konnten. Auch unter dem in Preußen geltenden Dreiklassenwahlrecht vermochte das Zentrum seine parlamentarische Stellung angesichts des «Kulturkampfs» beträchtlich auszubauen. Bei den Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus 1873 steigerte es die Zahl seiner Mandate auf 88 – das waren dreißig mehr als noch 1870.27 Als sich im Sommer 1876 die Nachricht von den angeblichen Marienerscheinungen in Marpingen verbreitete, standen erneut Wahlen an. Im Oktober des Jahres wurde über die Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses in Preußen entschieden, Anfang 1877 über die des Reichstags. Die Zentrumspresse griff das Thema Marpingen im Vorfeld auf, weil es «für die Wahlen wichtig» sein könne. Vor Ort war sie damit auch durchaus erfolgreich. In dem Wahlbezirk, zu dem Marpingen gehörte, setzte der Zentrumskandidat für den Reichstag sich mit einem Ergebnis durch, das heutige Diktatoren vor Neid erblassen lassen würde: 97,5 Prozent der Wähler stimmten für ihn. Der konservative Gegenkandidat erhielt ganze 39 Stimmen.28 Insgesamt setzte sich der Siegeszug der Partei allerdings nicht fort. In Preußen konnte sie 1876 immerhin die Zahl ihrer Mandate etwa halten. Das gelang auch bei den Reichstagswahlen im Januar des folgenden Jahres. Stimmenzahl und Stimmenanteil des Zentrums gingen aber wieder zurück. Die Partei gewann zwar nach wie vor die Mehrheit der katholischen Männer, die zur Wahl gingen. Der Anteil der Katholiken, die für
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das Zentrum stimmten, war jedoch gesunken. Hatte bei den Reichstagswahlen von 1874 nur noch ein Fünftel der katholischen Wähler andere Parteien gewählt, so war es 1877 ein knappes Drittel. Die Gründe dafür waren vielschichtig. Der «Kulturkampf» hatte seinen Höhepunkt überschritten. Seine Initiatoren, die Liberalen und Bismarck, zeigten Ermüdungserscheinungen. Repressionen gegenüber den Funktionsträgern der katholischen Kirche hatten sich zu offensichtlich als kontraproduktiv erwiesen, um die Gläubigen von Papsttum und Klerus zu trennen. Gleichzeitig waren die Marpinger Marienerscheinungen als Wahlkampfthema für das Zentrum ein zweischneidiges Schwert. Vor Ort in der Saarregion und in anderen ländlichen Gegenden konnte die Partei mit ihrer Verteidigung gegen die ungeschickte Kritik von Liberalen und Behörden daran zwar punkten. Unter den Führern der Zentrumspartei gab es wie in der kirchlichen Hierarchie jedoch beträchtliche Zweifel an der Echtheit der Erscheinungen. Und die Wahlergebnisse legten nahe, dass diese Skepsis auch bei Katholiken insbesondere aus dem Bürgertum und den Städten, die säkularem Denken näherstanden, geteilt wurde. Als die Zentrumsführung sich nach den Stimmverlusten bei den Wahlen schließlich dazu durchrang, die Ereignisse in Marpingen zum Thema einer Debatte im preußischen Abgeordnetenhaus zu machen, klammerte sie die Frage nach der Echtheit der Visionen daher explizit aus. Der Kölner Zentrumsabgeordnete und Verleger Julius Bachem erklärte diese ausdrücklich für irrelevant, als er den parlamentarischen Vorstoß seiner Partei Anfang 1878 begründete. Stattdessen stellte er die überzogene Reaktion der Behörden auf die Erscheinungen in den Mittelpunkt. Besonders betonte er die Verantwortung der Liberalen, die vor Ort und in der Presse ihre «Rohheit der Gesinnung» gezeigt hätten, für «die zahlreichen Quälereien und Drangsalirungen» der Marpinger katholischen Bevölkerung.29 Im März 1879 kam die Ära der «Verfolgungen» mit dem Prozess gegen 19 Anhänger der Marpinger Marienerscheinungen zu ihrem Abschluss. Julius Bachem übernahm dabei die Rolle eines Verteidigers – auf ausdrücklichen Wunsch des Zentrumsvorsitzenden Ludwig Windthorst. Bei den außerordentlichen Reichstagswahlen im Sommer 1878 waren Zahl und Anteil der für die Partei abgegebenen Stimmen noch einmal leicht zurückgegangen. In Preußen stand eine Landtagswahl bevor. Vor diesem Hintergrund geißelte Bachem erneut vor allem das Verhalten der
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Liberalen in Marpingen. Die Schuldzuweisungen an die Marpinger und der «Kulturkampf» behinderten bloß eine Zusammenarbeit der Katholiken mit dem Staat. Mit den Freisprüchen für alle Angeklagten wurde das Ende des Prozesses zum Signal. Im Laufe des Jahres 1879 zog der Staat alle Polizisten von der Erscheinungsstätte am Härtelwald ab. Im Herbst feierte das Zentrum bei den Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus einen doppelten Erfolg. Nicht nur vermochte es die Zahl seiner Mandate wieder zu erhöhen. Die Liberalen verloren auch ihre bisherige absolute Mehrheit im Abgeordnetenhaus. Von jetzt an konnten in Preußen Mehrheiten durch ein Zusammengehen von Konservativen und Zentrum gebildet werden. Und im Reich wurde die Zentrumspartei ebenfalls nicht mehr als politischer Paria behandelt. Schon Mitte der 1870er Jahre hatten Bismarck und die Konservativen begonnen, die Möglichkeit einer Zusammenarbeit mit dem Zentrum zu sondieren. Der Tod von Papst Pius IX., unter dem das Unfehlbarkeitsdogma verkündet worden war, öffnete 1878 die Tür für eine Deeskalation des Konflikts mit dem Katholizismus. Der Nachfolger von Pius zeigte sich verhandlungsbereit. Gespräche mit dem päpstlichen Nuntius verliefen zwar zunächst nur schleppend. Überzeugt von der Existenz einer «schwarzen Internationale», erwartete Bismarck als Gegenleistung für einen Abbau der Kulturkampfgesetze, dass der Vatikan direkt auf das Abstimmungsverhalten der Zentrumspartei im Reichstag Einfluss nahm. Das war freilich, wie der Reichskanzler schließlich erkennen musste, so gar nicht möglich. Dennoch kam es langsam zu einer Annäherung. In Anspielung auf den Bußgang des salischen Königs Heinrich IV. zum Papst im 11. Jahrhundert hatte der Kanzler 1872 dem damals noch liberal dominierten Reichstag versichert: «Nach Canossa gehen wir nicht.» Im Sommer 1878 äußerte er dagegen hinter vorgehaltener Hand, wenn nur das Zentrum etwas kooperationsbereiter sei, «würde er, Bismarck, schon ein wenig nach Canossa gehen».30 Konfessionelle Gegensätze blieben zwischen protestantischem Reichskanzler und den Konservativen auf der einen, katholischem Zentrum auf der anderen Seite zwar weiterhin bestehen. Wirtschaftspolitische Fragen boten aber Anknüpfungspunkte für Zusammenarbeit. Bismarck und die konservativen Parteien strebten besonders im Interesse der Landwirtschaft eine Abkehr vom liberalen Freihandelsprinzip an. Darin stimmten
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sie mit den meisten Zentrumsabgeordneten und deren Wählern überein. Denn die Hochburgen der Zentrumspartei lagen überwiegend auf dem platten Land. Lebte schon die Mehrheit der gesamten Bevölkerung des Deutschen Reiches von der Landwirtschaft, so galt das für den katholischen Bevölkerungsanteil erst recht. Als sich nach den Reichstagswahlen von 1878 im Parlament eine fraktionsübergreifende Volkswirtschaftliche Vereinigung bildete, die Schutzzölle forderte, gehörten ihr fast alle Zentrumsabgeordneten an. Mitte 1879 stimmte der Reichstag mehrheitlich einer Zolltarifvorlage zu. Die Mehrheit bestand hauptsächlich aus den Konservativen und den Zentrumsabgeordneten, die geschlossen für die Vorlage votierten. Unter dem Druck insbesondere ländlicher Wähler stimmten einige Nationalliberale ebenfalls für den neuen Zolltarif; die meisten davon verließen anschließend die Fraktion und wechselten zur freikonservativen Reichspartei über. Die liberale Ära war vorbei. Auf den inneren Ausbau des Nationalstaats im liberalen Geist, der Norddeutschen Bund und Deutsches Reich für ein gutes Jahrzehnt geprägt hatte, folgte nun ein konservativer Umbau. Ganz getilgt wurden freilich die Resultate der liberalen Reichsgründungszeit nicht. Neben der Wirtschaftspolitik machte sich die konservative Wende vor allem in der öffentlichen Verwaltung bemerkbar, aus der viele Repräsentanten des Liberalismus verschwanden. Kulturell war die Wende dagegen allenfalls eine halbe. Zwar wurden die den katholischen Klerus diskriminierenden «Maigesetze» während der 1880er Jahre weitgehend zurückgenommen. Doch mit der Zivilehe, der staatlichen Schulaufsicht und dem Verbot politischer Äußerungen von der Kanzel blieben zentrale Elemente einer Säkularisierung des öffentlichen Lebens bestehen. Auch an der nationalen Kodifizierung des Rechtssystems im liberalen Sinn wurde nach den 1870er Jahren im Kaiserreich nicht mehr gerüttelt. Und konservative Versuche, den in diesem Jahrzehnt der inneren Reichsgründung gewachsenen Einfluss des Reichstags einzuschränken, blieben erfolglos. Bismarck und die Konservativen scheiterten mit ihren Anläufen dazu während der 1880er Jahre nicht zuletzt am Zentrum. Denn dessen Repräsentanten lassen sich nicht einfach der politischen Rechten zuordnen. Der politische Katholizismus war vielmehr eine komplexe Kopie der deutschen Gesellschaft, ihr konfessioneller Klon im Kleinformat. Im
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katholischen Milieu gab es konservative Aristokraten, liberale Bürger, ihre eigenen Interessen verfolgende Landwirte und Handwerker, eine katholische Arbeiterbewegung. Mit der Verschiebung der Stärkeverhältnisse dieser Submilieus und ihrer wechselnden Allianzen untereinander verschob sich im Lauf der Zeit auch wiederholt die Ausrichtung des politischen Katholizismus. In den ersten zwei Jahrzehnten nach der Reichsund Parteigründung wurde er von einer engen Zusammenarbeit der katholischen Eliten aus Adel und Bürgertum geprägt. Vor dem Hintergrund eines Aufstiegs der agrarisch-mittelständischen Massenbewegungen im Zentrum drängten dann während der 1890er Jahre die Bürgerlichen die Aristokraten zurück. Nach der Jahrhundertwende führte der Bedeutungsgewinn des Arbeiterflügels schließlich zu einem Schwanken zwischen stärker «linken» demokratischen und konservativen Positionen der Partei – je nachdem, ob das katholische Bürgertum die Arbeiter einzubinden oder mit Hilfe der Aristokraten abzuwehren versuchte. Während des gesamten Kaiserreiches reichte die konfessionelle Spaltung der deutschen Gesellschaft jedoch aus, um die verschiedenen sozialen Gruppen im Katholizismus aneinanderzubinden. Der konfessionelle Spaltpilz schuf an sich bereits einen dauerhaften Abstand zwischen den katholischen Submilieus und ihren Gegenstücken in der protestantischen Mehrheitsgesellschaft des Deutschen Reiches. Der «Kulturkampf» vertiefte diesen Abstand dann zu einem gähnenden Abgrund. Das schwächte den deutschen Liberalismus, weil er nahezu alle Unterstützung im katholischen Bevölkerungsteil verlor. Und es ermöglichte den Konservativen, Zentrum und Liberale seit 1879 immer wieder gegeneinander auszuspielen. Die konfessionelle Spaltung wurde so in Deutschland zu einem Hindernis für die liberalen Kräfte, die Staatsmacht aus den Parlamenten heraus zu erobern. Sie ermöglichte Bismarck und den Konservativen die konservative Wende der späten 1870er Jahre. Die für das späte 19. Jahrhundert so prägenden Auseinandersetzungen um das Verhältnis von Staat und Kirche, oft als Ausdruck einer gesellschaftlichen Modernisierung gesehen, hatten also im Deutschen Reich zumindest in politischer Hinsicht das genaue Gegenteil zur Folge. In anderen, nicht konfessionell gespaltenen europäischen Ländern wie Frankreich und Italien trugen sie dagegen zu einer antikonservativen Wende bei. Dort brachten die Konflikte zwischen Staat und katholischer Kirche langfristig nicht nur die
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gesellschaftliche Liberalisierung, sondern auch politische Parlamentarisierung und Demokratisierung voran. Ohnehin stellen der deutsche «Kulturkampf» wie die ähnlich gelagerten Konflikte in anderen europäischen Staaten ein Schema in Frage, das die Geschichte dieser Jahre nur als Duell zwischen Kräften des Fortschritts und des Rückschritts sehen möchte. Tatsächlich waren «linke» Progressivität und konservative Beharrung nicht säuberlich voneinander zu trennen. Die Liberalen, die sich selbst als Bannerträger des Fortschritts sahen, schreckten während des «Kulturkampfs» nicht davor zurück, Bismarcks konservative Politik einer brutalen Repression und Missachtung von Grundrechten mitzutragen. Der politische Katholizismus mochte dagegen zeitweilig als Teil eines konservativen Blocks erscheinen. Und tatsächlich trug im Deutschen Reich seine bloße Existenz lange dazu bei, eine Weiterentwicklung hin zum parlamentarischen System zu behindern. Gleichzeitig aber war es gerade das Zentrum, das nach 1879 Bismarck und den Konservativen gegenüber die Rechte des Parlaments verteidigte und 1918 schließlich zur Stütze der Weimarer Republik wurde.
Religion und Konfession im Kaiserreich Religion und Konfession im Kaiserreich
Nicht allein das Verhältnis des Katholizismus zur Entwicklung moderner demokratischer Strukturen in Deutschland, auch das von Religion und Moderne generell im deutschen Kaiserreich erscheint auf den ersten Blick schillernd und ambivalent. Einerseits trieb der «Kulturkampf» die Trennung von Staat und Kirche, die Ausdifferenzierung von Gesellschaft und Religion voran. Mit der Zivilehe wurde die Keimzelle der Gesellschaft einer ausschließlich religiösen Legitimation entzogen. Der «Kanzelparagraph» schob politischer Einflussnahme der Geistlichen einen Riegel vor. Die staatliche Schulaufsicht schränkte die Kontrolle der Kirchen über die Erziehung der heranwachsenden Generationen ein. Andererseits aktivierten und verstärkten die Auseinandersetzungen des «Kulturkampfs» gerade religiöse und konfessionelle Identitäten unter den Deutschen. Kaum ein gesellschaftlicher Graben war und blieb während der Zeit des Kaiserreichs tiefer als der konfessionelle. Protestantische und katholische Deutsche trennten Welten. Während Katholiken etwas mehr
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als ein Drittel der Bevölkerung des Kaiserreichs ausmachten, stellten Protestanten mit knapp zwei Dritteln die Mehrheit. Die jüdischen Deutschen, 1871 nur ein gutes Prozent aller Einwohner des Reiches, lebten ebenfalls teilweise in einer Welt für sich. Doch anders als die meisten Angehörigen der christlichen Konfessionen suchten die Juden eher Kontakt mit Andersgläubigen, waren vielfach in Vereinen und Parteien vor allem der protestantischen Mehrheitsbevölkerung Mitglied und gingen zunehmend auch Ehen mit Christen ein. Unter Protestanten und Katholiken blieb dagegen der Anteil derer, die solche «Mischehen» mit Angehörigen der anderen Konfession eingingen, außerordentlich gering. Daran änderte sich auch nach Einführung der Zivilehe 1875, die interkonfessionelle Ehen erleichterte, kaum etwas. Religion hatte in weiten Kreisen beider christlicher Konfessionen bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts einen neuen Aufschwung erlebt. Während der 1870er Jahre verstärkte sich dieser Trend noch einmal. Hätte es zur Zeit der Reichsgründung schon Bestsellerlisten gegeben, wären sie von Veröffentlichungen mit religiösem Inhalt angeführt worden: Keine Art von Büchern wurde damals so häufig gedruckt wie solche mit religiösen Inhalten. Die Berichte über Heiligenerscheinungen in Marpingen und anderswo, Wallfahrten und Kirchentage fanden größte öffentliche Aufmerksamkeit. Wie die sich verschärfenden Konflikte zwischen Staat und Kirche wurden sie von Angehörigen beider christlicher Konfessionen nach Kräften genutzt, um die eigenen religiösen Überzeugungen hervorzuheben – und die der anderen Seite in Frage zu stellen. Historiker haben deshalb sogar diskutiert, ob das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert wie die Zeit der auf die Reformation folgenden Glaubenskriege als «konfessionelles Zeitalter» bezeichnet werden kann. Jedenfalls hinterließ die konfessionelle Spaltung tiefe Spuren in Gesellschaft, Alltagsleben und Politik des deutschen Kaiserreichs. Katholiken und Protestanten organisierten sich getrennt – ob in Parteien, Gewerkschaften, Bauern- oder Gesangsvereinen. Hier und da riefen sie sogar dazu auf, nur bei Metzgern oder Bäckern der eigenen Konfession einzukaufen. Nach dem Ende des «Kulturkampfs» in den 1880er Jahren mobilisierten der Evangelische Bund und der Volksverein für das katholische Deutschland jeweils mehr als eine halbe Million Menschen als Mitglieder, um den konfessionellen Gegensatz in Politik und Gesellschaft wachzuhalten.31
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All das deutet nicht darauf hin, dass während des Kaiserreichs ein Rückzug der Religion aus den Köpfen der Menschen und dem öffentlichen Leben stattfand. Ein sozialer Bedeutungsverlust von Religion galt und gilt aber vielfach als ein zentrales Element der Modernisierung. Für den Begründer der Modernisierungstheorie in Deutschland, Max Weber, war eine so verstandene Säkularisierung essentiell für die Entwicklung einer modernen Gesellschaft. Denn nur auf dieser Grundlage schien Weber ein Prozess der Individualisierung möglich. Allerdings war Max Weber als Zeitgenosse alles andere als unparteiisch. Sein Vater gehörte während des «Kulturkampfs» als nationalliberaler Abgeordneter sowohl dem Reichstag als auch dem preußischen Abgeordnetenhaus an. Weber selbst engagierte sich seit den 1890er Jahren in linksliberalen Gruppen und Parteien. Seine Soziologie der Moderne wurde dadurch wesentlich beeinflusst: Sie atmet die weltanschaulichen Überzeugungen des Liberalismus. Das historische Urteil über den «Kulturkampf» ist zumindest unter Nichtkatholiken lange von Webers liberalen Kategorien geprägt worden. David Blackbourns Untersuchungen zu den Marpinger Marienerscheinungen haben jedoch in letzter Zeit einen Perspektivwechsel angestoßen. Historiker weisen mittlerweile stärker auf den Fanatismus hin, durch den nicht nur die Anhänger der Erscheinungen, sondern auch ihre liberalen Gegner sich auszeichneten. Säkulare Überzeugungen wurden von diesen mit ideologischer Inbrunst vorgebracht, Nationalismus und Wissenschaft zu Ersatzreligionen stilisiert. Im Namen der Freiheit schreckten die Liberalen während des «Kulturkampfs» nicht davor zurück, das Recht auf freie Religionsausübung einzuschränken. In Wort, Schrift und Bild diabolisierten und dehumanisierten sie katholische Kleriker wie Laien. Nicht nur in Marpingen konstruierten Liberale und Protestanten absurde Verschwörungstheorien über den «ultramontanen» Katholizismus. Diese Verschwörungstheorien dienten unter anderem als Begründung für die Vertreibung katholischer Orden wie der Jesuiten aus Deutschland. Manche Historiker hat das sogar dazu verleitet, im «Kulturkampf» einen Vorläufer nationalsozialistischer Politik zu sehen: Wenn der Staat religiöse Minderheiten vertreiben und ihr Eigentum konfiszieren konnte, wie es mit den Jesuiten geschah, konnte dasselbe dann nicht auch mit den Juden geschehen? Und war es nicht vor allem die bürgerlich-protestanti-
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sche Trägerschicht des Liberalismus, die nach dem Ende des Kaiserreichs zur sozialen Basis des Nationalsozialismus wurde?32 So berechtigt solche Fragen sein mögen, konstruieren sie doch wiederum selbst allzu einfache Kontinuitäten. Der deutsche Liberalismus war nie identisch mit dem Bürgertum, und allein mit bürgerlicher Unterstützung wäre der Nationalsozialismus nie an die Macht gekommen. Die Ausweisung von etwa 200 Mitgliedern eines katholischen Ordens ist etwas anderes als die Vertreibung und schließlich Ermordung aller Angehörigen einer Hunderttausende Menschen zählenden ethnischen Gruppe. Wer, statt hier zu differenzieren, Parallelen suggeriert, ersetzt zudem das zeitgenössische liberale Schwarz-Weiß-Bild vom «Kulturkampf» zwischen Mächten der Wissenschaft und Aufklärung einerseits, katholischen «Finsterlingen» andererseits nur durch ein ebenso einseitiges Narrativ von liberalen Missetätern und ihren unschuldigen katholischen Opfern. Denn so überzogen viele Ängste der Liberalen waren: Die Erneuerungsbewegung im Katholizismus weckte das liberale Misstrauen nicht ganz zu Unrecht. Schließlich war sie auch eine Antwort auf die Aufklärung, ja eine Kampfansage gegen diese. Das aufgeklärt-individualistische Leitbild der Liberalen lehnten die Wortführer des erneuerten Katholizismus radikal ab. Und ihre Sicht auf die Welt war eher noch mehr von den Denkfiguren Gut und Böse geprägt als die ihrer liberalen Gegner. Von konservativen Parteien und Regierungen wurde die katholische Erneuerungsbewegung gefördert und als Bundesgenossin umworben. In Frankreich und Italien stellte der erneuerte Katholizismus die Fußtruppen reaktionärer Kräfte. In Deutschland war das zunächst nur wegen der konfessionellen Spaltung der Gesellschaft anders. Aber gerade hier wurde deshalb die Komplexität des Katholizismus als gesellschaftlicher Kraft im Kaiserreich besonders deutlich. Denn wie der antike römische Gott Janus hatte er zwei Gesichter. Sosehr der deutsche Katholizismus des Kaiserreichs der Vergangenheit zugewandt gewesen sein mochte, erschien doch gleichzeitig vieles an ihm ausgesprochen «modern». Wallfahrer nach Marpingen benutzten selbstverständlich das neue Verkehrsmittel Eisenbahn. Mit neuesten Drucktechniken, einschließlich farbiger Reproduktionen, wurden Abbildungen der Erscheinungsstätte am Härtelwald ebenso massenhaft verbreitet wie Bilder von Gretchen Kunz und ihren Freundinnen. Eine
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während der 1870er Jahre wie Pilze aus dem Boden schießende katholische Massenpresse informierte deutschlandweit über die Marpinger Erscheinungen – und über die rabiate Reaktion der Autoritäten darauf. Der neue Katholizismus nutzte damit nicht nur das Transportmittel Eisenbahn, das für die Liberalen den Fortschritt schlechthin signalisierte, zu seinen Zwecken. Seine Repräsentanten bedienten sich auch desselben Massenmediums Zeitung, das aus liberaler Sicht die Aufklärung vorantreiben musste, indem es der Bevölkerung die Möglichkeit zur individuellen Meinungsbildung gab. Nun ließ sich die Massenpresse natürlich auch zu anderen Zwecken instrumentalisieren. Doch offenbar ging der neue Katholizismus durchaus mit einer Individualisierung von Religion einher. Religion kann idealtypisch auf zweierlei Arten gelebt werden: traditionell-kollektiv in der Kirchengemeinde oder individuell. Zur individualisierten Religion zählen dabei ganz verschiedene Praktiken: Gebete allein im stillen Kämmerlein oder im kleinen Kreis von Familie und Freunden, Bibelstudium, Lektüre von Andachtsbüchlein oder anderen Lesestoffen mit religiösem Inhalt. Aber auch die Teilnahme an Ereignissen gehört dazu, die unregelmäßig oder spontan stattfinden, sich also durch ihren «Eventcharakter» vom Alltag abheben, wie Wallfahrten oder eben Heiligenerscheinungen. Traditionell-kollektive religiöse Praxis zeichnet sich dagegen gerade durch ihre Regelmäßigkeit und Vorhersehbarkeit aus; zu ihr gehören Rituale wie Gottesdienstbesuch und Teilnahme an Kommunion oder Abendmahl. In den evangelischen Kirchen Deutschlands nahm während des späten 19. Jahrhunderts das Interesse an dem Besuch von Gottesdiensten mit Abendmahl deutlich ab. Die vorhandenen Statistiken weisen eine rapide sinkende Teilnahme an diesem religiösen Ritual vor allem in den 1870er Jahren aus. Während der folgenden anderthalb Jahrzehnte stagnierte die Zahl der Teilnehmer am Abendmahl in protestantischen Kirchen in etwa auf dem erreichten niedrigeren Niveau. Seit Ende der 1890er Jahre ging sie erneut zurück. Die private, individuelle Religiosität ließ unter Protestanten allerdings offenbar nicht nach. Darauf weist zumindest die – nach einem kurzen Einbruch ebenfalls in den 1870er Jahren – das ganze Kaiserreich anhaltende rege Publikationstätigkeit bei Büchern mit religiöser Thematik hin. In absoluten Zahlen wuchs die Zahl der Titel von Neuerscheinungen in den Bereichen Religion und Theologie stark. Relativ
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zum gesamten Büchermarkt blieb sie konstant hoch; jedes zehnte bis zwölfte Buch, das bis 1918 im Deutschen Reich gedruckt wurde, hatte einen religiösen Inhalt. Für Katholiken gibt es Statistiken über den Kirchenbesuch erst seit dem Ersten Weltkrieg. Das Interesse an Büchern mit religiösen Inhalten nahm aber auch hier während des Kaiserreiches absolut zu. Vor allem jedoch gewannen unter Katholiken spektakuläre Formen individualisierter religiöser Praxis im 19. Jahrhundert beträchtlich an Popularität. So zog die Heilig-Rock-Wallfahrt nach Trier, dem religiösen Zentrum der Diözese, zu der Marpingen gehörte, 1891 fast zwei Millionen Gläubige an. Rechnerisch war damit jeder achte deutsche Katholik in diesem Jahr nach Trier gepilgert, nachdem es bei der Rock-Wallfahrt von 1844 schon jeder fünfzehnte gewesen war. Spielte bei den Wallfahrten die kirchliche Hierarchie immerhin als Veranstalter eine Rolle, wenn sie auch das Echo der Gläubigen nur wenig beeinflussen konnte, fand individuelle Religiosität in den zahlreichen Heiligenerscheinungen ihren ungefilterten Ausdruck. Bezeichnenderweise standen Trierer Bistum und Klerus den Visionen von Marpingen skeptisch gegenüber. Und nicht ohne Grund hielten Gretchen Kunz und ihre Freundinnen den Dorfpfarrer durch angebliche Anweisungen der Gottesmutter von der Erscheinungsstätte fern. Die Interpretation der himmlischen Botschaften gab den Visionären die Gelegenheit, ihre eigene Theologie zu entwickeln. Besonders Frauen und Kinder nutzten in einer patriarchalischen Welt diese Möglichkeit, Aufmerksamkeit zu gewinnen und Deutungshoheit auszuüben. Das selbst inszenierte Spektakel der Heiligenerscheinung bot den weiblichen und kindlichen Visionären eine Chance, sich zumindest zeitweise von traditionellen Machtverhältnissen zu emanzipieren. Die männlichen Würdenträger der katholischen Amtskirche mochten ihre Skepsis hinter vorgehaltener Hand äußern, die – ebenfalls männlichen – liberalen Kritiker der Marienerscheinungen offen und laut über die «hysterischen Weiber» von Marpingen herziehen: Für Gretchen, Katharina und Susanna musste das Erlebnis einer Selbstermächtigung gleichkommen. Während Susanna als Jugendliche starb, gingen Gretchen wie Katharina als Erwachsene ins Kloster. Sie flohen damit in eine Institution, die Frauen im Kaiserreich eine Alternative zur vorgezeichneten Existenz als Ehefrau und Mutter bot. Auch das war ein Trend der Zeit. Der Andrang
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vor den Klostertoren stieg seit Mitte des 19. Jahrhunderts steil an. Während des Kaiserreichs vervielfachte sich besonders die Zahl der weiblichen Ordensmitglieder. Parallel dazu explodierten geradezu die Mitgliederzahlen katholischer Vereine. Wie im Protestantismus fanden sich dort religiös Interessierte auf freiwilliger Basis zusammen. Anders als in der Kirchengemeinde waren in den Vereinen zudem die Geistlichen weniger dominant. Auch das trug zu einer Lösung religiöser Praxis von amtskirchlichen Vorgaben der Hierarchie und zur Individualisierung bei: Denn mit dem Wachstum der Vereine sank die relative Bedeutung des unter klerikaler Kontrolle stehenden kollektiven Gemeindelebens. Mit der Erneuerung des Katholizismus individualisierte sich also auf vielfache Art das religiöse Leben der Gläubigen. Im Protestantismus vollzogen sich währenddessen Entwicklungen, die auf nicht immer gleichen Wegen doch zu ähnlichen Ergebnissen führten. Mit Säkularisierung hatte dieser Prozess in beiden Konfessionen wenig zu tun. Gleichwohl modernisierten die christlichen Religionen sich in Deutschland damit. Denn im Gegensatz zur Säkularisierung ist Individualisierung ein unbestrittenes Element der Moderne. Andere Transformationen religiösen Lebens hingen damit eng zusammen. Je mehr das traditionelle Bündnis von Thron und Altar sich löste, desto mehr verloren religiöse Organisationen an politischer Macht. Mit der Trennung von Staat und Kirche verlagerten sie ihre Aktivitäten stärker in den gesellschaftlichen Raum. Die Gründung und das Wachstum neuer katholischer wie protestantischer Vereine und Verlage legen davon ein beredtes Zeugnis ab. Aber auch die alten amtskirchlichen Hierarchien orientierten sich neu, entwickelten sich und gewannen dadurch nicht selten an Stärke: Der Einfluss des Papsttums im Katholizismus, der nach seiner Erneuerung wesentlich «ultramontaner» war als vorher, ist ein Beispiel dafür. Solche Prozesse der Organisierung und Zentralisierung der Kirchen liefen parallel zur Individualisierung von Religion. Bürokratische Strukturen stehen in einem offensichtlichen Spannungsverhältnis zum Streben nach Individualität, und dennoch sind beide Signum der Moderne. Der Katholizismus im Kaiserreich unterschied sich dabei nicht von anderen Institutionen und Strömungen der Zeit – den protestantischen Religionsgemeinschaften, Parteien und «politischen Religionen» wie
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Nationalismus und Sozialismus oder auch der mit dem Anspruch einer «säkularen» Rationalität antretenden Wissenschaft. Doch welche Art von kirchlicher Moderne war damit entstanden? Und wo führte sie hin? Es dauerte fast ein Menschenleben, bis am Ort der Marpinger Marienerscheinungen von 1876 eine Kapelle errichtet wurde. Die Initiative zu dem Bau kam von einzelnen Marpinger Gläubigen, insbesondere einer 74-jährigen Frau, die als junges Mädchen die Ereignisse der 1870er Jahre miterlebt hatte und nun die Muttergottes selbst in der Pfarrkirche gesehen haben wollte. Die Reaktion der kirchlichen Hierarchie war auch diesmal zwiespältig. Einerseits gab es beim Dorfpfarrer und im zuständigen Trierer Bistum starke Zweifel an der Echtheit sowohl der alten wie der neuen Erscheinungen. Andererseits zog Marpingen wieder massenhaft Gläubige an. Dabei wäre die Nachricht von der Fertigstellung der Kapelle am Härtelwald Ende Januar 1933 beinahe in der Berichterstattung über Adolf Hitlers Ernennung zum Reichskanzler untergegangen. Knapp zwei Monate später stimmte die Zentrumsfraktion im Reichstag unter Druck geschlossen für das Ermächtigungsgesetz. Ein halbes Jahr nach der Einweihung der Marpinger Kapelle schloss der Vatikan mit der Regierung Hitler ein Konkordat. Es sollte das Verhältnis zwischen der katholischen Kirche und dem Deutschen Reich einvernehmlich regeln. Kurz danach wählten die Delegierten der protestantischen Landeskirchen Hitlers Kandidaten zum neuen Reichsbischof der Deutschen Evangelischen Kirche. Doch dabei blieb es nicht. Einzelne Protestanten opponierten gegen den Reichsbischof. 1934 schlossen sie sich in der Bekennenden Kirche zusammen. Auch viele Katholiken konnten eine Zusammenarbeit mit dem nationalsozialistischen Regime nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren und missachteten die Vereinbarungen des Konkordats – zumal das Regime das ebenfalls tat. Vor dem Hintergrund wieder aufflammender «Kulturkämpfe» schien den Nationalsozialisten spätestens 1936 der erneute Pilgerstrom nach Marpingen höchst verdächtig. Tatsächlich spricht manches dafür, dass für nicht wenige Pilger ihr Besuch dort wie sechzig Jahre zuvor eine stille, individuelle Demonstration gegen die Regierenden in Berlin war. Doch Marpingen blieb wie die katholische Erneuerungsbewegung ein ambivalentes Symbol der Moderne. Vor die Wahl gestellt, mit dem Saargebiet weiter vom Völkerbund verwaltet zu werden oder Teil des natio-
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nalsozialistisch regierten Deutschen Reiches zu werden, entschieden sich 1935 im Stimmbezirk um Marpingen 95 Prozent für die «Heimkehr ins Reich». Und 1936 warb ein Reisebüro erfolgreich für Pilgerreisen zur Kapelle am Härtelwald, indem es gerade die Einheit von katholischer und «völkisch»-nationaler Erneuerung betonte: «Heute wo unser Volk um seine Anerkennung und einen neuen Aufstieg ringt, heute wo unsere Kirche in unserem Volke einer Reinigung unterworfen ist und die junge Kirche im neuen Glanz erstrahlen soll, ist es da nicht mehr als je notwendig, Maria als die Mittlerin anzuerkennen?»33
LE I P Z I G , 2 . J U N I 18 7 8
Julie Bebel (Mitte) mit Mann August und Tochter Frieda, frühe 1880er Jahre
Ein Schock für Julie Bebel Leipzig, JuniBebel 1878 Ein Schock für2.Julie
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s war ein schöner Sonntag im Frühsommer – ein Tag, wie Julie Bebel ihn liebte. An solchen Tagen hielt es sie nicht mehr in der kleinen Wohnung in einem Leipziger Außenbezirk. An solchen Tagen musste Julie ins Grüne. Für sie stand fest: «Die Natur ist doch das Schönste und söhnt einen mit vielem aus.»1 Und in ihrem Leben gab es nicht wenige Dinge, mit denen sie sich abzufinden hatte. Doch an diesem Sonntag war Julies Glück fast vollkommen. Denn bei dem langen Spaziergang, zu dem sie nach dem Mittagessen mit Tochter Frieda aufbrach, konnte endlich auch ihr August wieder mit dabei sein. Nach einem halben Jahr erzwungener Trennung genossen Mutter und Tochter es in vollen Zügen, wieder mit dem Mann und Vater vereint zu sein. Sechs Monate hatte er im Gefängnis gesessen, wegen Beleidigung des Reichskanzlers Otto von Bismarck. Auch August Bebels Status als Reichstagsabgeordneter hatte ihn vor der Verurteilung nicht bewahren können. Julie schien das nichts anderes als ein empörendes Beispiel ungerechter politischer Klassenjustiz. Erst vor wenigen Tagen war ihr Mann wieder freigekommen. Es war schon nach sieben Uhr abends, als die Bebels von ihrem Ausflug in die Natur zurückkehrten. Kaum hatten sie ihre Wohnung betreten, stand Besuch vor der Tür. Es war die Schwester von zwei befreundeten Rechtsanwälten. Die beiden Anwälte hatten August und andere Sozialdemokraten vor einigen Jahren in einem Hochverratsprozess verteidigt. Aufgeregt fragte die Besucherin, ob er und Julie denn nicht wüssten, was passiert sei. Als die Bebels verneinten, sagte sie: «Kennen Sie einen Dr. Nobiling? Derselbe hat heute nachmittag auf den Kaiser geschossen und ihn schwer verwundet.» Julie und ihren Mann traf die Nachricht wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Selbst der selten um ein Wort verlegene August war einen Moment lang sprachlos. Für beide war die Implikation der Frage klar: Eventuelle Verbindungen des Attentäters zur sozialdemokratischen Partei würde Bismarck zum Anlass nehmen, um die Partei und ihre Re-
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präsentanten unbarmherzig zu verfolgen. Dann standen dem gerade entlassenen August weitere Haftstrafen oder Schlimmeres bevor. Als dieser die Sprache wiedergefunden hatte, antwortete er, der Name Nobiling sei ihm nicht bekannt. Und er halte es für ausgeschlossen, dass der Mann zur Partei gehöre.2 Besonders beunruhigend wurde die Nachricht dadurch, dass es sich schon um das zweite Attentat auf Kaiser Wilhelm I. in kurzer Zeit handelte. Drei Wochen zuvor hatte ein arbeitsloser Klempnergeselle namens Max Hödel zwei Schüsse auf den Kaiser abgegeben. Zum Glück war der Lauf der Waffe völlig verbogen, so dass die Geschosse Wilhelm nicht trafen, obwohl sie aus wenigen Schritten Entfernung abgefeuert worden waren. Hödel hatte für die Sozialdemokraten in Leipzig Schriften verteilt, war aber wegen Veruntreuung von Geldern aus der Partei ausgeschlossen worden. Er ging daraufhin nach Berlin, wo er unter falschem Namen sowohl zwei sozialdemokratischen Vereinen wie auch der konservativen Christlich-Sozialen Partei beitrat. Was ihn letzten Endes zum Attentäter machte, ist nie eindeutig geklärt worden. Eitelkeit und Geltungsbedürfnis spielten wahrscheinlich eine Rolle wie auch die Erkenntnis, das eigene Leben ohnehin verpfuscht zu haben. Dazu kam möglicherweise der Glaube an eine unmittelbar bevorstehende soziale Revolution: Für diese im wahrsten Sinne des Wortes den Startschuss zu geben und so zum Helden zu werden mochte den ersten Attentäter ebenfalls motivieren. Bismarck hatte noch am Tag von Hödels Anschlag sofort mit der Idee reagiert, das Attentat als «Anlaß zu sofortiger Vorlage gegen Socialisten und Presse» zu nehmen. Einerseits glaubte auch der Reichskanzler daran, dass von der Sozialdemokratie reale Gefahren «für die Sicherheit des Staates und der Gesellschaft» ausgingen. Andererseits hoffte Bismarck, die starke Stellung der Liberalen in den Parlamenten erschüttern zu können, indem er eine «rote Gefahr» an die Wand malte: «Für die nächsten Wahlen kann es jedenfalls nur nützlich sein, wenn man den Reichstag jetzt nöthigt, angesichts des Attentats Stellung zu nehmen gegen die socialistischen Umtriebe.»3 Die Liberalen hatten sich davon jedoch zunächst nicht weiter beeindrucken lassen. Ende Mai lehnte der Reichstag mit großer Mehrheit ein Ausnahmegesetz gegen die sozialdemokratische Partei ab. Doch dann folgte das zweite Attentat. Während Familie Bebel am
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Nachmittag des 2. Juni in Leipzig durchs Grüne streifte, nutzte Kaiser Wilhelm das schöne Wetter, um sich von seinem Berliner Stadtschloss in den Tiergarten fahren zu lassen. Als der offene Wagen des Monarchen um Viertel nach zwei Uhr die Prachtstraße Unter den Linden entlangrollte, krachten aus der zweiten Etage des Hauses Nr. 18 zwei Schüsse. Über dreißig Schrotkugeln trafen Wilhelm am Kopf, an den Armen und im Nacken. Während der Wagen mit dem schwerverletzten Kaiser sofort kehrtmachte und zum Schloss zurückjagte, stürzten mehrere Zeugen des Attentats in das Haus, aus dem die Schüsse abgefeuert worden waren. Der Attentäter Nobiling verwundete einen davon und schoss sich dann selbst in den Kopf, bevor ein Infanterieleutnant ihn entwaffnen konnte. Karl Nobiling war der Sohn eines Domänenpächters, der im ostelbischen Preußen Güter bewirtschaftete. Der Vater hatte dreimal geheiratet; seine beiden ersten Frauen waren zwei Schwestern mit dem Mädchennamen Bismark gewesen. Die seelische Instabilität des Vaters, der schließlich Selbstmord beging, hatte der Sohn anscheinend geerbt. Obwohl ihm als Kind aus reichem Haus alle Möglichkeiten offenstanden, war er mit dreißig Jahren immer noch ohne Beruf und Zukunftsperspektive. Was ihn zu den Schüssen auf den Kaiser bewegte, ist noch weniger klar als bei Hödel. Wegen der Kugel, die Nobiling sich nach dem Attentat selbst in den Kopf geschossen hatte, war er danach kaum vernehmungsfähig, bis er drei Monate später an der selbst beigebrachten Verletzung starb. Der so letztendlich erfolgreiche Selbstmordversuch direkt nach dem Anschlag deutet darauf hin, dass es ihm nicht zuletzt darum ging, sein Leben mit einem Paukenschlag zu beenden. Das vermutete zumindest der ihn behandelnde Gefängnisarzt: Der Attentäter habe gehofft, «daß er ein berühmter Mann würde, […] wenn er, bevor er sich selbst das Leben genommen, eine so hohe Persönlichkeit vorher erschießen» würde. Daneben hätten wohl auch Existenzängste sowie vielleicht eine «republikanische und socialdemokratische Tendenz» eine Rolle gespielt.4 Während eines Studiensemesters an der Leipziger Universität hatte Nobiling Mitte der 1870er Jahre August Bebel in einer sozialdemokratischen Versammlung gehört. Unter seinen Studienfreunden galt er als «Kommunist». 1877 war er auf einer Reise nach London und Paris mit dort im Exil lebenden deutschen Sozialisten zusammengetroffen. Für
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Bismarck stand sofort fest, dass hinter dem Attentat auf den Kaiser eine internationale sozialistische Verschwörung stehen müsse. Polizei und Staatsanwaltschaft ermittelten deshalb vor allem in diese Richtung. Es gelang ihnen allerdings nicht, substantielle Belege für Bismarcks Annahme zu erbringen. Das beeindruckte den Reichskanzler freilich nicht im Geringsten. Ultimativ forderte er, endlich müsse jetzt «das Land versuchen, den Sozialismus loszuwerden». Es sei dringend nötig, dass diesem «Krebsschaden Einhalt getan werde». Dem bayerischen «Märchenkönig» Ludwig II. schrieb Bismarck, «das Anwachsen der socialdemokratischen Gefahr, die jährliche Vermehrung der bedrohlichen Räuberbande, mit der wir gemeinsam unsere Städte bewohnen», mache ein Ausnahmegesetz schlicht unumgänglich. Nach dem zweiten Attentat auf den Kaiser hielt der Kanzler mehr denn je die Zeit für gekommen, um ein solches gegen die sozialdemokratische Partei gerichtetes Gesetz durch Bundesrat und Reichstag zu boxen.5 In der Tat war der Zeitpunkt günstig. Die Nachricht von der schweren Verwundung des Kaisers hatte nicht nur für Julie und August Bebel, sondern für das ganze Land einen Schock bedeutet. Die Unsicherheit über den Zustand Wilhelms und die Hintergründe des Attentats lösten eine wahre Massenhysterie aus. So liefen die wildesten Gerüchte um: Der Kaiser sei tot, auch auf den Kronprinzen und andere Mitglieder der kaiserlichen Familie seien Attentate verübt worden, Sozialdemokraten hätten das Berliner Stadtschloss der Hohenzollern erstürmt. Eine von Bismarck am Tag nach dem Anschlag veranlasste Pressemitteilung, der Attentäter habe gestanden, sozialdemokratisches Parteimitglied und Teil einer groß angelegten Verschwörung zu sein, steigerte die Hysterie auf den Siedepunkt. August Bebel, dessen Name als sozialdemokratischer Reichstagsabgeordneter landesweit bekannt geworden war, musste das am eigenen Leib erfahren. Mit Julie betrieb er in Leipzig eine Drechslerwerkstatt, in der Fenster- und Türgriffe hergestellt wurden. In den Tagen nach dem Attentat unternahm August eine Vertriebsreise, um neue Kunden zu gewinnen. Aber schon bei seinem ersten Gesprächspartner machte reges Interesse schroffer Ablehnung Platz, als er eine Visitenkarte mit seinem Namen überreichte. Auch im weiteren Verlauf der Reise liefen, sobald er seinen Namen nannte, die Geschäfte so schlecht, dass er schließlich nicht einmal
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die Reisespesen daraus decken konnte. In den Hotels, in denen Bebel unterwegs schlief, mietete er sich deshalb nur noch inkognito ein. Täglich wurde er so «Augen- und Ohrenzeuge, wie die Gäste in Ausdrücken grenzenlosen Hasses sich gegen die Partei und speziell auch gegen meine Person ergingen. Wäre ich erkannt worden, es wäre zu den schlimmsten Szenen gekommen.»6 Andere namhafte Sozialdemokraten verloren ihre Arbeitsstelle. Über die Nachrichten vom Attentat auf den Kaiser erregte Hausbesitzer kündigten ihren sozialdemokratischen Mietern. Prominenten Vertretern der Partei warf man nachts wiederholt die Fenster ein. Gastwirte, die jahrelang Sozialdemokraten gerne als ihre Kunden begrüßt hatten, sperrten diese auf einmal aus. August Bebels Parteifreunde, die in Leipzig unter der Leitung von Wilhelm Liebknecht die Parteizeitung Vorwärts redigierten, wurden aus dem Lokal geworfen, in dem sie nach den Redaktionssitzungen bisher regelmäßig gebechert hatten. Abhängig Beschäftigte mussten sich öffentlich von der «Partei der Meuchelmörder» distanzieren. In diesem Klima kollektiver Verdächtigung und gesellschaftlicher Paranoia, ausgelöst durch das zweite Attentat, blühte Bismarcks Weizen. Nach dem ersten Attentat hatte sich die große Mehrheit der Nationalliberalen im Reichstag einem Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokraten noch strikt verweigert. Unter dem Druck der öffentlichen Meinung signalisierte sie nun Bereitschaft zum Einlenken. Doch der Reichskanzler ging auf diese Signale aus dem Parlament gar nicht ein. Nicht nur wollte Bismarck ein kompromisslos hartes Gesetz, das jegliche Aktivitäten von Sozialdemokraten im politischen und gesellschaftlichen Raum kriminalisierte. Und zu Recht nahm er an, dass die Liberalen dem nach wie vor nicht zustimmen würden. Er verfolgte auch weiterhin das Ziel, den Schwerpunkt des Reichstags dauerhaft nach rechts zu verschieben. Vor allem ging es ihm darum, den linken Flügel der Nationalliberalen zu schwächen. Denn dieser schaffe «durch doctrinäre Negirung aller von der Reichsregierung im Reichsinteresse vorgeschlagenen Maßnahmen den destructiven Tendenzen im eigentlichsten Sinn freie Bahn».7 Keine zehn Tage nach dem zweiten Attentat erhielt Bismarck von dem langsam wieder genesenden Kaiser die Vollmacht, den Reichstag aufzulösen und Neuwahlen anzusetzen. Die Wahlen fanden im Hochsommer 1878 statt. Sie brachten weitgehend das vom Kanzler erhoffte Ergebnis. Die Sozialdemokraten mussten zum ersten Mal seit der Reichsgründung
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Stimmen- und Mandatsverluste hinnehmen. Folgenreicher war freilich, dass auch die Liberalen an Unterstützung verloren, während die Konservativen zulegten. Dem neu gewählten Reichstag wurde nach seiner Eröffnung der Entwurf eines Gesetzes «gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie» vorgelegt. Vierzig Tage später wurde es, kurz «Sozialistengesetz» genannt, von einer Mehrheit aus Konservativen und Nationalliberalen angenommen. August Bebel, in einem Dresdner Reichstagswahlkreis mit knapper Mehrheit wiedergewählt, nahm im Parlamentsplenum als erster Vertreter der zusammengeschmolzenen sozialdemokratischen Fraktion zu dem Gesetz Stellung. Seine Rede sprühte vor Kampfgeist und Optimismus. Erst geißelte er die verzerrende Darstellung des Nobiling-Attentates auf den Kaiser durch die Behörden. Dann handelte er sich für harsche Kritik an Reichskanzler und Gerichten einen Ordnungsruf ein. Schließlich prophezeite er, das Gesetz werde das Gegenteil von dem erreichen, was damit beabsichtigt sei. Es könne «der Sozialdemokratie nur nützen». Die Partei werde in wenigen Jahren stärker sein als zuvor. Denn keine sozialdemokratische Agitation sei in der Lage, «entfernt einen solchen Haß gegen den heutigen Staat» zu erzeugen, «als durch dieses Gesetz erweckt werden kann!»8 Julie Bebel kümmerte sich derweil daheim in Leipzig um die gemeinsame Tochter Frieda. Kein stenographischer Bericht, kein Protokoll, keine andere zeitgenössische Quelle dokumentiert ihre Reaktion auf das Sozialistengesetz. Erst einige spätere Briefe geben darüber Auskunft. Sie zeigen, dass Julie in politischer Hinsicht nicht weniger kämpferisch und selbstbewusst war als ihr Mann. Sie zeigen aber ebenso manches, was in den durch Zeugnisse der Männer geprägten heroischen Meistererzählungen der «Bewegung» nicht vorkommt – oder allenfalls in Form von Widmungen an «Opferbereitschaft» und «Hingebung» der «lieben Frau» wie in Augusts Lebenserinnerungen.9 «Unsere Männer sind ja so gut und brav und haben ihre Familie sehr lieb, das werden wir gerne zugeben», befand Julie gegenüber Natalie Liebknecht, der Frau von Augusts engstem Parteifreund Wilhelm Liebknecht. «Aber durch die ununterbrochenen Hetzereien und Überbürdung im Arbeiten und dem fortgesetzten Kampfe mit ihren Ansichten werden sie uns immer mehr entzogen und der richtige Sinn für die Familie geht ihnen immer mehr verloren. Ich frage mich manchmal auch, was
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daraus noch werden soll. Rücksichten uns gegenüber gibt es sehr wenig, erst 9 Monate Gefängnis, jetzt wieder über 14 Tage fort, dann geht mein Mann nach England, und wenn der Reichstag beginnt, geht es dorthin, was bleibt denn dann uns. Na kurz, es ist die alte Geschichte. Dabei müssen wir froh sein, wenn sie gesund bleiben, und mit der wenigen Zeit vorlieb nehmen.» Auch für Julie Bebel waren die Sozialdemokraten «unsere Leute» und «guter Hoffnung wie immer». Doch ihre Briefe an den «lieben guten August» behandeln mehr und andere Dinge als seine an die «liebe gute Julie». In Augusts Briefen dominiert Politik, hin und wieder ergänzt um die Bitte der Übersendung von Büchern oder Wäsche («2 Hemden und 2 Paar Manschetten mit vier Kragen, ein paar Taschentücher, 1 Unterhose, 1 wollenes Hemd und 1 Paar Strümpfe»). In ihren geht es ebenso um Politik und sozialdemokratische Parteiarbeit. Aber es geht auch wesentlich mehr als bei ihm um Sozialkontakte und die Sorge für den gemeinsamen Handwerksbetrieb, den Haushalt, die gemeinsame Tochter – und ihren Mann: die Sehnsucht nach seiner Anwesenheit, die nagende Angst um seine Gesundheit bis hin zu Albträumen von seinem Tod im Gefängnis.10
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Julie kam aus einfachsten Verhältnissen. Ihre Mutter, die Tochter eines Leipziger Lohnkutschers, verdiente selbst als Dienstmagd und später als Köchin im Haushalt eines Arztes ihren kargen Lebensunterhalt. Ihr Vater stammte aus der Gegend von Zwickau. Dort hatte der Großvater einen Bauernhof besessen. Doch in der nächsten Generation fand parallel zur Verwandlung Sachsens in eine städtisch geprägte Industrielandschaft ein sozialer Abstieg statt, wie er in der Region im frühen 19. Jahrhundert häufig war. Julies Vater arbeitete erst als Knecht, dann als Kutscher, später als «Packer und Ballenbinder». 1835 heiratete er in Leipzig Julies Mutter, die zu diesem Zeitpunkt bereits zwei uneheliche Kinder bekommen hatte. Fünf weitere folgten in der Ehe. Julie, 1843 geboren, war das letzte davon. Zwei ihrer sechs Geschwister überlebten die ersten Lebensmonate nicht.11
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Als Julie 13 Jahre alt war, starb ihr Vater, der zuletzt als Erdarbeiter bei der Eisenbahn tätig gewesen war. Wahrscheinlich bezog sie sich auf diese Zeit, als sie Jahrzehnte später Friedrich Engels schrieb, ihr sei «alle Jugendlust im Keime erstickt» worden. Ein Jahr später musste das intelligente, belesene und vielseitig interessierte Mädchen die Volksschule verlassen. Julie begann ihren Lebensunterhalt in einem Putzmachergeschäft zu verdienen, wo sie Hüte und Kleider anfertigte und verzierte. Dort arbeitete sie gewöhnlich von Montag bis Samstag jeden Tag elf oder zwölf Stunden. Bei großem Kundenandrang musste sie nach Feierabend noch Arbeit mitnehmen, um diese abends zu Hause zu erledigen. Dafür wurde sie schlechter bezahlt als männliche ungelehrte Tagelöhner, trotz abgeschlossener Lehre. Mehr noch aber machte sie es «sehr unzufrieden, daß ich so gar nichts für meine geistige Ausbildung tun konnte».12 Am 21. Februar 1863, einem Samstag, begleitete Julie, mittlerweile eine junge Frau von 19 Jahren, ihren ältesten Bruder zum Stiftungsfest des Gewerblichen Bildungsvereins in der Leipziger Centralhalle. Der Bildungsverein war nicht nur eine Art Volkshochschule. Er diente auch als ein Forum, in dem städtische Honoratioren und Bürger, Handwerker und Arbeiter sich treffen und austauschen konnten. Beim Stiftungsfest standen darüber hinaus ein Bankett, ein Konzert, ein Ball und eine unvermeidliche Festrede auf dem Programm. Die Rede hielt der 22 Jahre alte Drechslergeselle August Bebel. In seinen Lebenserinnerungen schrieb Bebel, der «späteren Braut und Frau» bei dieser Gelegenheit das erste Mal begegnet zu sein. Die politisch gefärbte Festrede zu Wahlrechtsfragen habe Julie «ausnehmend gut» gefallen. Nicht ganz konsequent fügte er dann jedoch noch hinzu, mit augenzwinkernder männlicher Überheblichkeit das Klischee der unpolitischen Frau bedienend: «Ich habe aber die begründete Vermutung, daß es mehr die Person des Redners war, die ihr gefiel, als der Inhalt seiner Rede, der ihr damals ziemlich gleichgültig gewesen sein dürfte.»13 Das ist nicht allein wegen des offensichtlichen Widerspruchs wenig überzeugend. Zum einen ist es unwahrscheinlich, dass Julie kein politisches Interesse hatte. Sonst hätte sie sich mit August anderthalb Jahre später wohl kaum verlobt und ihn 1866 geheiratet, obwohl ihr in diesen Jahren zunehmend klar geworden sein musste, dass Politik sein Lebensinhalt, ja geradezu eine Droge für ihn wurde. Zum anderen war er zwar
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ein außerordentlich beeindruckender Redner, aber als Person äußerlich eher unscheinbar, jedenfalls alles andere als ein Adonis. Wiederholt äußerten später seine Besucher ihre Überraschung, dass sie sich den «großen Bebel» doch ganz anders vorgestellt haben.14 Tatsächlich war August kaum größer als seine zukünftige Frau und blieb zeitlebens schmächtig, nachdem er als Kind öfter an Hunger und Mangelernährung gelitten hatte. Zur Welt kam er 1840 in den Kasematten der preußischen Festung Deutz, das damals noch nicht zu Köln eingemeindet worden war. Seine Eltern hatten beide einen sozialen Abstieg hinter sich: Kinder selbständiger Handwerker, schlugen sie sich selbst mehr schlecht als recht als abhängig Beschäftigte durchs Leben. Vater Bebel diente in der preußischen Armee. Die Mutter war bis zu ihrer Hochzeit mit ihm Dienstmagd gewesen. Danach versuchte sie den knappen Sold ihres Mannes notdürftig aufzubessern, indem sie in der feuchten und finsteren Einzimmerwohnung, in der August und seine beiden jüngeren Brüder geboren wurden und in der die gesamte Familie lebte, eine Kantine für die Soldaten der Deutzer Festung betrieb. Als August vier Jahre alt war, starb sein Vater an Tuberkulose. Die Mutter heiratete im gleichen Jahr dessen Zwillingsbruder, ihren Schwager – wohl um ihre eigene und die Versorgung ihrer Söhne zu sichern. Die Patchworkfamilie wohnte in zwei Räumen, die freilich nicht weniger dunkel und feucht waren als die Deutzer Kasematten, am Arbeitsplatz des Stiefvaters, dem Gefängnis Brauweiler bei Köln. Doch bald starb auch der zweite Mann der Mutter und kurz darauf Augusts jüngster Bruder, beide ebenfalls an Tuberkulose. Ohne Anspruch auf irgendwelche staatliche Unterstützung, entschloss die Mutter sich daraufhin, in ihren Geburtsort Wetzlar zurückzukehren, wo sie Verwandte hatte. Deren Hilfe linderte einige Zeit das Elend. Die kränkelnde Mutter nähte Militärhandschuhe, beide Söhne verdienten gelegentlich als Kegeljungen oder bei der Kartoffelernte ein wenig Geld dazu. Dennoch reichte es auf Dauer hinten und vorne nicht. Schließlich meldete die Mutter ihre Kinder schweren Herzens zur Aufnahme ins Militärwaisenhaus an. Doch das Waisenhaus nahm nur Knaben auf, die Soldat werden konnten – und daran war bei August, der wegen mangelhafter Ernährung «ein ungemein schwächlicher Junge» war, nicht zu denken.15
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Kurz darauf starb seine Mutter, wie schon ihre zwei Männer und ihr jüngster Sohn, an Tuberkulose. August, der am liebsten in der Schule geblieben wäre, wurde von den Verwandten zu einem Wetzlarer Drechslermeister in die Lehre gegeben. Nach Abschluss der Lehre ging er 1858 als Geselle auf die Wanderschaft. Im Frühjahr 1860 kam er nach Leipzig. Dort fand er Arbeit in einem größeren Handwerksbetrieb, wo er die anderen sechs Gesellen erfolgreich zum Streik anstiftete, um besseres Essen, kürzere Arbeitszeiten und schließlich auch das Recht auf eigene Wohnung beim Meister durchzusetzen. Und er engagierte sich im Vereinsleben der Stadt, das Anfang der 1860er Jahre eine rege Dynamik entwickelte. So war er 1861 bei der Gründung des Gewerblichen Bildungsvereins dabei, auf dessen Stiftungsfest er zwei Jahre später Julie kennenlernen sollte. Leipzig war damals eine Stadt im Aufbruch. Ein rasanter Aufschwung von Handel, Gewerbe und Industrie lockte wie August Bebel viele in die Stadt, deren Einwohnerzahl schnell wuchs. 1862 wurde in Sachsen die Gewerbefreiheit eingeführt. Mit der dadurch eröffneten freien Berufswahl hellten die wirtschaftlichen Entwicklungsperspektiven sich noch weiter auf. Aber auch politisch gerieten Dinge in Bewegung. Nach dem Scheitern der Revolution von 1848 /49 hatten die Regierungen nationale, liberale und demokratische Bewegungen rigoros unterdrückt. Für politisch aktive Bürger kam das nächste Jahrzehnt einer Eiszeit gleich. Doch gegen Ende der 1850er Jahre setzte in Preußen und den meisten anderen deutschen Staaten politisches Tauwetter ein. Obrigkeitsstaatliche Repressionen wurden zurückgefahren, die Behörden legten das Vereinsrecht großzügiger aus. Alte 1848er schnupperten Morgenluft. Die Feiern zu Schillers 100. Geburtstag markierten in Leipzig und anderswo 1859 den Startschuss zur Wiederbelebung der deutschen Nationalbewegung. 1861 mobilisierte das deutsche Turnerfest die Massen, zwei Jahre später die Fünfzig-Jahr-Feier der Völkerschlacht bei Leipzig. Vereine und Verbände schossen wie Pilze aus dem Boden. Zunächst wurde diese wiederbelebte Vereinslandschaft von liberalen Kräften dominiert. Diese waren auch der Motor hinter der Gründung des Gewerblichen Bildungsvereins in Leipzig. Die Liberalen nahmen durchaus die wirtschaftlichen Umbrüche, das Schrumpfen der Landwirtschaft, den Untergang des traditionellen Handwerks und die damit
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einhergehende Verelendung beträchtlicher Teile der Bevölkerung wahr. Mehrheitlich sahen sie darin aber nur vorübergehende Begleiterscheinungen eines Vordringens des industriellen Kapitalismus. Sie waren überzeugt, dass möglichst weitgehende Gewerbefreiheit, gekoppelt mit einer Bildungsoffensive, auf Dauer materielle und geistige Unabhängigkeit für alle bringen könne. August Bebel glaubte das anfangs auch. In seiner Rede beim Stiftungsfest des Gewerblichen Bildungsvereins 1863, die Julie so gut gefiel, dass sie sich für den schmächtigen Gesellen zu interessieren begann, vertrat er noch lauter liberale Ideen: Gewerbe- und Niederlassungsfreiheit, Gründung von Genossenschaften, eine Liberalisierung des Vereinsrechts. Arbeiter und Handwerker sollten sich fortbilden und wirtschaftlich selbständig machen. Wo sie dieses Ziel aus eigener Kraft nicht erreichten, könnten sie sich zu Genossenschaften zusammenschließen. So würden sie schließlich zu Bürgern werden, Teil einer «klassenlosen Bürgergesellschaft» mittelständischer Existenzen. Im Rahmen eines zukünftigen, liberal und demokratisch strukturierten deutschen Nationalstaats würde man ihnen dann auch politische Rechte nicht mehr verweigern. Unter Leipziger Handwerkern gab es allerdings auch Stimmen, die weniger liberale Ansichten vertraten. Nicht alle setzten auf Selbsthilfe. Nicht alle akzeptierten das Credo des Liberalismus, wirtschaftliche Selbständigkeit und Unabhängigkeit sei die Voraussetzung für politisches Mitspracherecht. Wie sollten kleine Handwerksgesellen und Arbeiter sich denn aus eigener Kraft selbständig machen können, wenn selbst viele etablierte Handwerksmeister angesichts der übermächtigen Konkurrenz industrieller Fabriken ihre Unabhängigkeit verloren? Dafür brauchte es mehr als nur Fortbildungskurse. Gegen die industrielle Konkurrenz benötigten selbst Genossenschaften mächtige Unterstützung – Unterstützung, die nach Lage der Dinge nur vom Staat kommen konnte. Den Staat vermochten Arbeiter und Handwerker freilich allein dann für sich zu gewinnen, wenn sie das Wahlrecht besaßen. Politische Rechte mussten demnach Voraussetzung für wirtschaftliche Verbesserungen sein, nicht umgekehrt. Dieses «staatssozialistische» Kontrastprogramm zu den liberalen Ideen, die August Bebel im Februar 1863 auf dem Stiftungsfest des Gewerblichen Bildungsvereins vertrat, wurde im gleichen Monat auf Bitten einiger Leipziger Handwerkeraktivisten von Ferdinand Lassalle formu-
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liert. Lassalle war eine schillernde Figur. Notorischer Frauenheld, 1848erRevolutionär und zeitweise in engem Kontakt zu Karl Marx, gehörte er zu den bürgerlichen Intellektuellen, von denen die sozialistische Bewegung Impulse empfing und mitgeprägt wurde. In mehreren Gesprächen versuchte er Bismarck, der damals gerade preußischer Ministerpräsident geworden war, für eine Unterstützung von Arbeiterassoziationen zu gewinnen. Im Mai 1863 kam es in Leipzig zur Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV). Der ADAV vertrat ein «staatssozialistisches» Programm, das sich deutlich von liberalen Ideen distanzierte. Lassalle wurde zu seinem ersten Präsidenten gewählt. Dadurch herausgefordert, antworteten die Liberalen sofort mit der Gründung einer eigenen Organisation: dem Vereinstag deutscher Arbeitervereine (VDAV). August Bebel war im Juni 1863 bei der Gründungsversammlung in Frankfurt am Main als Delegierter dabei. Beim nächsten Kongress des VDAV, der im Herbst 1864 in Leipzig stattfand, wurde er sogar zum zweiten Vorsitzenden gewählt. Lassalle war mittlerweile bei einem Duell, provoziert durch eine seiner Frauengeschichten, tödlich verwundet worden. An der Konfrontation von nun zwei Arbeiterverbänden änderte das zunächst aber nichts: Den auf Staatshilfe setzenden «Lassalleanern» stand der auf Selbsthilfe bauende VDAV gegenüber. Auf Selbsthilfe setzten August Bebel und Julie, die sich 1864 verlobten, zu diesem Zeitpunkt auch im Privatleben. Um eine Familie ernähren zu können, nutzte August die zwei Jahre zuvor eingeführte Gewerbefreiheit zur Eröffnung seines eigenen Drechslerbetriebs in Leipzig. Eine kleine Erbschaft verschaffte ihm das nötige Startkapital. Die Schwierigkeit, dass er als Zugereister ohne Leipziger Bürgerrecht eigentlich keinen eigenen Betrieb eröffnen durfte, umging August erfinderisch: Er meldete das Unternehmen unter dem Namen eines einheimischen Bekannten an. Der Sprung in die Selbständigkeit war freilich alles andere als leicht. Wie er sich später erinnerte, lernte er «das Elend des Kleinmeisters gründlich kennen». Mehr, als eine kleine Werkstatt in einem umgebauten Pferdestall zu mieten, konnte August sich anfangs nicht leisten. Dort schlief er auch und fror «in den kalten Winternächten jämmerlich». Mit zunächst nur der Hilfe eines Lehrlings arbeitete er «wiederholt Tag und Nacht durch, daß heißt sechsunddreißig Stunden hintereinander, um die bestellte Arbeit liefern zu können».
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Vor allem aber machte er Erfahrungen, die geeignet waren, seine bisherigen Sympathien für die bürgerlichen Liberalen zu erschüttern. Denn die kapitalistischen Marktstrukturen, in denen er sich als Selbständiger nun behaupten musste, begünstigten einseitig die bürgerlichen Händler. Als Kleinunternehmer musste er den Lehrling und bald auch einen Gehilfen bar bezahlen. Auch für den Erwerb von Material und für den eigenen Unterhalt war Bargeld nötig. Die bürgerlichen Kaufleute, an die er seine Waren lieferte, nahmen diese aber entweder nur auf Kredit. Oder sie zahlten einen Barpreis, der die Produktionskosten kaum deckte. Oft erhielt Bebel auch Papiergeld aus den Sachsen benachbarten thüringischen Kleinstaaten, für dessen Umtausch er hohe Gebühren entrichten musste. Oder seine Kunden gaben ihm Aktien von Unternehmen in Zahlung, die er nicht oder wiederum nur mit Verlusten einlösen konnte. Gegenüber seinen bürgerlichen Kunden saß August klar am kürzeren Hebel: «Ich war über diese Zahlungsweise wütend, aber was sollte ich machen? Ich ballte die Faust in der Tasche und lieferte die nächste Woche wieder Ware und holte mir die gleiche Zahlung, denn ich brauchte um jeden Preis bares Geld.»16 Erst recht brachte es ihn unter diesen Umständen auf die Palme, wenn bürgerliche Liberale, die Herren ihrer Zeit waren, ihm zu geringes Engagement im Vereinstag deutscher Arbeitervereine vorwarfen. Es beleuchtet grell die gesellschaftliche Kluft zwischen liberalem Bürgertum und einfachen Handwerkern, wenn er auf einen solchen Vorwurf 1865 ungehalten an eigentlich Selbstverständliches erinnern musste: «Habe ich auch ein selbstständiges Geschäft, so bin ich doch durch meine Unbemitteltheit gezwungen durch Arbeit den täglichen Lebensunterhalt zu verdienen.»17 Vor dem Hintergrund dieser Erlebnisse las August Bebel zum ersten Mal Schriften von Karl Marx, die er zuvor als zu schwer und abstrakt beiseitegelegt hatte, «mit Genuß». Und er wurde empfänglicher für Argumente auch von anderer Seite, die auf die Verschärfung sozialer Ungleichheit im entstehenden Industriekapitalismus hinwiesen.18 Das machte ihn noch nicht zum Sozialisten, geschweige denn zum Marxisten. Aber es brachte ihn zum Grübeln darüber, ob das liberale Rezept der Selbsthilfe und die politische Partnerschaft mit dem bürgerlichen Liberalismus der Weisheit letzter Schluss waren. Entscheidend für den Bruch mit dem Liberalismus wurde 1865 das Erlebnis des Leipziger Buchdruckerstreiks. Der Buchdruck war eines der
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wichtigsten Gewerbe in der Stadt; einer von Julies Neffen machte dort eine Lehre. Die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und abhängig Beschäftigten in der Branche waren traditionell sehr eng. Umso unverständlicher erschien es den Buchdruckergesellen und -lehrlingen, dass die Betriebsinhaber ihnen trotz sehr gut gehender Geschäfte jegliche Lohnerhöhung verweigerten. Der um Vermittlung bemühte August musste ebenfalls frustrierende Erfahrungen machen. Verbittert urteilte er, es sei offensichtlich, dass die Gruppe der Besitzer «eine Verständigung einfach nicht wolle». Diese Erfahrungen wiederholten sich im Laufe des Jahres bei Streiks der Schneider, der Buchbinder, der städtischen Arbeiter und der Schuhmacher. Auch diese konnten, so Augusts ernüchternder Eindruck, «mit ihren sehr gerechten Forderungen nicht durchkommen». Sosehr die Arbeitgeber in der Theorie gemeinsame Interessen und das Ideal einer «klassenlosen Bürgergesellschaft» beschworen: Die Praxis sah anders aus. Auf Seiten der betroffenen Arbeitnehmer führte die Konfrontation dazu, dass sie sich zukünftig wesentlich mehr auf Organisation und Solidarität untereinander verlassen sollten als auf das Wohlwollen der Arbeitgeber. Die Buchdrucker gründeten eine Gewerkschaft, die Beschäftigten anderer Branchen taten das ebenfalls. Auch von außerhalb Leipzigs trafen Solidaritätsadressen und Geldspenden ein, um die Streikenden zu unterstützen. August Bebel stellte sich ebenso klar auf die Seite der Arbeitnehmer. Scharf kritisierte er dagegen die Haltung der Arbeitgeber und der Obrigkeit: Denn die Polizei ging «mit Maßregelungen gegen die feiernden Gehilfen vor, was ich überhaupt nicht billige».19 Das Verhalten prominenter Liberaler bei den Streiks von 1865 beschleunigte auch Bebels Distanzierung von der liberalen Fortschrittspartei. Im Juli des Jahres erklärte er in einem Flugblatt: «Leider ist es eine Tatsache, die auch bei dem hiesigen Buchdruckerstreik sich genugsam gezeigt hat, daß gerade von jener Seite, wo man mit dem Volke immerwährend geliebäugelt und sich als Arbeiterfreund geriert hat, die Forderungen der Arbeiter den entschiedensten Widerstand fanden, und es darf nicht Wunder nehmen, wenn man selbst in Arbeiterkreisen, die mit dem Lassalleanismus nicht im entferntesten etwas zu tun haben, über das Gebaren eines Teiles der Fortschrittspartei nichts weniger als schmeichelhafte Urteile hört.»20 Er selbst machte dabei keine Ausnahme. Seine Braut sah das offenbar nicht anders: Am 9. April 1866 heiratete sie ihren August.
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Die weiteren Ereignisse des Jahres 1866 vertieften den Abstand zum Liberalismus noch mehr. Der preußische Sieg über Österreich und seine Verbündeten, darunter auch Sachsen, im «Deutschen Krieg» erschien selbst dem gebürtigen Preußen August Bebel als «Katastrophe». Dass seitdem die meisten Liberalen auf eine nationale Einigung unter Bismarcks Führung setzten, wertete er als Verrat «am Volke und an Deutschland». Mit den wenigen bürgerlichen Demokraten, die aus seiner Sicht nicht «so ehr- und gewissenlos Freiheit und Vaterland im Stiche» gelassen hatten, arbeitete er noch in der 1867 gebildeten antipreußischen Sächsischen Volkspartei zusammen. Doch bald wurde klar, dass die Wählerschaft der Partei sich «fast ausschließlich auf die Arbeiterkreise» beschränkte.21 Insofern war es nur konsequent, dass schließlich 1869 aus der Volkspartei die Sozialdemokratische Arbeiterpartei wurde, der sich auch die von Bebel geführte Mehrheit des Vereinstags deutscher Arbeitervereine anschloss. Diese Vorgänge sind in der älteren Forschung vielfach, eine von Gustav Mayer schon 1912 geprägte Wortprägung aufgreifend, als «Trennung der proletarischen von der bürgerlichen Demokratie» bezeichnet worden. In letzter Zeit haben jedoch besonders Thomas Welskopp und Jürgen Schmidt mit guten Gründen Mayers unscharfe Begrifflichkeit beanstandet. Eher müsste man von einer Trennung von Liberalismus und Sozialismus oder (sozialer) Demokratie sprechen. Denn einerseits hatte der bürgerliche Liberalismus der Reichsgründungszeit mit Demokratie wenig zu tun. Nicht die Liberalen, sondern die Konservativen um Otto von Bismarck setzten 1866 / 71 das allgemeine gleiche Männerwahlrecht in Deutschen Reich durch. Das geschah nicht aus demokratischer Überzeugung. Bismarck baute vielmehr darauf, zumindest mittelfristig zu Recht, auf diese Weise antiliberale Parlamentsmehrheiten zu bekommen. Ebendeshalb konnten die Liberalen sich für ein demokratisches Wahlrecht lange kaum erwärmen. Andererseits verstand die sozialistische Bewegung sich in den 1860er Jahren, und in mancher Hinsicht noch lange darüber hinaus, nicht als proletarische. Dass manche ihrer prominentesten Repräsentanten wie Ferdinand Lassalle, Karl Marx oder auch Wilhelm Liebknecht, der neben August Bebel einflussreichste sozialdemokratische Politiker der Gründergeneration, Intellektuelle bürgerlicher Herkunft waren, ist dabei noch relativ unwichtig. Relevanter ist, dass die breite Masse der frü-
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hen Arbeiterbewegung aus gut ausgebildeten Handwerkern bestand, die sich nicht als Proletarier sahen. Schon gar nicht waren sie verelendete, «pauperisierte» Mitglieder der untersten Gesellschaftsschichten. So wichtig die Wahrnehmung von Elend und sozialen Abstiegsprozessen für die Entwicklung des Sozialismus auch war: Nicht Verelendung machte Sozialisten. Sonst hätte die sozialistische Bewegung schon eine Generation zuvor entstehen können, ausgehend von Leuten wie Julies Eltern oder Augusts Vater, die alle einen sozialen Abstieg erleben mussten. Julie und August selbst dagegen gelang auf Dauer ein sozialer Aufstieg: Beide waren Kinder besitzloser Proletarier. Bei ihrer Hochzeit 1866 waren sie beide Vollwaisen – nach dem frühen Tod von Julies Vater starb auch ihre Mutter 1865. Gemeinsam sollte es ihnen schließlich gelingen, Augusts Handwerksbetrieb aus bescheidenen und schwierigen Anfängen zu einem erfolgreichen Unternehmen zu machen. Auch Julies Brüder, deren Vater zeitlebens ungelernter Arbeiter geblieben war, machten beide eine Lehre. Der ältere, der sie 1863 zum Stiftungsfest des Gewerblichen Bildungsvereins mitgenommen hatte, leitete später ebenfalls ein eigenes Unternehmen. Ebenso wenig wie Elend war industrielle Entwicklung der entscheidende Anlass für den Weg zum Sozialismus. Sonst hätte in Großbritannien, wo die Industrialisierung zuerst einsetzte, eine sozialistische Partei früher und nicht später entstehen müssen als in Deutschland. Die Ausbreitung des industriellen Kapitalismus spielte zwar als Hintergrund für die sozialistische Parteibildung durchaus eine Rolle. Dabei handelte es sich aber um einen langfristigen Prozess, der die Abnabelung des Sozialismus vom Liberalismus in Deutschland während des relativ kurzen Zeitraums der 1860er Jahre nicht hinreichend erklären kann. Der Weg zum Sozialismus, den Leute wie Julie und August Bebel in diesem Zeitraum gingen, und ihre Entfremdung vom Liberalismus waren paradoxerweise auch und gerade eine Folge wirtschaftlicher und politischer Liberalisierung. Die 1860er und 1870er Jahre bildeten in mancher Hinsicht eine liberale Ära – nicht nur in Preußen, sondern in ganz Deutschland und besonders in Sachsen, wo die Wiege der deutschen Arbeiterbewegung stand. In diesen Jahrzehnten eröffneten Liberalisierungsprozesse manche neue Perspektiven, verschlossen andere und veränderten mit der wirtschaftlichen Verfassung auch die politische Landschaft nachhaltig.
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Am Anfang der 1860er Jahre stand die Einführung der Gewerbefreiheit in Sachsen. Sie entfesselte kapitalistische Marktkräfte und wirkte so als Initialzündung für eine rasante wirtschaftliche Entwicklung. Sie verschärfte auch den Gegensatz von Kapital und Arbeit, machte ihn vielfach erst wirklich fühlbar. Die Gewerbefreiheit zerschlug mit den Zünften die Reste ständischer Strukturen im Handwerk, aus dem sich wie August Bebel die meisten der Pioniere der Arbeiterbewegung rekrutierten. Den autoritären zünftischen Hierarchien weinten diese Handwerker kaum eine Träne nach. An die Stelle traditioneller zünftischer Ehrvorstellungen setzten sie das Selbstbild des «Arbeiters», des «gesellschaftlich nützlichen Produzenten, der nicht die Arbeit anderer ausbeutete».22 Und als gesellschaftliche, gesellige Institution wurde die Zunft abgelöst durch den Verein. Das wurde möglich durch den zweiten Aspekt der liberalen Ära: die Liberalisierung des Vereinswesens. Mit dem Ende der auf 1848 /49 folgenden Repression Anfang der 1860er Jahre begann eine bunte Vereinslandschaft zu erblühen. Die aus dem starren Korsett der Zünfte freigesetzten, aber auch nach neuen Orientierungen suchenden Handwerker entdeckten den Verein als ihre neue Heimat und Organisationsform. Ständische Schranken einreißend und zunächst auch Klassengegensätze überwindend, führte er anfangs Bürger und Handwerker, wohlhabende Kaufleute, Kleinmeister und Gesellen zu gemeinsamem Trinken, Feiern und Politisieren zusammen. Doch je mehr dabei verschiedene Interessen deutlich wurden, trennten sich Bürger- und «Arbeiter»vereine. Die sich formierende sozialistische Bewegung vereinnahmte die ursprünglich bürgerliche Vereinsidee für ihre Zwecke. Statt der Arbeitsstelle, die sich angesichts der noch kleinbetrieblichen Struktur der meisten Gewerbebranchen dafür nicht eignete, wurde der Verein so zum Kristallisationskern der sozialistischen Bewegung in Deutschland – und angesichts der Einführung des allgemeinen Männerwahlrechts auch zum Vehikel ihrer im internationalen Vergleich besonders frühen Politisierung.
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Die Abwendung vom Liberalismus und das politische Engagement in der sozialistischen Bewegung hatten für den jungen Drechslermeister August Bebel bald unangenehme geschäftliche Konsequenzen. Schon lange vor dem Sozialistengesetz mussten abhängig Beschäftigte mit Entlassung durch ihre Arbeitgeber rechnen, wenn sie sich zum Sozialismus bekannten. Selbständige wie Bebel, die das taten, waren nur wenig besser dran. «Meine öffentliche Tätigkeit», erinnerte er sich in seinen Memoiren, «brachte allmählich das Unternehmertum gegen mich auf. Man verweigerte, mir Aufträge zu geben. Das war der Boykott. Wäre es mir nicht gelungen, außerhalb Leipzigs in anderen Städten einen kleinen Kundenkreis auf meine Artikel (Tür- und Fenstergriffe aus Büffelhorn) zu erwerben, ich wäre Ende der sechziger Jahre zum Bankrott gezwungen gewesen.»23 Andererseits profitierte Bebel aber auch von seinem Engagement im sozialistischen Vereinswesen. Denn seine Vereinsgenossen zeigten sich überaus hilfreich dabei, ihm neue Abnehmer zu vermitteln. Der aus bürgerlichen Kreisen kommende Wilhelm Liebknecht etwa rühmte einem Schweizer Bekannten gegenüber in höchsten Tönen Bebels «Türgriffe und Fenstergriffe nebst den dazu gehörigen Beschlägen, Rosetten, Schlüsselschilder, Nachtriegel von Büffelhorn, äußerst geschmackvoll, etwas teurer als Messing. In ganz Süddeutschland und der Schweiz werden sie nicht gemacht […] Ich wünsche umso mehr, daß Du etwas in der Sache tust, weil Bebel durch seine Parteinahme für uns fast seine ganze hiesige Kundschaft verloren hat.» Tatsächlich erschlossen sich August dadurch neue Kundenkreise. Friedrich Engels spannte er nicht nur ein, um Kunden zu werben, sondern auch, Rohmaterial für seinen Betrieb in Londoner Geschäften zu besorgen, «die mit Horn, Elfenbein, Walrosszähnen, fremden Hölzern etc. Handel treiben».24 Vielleicht noch wichtiger als die sich materiell auszahlende Solidarität waren identitätsstiftende Gemeinschaft und Geselligkeit im Verein. Im Gegensatz zu Julie Bebel, die zu Hause mit Familien von Parteifreunden gern bis in die frühen Morgenstunden feierte, konnte ihr Mann «das gar nicht vertragen»: «Wäre August dabeigewesen, wären wir längst nach Hause gegangen.» In seinen Lebenserinnerungen gestand der so
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Geschmähte selbst offen ein, «Einladungen zu solemnen Mittag- oder Abendessen bei Familien der Bekannten» stets «soviel wie möglich aus dem Wege» gegangen zu sein. Auch seine «Leistung im Trinken» sei «allezeit eine minimale» gewesen. In der Vereinskneipe hielt er dagegen mit trinkfesten Parteigenossen lange durch: «Mehr als einmal gingen wir, doch stets aufrechten Hauptes, nach Hause, als schon die Sonne leuchtend am Himmel stand.»25 Wie vielen wurde August, der durchaus ein Familienmensch war, die nahezu reine Männerwelt der sozialistischen Vereine eine zweite Heimat. Hier fühlte er sich unter seinesgleichen, unter Gleichgesinnten. Die gefühlte Feindseligkeit der bürgerlichen Umgebung stärkte dabei das Zusammengehörigkeitsgefühl noch. Hier im Verein lagen die Wurzeln einer Wahrnehmung der Außenwelt als «einer reaktionären Masse». Diese vertrat August Bebel noch, als die Sozialdemokratie unter seiner Führung am Vorabend des Ersten Weltkriegs selbst zur Massenpartei geworden war, mit mehr Mitgliedern als alle anderen Parteien des Kaiserreichs zusammen, von denen zumindest die linken Liberalen sich tatsächlich durchaus um ein Reformbündnis mit der SPD bemühten.26 Auch zur Zeit der Reichsgründung stand das Bürgertum keineswegs so geschlossen feindselig der noch jungen sozialistischen Bewegung gegenüber, wie diese es sich in ihren Vereinen ausmalte. Sonst hätte Bebels Betrieb, der Luxusgüter für bürgerliche Wohnungen produzierte, die kein Arbeiterhaushalt sich zu leisten vermochte, kaum überleben können. Tatsächlich konnte er noch 1868 bereits einen zweiten Gesellen einstellen. Mehr als von Boykotten hing die Entwicklung der Drechslerwerkstatt ohnehin von der konjunkturellen Entwicklung ab. Während im Krieg von 1870 / 71 der Umsatz einbrach, expandierte das Geschäft in dem darauffolgenden Boom der Gründerjahre beträchtlich. Als August 1872 eine zweieinhalbjährige Gefängnisstrafe antreten musste und den Betrieb deswegen seiner Frau überschrieb, arbeiteten dort bereits ein Werkführer, sechs Gesellen und zwei Lehrlinge. Die Übergabe der Betriebsleitung an Julie war keineswegs ein nur formaler Akt. Tatsächlich hatte sie die Werkstatt schon seit den späten 1860er Jahren mitgeführt, weil August sich wegen seines politischen Engagements und Geschäftsreisen immer häufiger außerhalb von Leipzig aufhielt. Wenn ihr Mann wieder einmal in Haft saß, was zwischen 1869 und 1887 14 Mal der Fall sein sollte, regelte sie die kaufmännische
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Seite des Unternehmens. 1872 schrieb August voll Anerkennung einem Bekannten: «Das jetzt von meiner Frau geleitete Geschäft läßt nichts zu wünschen übrig […] für mich eine große Beruhigung.» Anfang der 1880er Jahre stellte ein interner Vermerk der Leipziger Polizei fest, Julie Bebel sei nicht nur «eine resolute und kluge Frau». Sie besitze auch «ohne Zweifel die nötige Geschäftskenntnis» zur Führung der Drechslerwerkstatt: Schließlich habe sie «stets» sich «um das Geschäft gekümmert und dasselbe Jahre lang, während ihr Mann Strafe verbüßte, allein geführt».27 Gleichzeitig übernahm Julie in klassischer Rollenverteilung Haushalt und Kindererziehung. Wenn August in seinen Lebenserinnerungen schrieb, dass seine politische Karriere «in erster Linie nur durch ihre unermüdliche Pflege und Hilfsbereitschaft möglich» gewesen sei, so war das mehr als ein Klischee. Julie wusch und bügelte seine Wäsche, kochte und versorgte ihn auch noch im Gefängnis mit Essbarem. Kam August einmal nach Hause, wo er sich in der Regel am Schreibtisch aufhielt, um Briefe, Pamphlete und Bücher zu verfassen, war sie es, die vorsorglich den Ofen anfeuerte, damit er nicht fror. Die 1869 geborene Tochter zog sie weitgehend allein groß: August war zwar ein liebevoller, aber meist abwesender Vater. Wahrscheinlich übte Julie ab den späten 1860er Jahren auch bereits die Rolle einer unbezahlten Parteisekretärin aus.28 Denn seit 1867 war August nicht nur wegen Parteikongressen, Agitationstouren, Geschäftsreisen oder Verbüßung von Haftstrafen immer wieder wochen- und monatelang von Leipzig abwesend. In diesem Jahr wurde er auch erstmals in den Reichstag des Norddeutschen Bundes gewählt. Mit 27 Jahren war er der jüngste Abgeordnete. Nahezu die ganze Zeit des Kaiserreichs hindurch, mit einer nur kurzen Unterbrechung von 1881 bis 1883, blieb er Mitglied des Reichstages. Erst nach 44 Jahren sollte er, mittlerweile dienstältester Mandatsinhaber, 1913 durch seinen Tod aus dem Parlament ausscheiden. In den Wahlkampf, den ersten unter den Bedingungen des allgemeinen gleichen Männerwahlrechts, stürzten die Sozialisten sich 1867 mit Feuereifer. Die Notwendigkeit, sich vor einer Massenwählerschaft zu profilieren, polarisierte die politischen Positionen weiter. Der Abstand zwischen den sozialistischen Gruppen einerseits, ihren früheren bürgerlichen und liberalen Partnern andererseits vergrößerte sich noch einmal. Parallel dazu intensivierte sich der Zusammenhalt in den sozialistischen
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Vereinen. Allerdings verstärkte sich auch deren Isolation – vor allem subjektiv. Die Vereine wurden zunehmend zu Echokammern, deren Insassen die Realität nur noch verzerrt wahrzunehmen vermochten. Das galt nicht zuletzt für August Bebel. Bei den Wahlen für die erste Legislaturperiode des Reichstags hatten insgesamt sechs Kandidaten der Sächsischen Volkspartei und der verschiedenen Gruppen von Lassalleanern ein Mandat erobern können. Bebel selbst gewann den Wahlkreis Glauchau-Meerane. Euphorisiert durch diesen Sieg, glaubte er schon Revolutionsluft zu schnuppern: Eine «gewaltsame Umwälzung» stehe bevor, «das alte Staatsgebäude Europa» werde «über kurz oder lang mit einem gewaltigen Ruck zusammenbrechen».29 Das war, auch wenn Bebel damit unter deutschen Sozialisten alles andere als allein stand, eine völlig utopische Vorstellung. Und objektiv betrachtet, hatten die sozialistischen Gruppen bei den Wahlen 1867 alles andere als beeindruckend abgeschnitten: Sie konnten nur zwei Prozent der Mandate im Reichstag gewinnen. Als 1871 der Reichstag erneut gewählt wurden, diesmal unter Einschluss auch der süddeutschen Staaten, vermochten sie sich nicht wesentlich zu verbessern. Zusammengenommen gewannen sie zwar nun gut zweieinhalb Prozent der Stimmen, blieben damit aber weiterhin Splitterparteien. Zudem gelang von ihren Kandidaten 1871 nur noch Bebel der Sprung ins Parlament. Als soziale, identitätsstiftende Institutionen waren die sozialistischen Vereine offensichtlich wesentlich erfolgreicher denn als politische Kampforganisationen. Dafür gab es mehrere Gründe. Der bürgerliche «Terrorismus» gegen sozialistische Aktivisten und potentielle Wähler, den Bebel und seine Mitstreiter besonders laut anklagten, war nur einer davon und nicht der wichtigste. Entlassungen von Arbeitnehmern und Boykotte von kleinen Handwerksmeistern, die sich zum Sozialismus bekannten, oder die Drohung damit vermochten ja etwa in Bebels Wahlkreis seine Wahl nicht zu verhindern. Zudem setzten auch die Sozialisten ihrerseits mit Boykottdrohungen Gastwirte und kleine Ladenbesitzer unter Druck. Das Hauptproblem der frühen Sozialdemokratie war vielmehr, dass sie Anhänger weitgehend nur aus kleingewerblichen Handwerkermilieus rekrutieren konnte. Das setzte ihrer Attraktivität in dem neu gegründeten deutschen Nationalstaat, der einen rapiden Industrialisierungsprozess durchlief, während zwei Drittel seiner Bewohner 1871 noch direkt oder
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indirekt von der Landwirtschaft lebten, enge Grenzen. Nennenswerte Wahlerfolge konnten die Sozialisten bei den ersten Reichstagswahlen lediglich in städtisch geprägten Regionen mit einer langen Gewerbetradition verzeichnen. Das galt neben dem Königreich Sachsen noch für die Hansestädte, Berlin und Teile des Rheinlands. Dort gewann die junge sozialistische Bewegung vor allem Gesellen und kleine Handwerksmeister in traditionellen Gewerben, die von der industriellen Konkurrenz bedroht wurden. Zur eigentlichen Industriearbeiterschaft der Großbetriebe und Fabriken fand sie dagegen zunächst wenig Zugang. Auch Handwerke, die wie Bäcker- und Metzgerbetriebe im Prozess der Industrialisierung und Verstädterung florierten, blieben ihr weitgehend verschlossen. Nahezu keine Chance hatte sie unter landwirtschaftlich Beschäftigten, im Bürgertum und unter Katholiken. In ländlichen Gebieten konnte sie so auf Dauer, in katholischen Regionen sehr lange Zeit kaum Anhänger gewinnen. Während der Reichsgründungszeit kam noch ein selbst verursachtes politisches Handicap hinzu. Besonders die Sächsische Volkspartei um August Bebel und Wilhelm Liebknecht, die 1869 in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei aufging, lehnte die nationale Einigung unter Preußens Führung vehement ab. Sie hielt stattdessen an einem «großdeutschen» Nationalstaat einschließlich Österreichs fest, obwohl diese Alternative seit 1866 unrealistisch geworden war. Das illustrierte nicht nur einmal mehr die Befangenheit Bebels und seiner Parteifreunde in Illusionen. Angesichts der Welle nationaler Begeisterung, die über Deutschland hinwegbrauste, verurteilte es sie auch zu politischer Randständigkeit. Auch deshalb konnte die junge Sozialdemokratie nur dort, wo wie in Sachsen einstweilen partikularistische Ressentiments gepflegt wurden, überhaupt 1871 noch ein Mandat erobern. Für Bebel, der es gewann, hatte freilich seine öffentliche Opposition gegen die Reichsgründung und ebenso lautstarke Sympathiebekundung für den Aufstand der Pariser Commune 1870 / 71 noch ein Nachspiel. Wegen Hochverrats und Majestätsbeleidigung wurde er zu gut zweieinhalb Jahren Festungshaft verurteilt. Während er diese verbüßte, hellten sich die Perspektiven für die sozialistische Bewegung auf. Der durch die französische Kriegsentschädigung angeheizte Wirtschaftsboom der «Gründerzeit» provozierte zahlreiche Streiks von Beschäftigten im Ge-
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werbe, die ihr Stück vom Kuchen abhaben wollten. Wie schon bei der Streikbewegung in Leipzig 1865 war ein gewerkschaftlicher und politischer Organisationsschub der Arbeitnehmer die Folge – nun aber in wesentlich größerem Ausmaß und in ganz Deutschland. Das bescherte den Sozialisten bei den Reichstagswahlen 1874 und 1877 Aufwind. In Thüringen, im Braunschweigischen, in der preußischen Provinz Sachsen, in Teilen Frankens und Hessens konnten sie jetzt Fuß fassen. Im Königreich Sachsen und in Berlin gelang es ihnen, ihren Anteil an den abgegebenen Stimmen zu verdoppeln. 1877 votierte fast eine halbe Million Wähler sozialistisch – viermal mehr als bei den Reichstagswahlen im Jahr der Nationalstaatsgründung. Dennoch war die Bewegung Bebels und seiner Genossen Mitte der 1870er Jahre immer noch weit von einem politischen Durchbruch entfernt. 1874 gaben knapp sieben, 1877 gut neun Prozent der Wähler sozialistische Stimmzettel ab. Damit war die Anhängerschaft der sozialistischen Parteirichtung nach wie vor deutlich geringer als die der Nationalliberalen, des Zentrums, der Konservativen oder der vereinigten linksliberalen Gruppen. Es gelang auch nicht, den Einzugsbereich der Mitglieder- und Wählerbasis über die ursprünglichen Trägerschichten hinaus signifikant zu erweitern. 1874 erzielte Stimmengewinne unter den Landarbeitern Schleswig-Holsteins gingen drei Jahre später wieder verloren. Der Sozialismus blieb vor allem eine Bewegung von Handwerksgesellen und kleinen Meistern in Gewerben, die von industrieller Konkurrenz bedroht wurden. Entsprechend gering war auch die öffentliche Aufmerksamkeit. In den Echokammern der Bewegung galt es zwar als ausgemacht, dass die Eliten des Reichs vor nichts so sehr zitterten wie der Sozialdemokratie. Eine sozialdemokratischer Traditionsbildung verpflichtete Geschichtsschreibung hat diese Selbstwahrnehmung ihrer Heroen lange fortgeschrieben. Doch obwohl die «rote Gefahr» in der bürgerlich dominierten Öffentlichkeit des frühen Kaiserreichs durchaus diskutiert wurde, war die sozialistische Bewegung tatsächlich weit entfernt davon, die Schlagzeilen zu dominieren. Die öffentliche Aufmerksamkeit kreiste während der 1870er Jahre meist um andere Themen. Das Interesse von Politik und Gesellschaft konzentrierte sich zunächst auf den «Kulturkampf», dann auf Zoll- und Handelspolitik. Sogar Bismarck, Bebels erklärter Lieblingsfeind, interessierte sich
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lange Zeit nur punktuell für möglicherweise vom Sozialismus ausgehende Gefahren. Bebels und Liebknechts Opposition gegenüber der Reichsgründung und ihre Parteinahme für die Pariser Commune hatten den Kanzler 1871 zwar kurzfristig dazu bewogen, den «socialistischen Bedrohungen des Lebens und des Eigenthums, wie sie in Paris zur Tat geworden sind», eine gewisse Aufmerksamkeit zu schenken.30 Der sozialdemokratische Stimmenzuwachs bei den Wahlen von 1874 und die Vereinigung der verschiedenen sozialistischen Gruppen im folgenden Jahr veranlassten ihn dann, rechtliche Maßnahmen zu befürworten, die bereits einen Vorgeschmack auf das Sozialistengesetz gaben. Dazwischen hatte er freilich kaum einen Gedanken an Bebel und Genossen verschwendet. Als der Reichstag unter Führung der Nationalliberalen eine vor allem gegen die Sozialisten gerichtete Verschärfung des Strafrechts ablehnte, akzeptierte Bismarck das widerwillig grummelnd. Der Zusammenschluss der Lassalleaner und der Gruppe um Bebel in Gotha 1875 beendete die mehr als ein Jahrzehnt dauernde Spaltung der sozialistischen Bewegung. Auch sonst markierte er eine bedeutende Zäsur. Die Bedeutung der Parteifusion für die innere Entwicklung der Bewegung und ihre Wahrnehmung von außen klafften allerdings weit auseinander. Das sollte sowohl kurz- wie langfristig weitreichende Konsequenzen haben. Für die sozialistische Bewegung selbst bedeutete der Einigungsparteitag von Gotha potentiell einen großen Schritt hin zu realistischer Politik. Die Lassalleaner hatten die kleindeutsche Reichseinigung unter Preußen von jeher akzeptiert. Die Gruppe um Bebel tat das, sich ins Unvermeidliche fügend, nun ebenfalls. Angesichts des Ausbleibens der erwarteten Revolution und der insgesamt ernüchternden Wahlergebnisse erschien ein rascher Umschwung zudem mittlerweile auch in der deutschen Innenpolitik unwahrscheinlich. In seinen konkreten Passagen atmete das Gothaer Programm deshalb den Willen zum Bohren dicker parlamentarischer Bretter. Es war eine Auflistung konkreter Reformvorhaben, die entweder in der liberalen Ära der 1870er Jahre vom Reichstag schon angestoßen worden waren, wie die Trennung von Staat und Kirche, oder auf die Umwandlung des Kaiserreichs in einen demokratischen «Volksstaat» hinausliefen, wie Milizarmee, Geschworenengerichte und die Einführung des Reichstagswahlrechts auch in Einzelstaaten und Gemeinden.
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Zwar enthielt das Programm in seiner allgemeinen Vorrede einige bei Karl Marx entlehnte vage Formulierungen über den Kapitalismus als «Ursache des Elends», den «internationalen Charakter der Arbeiterbewegung» und eine zukünftige «sozialistische Gesellschaft». Diese dienten allerdings hauptsächlich dazu, von den nach wie vor bestehenden ideologischen Gegensätzen zwischen Lassalleanern, die primär auf den Staat bauten, und der auf freiwillige «Assoziationen» vertrauenden Gruppe um Bebel abzulenken. Bezeichnenderweise übte Marx aus London an dem Programm massive Kritik. Insgesamt war das Gothaer Programm weniger ein revolutionäres marxistisches Manifest als eine Mischung aus zwei sozialdemokratischen Reformstrategien, von denen die eine mehr auf Wandel durch den Staat, die andere mehr auf dessen demokratische Überformung durch Vereine und Genossenschaften setzte. Die Wahrnehmung des Programms außerhalb der sozialistischen Bewegung war allerdings vielfach eine andere – zumal Marx schließlich beschloss, sich doch nicht öffentlich davon zu distanzieren. Vor allem für Konservative wie Bismarck schmeckte schon die Forderung eines demokratischen «Volksstaats» nach Revolution. Erst recht bestätigte der Passus über den «internationalen Charakter der Arbeiterbewegung» ihn in seiner vorgefassten Meinung, dass die neue Sozialistische Arbeiterpartei aus «vaterlandslosen Gesellen» bestehe, die lediglich auf Weisungen der durch Marx geleiteten Internationalen Arbeiterassoziation in London warteten, um die bestehende Staats- und Gesellschaftsordnung über den Haufen zu werfen. Es brauchte nur noch einen Anlass, um diese Vorstellung endgültig plausibel zu machen und diese einem größeren Publikum vermitteln zu können. Diesen Anlass lieferten 1878 die beiden Attentate auf Kaiser Wilhelm. Bismarck nutzte diese dabei keineswegs, um eine Gefahr an die Wand zu malen, an die er selbst nicht glaubte. Wie sehr er tatsächlich eine Revolution fürchtete, zeigt seine wiederholte besorgte Anfrage an den preußischen Kriegsminister, ob beim Wiederzusammentritt des Reichstags zur Beschlussfassung über das Sozialistengesetz «nicht eine Verstärkung der Garnison von Berlin notwendig sein wird. Die Wahlen haben gezeigt, daß sich über 50 000 Sozialdemokraten in einem Alter von über 25 Jahren in Berlin befinden und gewiß über 80 000, wenn man das bei Emeuten [Aufständen] besonders tätige Element von unter 25 Jah-
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ren, welches die Wahllisten nicht enthalten, in Ansatz bringt […] Aber auch wenn solche Voraussetzungen nicht zutreffen, fragt es sich, ob der Bestand der Garnison stark genug ist, um gegen eine sehr gut organisierte feindliche Masse von 50 000 Sozialdemokraten alle notwendigen Punkte der Stadt zu besetzen und zu halten.»31 Solche Befürchtungen waren unbegründet. Der deutsche Sozialismus war 1878 vielmehr dabei, sich von den revolutionären Erwartungen seiner Flegeljahre zu befreien und dem Parlamentarismus zu verschreiben. Das Attentat vom 2. Juni 1878 und die Reaktionen darauf unterbrachen diese Entwicklung der Sozialdemokratie – mit gravierenden Auswirkungen für die weitere deutsche Geschichte, im Kaiserreich und darüber hinaus.
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Mitte September 1878 begann im Reichstag die Debatte um das «Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie». Bereits zwei Tage später wurde es mit den Stimmen von Konservativen und Nationalliberalen angenommen. Das Gesetz stempelte die Sozialisten zu Feinden des Deutschen Reiches. Es ermöglichte den Polizeibehörden der deutschen Staaten, alle Organisationen, Versammlungen und Publikationen zu verbieten, «welche durch sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische Bestrebungen den Umsturz der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung bezwecken».32 Bei der Ausführung des Sozialistengesetzes hatten die Behörden beträchtlichen Spielraum. Dieser wurde allerdings nur in Baden so ausgenutzt, dass sozialistische Vereine zumindest teilweise unbehelligt weiterarbeiten konnten. In allen anderen größeren deutschen Staaten war die Verfolgungspraxis denkbar harsch. Besonders im Königreich Sachsen und in Preußen, wo die Sozialistische Arbeiterpartei ihre Hochburgen hatte, nutzte die Polizei alle Stellschrauben, die das Gesetz bot. Sie verbot nicht nur rigoros alle sozialistischen Versammlungen und Vereine. Deren Funktionäre, einfache Parteimitglieder und sogar Gastwirte oder Vermieter, die ihre Räume für deren Treffen hergegeben hatten, wurden zu Gefängnis- und Geldstrafen verurteilt. Sozialistische Druckschriften aller Art wurden verboten und beschlagnahmt. Verlage, Buchläden und
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Büchereien, die sie produzierten oder ausstellten, konnten geschlossen werden. Ihre Inhaber erhielten Geldstrafen, im Wiederholungsfall Berufsverbot. In besonders «gefährdeten» Bezirken wie Berlin, Hamburg und einigen sächsischen Städten wurde mit Zustimmung des Bundesrats zeitweise der «kleine Belagerungszustand» ausgerufen: Dort war die Polizei dann befugt, wie im Krieg jede Art von Ansammlungen in der Öffentlichkeit zu untersagen und Personen, die sie als Agitatoren identifizierte, auszuweisen. Bismarck ging selbst das noch nicht weit genug. So drängte er etwa darauf, dass bei Beamten «Beteiligung an sozialistischer Politik die Entlassung ohne Pension nach sich zieht». Verurteilten Sozialisten sollten zudem Wahlrecht und Wählbarkeit entzogen werden.33 Das ließ sich aber nicht durchsetzen: Als Individuen konnten Sozialdemokraten weiterhin für den Reichstag kandidieren. Auch für die zunächst vorgesehene unbefristete Geltungsdauer des Sozialistengesetzes waren die Nationalliberalen nicht zu haben. So galt das Gesetz schließlich für zweieinhalb Jahre, wurde aber bis 1890 wiederholt verlängert. Für die Verlängerungen stimmten dann teilweise auch Zentrum und Linksliberale. Die Reaktion der Verfolgten auf die Verfolgung malte August Bebel schon in seiner Reichstagsrede am 16. September 1878 mit prophetischen Worten aus: «Wissen Sie, was Sie mit dem Gesetz machen werden? Sie treiben die Sozialdemokraten, ähnlich wie die ersten Christen, durch die Verfolgung, die Sie ihr zu Theil werden lassen, zum äußersten Eifer, ja Fanatismus, und zu einer förmlichen religiösen Schwärmerei. Die Arbeiter werden, dessen seien Sie sich sicher, mit der äußersten Zähigkeit für ihre Ueberzeugungen eintreten, sie werden in Werkstätten, in Fabriken, in der Familie und im Bierhaus, auf der Eisenbahn, sonntags auf Spaziergängen und an vielen anderen Orten, wo sie niemand genau zu kontrolliren imstande ist, zusammenkommen.»34 Das malte die Zukunft der Bewegung zwar für die ersten Jahre der Geltungsdauer des Sozialistengesetzes in etwas allzu rosigen Farben, war aber auf lange Sicht durchaus zutreffend. Anfänglich nahm die Zahl von sozialistischen Parteimitgliedern stark ab. Die Zahl der Wähler ging wie schon 1878 auch bei den Reichstagswahlen von 1881 noch einmal zurück, August Bebel verlor deswegen vorübergehend sein Mandat. Mehrere Parteivereine gingen aus Mangel an Aktiven ganz ein, die ebenfalls verfolgten Gewerkschaften lösten sich
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auf oder wandelten sich in unpolitische Unterstützungsvereine um. Auch einige sozialistische Reichstagsabgeordnete und prominente Funktionäre hielten dem Druck nicht stand: Sie stellten ihre politische Aktivität ein oder emigrierten, meist in die USA. Schon 1879 aber begann die Sozialistische Arbeiterpartei sich im Untergrund neu zu formieren. Zuerst in ihren traditionellen Zentren Leipzig, Dresden, Berlin, Hamburg und Frankfurt am Main entstanden geheime sogenannte Innere Organisationen. Geleitet durch kleine konspirative Zirkel, blieben diese noch lange über das Ende des Sozialistengesetzes aktiv, zum Teil bis zum Ersten Weltkrieg. Teilweise initiiert durch die Inneren Organisationen, teilweise parallel zu ihnen entstanden Tarnvereine. In Leipzig war der erste davon ein 1879 gegründeter Fortbildungsverein für Arbeiter. Ein Jahr später gab es dort nach einem Bericht der politischen Polizei bereits «40 solcher Klubs mit mehr als 1600 Mitgliedern».35 Sozialisten trafen sich in Theater- und Gesangsvereinen, als Kegel-, Sport- und Pfeifenclubs wieder. Als die Verfolgungspraxis um die Mitte der 1880er Jahre vorübergehend milder ausfiel, gründeten sie Volks- und Arbeitervereine oder Vereine zur Erzielung volkstümlicher Wahlen. Die Gewerkschaften reorganisierten sich als «Fachvereine» und bildeten erneut Unterstützungskassen. Mitte der 1880er Jahre nahmen auch Streiks wieder zu. Obwohl die Verfolgung durch die Behörden deshalb seit 1886 wieder verschärft wurde, hielt das Mitgliederwachstum der illegalen Partei- und Gewerkschaftsorganisationen danach weiter an. Selbst Parteitage konnten seit 1880 im Ausland abgehalten werden. Vor allem in der Schweiz und in Großbritannien wurden auch Flugblätter und Zeitungen in großer Stückzahl gedruckt und nach Deutschland eingeschleust. Das erst in Zürich, später in London erscheinende Blatt Der Sozialdemokrat kursierte schon seit Ende 1879 in mehreren Tausend Exemplaren. Für die insgesamt etwa 1500 inhaftierten und 900 unter dem «kleinen Belagerungszustand» aus ihrem Wohnort ausgewiesenen Genossen wurde solidarisch Geld gesammelt. August Bebel, der bei Verabschiedung des Sozialistengesetzes von dem mutlos gewordenen bisherigen Kassierer die Funktion des «Finanzministers» der Partei übernommen hatte, verteilte die Mittel.36 Für Familie Bebel war die Zeit des Sozialistengesetzes hart. August gab in seinen Lebenserinnerungen später zwar zahlreiche Anekdoten darüber zum Besten, wie er die ihn überwachenden Polizisten an der Nase herum-
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geführt hatte. Er gestand dort freilich auch, die Jahre zwischen 1878 und 1881 seien «die unangenehmsten, weil sorgenvollsten meines Lebens» gewesen. Für jemanden, der schon als Kind beide Eltern und sämtliche Geschwister durch den Tod verloren hatte, bedeutete das etwas. Ab 1881 wurde es für ihn und die Seinen nicht besser. Nach der Verhängung des kleinen Belagerungszustands über Leipzig aus der Stadt ausgewiesen, lebte er drei Jahre lang gezwungenermaßen getrennt von Frau und Kind. Als er sich 1882 mit der Familie in Dresden traf, verhaftete man ihn dort am Pfingstsonntag vor den Augen seiner dreizehnjährigen Tochter, mit der er auf der Brühlschen Terrasse gerade spazieren ging.37 Insgesamt vier Monate verbrachte er wegen von ihm geschriebener Flugblätter daraufhin im Gefängnis. 1886 / 87 folgten noch neun weitere Monate Haft. Um wieder zusammenleben zu können, waren August und Julie 1884 gezwungen, gemeinsam mit der Tochter nach Dresden umzuziehen. Die Leitung ihrer Leipziger Drechslerei, die ein zuvor bereits in den Betrieb eingestiegener Kompagnon übernahm, mussten sie deshalb aufgeben. Bis zu dem Umzug hatte Julie angesichts von Augusts erzwungener Abwesenheit die kaufmännische Geschäftsführung übernommen. Auch danach war sie noch von Dresden aus etwa für den Materialeinkauf zuständig, besonders wenn ihr Mann in Haft saß. Ende der 1880er Jahre schieden beide vollständig aus dem Betrieb aus; die Familie lebte seitdem von den Honoraren, die August für seine Beiträge zu Parteipublikationen und Buchveröffentlichungen erhielt. Julie war seit Erlass des Sozialistengesetzes wesentlich mehr in die Parteiarbeit einbezogen als vorher. Weil ihr Mann von der Polizei observiert wurde, liefen die Geldsammlungen der Partei über sie. Sie führte die Kassenbücher und zahlte Unterstützungen an die Ausgewiesenen aus. Bei den wiederholten Haussuchungen der Polizei versteckte Julie die Bücher im Küchenherd. Einmal vergaß sie in der Aufregung allerdings, das Kassenbuch wieder herauszunehmen, nachdem die Polizisten gegangen waren – ihren Fehler bemerkte sie erst, nachdem sie Feuer gemacht hatte. Auch nach dem Ende des Sozialistengesetzes führte sie als «Buchhalterin ohne Gehalt, aber mit guter Behandlung» die Bücher weiter. Wenn August im Gefängnis saß, auf Geschäfts- oder Agitationsreise war oder sich wegen einer Reichstagssession in Berlin aufhielt, erledigte Julie seine Korrespondenz und gelegentlich auch die von anderen Parteifunktionären.38
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Julie Bebel durchlebte diese Zeit mit gemischten Gefühlen. Die erzwungene Trennung von ihrem Mann schmerzte. Sie «habe nur den einen Wunsch, daß wir nicht soviel getrennt leben müssen», schrieb sie ihm 1887. Dagegen machte es ihr vergleichsweise wenig aus, dass zu den Aufgaben einer Mutter und Hausfrau auch die Buchführung eines expandierenden Handwerksbetriebs und einer Partei hinzukam. Die Frau eines anderen inhaftierten sozialistischen Handwerksmeisters wurde von ihr zwar bedauert, es sei «auch schlimm für die Frau, die mit dem Geschäft allein fertig werden muss». Dass sie sich selbst in gleicher Lage befand, war für sie aber kein Anlass zur Klage. Zu schaffen machte ihr nur die immer knapper bemessene Zeit, in der die vielseitig aktive und intelligente Frau ihren Bildungshunger stillen konnte: «Überhaupt möchte ich so vieles gern lesen, aber man kommt eben nicht dazu.»39 Eine von ihr gemachte Fotografie, die deutlich die körperlichen Spuren der Mühen und Entbehrungen vergangener Jahre zeigte, kommentierte sie bezeichnenderweise: «Es ist so, wenn man alt wird und der Ernst des Lebens im Gesicht steht, obgleich ich mich im Innern so jung und ungebrochen fühle, daß ich es noch mit manchen Unbilden aufnehmen kann.» Tatsächlich übernahm Julie die neuen politischen Aufgaben, die sich für sie aus der Verfolgung der Sozialdemokratie als «Reichsfeinde» ergaben, mit viel Elan, ja blühte darin geradezu auf. Selbstbewusst unterstrich sie gegenüber Friedrich Engels «die Fähigkeit der Frauen, Schmerz und Leid leichter zu ertragen als das sogenannte stärkere Geschlecht». Ihrem Mann gab sie augenzwinkernd die Nachricht einer Parteifreundin über die Ehefrauen der aus Leipzig ausgewiesenen Sozialisten weiter, «daß sie sämtliche Strohwitwen ganz gut angetroffen habe. Man sähe daraus, wie überflüssig eigentlich die Herren der Schöpfung seien.»40 Ganz entschieden widersprach sie, als Wilhelm Liebknecht ihr einmal «zu viel Wissen in Parteiangelegenheiten zum Vorwurf machte. Das ist eine falsche Ansicht Herrn Liebknechts, daß damit die Frauen beunruhigt würden. Das kann doch nur bei denen sein, die absolut nichts davon wissen wollen und auch kein Verständnis für die Sache sich aneignen. Wenn man aber die Hälfte seines Lebens an dieser Tätigkeit direkt oder indirekt teilgenommen hat, verdient man auch das volle Vertrauen der Männer, und damit ist das Schreckhafte ihrer Tätigkeit von vornherein ausgeschlossen, und schließlich ist das Leben, wenn es auch mit-
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unter sehr aufregend ist, doch auch interessant und abwechselnd, und die Verehrung für unsere Männer fällt ja auch auf uns.»41 Letzten Endes fand Julie Bebel sich so mit der Rolle einer Politikerfrau ab, die bescheiden in der zweiten Reihe im Schatten ihres Mannes blieb, beleuchtet allenfalls durch die Reflexion des auf ihn fallenden Rampenlichts. Sie übernahm die Aufgabe der Vertrauten und Mitarbeiterin, der «Stütze» und «Förderin seiner Bestrebungen», wie August es in seinen Lebenserinnerungen formulierte.42 Diese geschlechterspezifische, hierarchische Aufgabenteilung war das Erfolgsrezept ihrer Beziehung und ihres gemeinsamen Erfolgs als politischem Team. Julie und auch August waren damit freilich ihrer Zeit bereits um einiges voraus. Die Einstellung der meisten – nicht nur männlichen – Zeitgenossen auch unter Sozialisten repräsentierte eher Wilhelm Liebknechts Überzeugung, dass Frauen mit Politik nichts am Hut haben sollten. Selbst Julie war hin- und hergerissen zwischen dem bürgerlichen Ideal der Ehefrau als fürsorglicher Bereiterin eines trauten Heims für den Mann einerseits, dem Ausleben ihrer eigenen intellektuellen und politischen Interessen andererseits. Nirgends wird diese innere Zerrissenheit deutlicher als in einem Brief an Friedrich Engels, dem sie 1892 über die teilweise Befriedigung ihrer Ambitionen und deren Grenze schrieb: «Früher war ich oft sehr unzufrieden, daß ich so gar nichts für meine geistige Ausbildung tun konnte; aber mich hat doch das Bewußtsein glücklich gemacht, für meinen Mann die häusliche Behaglichkeit schaffen zu können, die ihm zu seiner geistigen Entfaltung und Arbeit so nötig war. Aber dadurch, daß ich seine Parteigeschäfte fortführen mußte, soweit ich es konnte, wenn er so oft vom Hause weg war, bin ich in den Geist der Bewegung eingedrungen und heute mit ganzer Seele dabei, und so muß ich mich mit dem begnügen, was ich daraus gelernt habe.» Tatsächlich ist Julie Bebel während des Sozialistengesetzes für eine Frau nicht nur in den Geist der sozialistischen Bewegung denkbar tief eingedrungen. Dabei demonstrierte sie wiederholt auch eigenen Willen und war keineswegs bereit, sich in jeder Hinsicht ihrem Mann unterzuordnen. Sie wurde nicht erst, wie sie voller Ironie vermerkte, nach dem Auslaufen des Gesetzes «hübsch sittsam» ein Mitglied «im neuen Frauen-Bildungsverein, den August verbrochen hat». Vielmehr engagierte sie sich schon vorher in illegalen Frauen- und Arbeiterinnenvereinen. Sie ging in sozialistische Wählerversammlungen, die an sich ebenso
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verboten waren wie die Teilnahme von Frauen an politischen Veranstaltungen überhaupt. 1887 nahm Julie auch den aus Berlin ausgewiesenen Parteigenossen Paul Singer in der Dresdner Familienwohnung auf, obwohl der inhaftierte August sich kategorisch dagegen ausgesprochen hatte. Ungerührt gab sie zurück, er rege sich «ganz unnütz darüber auf». Und wenn sie Ratschläge, die ihr Mann aus der Haft für Parteigenossen parat hatte, für wenig hilfreich hielt, gab sie diese einfach nicht weiter.43 Ähnlich selbstbewusst und selbständig äußerte Julie sich zu politischen Entwicklungen im Deutschen Reich und in der Partei. Die Ansprache des Redners bei einer sozialistischen Wahlversammlung in Dresden beurteilte sie als «ganz gut». Eine Reichstagsrede Paul Singers erschien ihr ebenfalls «ganz gut, wenn sie auch schärfer hätte sein können». Andere Redner der Partei müssten sich im Parlament erst recht «mal ins Zeug legen, freilich geschieht es nicht so, wie es sein sollte». Besonders heftig kritisierte sie Parteigenossen, die jedem «Umsturz» öffentlich abschworen und stattdessen ihren Willen zur Reform der bestehenden Verhältnisse auf parlamentarischem Wege betonten – auch wenn das offensichtlich nur geschah, um politische Verfolgung zu vermeiden: Für solche «Feigheiten» brachte sie kein Verständnis auf.44 Das war durch die eigenen harschen Verfolgungserfahrungen beeinflusst, die sie und ihr Mann während des Sozialistengesetzes machen mussten. Diese überstiegen in ihren Augen «an Gemeinheit alles bisher Dagewesene». Solidarität mit den Verfolgten erforderte unter diesen Umständen kompromisslose Opposition. Dagegen auf irgendwelche Reformbereitschaft der Regierung zu hoffen erschien Julie zunehmend als gefährliche Illusion. Im Gegenteil: «Die Reaktion ist in voller Blüte, man glaubt sich ins Mittelalter versetzt.» Auch auf die früheren bürgerlichen Verbündeten sei endgültig nicht mehr zu hoffen. So wirkte nicht nur in politischer Hinsicht «doch alles recht erbärmlich, wohin man sieht». Auch wirtschaftlich schien es keinen Fortschritt, sondern nur noch Rückschritte zu geben: «Es ist, als wenn dem Menschen alles Gefühl und Mitleid für die leidende Menschheit erstorben sei und wir wieder den früheren Zuständen entgegen gingen, als vorwärts zu schreiten.»45 Eine solche rundweg negative und tief pessimistische Sicht auf Politik und Gesellschaft des deutschen Kaiserreiches hinterließ die Erfahrung des Sozialistengesetzes beim Großteil der sozialdemokratischen Aktivisten. «Daß man uns wie Vagabunden oder Verbrecher ausgewiesen
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und ohne eine gerichtliche Prozedur von Weib und Kind gerissen hatte, empfand ich als eine tödliche Beleidigung», erregte sich August Bebel noch mehr als zwei Jahrzehnte später in seinen Lebenserinnerungen: «Kein Prozeß, keine Verurteilung hat je bei mir ähnliche Gefühle des Hasses, der Er- und Verbitterung hervorgerufen.» Die politischen Konsequenzen dieser Verbitterung zeigten sich bereits Anfang der 1880er Jahre. In den ersten Jahren seiner Abgeordnetenzeit im Reichstag hatte Bebel sich entschieden gegen Wahlboykotte und parlamentarische Obstruktion gewandt. Wilhelm Liebknechts Kritik am «Kompromisseln» und «Parlamenteln» teilte er damals noch nicht, sie war ihm als «rein negierend» erschienen. 1883 meinte er jedoch zu Liebknecht, auch ihm komme nun «öfter als je der Gedanke den Parlamentarismus an den Nagel zu hängen», dieser sei nur «eine gute Schule der Versumpfung». In der Partei wolle «die große Mehrheit kein Parlamenteln und Kompromisseln» mehr, ließ Bebel zwei Jahre später Friedrich Engels wissen. Liebknecht solle in der «Reichsbude» nur «rücksichtslos dreinhauen, denn zu verderben sei nichts mehr».46 Im Gothaer Programm hatte die Partei sich 1875 darauf verständigt, den eben gegründeten deutschen Nationalstaat als gegeben zu akzeptieren und ihn nach Möglichkeit durch Reformen in einen demokratischen «Volksstaat» zu verwandeln. Diese Strategie hatten Bebel und andere bis 1878 in ihren Schriften, Pamphleten und Flugblättern propagiert und im Reichstag auch praktisch verfolgt. Doch unter dem Eindruck des Sozialistengesetzes änderte sich das in den 1880er Jahren. Weil eine Reform des Reichs angesichts der von seinen Trägern ausgehenden Repression kaum noch denkbar erschien, verlor sie zunehmend an Bedeutung in den politischen Gedankenspielen des deutschen Sozialismus. Statt auf eine Veränderung des Staates begannen Bebel und Genossen auf dessen Verschwinden zu hoffen: Nicht ein anderer Staat, sondern seine Ersetzung durch eine Gesellschaft, die sich in Vereinen und Genossenschaften selbst organisierte, wurde ihre Utopie. Wie diese freilich erreicht werden sollte, darüber gab es allenfalls nebelhafte Vorstellungen. So versuchte August Bebel sich selbst und dem skeptischen Friedrich Engels seit 1881 einzureden, dass «irgendein Ereignis den Anstoss zum allgemeinen Kladderadatsch» geben werde. Mal argumentierte er, die sozialen Gegensätze seien dabei, sich so zuzuspitzen, «dass wir mit Riesenschritten der Revolution entgegengehen».
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Dann wieder setzte er auf Kriege oder Missernten als Auslöser. Wie auch immer: «Ich lege mich jeden Tag mit dem Gedanken schlafen, dass das letzte Stündlein der bürgerlichen Gesellschaft in Bälde schlägt.»47 So wartete Bebel, nach dem Ende des Sozialistengesetzes 1890 mit Paul Singer zum Vorsitzenden der Sozialdemokratie gewählt. Und die neu formierte Partei wartete mit ihm. Es war nicht zuletzt das aus Erfahrung gewonnene Vertrauen in Bebels prophetische Fähigkeiten, das zur revolutionären Geduld der deutschen sozialistischen Bewegung beitrug. Schließlich war ja schon seine Voraussage von 1878 eingetroffen, Bismarck werde mit dem Sozialistengesetz sein Ziel krachend verfehlen und die Sozialdemokratie nur stärken, statt sie zu beseitigen. Mit den Mitgliederzahlen der geheimen Partei- und Gewerkschaftsorganisationen stieg nach 1881 auch die Zahl sozialistischer Wähler wieder an. 1884 übertraf diese bereits den Stand vor dem Sozialistengesetz. Während der Geltungsdauer des Gesetzes gelang es der Partei, über ihre traditionelle Anhängerschaft im Handwerk hinaus die eigentlichen Industriearbeiter in größerer Zahl für sich zu gewinnen. Bei den Reichstagswahlen von 1890 wurde sie vor National- und Linksliberalen, Konservativen und katholischem Zentrum stärkste politische Kraft – auch wenn sich das wegen der Wahlkreiseinteilung, die ihre städtischen Hochburgen benachteiligte, bei der Mandatsverteilung nicht in gleichem Maß auswirkte. Eine andere Voraussage Bebels über die Folgen des Sozialistengesetzes erfüllte sich ebenfalls. 1878 hatte er in einem Brief an einen Parteifreund prophezeit: «Es ist eine böse Saat, die gesät wird, und sie wird keine guten Früchte bringen.»48 Das galt nicht zuletzt für die Sozialdemokratie selbst. Das Sozialistengesetz half, sie zur stärksten Partei im Deutschen Reich zu machen. Es stärkte freilich auch die schon vorher vorhandene Tendenz ihrer Mitglieder, sich von der Gesellschaft in Echoräumen abzukapseln, noch weiter. Die fatale Konsequenz davon war, dass der Bewegung lange, lange Zeit nahezu jegliche Idee fehlte, was sie mit ihrer Stärke eigentlich anfangen sollte.
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In den späten 1890er Jahren gaben Julie und August Bebel ein Abendessen, zu dem sie auch Lily Braun einluden. Braun war eine engagierte Frauenrechtlerin. Sie bekannte sich zur Sozialdemokratie, weil sie von ihr die Durchsetzung einer Gleichberechtigung der Geschlechter erhoffte. Der Verlauf des Abendessens bei den Bebels wurde für sie aber zu einer herben Enttäuschung. Bei Tisch führten ausschließlich die Männer das große Wort über Politik. Dann «wurde der weibliche Teil der Gesellschaft in das Wohnzimmer genötigt; die Herren rückten mit ihren Zigarren um den Eßtisch zusammen, und durch die Tür klang ihre laute Unterhaltung. Bei uns drinnen sprach man von Fleischpreisen und Kochrezepten. Keine der anwesenden Frauen schien in der Parteibewegung irgendeine aktive Rolle zu spielen. Fragen von allgemeinerem Interesse wurden nicht berührt.»49 Mit ihren Beobachtungen lag die Besucherin nicht ganz falsch. Julie Bebel war zwar auch nach dem Ende des Sozialistengesetzes noch einige Zeit für die Partei tätig: Sie erledigte Teile der Buchhaltung und arbeitete in einem Frauenbildungsverein mit. Seit Mitte der 1890er Jahre zog sie sich aber aus der Parteiarbeit weitgehend zurück. Meist hielt Julie sich jetzt in der Schweiz auf, wo ihre Tochter einen Arzt geheiratet hatte. In Zürich kümmerte sie sich um die körperlich wie seelisch labile Frieda und deren kleinen Sohn, ihr Enkelkind. Zudem hatte selbst Julie Bebel stets nur im Hintergrund für die Partei gewirkt. Sie hatte August in seiner politischen Karriere unterstützt, ihm zugearbeitet, als seine unbezahlte Sekretärin und Buchhalterin geschuftet. Das war mehr gewesen, als die meisten Frauen anderer sozialistischer Politiker taten. Selbst Julie hatte freilich nie das Licht der Öffentlichkeit gesucht. Selbst in ihrer für die Verhältnisse der Zeit «fortschrittlichen» Ehe mit August blieben die Geschlechterrollen stets klar verteilt: Die Sphäre der Frau war das «traute Heim», die des Mannes die Öffentlichkeit, die Politik. In einem Punkt irrte Lily Braun allerdings. Kochrezepte mochten keine Frage der Politik sein – aber Fleischpreise wurden es im deutschen Kaiserreich sehr wohl. Braun gehörte zu den wenigen privilegierten Frauen, denen das verborgen blieb. Aufgewachsen in einer preußischen
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Adelsfamilie und dann nacheinander mit zwei wohlhabenden Akademikern verheiratet, konnte sie die Sorge um den Haushalt zeitlebens an Dienstmädchen delegieren. Die meisten Frauen der Zeit lebten jedoch nicht in einem solchen goldenen Käfig. Ums Einkaufen mussten sie sich selber kümmern. Und trotz beträchtlicher Verbesserung der Lebenslage breiter Schichten seit 1871 machten die Ausgaben für Nahrungsmittel noch am Vorabend des Ersten Weltkriegs gut die Hälfte eines durchschnittlichen deutschen Familienbudgets aus. Davon entfiel wiederum mehr als die Hälfte auf Fleisch, Wurst und andere tierische Produkte. Die Preise für Nahrungsmittel, insbesondere die für solche tierischer Herkunft, enthielten im Kaiserreich deshalb viel sozialen Sprengstoff. Fleischpreise waren potentiell politische Preise, wie heute etwa die für Mieten oder Mobilität. Das sollte für die Geschichte der Sozialdemokratie vor dem Weltkrieg noch von Bedeutung werden. Was in deutschen Familien auf den Tisch kam, galt freilich zunächst einmal als Frauensache. Frauen waren für Küche und Haushalt zuständig. Konsumfragen aber waren nicht nur aus der privilegierten Perspektive einer Lily Braun keine «Fragen von allgemeinerem Interesse». Auch die Männer in der sozialistischen Bewegung sahen das lange so. Die frühen Sozialisten in Deutschland verstanden sich als eine Organisation von Produzenten. Sie waren stolz darauf, mit «ehrlicher Arbeit» bleibende Werte zu schaffen. Schon 1848 beanspruchte einer der ersten Arbeitervereine gegenüber der Frankfurter Nationalversammlung, dass «wir die Arbeitenden, also die eigentlichen Producenten, deshalb der Kern Deutschlands sind». Für die Liberalen hatte Unabhängigkeit den Anspruch auf politische Mitbestimmung legitimiert, für die Sozialisten tat das produktive Arbeit. So vermochte der Sozialismus gleichzeitig als partikulare Interessenvertretung von Handwerkern und Fabrikarbeitern aufzutreten wie als Volkspartei, die den «Kern», ja nahezu die gesamte Bevölkerung Deutschlands repräsentiere. Zur Sozialdemokratie findende Intellektuelle wie Wilhelm Liebknecht oder Karl Marx wurden dafür schlicht zu «Kopfarbeitern» gemacht. Auch Beamte, Angestellte, Landwirte oder Kaufleute definierte man als Produzenten. Oder wie es Lassalle in einer viel zitierten Formulierung ausdrückte: «Der Fabrikarbeiter wie der Gelehrte, der Bauer wie der Kaufmann, sie alle sind ‹Arbeiter› im besten Sinne des Wortes.» Diesen vielen «Produzenten» standen in der Gedankenwelt des frü-
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hen deutschen Sozialismus die «Nurkonsumenten und Nichtarbeiter» gegenüber, wie es in einer von sozialdemokratischen Blättern während der 1870er Jahre vielfach nachgedruckten Artikelserie über «Die Arbeit» hieß. Als Hauptvertreter dieser Gruppe galten die «reichen Müßiggänger» und «Diebe»: Aristokraten, Arbeitgeber, Kapitalisten und Börsenspekulanten. Zu diesem «Parasitentum des menschlichen Geschlechts» gehörten alle, die lediglich ihr Geld und andere für sich arbeiten ließen. Sie zeichneten sich dadurch aus, dass sie «durch das, was sie als ihre ‹Arbeit› bezeichnen, nicht nur keinen Nutzen schaffen sondern Schaden». Das positiv bewertete Bild des «Produzenten» wurde so mit dem negativen des «Konsumenten» kontrastiert: Dieser sei als «Müßiggänger» nicht produktiv, «konsumiert unglaubliche Massen an Arbeitskraft und leistet der Menschheit dafür nichts, absolut gar nichts».50 Angesichts einer geschlechterspezifischen Arbeitsteilung, die Männern die «produktive» bezahlte Erwerbsarbeit, Frauen dagegen den Haushalt und die Organisation des familiären Konsums zuwies, war diese Sichtweise dazu angetan, die ohnehin schon bestehende Frauenfeindlichkeit unter den Trägern der frühen sozialistischen Bewegung noch weiter zu verstärken. Wenn überhaupt, wurden Frauen von der Bewegung bezeichnenderweise lange vor allem als Arbeiterinnen umworben – dann also, wenn sie wie die Männer «produktiv» tätig waren. Aus sozialistischen Versammlungen hielt man sie möglichst heraus. Das hatte auch mit einem restriktiven Vereinsrecht zu tun, das Frauen politische Aktivitäten in der Öffentlichkeit bis 1908 verbot. Aber ohnehin blieb die Herrenwelt in einem Kreis «gediegener Männer» am liebsten unter sich. Wenn Frauen in Versammlungen reden wollten, wurden sie in schlechtem Deutsch und «derben Worten zurecht» gewiesen, dass sie «zu Hause gehörten».51 Wo man sie ausnahmsweise einmal zuließ, wie bei Kundgebungen mit August Bebel während der späten 1860er und 1870er Jahre, blieb ihre Rolle auf die von Zuhörerinnen beschränkt. In solchen Fällen trennte man sie zudem räumlich meist von den Männern: Während diese im Saal debattierten, lauschten die Frauen von der Empore. Für weibliches Engagement waren die Männer nur offen, wenn es um das Nähen von Vereinsfahnen, das Schmücken von Versammlungsräumen oder die Teilnahme an eher unpolitischen Feiern ging – wie dem Stiftungsfest des Leipziger Arbeiterbildungsvereins, auf dem August und Julie sich ken-
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nenlernten. Wollten Frauen dagegen selbst politisch aktiv werden, blieb in der Regel lediglich die Gründung eigener Organisationen wie die, an denen Julie sich in Leipzig und später in Berlin beteiligte. Solche rein weiblichen Vereine wurden dann allerdings meist bald von der Polizei verboten und aufgelöst. August Bebels Einstellung zu Frauenfragen unterschied sich etwas von der Mehrheit seiner sozialistischen Genossen. 1865 hatte er als Gast an der Gründungsversammlung des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins in Leipzig teilgenommen. Im gleichen Jahr verabschiedete der Vereinstag Deutscher Arbeitervereine, an dem er ebenfalls teilnahm, eine Resolution zugunsten des allgemeinen gleichen Wahlrechts auch für Frauen. Das war zu diesem Zeitpunkt freilich noch reine Utopie. Nachdem Bismarck das gleiche Männerwahlrecht für den Reichstag eingeführt hatte, forderte das Programm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei 1869 nur dessen Ausdehnung auf Einzelstaaten und Gemeinden. Beim Gothaer Vereinigungsparteitag von 1875 schlug Bebel dann vor, sich programmatisch ausdrücklich auf das Frauenwahlrecht festzulegen. Die Mehrheit der Delegierten lehnte das aber ab. Nach dem Ende des Sozialistengesetzes nahm die neu formierte Sozialdemokratische Partei Deutschlands 1891 schließlich die Forderung nach dem Frauenwahlrecht in ihr Programm auf. Die SPD war die erste deutsche Partei, die das tat. Erfahrungen der Verfolgungszeit, in der nicht wenige Frauen wie Julie Bebel die Aufgaben ihrer inhaftierten oder ausgewiesenen Männer übernommen hatten, mochten dabei eine Rolle gespielt haben. August Bebel war es jedenfalls, der 1895 den ersten konkreten Antrag im Reichstag einbrachte, das Wahlrecht auf Frauen auszudehnen. Der Antrag fiel krachend durch, weil alle Fraktionen außer der sozialdemokratischen dagegen stimmten – wie von Bebel bereits erwartet. Die Sozialdemokraten traten auch danach immer wieder für das Frauenwahlrecht ein. Viel mehr als eine Pflichtübung war das für die meisten Genossen allerdings nicht. Und wenn es um mehr als pure Theorie ging, gaben sie dem Männerwahlrecht den Vorzug. Als 1906 in Hamburg der Senat eine Wahlrechtsreform anregte, um sozialdemokratische Mehrheiten in der Bürgerschaft der Hansestadt zu verhindern, verteidigten die Sprecher der SPD nur die Rechte der Männer. Die Forderung nach dem Frauenwahlrecht ließen sie fallen. Ähnlich reagierten
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ihre Vertreter noch kurz vor der Revolution 1918, als im Interfraktionellen Ausschuss des Reichstags die Frage einer Wahlrechtsreform in Reich und Einzelstaaten verhandelt wurde. Die übrigen Parteien im Ausschuss wollten nur einer Ausdehnung des allgemeinen gleichen Männerwahlrechts zum Reichstag auf die Länderparlamente zustimmen, nicht aber der Einführung des Frauenwahlrechts. Die Sozialdemokraten begnügten sich daraufhin kompromissbereit und pragmatisch mit dem Spatz in der Hand. Die Taube des Frauenwahlrechts ließen sie auf dem Dach. Hätte bald darauf nicht die Revolution begonnen, wäre es wahrscheinlich nicht eingeführt worden.52 Das Verhalten der parlamentarischen Repräsentanten der Partei spiegelte die Prioritäten und Überzeugungen der Mehrheit ihrer männlichen Mitglieder. Noch nach der Jahrhundertwende sprachen viele Männer in der SPD Frauen sogar pauschal politisches Verantwortungsgefühl ab. Die Belege dafür sind Legion. In einer Hamburger Kneipe meinte etwa ein Sozialdemokrat 1902, der Frau fehle schlichtweg «das richtige Verständnis» für Politik: Da sie «stets von dem Manne geleitet werden» müsse, «kann sie auch niemals demselben gleichgestellt werden». Der Redakteur einer sozialdemokratischen Zeitung in Sachsen schrieb, Frauen würden «von Organisation und Politik nichts wissen, sie verstehen nichts davon und wollen nichts verstehen; für politische und gewerkschaftliche Versammlungen haben sie noch keinen Sinn, eher schon für eine Maifeier mit Gesang und Rede und Tanz, weil das für die Sinne ist. Die Gabe des abstrakten Denkens scheint auch den Arbeiterfrauen versagt zu sein.» Vergleichsweise schlicht formuliert, gab 1906 ein männlicher Delegierter auf dem sozialdemokratischen Parteitag in aller Öffentlichkeit seine Überzeugung zum Besten, «die Frauen seien zu dumm, um in den Versammlungen die Referate zu verstehen». Unter diesen Umständen überrascht es wenig, wenn eine weibliche Aktivistin der Partei zwei Jahre später klagte, für manche Genossen sei die Frau immer noch nur «dazu da, ihm daheim das Leben schön zu machen und sich sonst um nichts zu kümmern».53 Für August Bebel galt das in dieser Form nicht. 1879 erschien zum ersten Mal sein Buch Die Frau und der Sozialismus. Während des Sozialistengesetzes konnte das Buch nur unter der Ladentheke verkauft werden, die Kunden fragten dann konspirativ nach «Frau Julie». Es wurde ein immer wieder aufgelegter Bestseller und hat die ideologischen Vorstel-
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lungen einfacher Sozialdemokraten mehr geprägt als sämtliche Schriften von Lassalle und Marx zusammen. Bebel entwarf darin ein anderes Bild des weiblichen Geschlechts und der Geschlechterverhältnisse. Dass Frauen das Zeug zu politischer Tätigkeit hatten, stand für ihn außer Frage. Das beste Beispiel dafür hatte er zu Hause schließlich vor Augen. Die Forderung nach politischer Gleichberechtigung der Frauen wurde von ihm deshalb nachdrücklicher und vorbehaltloser vertreten als von den meisten Sozialdemokraten. Allerdings ging Bebel von einem weiblichen «Entwicklungsrückstand» aus, der die Folge jahrhundertelanger Unterdrückung der Frauen in patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen sei: «Aus diesem Zustand der Frau haben sich Charaktereigenschaften herausgebildet, und von Generation zu Generation immer vollkommener vererbt, über welche die Männerwelt sich mit Vorliebe aufhält, obgleich sie durch die Art, wie sie das weibliche Geschlecht erzogen hat und beherrscht, die Hauptschuld daran trägt. Dahin gehören die so viel getadelte Zungenfertigkeit und Klatschsucht, die Neigung über die nichtigsten und unbedeutendsten Dinge unendliche Unterhaltung zu führen, die Gedankenrichtung auf das rein Äußerliche, die Putz- und Gefallsucht und der daraus folgende Hang für alle Modetorheiten, ferner leicht erregbarer Neid und Eifersucht gegen die Geschlechtsgenossinnen.» Im Kapitalismus könne diese angebliche Deformation des weiblichen Charakters nicht wirklich überwunden werden. Von Grund auf möglich sei das nur im Sozialismus. Auf dem Weg dorthin könne aber bereits das Frauenwahlrecht ein neues Verhältnis zwischen den Geschlechtern anbahnen. «In dem Moment, wo die Frauen gleiche politische Rechte erhalten, wird auch das Bewußtsein der Pflichten ganz von ihnen selbst in ihnen lebendig werden. Aufgefordert, ihre Stimme abzugeben, werden sich auch Tausende fragen: wofür und für wen? Und mit diesem Augenblick werden auch eine ganze Reihe von Anregungen zwischen Mann und Frau eintreten, die, weit entfernt, ihr gegenseitiges Verhältnis zu verschlechtern, es im Gegentheil sehr wesentlich verbessern werden. Die politisch ununterrichtete Frau wird sich naturgemäss zunächst an den unterrichteteren Mann wenden». Die Gewährung des Frauenwahlrechts sollte aus August Bebels Sicht zumindest zunächst einmal nicht zur Gleichstellung der Geschlechter dienen. An der Idee grundsätzlicher Verschiedenheit von Mann und
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Frau hielt er fest. Tatsächlich wimmelt es in Die Frau und der Sozialismus von Geschlechterklischees. Dazu gehörte auch die Vorstellung, der Mann müsse als «Erzieher» der Frau wirken. Das aber nicht zu dem Zweck einer Überwindung von traditionellen Geschlechterrollen, sondern um weiblichen Widerstand gegen politisches Engagement des Mannes in der sozialistischen Bewegung zu beseitigen: «Statt eines Hemmschuhs wird der Mann in der gleichgestimmten Frau eine Unterstützerin erhalten; sie wird nicht grollen, selbst wenn sie durch häusliche Pflichten abgehalten ist sich selbst zu betheiligen, wenn der Mann eine Versammlung besucht, weil er sie von dem Vorgefallenen unterrichten wird. Und sie wird auch nicht zürnen und schmollen, wenn allmonatlich ein kleiner Bruchtheil des Verdienstes für eine Zeitung oder für Agitationszwecke ausgegeben wird, weil die Zeitung ihr selbst zur Belehrung und Unterhaltung dient, und weil sie die Notwendigkeit der Opfer begreift.»54 Bebel hatte schon bei den ersten Wahlen zum Norddeutschen Reichstag das große Potential von Frauen als Wahlhelfern erkannt.55 Er sah aber auch frühzeitig, dass sie noch häufiger «Hemmschuh» waren, wenn es darum ging, Männer für den Sozialismus zu gewinnen. Denn die meisten der Mütter und Frauen standen einer politischen Betätigung ihrer Söhne und Ehemänner lange mindestens indifferent, oft sogar offen feindselig gegenüber. Häufig klagten sozialdemokratische Aktivisten darüber, dass Frauen Agitatoren der Partei aus dem Haus warfen oder Flugblätter verbrannten. Rechenschaftsberichte von Parteiorganisationen wimmelten von Bemerkungen über geringe Anwesenheit der Mitglieder, weil die Frauen «ihre Männer abhielten, unsere Versammlungen zu besuchen». Die SPD verzweifelte daher lange Zeit nicht allein daran, Frauen für eine Mitarbeit zu gewinnen. Sie seien, bemerkte die Parteizeitung Vorwärts noch 1903, auch für die Anwerbung männlicher Sozialdemokraten ein regelrechtes «Agitationshindernis».56 Der Hauptgrund dafür waren die mit einer Parteimitgliedschaft verbundenen Ausgaben. Politische Versammlungen fanden fast ausnahmslos in Kneipen statt und waren meist mit starkem Alkoholkonsum verknüpft. Nicht immer ist es eindeutig, worauf die Anwesenden mehr Wert legten. Zur Beobachtung sozialdemokratischer Versammlungen entsandte Polizeibeamte notierten wiederholt schadenfroh, wie bei parteiinternen Debatten den Genossen ab einem gewissen Alkoholspiegel
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die Worte wegblieben und statt mit Argumenten mit Biergläsern aufeinander eingeschlagen wurde. Politik und hohen Bierkonsum betrachteten Frauen daher nicht ganz zu Unrecht als zusammenhängend und als Belastung für die Haushaltskasse. Sie kritisierten den Versammlungsbesuch, weil er ihnen nur als Verschwendung erschien, die den egoistischen Interessen der Männer diente. Auch dem Verlangen, Parteizeitung und -beitrag zu bezahlen, widersetzten sie sich. Ausschlaggebend für die Haltung der Frauen war weniger eine Ablehnung politischer Betätigung an sich als vielmehr die daraus entstehenden Ansprüche an die in der Regel von ihnen verwaltete Haushaltskasse. Die Auseinandersetzungen über Politik waren nicht zuletzt eheliche Machtkämpfe um den Zugriff auf die gemeinsamen Finanzen. Die wenigsten Arbeiter- und Handwerkerhaushalte waren finanziell auf Rosen gebettet. Ausgaben für Parteimitgliedschaft und Versammlungsbesuche gingen auf Kosten des familiären Konsums. Und für dessen Organisation waren die Frauen verantwortlich. Wie diese freilich ihren «Hausfrauenpflichten» nachkamen, interessierte die Männer nicht weiter. Brot-, Fleisch- und Milchpreise waren, im übertragenen wie im einfachen Wortsinn, «nicht ihr Bier». So klagten viele Arbeiterfrauen darüber, dass ihre Männer angesichts von Biersteuererhöhungen zwar große Boykotte organisierten, «um die Wirte und Brauereien zu zwingen, die Kosten der Steuer nicht auf die Konsumenten abzuwälzen, daß aber bei der Verteuerung eines so wichtigen Nahrungsmittels wie der Milch sich keine Hand gerührt hätte».57 Auch Fleisch- und Brotpreise spielten in der männerdominierten Welt des frühen deutschen Sozialismus lange Zeit keine Rolle. Kurz nach der Einführung des Sozialistengesetzes Ende der 1870er Jahre beschloss der Reichstag mehrheitlich die Einführung von Schutzzöllen. Die Sozialdemokratie zeigte sich in der Frage heillos zerstritten. Ausschlaggebend war für ihre Vertreter jeweils das Produzenteninteresse. Repräsentanten von Wahlkreisen, wo Industrien dominierten, die von Zöllen profitierten, sprachen sich für diese aus. Abgeordnete, in deren Wahlkreisen auf den Export ausgerichtetes Gewerbe vorherrschte, votierten dagegen. Konsumenteninteressen fielen in der parteiinternen Debatte kaum ins Gewicht. Zu Zöllen auf Getreide oder Fleisch, die Nahrungsmittel verteuern konnten, hatten die Sozialdemokraten erst recht keine Meinung. Das Desinteresse hing auch damit zusammen, dass nach der Grün-
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dung des Kaiserreichs die Preise für Grundnahrungsmittel ein Vierteljahrhundert lang meist sanken – trotz Zöllen. Wenn die Preise entgegen dem Trend kurzfristig anstiegen, nutzten die Sozialdemokraten das seit Anfang der 1890er Jahre zwar gelegentlich, um neue Wähler zu gewinnen. So organisierten sie 1891 Demonstrationen gegen die «Teuerung», zu denen in großen Städten Zehntausende kamen. «Die allgemeine Lebensmittelteuerung», schrieb August Bebel an Friedrich Engels, «hat eine sehr aufgeregte Stimmung erzeugt, die uns riesig zustatten kommt. Dass man in der Regierung an den Getreidezöllen festhält, ist der dümmste Streich, der gemacht werden konnte.» Schon der große sozialdemokratische Erfolg bei den Reichstagswahlen von 1890 war unter anderem auf eine Kampagne gegen die nochmalige Erhöhung von Getreidezöllen zurückzuführen gewesen. Doch die Anfangserfolge zerstoben wieder, sobald der Preisanstieg sich nur als vorübergehende Unterbrechung des entgegengesetzten Langzeittrends entpuppte. Bei den nächsten Wahlen traten Agrarzölle und Lebensmittelpreise als Themen sozialdemokratischer Agitation wieder deutlich zurück.58 In den späten 1890er Jahren setzte dann eine Trendwende ein: Die Preise für Lebensmittel zogen nun bis zum Ersten Weltkrieg fast kontinuierlich an. Das war der Hintergrund, vor dem Julie Bebel und andere Parteifrauen in Anwesenheit einer verständnislosen Lily Braun Fleischpreise diskutierten. Schon bald begannen damit auch die sozialdemokratischen Männer. Die SPD-Parteitage von 1898 und 1900 nahmen mit großen Mehrheiten Resolutionen «für Ablehnung aller Zölle und Zollerhöhungen, insbesondere auf Lebensmittel», an. Über die Einwände der am alten Selbstverständnis festhaltenden Genossen, Arbeiter seien doch in erster Linie Produzenten, «nicht reine Konsumenten», ging die Partei unter Führung von August Bebel hinweg.59 Mit Kampagnen gegen die «Hungerzölle» und die «Teuerung» verdoppelte die SPD zwischen Jahrhundertwende und Erstem Weltkrieg die Zahl ihrer Wähler – von etwas mehr als zwei auf weit über vier Millionen. Als Interessenvertretung der Konsumenten gelang es ihr 1912 schließlich, stärkste Fraktion im Reichstag zu werden. Dabei veränderten sich nicht allein die Themen, mit denen die Partei agitierte, und ihr Selbstbild. Auch ihre soziale Basis wandelte sich erneut. Als Bewegung der Handwerker war die Sozialdemokratie gegründet worden. Während des Sozialistengesetzes hatte sie sich durch die Gewinnung
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vieler Fabrikbeschäftigten zur Partei der – protestantischen – Industriearbeiter gemausert. Vor dem Ersten Weltkrieg wurde sie schließlich zur Verbraucherpartei. Zumindest als Wähler konnte sie jetzt Angestellte, Beamte und andere bürgerliche Existenzen gewinnen, dazu erstmals Katholiken in großer Zahl. Ihre Mitgliedschaft blieb zwar weiterhin stark «proletarisch» geprägt. Aber auch hier vollzog sich ein Wandel: In den Jahren vor dem Weltkrieg strömten die bisher von der Parteiführung als «Agitationshindernis» eingeschätzten Frauen massenhaft in sozialdemokratische Organisationen. 1914 hatte die SPD fast 175 000 weibliche Mitglieder. Jeder sechste Sozialdemokrat war nun in Wahrheit eine Sozialdemokratin. Die Erleichterung des politischen Engagements von Frauen durch das Reichsvereinsgesetz von 1908 mochte ein Faktor dafür sein, war aber nicht der einzige und nicht einmal der wichtigste. Schon vorher gab es Möglichkeiten einer informellen Mitgliedschaft, etwa als freiwillige Beiträgerin, durch das Abonnement einer Parteizeitschrift oder die Mitarbeit in Frauenbildungsvereinen. Was Julie Bebel in dieser Form schon in den 1880er Jahren praktiziert hatte, taten freilich bis zur Jahrhundertwende nur wenige Tausend Frauen – während wesentlich mehr sich nach Kräften bemühten, ihre Männer oder Söhne von der SPD fernzuhalten. Die Sozialdemokratie wurde für die Masse der Frauen erst in dem Moment attraktiv, als diese ihre Interessen als Verbraucherinnen wahrzunehmen begann. Es waren die sozialdemokratischen Demonstrationen gegen «Teuerung», «Zollwucher» und Konsumsteuern, die weibliche Teilnehmer in großer Zahl anzogen und für die Partei gewannen. Die 175 000 Frauen unter den SPD-Mitgliedern am Vorabend des Ersten Weltkrieges bildeten dabei nur die Spitze eines Eisberges. Um ein Vielfaches größer dürfte die Zahl derjenigen gewesen sein, bei denen ihre Konsumenteninteressen ebenfalls zu einer Politisierung beitrugen, ohne dass diese direkt im Beitritt zu einer Organisation fassbar wurde. So registrierte etwa die katholische Zentrumspartei bei den Reichstagswahlen von 1912, «auch ohne den Umweg über ihre Frauenbewegung» hätten die Sozialdemokraten allein im Rheinland «bei Tausenden von Frauen nicht bloß ein geneigtes Ohr, sondern tatkräftigste Mitwirkung» gefunden. «Wenigstens in den Städten und Industriegebieten», wo die «Nurkonsumenten» sich ballten, sei es so der SPD gelungen, «über die Frau an den Mann und vor allem an die Jugend zu kommen».60
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Vorbei waren die Zeiten, in denen Frauen als «Hemmschuh» sozialistischer Erfolge gefürchtet wurden, weil sie Ehemänner und Söhne von der Sozialdemokratie fernhielten. Doch was Frau und Sozialismus zusammenbrachte, war nicht die «erzieherische» Einwirkung ihrer Männer, wie August Bebel gedacht hatte. Weit entfernt davon, willenlose Anhängsel zu sein, hatten Frauen ihre eigenen Gründe dafür, sich unvermittelt in die bis dahin den Männern überlassene Arena der Politik zu drängen. Dieser die traditionelle Rollenverteilung durchbrechende Schritt war nicht zuletzt Folge der Probleme, mit denen sie sich in ihrer angestammten Domäne der Haushaltsführung konfrontiert sahen. Die frühe Wanderin zwischen beiden Welten, Julie Bebel, erlebte den Wandel freilich nur noch in seinen Anfängen und aus der Distanz mit: Sie starb 1910 in Zürich an Brustkrebs.
Sozialdemokratie und parlamentarische Demokratie Sozialdemokratie und parlamentarische Demokratie
In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg wurde die SPD zur ersten Volkspartei der deutschen Geschichte – zumindest in den Städten. Bei den Wahlen von 1912 wählten Katholiken sie ebenso wie Protestanten. Angestellte, Beamte und andere bürgerliche Berufsgruppen machten ihr Kreuzchen nahezu gleich häufig bei den Sozialdemokraten wie Fabrikarbeiter und Handwerksgesellen. Die Partei hatte Anhänger unter Männern wie Frauen. Nur auf dem Land konnte sie nach wie vor nicht Fuß fassen. Ihre neue Ausrichtung auf Verbraucherinteressen verbaute ihr hier jeden Erfolg. Die Landwirtschaft beschäftigte mittlerweile freilich nur noch weniger als ein Viertel der Deutschen. Wie sollte die Partei ihre heterogene Anhängerschaft zusammenhalten? Und wie sollte sie die starke Stellung im Reichstag, die sie dem Zustrom der Wähler verdankte, nutzen? Durfte die Sozialdemokratie weiter, wie die Arbeiterbewegung, die sie einmal gewesen war, in Fundamentalopposition verharren? Konnte sie weiter auf den Zusammenbruch, den «Kladderadatsch» des Kapitalismus und des Kaiserreiches warten? Oder sollte sie sich, statt Protestpartei zu sein, konstruktiv um Reformen bemühen und dafür Bündnispartner suchen? Seit der Jahrhundertwende fand ein solcher «reformistischer» Kurs
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verstärkt Anhänger in der SPD. In Baden, Württemberg und Bayern stimmten Abgeordnete der Partei wiederholt für die Etatvorlagen der Landesregierungen. Sie begründeten das damit, dass die Steuerpolitik der süddeutschen Staaten den Verbraucherinteressen entgegenkam. Zudem würden die neu gewonnenen sozialdemokratischen Wähler unter den Beamten es nicht verstehen, wenn die Partei deren Gehaltserhöhungen blockierte. Eduard Bernstein unterzog derweil die marxistische Theorie vom «Kladderadatsch» des Systems einer scharfen Kritik. Anstatt sich einer unrealistischen Utopie zu verschreiben, solle die Sozialdemokratie besser darauf setzen, die bestehenden Verhältnisse Stück um Stück zu verändern. Statt auf eine zukünftige Diktatur des Proletariats zu bauen, solle sie den Umbau der konstitutionellen Monarchie des Kaiserreiches zu einer parlamentarischen Demokratie vorantreiben. Durchsetzen konnten die Reformkräfte sich in der Partei allerdings nicht. Der linke SPD-Flügel lehnte Bernsteins Theorien ebenso entschieden ab wie die praktischen Konsequenzen, die von den süddeutschen Sozialdemokraten daraus gezogen wurden. Die Parteimitte, die das Zünglein an der Waage bildete, wartete unter August Bebels überwältigendem Einfluss weiter auf den großen revolutionären Umbruch. Bebel war zwar durchaus offen für praktische Reforminitiativen im Reichstag. An einen grundlegenden Wandel des politischen Systems durch Reformen glaubte er jedoch nicht. Bis zu seinem Tod 1913 hielt er an dem fest, was er zehn Jahre zuvor in einer Parteitagsdebatte gegen Bernstein unter stürmischem Beifall der Delegierten formuliert hatte: «Ich will der Todfeind dieser bürgerlichen Gesellschaft und dieser Staatsordnung bleiben, um sie in ihren Existenzbedingungen zu untergraben und sie, wenn ich kann, beseitigen.»61 Nicht zufällig kamen die meisten Anhänger des Reformkurses aus den süddeutschen Staaten, wo das Sozialistengesetz von den Regierungen relativ lax gehandhabt worden war, oder waren wie Eduard Bernstein während der Laufzeit des Gesetzes im Exil gewesen. Bebel und die Mehrheit der Parteimitglieder hatten in Preußen und Sachsen ganz andere prägende Erfahrungen gemacht. Auch sie waren vor dem Sozialistengesetz dabei gewesen, sich zu Reformern zu entwickeln. Doch die Jahre der Verfolgung zwischen 1878 und 1890 zerstörten diese Ansätze. Erst die Etikettierung als «Reichsfeinde» machte die Mehrheit der Sozialdemokraten dazu. Vor 1878 hatten sie den Staat des Kaiserreichs ver-
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ändern wollen. Nach den Erfahrungen rabiater staatlicher Verfolgung verfolgten sie nur noch seine ersatzlose Abschaffung. Die kompromisslose Fundamentalopposition der SPD war das fatalste Erbe des Sozialistengesetzes. Noch als sich im Ersten Weltkrieg die Möglichkeit zur Übernahme wirklicher politischer Verantwortung bot, kniff die Mehrheit der Partei. 1917 bildeten sich halbparlamentarische Regierungen in Preußen und im Reich, in denen führende Politiker der Liberalen und der Zentrumspartei Minister- und Staatssekretärsposten übernahmen. Den Sozialdemokraten wurde ebenfalls eine Beteiligung angeboten. Doch sie fanden sich, auch aus Furcht vor einer negativen Reaktion der Parteibasis, nur dazu bereit, einen einzigen Posten als Unterstaatssekretär zu übernehmen. Der Befund ist paradox. Die SPD war die modernste Partei im deutschen Kaiserreich. Sie trat als Erste für die Demokratisierung der Wahlen zu allen Landesparlamenten und Gemeindevertretungen ein. Sie forderte als Erste das Frauenwahlrecht. Die Sozialdemokratie beteiligte Frauen 1914 in allen Bereichen an der innerparteilichen Willensbildung, als der Liberalismus sich selbst mit einer politischen Organisation weiblicher Mitglieder immer noch schwertat, von Konservativen und Zentrum ganz zu schweigen. Seit dem Abbau der aus den Zeiten des Sozialistengesetzes überkommenen «Inneren Organisation» verfügte sie nach der Jahrhundertwende über die demokratischste Binnenstruktur aller deutschen Parteien – und gleichzeitig über eine beispiellos moderne Parteibürokratie. Sie bildete so geradezu einen Staat im Staate. Nach außen begegnete die Mehrheit der SPD jedoch den Indikatoren und Motoren der Modernisierung, Bürokratie und Staat, mit tiefstem Misstrauen. So eifrig die Sozialdemokraten die Demokratie in ihren Vereinen praktizierten, so wenig nachhaltig engagierten sie sich für eine demokratische Transformation der Gesellschaft. Wenn diese überhaupt einmal thematisiert wurde, lehnten die meisten von ihnen den Aufbau einer repräsentativen parlamentarischen Demokratie bis zum Ersten Weltkrieg ab. Stattdessen diskutierten sie über Luftschlösser direkter Gesetzgebung durch das Volk oder die Notwendigkeit einer Diktatur des Proletariats. Der Verein, die Volksversammlung, die freie «Assoziation» waren ihnen schon Staat genug: Diese Keimzellen der sozialistischen Bewegung in Deutschland sahen sie als Modell einer politischen Organisation auch der Gesamtgesellschaft.62
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1918 kam dann der lang erwartete «Kladderadatsch», der Zusammenbruch des Kaiserreiches, tatsächlich. Die staatliche Macht fiel unerwartet einer Sozialdemokratie in die Hände, die darauf denkbar wenig vorbereitet war. Denn dass direkt- und rätedemokratische Verfahren sich herzlich wenig eigneten, um demokratische Teilhabe von sechzig Millionen Menschen in einer komplexen industriellen Gesellschaft zu organisieren, wurde bald selbst der Mehrheit der revolutionären Arbeiter- und Soldatenräte klar. Während der linke Parteiflügel, am Räteideal und einer Diktatur des Proletariats festhaltend, sich abspaltete und die Kommunistische Partei gründete, überließ die Mehrheit der Sozialdemokraten die Ausarbeitung der parlamentarischen Repräsentativverfassung weitgehend den linken Liberalen. Zerrissen zwischen reformistischen Befürwortern einer Zusammenarbeit mit anderen demokratischen Kräften einerseits, den traditionellen Vereinssozialisten andererseits und zudem jetzt die Konkurrenz der Kommunisten im Nacken spürend, die sich erst recht in den isolierten Echoräumen der Bewegung immer noch am wohlsten fühlten, oszillierte die SPD in der Weimarer Republik zwischen Übernahme und Verweigerung politischer Verantwortung. 1930 sprengte die Partei durch ihr Nein gegen einen Kompromiss bei der Finanzierung der Arbeitslosenversicherung die letzte Weimarer Koalition mit Liberalen und Zentrum. Die Sozialdemokraten torpedierten dabei sogar den aus ihren eigenen Reihen gestellten Reichskanzler Hermann Müller. In der Folge kam es zu Neuwahlen, die für die NSDAP den Durchbruch bedeuteten. Es war der Anfang vom Ende der ersten deutschen Demokratie.63 Viele Faktoren trugen zu diesem Ende bei. Einer davon aber war der lange Schatten, den das Sozialistengesetz auf die Mentalität der deutschen Sozialdemokraten warf – so dass selbst eine so unbestreitbar demokratische Partei wie die SPD es 1930 vorzog, in der Opposition ihre Klientel zusammenzuhalten, statt sich in der Regierungsverantwortung zu exponieren.
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Theodor Lohmann (um 1880)
Theodor Lohmann kann nicht anders Berlin, 27.kann September 1883 Theodor Lohmann nicht anders
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s war nicht unbedingt das Ende einer wunderbaren Männerfreundschaft. Aber eine enge Arbeitsbeziehung ging doch zu Bruch an diesem 27. September 1883. «Sehr ergriffen» verließ Theodor Lohmann, Vortragender Rat im Reichsamt des Innern, das Streitgespräch. Schließlich hatte er sich gerade «keineswegs leichten Herzens» dazu entschlossen, die Brocken in einer Sache hinzuwerfen, «auf die mich meine ganze Lebensführung und meine Neigung so recht eigentlich hinwies». Doch gleichzeitig verspürte er «eine wahre Erleichterung, daß ich künftig nicht mehr für Dinge einzutreten habe, welche ich nicht allein für verkehrt, sondern auch für völlig undurchführbar halte». Sein Kontrahent, kein anderer als Reichskanzler Otto von Bismarck, war sogar «ganz erschüttert». Nach der Auseinandersetzung klagte Bismarck, in Lohmann sei ihm «eine Kraft gestürzt, ein Ideal davongegangen, auf die er mit Sicherheit gerechnet habe».1 Am Morgen des Tages war der Reichskanzler in Berlin eingetroffen. Gegen acht Uhr früh rollte sein Zug in den Anhalter Bahnhof ein. Wie ein Zeitungskorrespondent berichtete, «entstieg der Reichskanzler, bekleidet mit einem dunkelfarbigen Sommerüberzieher und den Kopf mit dem Schlapphute bedeckt, leichten Schrittes seinem Salonwagen». Offenbar hatte Bismarck sich bei dem Kuraufenthalt, von dem er zurückkehrte, gut erholt. Um etliche Kilogramm leichter, wirkte er voller Energie. «Näherstehende wollen auf dem Antlitze des Reichskanzlers sogar eine gesunde Röte wahrgenommen und an ihm eine heitere Stimmung entdeckt haben.» Zudem wurden ihm «mehrere stark gefüllte Dienstmappen nachgetragen, welche als Beweisstücke dafür angesehen werden können, daß der leitende Staatsmann während seines Badelebens trotz der entgegenstehenden amtlichen Erklärungen recht lebhaft mit den Angelegenheiten seines Amtes sich beschäftigt hat».2 Tatsächlich kam Bismarck vor allem nach Berlin, um mit Theodor Lohmann eine neue Idee zu besprechen. Selbst Lohmann hatte davon im Vorfeld allerdings nur gerüchteweise erfahren. Die Ankunft des Kanzlers war aus Sicherheitsgründen bis zur letzten Minute geheim ge-
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halten und sogar die Nachricht verbreitet worden, er sei auf dem Weg zu seinem Landsitz Friedrichsruh bei Hamburg. Aus demselben Grund riegelte ein massives Polizeiaufgebot den Anhalter Bahnhof ab. Seit den beiden Attentaten auf Kaiser Wilhelm I. fünf Jahre zuvor, die Bismarck den Sozialdemokraten in die Schuhe geschoben hatte, gingen die Sicherheitskräfte kein Risiko mehr ein. Zudem war 1881 in Russland der Zar von sozialrevolutionären Attentätern in die Luft gesprengt worden und im gleichen Jahr in den USA der Präsident einem Attentat zum Opfer gefallen. Auch Theodor Lohmann musste, als er mittags ins Reichskanzleramt gerufen wurde, eine Reihe von doppelten Posten passieren – bis hin zu den zwei Doggen des Kanzlers, die gewöhnlich den Eingang von dessen Büro im ersten Stock des Hauses Wilhelmstraße 76 bewachten. Lohmann hatte darin allerdings bereits Routine. Schon als er zehn Jahre zuvor das erste Mal zu Bismarck bestellt worden war, war es ihm vorgekommen, als ob er eine «Festung stürmen» müsse: «Mehrere Auflagen von Gardisten bewachten die Eingänge bis zu ihm und einen nach dem anderen mußte ich erst mit der energischen Bemerkung beseitigen bzw. willig machen, daß es auf ihre Gefahr gienge, wenn ich wieder verschwände, ohne dem bestimmt ausgesprochenen Wunsche des Fürsten nachkommen zu können.»3 Mittlerweile ging er freilich im Kanzleramt ein und aus und war dort wohlbekannt. Bismarck hielt große Stücke auf Lohmann. Der Kanzler lobte den Verwaltungsmann bei fast jeder Gelegenheit in höchsten Tönen. «Wegen ausgezeichneter Leistungen im Amte, namentlich auf dem Gebiet der sozialpolitischen Gesetzgebung», hatte er ihm Anfang 1883 durch Wilhelm I. die zweithöchste Auszeichnung Preußens, den roten Adlerorden, verleihen lassen. Zwei Jahre zuvor war Lohmann zum preußischen Bevollmächtigten beim Bundesrat ernannt worden. Auch zum Reichstagsabgeordneten hatte Bismarck seinen sozialpolitischen Experten machen wollen, doch der hatte das abgelehnt. Auf den Abendgesellschaften, die der Reichskanzler für Parlamentarier und führende Bürokraten gab, brachte er wiederholt «sein Vertrauen auf seinen Berater und Mitarbeiter, Geheimrat Lohmann», zum Ausdruck.4 Lohmanns Sicht auf Bismarck war wesentlich kritischer. Nachdem er Anfang der 1870er Jahre zeitweise noch manche Hoffnung auf die Politik des Reichskanzlers gesetzt hatte, zeigte er sich danach zunehmend
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desillusioniert. «Die ganze Situation», klagte Lohmann 1879 in einem Familienbrief, «ist in unserem Ministerium eine so unbefriedigende» – und verantwortlich dafür sei der Kanzler: «Solange Bismarck am Ruder ist, wird das wohl auch nicht anders werden.»5 In den folgenden Jahren nahm seine Unzufriedenheit mit der Politik des Reichs noch zu. Schließlich begann er heimlich, gegen seinen Chef zu arbeiten. Schon als Lohmann 1873 seine erste Begegnung mit Bismarck gehabt hatte, «um die mich vielleicht mancher Schwärmer im Deutschen Reiche beneiden würde», war er persönlich unbeeindruckt geblieben. Stattdessen hatte er die Gelegenheit genutzt, «mir ihn mal ordentlich anzusehen: ein pergamentenes Gesicht, das nur durch die Augen belebt wird». Für jemanden, der beruflich vor allem Schriftstücke aufsetzte, mochte die Metapher naheliegen. Doch in den frühen 1880er Jahren wurde der Reichskanzler tatsächlich zum Pergament, zur Schreibunterlage des Bürokraten. Während Bismarck sich Lohmanns Expertise zunutze machte, nutzte Lohmann Bismarcks Macht aus, um seine eigenen Ideen durchzusetzen. Der Kanzler merkte das zunächst nicht. Erst langsam dämmerte ihm, dass die Vorlage zur Krankenversicherung, im Sommer 1883 als erstes von drei großen Gesetzen zur Sozialversicherung verabschiedet, tatsächlich ein von Lohmann «untergeschobenes Kind» war.6 Im Vorfeld der Besprechung am 27. September war Bismarck jedoch bereits von neidischen Kollegen Lohmanns zugetragen worden, dass dieser zu «Widerhaarigkeit» neige. Tatsächlich war das noch untertrieben. Denn nach der Verabschiedung der Krankenversicherung wollte der Reichskanzler endlich die schon zweimal im Reichstag gescheiterte Unfallversicherung durchbringen. Und die Geduld Lohmanns, der das bisherige Scheitern nicht zu Unrecht auf fixe Ideen Bismarcks zurückführte, war erschöpft: «Allen Unsinn in gehorsamstem Schweigen mitzumachen, dazu habe ich nicht das Zeug.» Seinen Schwager ließ er wissen, die Dinge seien «allmählich in ein Stadium gekommen, in welchem jede verständige Mitwirkung aufhört». Zudem war ihm nicht verborgen geblieben, «daß Bismarcks Vertrauen zu mir sich in Mißtrauen verwandelt hat».7 Die Zeichen standen also auf Gewitter, als der Kanzler und sein Ratgeber zusammentrafen. Den ersten der Blitze schleuderte Bismarck: Er eröffnete das Gespräch mit der Ankündigung, bei der nunmehr dritten
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Vorlage des Unfallversicherungsgesetzes seien obligatorische Genossenschaften als Versicherungsträger vorzusehen. Diese müssten nach Berufsgruppen gebildet werden und unter staatlicher Aufsicht operieren. Dabei war doch schon die zweite Vorlage des Gesetzes im Wesentlichen vom Reichstag abgelehnt worden, weil sie eine derartige Regelung enthalten hatte. Lohmann hatte deswegen, und nicht zum ersten Mal, einen neuen Entwurf vorbereitet, der keine solchen Zwangsgenossenschaften vorsah. Entsprechend scharf reagierte er nun. Seinem Schwager hatte Lohmann bereits Jahre zuvor die Überzeugung anvertraut, Bismarck sei «in seiner nervösen Überreiztheit zu einer sachlichen Behandlung der großen inneren politischen Fragen schon längst nicht mehr im Stande».8 Dem Chef gegenüber war er bisher allerdings immer noch als dienstbeflissener Untergebener aufgetreten. Damit war es jetzt vorbei. Direkt wie nie zuvor erklärte er Bismarck kategorisch, «daß man zu lebensfähigen Genossenschaften niemals auf dem Wege des direkten Zwanges, sondern nur auf dem der indirekten Nötigung, bei welchem die konkreten Genossenschaften durch die Initiative der Beteiligten zustande kämen, gelangen würde, und daß eine Organisation, wie er sie im Sinn habe, Schwierigkeiten biete, welche legislatorisch und verwaltungstechnisch nicht zu überwinden seien». Allein, hier stießen zwei aus gleich hartem Holz geschnitzte Dickköpfe aneinander. Über den weiteren Verlauf des Streitgesprächs mit dem Reichskanzler berichtete Lohmann: «Obwohl ich mehr sprach als jemals bei einer Unterredung mit ihm, gelang es mir doch in keinem Punkte, meine Gründe vollständig darzulegen, indem er wie gewöhnlich an irgendeinem Punkte in die Rede fiel und von der vermeintlichen Widerlegung meiner Einwürfe wieder ins Dozieren überging.» Auch der Vortragende Rat gab sich freilich nicht geschlagen. Lohmanns «beharrlicher Widerspruch» provozierte schließlich Bismarcks Frage: «Sie haben wohl den Geschmack an der Sache verloren?» Sinngemäß erwiderte der bekennende Lutheraner Lohmann, er könne nun einmal nicht anders. Der Kanzler antwortete darauf in der gleichen kompromisslosen Tonart, «von den für ihn einmal feststehenden Grundlagen werde er nicht abgehen». Und dann ließ Bismarck noch eine Katze aus dem Sack. Eigentlich gehe es ihm in erster Linie gar nicht um sozialpolitische Ziele – sondern darum, das Parlament zu entmachten: «Die Unfallversicherung sei ihm
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Nebensache, die Hauptsache sei ihm, bei dieser Gelegenheit zu korporativen Genossenschaften zu gelangen, welche nach und nach für alle produktiven Volksklassen durchgeführt werden müßten, damit man eine Grundlage für eine künftige Volksvertretung gewinne, welche anstatt oder neben dem Reichstage ein wesentlich mitbestimmender Faktor der Gesetzgebung werde, wenn auch äußerstenfalls durch das Mittel eines Staatsstreichs.» Wenn Bismarck gehofft hatte, sein Gegenüber mit dieser Offenbarung seiner weiteren Pläne doch noch umzustimmen, hatte er sich verrechnet. Denn Lohmann schwieg und dachte sich seinen Teil – nämlich, «daß aus diesem schönen Gedanken […] niemals etwas werden könne». Und damit sollte er recht behalten. Der Reichskanzler, «des Streites müde», ließ seinen Vortragenden Rat nach einer Dreiviertelstunde schließlich gehen. «Wir schieden ohne Verständigung bzw. Unterwerfung meinerseits», resümierte Lohmann spitz. Bismarck war außer sich. Ihm blieb, «da Lohmann streike», nichts anderes übrig, als die Vorbereitung des Unfallversicherungsgesetzes in andere Hände zu legen. Bald arbeiteten drei Referenten im Reichsamt des Inneren und preußischen Handelsministerium daran. Lohmann hingegen wurde kaltgestellt. Es war das – zumindest vorläufige – Ende seiner steilen Verwaltungskarriere.9 In der Öffentlichkeit und den politischen Parteien schlug die Nachricht von der Auseinandersetzung und dem Bruch zwischen Bismarck und Lohmann wie eine Bombe ein. Wilde Spekulationen über die Hintergründe des Streits zwischen den beiden schossen ins Kraut. Zahlreiche Zeitungen der liberalen Opposition griffen die Neuigkeit auf und reklamierten den geschassten Verwaltungsexperten für sich. Den Konflikt «zwischen dem Reichskanzler und seinem hervorragendsten Mitarbeiter an der sozialpolitischen Gesetzgebung, dem Geheimen Rat Lohmann», bauschten sie zum Anzeichen einer ernsthaften Regierungskrise auf. Konservative Blätter bemühten sich demgegenüber, die Bedeutung des Bruchs zwischen Bismarck und seinem langjährigen Berater herunterzuspielen. Die offiziöse Norddeutsche Allgemeine Zeitung wiegelte erst recht ab, es verrate «vor allem eine geringe Kenntnis der einschlägigen Verhältnisse, dort von ‹Differenzen› zu sprechen, wo nach Lage der Gesetzgebung nur ein verantwortlicher Träger der Politik in der Person des verantwortlichen Ministers gegeben» sei – nämlich Bismarck.10
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Dass Lohmann dem Reichskanzler so deutlich widersprochen und sich dessen Anweisungen verweigert hatte, trug ihm selbst bei Insidern des politischen Geschäfts hohen Respekt, ja Bewunderung ein. Denn Bismarck war nicht nur Lohmanns oberster Chef. Er war auch für seine suggestive Überredungskunst berühmt-berüchtigt. Selbst für den vielleicht steifnackigsten Widersacher des Kanzlers, den Vorsitzenden der Zentrumspartei Ludwig Windthorst, war Bismarck «unter vier Augen der gefährlichste Gegner, den man sich denken kann. Er weiß einen derartig zu bestricken, daß man nach einer halben Stunde nicht mehr weiß, welche Ansicht man bei Anfang der Unterredung eigentlich hatte.» Lohmanns direkter Vorgesetzter im Reichsamt des Innern kannte Bismarck, seine cholerische Ader und seine Umgebung noch besser. Er urteilte, man müsse «die gewaltige Persönlichkeit des Fürsten, die Art, wie die Menschen vor ihm im Staub krochen, und die nur allzu verbreitete Furcht vor ihm kennen, um unter den besonderen Verhältnissen die Offenheit, mit der Lohmann dem Fürst damals entgegengetreten ist, recht zu würdigen. Lohmann hat dabei sein Amt und seine Zukunft aufs Spiel gesetzt. Alle Achtung vor ihm.»11 Wer also war der Mann, der Bismarck die Stirn bot? Wer war Theodor Lohmann?
Ein Bürger und christlicher Sozialreformer Ein Bürger und christlicher Sozialreformer
Es ist ein viel strapaziertes Klischee von Helden- und Heiligengeschichten, dass ihre Protagonisten aus «einfachen Verhältnissen» stammen. Auch über Theodor Lohmann gibt es solche Geschichten. Dabei ist «einfach» ein relativer Begriff. Im Vergleich mit August Bebel oder dem Bauernmädchen Margaretha Kunz, ja selbst verglichen mit dem Tischlersohn Anton von Werner kam Theodor Lohmann kaum aus solchen Verhältnissen. Geboren wurde er 1831 in Winsen an der Aller im Königreich Hannover, dem heutigen Niedersachsen, als Sohn eines Ziegeleibesitzers. Sein Vater besaß neben der Ziegelei noch eine Essigfabrik, eine Bäckerei und einen der größten Bauernhöfe im Ort. Er gehörte zu den angesehensten Männern des Ortes, war Mitglied im Kirchenvorstand der
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evangelisch-lutherischen Gemeinde und zeitweise auch Stadtrat. Die Kinder wurden von Hauslehrern unterrichtet. Eingeschult wurde Theodor Lohmann erst mit 16 Jahren, an einem Gymnasium in Celle, wo er 1850 zu den verschwindend wenigen Privilegierten seines Jahrgangs gehörte, die das Abitur ablegen konnten. Obwohl ein Brand Teile der Familienbesitzungen zerstörte und die finanziellen Verhältnisse der Lohmanns sich dadurch verschlechterten, konnte Theodor wie mindestens zwei weitere seiner Brüder mit väterlicher Finanzhilfe anschließend studieren. Selbst nach dem Tod des Vaters 1856 reichte dessen Erbe noch aus, um die Ausbildung der Söhne zu unterstützen. Zum Studium schrieb Theodor Lohmann sich an der hannoverschen Landesuniversität in Göttingen ein. Als Fächer wählte er Jura und Volkswirtschaft oder Nationalökonomie, wie man damals sagte. Zu Hause streng religiös erzogen, begann in Göttingen sein lebenslanges Engagement in protestantisch geprägten Organisationen. Abgestoßen von Männlichkeitskult und Duellpraxis der meist schlagenden Studentenverbindungen, «die das Princip der physischen Gewalt vertreten», gründete er mit Gleichgesinnten schon in seinem ersten Semester eine eigene Burschenschaft. Die neue studentische Korporation gab sich den Namen «Germania» und den Wahlspruch «Gott – Freiheit – Vaterland». Als «Freundschaftsbund christlich-deutscher Studenten zur vollen Lebensgemeinschaft für Gegenwart und Zukunft» war sie Teil der protestantischen Erweckungsbewegung. Unter deren Einfluss hatte Lohmann bereits in seinem Elternhaus gestanden. Das Ziel der Erweckungsbewegung war die Verbindung eines wiederbelebten – evangelischen – Christentums und der deutschen Nationalbewegung, wie sie sich seit den «Befreiungskriegen» gegen Napoleon gebildet hatte. In der neu gegründeten Studentenverbindung übernahm Lohmann unter anderem die Funktion des Schriftführers. Um die angestrebte Selbstfindung der Nation im Christentum zu fördern, organisierte er für seine Kommilitonen Feiern zum Geburtstag Martin Luthers, «des größten National-Helden Deutschlands». Den Zielen der protestantischen Erweckungsbewegung entsprechend, engagierte er sich aber auch über universitäre Kreise hinaus. So trat er der Göttinger Abteilung des Studentenvereins für Innere Mission bei, die eine Verantwortung der oberen Gesellschaftsschichten für die soziale «Hebung» der unteren propagierte. Auch in diesem Rahmen blieb Lohmann über das Studium hinaus
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tätig: Sein Leben lang verschrieb er sich der Förderung von Genossenschaften, Herbergen für Handwerksgesellen und der Anregung von karitativen Tätigkeiten durch Unternehmer und andere Bürgerliche.12 Beruflich orientierte er sich frühzeitig in Richtung des öffentlichen Verwaltungsdienstes. Das entsprach der Absicht, sein Leben gesellschaftlich nützlicher Tätigkeit und Weltverbesserung aus christlicher Inspiration zu widmen. Es kam aber auch seinem eher introvertierten Wesen entgegen. Dennoch geriet der nachdenkliche junge Mann während der Ausbildung für den Verwaltungsdienst des Königreichs Hannover in eine tiefe Lebenskrise. Während er in kurzer Folge zahlreiche Stationen der Ausbildung an häufig wechselnden Einsatzorten durchlief, verfiel Theodor Lohmann in eine zunehmend depressive Stimmung. Die Gründe dafür sind nicht ganz eindeutig. Die spezifische Religiosität seines Elternhauses spielte offenbar eine Rolle. Denn dort war auf individuelle «Erweckungserlebnisse» großer Wert gelegt worden, und der angehende Verwaltungsbeamte klagte lange Zeit darüber, «noch nicht zum lebendigen Glauben gekommen» zu sein. Stattdessen warf er sich 1857 sogar eine «begangene Sünde» vor, die ihn «von der Gemeinschaft mit Gott» ausschließe. Worin diese Sünde bestand, ist unklar. Zuvor hatte Lohmann die Reize beklagt, die eine «materialistische» Umgebung auf ihn ausübe, und warf sich selbst das Fernbleiben von der «allsonntäglichen christlichen Predigt» vor. Während der Ausbildungsstation bei einer Anwaltskanzlei in Hannover registrierte er, dass Tanz- und Theaterveranstaltungen ihn anzogen. Möglicherweise waren es aber auch andere der «Sinnlichkeit» dienende Etablissements in der Hauptstadt des Welfenkönigreichs, wo der junge Evangelikale seinen eigenen moralischen Ansprüchen untreu wurde. Wie auch immer: Theodor Lohmanns Lebenskrise verlief bemerkenswert parallel zu der des 16 Jahre älteren Otto von Bismarck, seines späteren Chefs und sozialpolitischen Kontrahenten. Auch Bismarck verfiel nach absolviertem Jurastudium während des Vorbereitungsdienstes für eine Anstellung als Verwaltungsbeamter in Depressionen. In beiden Fällen war es zudem eine Frau, die das «Erweckungserlebnis» aus diesem Zustand mit sich brachte – oder es ersetzte. Wie der spätere Reichskanzler mit Johanna von Puttkamer fand Theodor Lohmann bei Luise Wyneken, der Tochter eines hannoverschen Amtmanns, bei dem er als «Hilfsarbeiter» beschäftigt war, seelische Stabilität und persönliches Glück. Die acht Jahre jün-
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gere, temperamentvolle Luise bildete einen quirligen Kontrast zu dem reservierten angehenden Juristen, den sie davon abhielt, sich zur Büroklammer und Spaßbremse zu entwickeln.13 Im Jahr seiner Verlobung 1858 legte Theodor Lohmann auch das zweite juristische Staatsexamen ab – was Bismarck nie gelang. Seine Prüfer bescheinigten ihm, er verfüge «in ungewöhnlichem Maße» über «Tiefe und Klarheit des Verstandes und ein erfolgreiches Streben, alles in seinem Wesen und Grunde zu erfassen und zu durchdringen». Zudem besitze er «bei einem anspruchslosen Wesen vorzügliche Begabung und vortreffliche Kenntnisse», um «der Verwaltung ausgezeichnete Dienste zu leisten».14 Drei Jahre später erhielt Lohmann eine Stelle beim hannoverschen Kultusministerium. In dessen Abteilung für Kirchenangelegenheiten stieg er bald zum Regierungsassessor auf. Durch seine Heirat mit Luise nun gefestigt gegen alle «sinnlichen» Verlockungen der Hauptstadt des welfischen Königreichs, sollte er in den 1860er Jahren den Konflikt um die hannoversche Kirchenverfassung wesentlich beeinflussen. Die Heftigkeit, mit der diese Auseinandersetzung geführt wurde, demonstriert wie der «Kulturkampf» des folgenden Jahrzehnts, dass Lohmanns Religiosität keineswegs außergewöhnlich und die Zeit alles andere als eine säkulare war. Den Auslöser des Konflikts in Hannover bildete der Versuch des Königs, einen seit der Aufklärung gebräuchlichen Katechismus der evangelisch-lutherischen Landeskirche zu reformieren. Lohmann unterstützte diesen Versuch nicht allein als Angehöriger der königlichen Verwaltung, sondern auch als Privatmann durch anonyme Publikationen und sein Engagement in kirchlichen Organisationen. Denn der neue Katechismus war von der protestantischen Erweckungsbewegung inspiriert. Damit positionierte er sich gegen liberale Kräfte, die an dem alten aufklärerischen Katechismus festhalten wollten. Andererseits plädierte er aber auch für eine Synodalverfassung der hannoverschen Landeskirche, die dieser weitgehende Autonomie vor staatlichen Eingriffen gewährte. Das wiederum lief konservativen Positionen zuwider. Lohmann zeigte so bereits eine Unabhängigkeit, die sein Denken und Handeln stets charakterisieren sollte. Nach dem deutsch-deutschen Krieg von 1866 wurde das Königreich Hannover von Preußen annektiert. Lohmann trat auch gegenüber den neuen Herren für eine Unabhängigkeit der hannoverschen Landeskirche ein. Preußen erschien ihm als Hort eines Staatskirchentums, das Reli-
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gion zum Handlanger der Herrschenden machte. Aus preußischer Sicht stempelte ihn das freilich zum widerborstigen hannoverschen Partikularisten. Umsonst wehrte er sich gegen dieses Etikett: Es sei, erklärte er in einer Eingabe seinen neuen Vorgesetzten, vielmehr so, «daß ich jede Verwendung kirchlicher Fragen zu politischer Agitation entschieden verwerfe, und mich überhaupt zu keiner politischen Partei, namentlich auch nicht zu derjenigen bekenne, welche darauf ausgeht, der Befestigung der gegenwärtigen politischen Verhältnisse Schwierigkeiten zu bieten». Geglaubt wurde ihm das nicht. In der Verwaltung der nunmehr preußischen Provinz Hannover stellte man ihn zunächst kalt. Dann wurde er 1870 gegen seinen Willen in eines der altpreußischen Gebiete strafversetzt: Man kommandierte ihn an das Regierungspräsidium von Minden in Westfalen ab. Denn «eine active, politische Wirksamkeit für die neue Regierung» traute man ihm nicht zu. Selbst an seiner «Ergebung in die neu geschaffenen, politischen Verhältnisse» bestanden in der preußischen Administration Zweifel.15 Das erwies sich als selbsterfüllende Prophezeiung. Der als hannoverscher Partikularist und Preußenhasser etikettierte Lohmann wurde nun tatsächlich vorübergehend zu einem solchen. In Briefen in die alte Heimat machte er seinem Ärger Luft: In der preußischen Verwaltung würden «Arbeiten kaum mit der Gründlichkeit behandelt werden, wie die Wichtigkeit der Sache es fordert und der Hannoveraner es gewohnt ist». Preußische Beamte, groß geworden in einem Polizeistaat, seien autoritätsgeschädigt und verhielten sich deshalb rein opportunistisch. Sie wollten nur den Vorgesetzten zufriedenstellen, «aber von der Verantwortlichkeit für die Sache, für die Wahrung der Intressen des verwalteten Kreises haben die meisten entschieden längst nicht so viel». Es werde «eben mehr auf Schein und glattes Abmachen gearbeitet». Ja, es sei geradezu eine Schande, schimpfte Lohmann, dass «die Leitung der deutschen Entwicklung in die Hände eines Volksstamms (oder besser einer Mischbevölkerung) gerathen ist, dessen politische Fähigkeiten ausschließlich auf den Gebieten liegen, auf denen mit Dressur-Reglements und Schablonen etwas auszurichten ist. Die Einseitigkeit der militairischen bzw. bürokratischen Bildung, der Mangel des Rechtssinnes und jedes wahren Freiheitsgefühls tritt einem hier auf Schritt und Tritt entgegen».16 Doch allzu lange hielt es ihn nicht im partikularistischen Schmoll-
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winkel. So gern Lohmann Anfang der 1870er Jahre gelegentlich antipreußische Pauschalklischees reproduzierte – er blieb doch nicht blind dafür, dass sein Urteil «durch die persönlichen Erfahrungen beeinflußt» war. Und in ruhigen Momenten war er durchaus geneigt, die Dinge pragmatischer zu sehen. Dazu trugen nicht zuletzt seine religiösen Überzeugungen bei: «Wie man auch die Ereignisse von 1866 beurteilen mag, ich muß als Staatsbürger und Christ anerkennen, dass der im Gefolge derselben entstandene politische Zustand der durch Gottes Fügung oder Zulassung gegebene Boden ist, auf welchem die lebende Generation zu arbeiten berufen ist, und auf welchem auch ich, mag er nun nach meinem Sinn sein oder nicht, mitarbeiten soll.»17 Über einen alten Bekannten aus Hannoveraner Tagen, der mittlerweile beim preußischen Handelsministerium arbeitete, erreichte ihn im Herbst 1871 das Angebot, ebenfalls dorthin zu wechseln. Zunächst zögerte er. Doch es gab eine Reihe von Dingen, die für den Umzug in die preußische und jetzt auch Reichshauptstadt Berlin sprachen. Es winkte eine Gehaltserhöhung – für einen verheirateten Mann mit mittlerweile drei Kindern ein wichtiger Punkt. Der Aufgabenbereich des angebotenen Dezernats machte einen attraktiven Eindruck. Der «Kulturkampf» begann, und Reichskanzler Bismarck, den Lohmann zu diesem Zeitpunkt noch nicht persönlich kannte, schien für die ihm am Herzen liegende Idee kirchlicher Selbstverwaltung offen. Nicht zuletzt reizte es den idealistischen Verwaltungsjuristen auch, am Aufbau des neuen deutschen Nationalstaats mitzuwirken. Die «Hebung» der gesellschaftlichen Unterschichten, um die es ihm dabei vor allem ging, schien allein mit staatlichen Mitteln möglich, weil «ich unser Volk – selbst hier in Westfalen – noch so kläglich unfähig zur Selbstverwaltung sehe, daß es nur durch eine von großartiger Auffassung geleitete Regierung dazu erzogen werden könnte». Die «soziale Frage» sei aber mit Aussicht auf Erfolg lediglich aus dem Zentrum der Macht, nicht aus der westfälischen Provinz anzugehen. Denn sie könne ihre «Lösung nicht durch einzelne directe Maaßregeln, sondern nur durch eine Reform unserer ganzen Staats- und Gesellschaftsordnung finden». Letzten Endes überzeugte Lohmann sich selbst mit dem Argument, wohl oder übel die neue Aufgabe «als Gottes Schickung hinnehmen» zu müssen.18 Der Hannoveraner wurde so zum Vernunftpreußen. Zunächst fühlte er sich in Berlin noch unwohl und suchte mit seiner Familie vor allem
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Anschluss an jene Kollegen und Bekannten, die ebenfalls aus Niedersachsen stammten. Mit der Zeit akklimatisierte er sich jedoch mehr und mehr in der Hauptstadt. Mitte der 1870er Jahre bekannte er den in der alten Heimat gebliebenen Verwandten sogar, in Berlin mittlerweile persönlich mit mehr «Altpreußen» als Hannoveranern befreundet zu sein.19 Beruflich hatte Theodor Lohmann zu diesem Zeitpunkt schon lange an der neuen Wirkungsstätte Fuß gefasst. Mit Feuereifer widmete er sich direkt nach seiner Ankunft in Berlin 1871 sozialpolitischen Reformen. In Hannover war er in der kirchlichen Armenhilfe engagiert gewesen. Dort hatte er auch grundsätzlich darüber nachgedacht, wie die sozialen Folgen der wirtschaftlichen Modernisierung bewältigt werden könnten. Das Resultat dieser Überlegungen war ein Konzept gesellschaftlicher Armenpflege. Wie bei der Kirchenorganisation setzte Lohmann auch in der Sozialpolitik auf Selbstverwaltung. Er wollte die Betroffenen an der Lösung der «sozialen Frage» beteiligen, ihr Selbstverantwortungsgefühl stärken. Der Staat sollte weniger eine lenkende als anregende und unterstützende Funktion übernehmen. Mehr als staatliche Hilfe zur Selbsthilfe würde, so seine Überzeugung, den Willen zur Selbstverantwortung bei Arbeitern wie industriellen Arbeitgebern ersticken. Während seiner Zeit beim preußischen Regierungspräsidium in Minden hatte Lohmann Fragen des industriellen Gewerbes bearbeitet. Zum ersten Mal wurde er dabei beruflich mit den Auswirkungen der Industrialisierung direkt konfrontiert. In Berlin bot man ihm dann die Übernahme eines Dezernats an, das neben Patentsachen insbesondere Arbeiterfragen und Gewerbeaufsicht umfasste. Auch deswegen entschloss er sich, in die Hauptstadt zu wechseln. Hoch motiviert und voller Energie stürzte Lohmann sich 1871 auf das gigantische Projekt, die sozialen Probleme des neuen deutschen Nationalstaats zu lösen. Es sollte seine Lebensaufgabe werden.
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1871 waren die meisten traditionellen Netze sozialer Sicherung in Deutschland zum Zerreißen gespannt oder gerissen. Im frühen 19. Jahrhundert hatte die Bauernbefreiung Gutshöfe und Dorfgemeinschaften
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als rechtliche und soziale Institutionen weitgehend demontiert. Die Rationalisierung im Agrarsektor setzte Arbeitskräfte frei, die in die Städte abwanderten. Diese Wanderungsprozesse schwächten die Dorfgemeinschaften weiter. Im Handwerk beseitigte die Gewerbefreiheit die traditionellen Zünfte. Schon 1810 in Preußen durchgesetzt, wurde sie während der 1860er Jahre auch von den meisten anderen deutschen Staaten eingeführt. Seit der Gründung des Deutschen Reichs galt sie in dessen gesamtem Gebiet. Damit bestanden viele der gesellschaftlichen Institutionen, die neben den Familien bisher Armutsrisiken aufgefangen und abgefedert hatten, nicht mehr. Um diese Folgen von Bauernbefreiung und Gewerbefreiheit auszugleichen, hatten Preußen und andere deutsche Staaten wiederholt Anläufe zur Reform der öffentlichen Armenhilfe unternommen. So zwang ein preußisches Gesetz 1842 die Gemeinden zu Hilfeleistungen für Arme. Diese Leistungen sollten durch Kommunalsteuern der wohlhabenderen Stadtbewohner finanziert werden. Weil die nach ungleichem Klassenwahlrecht gewählten Stadträte von den städtischen Eliten dominiert wurden, drückten die Gemeinden sich jedoch weitgehend um eine Übernahme der Armenlasten. Zudem wurde in den besonders schnell wachsenden Industriemetropolen, wo die Probleme sich ballten, die finanzielle Leistungsfähigkeit der Kommunen durch das Gesetz überfordert. Der preußische Staat reagierte mit einer Reihe von Neufassungen des Gesetzes, die nach wenigen Jahren jeweils wieder novelliert werden mussten. Keine dieser Änderungen erwies sich als wirkliche Lösung der wachsenden Probleme. Zunächst wurde den Gemeinden das Recht eingeräumt, die Gesellen von Handwerksbetrieben zur Einzahlung in kollektive Kassen zu verpflichten, die etwa im Fall von Krankheit Hilfen gewährten. Dann wurde das System der lokal organisierten Zwangsversicherung auch auf Fabrikarbeiter ausgeweitet. Weil diese wie die Handwerksgesellen die Kassen allein allerdings nicht tragen wollten, sollten auch Arbeitgeber Beiträge leisten. Die konnten sich dafür aber nicht besonders erwärmen, und angesichts ihrer starken Stellung in den städtischen Mitbestimmungsorganen wurden überhaupt nur selten kommunale Versicherungskassen gegründet. Die preußische Regierung legte den Gemeinden deshalb 1854 Daumenschrauben an: Die Bezirksbehörden konnten die Kommunen jetzt
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verpflichten, Hilfskassen für Bedürftige einzurichten. Dadurch stieg die Zahl der Kassen und Versicherten zwar an. Zur Zeit der Reichsgründung erfassten die lokalen Versicherungskassen aber immer noch lediglich eine kleine Minderheit der Erwerbstätigen. Denn nicht nur setzten städtische Eliten dem Gesetz weiter hinhaltenden Widerstand entgegen, und die ihnen sozial eng verbundenen Behördenvertreter beeilten sich mit dessen Umsetzung nicht allzu sehr. Die lokalen Kassen waren auch allein für diejenigen zuständig, die bereits für eine bestimmte Zeit einen Wohnsitz in der betreffenden Gemeinde nachweisen konnten. Angesichts der massiven Migration vom Land in die Städte und des häufigen Arbeits- und Wohnsitzwechsels von Industriearbeitern und Handwerksgesellen traf das aber für die Mehrheit der Beschäftigten gar nicht zu. Im Durchschnitt hielt es Arbeitnehmer im Gewerbe damals nur wenige Monate an einem Arbeitsplatz – zumal Arbeitgeber oft gezielt nur kurze Beschäftigungsverträge abschlossen, um Zahlungen an die städtischen Unterstützungskassen möglichst gering zu halten. Für die Bedürftigen, die deshalb durch das löchrige Netz des kommunalen Hilfskassenwesens fielen, waren in der Theorie Landarmenverbände der Provinzen verantwortlich. Die Praxis sah freilich anders aus. Noch in den 1880er Jahren betreuten die Landarmenverbände gerade einmal drei Prozent aller Armen, die Unterstützung erhielten. Für die Versorgung der Bedürftigen spielten sie also eine noch geringere Rolle als die kommunalen Kassen. Die große Mehrheit der Betroffenen wurde von den öffentlich-rechtlichen Institutionen der Armenpflege schlicht nicht erfasst. Während der 1860er Jahre hatten sich daher zahlreiche freie Unterstützungskassen gebildet. Ein wachsender Anteil von ihnen wurde von Gewerkschaften gegründet. Die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes, 1869 unter maßgeblichem Einfluss der Liberalen entstanden, trug dem Rechnung: Sie stellte den – zumindest in der Theorie – versicherungspflichtigen Beschäftigten in Fabriken und Handwerk die Wahl der Kasse frei. Ein Reichsgesetz übertrug diese Regelung 1876 in den Grundzügen auf ganz Deutschland. Weiteres Wachstum vor allem der gewerkschaftlichen Unterstützungskassen war die Folge. Etwa die Hälfte der gewerblichen Arbeitnehmer in Preußen dürfte während der 1870er Jahre zumindest krankenversichert gewesen sein. Die andere Hälfte der Fabrikarbeiter und Handwerksgesellen verfügte wie die meisten An-
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gestellten, Beamten und Landarbeiter aber nach wie vor über keine Absicherung im Krankheitsfall. Für Existenzrisiken, die durch Unfall oder Invalidität entstanden, galt das bei der großen Mehrheit aller Erwerbstätigen erst recht. Die Auflösung ständischer Strukturen in Landwirtschaft und Gewerbe hatte bis 1871 also in ganz Deutschland die «soziale Frage» verschärft. Bauernbefreiung und Gewerbefreiheit hatten die Kräfte des Marktes entfesseln und so wirtschaftliche Modernisierung ermöglichen sollen. Das war auch gelungen. Die gesellschaftlichen Kollateralschäden waren allerdings nicht zu übersehen. Zumindest Leuten mit sozialem Gewissen wie Theodor Lohmann erschienen soziale Reformen daher drängender denn je. Ein gleichsam naturgesetzlicher «Reformdruck» bestand freilich nicht. Auch wenn engagierte Zeitgenossen wie Lohmann dieses Bild gern benutzten und spätere Historiker es aufgriffen: Das Deutsche Reich war kein Dampfkessel. Und die Grundlegung der deutschen Sozialversicherung in den folgenden Jahren stellte kein Ventil dar, dessen Konstruktion zwingend und unumgänglich gewesen wäre, um zu hohen Druck im Kessel oder gar dessen Explosion in einer sozialen Revolution zu vermeiden. Die Leidtragenden der sozialen Misere der Reichsgründungszeit waren meist zu sehr mit ihren individuellen Problemen beschäftigt, um politisch aktiv zu werden, geschweige denn sich in einer revolutionären Bewegung zu organisieren. Unter den direkt Betroffenen drängten bezeichnenderweise vielmehr die Industriellen und wohlhabenden städtischen Bürger, die mit ihren Kommunalsteuern das überforderte alte System der Armenpflege finanzierten, am stärksten auf grundlegende soziale Reformen. Die Sozialdemokratie wurde zwar von manchen Zeitgenossen als eine sozialrevolutionäre Bewegung wahrgenommen – obwohl sie das tatsächlich allenfalls in sehr eingeschränktem Sinn war. Diese Wahrnehmung bildete auch einen Antrieb für soziale Reformen im Kaiserreich. Behörden und bürgerliche Sozialreformer versuchten damit unter anderem, der SPD das Wasser abzugraben. Das war freilich nie ihr einziges Motiv. Und weder für Bismarck noch für Lohmann war es ausschlaggebend. Bereits der erste Anlauf zu einem sozialpolitischen Programm, der unmittelbar nach der Reichsgründung unternommen wurde, illustriert das. Wohl aktualisierte der Aufstand der Commune in dem von deutschen
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Truppen belagerten Paris 1871 alte Ängste vor einer sozialen Revolution. Und die Parteinahme von August Bebel und Wilhelm Liebknecht für den Pariser Aufstand im Reichstag fokussierte diese Ängste auf die Sozialisten. Infolgedessen kam es auch zu einer Initiative für weitreichende soziale Reformen. Dem Sozialismus sollte damit im neuen deutschen Nationalstaat der Nährboden in der Bevölkerung entzogen werden. Die Flamme sozialreformerischer Begeisterung leuchtete jedoch nur kurz auf: Zu mehr als einem Strohfeuer reichte es bei Bismarck und dem Großteil der preußischen und Reichsadministration nicht. Der Reichskanzler setzte 1871 nicht allein alle Hebel in Bewegung, um Bebel und Liebknecht wegen ihrer Sympathien für die Pariser Kommunarden auf mehrere Jahre ins Zuchthaus zu bringen. Bismarck regte zunächst auch eine internationale Konferenz an, die sozialpolitische Initiativen diskutierte, um eine grenzüberschreitende Koordination bei der Unterdrückung sozialistischer Bewegungen zu begleiten. Dem preußischen Handelsminister gegenüber betonte er im Herbst des Jahres, man müsse ebenso «denjenigen Wünschen der arbeitenden Klassen», die «in den Wandlungen der Productions-, Verkehrs- und Preisverhältnisse eine Berechtigung haben, durch die Gesetzgebung und die Verwaltung entgegenkommen», wie «staatsgefährliche Agitationen durch Verbots- und Strafgesetze hemmen». Auf die skeptische Antwort des Ministers insistierte Bismarck dann noch einmal auf dem Ziel, die sozialistische Bewegung «insbesondere dadurch in heilsamere Wege zu lenken, daß man realisirt, was in den socialistischen Forderungen als berechtigt erscheint und in dem Rahmen der gegenwärtigen Staats- und Gesellschaftsordnung verwirklicht werden kann».20 Der gerade von der preußischen Regierung in Minden ins Berliner Handelsministerium gewechselte Theodor Lohmann wurde gleich in die hektischen Aktivitäten einbezogen, die das Machtwort des Kanzlers auslöste. Eine Referentenbesprechung zu Projekten der Sozialreform jagte die nächste. Anhörungen von sozialpolitischen Experten und Gespräche mit Industriellen wie Vertretern der Parteien fanden statt. Ein halbes Jahr lang glich das Ministerium einem Ameisenhaufen. Dann fiel es im Frühjahr 1872 in die gewohnte Lethargie zurück – weil Bismarck das Interesse an der Sache wieder verloren hatte. Lohmann reagierte enttäuscht. Als mittlerweile schon alter Hase im öffentlichen Verwaltungsbetrieb hatte er zwar von vornherein Zweifel
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daran gehegt, dass aus den vom Kanzler angeregten Arbeiten etwas werden würde. Aber eine Sozialpolitik, die sich der Machtmittel des neuen deutschen Nationalstaats bedienen konnte, schien ihm doch «im Ganzen nicht unintressante Geschäfte und Aussicht auf noch intressantere» zu eröffnen. Vergeblich versuchte er im Mai 1872, dem Handelsminister und dem Direktor seiner Abteilung ein umfangreiches Reformprogramm schmackhaft zu machen: Speziell dafür ausgebildete Fabrikinspektoren sollten die Zustände in der Industrie kontrollieren, staatliche Betriebe bei Arbeitszeiten und Wohnungsversorgung der Beschäftigten als Vorbild vorangehen, schließlich öffentlich-rechtliche Arbeitervertretungen analog zu Handels- und Landwirtschaftskammern eingerichtet werden, damit nicht «alle Arbeiter, welche überhaupt anfangen, über die Lage und Zukunft des Standes nachzudenken, sich ohne Weitres der SocialDemokratie zuwenden».21 Doch seine Vorgesetzten winkten nur müde ab. Frustriert ließ Lohmann zeitweilig seinen antipreußischen Affekten freien Lauf und zeterte, «daß ein so durch und durch vom Militarismus durchsäuerter Staat nicht das Zeug hat, die sociale Frage energisch anzugreifen». Und das, obwohl es dabei doch um «eine große Frage der Culturentwicklung» gehe und um eine «Angelegenheit, in welcher die Bewegung der elementaren Kräfte der Regierung schon längst über den Kopf gewachsen, in der die Gegensätze der Parteien bereits so geschärft sind». Die Lösung der «Arbeiterfrage» erschien Lohmann von entscheidender Bedeutung für sein Anliegen, die Wiedergeburt der deutschen Nation im Geist eines sozialen Christentums: «Wenn irgend eine Sache Studium und ruhige Erwägung erfordert, so ist es diese. Beides ist aber nicht möglich.» Denn die Tätigkeit im Ministerium, verzweifelte er zwischenzeitig, zeichne sich dadurch aus, «daß hier alles von der Hand in den Mund lebt, an ruhige Sammlung für Productiv-Arbeit kein Mensch denken kann». Letzten Endes gewann die pragmatische Ader des christlichen Sozialreformers aber wieder die Oberhand. Er entdeckte, dass seine berufliche Tätigkeit in Berlin durchaus Spielräume ließ, die sich produktiv füllen ließen. Und mit wachsender Erfahrung erkannte er auch die vielfältigen Möglichkeiten, die sich einem fähigen Ministerialbeamten im politischen Geschäft der Hauptstadt boten. Sein aus unerschütterlichem Gottvertrauen genährter Optimismus hatte Lohmann schon Ende 1871 die Hoffnung formulieren lassen, sich bei seiner Arbeit im Ministerium
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«besser in den Sattel zu schwingen und allmählig nach eigener Schule zu reiten» – freilich nicht ohne dass sein ausgeprägter Realitätssinn ihn sofort hinzufügen ließ: «Aber Illusionen darf man sich in dieser Sache nicht machen.»22 Mit dem ihm eigenen Idealismus begann er das, was das Erfolgsrezept politischen Engagements ist: das langsame Bohren dicker Bretter. Den Bohrer setzte Lohmann dabei an den offensichtlichen Schwachpunkten der bisherigen Gesetzgebung an. Die Gewerbeordnung von 1869 enthielt zwar Vorschriften über den Schutz von Industriebeschäftigten vor Unfällen. Diese standen aber weitgehend nur auf dem Papier. Wenn die Errichtung von Fabriken einmal genehmigt worden war, wurde die Einhaltung der Vorschriften praktisch nicht mehr kontrolliert. Durch detaillierte Erhebungen und Umfragen erfasste Lohmann zuerst in mühsamer Kleinarbeit diese Missstände. Dann dokumentierte er die Ergebnisse in offiziellen statistischen und wissenschaftlichen Publikationen. Wie schon während der 1860er Jahre in Hannover schreckte er dabei auch nicht davor zurück, anonym oder unter Pseudonym zu publizieren. So mobilisierte er die Öffentlichkeit für seine Anliegen. Mit dem Hinweis auf das öffentliche Interesse bewegte er seine widerstrebenden Vorgesetzten dann zu Reformen. Auf diese Art gelang es ihm etwa, die Zahl der staatlichen Fabrikinspektoren zu erhöhen und deren Aufgabenbereich zu erweitern. Die gemachten Fortschritte blieben freilich zunächst überschaubar und Enttäuschungen nicht aus. Lohmann schwankte deshalb weiter zwischen Mut und Verzweiflung. Auch wenn er mit der Zeit einige Gleichgesinnte in preußischer und Reichsverwaltung fand, war er nach wie vor darauf angewiesen, seine Vorgesetzten zu überzeugen – ein mühseliges Geschäft. Je besser seine Verbindungen in der Administration und darüber hinaus wurden, desto attraktiver musste es erscheinen, einflussreiche Inhaber von Spitzenämtern für seine Ideen zu gewinnen. Der Reichskanzler war dafür ein offensichtlicher Kandidat. Lohmanns erste Erfahrungen mit Bismarck waren allerdings nicht geeignet, ihm allzu große Hoffnungen zu machen. Der Kanzler, urteilte er kurz nach seiner Ankunft in Berlin, sei «ein Despot, der die ganze innere und äußere Staatsverwaltung nach seinen Gesichtspunkten dreht, wie er will». Auch von der Politik des «Kulturkampfs» zeigte der evangelikale Sozialreformer aus Hannover sich nach anfänglichen Sympathien bald
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enttäuscht, weil er den Eindruck gewann, dass es Bismarck in dem Konflikt vorrangig nicht um Autonomie der Kirchen, sondern um den Einfluss des Staates ging. Immerhin sei der Reichskanzler in der «Gesellschaft von ziemlich kläglichen Schwätzern», die das politische Berlin ausmache, noch eine ziemliche Ausnahmeerscheinung, vertraute Lohmann 1873 unverblümt seinem Schwager an.23 Die persönliche Bekanntschaft Bismarcks, die der Verwaltungsmann kurz darauf machte, kühlte freilich selbst diese relative Wertschätzung ab. Seit Mitte der 1870er Jahre dominierte in Lohmanns Urteilen über den Kanzler unverhohlene Enttäuschung. Schon vor dem sachlichen Dissens über die Ausgestaltung der Sozialversicherung war der Gegensatz zwischen dem Verwaltungsexperten und politischen Idealisten einerseits, dem keineswegs prinzipienlosen, aber hochgradig wendigen und taktisch denkenden Politiker andererseits groß. Kurzzeitig hoffte Theodor Lohmann, Wilhelm I. für eine Politik großzügiger Sozialreform zu gewinnen. Schließlich verfügte der Kaiser nicht nur über die größte Machtfülle im Reich. Er war auch ein Symbol nationaler Einheit. Es gebe, überlegte Lohmann deshalb 1875, «eigentlich nur eine Macht, welche an die Stelle der Ausbeutung der Staatsgewalt durch die verschiedenen Parteien einen nach allen Seiten gerechten Rechtszustand zu setzen vermag: das ist das Staatsoberhaupt.» Aber sehr schnell wurde ihm bewusst, dass solche Überlegungen keine realistische Grundlage hatten. Denn Wilhelm I. entwickelte eigene Initiativen, wenn überhaupt, nur in militär- und verfassungspolitischen Fragen. Sonst verließ er sich auf Bismarck, an dem also kein Weg vorbeiging.24 Diese Erkenntnis stürzte Lohmann einmal mehr in eine zutiefst pessimistische Stimmung. Er sehe es kommen, orakelte er im Familienkreis, «daß unsere gesamte Gesellschaftsordnung dem Ruin entgegengeht». Zu apokalyptischen Visionen hatte der Evangelikale und eifrige Bibelleser schon früher geneigt. Die Ausbreitung von Materialismus und kapitalistischem Gewinnstreben, die er im «unerhörten Gründungsschwindel» des 1871 einsetzenden Wirtschaftsbooms sah, hatten ihn fürchten lassen, dass «unsere ganze Culturentwicklung sich in einer Krisis befindet». Zusammen mit der «trunkenen Gesetzesfabrikation» der liberalen Ära, «welche in allen ihren Erzeugnissen auf Herstellung der alleinigen Geltung des centralen Staates» hinauslief, die er ebenso entschieden ablehnte, schien ihm die Entwicklung deshalb «schließlich zum Zusam-
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menbruche der gegenwärtigen Cultur» zu führen. Selbst im Wetter sah Lohmann 1876 schließlich Anzeichen einer bevorstehenden apokalyptischen «Züchtigung des Herrn» für gesellschaftliche Entwicklungen, die seiner Ansicht nach völlig aus dem Ruder liefen.25 Ebenfalls 1876 legte er das dicke Brett vor, an dem er seit vier Jahren gewerkelt hatte: eine Novelle der Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes von 1869 mit Geltung für das ganze Reich. Wenn Lohmann gehofft hatte, damit zur Besänftigung des göttlichen Herrn beizutragen, bewirkte er bei seinem weltlichen Herrn das genaue Gegenteil. Der Reichskanzler reagierte äußerst ungehalten. Im Interesse internationaler Konkurrenzfähigkeit könne man die Industrie, in der es seit dem Ende des Gründerbooms ohnehin schon krisele, doch nicht noch durch staatliche Vorschriften zu Arbeitszeiten oder dem Schutz vor Arbeitsunfällen belasten, meinte Bismarck. Auch einen weiteren Ausbau der Fabrikinspektion lehnte der Kanzler ab – erst recht, nachdem er als Inhaber einer Papiermühle mit deren Beamten selbst schlechte Erfahrungen gemacht hatte. Lohmann arbeitete daraufhin mit zwei Kollegen seine Vorschläge etwas um, etikettierte sie neu als «Fabrikgesetz» und gewann den zuständigen preußischen Handelsminister und den Chef des Reichskanzleramts dafür. Als Bismarck der neue Gesetzentwurf vorgelegt wurde, war er außer sich. Er gab die Order, Fabrikinspektion, Unfallschutz und Arbeitszeitvorschriften aus dem Entwurf zu streichen. Lohmann musste die so geänderte Vorlage gegen seinen Willen im Reichstag vertreten. Gleichzeitig machte er aber insgeheim wieder in der Presse mit anonymen Artikeln dagegen Stimmung. Und diesmal ging er in seinem Doppelspiel noch einen Schritt weiter: Er kontaktierte diskret Abgeordnete des Parlaments, um diese für eine Abänderung des von Bismarck gewünschten Entwurfs zu gewinnen. Dabei wandte er sich zuerst an Vertreter der Christlich-Sozialen Partei um den Hofprediger Adolf Stoecker, in der er alte Bekannte hatte, und freikonservative Industrielle. Von dieser Seite gingen in der zuständigen Kommission des Reichstags auch einige Initiativen aus. Mit deren Resultaten zeigte Lohmann sich aber wenig zufrieden. Überrascht stellte er dann fest, dass auch einige Liberale sich für sein Anliegen erwärmten, die Fabrikinspektion auszuweiten. Am engsten wurde schließlich seine Zusammenarbeit mit der Reichstagsfraktion des katholischen Zentrums,
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wo viele Abgeordnete wie er selbst aus religiösen Motiven sozialpolitisch engagiert waren. Diese erhielten, wie einer von ihnen sich später erinnerte, von Lohmann «wiederholt sachkundige Anregungen in wichtigen Einzelfragen und auch formulierte Anträge, die wir dann in der Kommission einbrachten».26 Am Ende nahm der Reichstag 1878 eine Novelle der Gewerbeordnung an, die zwar nicht alle, aber doch einige Elemente von Theodor Lohmanns ursprünglichem Entwurf wieder enthielt – vor allem die reichsweite Ausweitung der Fabrikinspektion, aber auch das Verbot jeder Kinderarbeit und der Sonntagsarbeit zumindest für Jugendliche in Fabriken. Der Bundesrat konnte zudem die Arbeit von unter 16-Jährigen und Frauen in bestimmten Tätigkeiten untersagen. Den Schutz von Arbeitern vor Unfällen hielt Lohmann zwar nach wie vor für unbefriedigend. Trotzdem war seine Bilanz des in dieser Form dann Gesetzeskraft erlangenden «Fabrikgesetzes» im Ganzen positiv, «weil dadurch z.T. ins Werk gesetzt wird, was ich seit Jahren erstrebt habe».27 Das Bohren dicker Bretter hatte sich gelohnt. Die Reform der Gewerbeordnung lehrte Lohmann allerdings, dass Arbeit an der Sache allein für den Erfolg nicht ausreichte: Auch heimliches Wühlen hinter den Kulissen und diskrete Kooperation mit Parlamentariern waren dafür nötig. Und noch eine wichtige Erfahrung machte Lohmann beim Zustandekommen des «Fabrikgesetzes». Als bloßer Vortragender Rat in der Bürokratie war er zwar Ministern und Kanzler formal klar untergeordnet. Aber dennoch war er seinen Vorgesetzten in mancher Hinsicht überlegen. Denn er kannte sich nicht nur in der Materie besser aus. Er hatte auch mehr Zeit. Während Bismarck in der entscheidenden Phase des Tauziehens um die Gewerbeordnung 1878 durch die Anschläge auf den Kaiser und die Vorbereitung des Sozialistengesetzes abgelenkt wurde, konnte Lohmann sich voll auf die Durchsetzung seiner sozialpolitischen Ziele konzentrieren. Der Erfolg ermutigte ihn, nun erst recht aufs Ganze zu gehen.
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Die Grundlegung der deutschen Sozialversicherung Die Grundlegung der deutschen Sozialversicherung
Wie der Aufstand der Commune sieben Jahre zuvor versetzten die Attentate auf Wilhelm I. das politische Berlin 1878 in einen Zustand hektischer Betriebsamkeit. Um der vermeintlichen «roten Gefahr» zu begegnen, entwarfen Reichsämter und preußische Ministerien neben Maßnahmen zur Repression der Sozialdemokratie erneut auch Pläne für soziale Reformen. Bismarcks Stellvertreter als Reichskanzler machte sich zum Sprachrohr dieser Initiativen. Er schlug vor, «als das notwendige Korrelat» zum Sozialistengesetz «Reformen auf den mit den sozialen Schäden des Volkslebens zusammenhängenden Gebieten der Gesetzgebung» anzugehen. Nur dann dürfe «auf die innerliche und nachhaltige Überwindung der sozialdemokratischen Bewegung gerechnet werden».28 Bismarck reagierte darauf zunächst eher abwiegelnd. Im Frühjahr 1879 erklärte er, es sei «unzweifelhaft, daß der wirksamste Weg, auf welchem die Regierungen der von allen Seiten drohenden sozialistischen Gefahr entgegentreten können, der Weg wirtschaftlicher und praktischer Reformen ist. Ich betrachte dieselben als notwendige Ergänzungen der Repressivmaßregeln, welche die Verbrechen und Excesse des vorigen Jahres uns zur Pflicht machten.» Doch die «Hauptquelle der Unzufriedenheit im Stande der Arbeiter und Handwerker» sei die «üble wirtschaftliche Lage» seit dem Ende des Gründerbooms 1873. Statt auf sozialpolitische Reformen konzentrierte der Reichskanzler sich nach Verabschiedung des Sozialistengesetzes 1878 / 79 vor allem darauf, höhere Zölle durchzusetzen. Ein Schutz des Binnenmarktes, argumentierte er, werde eine Konjunkturerholung herbeiführen. Die Einnahmen aus den Zöllen ließen sich zudem für Gehaltserhöhungen der kleinen Staatsbeamten verwenden, deren schlechte Bezahlung sie für den Sozialismus anfällig mache.29 Theodor Lohmann argwöhnte mit Recht, tatsächlich wolle Bismarck nicht zuletzt «viel Geld für das Reich und den demnächstigen Militäretat». Die Auseinandersetzungen um Zölle würden in der Gesellschaft nur die «materiellen Interessen» weiter hervortreten lassen und so dazu beitragen, dass «der schwache Bestand von Idealismus, welchen die politischen Parteien noch besitzen, ganz abhanden kommen wird». Auch das Sozialistengesetz lehnte der christliche Sozialreformer entschieden ab.
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Doch Bismarck, hatte er schon früher prophezeit, sei nun einmal «zu sehr gewöhnt, den Erfolg von ‹Blut und Eisen› zu erwarten, und will deshalb auch in der inneren Politik die unbequemen Elemente mit der Klumpkeule austreiben, statt ihnen mit Reformen zu begegnen».30 Selbst hielt Lohmann eisern an der Mission fest, soziale Harmonie durch Sozialpolitik herzustellen. Seit 1878 suchte er vor allem nach einem Weg, um seine bei der Novelle der Gewerbeordnung nicht durchgebrachten Vorstellungen zum Unfallschutz erneut auf die Tagesordnung zu setzen. Besonders in den wie Pilze aus dem Boden schießenden neuen industriellen Fabriken gab es kaum systematische Bemühungen, um Unfälle zu verhüten. Auch die Gesetzgebung dazu war unzureichend. Ein 1871 verabschiedetes Reichsgesetz zur Haftpflicht regelte nur das Verfahren, wenn es zu einem Unfall gekommen war. Das Unfallopfer musste dann im Zweifel vor Gericht beweisen, dass kein eigenes Verschulden vorlag, um vom Betreiber der Fabrik entschädigt zu werden. Unterstützung für Lohmanns Reformpläne kam von unerwarteter Seite. Industrielle aus dem preußischen Westen schlugen vor, das Haftpflichtgesetz von 1871 durch eine Versicherung für Unfall oder unfallbedingte Invalidität und Alter zu ersetzen. Finanziert werden sollte eine solche Regelung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern gemeinsam. Ein Hintergrund der Vorschläge war die paternalistische Mentalität vieler Montanindustrieller an Ruhr, Rhein und Saar. Gemeinsame Versicherungskassen sollten dazu dienen, «das Gefühl und das Interesse der Zusammengehörigkeit zwischen Arbeitern und Arbeitgebern immer mehr zu befestigen».31 Die zunehmende Zahl der Fabrikunfälle stellte zudem ein betriebswirtschaftliches Risiko dar. Trotz der unternehmerfreundlichen Rechtslage, die alle Beweislast dem Arbeitnehmer aufbürdete, blieb der Ausgang von Gerichtsverfahren und damit die finanzielle Belastung für die Unternehmen unabsehbar. Der Aufwand einer Versicherungsregelung dagegen war für die Arbeitgeber kalkulierbar. Und auf der anderen Seite der Rechnung konnte eine Versicherung von Lebensrisiken wie Unfall, Invalidität und Alter die kommunale Armenpflege entlasten, die vom wohlhabenden Unternehmer- und Bürgertum der Städte finanziert wurde. Teilweise enthielten die Vorschläge der Industriellen auch die Idee, den Staat an den Versicherungskosten zu beteiligen. Lohmann griff diese Initiativen auf und nutzte sie für seine Zwecke. Er entwarf die Grundzüge eines Gesetzentwurfs, der faktisch auf die Ein-
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richtung einer umfassenden Unfallversicherung im Deutschen Reich hinauslief. Der Entwurf trug freilich seine individuelle Handschrift. Als entschiedener Befürworter des Prinzips der Selbstverantwortung hielt er nichts von staatlichem Zwang und staatlicher Beteiligung. Unternehmer und Arbeiter sollten sich vielmehr in selbstverwalteten Genossenschaften zusammenschließen. Diese könnten dann Unfälle und andere arbeitsbedingte Risiken absichern. Die Rolle des Staats wollte Lohmann darauf beschränken, die Regelung der Unfallhaftpflicht aus dem Gesetz von 1871 zu revidieren: Statt einem – oft gar nicht zu ermittelnden – Schuldigen sei die Haftung einfach den Betrieben aufzuerlegen. Dann würden die Arbeitgeber schon aus Eigeninteresse Genossenschaften gründen und ihre Beschäftigten daran beteiligen. Lohmanns Ressortchef, der preußische Handelsminister, hielt diese Ideen für zu gewagt, um sie Bismarck als Ganzes vorzulegen. Er schlug dem Reichskanzler deshalb im März 1880 zunächst nur die Reform des Haftpflichtgesetzes vor. Das erwies sich allerdings als schwerer taktischer Fehler. Denn ohne die Genossenschaftsidee lief die Reform der Unfallhaftpflicht darauf hinaus, die Rechtsstellung der Arbeitgeber zu verschlechtern. Dagegen aber war Bismarck, wie sich schon 1876 gezeigt hatte, nicht zuletzt als Besitzer einer Papiermühle und einer Schnapsbrennerei äußerst allergisch. Wütend entließ er den Handelsminister und übernahm dessen Ressort selbst. Der Reichskanzler wurde damit Lohmanns direkter Vorgesetzter. Auf den Vortragenden Rat wartete jedoch noch eine weitere Überraschung. Bevor er seinen Platz räumte, präsentierte sein scheidender alter Chef dem neuen den gesamten Reformplan, einschließlich der Idee einer Unfallversicherung durch Genossenschaften. Wider Erwarten fand Bismarck Gefallen an der Idee. Während der nächsten Monate entwickelte der Kanzler sich selbst zum Befürworter der Versicherungsidee – wenn auch nicht ohne wesentliche Änderungen am Konzept. Dafür gab es zwei Gründe. Erstens hatte Bismarck 1880 den Zolltarif durchgebracht und wieder mehr Zeit für andere Dinge. Das Sozialistengesetz, musste er nun aber feststellen, brachte nicht den erwarteten Erfolg. Weit entfernt davon, sich mit der Unterdrückung ihrer Presse und Vereine abzufinden, organisierte sich die Sozialdemokratie stattdessen im Untergrund neu. Die seit 1878 von vielen Seiten immer wieder gemachten Vorschläge, das Sozialistengesetz durch sozialpolitische Refor-
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men zu ergänzen, gewannen unter diesen Umständen auch bei dem zunächst skeptischen Reichskanzler an Sympathien. 1880 mahnten selbst untergeordnete preußische Behörden wie das Düsseldorfer Regierungspräsidium im rheinisch-westfälischen Industriebezirk schon Sozialreformen zur Flankierung der Repressionen an – in einem Bericht, der wahrscheinlich insgeheim von Theodor Lohmann inspiriert worden war.32 Ende 1880 hatte Bismarck sich zum überzeugten Sozialreformer gewandelt. Lohmann musste für den Reichskanzler zunächst eine umfassende Vorlage für eine Unfallversicherung ausarbeiten. Nach Weihnachten erklärte Bismarck ihm dann, die Unfallversicherung bilde nur «den ersten Schritt auf einem Wege, auf welchem durch Gesetzgebung und ‹Staatshilfe› die Lage der Arbeiter verbessert, und diese wieder zu einer staatsfreundlichen Gesinnung erzogen werden sollten». Dem Kanzler ging es darum, die Arbeitnehmer durch großzügige Wohltaten des konservativ geprägten Staates an diesen zu binden. Umfangreiche staatliche Zuschüsse, die Lohmann gerade hatte vermeiden wollen, zu Versicherungen für Unfall, Invalidität und Alter erschienen ihm deshalb unbedingt nötig. Nur dadurch sei «in der großen Masse der Besitzlosen die konservative Gesinnung zu erzeugen, welche das Gefühl der Pensionsberechtigung mit sich bringt». Das dafür notwendige Geld könne sich das Reich leicht verschaffen, etwa über Steuern auf Tabak.33 Denn zweitens verfolgte Bismarck mit der Sozialversicherung auch das Ziel, sich von der Mitsprache des Reichstags in Finanzangelegenheiten zu befreien. Die Bewilligung von Einnahmen war der wichtigste Hebel der Macht, über den das nationale Parlament verfügte. Wenn es aber gelang, dem Reich dauerhafte und regelmäßig fließende Einnahmen zu verschaffen, war der Kanzler als Chef der Exekutive nicht mehr auf den Reichstag angewiesen. Mit der Einführung von Zöllen hatte Bismarck bereits unter anderem dieses Ziel verfolgt. Das war ihm jedoch nicht gelungen, weil die Reichstagsmehrheit im Zolltarifgesetz festgelegt hatte, dass Mehreinnahmen den Einzelstaaten überwiesen werden mussten. Mit der Sozialversicherung unternahm der Reichskanzler einen zweiten Anlauf: Größere staatliche Zuschüsse zu Versicherungsleistungen waren schließlich irgendwie zu finanzieren. Bismarck schlug deshalb vor, dass Tabaksteuern zukünftig ganz dem Reich zufließen sollten. Die Einnahmen daraus, so kalkulierte er, würden ausreichen, um vom Parlament
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unabhängig zu werden. Dann musste er den Parteien keine Zugeständnisse mehr machen. Im Reichstag wurde der Braten freilich gerochen. Die Liberalen und Teile des Zentrums opponierten deshalb gegen den Staatszuschuss, als die Vorlage zur Unfallversicherung 1881 im Parlament verhandelt wurde. Eine Mehrheit der Abgeordneten lehnte die Vorlage schließlich ab. Eine überfraktionelle Einigung in letzter Minute verhinderten, wie von Lohmann erhofft, dessen Vertraute in der Zentrumsfraktion.34 Bismarck machte daraufhin Tabaksteuer und Unfallversicherung zum Thema des Wahlkampfs bei den im Herbst des Jahres stattfindenden Reichstagswahlen. Doch auch damit erlitt er Schiffbruch. Die Konservativen, die unter allen Parteigruppen seine Linie allein unterstützten, mussten empfindliche Stimmen- und Mandatsverluste hinnehmen. Bei den Liberalen verschoben sich die Gewichte zugunsten der linken Gruppierungen, von denen eine staatliche Zwangsversicherung und neue Steuern am heftigsten bekämpft wurden. Die Aussichten, eine Unfallversicherung mit staatlichen Zuschüssen und Tabaksteuern zu deren Finanzierung durch den Reichstag zu bekommen, waren danach noch geringer als vorher. Unbeirrt ließ Bismarck für die Eröffnung des neu gewählten Parlaments eine Ansprache Wilhelms I. zur Sozialpolitik ausarbeiten, die er persönlich überarbeitete und – wegen Krankheit des greisen Kaisers – schließlich auch selbst verlas. Darin betonte er, «daß die Heilung der sozialen Schäden nicht ausschließlich im Wege der Repression sozialdemokratischer Ausschreitungen, sondern gleichmäßig auf dem der positiven Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen sein werde». Ursprünglich hatte Bismarck Wilhelm sogar dafür gewinnen wollen, das Sozialistengesetz aufzuheben, was der Kaiser aber entschieden ablehnte. Dennoch hatte die Ansprache es in sich. Denn zum ersten Mal wurde darin das Projekt einer umfassenden Grundlegung der deutschen Sozialversicherung öffentlich angekündigt, die drei Säulen haben sollte: die im Reichstag schon einmal gescheiterte «Versicherung der Arbeiter gegen Betriebsunfälle», eine Vorlage über die «gleichmäßige Organisation des gewerblichen Krankenkassenwesens» und schließlich auch ein «höheres Maß staatlicher Fürsorge» für «diejenigen, welche durch Alter oder Invalidität erwerbsunfähig werden».35 Das meiste davon war freilich nur Theaterdonner. Eine Vorlage zur
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Krankenversicherung, gab Bismarck dem daran arbeitenden Theodor Lohmann kurz darauf intern bekannt, sei vorerst nicht geplant. Für eine Alters- und Invaliditätsversicherung gab es keine konkreten Vorarbeiten, und diese blieben auch jahrelang weiter aus. Die Ansprache diente hauptsächlich dem Zweck, das Prestige des alten Kaisers als nationale Integrationsfigur für das Projekt der Unfallversicherung zu nutzen, an dem Bismarck verbissen festhielt. Lohmann wies der Kanzler an, eine neue Vorlage dafür zu erstellen, die wieder wesentliche Elemente der am Reichstag gescheiterten ersten Fassung enthielt: Zwangsversicherung, Staatszuschuss und Beitragsfreiheit der Arbeitnehmer, dazu jetzt eine Organisation durch Berufsgenossenschaften unter Reichsaufsicht. Der Vortragende Rat hatte während des vergangenen Jahres mit zunehmendem Widerwillen Gesetzentwürfe ausgearbeitet, die er für «abenteuerlich» und undurchführbar hielt. Mitte 1881 plädierte er in einer Denkschrift, die dem Kanzler allerdings nie vorgelegt wurde, entschieden gegen Reichszuschuss, Reichsaufsicht und Zwangsversicherung und sprach sich für eine finanzielle Beteiligung der Arbeitnehmer aus. Bismarcks Pläne hielt Lohmann, «obwohl ich ja selbst daran mitarbeiten muß, für verderbenbringend für unser Volk, weil sie in den unteren Volksklassen Hoffnungen und Begierden erwecken, die niemals Erfüllung und Befriedigung finden können». Er war der Überzeugung, «daß der Staat nichts Unklügeres tun kann, als dem Arbeiter die Fürsorge für sich selbst abzunehmen, und damit das Gefühl der Selbstverantwortlichkeit und das Streben nach wirtschaftlichem Fortschritt ertödten».36 Der Verzweiflung nahe, entschloss er sich schließlich, Bismarcks Intentionen wie schon beim «Fabrikgesetz» zu sabotieren. An unauffälliger Stelle schmuggelte er eine Änderung von großer Tragweite in die Vorlage zur Unfallversicherung. Zwischen dem eigentlichen Unfallereignis und dem Beginn von Versicherungsleistungen war eine Karenzzeit vorgesehen, in der – soweit vorhanden – die gewerkschaftlichen oder kommunalen Krankenkassen in die Bresche springen sollten. Der Reichskanzler wollte diese Karenzzeit kurz befristen, bestenfalls auf nur zwei Wochen, um die politische Werbewirkung staatlicher Wohltaten für Unfallopfer möglichst schnell eintreten zu lassen. Während Bismarck durch Krankheit abgelenkt war, änderte Lohmann die Frist in der Vorlage jedoch auf 13 Wochen. Das war der Zeitraum, für den in Bayern und anderen süddeutschen Staaten die bereits existierenden Krankenkassen Zahlungen
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leisteten. Im Bundesrat und unter seinen süddeutschen Kontaktleuten in der Zentrumspartei konnte Lohmann deshalb Unterstützung erwarten. Tatsächlich war seine List erfolgreich: Während der Reichstag die Vorlage zur Unfallversicherung erneut ablehnte, befürwortete es die Mehrheit des Parlaments, eine grundsätzliche Absicherung von Unfallfolgen während der Karenzzeit durch Krankenkassen weiterzuverfolgen. Ein kranker und schlecht informierter Bismarck erklärte sich damit einverstanden, weil er hoffte, auf diese Weise zumindest einen Teil seiner Ziele zu erreichen. In engem Zusammenspiel von Lohmann als Regierungsvertreter und den Parteien entstand schließlich bis 1883 ein Gesetz zur obligatorischen Krankenversicherung. Weil die bereits bestehenden Krankenkassen in diese einbezogen wurden, beeinflusste deren Ausgestaltung auch die Struktur des neuen Systems wesentlich. Die Finanzierung übernahmen zu zwei Dritteln die Arbeitnehmer, zu einem Drittel die Arbeitgeber. Staatliche Zuschüsse gab es keine. Die Versicherten verwalteten die Kassen, die sie zudem frei wählen konnten, auf genossenschaftlicher Basis weitgehend selbst. In dieser Form trat die umfassende Neuregelung der Krankenversicherung als erstes der drei großen Gesetze, die den Grundstein der deutschen Sozialversicherung legen sollten, im Sommer 1883 in Kraft. Es war eine Regelung weitgehend nach Theodor Lohmanns Geschmack. Den Vorstellungen Bismarcks dagegen entsprach sie kaum. Dass der Kanzler das ihm von Lohmann «untergeschobene Kind» dennoch akzeptierte, hatte vor allem einen Grund: Nach dem desaströsen Ausgang der Reichstagswahlen von 1881 verfolgte Bismarck mittlerweile die Idee, die genossenschaftliche Struktur der Versicherung für seine politischen Ziele nutzen zu können. Denn bei dem Bemühen, sich vom Budgetrecht des Parlaments unabhängig zu machen, indem zur Finanzierung der Sozialversicherung neue Steuern bewilligt werden sollten, war er erfolglos geblieben. Die Parteien im Reichstag fanden sich nicht bereit, den Ast abzusägen, auf dem sie saßen. Bismarck hoffte deshalb jetzt darauf, genossenschaftliche Korporationen der Sozialversicherung als Grundlage für eine alternative Volksvertretung zu nutzen. Diese Korporationen sollten in Zukunft die Macht des lästigen Parlaments einschränken oder beseitigen, indem sie neben es oder – nach einem Staatsstreich – an seine Stelle treten würden. Diese Absicht offenbarte der Kanzler Lohmann nach Verabschiedung
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des Gesetzes zur Krankenversicherung am 27. September 1883. Und er forderte den Vortragenden Rat auf, zum selben Zweck auch das bereits wiederholt gescheiterte Projekt der Absicherung von Unfällen erneut in Angriff zu nehmen – mit unter staatlicher Aufsicht stehenden Berufsgenossenschaften als Versicherungsträgern. Doch dieses Mal weigerte Lohmann sich rundheraus. Er war der Kompromisse müde. Ein wenig schwelgte er auch im Hochgefühl des Erfolges, den er mit der Durchsetzung seiner Ideen bei der Krankenversicherung errungen hatte: Schließlich war dieses Bismarck «untergeschobene Kind» im Reichstag «freundlichst aufgenommen» worden, während das «Lieblingskind» des Kanzlers, die Unfallversicherung, dort «nur ein bald bedenkliches, bald mitleidiges Kopfschütteln» auslöste.37 Als der von anderen ausgearbeitete, nunmehr dritte Entwurf einer Unfallversicherung im Sommer 1884 dann Gesetz wurde, reagierte der inzwischen aufs bürokratische Abstellgleis geschobene Lohmann überrascht und verärgert. Angenommen hatte die Gesetzesvorlage im Reichstag eine Mehrheit aus Konservativen und Zentrumspartei. Zum unerwarteten Erfolg des Entwurfs trugen Rivalitäten zwischen Liberalen und Zentrum bei. Diese hatte es freilich vorher auch schon gegeben. Ausschlaggebend für den Durchbruch waren letzten Endes Bismarcks veränderte Prioritäten. Beim ersten und zweiten Anlauf zum Unfallversicherungsgesetz hatte der Reichskanzler noch hauptsächlich die Absicht verfolgt, die Arbeiterschaft für den Staat zu gewinnen. Deshalb blockierte er 1881 und 1882 / 83 zunächst alle Vorschläge für einen Kompromiss mit der Reichstagsmehrheit, weil diese den von ihm gewünschten staatlichen Zuschuss verweigerte. Der dritte, dem Parlament im Frühjahr 1884 zugeleitete Entwurf sah dann aber diesen umstrittenen Reichszuschuss gar nicht mehr vor. Denn entscheidend war für Bismarck mittlerweile die Einrichtung der öffentlich-rechtlichen Berufsgenossenschaften geworden, die er politisch gegen den Reichstag zu instrumentalisieren hoffte. Deshalb opponierte er noch nicht einmal gegen Arbeiterausschüsse, die im Rahmen der Unfallgenossenschaften eingerichtet wurden, obwohl die Versicherung allein von den Unternehmern finanziert wurde. Es ging ihm ja gerade darum, auch die Arbeiter in korporative Repräsentativorgane einzubinden, mit deren Hilfe sich dann das Parlament entmachten ließ. Das stellte sich allerdings recht bald als undurchführbar heraus.
Die Grundlegung der deutschen Sozialversicherung
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Nachdem Bismarck wiederholt öffentlich mehr oder weniger eindeutig damit gedroht hatte, den Reichstag abzuschaffen oder seine Macht einzuschränken, wurden die Wahlen von 1884 zu einer Art Volksabstimmung darüber. Die Konservativen, die von allen Parteien als Einzige eine Verfassungsreform oder einen Staatsstreich unterstützten, mussten bei wachsender Wahlbeteiligung empfindliche Verluste hinnehmen. Zentrum, National- und Linksliberale dagegen, die im eigenen Interesse eine Entmachtung des Parlaments entschieden ablehnten, konsolidierten insgesamt ihren Stimmenanteil. Und die Sozialdemokraten, die ebenso nachdrücklich für die Rechte des Reichstags eintraten, wie sie die Sozialversicherungsgesetze bekämpft hatten, gewannen zahlreiche Wähler dazu. Sie waren damit nun sogar stärker als vor der Verhängung des Sozialistengesetzes. Offenbar war es mit der Sozialgesetzgebung weder gelungen, die Arbeiterschaft der SPD abspenstig zu machen, noch, die Arbeiter für den Staat zu gewinnen. Dass die Selbstverwaltungsorgane der Kranken- und Unfallversicherung unter diesen Umständen dazu taugten, eine neue, konservativere Verfassungsordnung im Reich zu tragen, musste äußerst zweifelhaft erscheinen. Im preußischen Staatsministerium und den Reichsämtern verlor die Idee eines Staatsstreichs deshalb fast vollständig an Sympathien. Die von Bismarck in Kranken- und Unfallversicherung gesetzten politischen Hoffnungen wurden also in jeder Hinsicht enttäuscht. Am Projekt einer Versicherung gegen Invalidität und Alter, in der kaiserlichen «Sozialbotschaft» von 1881 vollmundig als drittes Element einer sozialpolitischen Trias angekündigt, aber zunächst nicht ernsthaft verfolgt, verlor der Kanzler infolgedessen nun für lange Zeit jedes Interesse. Solange er mit dem 1884 gewählten Reichstag regieren musste, ergriff er keine Initiativen zu einem weiteren Ausbau der Sozialversicherung. Erst als drei Jahre später die Wahlen von 1887 nach einem mit der «nationalen» Parole außenpolitischer Bedrohungen geführten Wahlkampf einem konservativ-nationalliberalen Bündnis große Stimmengewinne und der Reichsleitung eine zuverlässige Mehrheit im Parlament brachten, sollte sich das ändern. Unmittelbar nach den Wahlen gewannen Kollegen des kaltgestellten Theodor Lohmann im preußischen Handelsministerium und Reichsamt des Innern den Kanzler dafür, im Reichstag eine Gesetzesvorlage zur
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Invaliditäts- und Altersversicherung ankündigen zu lassen. Noch einmal unternahm Bismarck einen Anlauf, um die alten politischen Ziele zu erreichen. Wieder drängte er auf genossenschaftliche Organisation und möglichst umfassende Finanzierung durch das Reich. Sofort stellte sich freilich erneut die Frage, woher das dafür nötige Geld genommen werden sollte. Und eine Organisation der neuen Versicherung durch Berufsgenossenschaften unter Reichsaufsicht, das wurde schnell klar, stieß auf entschiedenen Widerspruch bei den Nationalliberalen. Wie bei der Unfallversicherung zog der Prozess der Gesetzgebung sich deshalb hin. In der zuständigen Kommission des Reichstags warfen sich Lohmanns Kollegen und die Vertreter der Parteien die Bälle zu, während der Kanzler meist durch außenpolitische Fragen abgelenkt war. Bismarck verlor zunehmend das Interesse an der Sache und resignierte schließlich. Darauf hoffend, vielleicht doch noch die Arbeiterschaft durch sozialpolitische Wohltaten gewinnen zu können, stimmte er am Ende 1889 widerstrebend einer Regelung zu, die seinen ursprünglichen Vorgaben kaum mehr entsprach. Doch die Verdopplung der sozialdemokratischen Stimmenzahl bei den Reichstagswahlen des nächsten Jahres zeigte überdeutlich, dass auch diese Hoffnung vergeblich gewesen war. In Kraft trat das Gesetz zur Invaliditäts- und Altersversicherung erst 1891 – als Bismarck gar nicht mehr Reichskanzler war, weil Wilhelm II. ihn nach einem Streit über die aus dem Ergebnis der Reichstagswahlen zu ziehenden Konsequenzen entlassen hatte. Das war symptomatisch. Denn die Invaliditäts- und Altersversicherung verwirklichte unterm Strich weniger die Ideen Bismarcks als die des an seiner Entstehung gar nicht direkt beteiligten Theodor Lohmann – der dann Anfang der 1890er Jahre noch einmal ein Comeback als sozialpolitischer Berater des neuen Kaisers erleben durfte. Wie schon die Krankenversicherung wurde auch die Invaliditäts- und Alterssicherung statt vom Staat langfristig von Arbeitgebern und Arbeitnehmern finanziert. Das geschah diesmal sogar zu gleichen Teilen, wie Lohmann es als Ideal angestrebt hatte. Um sofort Leistungen auszahlen zu können, bevor durch die eingehenden Versichertenbeiträge ausreichend Kapital dafür vorhanden war, war zwar anfangs ein Reichszuschuss vorgesehen. Dieser schrumpfte allerdings von Jahr zu Jahr. Anstelle der von Bismarck als Versicherungsträger gewollten Berufsgenossenschaften unter Kontrolle des Reichs übernahmen diese Aufgabe Landesversicherungsan-
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stalten. In deren Vorständen waren Arbeitnehmer und Arbeitgeber paritätisch vertreten. Dieses Element einer starken Selbstverwaltung deckte sich ebenfalls weniger mit Bismarcks Vorstellungen als mit denen Lohmanns, auch wenn dieser sich noch weniger Staat gewünscht hatte. Mit der Verabschiedung der drei Versicherungsgesetze zu Unfall, Krankheit, Invalidität und Alter war der Ausbau der Sozialversicherung nicht beendet. In die Kranken- und Unfallversicherung, die anfangs nur Arbeitnehmer mit geringem Einkommen in Fabriken, Montan- und Verkehrsbetrieben erfasste, wurden schon seit der zweiten Hälfte der 1880er Jahre immer mehr Berufsgruppen einbezogen. Die Invaliditäts- und Altersversicherung wurde 1899 novelliert. 1911 verbesserte eine Reichsversicherungsordnung die Leistungen und reformierte die Selbstverwaltung. Wie die im selben Jahr beschlossene Angestelltenversicherung erweiterte sie zudem den Kreis der Versicherten noch einmal. Dennoch legten die Gesetze der 1880er Jahre den Grundstein der deutschen Sozialversicherung. Sie stellten die Weichen für ein System, das seitdem hauptsächlich durch Beiträge von Arbeitnehmern und Arbeitgebern statt Steuern finanziert wird. Auch in anderer Hinsicht wirken die damals getroffenen Entscheidungen bis heute vielfach nach – etwa mit den Prinzipien der Selbstverwaltung, des Haftungsausschlusses im Unfallrecht und des Umlageverfahrens bei den Altersrenten. Die Sozialversicherung ist damit das wohl langlebigste Erbe des Kaiserreichs.
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Die Grundlegung der deutschen Sozialversicherung in den 1880er Jahren gilt landläufig als das Werk des ersten Reichskanzlers. In einer breiten Öffentlichkeit ist meist von «Bismarcks Sozialgesetzgebung» die Rede. Geschichtswissenschaftliche Einschätzungen decken sich damit nicht unbedingt. Unter Historikern wird vielmehr seit langem kontrovers diskutiert, wer als Urheber der deutschen Sozialversicherung gelten kann. Ohne Bismarck wäre es in den 1880er Jahren nicht zu den drei Versicherungsgesetzen gekommen. Das zeigt sich schon daran, wie die sozialpolitischen Vorstöße von den verschiedensten Seiten 1871 / 72 und
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1878 / 79 ergebnislos verpufften, sobald der Reichskanzler das Interesse daran verlor. Auch als er zwischen 1884 und 1887 zwischenzeitig keine Initiative mehr zeigte, kam die sozialpolitische Gesetzgebung nicht wesentlich voran. Nur wenn Bismarck die Vorschläge, die aus der preußischen und Reichsbürokratie oder der Öffentlichkeit gemacht wurden, wie ab 1880 und noch einmal 1887 aufgriff, gab es signifikante Fortschritte. Ohne ihn wäre die Grundlegung der deutschen Sozialversicherung zwar nicht völlig ausgeblieben, aber doch später gekommen – vielleicht schon in den 1890er Jahren unter Wilhelm II., sehr wahrscheinlich aber wohl nach der Jahrhundertwende, als eine Welle sozialpolitischer Aktivität nicht nur durch Deutschland, sondern durch die meisten entwickelten Staaten Europas lief. Allerdings: Die Sozialversicherung, die nach langen Beratungen in Verwaltung, Bundesrat und Reichstag während der 1880er Jahre schließlich Gesetz wurde, war nicht die, die Bismarck eigentlich gewollt hatte. Ihm hatte eine ganz oder zumindest zu großen Teilen staatlich finanzierte Versicherung vorgeschwebt. Seine Vorstellung von Sozialpolitik war geprägt durch die Erfahrungswelt preußischer Großgrundbesitzer. Bismarck war ein ostelbischer Gutsherr. Wie diese traditionell für ihre Landarbeiter gesorgt hatten, um sich unbedingte Treue und Gehorsam zu erkaufen, wollte er auch die Industriearbeiter für den Staat gewinnen. Es ist fraglich, ob diese Strategie aufgegangen wäre. Sie war in mehr als einer Hinsicht von gestern: Selbst auf dem flachen Land Ostelbiens änderten sich die Dinge, und die Mentalität der städtischen Fabrikarbeiterschaft war ohnehin eine andere. Die Probe aufs Exempel wurde jedoch gar nicht gemacht. Bei Kranken- und Unfallversicherung gab es letzten Endes keinen Reichszuschuss, bei der Invaliditäts- und Altersversorgung schoss die Staatskasse nur vorübergehend etwas zu. Das lag unter anderem daran, dass Bismarck seit 1883 neben seiner ursprünglichen Absicht mit der Sozialversicherung noch eine weitere verfolgte: die Instrumentalisierung ihrer Institutionen gegen den Reichstag. Doch weder das eine noch das andere Ziel erreichte er. Die Sozialversicherung immunisierte die Industriearbeiter nicht gegen den Sozialismus. Und ihre genossenschaftlichen Selbstverwaltungen ließen sich nicht gegen das Parlament ausspielen. Die Organisationen der Krankenkassen kamen sogar häufig unter sozialdemokratischen Einfluss. Das trug dann zwar langfristig durchaus zur gesellschaftlichen Integration der
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Arbeiterschaft bei – aber ganz anders als vom patriarchalisch denkenden ersten Reichskanzler geplant. Von den drei während der 1880er Jahre begründeten Zweigen der Sozialversicherung entsprach die Unfallversicherung noch am ehesten Bismarcks patriarchalischem Ansatz. Nur hier gab es mit der Reichsversicherungsanstalt eine zentralstaatliche Kontrollinstanz. Obwohl ihre Entstehung von den heftigsten Konflikten begleitet gewesen war, spielte die Unfallversicherung ironischerweise in der Praxis gegenüber den anderen Versicherungen die relativ unwichtigste Rolle. Das Volumen der in ihrem Rahmen ausgezahlten Leistungen war schon im Kaiserreich das Geringste – und blieb es bis heute. Zum bedeutendsten Zweig der Sozialversicherung wurde dagegen schon früh die Krankenversicherung, das dem Reichskanzler von Theodor Lohmann «untergeschobene Kind». Muss man statt Bismarck deshalb Lohmann als Vater der deutschen Sozialversicherung ansehen? Manches spricht auf den ersten Blick dafür. Sein tief im christlichen Glauben fundierter Idealismus, kombiniert mit einer ausgesprochenen pragmatischen Wahl der Mittel zur Erreichung seiner Ziele, machte ihn zum vielleicht wirkungsmächtigsten deutschen Bürokraten seiner Zeit. Ebenso rastlos wie virtuos balancierte er auf dem schmalen Grat zwischen Verwaltungstätigkeit und Politik. Zentrale Elemente der Sozialversicherung – die Heranziehung der Versicherten zur Finanzierung, ihre damit zusammenhängende Stellung in der Selbstverwaltung und deren starke Ausprägung – waren nicht zuletzt sein Werk. Die Krankenversicherung geht direkt, die Invaliditäts- und Altersversorgung indirekt zu großen Teilen auf Lohmanns Ideen zurück. Wie Bismarcks lässt sich freilich auch Lohmanns Anteil am Zustandekommen der Sozialversicherung leicht überschätzen. Tatsächlich war der Vortragende Rat natürlich noch mehr als der Reichskanzler von den strukturellen Bedingungen und Machtverhältnissen abhängig, die er vorfand. Bei der Krankenversicherung bauten seine Arbeiten auf den schon bestehenden Strukturen und Organisationen der Kommunen und Gewerkschaften auf. Er konnte auch nur dort erfolgreich agieren, wo andere Akteure ihn ließen. Bei der Unfallversicherung wurde er auf halbem Weg ausgebootet. Das Resultat fand ebenso wenig seine Zustimmung wie später die Invaliditäts- und Alterssicherung. In beiden Fällen störte ihn der Zwangscharakter, der seinen Vorstellungen diametral zuwiderlief, genau wie die von Reichs- und Landesversicherungsanstalten aus-
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geübte staatliche Kontrolle. Auch wenn es seine langjährigen Kollegen waren, die während der späten 1880er Jahre den letzten Zweig der Sozialversicherung am Ende glücklich durch die Gremien bugsierten: Sie hatten doch ihre eigenen Ideen und hatten diese auch schon bei der Kranken- und Unfallversicherung eingebracht, die nie allein Lohmanns oder Bismarcks Werk waren. Neben dem Kanzler, seinem Ratgeber und anderen Verwaltungsfachleuten wirkten außerdem noch viele weitere Akteure mit: Externe Gutachter und Autoren aus Wissenschaft und Praxis, Interessenverbände, die Vertreter der Einzelstaaten im Bundesrat und nicht zuletzt die der Parteien im Reichstag. Oft überlappten sich die Funktionen. Industrielle Arbeitgeber innerhalb wie außerhalb des Parlaments gaben bereits Ende der 1870er Jahre wichtige Anstöße, die keineswegs allein von Lohmann und Bismarck aufgegriffen und verwendet wurden – wenn auch nicht immer im Sinn der Initiatoren. Die Konservativen stützten und bestärkten Bismarck in seinem paternalistischen Kurs. Liberale wie Zentrum verhielten sich dagegen zunächst abwartend, wenn nicht abwehrend. Von sozialpolitischen Initiativen des Reichs fürchteten sie Konkurrenz für Caritas und Hilfskassen auf freiwilliger Basis. Viele Liberale witterten auch unangemessene Eingriffe in Marktmechanismen. Als der Stein allerdings einmal ins Rollen gekommen war, legten sie durchaus eigene Entwürfe vor, etwa für das Unfallgesetz 1882. Letztlich trugen Zentrum und Nationalliberale wesentlich zum weitgehenden Verzicht auf Staatszuschüsse wie zur Etablierung der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung bei. Auch die Ausweitung des Kreises der Versicherten, die schon Mitte der 1880er Jahre begann, ging größtenteils auf sie zurück. Die deutsche Sozialversicherung hatte also viele Väter. Sie war weder Otto von Bismarcks noch Theodor Lohmanns alleiniges Kind. Eher ähnelt sie – um die Metapher etwas weiter zu strapazieren – einem im Labor gezeugten Retortenbaby, bei dem die Unterlagen über den Samenspender verloren gegangen sind, so dass der Vater nicht mehr bestimmt werden kann. Und sie war ein «Wunderkind», denn eine Mutter hatte sie nicht. Frauen spielten bei ihrer Geburt keine Rolle. Selbst als Objekt der Versicherung kamen sie zunächst wenig ins Blickfeld. Erst der in den 1880er Jahren begonnene Ausbau des deutschen Sozialstaats eröffnete Frauen
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langsam Möglichkeiten, um im bislang männlich dominierten öffentlichen Raum des Kaiserreichs Stimme und Einfluss zu gewinnen. Das Verhältnis der Sozialdemokratie zur Sozialversicherung hat sich ähnlich entwickelt, auch wenn die Partei von vornherein ein Anlass für ihre Einführung war. August Bebel und seine Mitstreiter im Reichstag lehnten ebenso wie die meisten Industriearbeiter die Versicherungsgesetze zunächst ab. Zu offensichtlich erschien der Zusammenhang von Reform und Repression, von Sozialversicherung und Sozialistengesetz: Die Bezeichnung von Bismarcks Politik als «Zuckerbrot und Peitsche» hat hier ihren Ursprung. Zudem empfanden viele Arbeiter die Versicherungsleistungen als zu gering, das Ausmaß staatlicher Aufsicht dagegen als zu groß. Die Institutionen der Sozialversicherung wurden anfangs oft als Mittel sozialer Kontrolle beargwöhnt, eine zu starke Stellung der Unternehmer in der Selbstverwaltung besonders der Unfallversicherung ebenso kritisiert wie die Höhe der von den Arbeitnehmern zu leistenden Beiträge. Mit der Zeit arrangierten Arbeiter und Arbeiterbewegung sich jedoch mit den Versicherungsgesetzen. Die Gewerkschaften machten dabei den Vorreiter. Aber Ende der 1890er Jahre, bei der Novellierung der Altersversicherung, stimmte auch die SPD im Reichstag zum ersten Mal einer sozialpolitischen Vorlage zu. Das stetige und steile Anwachsen der Versicherungsleistungen registrierten die Beschäftigten mit Wohlwollen. Die organisierten sozialistischen Arbeiter entdeckten und nutzten die Möglichkeiten, die ihnen Institutionen der Sozialversicherung boten. Schon kurz nach der Jahrhundertwende verdienten Tausende von Mitgliedern der sozialdemokratischen Freien Gewerkschaften ihr Geld in den Organisationen der Krankenkassen. Die Gewerkschaftsverbände selbst beschäftigten gleichzeitig nur einige Hundert hauptamtliche Funktionäre. Wegen gewerkschaftlicher oder politischer Aktivität für die SPD entlassene Arbeiter ließen sich in der Krankenkassenverwaltung versorgen – ohne dass Partei oder Berufsverband dafür zur Kasse gebeten werden mussten. Die Institutionen der Sozialversicherung waren für die Sozialdemokratie aber nicht nur in materieller Hinsicht interessant. Sie trugen auch zur Überwindung sozialer Isolation und zur Integration der Arbeiterbewegung in die Gesellschaft des Kaiserreichs bei. 1902 waren freie Gewerkschafter und SPD-Mitglieder in den Mitbestimmungsorganen der
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Sozialversicherung mit über 600 000 Posten vertreten – wobei viele davon durch «Multifunktionäre» wahrgenommen worden sein dürften. Hier saßen sie Seite an Seite mit Vertretern anderer Parteien, mit liberalen und katholischen Zentrumsgewerkschaftern und mit Unternehmern. Hier wurde gestritten und um Einfluss oder Posten gekämpft. Dabei kam man aber auch ins Gespräch miteinander, kam sich näher, lernte, Konflikte durchzustehen und Kompromisse zu schließen. Anfänglich trugen die Kontakte zwischen Arbeitern und Bürgern, zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern in den Institutionen der Sozialversicherung allerdings nicht dazu bei, Klassengegensätze zu entspannen. Das galt besonders in der Unfallversicherung, wo die Höhe der Versicherungsleistung wesentlich davon abhing, wessen Sicht der Unfallursachen anerkannt wurde. Statt, wie eigentlich beabsichtigt, soziale Gegensätze zu befrieden, machte die Sozialversicherung diese in der Praxis zunächst eher noch sichtbarer. Mit der Zeit wurden aber die Klassengegensätze durch die Versicherungsinstitutionen kanalisiert, ihre soziale Sprengkraft eingehegt und langfristig entschärft. Die Betroffenen akzeptierten zunehmend die Konfliktlösung durch Schiedsgerichte, Arbeitersekretariate und Reichs- oder Landesversicherungsanstalten. Auseinandersetzungen zwischen Beschäftigten und Unternehmern wurden also in wachsendem Maß institutionalisiert und verrechtlicht. Diese Institutionalisierung und Verrechtlichung von Konflikten ging mit einer wachsenden Bürokratisierung des Versicherungswesens einher. Institutionalisierung, Verrechtlichung und Bürokratisierung können freilich als klassische Indikatoren von Modernisierung gelten. Mit anderen Worten: Die Grundlegung der Sozialversicherung trug im Kaiserreich einiges dazu bei, Deutschland in die Moderne zu katapultieren. Die Einhegung von Klassenkonflikten durch Institutionen, Rechts- und Verwaltungsvorschriften bereitete dabei jene «industrielle Demokratie» vor, die sich nach 1918 in institutionellen Arrangements zwischen Arbeiterbewegung, Unternehmerverbänden und Staat ausformte. Gleichzeitig entwickelten die Selbstverwaltungs- und Mitbestimmungsorgane der Sozialversicherung sich zu Schulen «sozialer Demokratisierung». Waren die «Väter» der deutschen Sozialversicherung also auch Agenten der Modernisierung und Demokratisierung Deutschlands? Für Bismarck mag man das allenfalls in dem Sinn bejahen, in dem Lothar Gall es in seiner klassischen Biographie des Reichskanzlers formuliert hat – näm-
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lich als nicht beabsichtigte Folgewirkung einer Politik, die ganz andere, ja tatsächlich entgegengesetzte Ziele verfolgte. Denn moderner machen wollte Bismarck Deutschland eindeutig nicht. Die wichtigste gesellschaftliche Ausprägung der Moderne, die Bürokratie, war ihm ebenso ein Gräuel wie die Demokratie. Wirtschaftliche Modernisierung in Form von Industrialisierung akzeptierte er nur, weil es dazu keine Alternative gab, wenn man militärisch-technologisch im Wettlauf der Nationen mithalten wollte. Bismarck wollte durch die Grundlegung der Sozialversicherung Deutschland deshalb auch nicht modernisieren. Er wollte es vielmehr gerade gegen die Moderne immunisieren und imprägnieren, das alte Deutschland konservieren. Bezeichnenderweise orientierte er sich mit seiner paternalistischen Sozialpolitik am Modell der traditionellen ostelbischen Gutsherrschaft. Dieses im Grunde altständische Modell konnte der Kanzler gegen den hinhaltenden Widerstand der Bürokraten vom Schlage Lohmanns und der Parteien nicht durchsetzen. Waren diese der Moderne mehr zugeneigt als Bismarck? Für die Parteien ist das im Zusammenhang mit der Grundlegung der Sozialversicherung vielfach behauptet worden. Dahinter steht allerdings nicht selten Traditionspflege. Wer sich heute in der Nachfolge insbesondere von Zentrum und Liberalen sieht, rühmt deren Haltung zur Sozialgesetzgebung der 1880er Jahre gern als modern, weil zukunftsweisend. Das offenbart nicht nur ein unscharfes, letztlich beliebig auszufüllendes Verständnis von «Moderne». Es verführt auch zur selektiven Wahrnehmung allein der Aspekte, die solche Traditionskonstruktionen stützen. Tatsächlich spielten für die Haltung von Zentrumspartei und Liberalen viele verschiedene Beweggründe eine Rolle, die vielleicht teilweise als «modern» gelten können, teilweise nicht, teilweise in dieser Hinsicht kaum zu klassifizieren sind: das Bemühen um gesellschaftlichen Ausgleich, die Abwehr des Sozialismus und die Verhinderung einer sozialen Revolution, religiöse Motive, die Wahrnehmung von Partikularinteressen und so weiter. Mit Ausnahme der Interessenwahrnehmung bewegten all diese Motive ebenfalls mehr oder weniger Theodor Lohmann. Auch er ist dem Schicksal nicht entgangen, für politische Positionen vereinnahmt zu werden. So wurde sein Eintreten für präventiven Arbeiterschutz und insbesondere für die ausschließliche Schuldhaftung der Unternehmer bei Unfällen als verpasste «linke» Alternative zu «Bismarcks Sozialversicherung» dargestellt,
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die vermeintlich nur Unternehmerinteressen gedient habe. Diese Interpretation übersieht freilich nicht allein, dass dem Reichskanzler seine politischen Absichten wichtiger waren als Interessen der Unternehmer. Deren Wünsche wischte er etwa beim Unfallversicherungsgesetz 1884 als irrelevant vom Tisch. Sie ignoriert auch Lohmanns Drängen auf Beiträge der Arbeitnehmer zur Sozialversicherung, seine strikte Ablehnung von Staatszuschüssen und überhaupt jeder staatlichen Kontrolle. Einiges plausibler ist es, Lohmanns Position vor allem durch Ablehnung eines Sozialstaats geprägt zu sehen. Tatsächlich ging es ihm im Kern um die Errichtung eines rechtlichen Rahmens, in dem sich die gesellschaftlichen Kräfte eigenverantwortlich zu Genossenschaften zusammenschließen konnten, um gemeinsam Risiken wie Krankheit, Unfall und Invalidität abzusichern. Gelegentlich wird Lohmann deshalb sogar als Ahnherr der «sozialen Marktwirtschaft» reklamiert. Jedenfalls stellen ihn seine in christlicher Weltanschauung wurzelnden Ideale sozialer Harmonie und «sittlicher Verpflichtung» der oberen Schichten, für die unteren zu sorgen, in konservative Traditionslinien. Gleichzeitig verbanden Lohmanns Betonung individueller Eigenverantwortung und seine Abneigung gegen staatliche Interventionen in Wirtschaft und Gesellschaft ihn aber auch mit liberalem Gedankengut. Schon seinen Zeitgenossen gab er manche Rätsel auf. Als Lohmann 1906 starb, beanspruchten ihn sowohl prominente Vertreter des Protestantismus aus dem linksliberalen wie dem konservativen Spektrum für sich. «Er war unser», behauptete die Zeitung der christlich-sozialen Bewegung des ehemaligen Hofpredigers der Hohenzollern, enragierten Antisemiten und Konservativen Adolf Stoecker. Ein liberales Blatt widersprach prompt, ein Konservativer sei der Verstorbene «wohl schwerlich gewesen». Der Linksliberale Friedrich Naumann ging noch einen Schritt weiter, indem er Lohmann in einem Nachruf warme Sympathien für den Liberalismus und sogar «Herzensbeteiligung an den Kämpfen der Arbeiterschaft» unterstellte.38 Damit irrte der politisierende Pastor Naumann sich allerdings gewaltig. Denn noch kurz vor seinem Tod hatte Theodor Lohmann Naumann, der ein Bündnis zwischen liberalen Parteien und SPD anstrebte, zwar gerühmt, ein «begabter und geistvoller Mann» zu sein: Doch die «Wege, die er in der Politik eingeschlagen hat, habe ich sehr bedauert».39 Für den politischen Liberalismus hatte Lohmann nur Verachtung übrig. Die
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«liberalen Philister», schrieb der evangelikale Verwaltungsmann schon während des «Kulturkampfs», hätten die Prinzipien «Gewissensfreiheit, Selbständigkeit der Kirche, Selbstverwaltung, Decentralisation» preisgegeben zugunsten einer völlig unkritischen Verehrung des «Götzen Staat». Auch bei späteren Gelegenheiten ließ er kein gutes Haar am «bereits völlig demoralisierten Liberalismus», ob in der freisinnigen oder der «national-miserablen» Parteivariante. Zur Aufstellung eines vernünftigen politischen Programms sei keine davon fähig. Als politisches «System» laufe der Liberalismus «im Namen der abstrakten Freiheit auf völlige Geltungslosigkeit des Individuums und der kleineren politischen und socialen Kreise gegenüber der fingierten Vertretung der Gesammtheit» hinaus. Das sei auf Dauer nicht tragfähig und müsse «schließlich zum Zusammenbruche der gegenwärtigen Cultur» führen.40 Über die konservativen Parteien dachte Lohmann kaum besser. Auch sie hätten kein konstruktives Programm, keinen Mumm und seien «nicht regierungsfähig». Während der parlamentarischen Auseinandersetzungen um die Sozialversicherung urteilte er 1881 vernichtend: «Die lumpigen Conservativen sind zu dumm und jämmerlich.» Ein Angebot, als konservativer Kandidat für den Reichstag zu kandidieren, lehnte Lohmann im gleichen Jahr umgehend ab. Und nicht nur das: Seiner Familie schrieb er, wenn er denn überhaupt wählen gehen würde, dann «sicher keinen Konservativen».41 Obwohl er engagierter Protestant war, fielen von seinen Äußerungen über Parteien die über das Zentrum noch am mildesten aus. Die Autonomie der Kirchen gegenüber dem Staat war ihm stets wichtig gewesen, und die Verteidigung dieser Autonomie durch die Zentrumspartei während des «Kulturkampfs» weckte in Lohmann einige Sympathien. Auch in sozialpolitischer Hinsicht gab es Gemeinsamkeiten. Im Parlament arbeitete Lohmann am engsten mit Zentrumsabgeordneten zusammen. Diese träten, urteilte er einmal, in den Reichstagskommissionen noch «am entschiedensten und am geschicktesten auf; im Ganzen bin ich aber immer wieder erstaunt gewesen über die Hülfslosigkeit dieser Parlamentarier». Die Aussage war bezeichnend für seine grundsätzliche Einstellung zu Parteipolitikern, denen er sich als Verwaltungsexperte fachlich wie moralisch überlegen fühlte. Der Reichstag war für ihn «eine Gesellschaft von ziemlich kläglichen Schwätzern». Ausschließlich an Interessen orientiert, seien Abgeordnete und Parteien zu sachlicher Politik nicht
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fähig. Das galt seiner Einschätzung nach letzten Endes auch für die Zentrumspolitiker, denen man ebenso wenig das Regieren überlassen könne wie anderen Parlamentariern, weil sie dann, wie Lohmann sarkastisch kommentierte, «schöne Dinge anrichten würden».42 Auf den ersten Blick überraschend ist, dass Theodor Lohmann sich in seinen Briefen verhältnismäßig positiv über die Sozialdemokratie äußerte. «Bei Bebels Rede», kommentierte er 1881 eine Grundsatzdebatte über das Sozialistengesetz im Reichstag, «hatte ich wieder entschieden den Eindruck, daß er gegenwärtig der bedeutendste Parlamentarier ist, den wir haben, und daß man trotz aller Verranntheit vor dieser Kraft des Geistes und der Überzeugung Respekt haben muß.» Lohmann war freilich alles andere als ein heimlicher Sozialdemokrat. Aus seiner Sicht schien «der Socialismus auch im Verlauf der Culturentwicklung wirklich nur die Consequenz der gewöhnlichen liberalen Anschauung» und wurde von ihm genauso abgelehnt wie diese. Sein sozialpolitisches Engagement war und blieb auch immer dadurch motiviert, «der Social-Demokratie einen Damm entgegenzusetzen». Die gelegentlich geäußerten Sympathien für die SPD hatten nicht zuletzt mit deren Fundamentalopposition gegen das «System» zu tun, die Lohmann teilte, wenn auch aus anders gelagerten Motiven.43 An den Reichstagswahlen beteiligte er sich nicht. Dahinter steckte weniger politische Heimatlosigkeit als grundsätzliche Ablehnung von Parteipolitik. Das «wüste, gewissenlose Treiben der Parteien», geprägt von Materialismus statt Idealismus, zersetzte aus seiner Sicht nur die Gesellschaft. Parlamentarische Willensbildung erschien ihm von Chaos und Inkompetenz geprägt. Gegen alle Erfahrung hoffte er auf das autoritäre Eingreifen von Kaiser oder Kanzler, um «einen nach allen Seiten gerechten Rechtszustand zu setzen». Für sich selbst nahm er als Experte ebenfalls in Anspruch, statt partikularer Interessen die Interessen der «Gesamtheit» im Auge zu haben. Von dieser Überzeugung war auch sein sozialpolitisches Wirken geprägt.44 Lohmann stand damit in einer beamten- und obrigkeitsstaatlichen Tradition, die lange als spezifisch deutsch galt. Offensichtlich wurde die Grundlegung der deutschen Sozialversicherung von ihr beeinflusst. Die jüngere historische Forschung hat allerdings die Vorstellung eines deutschen Sonderwegs in dieser Hinsicht beträchtlich relativiert. Auch in Großbritannien und Frankreich ist die Entstehung des Sozialstaats stark
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von «oben», unter Mitwirkung von beamteten Experten, vorangetrieben worden. In Deutschland war dagegen der Anteil der Zivilgesellschaft an seiner Grundlegung größer als lange angenommen. Bürgergeist hat dazu ebenso beigetragen wie Beamte und Staatsverwaltung. Zudem wird in der Forschung mittlerweile wesentlich mehr die Ambivalenz staatlichen Expertentums thematisiert: Denn sosehr dieses lange als Ausdruck konservativer Überhänge im Sinne eines Obrigkeitsstaates verstanden wurde, ist es doch gerade auch unzweifelhafter Indikator von Modernität. Theodor Lohmann war nicht nur als Verwaltungsexperte mit der Grundlegung der deutschen Sozialversicherung befasst. Er engagierte sich auch als Publizist, in Vereinen, in kirchlichen Organisationen dafür – als Bürokrat wie als Bürger. Das machte ihn nicht zu einem Liberalen. Machte es ihn zu einem Champion der Moderne? Der deutsche Sozialstaat, an dessen Fundierung er mitwirkte, war ebenso modern wie der von Lohmann betriebene Ausbau des Arbeiterschutzes. Mit Arbeiterschutz und Sozialversicherung vermehrten sich die Institutionen: Fabrikinspektion, Ortskrankenkassen, Schiedsgerichte, Berufsgenossenschaften. An die Stelle karitativer sozialer Fürsorge traten Rechtsansprüche auf Versicherungsleistungen, die bürokratisch verwaltet wurden – einerlei ob von den Versicherten selbst oder von staatlichen Stellen. Es kam zu einer Ausdifferenzierung der traditionellen Armenpflege in verschiedene Versicherungszweige. All das sind klare Anzeichen von Modernität. Wie Bismarck konnte Lohmann sich auch durchaus vorstellen, die neuen Institutionen der Sozialversicherung gegen Parteien, Reichstag und die demokratischen Elemente der Reichsverfassung in Stellung zu bringen. Als der Kanzler seinem Vortragenden Rat am 27. September 1883 den Plan offenbarte, auf diese Weise das Parlament zu entmachten, reagierte dieser überhaupt nicht geschockt. Im Gegenteil: Lohmann hielt das für einen «schönen Gedanken», der nur leider unausführbar sei. Für die parlamentarische Demokratie hatte er keinerlei Sympathien. In Parlamenten kämen Entscheidungen nur auf dem Weg «des unberechenbaren Zusammenwirkens atomistischer Kräfte» zustande. Parteien und Parlamentarier verfolgten lediglich «Einzelinteressen», ihnen fehle «politisches Verantwortlichkeitsgefühl». Der heute als ein zentrales Element von Demokratie verstandene Gedanke, dass Parlamente dem Aushandeln und Ausgleich von Interessen dienen, blieb Lohmann stets fremd.
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Dem Verwaltungsexperten erschienen die dabei erzielten Kompromisse immer unbefriedigend gegenüber den Lösungen, die er subjektiv für ideal und «richtig» hielt.45 Das war symptomatisch für das Spannungsverhältnis, in dem das moderne Expertentum zur Demokratie steht. Dieses Spannungsverhältnis zieht sich durch die gesamte Entwicklung der Sozialversicherung während des Kaiserreichs. Denn im Lauf der Zeit professionalisierten deren Institutionen sich zunehmend. Die Leistungen der Versicherung konnten damit zielgenau weiter ausdifferenziert werden und verbesserten sich. Gleichzeitig wurde durch die Professionalisierung aber auch die Selbstverwaltung eingeschränkt. Je moderner also die Sozialversicherung wurde, desto mehr verloren sich Möglichkeiten zur Mitbestimmung der Versicherten. Mit der Modernisierung ging ein Verlust sozialer Demokratie als Kollateralschaden einher. Auch in anderer Hinsicht ist eine blauäugige Idealisierung des modernisierenden Charakters der Sozialversicherung ebenso fragwürdig wie die ihrer «Väter». Bei der Konstruktion der Krankenversicherung hat Theodor Lohmann sorgfältig darauf geachtet, dass darin Leistungen für die Behandlung von Folgen körperlicher Auseinandersetzungen, Alkoholismus, Syphilis und anderen Geschlechtskrankheiten ganz oder teilweise ausgeschlossen wurden. Solche moralischen Kriterien hatte es schon im traditionellen Armenrecht gegeben. Sie wurden bei der Grundlegung der deutschen Sozialversicherung in den 1880er Jahren aber noch einmal verschärft – und nicht nur auf Lohmanns Betreiben. Oft erfolgte der Ausschluss von Leistungen auch aus Gründen gesellschaftlicher Zweckmäßigkeit: Pflege für Unfallopfer oder Invaliden etwa gab es hauptsächlich nur dann, wenn Aussicht bestand, dass diese dadurch wieder arbeitsfähig wurden, die Investition sich also «lohnte». Parallel zur Bürokratisierung und Ausdehnung der Versicherung gewannen Ausschluss und Selektion bestimmter Gruppen von Versicherten nach solchen Kriterien weiter an Bedeutung. Der Erste Weltkrieg und die Weltwirtschaftskrise trieben diese Entwicklung voran. Im Nationalsozialismus fand sie schließlich ihren Höhe- oder besser Tiefpunkt. Die Behandlung der sogenannten Asozialen und die als «Euthanasie» verbrämte Ermordung von Behinderten standen an ihrem Ende. Theodor Lohmann und die vielen anderen «Väter» der deutschen Sozialversicherung im Kaiserreich kann man dafür nicht verantwortlich
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machen. Der tiefreligiöse Lohmann hätte sich vielleicht sogar den Protesten gegen die «Euthanasie»-Politik angeschlossen, die vor allem von überzeugten Christen ausging, wenn er die Zeit des Nationalsozialismus noch erlebt hätte. Sicher ist das aber nicht. Denn er verband auch eine entschiedene Ablehnung von Parteien und parlamentarischer Demokratie mit Sympathien für korporatistische Ordnungen. Und seine Neigung zu apokalyptisch-eschatologischem Denken begünstigte trotz aller Enttäuschungen, die er in dieser Hinsicht erlebte, eine immer wieder aufkeimende irrationale Hoffnung auf das segensreiche Eingreifen von Kanzler, Kaiser oder einer anderen Führerpersönlichkeit im Interesse der nationalen «Gemeinschaft». Sosehr die Grundlegung der deutschen Sozialversicherung eine moderne Errungenschaft war, so sehr steckten in ihr doch Keime für ganz verschiedene Modernen.
O K AHA N D JA , 2 1. O K TO B ER 1885
Samuel Maharero (vorne) mit einem Gefolgsmann, um 1895
Samuel Maharero unterschreibt einen «Schutzvertrag» Okahandja, Oktober 1885 Samuel Maharero unterschreibt einen21. «Schutzvertrag»
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ie Truppe machte einen furchteinflößenden Eindruck: 600 Köpfe stark, darunter zahlreiche kampferprobte Männer, mit Gewehren bewaffnet, viele zu Pferd. Neben reichlich Munition führten sie auf Ochsenkarren auch Proviant mit sich. Das karge, nur von Dornbüschen bewachsene Hochland bot kaum Möglichkeiten, so viele Menschen zu ernähren. Selbst viele der Wasserlöcher waren jetzt, am Ende der Trockenzeit, fast versiegt. Und sie waren weit von der Heimat entfernt, auf fremdem Gebiet. So zogen sie nach Norden, um neues Land für sich zu erobern. Den Bewohnern des Hererolandes hatte der Anführer der Truppe versichert, sie kämen in Frieden. Nur durchziehen wollten sie. Aber so freundlich er sich sonst auch gab, bat er doch den Stammesführer oder «Kapitein» der Herero in einem vorausgesandten Brief nicht um Verpflegung, sondern forderte sie: «Sorgt doch dafür, daß ich längs des Weges das Erforderliche für mich und meine Leute erhalte.»1 Die Herero waren auf der Hut. Nach Okahandja ließen sie die Truppe der Witbooi erst gar nicht hinein. Stattdessen wiesen sie ihnen ein Lager einige Kilometer südlich an, im Tal des Swakopflusses. Nach den ersten Regenfällen führte der Fluss wieder etwas Wasser. Aber es gab noch einen anderen Grund, warum Kapitein Maharero von Okahandja die Leute von Hendrik Witbooi hier ihr Lager aufschlagen ließ. An den Flussufern bildete dichtes Buschwerk einen guten Sichtschutz für bewaffnete Posten der Herero, die auf die Ankömmlinge Acht gaben. Und wenn es zum Kampf mit den Witbooi kommen sollte, boten die Deckung der Büsche und die erhöhte Position am Talrand einen strategischen Vorteil. Das Treffen stand von vornherein nicht unter einem guten Stern. Auf beiden Seiten war das Misstrauen groß. Seit die Witbooi und andere Namastämme vor Jahrzehnten von Süden vom Kap der Guten Hoffnung zugewandert waren, hatte es zwischen ihnen und den Herero immer wieder kriegerische Auseinandersetzungen gegeben. Im Kapland hatten die Nama mit den erst niederländischen, dann britischen Kolonialherren
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Kontakt gehabt. Viele von ihnen sprachen Afrikaans, die Sprache der holländischen Siedler am Kap. Ihre Führer nannten sie wie diese «Kapitein», eine Praxis, die auch die Herero oft übernahmen. Viele Nama trugen Kleidung wie die Weißen. Die meisten verfügten über Pferde und Gewehre aus europäischer Produktion, als sie nach Norden ins Land der Herero kamen. Die Herero, selbst im 17. und 18. Jahrhundert aus Zentralafrika eingewandert, kannten bis dahin weder Pferde noch Feuerwaffen. Trotz zahlenmäßiger Überlegenheit waren sie den Neuankömmlingen zunächst militärisch nicht gewachsen. Die Nama raubten das Vieh der Herero und eigneten sich deren Weideplätze an. Einige Herero, darunter auch die von Okahandja, unterwarfen sich schließlich notgedrungen den Eindringlingen. Sie boten den Nama ihre Dienste an und fungierten fortan als deren Hilfstruppen. So erniedrigend das von ihnen empfunden wurde, schützte es sie doch wenigstens halbwegs vor weiteren Angriffen auf ihre Herden und Lehmhütten. Die mit den Nama kollaborierenden Herero wurden zudem auch mit deren Pferden und Waffen vertraut. 1863 rebellierten die Herero unter Führung von Maharero gegen die Namaherrschaft. Von europäischen Händlern und Missionaren wurden sie mit Waffen und Munition unterstützt. Sieben Jahre lang tobte der Kampf hin und her. Die militärische Ausrüstung beider Seiten war mittlerweile annähernd vergleichbar. Die zahlenmäßige Überlegenheit der Herero gab ihnen daher zunehmend das Übergewicht. 1870, als in Europa der deutsch-französische Krieg begann, konnten in Südwestafrika die Geistlichen der Rheinischen Missionsgesellschaft, die seit fast dreißig Jahren im Land tätig waren, den Frieden von Okahandja vermitteln. Zukünftig sollte das Land zweigeteilt sein: Die Herden der Nama würden im Süden weiden, die der Herero im Norden. Der Frieden von Okahandja hielt zehn Jahre lang. Das war schon erstaunlich viel. Denn im Friedensvertrag hatte man versäumt, eine eindeutige Grenze zwischen Herero- und Namaland festzulegen. Selbst wenn das geschehen wäre, hätten wohl weder weidende Rinder noch ihre Hirten sich daran gehalten – zumal beider Zahl unter Friedensbedingungen schnell wuchs. 1880 provozierte ein Streit über Weiderechte neue Zusammenstöße, die schnell eskalierten. Im Hereroland gab Maharero den Befehl, alle dort lebenden Nama zu töten. Hendrik Witbooi, der Sohn eines Namakapiteins aus dem Süden, der sich gerade im Norden aufhielt, wäre
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um ein Haar dem Mordbefehl zum Opfer gefallen. Die Erfahrung machte ihn in den nächsten Jahren zum gefährlichsten Gegner Mahareros. Dessen ältester Sohn und designierter Nachfolger wurde Ende 1880 in einem Gefecht gegen die Nama getötet. Sein jüngerer Bruder Samuel Maharero übernahm für den bereits 60-jährigen Vater danach zunehmend diplomatische und militärische Aufgaben. Als 1882 die Missionare wieder einen Frieden mit einigen der Namastämme vermittelten, überzeugte Samuel andere Gruppen der Herero, sich anzuschließen. 1884 führte Samuel Maharero im Westen, an der Küste, einen Feldzug gegen weiterkämpfende Nama. Der Mittzwanziger erwarb sich dabei den Ruf eines jugendlichen Hitzkopfs. Währenddessen attackierte Hendrik Witbooi mit seinen Männern von Süden her die Herero von Okahandja. Nach ergebnislosen Kämpfen fanden beide Seiten sich schließlich bereit, ebenfalls ein neues Friedensabkommen zu schließen. Entsprechend misstrauisch waren die Herero, als die Witbooi nach einem Jahr im Oktober 1885 wieder bewaffnet anrückten. Zwar erklärte Hendrik Witbooi, er wolle lediglich weiter in den Norden ziehen, um dort für seinen Stamm neues Siedlungsland zu suchen. Doch am Vorabend seines Eintreffens am Swakop schlich sich einer seiner Kundschafter, ein wegen wiederholter Viehdiebstähle von den Stammesgenossen ausgestoßener Herero, in das Lager des alten Maharero und sagte diesem, die Witbooi kämen «mit unlauteren Absichten». Samuel Maharero, der dem Frieden ohnehin nicht traute und seinen Vater dafür kritisierte, diesen abgeschlossen zu haben, sah sich bestätigt. Aber auch Hendrik Witbooi glaubte Grund zum Misstrauen zu haben. Im Vorfeld hatte er Hinweise darauf erhalten, nach denen die Herero sich nicht an den Friedensvertrag des letzten Jahres halten wollten. Als seine Leute das Lager am Swakop bezogen, soll zudem ein Namajunge aus Okahandja ihn gewarnt haben, die Herero wollten ihn umbringen.2 Das erste Treffen Hendrik Witboois mit dem alten Maharero verlief dennoch freundschaftlich. Dabei bildeten die beiden schon optisch ein Kontrastpaar. Der alte Maharero war ein Bulle von einem Mann, groß und schwer. Neben ihm wirkte der kleine und dürre Hendrik Witbooi wie ein hohlwangiger Asket. Sie rauchten gemeinsam aus einer Pfeife. Dann bat Witbooi um Tee, Kaffee und Zucker. Maharero, der lieber Brandy trank, hatte selbst keine Vorräte davon. Seit einigen Tagen hielten sich aber einige Deutsche in Okahandja auf, die einen Schutzvertrag mit den Herero
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schließen wollten. Maharero hatte sie bisher nicht einmal empfangen. Nun sandte er einen Boten zu den Besuchern aus dem Deutschen Reich mit der Frage, ob sie ihm bei der Bewirtung seines Gastes aushelfen könnten. Und die Deutschen, glücklich darüber, endlich wenigstens beachtet zu werden, gaben nur allzu eifrig aus ihren Vorräten her. Um Tee und Kaffee zu machen, braucht man freilich Wasser. Doch zwischen dem Lager der Witbooi und dem Swakopfluss standen Posten der Herero. Als die Gäste selbst zum Fluss gehen wollten, um Wasser zu schöpfen, rückten diese Posten enger zusammen und ließen sie zunächst nicht durch. Hendrik Witbooi verlangte daraufhin, den alten Maharero noch einmal zu sprechen. Doch der war fort. Schließlich erlaubten die Hereroposten den Witbooi, zwar Wasser für sich selbst zu holen. Die Pferde und Zugtiere durften die Gäste aber nicht an den Fluss führen, um sie zu tränken. Am nächsten Tag war die Stimmung unter den Witbooi ziemlich gereizt. Auf Hendriks Verlangen hin wies der alte Maharero seine Leute an, den Zugang zum Fluss frei zu geben. Wasserbehälter wurden gefüllt, anschließend durften die Pferde und Zugochsen der Witbooi saufen. Kaum aber war das geschehen, schlossen die Herero wieder die Reihen ihrer Posten am Wasser. Daraufhin ließ Hendrik Witbooi die Munitionskisten von den Wagen heben und auspacken. Wenig später kam es zu einem Handgemenge am Fluss. Die Herero wollten weiterhin den Zugang zum Wasser kontrollieren. Einige ihrer Gäste fühlten sich dadurch gedemütigt und waren nicht länger bereit, sich von den Gastgebern gängeln zu lassen. Die Wasserschöpfer der Witbooi ignorierten die Anweisungen der Herero und versuchten sich den Weg ans Wasser mit Gewalt zu bahnen. Die Posten am Fluss schlugen zurück. Schüsse knallten. Mehrere der Witbooi am Wasser lagen tot oder verletzt am Boden. Hendrik und seine Leute im Lager gingen zum Gegenangriff über. Doch jetzt kamen die hinter dem dichten Buschwerk an den erhöhten Rändern des Flussbetts versteckten Herero ihren Stammesgenossen am Wasser zu Hilfe. Der alte Maharero hatte vorsichtshalber alle waffenfähigen Männer zusammenziehen lassen. Die Witbooi standen nicht nur einer mehr als doppelten Übermacht gegenüber. Von ihrer erhöhten und zudem durch die Büsche gedeckten Position waren die Herero auch sonst klar im Vorteil. Während rings um ihn her die Kugeln pfiffen und
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zwei seiner Söhne schon tödlich getroffen waren, gab Hendrik Witbooi, dessen Leuten die Munition knapp wurde, in der Dämmerung den Befehl zur Flucht. Überstürzt zogen die Witbooi sich im Schutz der Dunkelheit wieder nach Süden zurück, wo sie hergekommen waren. Ungefähr vierzig von ihnen blieben tot auf dem Schlachtfeld zurück. Auch die Wagen, die Zugtiere und alle Pferde mussten sie zurücklassen. Ob die zu der Schlacht führende Eskalation unbeabsichtigt war oder zumindest eine der beiden beteiligten Seiten zielbewusst darauf hingearbeitet hat, ist nie eindeutig geklärt worden. Der alte Maharero wollte offenbar ehrlich den Frieden bewahren. Für seinen Sohn Samuel galt das nicht unbedingt. Auch einer von Hendrik Witboois Söhnen prahlte im Vorfeld gegenüber einem Missionar kriegslüstern, zehn der eigenen Leute würden «mit Gottes Hilfe» ausreichen, «Mahareros Herero zu besiegen». Besonders den jungen Männern, die sich an der Wasserstelle am Swakop bewaffnet gegenüberstanden, juckte wohl der Finger am Abzug. Nach einer der Quellen spielte auch Alkohol dabei eine Rolle. Wenige Tage nach dem Gefecht machte der geschlagene Hendrik Witbooi den Herero in einem Brief bittere Vorwürfe: «Ihr wißt wohl, daß ich in friedlicher Absicht nach dort gekommen bin; aber ihr habt mich in euren Kraal gelockt und versucht, mich mitten im Frieden zu ermorden. Ich habe mich lediglich verteidigt, und ihr wißt, wie der Tag abgelaufen ist.» Offenbar vor Wut kochend und von seiner Niederlage unbeeindruckt, drohte er: «Wie früher habe ich das Tor des Krieges nun wieder geöffnet. Krieg sollt ihr nun für alle Zeit haben!»3 In Okahandja waren die siegreichen Herero währenddessen noch damit beschäftigt, die Toten zu begraben und die Verletzten zu verbinden. Beim Versorgen der Verwundeten hatten sich neben den Missionaren auch der aus Berlin entsandte Reichskommissar Göring und seine sechs deutschen Begleiter nützlich gemacht. Es dürften freilich kaum die Fähigkeiten der Deutschen als Krankenpfleger gewesen sein, die den alten Maharero nach der Schlacht dazu bewogen, seine bisher indifferente Haltung gegenüber der deutschen Gesandtschaft aufzugeben und diese nun doch zu empfangen. Vielmehr war es wohl die Hoffnung, die Europäer als Verbündete in dem nun wieder aufgeflammten Krieg mit den Witbooi zu gewinnen – zumal Hendrik Witbooi sich trotz seiner Niederlage alles andere als gewillt zeigte, klein beizugeben. Zwar hatte Reichskommissar Göring nur ganze sechs Männer dabei.
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Witbooi war dagegen mit 600 Leuten gekommen. Aber die Europäer lieferten alle Feuerwaffen, die Herero und Nama in ihren Kriegen gegeneinander verwendeten. Und die Deutschen schienen von allen Europäern das größte Interesse an Südwestafrika zu haben. Seit 1883 kauften sie Land an der Küste. Praktisch alles davon war zwar nur wertlose Wüste, wo Rinder nicht weiden konnten. Aber offenbar meinten sie es ernst: Mit einigen Namakapiteinen hatten sie sogenannte Schutzverträge abgeschlossen. Angeblich war in Berlin sogar ganz Südwestafrika zum deutschen «Schutzgebiet» ausgerufen worden. Der alte Maharero hatte sich daraufhin in einer Proklamation, verfasst in der Hererosprache, aber mit deutscher Übersetzung, zum «König von Hereroland» erklärt. In dieser Proklamation beanspruchte er die Oberhoheit über Gebiete, in denen er diese eindeutig nicht besaß, und übertrieb seinen Einfluss auch sonst mehr als nur ein wenig. Denn so etwas wie einen «König» kannten die Herero nicht. Weder sie noch die Nama empfanden sich als ein Volk, geschweige denn als eine Nation im europäischen Sinn des Wortes. Herero wie Nama bestanden aus mehreren Stämmen, die sich jeweils weitgehend nur durch verwandtschaftliche Beziehungen miteinander verbunden fühlten – was allerdings Konflikte und Raubzüge gegeneinander nicht ausschloss. Der Erfolg des von ihm angeführten Aufstandes gegen die Nama in den 1860er Jahren hatte aber das persönliche Prestige des alten Maharero unter den Herero beträchtlich erhöht. Jedenfalls beanspruchte er nun die Würde eines Omuhona omunene oder Oberkapiteins. Genau diese angebliche Führungsposition unter den Herero aber machte ihn für die Deutschen zu einem gesuchten Partner. Dem Werben aus Berlin hatte der alte Maharero freilich bisher die kalte Schulter gezeigt. Auch durch die Fürsprache der schon lange im Land tätigen rheinischen Missionare für den deutschen Reichskommissar Göring war er nicht beeindruckt worden. Erst jetzt, nach dem Wiederaufflammen des Konflikts mit den Witbooi, ließ er sich auf Gespräche ein. Schon wenige Tage nach dem Gefecht am Swakopfluss, am 21. Oktober 1885, schlossen die Herero mit dem das Deutsche Reich vertretenden Göring in Okahandja einen «Schutzvertrag». Der Vertrag enthielt fünf Artikel. Der erste bekräftigte die Absicht beider Seiten zu freundschaftlichen Beziehungen und die Bereitschaft der deutschen Seite, Maharero und seine Leute zu schützen. Das Hissen der
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deutschen Flagge sollte diese Abmachungen symbolisieren. In Artikel 2 sagte Maharero zu, kein Land der Herero an andere Staaten oder deren Bürger zu geben und ohne Erlaubnis des deutschen Kaisers auch keine Verträge mit diesen einzugehen. Artikel 3 gab deutschen Bürgern Reise-, Handels- und Niederlassungsfreiheit im Hereroland. Im Gegenzug sollten sie dessen Traditionen und Moralvorstellungen achten und alle im Land erhobenen Steuern und Abgaben zahlen. Nach Artikel 4 unterstanden Deutsche und Herero jeweils ihren eigenen Gerichten. Rechtsstreitigkeiten, in die Angehörige beider Seiten verwickelt waren, würde der deutsche Reichskommissar in Absprache mit einem von Mahareros Ratgebern entscheiden. Artikel 5 schließlich verpflichtete Maharero, soweit möglich, den Frieden im Hereroland und mit angrenzenden Stammesgebieten zu wahren. Bei Streitigkeiten mit anderen Kapiteinen der Herero oder Nama sollte die deutsche Regierung, vertreten durch den Reichskommissar, vermitteln. Dieser «Schutzvertrag» ist häufig als ungleicher Vertrag beurteilt worden, weil er die Souveränität der Herero über ihr Land eingeschränkt habe. Solche Urteile werden allerdings nicht nur von dem Wissen um die weitere Entwicklung des Verhältnisses zu den Deutschen beeinflusst. Sie beruhen auch auf europäischen Begriffen und Vorstellungen, die den Herero damals weitgehend fremd waren oder von ihnen mit anderen Bedeutungen gefüllt wurden. Für nomadische Stammesgesellschaften, deren politische Herrschaftsstrukturen sich ebenso ständig veränderten wie das von ihnen genutzte Territorium, bedeutete Souveränität über Land wenig. Herero wie Nama war als Rinderhirten die Kopfzahl ihrer Herden wichtiger als das von diesen beweidete Gebiet, das abhängig von Regenfällen, Viehseuchen und dem Verhältnis zu Nachbarstämmen ohnehin häufig erweitert, verkleinert oder gewechselt wurde. Zudem sprach der Schutzvertrag dem alten Maharero potentielle Kompetenzen bei der Verfügung über Land, «Außenpolitik» und vor allem Friedenswahrung für das gesamte Gebiet der Herero zu, die er 1885 kaum besaß. Denn anders als von deutscher Seite und im Vertrag unterstellt, war seine Stellung eben nicht der eines europäischen Monarchen vergleichbar. Oberhaupt sämtlicher Herero war er allenfalls in einem sehr begrenzten Sinn. Auch deswegen dürfte Maharero so ausgesprochen schnell bereit gewesen sein, den Vertrag zu unterzeichnen, wozu ihn nichts und niemand zwang. Schließlich hatte er das Werben der Deutschen zuvor ja ohne Weiteres ignorieren können. Tatsächlich erhoffte er
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sich von dem Vertrag nicht nur deutsche Unterstützung nach außen, vor allem gegen Hendrik Witbooi. Innerhalb des Hererolandes mochten die Deutschen sich beim Ausbau seiner Macht zum Omuhona omunene, zum Oberkapitein, gleichermaßen als Verbündete erweisen. Für Mahareros Sohn Samuel, der sich Hoffnungen auf die Nachfolge des mittlerweile 65 Jahre alten Vaters machte, galt das ebenfalls. Insofern war es kein bloß formaler Akt, dass Samuel Maharero den «Schutzvertrag» mit unterzeichnete – übrigens anders als sein Vater mit seinem Namen, denn er hatte bei den Missionaren lesen und schreiben gelernt. Auch die «Großleute» und Mitglieder von Mahareros Rat in Okahandja, die ihr Zeichen oder ihre Unterschrift unter den Vertrag setzten, verfolgten damit nicht zuletzt eigene Interessen. Denn Artikel 5 enthielt die deutsche Zusage, bei Konflikten zwischen dem Omuhona und anderen Würdenträgern der Herero zu vermitteln. Nicht allein Maharero und sein Nachfolger durften sich Hoffnungen auf Hilfe der Deutschen machen. Mit ihnen war ein neuer Akteur auf dem politischen Kräftefeld Südwestafrikas aufgetaucht, der die Machtverhältnisse beeinflussen konnte. Alles hing nun davon ab, wie sehr sie sich im Land engagieren würden.
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Für die meisten Bewohner des Deutschen Reichs war Afrika in den 1880er Jahren unendlich weit weg. Als August Bebel ein knappes Jahr nach Unterzeichnung des Schutzvertrages in Okahandja wieder einmal eine längere Haftstrafe wegen Verstoßes gegen das Sozialistengesetz antreten musste, tröstete er seine Frau Julie: «Eine Reise nach den deutschafrikanischen Kolonien, und währte sie nur halb so lange, wäre unangenehmer und unendlich gefährlicher.»4 In Bebels Worten schwang das Bild eines «dunklen» Kontinents mit, voller Gefahren und «unzivilisiert». Für andere Zeitgenossen erschien freilich genau das attraktiv. Theodor Lohmann, Vortragender Rat im Handelsministerium in Berlin, der als gebürtiger Hannoveraner gerne Klagen über die autoritäre preußische Mentalität kultivierte, fantasierte so einige Jahre vorher davon, «nach irgendeinem Urwald auszuwandern, wo einem der Moloch, Staat
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genannt, noch nicht so nahe tritt, wo es weder militärische Dressur noch Schulzwang noch Schulmeister-Disciplin giebt».5 Mit der Realität hatten solche Imaginationen eines «dunklen», aber im paradiesischen Urzustand befangenen Kontinents herzlich wenig zu tun. In Südwestafrika führten Herero und Nama Krieg mit Waffen aus europäischer Produktion. Wie Hendrik Witbooi und Samuel Maharero hatten nicht wenige von ihnen Missionsschulen besucht – und Samuel hatte diese vorzeitig verlassen, weil ihm offenbar die von weißen und schwarzen Schulmeistern verlangte Disziplin ebenso zuwider war wie Theodor Lohmann. Die Missionare der Rheinischen Missionsgesellschaft, die zu den ersten Weißen im Land gehörten, hatten schon in den 1860er Jahren die preußische Regierung um Schutz gebeten. Die zeigte sich jedoch desinteressiert, ebenso wie nach 1871 lange auch das Deutsche Reich. Bismarck ließ die Gesuche der Missionsgesellschaft regelmäßig nach London weiterreichen. Großbritannien schien in den 1870er Jahren zeitweise auch geneigt, seinen Einfluss vom Kap der Guten Hoffnung aus nach Norden auszuweiten. 1878 entschieden die Briten sich dann aber, nur die Walfischbai, den besten natürlichen Hafen an der Küste Südwestafrikas, zum eigenen Hoheitsgebiet zu erklären. Am kargen Hinterland zeigte die Regierung ihrer Majestät in London seitdem demonstratives Desinteresse. Die einzigen Weißen, die außer den Missionaren mehr oder weniger dauerhaft in Südwestafrika lebten, waren einige Dutzend Händler. Bei den meisten davon handelte sich um Briten oder Buren vom Kap. Die Deutschen ließen sich um 1880 an den Fingern einer Hand abzählen. Gelegentlich verirrten sich auch einzelne Forschungsreisende, Goldoder Diamantensucher und andere Abenteurer in die Wüsten und dornbuschbestandenen Savannen des Gebiets. Einer davon war Adolf Lüderitz. Er brachte 1883 den Stein ins Rollen, der schließlich dazu führte, dass Südwestafrika zum ersten überseeischen «Schutzgebiet» des Deutschen Reiches erklärt wurde. Lüderitz war der Sohn eines wohlhabenden Bremer Tabakhändlers. In den USA, Mexiko und Westafrika hatte er mit diversen Plantagenprojekten Pleite gemacht. Doch die Heirat mit einer reichen Erbin und der Tod seines Vaters versorgten ihn mit frischem Kapital, um aufs Neue sein Glück zu versuchen – diesmal in Südwestafrika. An der Küste grün-
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dete er eine Handelsstation und nahm Kontakt mit den Nama auf. Einige von deren weniger bedeutenden Kapiteinen fanden sich schließlich bereit, ihm Land gegen Gewehre zu verkaufen. Lüderitz versuchte die Einheimischen dabei zu übertölpeln. Die Breite des verkauften Küstenstreifens war im Kaufvertrag in geographischen Meilen angegeben. Eine geographische deutsche Meile entsprach knapp 7,5 Kilometern. Die Nama kannten aber nur die ungefähr 1,6 Kilometer entsprechende englische Meile, und Lüderitz ließ sie absichtlich in dem Glauben, dass diese im Vertrag gemeint sei. Seine Geschäftspartner waren allerdings mindestens so gerissen wie er. Denn nicht nur handelte es sich bei dem verkauften Gebiet, wie immer dieses auch gemessen wurde, überwiegend um Wüste. Es gehörte den Verkäufern auch größtenteils überhaupt nicht, sondern anderen Namastämmen oder den Herero. Deren Gebietsansprüche kollidierten nun mit denen von Lüderitz’ Gesellschaft. Wenig überraschend, gelang es dem deutschen Abenteurer deshalb nicht, mit den wichtigeren einheimischen Akteuren ins Geschäft zu kommen. Im Gegenteil: Durch sein Vorgehen hatte er sich die Feindschaft der Herero und der meisten Nama eingebrockt. Als seine Vertragspartner vom Unterschied zwischen englischen und deutschen Meilen erfuhren, stärkte das seine Position vor Ort auch nicht gerade. Zudem fanden sich in den ergaunerten Wüstengebieten weder die dort erhofften Edelsteine noch Gold, Silber oder andere wertvolle Erze. In die Enge getrieben und einmal mehr vor der geschäftlichen Pleite stehend, wandte Lüderitz sich in seiner Verzweiflung an Reichskanzler Otto von Bismarck. Wie zuvor die Missionare bat er um staatlichen Schutz für seine Erwerbungen. Solche Bitten waren bisher in Berlin stets abgeschlagen worden. Doch im April 1884 war das plötzlich anders. Zu seiner eigenen Überraschung rannte Lüderitz bei Bismarck offene Türen ein. Warum Bismarck die Erwerbung von Kolonien für das Deutsche Reich unterstützte, ist unter Historikern seit langem Gegenstand von heftigen Kontroversen. Unumstritten ist eigentlich nur eines: Sein Engagement für ein deutsches Kolonialreich war eine kurze, wenn auch folgenreiche Episode. Lediglich zwischen April 1884 und dem Frühsommer 1885 setzte der Reichskanzler sich aktiv für Kolonialerwerb ein. Davor und danach zeigte er kein Interesse. Mehr noch: Er lehnte deutsche «Schutzgebiete» in Übersee, wie es zeitgenössisch politisch korrekt hieß, entschieden ab.
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Als gegen Ende des Krieges von 1870 / 71 der Vorschlag aufgekommen war, Frankreich beim Friedensschluss einige seiner überseeischen Besitzungen abzuverlangen, hatte Bismarck nur verächtlich geschnaubt, er wolle «gar keine Kolonien». Für das Deutsche Reich sei das überflüssiger Luxus: «Diese Kolonialgeschichte wäre für uns genauso wie der seidene Zobelpelz in polnischen Adelsfamilien, die keine Hemden haben.» Um Kolonien im Kriegsfall verteidigen zu können, brauche man schließlich eine starke Flotte. Die könne Deutschland, das bei seiner exponierten geographischen Lage mitten in Europa schon eine starke Armee benötige, sich aber nicht auch noch leisten. Das hat Bismarck bis in die frühen 1880er Jahre mehrfach wiederholt. Im Frühjahr 1881 erklärte er sogar kategorisch: «Solange ich Reichskanzler bin, treiben wir keine Kolonialpolitik.»6 Doch im April 1884 kümmerte den Kanzler sein dummes Geschwätz von gestern auf einmal nicht mehr. Von heute auf morgen konvertierte er zum Kolonialismus – wenn auch nur für ein gutes Jahr. Am 24. April ließ er Südwestafrika unter deutschen «Schutz» stellen. Anfang Juli 1884 wurde die deutsche Flagge in Togo gehisst, einige Tage später in Kamerun. Im Februar 1885 folgte ein «Schutzbrief» für das heutige Tansania in Ostafrika, im Mai auch für Neuguinea, das damit die einzige größere deutsche Kolonie außerhalb Afrikas wurde – und auch die letzte größere koloniale Erwerbung des Reiches blieb. Lange nach dem Ende von Bismarcks Kanzlerschaft kamen 1898 / 99 einige Inseln im Pazifik und Kiautschou in China dazu, 1911 durch eine Erweiterung Kameruns noch ein Stück afrikanischer Dschungel. Was war der Grund für diese plötzliche 180-Grad-Wendung des Reichskanzlers? Bismarck hat sich über seine Motive fast vollkommen ausgeschwiegen, was die Möglichkeit zu Spekulationen aller Art eröffnete. Es gibt allerdings ein Schlüsseldokument über seine Beweggründe, das ebenso aussagekräftig wie mysteriös ist. Welche Kolonien welcher europäische Staat in Übersee erwerbe, informierte er den deutschen Botschafter in London im Januar 1885, sei «als solches für uns ganz gleichgültig». Dennoch habe «der kleinste Zipfel von Neu-Guinea oder Westafrika, wenn derselbe objektiv auch ganz werthlos sein mag», für die Regierung des Deutschen Reiches «gegenwärtig» größte Bedeutung. Die «Colonialfrage» sei gar «aus Gründen der inneren Politik eine Lebensfrage für uns […]. Die öffentliche Meinung legt gegenwärtig
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in Deutschland ein so starkes Gewicht auf die Colonial-Politik, daß die Stellung der Regierung im Innern von dem Gelingen derselben wesentlich abhängt.»7 Wie war das gemeint? Es ist oft argumentiert worden, Bismarck habe mit dem Übergang zur Kolonialpolitik dem Druck von wirtschaftlichen Interessengruppen nachgegeben oder auch ein Ventil öffnen wollen, um von wirtschaftlichen und sozialen Problemen der deutschen Innenpolitik abzulenken. Bereits in den 1870er Jahren hatte sich eine Reihe von Vereinen und Verbänden gegründet, die den Erwerb von Kolonien durch Deutschland propagierten. 1882 bildete sich schließlich der Deutsche Kolonialverein. Zu der schnell wachsenden Zahl seiner Mitglieder zählten mittelständische Unternehmer, Handelskammern, Großindustrielle, Bankiers wie Bismarcks Finanzberater Gerson Bleichröder, dazu einige konservative und nationalliberale Politiker. Bei dem einen oder anderen schwang die Erwartung mit, die angestrebte «Kolonisation» in Afrika werde ein «Ableiter für die sozialdemokratische Gefahr» sein.8 Weit verbreitet war jedenfalls die Hoffnung, der Kolonialerwerb könne die parallel zur Gründung des Kolonialvereins erschlaffende Wirtschaftskonjunktur ankurbeln. Auch Bismarck stimmte in zwei Reichstagsreden im Januar und März 1885 öffentlich der Ansicht zu, der Zweck des Kolonialerwerbs sei vor allem die «Gewinnung neuer Absatzmärkte für unsere Industrien».9 Allerdings ist es sehr unwahrscheinlich, dass er damit seine tatsächliche Überzeugung äußerte – zumal er intern gleichzeitig meinte, der eigentliche Sinn der Kolonialpolitik werde schon erreicht, wenn Deutschland nur Gebiete erwerbe, die wirtschaftlich «ganz werthlos» seien. Das Anschwellen der Kolonialagitation in den 1870er Jahren hatte ihn völlig kaltgelassen. Auch als diese Agitation mit der Gründung des Kolonialvereins Ende 1882 eine neue Qualität erreichte und gleichzeitig die Wachstumsraten der Wirtschaft empfindlich zurückgingen, beeindruckte ihn das zunächst nur wenig. 1883 bequemte Bismarck sich zwar auf Drängen eines kolonialbegeisterten Beamten des Auswärtigen Amts dazu, etwas für den «Schutz» deutscher Kaufleute in Südwestafrika zu tun. Bezeichnenderweise ließ er aber nur einmal mehr in London anfragen, ob Großbritannien diesen nicht übernehmen wolle! Überhaupt lägen ihm «wie früher alle überseeischen Projekte und insbesondere jede Einmischung in vorhandene britische Interessen in Süd-Afrika fern».10 Obwohl die britische
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Regierung diese und weitere Anfragen fast völlig ignorierte, hakte die deutsche Seite nur sehr vorsichtig nach. Der Reichskanzler war offensichtlich nicht daran interessiert, wegen irgendwelcher kolonialer Projekte auch nur die kleinste Verstimmung mit Großbritannien zu riskieren. Im April 1884 änderte sich das jedoch schlagartig. Nun ließ Bismarck in Afrika plötzlich vollendete Tatsachen schaffen, ohne die Briten vorab auch nur zu informieren. Als London sich daraufhin beschwerte, wies er den noch im früheren zurückhaltenden Modus befangenen deutschen Botschafter dort an, stattdessen jetzt auf aggressiven Konfrontationskurs zu gehen: Die englische «Naivität des Egoismus» bedeute «eine Verletzung unseres Nationalgefühls». In Berlin sei man «begierig zu erfahren, weshalb das Recht zu colonisiren, welches England in weitestem Maße ausübt, uns versagt sein sollte».11 Bismarcks Sohn Herbert, der als Legationsrat an der deutschen Botschaft in London tätig war, drohte dem britischen Außenminister zu dessen Entrüstung sogar, man werde Großbritannien sonst beweisen, «wie unangenehm wir uns machen können».12 Was war geschehen, dass Bismarck nun plötzlich die Konfrontation mit Großbritannien suchte? Kaiser Wilhelm I. zählte mittlerweile 87 Jahre. Ein baldiger Thronwechsel war also abzusehen. Der Kronprinz Friedrich unterhielt enge Beziehungen zu liberalen Politikern. Im März 1884 schloss sich die linksliberale Fortschrittspartei mit einer größeren Gruppe von Parlamentariern zusammen, die sich von den Nationalliberalen abgespalten hatte. Diese neue linksliberale Fraktion bildete nun im Reichstag mit mehr als einem Viertel aller Mandate die stärkste Fraktion. Sie drängte auf die Einführung verantwortlicher Reichsministerien und sondierte bei den Nationalliberalen die Möglichkeiten eines weiteren Zusammenschlusses. Im Oktober des Jahres standen Reichstagswahlen an. Bismarck trieb die Angst um, danach eine liberale Mehrheit im Parlament gegen sich zu haben. Und als er Mitte April mit dem Kronprinzen über dessen Pläne für die Zeit nach dem Tod des alten Kaisers sprach, erklärte Friedrich seine Absicht, zumindest in Preußen mit einem Kabinett aus führenden Liberalen zu regieren. Bismarck drückte daraufhin die Befürchtung aus, man werde «auf die schiefe Ebene kommen und bald in die Republik hineinsausen».13 In diesen Entwicklungen liegt die plausibelste Erklärung dafür, dass der Reichskanzler einige Tage später unvermittelt die Konfrontation mit Großbritannien in der Kolonialpolitik suchte, nachdem er bisher über-
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haupt kein Interesse an Kolonien gezeigt hatte. Wenn Bismarck die «Colonialfrage» nun plötzlich zur «Lebensfrage» erklärte, von der die «Stellung der Regierung im Innern» abhing, dann meinte er offensichtlich nichts anderes als seine eigene Stellung, seine politische Existenz, die von der drohenden Allianz aus zukünftiger liberaler Parlamentsmehrheit und zukünftigem König in Frage gestellt wurde. Friedrichs Thronbesteigung rückte unaufhaltsam näher. Also musste ein Keil zwischen den Kronprinzen und die Liberalen getrieben werden. Beide, der Prinz wie seine liberalen Freunde, hatten große Sympathien für Großbritannien. Das galt umso mehr, als dort gerade der von Bismarck verabscheute Liberale Gladstone als Premierminister regierte. Also lag es nahe, einen Gegensatz zwischen dem Deutschen Reich und Großbritannien herzustellen, was am einfachsten auf dem Gebiet der Kolonialpolitik möglich war. Der Kronprinz und zukünftige König wurde damit als Repräsentant der offiziellen Politik des Reiches den anglophilen Liberalen entfremdet. Die zu diesem Zeitpunkt noch ausgesprochen kolonialkritische Einstellung zumindest der linken Liberalen, die mit ihrem Drängen nach Parlamentarisierung der Reichsverfassung in Bismarcks Augen die größte Gefahr darstellten, musste diese Entfremdung noch verstärken. Die Proklamation der ersten afrikanischen «Schutzgebiete» im Frühjahr und Sommer 1884 löste zudem eine regelrechte Kolonialeuphorie in der deutschen Öffentlichkeit aus. Während des Reichstagswahlkampfs im Oktober eröffnete Bismarck eine internationale Kongokonferenz in Berlin, die zur Verständigung der europäischen Großmächte über die afrikanischen Kolonialstreitigkeiten dienen sollte. Sein im preußischen Staatsministerium angestellter jüngerer Sohn Wilhelm vertraute einem Mitarbeiter des Auswärtigen Amts an, der Vater wolle vor allem «den Kongo für die innere Politik ausnutzen».14 Die nähere Umgebung des Reichskanzlers hatte den Eindruck, dass Bismarck nicht wirklich hinter der Kolonialpolitik stand, sie aber für die Wahlen sehr nützlich fand. Die Rechnung ging auf: Die Linksliberalen verloren die Wahlen. Wenn der Kronprinz einen antikonservativen Politikwechsel tatsächlich ernsthaft geplant hatte, fehlte ihm dafür jetzt jedenfalls die parlamentarische Basis. Im Frühjahr und Sommer 1885 sagte Friedrich Bismarck zu, ihn nach dem Tod Wilhelms I. als Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident behalten zu wollen. Und er ging auf Bismarcks Bedingung ein, keine «Parlamentsregierung» praktizieren zu wollen.15 Damit waren die Ziele
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der kolonialpolitischen Aktivitäten des Kanzlers erreicht, und er stellte diese Aktivitäten ein. Mit der kurzen Kolonialepisode verband Bismarck also vor allem innenpolitische Absichten. Ermöglicht wurde die Ausnutzung der Kolonialpolitik zu diesen Zwecken allerdings durch eine außergewöhnliche außenpolitische Konstellation. Im Frühjahr 1884 hatte das Deutsche Reich den Dreikaiserbund mit Österreich und Russland verlängert. Das Zarenreich und Großbritannien waren wegen kolonialer Rivalitäten in Zentralasien verfeindet. Die Erwerbung von Tunesien durch Frankreich 1881 und die englische Besetzung Ägyptens im nächsten Jahr führten zu einem sich schnell vertiefenden Konflikt der beiden Westmächte untereinander. Bismarck förderte diesen britisch-französischen Gegensatz ebenso diskret wie geschickt. Er hatte ohnehin seit spätestens 1880 Frankreich zu einer aktiven Kolonialpolitik ermuntert, die den Nachbarn im Westen von Elsass-Lothringen ablenken sollte. Die globalen Rivalitäten um Kolonien schufen eine Situation, in der das Deutsche Reich sich ebenfalls sein Stück vom kolonialen Kuchen nehmen konnte, ohne unangenehme Rückwirkungen in Europa fürchten zu müssen. Gegen die Briten mit ihrer weit überlegenen Flotte konnte Bismarck dabei ausnahmsweise in Zusammenarbeit mit den Franzosen operieren. Zeitweilig war sogar von einem deutsch-französischen Bündnis die Rede, ohne dass das freilich jemals mehr als pure Rhetorik gewesen wäre. Diese ungewöhnliche außenpolitische Konstellation dauerte nur kurz an. Sie verschwand ungefähr zu dem gleichen Zeitpunkt, als Bismarck im Innern die mit der Kolonialpolitik verfolgten Ziele erreicht hatte. Im Frühjahr 1885 stürzte in Frankreich die Regierung von Ministerpräsident Jules Ferry, mit dem der Reichskanzler zuvor eng kooperiert hatte. Ferrys Nachfolger war ein Feind des Deutschen Reiches und überzeugter Revanchist. Das Tauwetter in den deutsch-französischen Beziehungen endete so im Sommer 1885. Gleichzeitig brach in Großbritannien die liberale Partei auseinander. Damit kündigten sich der Sturz Gladstones und die Machtübernahme der Konservativen auf der Insel an, was Bismarck von Herzen begrüßte. Das Bestreben, zu der neuen britischen Regierung von vornherein ein gutes Verhältnis aufzubauen, legte ebenfalls einen Abbruch des deutschen Kolonialerwerbs nahe.
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Das kurzzeitige Interesse Bismarcks an afrikanischen Kolonien erlosch also bereits wieder im selben Jahr, in dem die Gesandten des Deutschen Reiches mit den Herero einen «Schutzvertrag» abschlossen. Unter diesen Umständen stand Reichskommissar Göring in Südwestafrika auf verlorenem Posten. Das deutsche «Schutzgebiet» dort gab es, wie Kolonialenthusiasten im Reich bald frustriert feststellten, jahrelang «nur dem Scheine nach»: «Es wird den Leuten so viel vorerzählt von der Macht des Deutschen Reiches, aber kein Mensch sieht etwas davon.»16 Nach dem Abschluss des Vertrages in Okahandja am 21. Oktober 1885 war sogar der größere Teil der deutschen Gesandtschaft wieder nach Berlin abberufen worden. Dem Reichskommissar blieben vor Ort nur ein Stellvertreter und ein Polizeihauptmann. Über Soldaten verfügte er nicht. Ein halbes Jahr später, im April 1886, attackierten die Leute von Hendrik Witbooi im Bund mit anderen Namastämmen Okahandja. Die Herero schlugen die Angreifer zurück. Der deutsche Reichskommissar Göring war nicht in der Lage, ihnen irgendwelche Hilfe zu leisten. Tatsächlich konnte er nicht einmal sich selbst schützen. Als im Jahr darauf die Witbooi mehrmals das Okahandja benachbarte Otjimbingwe überfielen, wo sich die Residenz des Reichskommissars befand, musste diese von Herero verteidigt werden. Görings Pferd nahmen die Angreifer mit. Der Reichskommissar, offenbar selbst kein allzu mutiger Mann, schickte seinen Stellvertreter, seinen Polizeihauptmann und einen deutschen Händler zu Hendrik Witbooi. Der empfing die Besucher höflich und gab ihnen bereitwillig das geraubte Pferd zurück. Die von den deutschen Beamten geäußerte Bitte, Frieden mit den Herero zu schließen, lehnte er aber rundheraus ab. Nicht allein die Herero, auch die wenigen Deutschen in Südwestafrika zeigten sich infolgedessen in wachsendem Maß enttäuscht von der «Schutzherrschaft». Mit bitterer Ironie notierte ein Missionar in sein Tagebuch: «Der Schutz- und Freundschaftsvertrag mit der deutschen Regierung steht geduldig auf dem Papier und harrt, wie man sagt, der deutschen Interessen, die hier geschaffen werden sollen.» Ein Angestellter der Kolonialgesellschaft für Südwestafrika, die zunehmend in rote Zahlen rutschte, sah sich «von Deutschland im Stich gelassen». Die Inte-
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ressenten vor Ort griffen offenbar schließlich zum Mittel des Betrugs, um die Aufmerksamkeit Berlins zu gewinnen. Im August 1887 verbreitete sich die Nachricht von Goldfunden im «Schutzgebiet». Wie sich später herausstellte, handelte es sich aber tatsächlich um Schwindel: Jemand hatte den Fundort absichtlich mit geringen Goldmengen «gesalzen».17 Reichskommissar Göring kam der vermeintliche Fund nur allzu gelegen, um sich in Berlin in Erinnerung zu bringen. Endlich fand er für seine Bitte um eine deutsche «Schutztruppe» Gehör. Mehr als gerade einmal sechs deutsche Soldaten und 20 afrikanische Bewaffnete wurden ihm allerdings nicht zugestanden. Und selbst über deren Finanzierung schoben Reichsregierung und Kolonialgesellschaft sich gegenseitig den Schwarzen Peter zu. Während deutsche militärische Unterstützung gegen Hendrik Witbooi sich für die Herero also weiterhin nicht materialisierte, zogen die vermeintlichen Goldfunde eine Reihe von weißen Glücksrittern an. Deren Frustration über den bald offensichtlich werdenden Betrug bekamen dann die Einheimischen zu spüren. Auch sonst machten die Herero immer häufiger die Erfahrung, dass viele Deutsche sich nicht an die 1885 vertraglich gemachte Zusage hielten, Sitten und Traditionen der Einheimischen zu respektieren. So hatte die Kolonialgesellschaft für Südwestafrika in unmittelbarer Nähe eines Hererograbs Häuser gebaut. Zudem verkauften deutsche Händler den Witbooi Waffen. Der Reichskommissar unternahm nichts dagegen. Gegen die Ansiedlung von Buren aus der Kapregion im nördlichen Hererogebiet, die dort sogar einen eigenen Staat ausriefen, ging Göring ebenfalls in keiner Weise vor. Schließlich vertrieben Mahareros Leute die Ansiedler. Selbst gegen die Missionare war das Misstrauen des Omuhona geweckt worden, weil sie Häuser an den Reichskommissar und die Deutsche Kolonialgesellschaft für Südwestafrika verkauft hatten. Der alte Maharero befürchtete, «daß auf diese Weise sein Land an Europäer verkauft und er um die Herrschaft gebracht wird». Ende Oktober 1888 bestellte er Göring nach Okahandja ein und erklärte dem verdutzten Reichskommissar, der drei Jahre zuvor abgeschlossene Schutzvertrag mit Deutschland sei null und nichtig. Die Herero würden stattdessen den Schutz Großbritanniens vorziehen.18 In größter Eile packte der Reichskommissar seine Sachen und gab Fersengeld. Ironischerweise flüchtete er nach Walfischbai – also auf bri-
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tisches Gebiet. Von dort erstattete Göring Bericht nach Berlin. Auf seinen Vorschlag, mindestens 400 deutsche Soldaten mit Feldartillerie nach Südwestafrika zu entsenden, winkte Bismarck ab. Der Reichskanzler wollte nicht nur größere Ausgaben vermeiden. Er fürchtete auch internationale Verwicklungen mit anderen europäischen Mächten, die sich aus dem «kolonialen Schwindel» ergeben könnten. Einem Forschungsreisenden, der ihn zu neuem Engagement auf dem Schwarzen Kontinent bewegen wollte, hatte er gerade entgegnet: «Ihre Karte von Afrika ist ja ganz schön, aber meine Karte von Afrika liegt in Europa.»19 Bismarck ließ deshalb erst herausfinden, ob die britische Regierung überhaupt Interesse an Südwestafrika zeigte. Das war nicht der Fall. Der britische Händler, auf dessen Beziehungen in London und Kapstadt die Herero vertrauten, agierte vielmehr auf eigene Rechnung. In Berlin wurde deshalb entschieden, dass 20 Soldaten unter Führung eines Offiziers ausreichen würden, um den Händler auszuschalten. So lasse sich ohne allzu große Investition demonstrieren, dass Deutschland an seinen Ansprüchen auf Südwestafrika festhielt. Mitte 1889 ging die Truppe, zur Täuschung der Briten als wissenschaftliche Forschungsexpedition getarnt, in Walfischbai an Land. Ihr Hauptmann Curt von François hatte die Anweisung, sich den Einheimischen gegenüber friedlich zu verhalten. Vor allem sollte er jede Konfrontation mit den Herero vermeiden, um diese wieder für eine Zusammenarbeit zu gewinnen. Die Chancen dafür standen gut. Samuel Maharero kam der deutschen Truppe sogar entgegen, um mit von François zu verhandeln. Denn die Herero konnten jede Unterstützung im Konflikt mit Hendrik Witbooi und den Nama gebrauchen. Der britische Händler, den die Deutschen festsetzen sollten, ließ sich angesichts ihrer Landung aber gar nicht mehr in Südwestafrika sehen. Damit war eigentlich die Bahn für ein neues Arrangement mit den Herero geebnet. Doch von François mochte ein guter Soldat sein – als Diplomat war er durch und durch unfähig. Geblendet von rassistischen Vorurteilen, mit widersprüchlichen Informationen über die Haltung der Herero konfrontiert, selbst von den deutschen Händlern und Missionaren nach den negativen Erfahrungen mit Göring zunächst gemieden, reagierte er zutiefst verunsichert und forderte aus Deutschland in immer kürzeren Abständen Verstärkung an. Nach außen überspielte er seine innere Unsicherheit mit überheblichem Auftreten. Die Anweisungen aus Berlin
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vollkommen ignorierend, brüskierte er Samuel Maharero sofort durch die Forderung, die Herero sollten seiner Truppe Land zum Bau eines Forts überlassen. Dabei war die Aneignung von Land durch Deutsche wenige Monate zuvor der Hauptgrund für die Aufkündigung des Schutzvertrags gewesen. Als Maharero ausweichend antwortete, brach von François die Verhandlungen ab, ließ seine Truppe die sich in den Weg stellenden Herero niederreiten und an dem von ihm ins Auge gefassten Platz eigenmächtig eine Befestigung anlegen. Die Herero reagierten auf diesen Affront vergleichsweise diplomatisch. Durch Missionare ließen sie zunächst wissen, über das «mutwillige Gebaren» des deutschen Offiziers doch erstaunt zu sein. Als die Deutschen begannen, von ihrer strategisch gelegenen Festung aus die Waffen- und Munitionstransporte von der Küste aufzuhalten, schlug Samuel Maharero ein neues Treffen vor, um eventuelle «Missverständnisse» aus dem Weg zu räumen. Doch von François ging auf das Angebot einer Verständigung nicht einmal ein. Daraufhin wandte Samuel Maharero sich mit einem Protestschreiben an den Stellvertreter des deutschen Reichskommissars. Erst als auch das erfolglos blieb, forderte er von François auf, nach Deutschland zurückzukehren. Selbst jetzt ließ er die Hintertür zu einer Verständigung jedoch offen: Wenn der deutsche Offizier nicht mit den Herero sprechen wolle, solle er offen den Krieg erklären.20 Die Herero steckten in einer Zwickmühle. Wenn sich ihre Bewaffneten gegen die Deutschen im Westen wandten, entblößten sie ihr Land dadurch vor den Raubzügen der Witbooi aus dem Süden. Im Frühjahr 1890 boten sie deshalb eine Erneuerung des «Schutzvertrags» mit dem Deutschen Reich an. Gleichzeitig drängten sie auf gemeinsame militärische Aktionen gegen die Witbooi. Das deutsche Militär war mittlerweile auf fünfzig Mann verstärkt worden. Der über das eigenmächtige Verhalten des befehlshabenden Offiziers verärgerte Bismarck hatte Hauptmann von François allerdings seine Instruktionen noch einmal eingeschärft und ihm untersagt, sich in die politischen Verhandlungen mit den Herero einzumischen. Diese sollte der zurückgekehrte Reichskommissar Göring führen. Der setzte noch am Tag des Treffens mit den Herero in Okahandja einen Brief an Hendrik Witbooi auf, in dem er die Vermittlung eines Friedensvertrags anbot und für den Fall einer Weigerung dunkel drohte: «Daß die deutsche Regierung ganz andere Macht besitzt, Dir zu schaden, wirst Du wohl einsehen.»21
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Hendrik Witbooi warnte daraufhin die Herero: «Diesen Schritt werdet ihr schwer bereuen; ewige Reue werdet ihr empfinden, daß ihr Euer Land und die Regierungsrechte an die weißen Menschen abgetreten habt.»22 Das waren prophetische Worte. Hendrik Witbooi ist deshalb oft gerühmt worden, im Gegensatz zu den Herero die langfristigen Konsequenzen einer Zusammenarbeit mit den Weißen klar erkannt zu haben. Dabei wird allerdings übersehen, dass er selbst wenige Jahre später einen «Schutzvertrag» mit Deutschland abschloss und seine Leute anschließend ein Jahrzehnt lang als Hilfstruppen der Deutschen in Südwestafrika dienten. In der Situation von 1890 ging es ihm tatsächlich in erster Linie darum, ein Zusammengehen der Herero mit den verstärkten deutschen «Schutztruppen» gegen ihn und seine Leute zu verhindern. Kurz darauf starb der alte Maharero. Über seine Nachfolge entbrannten Auseinandersetzungen, die die Herero während der nächsten Jahre entzweien und in ihrer Schlagkraft lähmen sollten. Der alte Maharero hatte seinen Sohn Samuel zum Nachfolger bestimmt. Der war allerdings auf eine Missionsschule gegangen und getauft worden. Als Christ konnte er religiöse Rituale, die traditionell mit der Stellung des Omuhona verbunden waren, nicht ausführen. Bei den Herero wurde zudem Viehbesitz zum Teil nur in weiblicher Linie vererbt. Samuel Maharero erhielt deshalb keines der Rinder seines Vaters; er verfügte also zunächst auch nicht über dessen wirtschaftliche Machtbasis. In seinem Onkel Riarua und seinem Vetter Nikodemus erwuchsen ihm daher Rivalen um die Kapiteinswürde. Diese Konkurrenten konnten nicht zuletzt von dem Gerücht profitieren, Samuel und seine Mutter hätten den alten Maharero vergiftet. Die Vertreter des Deutschen Reiches unterstützten die Ansprüche Samuel Mahareros. Seit Mitte 1891 erkannten sie ihn als Oberhaupt aller Herero an. Das war weniger Folge eines Denkens in den Kategorien deutschen Erbrechts, nach der einem Herrscher sein Sohn nachfolgte. Es geschah vor allem, weil Samuel als der Kandidat im Streit um die Kapiteinswürde gesehen wurde, der am ehesten für deutsche Interessen offen war. Seit der Erneuerung des Schutzvertrags 1890 waren seine Leute bereits wieder mit Waffen und Munition beliefert worden. Curt von François, der seit der endgültigen Abberufung Görings Ende dieses Jahres auch die deutsche Zivilverwaltung in Südwestafrika leitete, bemühte sich in Berlin um eine regelmäßige finanzielle Zuwendung für
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Samuel Maharero aus Reichsmitteln, um dessen Machtbasis materiell zu stärken. Die Deutschen informierten den von ihnen favorisierten Kandidaten auch über alles, was sie von anderen Herero erfuhren. 1894 half dann der Nachfolger von Curt von François, Major Theodor Leutwein, Samuel Maharero dabei, dessen Onkel und stärksten Rivalen Riarua auszuschalten. Riarua und seine Anhänger unter den Herero waren in Okahandja so zahlreich geworden, dass Samuel aus seiner Heimatstadt fliehen musste. Er verschanzte sich mit 300 Gefolgsleuten einige Kilometer südlich am Swakopfluss, an der Stelle, wo er 1885 erfolgreich gegen Hendrik Witbooi gekämpft hatte. Von dort aus bat er Leutwein um Unterstützung. Als der Major drei Tage später mit seinen Soldaten und einer Kanone anrückte, hatte Samuel Maharero als Zeichen der Allianz die deutsche Reichskriegsflagge über seinem Lager gehisst. Gemeinsam besetzten seine Leute und die deutschen Truppen am Tag darauf kampflos Okahandja. Leutwein hatte vor der Stadt die Kanone abfeuern lassen, um Riaruas Anhänger einzuschüchtern – offenbar mit Erfolg. Anschließend spielte wahrscheinlich auch der mitgebrachte Alkohol, den die Deutschen freigebig mit allen Bewohnern teilten, eine Rolle für die Beschwichtigung der beiden feindlichen Lager unter den Herero. Samuels Onkel ergab sich jedenfalls ohne Gegenwehr. Wenige Monate vorher hatten die deutschen Soldaten einen mit ihm verbündeten Stammesführer überfallen und kurzerhand hingerichtet. Auch dabei waren die Angegriffenen mit einem der Artilleriegeschütze, die den Herero bisher unbekannt gewesen waren, «in eine geradezu wahnsinnige Angst» versetzt worden. Dieses abschreckende Beispiel vor Augen, erklärte Riarua sich in Anwesenheit von Leutwein bereit, seinen Neffen Samuel als Omuhona anzuerkennen. Außerdem willigte er ein, die von ihm geerbten Rinder und Waffen aus dem Nachlass des alten Maharero an dessen Sohn auszuhändigen. Damit war Samuel Mahareros Position wesentlich gestärkt und der einflussreichste seiner Konkurrenten entmachtet worden. Mit dem übrig gebliebenen Rivalen, seinem Vetter Nikodemus, wurde auf Vermittlung von Leutwein 1894 zunächst ein Kompromiss geschlossen. Auch Nikodemus erkannte Samuel als rechtmäßigen Nachfolger des alten Maharero und Omuhona der Herero von Okahandja an. Im Gegenzug willigte Samuel, wenn auch widerstrebend, ein, die autonome Herrschaft von Nikodemus über ein Gebiet im Osten des Hererolandes zu akzeptieren.23
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Zwei Jahre später rebellierten dessen Bewohner gegen die Anlage einer deutschen Garnison. Unterstützt von Hilfstruppen, die Samuel Maharero und Namastämme stellten, schlugen Leutweins Soldaten die Rebellion blutig nieder. Nikodemus wurde in Okahandja der Prozess gemacht und er wurde zum Tode verurteilt. Auch die übrigen Kapiteine der Herero akzeptierten bis Mitte der 1890er Jahre Samuel Maharero als Nachfolger seines Vaters. Immer wieder spielten dabei deutsche Drohungen, Intrigen oder militärische Aktionen der «Schutztruppen» eine Rolle. Samuel Maharero zeigte sich für diese Unterstützung erkenntlich. 1890 murrte er noch, als von François sich in Windhoek festsetzte, um die zehn Jahre zuvor in einem Feldzug der Herero gegen die Nama zerstörte Stadt als deutsches Hauptquartier wieder aufzubauen. Je mehr er dann aber erkannte, dass die immer weiter vergrößerte «Schutztruppe» auch als Stütze seiner Herrschaft diente, gab er seinen Widerstand gegen die Errichtung deutscher Militärstützpunkte auf. Nach Leutweins Hilfe gegen seine Vertreibung aus Okahandja durch Riarua 1894 begrüßte er eine deutsche Garnison dort sogar freudig. Während der alte Maharero auf die Aneignung von Grund und Boden durch die «Schutzherren» in den späten 1880er Jahren noch sehr allergisch reagiert hatte, wurde diese während der 1890er Jahre unter Samuel zunehmend alltäglich. Auch sonst zeigte sich Samuel Maharero den deutschen Interessen «entgegenkommend», wie Curt von François schon 1891 herablassend lobte. Die früher äußerst umstrittene Bautätigkeit deutscher Händler, Beamter und Missionare genehmigte er, ohne mit der Wimper zu zucken. Selbst wo die Errichtung von Häusern schon begonnen worden war, ohne die einheimischen Würdenträger vor Ort auch nur um Erlaubnis zu fragen, was nur allzu häufig vorkam, autorisierte er diese Praxis gegen die wütenden Proteste der betroffenen Herero. Im Gegensatz zu anderen Kapiteinen der Herero unterstützte er auch die Klagen deutscher Händler gegen die Erhebung von Wegzöllen. Maharero akzeptierte sogar die Praxis der deutschen Behörden, in Streitfällen zwischen Weißen und Schwarzen einfach zu entscheiden, ohne ihn oder einen seiner Berater zu konsultieren, was den Bestimmungen des «Schutzvertrags» eindeutig zuwiderlief. Um von deutscher Seite angezeigte Viehdiebstähle aufzuklären, ritt er häufig sogar selbst los, wenn von François und später Leutwein deswegen bei ihm vorstellig wurden. Auch sonst war Samuel Maharero immer offen für Anliegen der Deutschen. Deren Schreiben
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ließ er von seinem Sekretär prompt mit einem eigenen Brief beantworten. Allerdings registrierte von François ebenfalls: «Die Briefe endeten jedesmal mit einer kleinen persönlichen Bitte.»24 Diese Geschäfte auf Gegenseitigkeit nahmen an Umfang zu, als seit 1892 die ersten Ansiedler aus Deutschland in Südwestafrika eintrafen. Der Landhunger von deutscher Seite wuchs von da an exponentiell. Anfangs alarmierten Samuel Maharero die Nachrichten über eine bevorstehende Ankunft von deutschen Siedlern allerdings. Sie weckten bei ihm unangenehme Erinnerungen an die Konflikte mit von François 1889 / 90, als dieser ohne seine Zustimmung das erste deutsche Fort auf Land der Herero errichtet und dann Windhoek in Besitz genommen hatte. Da von François einmal mehr seine Bedenken brüsk ignorierte, verfasste Maharero im Frühjahr 1893 deshalb sogar einen Protestbrief an den deutschen Kaiser, in dem er die Gültigkeit des «Schutzvertrags» vorübergehend noch einmal in Frage stellte. Freilich war er nicht der einzige Herero, den die bevorstehende Ankunft der Siedler verunsicherte. Die Kampagne von Riarua und Nikodemus gegen ihn erhielt gerade dadurch Aufwind. Durch sie festigte sich indirekt sein Bündnis mit den Deutschen wieder. Und als die Siedler dann tatsächlich in größerer Zahl einzutreffen begannen, ergaben sich daraus für beide Seiten dieses Bündnisses weitere profitable Felder der Zusammenarbeit. 1892 / 93 blieb der zunächst angekündigte Ansturm von Siedlern allerdings noch aus. Statt der erwarteten Ströme von Kolonisten aus Deutschland tröpfelten lediglich einzelne Familien in Walfischbai ein. Dass die Reichsregierung entschieden hatte, Ansiedlungen deutscher Farmer in Südwestafrika grundsätzlich zuzulassen, signalisierte allerdings eine Weichenstellung von großer Tragweite. Seit Bismarcks Interesse an Kolonialpolitik 1885 nach kurzer Zeit wieder abgekühlt war, hatte ein Rückzug des Reichs aus dem Land der Herero und Nama wiederholt zur Diskussion gestanden. Der Bismarck als Reichskanzler 1890 nachfolgende Leo von Caprivi sprach vor dem Reichstag sogar von einem «Versuchsjahr», das man dem Schutzgebiet noch geben wolle. Davon war jetzt keine Rede mehr. Ein Rückzug des Deutschen Reiches aus Südwestafrika stand aus Furcht vor innen- und außenpolitischem Prestigeverlust nicht mehr zur Diskussion. Stattdessen erhielt von François mehr als 200 neue Soldaten und
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neue Anweisungen aus Berlin. Darin war die ihm bisher wiederholt eingeschärfte Instruktion, unter allen Umständen bewaffnete Konflikte mit den Einheimischen zu vermeiden, nicht mehr enthalten. Von François interpretierte das eigenwillig als Vollmacht, durch militärische Aktionen zuerst die Nama und anschließend die Herero zu «entwaffnen». Feldzugspläne gegen Hendrik Witbooi hatte er schon seit langem entworfen. So wollte er nicht zuletzt den Weg für eine Einwanderung von weißen Siedlern im großen Stil freimachen, die der seit 1885 anhaltende Kleinkrieg zwischen Herero und Witbooi einstweilen noch abschreckte. Die Gerüchte über große Gruppen von Siedlern bewegten die beiden Konfliktparteien jetzt jedoch zu einer Einigung. Im November 1892 schlossen Witbooi und Herero Frieden. Die Deutschen reagierten verunsichert. Von François rechnete mit einem Bündnis von Nama und Herero gegen die «Schutztruppe». In Berlin teilte der Reichskanzler diese Befürchtung. Auch deshalb wurde die deutsche militärische Präsenz in Südwestafrika aufgestockt. Von François erhielt dadurch die Möglichkeit, seine seit langem gehegten Pläne eines militärischen Schlags gegen die Witbooi zu verwirklichen. Im Morgengrauen des 12. April 1893 griffen deutsche Soldaten Hornkranz an, die Bergfestung Hendrik Witboois. Von François hatte den Befehl gegeben, «den Stamm der Witbooi zu vernichten». Das gelang nicht. Hendrik Witbooi und die meisten seiner Krieger entkamen. Den frustrierten Deutschen fielen überwiegend nur Frauen und Kinder zum Opfer. Dem Rückzug der deutschen Soldaten folgte Hendrik Witbooi mit seinen Männern unbemerkt und erbeutete den Großteil ihrer Pferde.25 Während der nächsten Monate erhielten die Witbooi starken Zulauf aus anderen Namastämmen. Ohne Pferde konnte die deutsche «Schutztruppe» nichts vor ihnen schützen. Witbooi ritten durch die Straßen von Windhoek und verhöhnten die zu Fuß gehenden Soldaten. Aber nicht nur militärisch war das Massaker von Hornkranz ein Desaster. Im Berliner Reichstag bemerkte August Bebel spitz, die deutsche Regierung führe offenbar vor allem Krieg gegen Frauen und Kinder. Funktionäre der Kolonialgesellschaft für Südwestafrika und deutsche Händler vor Ort kritisierten von François scharf. Selbst Offiziere seines Kommandos distanzierten sich von seinem Vorgehen. Ende 1893 wurde Theodor Leutwein nach Südwestafrika geschickt und ersetzte bald von François als obersten Vertreter des Deutschen Rei-
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ches. Leutwein ging wesentlich geschickter vor als sein Vorgänger. Zunächst bemühte er sich darum, Hendrik Witbooi zu isolieren. Zwei kleinere Namastämme, die bisher noch keinen Vertrag mit dem Deutschen Reich abgeschlossen hatten, brachte er mit Drohungen und Demonstration militärischer Stärke dazu, das zu tun. Anschließend versicherte Leutwein sich in einem Geschäft auf Gegenseitigkeit der Loyalität Samuel Mahareros, indem er diesem gegen seine Rivalen bei den Herero half. Dann erst setzte er die deutschen Soldaten in Marsch gegen Hendrik Witbooi, der sich mit seinen Leuten im Gebirge verschanzt hatte. Während von François in Berlin immer noch die bedingungslose Kapitulation der Witbooi forderte, die er selbst nicht hatte erreichen können, zeigte Leutwein sich flexibel, als ihm klar wurde, dass an einen vollständigen Sieg in absehbarer Zeit nicht zu denken war. Im September 1894 bot er dem Gegner einen Kompromissfrieden an. Hendrik Witbooi nahm den Vorschlag nach langen Verhandlungen schließlich an. Sein Stamm behielt alle Gewehre und sein Land. Die Witbooi bekamen außerdem jährlich eine feste Unterstützung in Form von Waren oder Geld im Wert von 2000 Mark und auf drei Jahre auch 200 Kühe, um ihre dezimierten Herden wieder aufzubauen. Als Gegenleistung unterwarfen sie sich dem «Schutz» des deutschen Kaisers und verpflichteten sich, «der deutschen Regierung eine treue und zuverlässige Stütze» zu sein. Ein Zusatzartikel zu dem Vertrag konkretisierte diese Verpflichtung ein Jahr später zur Zusage Hendrik Witboois, «gegen alle äußeren und inneren Feinde des deutschen Schutzgebietes» auf Anfrage «hin mit allen waffenfähigen Männern unbedingt und unverzüglich Heeresfolge zu leisten».26 Damit waren die Witbooi nicht nur als letzter der Namastämme in ein System deutscher «Schutzverträge» eingebunden worden. Hendrik Witbooi hatte sich, wie schon Samuel Maharero vor ihm, auch auf ein Geschäft auf Gegenseitigkeit eingelassen. Die Zusammenarbeit von beiden mit Leutwein und den Deutschen sollte während des nächsten Jahrzehnts noch an Bedeutung gewinnen. Bei den Herero waren diese Geschäfte auf Gegenseitigkeit bisher zu Lasten der Rivalen von Maharero um das Erbe seines Vaters gegangen. In den jetzt folgenden Jahren gingen sie auf Kosten einer stetig größer werdenden Zahl von Samuel Mahareros Stammesgenossen und unterminierten so zunehmend die Grundlage der Kollaboration.
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Nach 1894 entwickelte Südwestafrika sich von einem deutschen «Schutzgebiet» zur Siedlungskolonie. Auch davor hatten Weiße schon dauerhaft in dem Gebiet gelebt. Ihre Zahl war aber klein, und die meisten waren Händler, nicht Farmer. Bis in die 1870er Jahre lag die Zahl der Europäer im Land unter 250. Darunter gab es nur vier, die sich nachweislich – und wenig erfolgreich – als Landwirte versuchten. Knapp zwei Dutzend arbeiteten auf den Missionsstationen.27 Für 1891 schwanken Schätzungen zwischen 250 und 600 Weißen. Die Hälfte davon waren Deutsche, die übrigen Briten oder Buren vom Kap. Außer den damals 50 Mann der «Schutztruppe» sowie einer Handvoll von Beamten und Angestellten des Reiches und der Kolonialgesellschaft handelte es sich immer noch überwiegend um Händler. Bis 1896 wuchs die Zahl der Europäer dann auf 2000. 1903 betrug sie knapp 4700, davon jetzt etwa zwei Drittel Deutsche. Der Zuwachs ging nur zum kleineren Teil auf die Vergrößerung der «Schutztruppe» zurück. Größtenteils war er Folge der Zuwanderung von potentiellen Siedlern, die sich mit Viehwirtschaft auf eigenem Land selbständig machen wollten – auch wenn vielen das oft zunächst nicht gelang. Deren Zahl überstieg bereits Mitte der 1890er Jahre die der Händler. Die Interessen der Neuankömmlinge waren ganz anders gelagert als die der teilweise schon seit Jahrzehnten im Land ansässigen Händler und Missionare. Diese mussten ein Vertrauensverhältnis zu den Einheimischen aufbauen und erhalten. Bisher war ihnen angesichts der zunächst überhaupt nicht und dann nur dem Namen nach existierenden «Schutzherrschaft» einer europäischen Macht auch kaum etwas anderes übrig geblieben. Der Tausch von Kleidung, Nahrungs- und Genussmitteln, Haushaltsbedarf und Waffen gegen Vieh war, wie die Beziehungen zwischen der deutschen Kolonialverwaltung und Samuel Maharero, ein Geschäft auf Gegenseitigkeit. Wie die Missionare hatten sich die Händler daran gewöhnt, vom Wohlwollen der Herero und Nama abhängig zu sein. Ohne deren Mitwirkung konnte man weder ihre Seelen gewinnen noch profitabel mit ihnen Waren tauschen. Siedler und die, die es werden wollten, interessierten dagegen die Seelen der Einheimischen genauso wenig wie ein Austausch mit ihnen: Sie wollten nur ihr Land. Die Deutsche Kolonialgesellschaft für Südwestafrika und die übrigen,
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in den frühen 1890er Jahren entstandenen Landgesellschaften verkauften Parzellen freilich sehr ungerne oder zu überhöhten Preisen. Das ihnen gehörende Gebiet bestand zudem ohnehin meist aus Wüsten und Halbwüsten, die lediglich für Bergbau attraktiv erschienen. Das fruchtbarste Agrarland besaßen die Herero. Denen war allerdings das Prinzip individuellen Landbesitzes weitgehend fremd. Als Viehzüchter waren ihnen Weiderechte wichtiger, die von den Stammesgemeinschaften wahrgenommen wurden. Um an Land für deutsche Siedler zu kommen, vereinbarte Theodor Leutwein deshalb mit Samuel Maharero Dezember 1894 eine Südgrenze des Hererogebiets. Maharero erhielt dafür, wie im Monat zuvor schon Hendrik Witbooi für die Unterzeichnung eines Schutzvertrags, eine jährliche Zahlung von 2000 Mark. Der Herero-Omuhona hatte aber auch sonst gute Gründe dafür, den Vertrag «leicht und vergnügt» zu unterschreiben, wie Leutwein nach Berlin berichtete. Denn die Deutschen waren gerne auf Mahareros Bitte eingegangen, «die Grenze auch ein wenig zu meinen Gunsten» zu ziehen. So verlor hauptsächlich sein Rivale Nikodemus durch den Vertrag Land.28 Die Privilegierung Mahareros und die Zusammenarbeit der deutschen Kolonialverwaltung mit ihm und seinen Leuten gingen jedoch noch weiter. Als die Herero von Okahandja die Grenzziehung beanstandeten, weil sie dadurch von Wasserquellen für ihre Viehherden abgeschnitten wurden, fand Leutwein sich gerne bereit, ihnen entgegenzukommen. Dagegen lehnte er eine entsprechende Bitte des Stammes von Nikodemus ab, was diesen erbitterte und schließlich zur Rebellion gegen die «Schutzherren» trieb, die mit der Hinrichtung des Rivalen von Samuel Maharero endete. Auch bei der Enteignung von Vieh aus dem Besitz von Einheimischen arbeiteten Leutwein und Maharero eng zusammen. Denn Rinder lesen keine Karten und kennen keine Grenzen. Und viele Herero hatten entweder nicht von dem Grenzvertrag gehört oder wollten nicht darauf verzichten, ihre traditionellen Viehweiden zu nutzen. Die deutschen Truppen beschlagnahmten dann kurzerhand die südlich der Grenze weidenden Rinder. Mitte 1895 schlossen Leutwein und Maharero eine Zusatzvereinbarung zu dem Grenzvertrag ab, in dem sie die Teilung der Beute aus diesen Beschlagnahmungen vereinbarten. Kurz darauf einigten sie sich auch auf die Festlegung einer Nordgrenze des Hererolandes.
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Zufrieden meldete Leutwein seinen Vorgesetzten in Deutschland: «Die Freundschaft mit Samuel wird immer dicker, einen geeigneteren Oberhäuptling können wir für uns nicht finden.»29 Mit den Einnahmen aus diesen Geschäften auf Gegenseitigkeit finanzierte Samuel Maharero sich selbst, seiner neunköpfigen Familie und seinen Anhängern in Okahandja einen aufwendigen Lebensstil. Nicht selten kam es vor, dass Schwarze in dem durch Weiße betriebenen Laden von Wecke & Voigts einen Großeinkauf machten und auf seinen Namen anschreiben ließen. So kamen gewaltige Rechnungen zusammen, die Maharero anstandslos beglich, in der Regel mit Vieh. Dafür erhielt er große Mengen hochwertiger Herren- und Damenkleidung, Kaffee, Tee und Tabak, Milch, Reis, Marmelade, Zucker und Salz. Auch diverse alkoholische Getränke machten große Posten auf diesen Rechnungen aus. 1896, das einzige Jahr, für das Samuel Mahareros Rechnungen bei Wecke & Voigts vollständig dokumentiert sind, bezahlte er 99 Flaschen mehr oder weniger hochprozentige Getränke, 88 Flaschen Wein und 69 Flaschen Bier. Sein Alkoholkonsum wurde ihm besonders von Missionaren angekreidet. Quellenbelege dafür werden, verbunden mit unterschwelligen rassistischen Klischees, teilweise bis heute in der Literatur gerne ausgebreitet. Übersehen wird dabei, dass Maharero oft auch die Einkäufe von Stammesgenossen mitbezahlte. Den Eindruck eines Alkoholikers machte er nicht einmal auf voreingenommene Beobachter. Im Gegenteil, ein wie fast alle Militärs von rassistischen Vorurteilen nicht freier Offizier der «Schutztruppe», der ihn als Enddreißiger kennenlernte, fand Maharero körperlich ausgesprochen gut in Form und schätzte ihn auf nur 30 Jahre.30 Die Missionare hielten ihn für vergnügungssüchtig und eitel. Eitel war er wohl in der Tat: Zahlreiche Fotos zeigen Samuel Maharero in verschiedenen dreiteiligen Anzügen, Kombinationen oder weißen Tropenanzügen und passenden Hüten. Dazu trug er häufig einen dekorativen Stock mit silbernem Knauf. Gerne soll er auch Gehröcke getragen haben. Einige Bilder zeigen ihn in Uniformen, die denen der deutschen «Schutztruppen» nachempfunden sind, andere mit einer goldbetressten Phantasieuniform. Die Uniformen kombinierte er jeweils mit dem breitkrempigen, an der rechten Seite nach oben gebogenen Hut der deutschen Kolonialsoldaten. Anders als bei den Herero üblich, trug er Bart – einen Henriquatre, eine sehr pflegeintensive Kombination aus Kinn- und Schnurrbart.
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Als junger Mann hatte er, von seinem Vater dorthin geschickt, für einige Monate in Kapstadt gelebt. Seinen ältesten Sohn sandte er selbst 1896 nach Deutschland, wo dieser von Kaiser Wilhelm II. empfangen wurde. In Okahandja lebte er mit seiner Familie in einem aus Kalksteinen nach europäischem Vorbild errichteten und verputzten großen Haus. Schon von Weitem sichtbar, wirkte es auf zu Besuch kommende deutsche Offiziere «villenähnlich». Mit Neid registrierten die Besucher eine luxuriöse Ausstattung auch im Innern, wo man im Salon auf samtbezogenen Polstersofas Platz nehmen konnte. 1897 drohten allerdings die Quellen, aus denen diese komfortable Existenz finanziert wurde, plötzlich zu versiegen. Eine vom Kap eingeschleppte Rinderpest verbreitete sich wie ein Buschfeuer in Südwestafrika. Innerhalb von sechs Monaten verendeten etwa zwei Drittel des Viehs im Land. In einzelnen Regionen blieben den Herero gerade einmal fünf Prozent ihrer Herden. Samuel Maharero und andere versuchten, eine Hungersnot durch Anbau von Feldfrüchten in den allein dafür geeigneten Flussbetten abzuwenden. Außergewöhnliche Trockenheit und eine Heuschreckenplage vereitelten das verzweifelte Unternehmen. 1898 starben Tausende unterernährte Herero an Typhus, Skorbut und einer malariaartigen Epidemie. Die Rinderpest und ihre Folgen nahmen der traditionellen Hererogesellschaft ihre wirtschaftliche Grundlage. Seit Jahrzehnten hatte Viehbesitz den meisten Herero eine selbständige und unabhängige Existenz ermöglicht. Diese ökonomische Basis war für viele jetzt zerstört. Mittellos und ausgehungert, hatten sie kaum eine andere Wahl mehr, als sich bei den Weißen als abhängige Arbeiter zu verdingen. Statt verendeter Zugochsen trugen Herero die Schienen und Schwellen für den Bau der 1897 begonnenen Eisenbahnstrecke vom neuen Hafen Swakopmund nach Windhuk. Andere wurden Dienstboten oder Arbeiter auf Farmen der Siedler oder in Handwerksbetrieben und Privathaushalten vor allem in Windhuk. Viele mussten auf den Missionsstationen Hilfe suchen oder schlugen sich mit Betteln durch. Bei einigen Viehherden, besonders denen der weißen Siedler, rettete eine Impfkampagne der Kolonialverwaltung ungefähr die Hälfte des Rinderbestands. Die Siedler konnten die Folgen der Pest zudem noch relativ gut durch den Import von neuem Zuchtvieh aus Europa ausgleichen. Nicht nur für die Masse der Herero, sondern auch für deren
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Eliten kam die Rinderpest dagegen einer Katastrophe gleich. Samuel Maharero und andere Kapiteine verloren den Großteil ihrer Herden. Um ihren gehobenen Lebensstandard zu halten, begannen sie in großem Stil Stammesland an weiße Farmer und die Kolonialverwaltung zu verkaufen. Die soziale Solidarität innerhalb der Stämme brach zusammen. Die gesellschaftlichen Hierarchien, die auf Viehbesitz beruht hatten, verloren an Ansehen. Dagegen gewannen besonders unter den jüngeren Herero Ordnungsvorstellungen und Bilder von Männlichkeit an Bedeutung, die auf dem einzigen Besitz aufbauten, der ihnen geblieben war: ihren Gewehren. Gleichzeitig trugen auch die selbstbewusster und zahlreicher werdenden Siedler zur Ausbildung einer Gewaltkultur bei. In den fünf Jahren nach der Rinderpest verdoppelte sich ihre Zahl. Angesichts des plötzlichen Überangebots an Land verschleuderte die Kolonialverwaltung Parzellen an Wehrpflichtige zu Vorzugspreisen. Ehemalige Angehörige der «Schutztruppen» konnten unter bestimmten Umständen sogar kostenlos an eine Farm kommen. Anders als die sich schon länger in Südwestafrika aufhaltenden älteren Händler waren die ehemaligen Soldaten gewohnt, auf Schwarze herabzublicken – nicht selten durch das Zielfernrohr eines Gewehrs. Um für das günstig erworbene Land an Vieh zu kommen, waren sie wie viele der jetzt ins Land strömenden jungen Glücksritter außerdem nur allzu bereit, Herero mit zweifelhaften Kreditgeschäften auszuplündern. Während des langsamen Wiederaufbaus ihrer Herden nach der Rinderpest waren die Herero meist nur in der Lage, Waren auf Kredit zu erwerben. Siedler nutzten das aus, um zunächst Schuldscheine zu sammeln, deren Einlösung sie dann auf einen Schlag forderten. Da die Einheimischen nicht zahlen konnten, beanspruchten die Gläubiger anschließend ihr Vieh. Oft wurde die Hilfe ehemaliger Kameraden von der «Schutztruppe» bemüht, um die Rinder «mit Gewehr im Anschlag» von der Weide des Schuldners zu holen. Sogar der Ansiedlungskommissar der Kolonialverwaltung sah darin «krasse Auswucherung» und «kaum verschleierten brutalen Raub». Nach 1900 spezialisierten sich einige jüngere Händler auch auf die Eintreibung fragwürdiger oder gefälschter Schuldscheine. Selbst dem Ahnenkult der Herero geweihte Ochsen wurden so gewaltsam konfisziert. Vor der Rinderpest hatten die zwischen 60 000 und 80 000 Köpfe zählenden Herero in Südwestafrika zusammen
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Hunderttausende Stück Vieh besessen, 1902 waren es nur noch 45 000. Über ebenso viele Rinder verfügten zu diesem Zeitpunkt die einige Hundert weißen Siedler.31 Weiße bereicherten sich nicht allein durch gewaltsame und oft betrügerische Konfiszierung von Vieh. Sie ließen sich auch häufig einfach auf vermeintlich «herrenlosem» Land nieder. Gegenüber den Herero, die nach der Rinderpest als Arbeiter oder Hauspersonal von Weißen beschäftigt wurden, waren Prügelstrafe und sexuelle Gewalt gegen Frauen und Mädchen an der Tagesordnung. Nach 1900 nahmen Proteste der Einheimischen und Zusammenstöße deswegen zu. Das war vor allem Folge davon, dass seitdem sogar die soziale Elite der Herero betroffen war. 1901 wurde ein Vetter und enger Vertrauter Samuel Mahareros von einem deutschen Bäcker in Windhuk mit Peitschenhieben aus dessen Laden getrieben. 1903 geschah Ähnliches Maharero selbst in gleich zwei Geschäften. Im selben Jahr versuchte ein betrunkener weißer Händler die Schwiegertochter eines anderen Hererokapiteins zu vergewaltigen. Als die Frau sich wehrte, erschoss er sie. Die Rechtsprechung in diesem und anderen Fällen von Kapitalverbrechen war eine Travestie von Gerechtigkeit. Der Händler wurde in erster Instanz freigesprochen. Nach Wiederaufnahme des Verfahrens erhielt er dann drei Jahre Gefängnis. Das war die höchste Strafe, die von zuständigen deutschen Gerichten mit ihren weißen Beisitzern in den zehn Jahren von Theodor Leutweins Amtszeit als Gouverneur Südwestafrikas für Morde von Weißen an Schwarzen verhängt wurde. Die Tötung von Weißen durch Schwarze ahndeten die Gerichte dagegen stets mit der Todesstrafe. Leutwein kritisierte das als Ausdruck von «Rassenhaß», der vor den «Schranken des Gerichtes» keinen Halt machte: Bei «Streitigkeiten zwischen Weißen und Eingeborenen» lasse die Rechtspflege «zu wünschen übrig». Der Gouverneur, Sohn eines evangelischen Pfarrers aus Baden, strebte eine möglichst friedliche «Zivilisierung» Südwestafrikas an. Das entsprach der Position, die in Deutschland von Linksliberalen, den meisten Sozialdemokraten und Teilen der Zentrumspartei vertreten wurde. Wie nahezu alle seine Zeitgenossen in Europa war Leutwein überzeugt, dass die Weißen «die überlegenere Rasse» seien. Er wendete sich aber gegen eine «Herrenmenschenpolitik». Seine Untergebenen in der deutschen Kolonialverwaltung wies er an, besonders mit den Kapiteinen der
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Einheimischen «fortlaufend gute persönliche Beziehungen zu unterhalten», wie er selbst es mit Samuel Maharero tat. Als Leutwein Mitte 1903 von einem längeren Heimaturlaub nach Südwestafrika zurückkehrte, registrierte er bestürzt das während seiner Abwesenheit gewachsene Gewaltpotential in der Kolonie. Besonders die Entwicklung der Einstellung der weißen Siedler gegenüber den Einheimischen erschien ihm als Gefahr für «die Möglichkeit eines unbedingt friedlichen Zusammenlebens der beiden Rassen». Die deutsche Kolonialverwaltung, schloss er daraus selbstkritisch, dürfe sich nicht länger darauf beschränken, «dem gewaltsamen Ruin der Eingeborenen zuzusehen». Deshalb drängte er bei der Reichsregierung auf eine Verordnung, die dem vielfach betrügerischen Kredithandel mit dem Vieh der Herero einen Riegel vorschieben sollte.32 Das war bisher an Protesten der Siedler und ihrer Lobby in Berlin gescheitert. Leutweins Insistieren führte jetzt dazu, dass der Reichskanzler die Verordnung erließ. Schulden der Herero einzutreiben, indem die Gläubiger Vieh in Stammesbesitz konfiszierten, wurde damit für die Zukunft untersagt. Die Vertreter von Siedlern, Händlern und Kolonialgesellschaften konnten aber erreichen, dass bereits bestehende Schuldscheine ihren Wert behielten. Nach einem Jahr sollten sie verjähren. Die weißen Gläubiger traten deshalb den Herero gegenüber mit besonderer Brutalität auf, um ihre Schulden innerhalb der Verjährungsfrist noch einzutreiben. Die Verordnung erreichte also das Gegenteil von dem, was der Gouverneur eigentlich mit ihr beabsichtigt hatte. Parallel dazu war durch Leutwein die Einrichtung von Reservaten für die Herero vorangetrieben worden, in denen kein Land mehr an Weiße verkauft werden durfte. Die Idee stammte ursprünglich von den Missionaren. Mit ihrer Verwirklichung wollte der Gouverneur Unruhe unter den Herero entgegenwirken, die besonders wegen der Landverkäufe Samuel Mahareros entstanden war. Nachdem die Eisenbahnlinie von der Swakopmündung nach Windhuk 1903 fertiggestellt worden war, wurde zudem eine zweite Bahntrasse quer durch Hereroland geplant, die neue Befürchtungen weckte. Denn entlang der ersten Bahnstrecke hatten sich zahlreiche weiße Farmer angesiedelt, deren Gebiet die Herero nun nicht mehr als Weideland für ihre wieder gewachsenen Viehherden nutzen konnten. Samuel Maharero trat zwar nach Verhandlungen mit Leutwein schließlich das für die neue Trasse unbedingt benötigte Terrain an die
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Bahngesellschaft ab. Weitere Zugeständnisse wollte aber selbst er nicht mehr machen. Um die Wogen zu glätten, schlug Leutwein deshalb zunächst vor, Reservate einzurichten, darunter eines für die um Okahandja und weiter nördlich am Waterberg siedelnden Herero. Die Opposition dagegen nicht nur aus den Reihen der Siedler, sondern auch bei seinen Untergebenen in Kolonialverwaltung und Militär ignorierte er. Der Gouverneur konnte die Verhandlungen über den Zuschnitt der Reservate mit den Herero selbst allerdings nicht mehr zu Ende bringen. Denn im Oktober 1903 kam es vor dem Hintergrund von Streit um Land zum Zusammenstoß zwischen der «Schutztruppe» und dem Namastamm der Bondelzwarts im Süden, provoziert durch die Eigenmächtigkeit eines deutschen Offiziers. Leutwein marschierte mit dem Großteil der deutschen Truppen in das Krisengebiet. Die Unterhandlungen über das Reservat im Hereroland überließ er dem Distriktschef von Okahandja, Leutnant Ralf Zürn. Der noch keine dreißig Jahre alte Zürn handhabte seine Aufgabe wenig geschickt. In Okahandja war er für seine Verachtung gegenüber allen Einheimischen berüchtigt. Gegenüber zwei Missionaren brüstete er sich: «Wenn ein Eingeborener kommt und sich beschwert, dann haue ich ihm ein paar hinter die Ohren.» Nur wenig diplomatischer behandelte er auch die Einwände der Herero gegen den geplanten Zuschnitt des Reservats: Zürn brach zunächst die Gespräche mit ihnen einfach ab. Nach einiger Zeit berief er dann, wie ein Missionar dem Gouverneur berichtete, «die Großleute wieder zu sich, um die Sache zum Abschluß zu bringen. Sie waren aber nicht wenig enttäuscht, als Herr Zürn nun doch die von ihm anfangs bestimmten Grenzen unverändert von ihnen zugestanden haben wollte. Ein Murren der Entrüstung machte sich geltend. Man war empört und verweigerte die Unterschriften. Herr Zürn hat sie dann nach Hause geschickt, wie sie sagten, in etwas barscher Weise und mit dem Bemerken, er habe ihre Unterschriften nicht nötig, Samuel werde unterschreiben, das genüge ihm.» Samuel Maharero unterschrieb das Abkommen über die Grenzen des Reservats tatsächlich. Er brachte auch die Mitglieder seines Rats in Okahandja dazu, dasselbe zu tun. Die Signaturen der Herero vom Waterberg, die Okahandja nach dem vorläufigen Abbruch der Verhandlungen durch Zürn verlassen hatten, fälschte der deutsche Distriktchef einfach. Am 8. Dezember 1903 ließ er das Abkommen durch Anschläge publik
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machen. Die Herero reagierten geschockt. Das Reservat erschien den meisten zu klein, die darin enthaltenen Viehweiden von zu schlechter Qualität und zu weit von Okahandja selbst entfernt. Die Missionare versuchten die aufgebrachten Einheimischen zu beruhigen: Es sei nicht beabsichtigt, sie in die Reservate einzupferchen, sondern nur den weiteren Verkauf von Land aus diesen zu unterbinden. Besonders erfolgreich waren sie damit nach eigener späterer Einschätzung freilich nicht.33 Selbst Samuel Maharero bekam daraufhin offenbar kalte Füße und wurde bei Zürn vorstellig, um nachträglich eine Änderung der Grenzen des Reservats zu erwirken. Der Gouverneur hatte das ausdrücklich für jederzeit möglich erklärt. Zürn reagierte jedoch außerordentlich heftig. Wahrscheinlich wollte er die Frage der Reservatsgrenzen nicht noch einmal aufrollen, weil dann herausgekommen wäre, dass er die Zustimmung der Herero vom Waterberg gefälscht hatte. Diese verdächtigte er Samuel Maharero gegenüber, sich gegen die deutsche Herrschaft verschworen zu haben. Maharero verneinte das, doch Zürn wollte ihm nicht glauben. In Gegenwart eines weißen Zeugen brüllte er den Omuhona der Herero an: «Halte das Maul, du Schwein!» Durch einen anderen Weißen erfuhr Maharero, dass Zürn sogar befohlen hatte, ihn zu töten.34 Zürn befand sich unter immensem Druck, weil nach der Veröffentlichung des Abkommens über die Reservatsgrenzen nicht nur die Herero, sondern auch die Siedler geschlossen dagegen Sturm liefen. Denn während den Einheimischen das Reservat zu klein war, war es den Siedlern viel zu groß. Theodor Leutweins Sohn, der bei der «Schutztruppe» diente, wurde bei einer Silvesterfeier im Kasino von Windhuk 1903 Zeuge der unter den Weißen dominierenden Stimmung. Neben Soldaten war dort «eine ganze Anzahl Farmer versammelt, deren Farmen im Hererogebiet lagen. Diese waren durchweg mit dem herrschenden Grundsatz, die Farmen der Weißen nicht mehr auf Kosten der Hereros zu vergrößern, unzufrieden. Alle dachten, daß jetzt der Augenblick gekommen sei, diesen Standpunkt zu Gunsten der Weißen zu ändern.» Der Bruder von Curt von François, ehemaliger Offizier der «Schutztruppe» und nun Farmer, regte «in heftiger Rede eine allgemeine Razzia gegen die Hereros» an. Wenige Tage später prangerte ein Leitartikel der Deutsch-Südwestafrikanischen Zeitung die «Humanitätsduselei» des Gouverneurs und «fanatischer Missionsfreunde» an. Diese seien schuld daran, dass sich die Siedler «bewaffneten Horden» von «mehr denn minderwertigen Eingeborenen»
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gegenübersähen. Statt «unzivilisierte, rohe Völker durch Güte und Geschenke zur Treue und Unterwürfigkeit zwingen» zu wollen, müsse man endlich die Einheimischen gewaltsam entwaffnen, damit «der eingesessenen eingeborenen Bevölkerung ihr Land und ihr Besitz genommen» werden könne.35 Befeuert von Nachrichten über anhaltende Kämpfe mit den Nama im Süden, verbreiteten sich um die Jahreswende 1903 / 04 Gerüchte, nach denen auch die Herero einen Aufstand gegen die deutsche Herrschaft planten. Besonders unter den Siedlern wurden diese Gerüchte nur allzu gerne geglaubt. Eine «Revolte» der Einheimischen versprach den willkommenen Anlass für deren Entwaffnung und Enteignung zu liefern. Die Missionare, die den besten Kontakt zu den Herero hatten, hielten eine Erhebung allerdings für unwahrscheinlich. Auch die deutschen Posten und Patrouillen in den kleineren Siedlungen der Einheimischen sahen keine Anzeichen für bevorstehende kriegerische Auseinandersetzungen. Leutnant Zürn war dennoch hochgradig nervös. In Okahandja stand er allein zwischen den sich verhärtenden Fronten von Herero und Siedlern. Angesichts der anhaltenden Debatte um das Reservat musste Zürn zudem fürchten, dass seine Fälschung des Abkommens über dessen Grenzen aufgedeckt würde. Als am Abend des 10. Januar 1904 ein Händler in Okahandja eintraf und von einer großen Menge bewaffneter Herero berichtete, die sich vom Waterberg in Richtung der Stadt bewegten, geriet er in Panik. Umgehend wies er alle deutschen Händler und Siedler der Umgebung an, sich in die Sicherheit des deutschen Forts in Okahandja zu begeben. Einer eilig ausgesandten Patrouille der «Schutztruppe» erklärten die Herero zwar, sie seien lediglich unterwegs zu einem Treffen mit Samuel Maharero und seinem Rat, um die Nachfolge ihres kürzlich verstorbenen Kapiteins zu besprechen. Dennoch fürchtete Zürn offenbar, bei dem Treffen gehe es um das Abkommen über das Reservat und die von ihm gefälschten Signaturen der Herero vom Waterberg darauf. Die Gerüchte über eine unmittelbar bevorstehende Erhebung der Einheimischen, die unter den jetzt ins deutsche Fort strömenden Siedlern und Händlern kursierten, waren alles andere als geeignet, ihn zu beruhigen. Um ein Uhr nachts klingelte er Leutweins Stellvertreter in Windhuk aus dem Bett und erklärte, dringend Verstärkung zu brauchen, da eine Revolte
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der Herero zu erwarten sei. Wenige Stunden später, am frühen Morgen des 11. Januar, wiederholte er diesen Hilferuf per Telegramm. Zürns Panik war mittlerweile noch größer geworden, weil er erfahren musste, dass Samuel Maharero sich nicht mehr in Okahandja aufhielt. Mit den Gesandten vom Waterberg hatte er sich in einer kleinen Siedlung am Swakopfluss getroffen. Dort war 1885, vor der Unterzeichnung des «Schutzvertrags» mit den Deutschen, der Sieg der Herero über die Witbooi errungen worden. Dorthin war Maharero 1894 auch vor seinen Rivalen um die Nachfolge seines Vaters als Omuhona geflohen, und dort hatte er sich mit Theodor Leutwein und dessen Soldaten vereinigt, um mit deren Hilfe die Rivalen schließlich zu entmachten. Jetzt, zehn Jahre später, war er wieder aus Okahandja geflohen, weil ihm zugetragen worden war, dass Zürn ihn umbringen lassen wollte. Deshalb weigerte Maharero sich auch zurückzukehren, als der Distriktchef das forderte. Dadurch wuchs wiederum Zürns Misstrauen noch mehr. Am frühen Nachmittag des 11. Januar trafen 18 Mann Verstärkung aus Windhuk in Okahandja mit der Eisenbahn ein. Die Truppe war besonders langsam vorgerückt, weil ihr Offizier davon ausging, dass revoltierende Herero Gleise zerstört und Brücken mit Sprengladungen versehen hatten. Doch diese Befürchtungen erwiesen sich als unbegründet. Bei einem am Abend in angespannter Atmosphäre stattfindenden Treffen Zürns und zwei anderer Deutscher mit Herero aus Okahandja und vom Waterberg versicherten diese auf Nachfrage ihre friedlichen Absichten. Man vereinbarte, sich am nächsten Morgen wieder zu treffen. Zürn blieb skeptisch, obwohl in der Nacht noch ein Kolonialbeamter von der Küste in Okahandja eintraf, der wie die Truppe aus Windhuk keinerlei Anzeichen einer Erhebung der Herero bemerkt hatte. Am Morgen des 12. Januar gingen die weißen Händler, die die letzten zwei Nächte im Fort oder im verbarrikadierten Bahnhofsgebäude verbracht hatten, in ihre Häuser und Läden zurück. Ein Beschäftigter der deutschen Bahngesellschaft, der Arbeiter anwerben wollte, durchquerte den von Herero bewohnten Teil Okahandjas, traf Samuel Maharero aber nicht zu Hause an, kehrte wieder um und erreichte unbehelligt das Fort. Währenddessen passierten zwei deutsche Beamte auf dem Weg zu dem am Vortag vereinbarten Treffen das Haus des schwarzen Kirchenältesten der christlichen Gemeinde Okahandjas. Der Herero bedeutete ihnen, sie sollten besser wieder zurückgehen.
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Der Grund dafür mochte schlicht sein, dass Maharero sich nach wie vor am Swakop aufhielt und die nach dem Treffen mit den Deutschen am Abend vorher zu ihm entsandten Boten noch nicht zurückgekehrt waren. Die beiden deutschen Beamten, von denen keiner die Sprache der Herero beherrschte, meinten aber aus dem Gesichtsausdruck des Kirchenältesten ablesen zu können, dass ihnen Gefahr drohe. Hastig eilten die beiden zurück zum Fort und erstatteten Leutnant Zürn Bericht. Der Distriktschef sah seine Ängste bestätigt und rief alle Weißen in die Festung zurück. Kurz darauf kam es zwischen Deutschen auf den Türmen des Forts und bewaffneten Herero zu ersten Schusswechseln. Knapp zwei Jahrzehnte nachdem Samuel Maharero und die Herero von Okahandja mit dem Deutschen Reich einen «Schutzvertrag» abgeschlossen hatten, befanden sie sich zum ersten Mal mit ihren «Schutzherren» im Krieg.
Der Weg zum Völkermord Der Weg zum Völkermord
Die Ursachen für den Ausbruch der Feindseligkeiten am Morgen des 12. Januar 1904 schienen lange eindeutig. Auf deutscher Seite wurde sofort angenommen, dass es sich um eine koordinierte Erhebung handelte, die von langer Hand vorbereitet worden war. Damit ließ sich nicht zuletzt eine rücksichtslose Kriegführung gegen alle Herero rechtfertigen, um die «Revolte» niederzuschlagen. In der deutschen Historiographie ist diese Interpretation lange fortgeschrieben worden und wird das vielfach immer noch. Das gilt auch für Autoren, die mit guten Gründen der eigenen Kolonialherrschaft und Kriegführung in Südwestafrika ausgesprochen kritisch gegenüberstehen. Aber auch in der Erinnerung der Einheimischen und der Geschichtsschreibung vor Ort, die sich ab den 1980er Jahren professionalisierte, galt und gilt der am 12. Januar 1904 begonnene bewaffnete Konflikt meist als Aufstand aller Herero. Im historischen Gedächtnis des 1990 unabhängig gewordenen Namibia ist dessen Platz als erster Unabhängigkeitskrieg verankert. Dagegen hat Jan-Bart Gewald ausgesprochen plausibel gemacht, dass es weder eine koordinierte Erhebung noch deren systematische Vorbereitung durch die Herero gab. Der Anlass für den Beginn der Feindseligkeiten seien vielmehr Panik, Paranoia und das aggressive Vorgehen von
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deutschen Beamten und Siedlern gewesen. Tatsächlich existieren keine authentischen zeitgenössischen Belege für eine «Verschwörung» der Herero. Samuel Maharero erklärte gegenüber Theodor Leutwein im März 1904, der Krieg sei «von den Händlern und Leutnant Zürn begonnen» worden.36 Weder zerstörten die Herero sofort die für die deutsche Kriegführung wichtige Bahnlinie, noch überrannten sie die deutschen Garnisonen in Okahandja und Windhuk – obwohl das angesichts der anfänglichen Konzentration der «Schutztruppe» im Süden, wo Leutwein den Krieg gegen die Bondelzwarts führte, ein Leichtes gewesen wäre. Offenbar lagen freilich auf beiden Seiten die Nerven blank. Angestaute Frustrationen und gewachsenes Gewaltpotential in der aus den Fugen geratenen Hererogesellschaft trugen dazu bei, dass insbesondere jüngere Einheimische deutsche Angriffe sofort erwiderten und die Lage schnell eskalierte. In der ersten Woche nach dem Beginn der Feindseligkeiten massakrierten Herero in Okahandja und südlich davon, wo sich die Farmen der Siedler konzentrierten, mehr als hundert Weiße. Nahezu alle der getöteten Weißen waren Männer. Mit drei Ausnahmen verschonten die Herero weiße Frauen; in vielen Fällen eskortierten sie diese zu den Missionsstationen. Einige der männlichen Leichen wurden verstümmelt aufgefunden: Manche waren kastriert worden, anderen hatte man die Hände abgehackt. Dabei dürfte es sich um Farmer gehandelt haben, die ihre schwarzen Arbeiter misshandelt und einheimische Frauen vergewaltigt hatten. Ohne dass diese wahrscheinlichen Motive erwähnt wurden, nahmen die Verstümmelungen in den Nachrichten über die «Revolte» der Herero, die unter den Siedlern und im Deutschen Reich kursierten, eine zentrale Rolle ein. Das Gleiche galt für die Ermordung weißer Frauen. Deren Zahl wurde stark übertrieben, die tatsächlich unklaren Umstände ihres Todes phantasievoll aufgebauscht. Unter dem Einfluss solcher Gräuelgeschichten nahmen die meisten Deutschen bald ihre Gegner nur noch als hinterhältige «schwarze Bestien» wahr. Die fortlaufend aus der Heimat verstärkte «Schutztruppe» ging weitgehend unterschiedslos gegen alle Herero vor. Unter überlebenden deutschen Siedlern verbreitete sich einem Missionar zufolge die Parole: «Aufräumen, aufhängen, niederknallen bis zum letzten Mann, kein Pardon». Ein anderer Missionar berichtete, die Nachricht vom Kommen deutscher Truppen habe unter den Herero seiner Station «einen solchen panischen Schrecken hervorgerufen, daß nicht nur das
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Dienstmädchen meines Herrn Kollegen, die gerade beim Spülen des Geschirrs beschäftigt, sofort alles hinwarf und aus dem Hause flüchtete mit dem Angstschrei: Die Soldaten kommen und machen uns alle tot, sondern auch meine Leute taten dasselbe und im Handumdrehen war unser Haus von allen Dienstboten und anderen Hereros entblößt. Da half kein Zureden, kein Aufhalten, kein gutes aufmunterndes Wort, es hieß nur: Die Deutschen kommen. […] Wenn die Soldaten uns fassen, dann lassen sie auch Frauen und Kinder nicht leben.»37 Angesichts der deutschen Kriegführung schlossen sich alle Herero bis zum März 1904 Samuel Maharero an, nachdem anfangs die anderen Kapiteine die Nachricht vom Ausbruch der Feindseligkeiten mit Unglauben aufgenommen hatten. Weil die «Schutztruppe» Eisenbahnwagen mit Maschinengewehrnestern einsetzte, zog Maharero sich mit seinen Leuten von Okahandja aus ins Landesinnere abseits der Bahnlinie zurück. Von dort sandte er in den letzten Januartagen vergebens Hilferufe an Hendrik Witbooi und andere einheimische Stammesführer. Abgefangene Exemplare dieser Schreiben wurden von deutscher Seite auf die Zeit vor dem Kriegsbeginn am 12. Januar vordatiert und galten fortan als vermeintliche Beweise einer Verschwörung der Herero. Den «Rassenkampf», den deutsche Siedler und schließlich auch der Generalstab in Berlin entbrannt sahen, gab es freilich nicht. Ebenso wenig war die weitere Entwicklung bis zum systematischen Völkermord an den Herero zwangsläufig. Nicht nur zeigte Samuel Maharero Bereitschaft zur Deeskalation, indem er seine Leute anwies, weder gegen englische und niederländische Siedler noch gegen die einheimischen Hilfstruppen der Deutschen zu kämpfen. Diese Anweisung, wahrscheinlich im Februar gegeben, wurde von deutscher Seite später ebenfalls auf den 11. Januar vordatiert und als «Aufstandsbefehl» interpretiert, obwohl darin tatsächlich keinerlei Aufruf zur Erhebung enthalten war. Auch Gouverneur Leutwein zeigte sich offen dafür, den ausgebrochenen Konflikt in enger Zusammenarbeit mit seinem langjährigen politischen Partner Maharero zu entschärfen. Die Nachricht vom Ausbruch der Kämpfe im Gebiet der Herero erreichte Leutwein Hunderte Kilometer südlich, wo er die militärischen Operationen gegen die Bondelzwarts führte. Sofort bot er dem rebellierenden Namastamm einen Kompromissfrieden an, der Ende Januar zustande kam. Mitte Februar traf der Gouverneur in Okahandja ein. Von
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dort bahnte er in einem Brief Verhandlungen mit Samuel Maharero an, indem er danach fragte, was aus Sicht der Herero die Ursachen des Konflikts seien und wie dieser beendet werden könne. Über die Missionare erreichte der Brief Maharero Anfang März am Oberlauf des Swakop. Dort lagerten Tausende Herero mit ihren Herden. Viele der jungen Männer trugen deutsche Uniformen und Waffen, die sie bei der Plünderung von Farmen und Magazinen der «Schutztruppe» erbeutet hatten. Auf die Missionare machten sie einen kriegsbegeisterten Eindruck. Samuel Mahareros Erscheinung bildete dazu einen scharfen Kontrast: Wie zu Friedenszeiten in Okahandja trug er Anzug, Hut und den Gehstock mit silbernem Griff. In seinem Antwortschreiben an Leutwein identifizierte er als Hintergründe des Konflikts den Kredithandel der Weißen, die von Siedlern gegen Herero verübten Gewalttaten und die einseitigen Urteile der Gerichte dazu. Den Ausbruch offener Feindseligkeiten habe jedoch Leutnant Zürn auf dem Gewissen: Der Krieg, schrieb Maharero, sei «Zürns Krieg». Leutwein solle Zürn und die Händler dazu befragen, dann könne man miteinander reden.38 Der Gouverneur entließ Zürn als Distriktschef von Okahandja und schickte ihn nach Deutschland, damit er dort vor ein Militärgericht gestellt werden konnte. In Berlin war man aber weder an einer Ursachenanalyse noch einer Verhandlungslösung des Konflikts in Südwestafrika interessiert. Der Prozess gegen Zürn fand nicht statt, und Leutwein erhielt die Anweisung, gegenüber den Herero auf «bedingungsloser Übergabe» zu bestehen. Damit war sein Spielraum massiv eingeschränkt: Er konnte jetzt nur noch versuchen, Maharero durch einen entscheidenden militärischen Erfolg der deutschen «Schutztruppe» zur Kapitulation zu bewegen, um dann einen glimpflichen Frieden abzuschließen. Doch das gelang nicht. Im April 1904 kam es zu zwei größeren Gefechten. In dem ersten schlugen die deutschen Soldaten und ihre von Hendrik Witbooi gestellten einheimischen Hilfstruppen die vereinigten Herero in die Flucht. Bei dem zweiten wurden Leutwein und seine Männer jedoch umzingelt. Unter großen Verlusten gelang ihnen nach Sonnenuntergang der Rückzug. Die Herero nutzten ihren Sieg nicht aus und setzten den Gegnern nicht nach. Offenbar ging Samuel Maharero davon aus, dass Leutwein nun einen Kompromissfrieden anbieten würde, wie er es gerade bei den Bondelzwarts und 1894 gegenüber Hendrik Witbooi getan hatte.
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Aber Leutwein hatte auf deutscher Seite nicht mehr das Sagen. Nach seinem militärischen Misserfolg war ihm aus Berlin das Kommando über die «Schutztruppe» entzogen und jede weitere Aktion untersagt worden. Zu Leutweins Nachfolger ernannte Kaiser Wilhelm II. gegen den Rat des Reichskanzlers, des Kriegsministers und der Kolonialabteilung im Auswärtigen Amt den Kandidaten des Generalstabs, Generalleutnant Lothar von Trotha. Im Juni traf von Trotha an der Spitze beträchtlicher Verstärkungen in Südwestafrika ein. Bei einem Zusammentreffen in Okahandja bat Leutwein seinen Nachfolger, «den Krieg so durchzuführen, daß das Volk der Herero erhalten bleibe». Von Trotha antwortete ominös: «Sie müssen schon gestatten, daß ich den Feldzug nach eigenem Ermessen führe.»39 Vor von Trothas Ankunft hatte Leutwein noch einen letzten Versuch zur Entschärfung des Konflikts unternommen. In einer Proklamation sicherte er den Anhängern von Samuel Maharero, die sich ergaben und keine weißen Farmer getötet hatten, ihr Leben zu. Doch als eine Gruppe von Herero sich darauf berief, wurde sie von Leutweins Nachfolger zurückgewiesen. Von Trotha setzte stattdessen darauf, alle Herero am Waterberg einzukesseln, wohin sie sich unter Führung von Maharero zurückgezogen hatten. Dort wollte der deutsche Befehlshaber den «Feind», wie es in seinem Befehl vom 4. August hieß, «gleichzeitig mit allen Abteilungen angreifen, um ihn zu vernichten».40 Ob die Soldaten der deutschen «Schutztruppe» damit bereits angewiesen wurden, alle Herero einschließlich Frauen und Kindern zu töten, ist bis heute umstritten. Im Sprachgebrauch preußischer Generalstabsoffiziere stand «Vernichtung» seit 1871 für jeden militärischen Erfolg, der dem Gegner das Weiterkämpfen unmöglich machte, also auch für Entwaffnung und Gefangennahme. Das erreichte von Trotha jedenfalls nicht. Am 11. August 1904 gelang es den deutschen Soldaten und ihren einheimischen Hilfstruppen in der Schlacht am Waterberg zwar, die Herero zu besiegen. Der größte Teil der Geschlagenen konnte mit Angehörigen und Vieh aber durch den deutschen Umfassungsring nach Osten in die Trockensavanne der Omaheke fliehen. Von Trotha hat später behauptet, genau das beabsichtigt zu haben. Die deutschen Truppen setzten den Flüchtenden nach, schnitten ihnen den Weg nach Norden und Süden ab und verfolgten sie von Wasserloch zu Wasserloch. Am 2. Oktober ließ von Trotha ausgerechnet nach einem
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Feldgottesdienst kriegsgefangene männliche Herero aufhängen. Dann jagte er deren Frauen und Kinder zu ihren Stammesgenossen in die Omaheke mit einer Proklamation, in der er ankündigte: «Innerhalb der deutschen Grenzen wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh, erschossen. Ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volk zurück oder lasse auf sie schießen.» Auf Samuel Maharero und die übrigen Kapiteine setzte der deutsche Befehlshaber eine Kopfgeldprämie aus. Das «Volk der Herero» aber, erklärte er, müsse «das Land verlassen».41 Monatelang schossen deutsche Posten an der Westgrenze der Omaheke auf alles, was sich ihnen näherte. Zehntausende Herero kamen in dem Sandfeld um. Anderen gelang es, sich nachts an den Posten vorbei zurück in ihr Land zu schleichen. Mit den dort Zurückgebliebenen wurden sie jahrelang in Arbeitslager gepfercht, wo sie zu Tausenden an Misshandlungen, Fehlernährung und Vernachlässigung starben. Das gleiche Schicksal ereilte auch die Nama, die sich seit Ende August 1904 gegen die deutsche Herrschaft erhoben. Die Witbooi, die sich zunächst am Feldzug gegen die Herero auf Seiten der «Schutztruppe» beteiligt hatten, argwöhnten bald zu Recht, dass von Trotha ihnen das gleiche Schicksal zudachte. Hendrik Witbooi wurde im Kampf gegen die Deutschen 1905 getötet. Der Guerillakrieg seiner Leute gegen die Deutschen, die zeitweilig bis zu 15 000 Soldaten einsetzten, zog sich noch zwei Jahre länger hin. Gegen den Völkermord erhob sich auf deutscher Seite frühzeitig Widerspruch. Der als militärischer Oberbefehlshaber durch von Trotha abgelöste und als Gouverneur faktisch entmachtete Theodor Leutwein protestierte wiederholt erfolglos dagegen. Leutweins langjähriger Mitarbeiter Major Ludwig von Estorff, jetzt Stellvertreter von Trothas in der «Schutztruppe», kritisierte ebenfalls dessen erbarmungsloses Vorgehen gegen die Herero. Seiner Meinung nach war es «eine ebenso grausame wie törichte Politik, das Volk so zu zertrümmern, man hätte noch viel von ihm und ihrem Herdenreichtum retten können, wenn man sie jetzt schonte und wieder aufnahm, bestraft waren sie genug. Ich schlug dies dem General von Trotha vor, aber er wollte ihre gänzliche Vernichtung.»42 Je mehr Einzelheiten über die völkermörderische Praxis der Kriegführung in Südwestafrika nach Deutschland durchsickerten, desto stärker wurde auch dort die Kritik. Presse und Reichstagsabgeordnete der
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Sozialdemokraten, der Linksliberalen und der Zentrumspartei stimmten in die Rufe der Rheinischen Missionsgesellschaft ein, von Trotha das Kommando zu entziehen. Sogar die Mehrheit der Siedler in Südwestafrika erkannte bald, dass dessen genozidale Politik sie aller Arbeitskräfte zu berauben drohte. Nachdem von Trotha mit seiner Haltung die Nama in den Aufstand getrieben hatte und ein Ende der Kampfhandlungen damit immer weiter in die Ferne rückte, entzog ihm in Berlin schließlich auch der deutsche Generalstab die Unterstützung. Im Dezember 1904 ordnete Wilhelm II. an, die «Schutztruppe» solle kapitulierenden Herero gegenüber «Gnade üben». Von Trotha zögerte die Umsetzung der kaiserlichen Anordnung noch einige Monate hinaus.43 Schließlich beugte er sich widerwillig und reichte verbittert seinen Abschied ein. Nach Deutschland zurückgekehrt, wurde er vom Kaiser demonstrativ nicht empfangen, in den vorzeitigen Ruhestand versetzt und gesellschaftlich weitgehend geächtet. Die Leitung der Kolonialverwaltung in Südwestafrika übernahm ein früherer enger Mitarbeiter von Theodor Leutwein. Befehlshaber der «Schutztruppe» wurde 1907 Ludwig von Estorff. Im gleichen Jahr kehrte mit dem Ende der letzten Kampfhandlungen wieder so etwas wie Ruhe in Südwestafrika ein. Es war die Ruhe eines Friedhofs. Von den geschätzt 60 000 bis 80 000 Herero, die es 1903 gegeben hatte, hatten nur rund 16 000 den Krieg und die Lager überlebt. Von etwa 20 000 Nama war jeder zweite Opfer des Völkermords geworden. Die Überlebenden hatten all ihre Herden, ihre Waffen und ihre Freiheit verloren. In einer Kolonialgesellschaft, die nach rassischen Kriterien zunehmend hierarchisch geordnet wurde, schlugen sie sich in den nächsten Jahren mehr schlecht als recht durch – als Bergleute oder beim Eisenbahnbau, als Dienstboten und Arbeiter in den Haushalten und auf den Farmen der Weißen, wenig besser gestellt als Sklaven.
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Nicht alle Herero kamen 1904 in der Omaheke oder Lagern um, wurden von deutschen Kugeln und Artilleriegeschossen getötet oder zu Sklaven im eigenen Land gemacht. Über tausend gelang die Flucht – nach Nor-
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den ins portugiesische Angola, nach Süden in die britische Kapprovinz und vor allem nach Osten ins ebenfalls britische Botswana. Zu denen, die es nach Botswana schafften, gehörte auch Samuel Maharero mit seiner Familie. Ihre Pferde und Rinder waren in der Omaheke verendet. Mittellosigkeit machte sie von der Unterstützung der auf britischem Gebiet ansässigen Stämme abhängig. Als diese versiegte, ging Samuel Maharero notgedrungen auf das Angebot eines Engländers ein, sich in der Kapprovinz anzusiedeln. Mit Hunderten anderer geflüchteter Herero, die ihn nach wie vor als ihren Omuhona anerkannten, ließ er sich 1907 in Transvaal nieder. Dort musste er allerdings erkennen, dass die Briten ihn getäuscht hatten: Als Gegenleistung für Unterkunft in Hütten auf gepachtetem Land wurde er gezwungen, seine Leute die Hälfte jedes Jahres in Bergwerken schuften zu lassen. Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs kam es auch zu Kämpfen zwischen deutschen und britisch-südafrikanischen Kolonialtruppen in Südwestafrika. Beide Seiten verstärkten ihre Reihen durch Hererosoldaten. 1915 kapitulierte die deutsche «Schutztruppe». Sechs Jahre später wurde Südwestafrika ein Völkerbundsmandat der Südafrikanischen Union, die damit faktisch die Nachfolge des Deutschen Reichs als Kolonialmacht übernahm. Für die Herero und Nama änderte sich wenig. Wie die alten nutzten auch die neuen Kolonialherren die Einheimischen als billige Arbeitskräfte. Die von den Deutschen begonnene Rassentrennung wurde von den Briten und weißen Südafrikanern fortgeführt und im Lauf der Zeit verstärkt. Samuel Maharero hatte die britischen Behörden schon seit 1917 wiederholt darum gebeten, in seine Heimat zurückkehren zu dürfen. Die Briten reagierten entweder ausweichend oder schlugen seine Bitten rundheraus ab. Auch als er zusicherte, sich nicht politisch betätigen zu wollen, änderte das an der ablehnenden Haltung der Behörden nichts. Heimwehkrank, herzleidend und von Magenkrebs gezeichnet, bat er schließlich darum, wenigstens in das Südwestafrika benachbarte Botswana ziehen zu dürfen. Das wurde ihm gewährt. Knapp drei Monate nach seiner Ankunft in Botswana, am 14. März 1923, starb er dort. Erst dem toten Omuhona gestattete die neue Kolonialmacht die Rückkehr in das Land seiner Vorfahren. Samuels Söhne erhielten nach monatelangem Hin und Her endlich die Erlaubnis, ihn heimzubringen. Ende August 1923 dampfte ein Zug mit seinen sterblichen Überresten in
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den Bahnhof von Okahandja. Den bleibeschlagenen Sarg erwartete ein phänomenaler Empfang. Von den etwa 20 000 Herero in Südwestafrika nahmen 2700 Männer und ungezählte Frauen an der Beerdigung teil. Die Beisetzungsfeier griff manche Elemente von Zeremonien der europäischen Kolonialherren auf. Ihr Ablauf ähnelte dem des Staatsbegräbnisses, das 1914 dem vorletzten deutschen Gouverneur von Südwestafrika zuteilgeworden war. Der Sarg war allerdings mit einem Union Jack bedeckt. Berittene Bewaffnete in deutschen und britischen Uniformen paradierten, eine Blaskapelle spielte. Doch gleichzeitig war die Feier eine Demonstration neuen Selbstbewusstseins der Herero. Die gesamte Zeremonie fand in ihrer Sprache statt – einschließlich des von einem deutschen Missionar abgehaltenen christlichen Gottesdienstes, für den sie klare Vorgaben gemacht hatten. Bevor der Sarg in die ausgehobene Grube gelassen wurde, rief ein Stammesältester die Ahnen Samuel Mahareros an. Sein designierter Nachfolger als Omuhona beschwor den Charakter der Feier als Ende einer Ära und neuen Anfang. Tatsächlich brachte die Beerdigungsfeier nicht nur zum ersten Mal einen Großteil der Herero zusammen, die den an ihnen verübten Völkermord überlebt hatten. Sie markierte auch ihr neues Selbstverständnis als Nation und «Volk», das eigene Traditionen mit europäischen Modellen verband. In diesem Rahmen erhielt der tote Samuel Maharero den Status eines Nationalhelden zuerkannt. Damit war das Ende eines Prozesses der Umwertung seiner Person erreicht, der 1904 begonnen hatte. Denn als Omuhona in Okahandja war er stets umstritten gewesen. Als Nachfolger seines Vaters hatte er sich nur mit deutscher Hilfe durchgesetzt. Dann war ihm der Verkauf von Stammesland an weiße Farmer, durch den er seinen luxuriösen Lebensstil finanzierte, von vielen Herero übel genommen worden. Erst der Krieg mit den Deutschen, den er nicht gewollt und noch Monate nach seinem Beginn friedlich beizulegen versucht hatte, machte aus ihm eine allgemein anerkannte Führerfigur. Parallel zum Verlust von Samuel Mahareros Macht wuchs paradoxerweise sein Prestige unter den Herero. Auf deutscher Seite verlief seine Wahrnehmung umgekehrt. Für Theodor Leutwein war Samuel Maharero ein enger Verbündeter gewesen. Aus politischer Partnerschaft entwickelte sich zwischen beiden ein geradezu freundschaftliches Verhältnis. Maharero korrespondierte mit Wilhelm II., der Kaiser empfing seinen Sohn in Berlin. Mit vielen deut-
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schen Kolonialbeamten, Händlern und anderen «alten Afrikanern» unter den Europäern in Südwestafrika stand der Omuhona von Okahandja auf vertrautem Fuß. Nach der Jahrhundertwende änderte sich das jedoch langsam. Die meisten der Siedler, die jetzt in das deutsche «Schutzgebiet» strömten, waren nicht bereit, einem Einheimischen eine hervorgehobene soziale Stellung zuzugestehen. Mit dem Beginn des Krieges zwischen Deutschen und Herero Anfang 1904 schlug die Stimmung dann radikal um. Samuel Mahareros Bild wandelte sich zu dem eines hinterhältigen «Verräters». Im Deutschen Reich zirkulierten kolorierte Postkarten mit seinem Bild, auf denen er als «der feige Oberhäuptling der Hereros» diffamiert wurde. Memoiren «alter Afrikaner» zeichneten ihn als willensschwachen Alkoholiker, der erst durch Landverkauf seine eigenen Leute und schließlich auch seine deutschen Partner betrogen habe. Je nach Interessenlage schwankt das Bild, das Zeitgenossen und Nachlebende sich von Samuel Maharero machten, so zwischen den Polen von Verdammung und Heroisierung. Gleichermaßen fern von beiden Extremen hat ihn dagegen sein Biograph Gerhard Pool charakterisiert. Seit der Unterzeichnung des Schutzvertrages von Okahandja am 21. Oktober 1885 versuchte Maharero demnach das Engagement der Deutschen in Südwestafrika zum eigenen Vorteil auszunutzen. Wie die meisten Menschen verfolgte er vor allem seine persönlichen Interessen. In Südwestafrika sind die Ereignisse von 1904 als erstes Aufbäumen gegen europäische Eindringlinge in eine Meistererzählung namibischer Nationalgeschichte integriert worden. In Deutschland werden seit einiger Zeit ganz andere Kontinuitäten konstruiert. Hierzulande wird der Völkermord an den Herero und Nama mit dem an Juden, Sinti und Roma verglichen. Der Genozid von 1904 erscheint vielfach als ein direkter Vorläufer nationalsozialistischer Vernichtungspolitik während des Zweiten Weltkriegs. Von «Windhuk nach Auschwitz» führten, so eine besonders von Jürgen Zimmerer vertretene These, zahlreiche Kontinuitätslinien.44 Wie die deutsche Wehrmacht während des Zweiten Weltkriegs in Osteuropa und besonders in der Sowjetunion ging bereits die deutsche «Schutztruppe» in Südwestafrika im Krieg gegen Herero und Nama weitgehend unterschiedslos gegen Bewaffnete und Unbewaffnete, Männer, Frauen und Kinder vor. In beiden Fällen wurde das durch die Vor-
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stellung eines «Rassenkampfes» gerechtfertigt. Diese rassistische Sicht auf den Konflikt mit Herero und Nama teilten 1904 nicht nur der vom Kaiser ernannte deutsche Oberbefehlshaber von Trotha und der Generalstabschef in Berlin.45 Ein rassistisches Weltbild begegnet einem auf Schritt und Tritt auch in den Tagebüchern und veröffentlichten Erinnerungsberichten von Soldaten der «Schutztruppe» oder Siedlern in Südwestafrika. Mit seiner Überzeugung, dass die Einheimischen «nur der Gewalt weichen» würden, stand von Trotha alles andere als alleine. Mit «Strömen von Blut» wollte ein deutscher Oberkommandierender nicht erst 1941 zu Feinden erklärte fremde Völker entweder «vernichten» oder vertreiben, damit deutsche Siedler deren Gebiet in Besitz nehmen konnten.46 Wie später die Nationalsozialisten Osteuropa sahen 1904 etliche Deutsche Südwestafrika als von seinen «Eingeborenen» gleichsam unerschlossenes Land. Im unhinterfragten Hochgefühl eigener Überlegenheit fühlten sie sich deshalb berufen, es zu besiedeln und zu «kultivieren». Auch die mit militärischen und bürokratischen Methoden betriebene Entrechtung und Ermordung der Einheimischen, das System von Lagern, Zwangsarbeit und rigoroser Rassentrennung erscheinen als Parallelen. In Südwestafrika kam es zum ersten Mal in der deutschen Geschichte zu einem mit staatlichen Machtmitteln durchgeführten Völkermord. Die landläufig gerne damit verglichene Ausrottung der nordamerikanischen und australischen Ureinwohner war dagegen das Werk von Siedlermilizen ohne direkte staatliche Beteiligung. Auch einzelne personelle Verbindungslinien zwischen dem Völkermord an Herero und Nama und dem Nationalsozialismus gibt es. Einer der Offiziere der südwestafrikanischen «Schutztruppe» von 1904, Franz von Epp, wurde in den 1930er Jahren von Hitler zum Leiter des Kolonialpolitischen Amtes der NSDAP und Führer des Reichskolonialbundes ernannt. Hitler und andere Nationalsozialisten verglichen das im Zweiten Weltkrieg eroberte «Ostland» wiederholt mit Kolonien. Auch subjektiv scheint es zumindest auf den ersten Blick also Zusammenhänge zwischen dem von Deutschen verübten Völkermord in Südwestafrika und dem Völkermord in Osteuropa während des Zweiten Weltkriegs zu geben. Hannah Arendt und Frantz Fanon haben zur Diskussion gestellt, ob die Kriegführung in Europa während des Zweiten, aber auch schon des Ersten Weltkriegs als eine Rückkehr der Gewalt verstanden werden
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kann, die Europäer bis dahin auf anderen Kontinenten praktiziert hatten. Die Entgrenzung des Krieges von Kämpfern auf ganze Völker, die Einbeziehung von Zivilisten, von Frauen und Kindern als legitimen Opfern kriegerischer Gewalt war danach nur ein Reimport von etwas, das europäische Kolonialherren bereits außerhalb Europas praktizierten. Anders als in der zeitgenössischen europäischen Sicht erscheint Afrika, wo die koloniale Gewöhnung an entgrenzte Kriegführung vor allem stattfand, aus dieser Perspektive nicht als der «dunkle Kontinent». Der dunkle Kontinent ist vielmehr Europa selbst. Von Historikern, die starke Linien der Kontinuität zwischen dem Völkermord an Herero und Nama und dem an Juden, Sinti und Roma betonen, wird diese These oft als Untermauerung der eigenen Ansichten gesehen. Allerdings haben weder Fanon noch Arendt ihre Überlegungen nur auf Deutschland bezogen. Die Rücksichtslosigkeit, mit der etwa Italien bei der kolonialen Eroberung Libyens und Äthiopiens vorging, war mit der deutscher «Schutztruppen» in Südwest- oder Ostafrika durchaus vergleichbar. Ähnliches gilt für die französische «Erschließung» Algeriens, die zwischen 1830 und 1872 mindestens eine Viertelmillion einheimischer Zivilisten das Leben kostete. Etwa die gleiche Zahl ziviler Todesopfer war innerhalb weniger Jahre das Resultat des 1898 begonnenen philippinischen Aufstandes gegen die Kolonisierung durch die USA. Der Versuch Spaniens, Ende des 19. Jahrhunderts eine Revolte auf Kuba niederzuschlagen, forderte unter den Einheimischen mehr als 100 000 Tote. Belgien und der Kongo, Großbritannien und Indien oder Kenia – die Liste ließe sich verlängern. In all diesen Fällen gab es jeweils eine Entgrenzung von Gewalt, wurden Zivilisten, Frauen und Kinder Opfer kolonialer Kriegführung. In all diesen Fällen spielten dabei rassistische Denkmuster eine Rolle. Weiße sahen sich als kulturell überlegen und hielten sich für berufen, «unerschlossene» Räume zu kolonisieren und vermeintlich «wilde» Völkerschaften zu «zivilisieren». Wenn Einheimische sich dagegen zur Wehr setzten, wurden sie mit kriegerischen Mitteln unterworfen, entwaffnet, enteignet, in Lager gesteckt und zu Zehntausenden umgebracht. In allen Fällen beteiligten staatliche Akteure sich daran, wobei diese wie in Südwestafrika oft eng mit weißen Siedlern und Händlern vor Ort verbunden waren und häufig deren Interessen wahrnahmen. Dennoch haben die meisten der auf diese rücksichtslose Weise Kolonialpolitik treibenden
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Nationen insbesondere im Zweiten Weltkrieg in Europa bei Weitem nicht so brutal und völkermörderisch Krieg geführt wie das nationalsozialistische Deutschland. Sieht man näher hin, sind tatsächlich auch die spezifischen Kontinuitätslinien zwischen den deutschen Völkermorden in Südwestafrika und im Zweiten Weltkrieg recht dünn. Wenn Hitler und andere Nationalsozialisten die Eroberung des «Ostraums» mit kolonialen Vorbildern in Verbindung brachten, dann bezogen sie sich meist auf die britische Herrschaft in Indien, die Besiedlung des amerikanischen Westens oder die deutsche Ostsiedlung im Mittelalter. Die Kolonialpolitik des deutschen Kaiserreichs stand dagegen subjektiv nur selten Pate. Franz von Epp, das Kolonialpolitische Amt der NSDAP und der Reichskolonialbund spielten innerhalb des nationalsozialistischen Regimes lediglich eine untergeordnete Rolle: Die nach dem Ersten Weltkrieg verlorenen deutschen Kolonien wiederzuerlangen hatte für Hitler und andere NS-Größen keine Priorität. Die wenigsten der nationalsozialistischen «alten Kämpfer» hatten an den Kolonialkriegen des Kaiserreichs teilgenommen. Ihre prägenden Lebenserfahrungen waren vielmehr der Erste Weltkrieg, die Mitgliedschaft in Freikorps oder die auf vielfache Art vermittelte Erinnerung daran. Der Genozid an Herero und Nama einerseits, die Shoah andererseits sind sich zwar in manchem ähnlich. Das heißt aber keineswegs unbedingt, dass sie auch ursächlich miteinander verknüpft waren. Situative Parallelen sind etwas anderes als kausale Kontinuitäten.47 Bei der Konstruktion solcher Kontinuitäten wird nicht nur die Zäsur des Ersten Weltkriegs leicht übersehen. Auch die massive Kritik, die von Trothas Vernichtungsbefehlen in der deutschen Verwaltung Südwestafrikas, der «Schutztruppe» und in der Öffentlichkeit des Deutschen Reichs sofort entgegenschlug, gerät dabei aus dem Blickfeld. Zu ihr gab es im nationalsozialistischen Deutschland kein Gegenstück. Zudem erkannte man in Berlin sehr bald, dass das Vorgehen des kaiserlichen Befehlshabers in der Kolonie ökonomisch wie militärisch kontraproduktiv war. Diese Erkenntnis und die öffentliche Kritik zusammen führten innerhalb von zwei Monaten dazu, dass Wilhelm II. von Trotha zurückpfiff. Dessen völkermörderische Politik blieb deshalb zwar eine ebenso blutige wie folgenreiche, aber doch nur kurze Episode der deutschen Herrschaft in Südwestafrika.
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Lothar von Trotha war nicht dorthin entsandt worden, weil der Kaiser seine Disposition zum Völkermord teilte. Wilhelm II. entschied sich vielmehr deshalb für einen Hardliner, weil der in Südwestafrika ausgebrochene Krieg mit den Herero zu belegen schien, dass ein auf Kooperation mit Einheimischen und langsamen Wandel in der Kolonie zielender Kurs, wie ihn der bisherige Gouverneur Theodor Leutwein praktiziert hatte, gescheitert war. Ganz ähnlich hatte das Scheitern von Leutweins Vorgänger Curt von François, der wie von Trotha eine rigide Konfrontationspolitik verfolgte, 1894 zu dessen Abberufung geführt. Und von Trothas ebenso offensichtliches Versagen dabei, die Lage unter Kontrolle zu bringen, resultierte schon 1905 in seiner erzwungenen Demission. Seine Nachfolger, die sich zum guten Teil aus Leutweins ehemaligen Mitarbeitern rekrutierten, kehrten zu den Grundzügen von dessen Politik zurück – wenn auch unter nun wesentlich veränderten Umständen. Leutwein war wie nahezu alle Europäer von einer eigenen Überlegenheit über Afrikaner ausgegangen. Diese würden deshalb, wie er schon bei seinem Amtsantritt als deutscher Gouverneur Südwestafrikas 1894 meinte, in ihrem eigenen Land von den «betriebsamen Weißen» auf Dauer zurückgedrängt werden. Kolonialpolitik war deshalb in seinen Augen «überhaupt eine inhumane Sache. Und sie kann schließlich doch nur auf eine Beeinträchtigung der Rechte der Ureinwohner zugunsten der Eindringlinge hinauslaufen.» Das müsse aber keineswegs mit kriegerischen Zusammenstößen zwischen beiden einhergehen. Vielmehr liege «die ganze Zukunft der Kolonie in dem allmählichen Übergang des Landes aus den Händen der arbeitsscheuen Eingeborenen in diejenigen der Europäer begründet, was auf diesem Wege in der friedlichsten Weise geschehen wird». Bis 1904 ging Leutwein davon aus, «daß die überlegenere Rasse bei dauerndem Zustrom schließlich doch noch auch auf friedlichem Wege siegen würde».48 Den Schlüssel für einen solchen evolutionären Übergang des Landes und seiner Ressourcen in die Hände der Weißen hatte er bereits zu Beginn seiner Amtszeit in der Attraktivität europäischer Konsumgüter gesehen: «Endgültiger Wandel wird in dieser Richtung erst zu erwarten sein, wenn die Hereros sich soviel europäische Bedürfnisse angewöhnt haben werden, daß ihre Ochsen rechtzeitig in die Hände weißer Händler übergehen.» Die Erfahrungen insbesondere mit Samuel Maharero, der
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seinen selbst von vielen Europäern mit Neid betrachteten Lebensstil durch den Verkauf von Stammesland finanzierte, bestärkten Leutwein in dieser Ansicht. Er ging davon aus, auf ähnliche Weise wie Maharero die meisten Herero mit der deutschen Herrschaft «versöhnen» zu können. Durch den «richtigen Mittelweg zwischen Nachsicht und Strenge» wollte er die Masse der «Eingeborenen» schließlich in eine neu zu schaffende koloniale Gesellschaft integrieren – was letzten Endes auf schrittweise Degradierung zu Dienstboten und billigen Arbeitskräften für die Weißen hinauslief.49 Einheimischen Stämmen, die zwischen 1894 und 1904 gegen diese Politik revoltierten, wurden ihre Waffen und oft auch zumindest Teile ihres Landes und ihres Viehs auf einen Schlag weggenommen. Gegen von Trothas «Vernichtungspolitik» bezog Leutwein dagegen entschieden Stellung. Das geschah freilich, wie er sich der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amts gegenüber rechtfertigte, «nicht aus Liebe zu den Eingeborenen, sondern aus Liebe zu unserer Sache. Denn ich halte eine Vernichtung der Eingeborenen, zumal eines so lebenskräftigen Stammes wie die Hereros, wirtschaftlich für schädlich und militärisch für undurchführbar.» Schließlich sei eine Kolonie ohne billige einheimische Arbeitskräfte weniger wert: «Wir bedürfen der Hereros noch als kleine Viehzüchter und besonders als Arbeiter. Nur politisch tot muß das Volk gemacht werden.»50 Auf eine solche durch ökonomische Nützlichkeitserwägungen motivierte Kolonialpolitik schwenkte nicht allein die deutsche Verwaltung Südwestafrikas nach von Trothas erzwungenem Abgang wieder ein. Unter anderem als Reaktion auf dessen desaströsen Amoklauf setzte sich auch in Berlin dieselbe Richtung durch. 1906 wurde der Wirtschaftsmanager Bernhard Dernburg zum Chef der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes berufen. Dernburg distanzierte sich ausdrücklich von einer Kolonialpolitik mit «Zerstörungsmitteln» und propagierte die friedliche «Entwicklung» der deutschen Kolonien. Betrieben wurden nun vor allem die kulturelle und wirtschaftliche «Hebung» der «Eingeborenen» und ihre Einbindung in eine produktive Kolonialwirtschaft. Wie schon Theodor Leutwein orientierte Dernburg sich bei diesem Kurs einer «Produktivierung» der Kolonien am Vorbild des liberal und parlamentarisch regierten Großbritannien. Das Projekt einer Kolonialpolitik als «Zivilisierungsmission» nach
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britischem Muster wurde im späten Kaiserreich auch und gerade von den Parteien unterstützt, die von Trothas Kriegführung in Südwestafrika massiv kritisiert hatten – also den linken Liberalen, der Zentrumspartei und Teilen der Sozialdemokratie. Selbst August Bebel sprach sich 1906 prinzipiell für «eine solche Kolonisation als Kulturmission» aus, um Afrikaner «zu Kulturmenschen zu erziehen».51 Bernhard Dernburg trat nach der Revolution von 1918 der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei bei und wurde in der vom Sozialdemokraten Philipp Scheidemann geführten ersten gewählten Regierung der Weimarer Republik Finanzminister. Kolonialminister konnte er nicht werden, weil Deutschland seine Kolonien im Ersten Weltkrieg verloren hatte. Die Forderung nach ihrer Rückgabe einte alle politischen Lager der Republik. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in der Bundesrepublik vielfach nahtlos an das Bild einer «wohlwollenden» Kolonialpolitik des Kaiserreichs angeknüpft, das schon in der ersten deutschen Demokratie gepflegt worden war. Auch die westdeutsche «Entwicklungshilfe», die seit den 1950er Jahren jahrzehntelang weit überproportional in die ehemaligen «Schutzgebiete» floss, führte Traditionslinien ungebrochen fort. Weil Deutschland keine Kolonien mehr besaß, blieben der Bundesrepublik die Erschütterungen der Dekolonisation erspart, die andere parlamentarisch-demokratisch regierte Staaten wie Großbritannien und Frankreich durchlebten. In weißen Siedlerkolonien, etwa in Kenia oder Algerien, kam es dabei zu blutigen Kriegen. Diese Erfahrungen stießen in der französischen und britischen Gesellschaft teilweise eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Kolonialgeschichte an. In der deutschen Öffentlichkeit blieb diese hingegen noch länger aus, obwohl allein der Völkermord in Südwestafrika 1904 genug Anlass dafür geboten hätte. Der Genozid dort war wie der Nationalsozialismus kein «Schritt vom Weg» oder Betriebsunfall der deutschen Geschichte. Aber er war auch nicht zwangsläufig. Und die Schatten deutscher Kolonialpolitik erschöpfen sich nicht in jenen antiliberalen, antidemokratischen und militaristischen Traditionen, die in das «Dritte Reich» mündeten. Denn neben der «Vernichtungspolitik» eines Lothar von Trotha oder Curt von François gab es immer auch den von Theodor Leutwein und Bernhard Dernburg repräsentierten Traditionsstrang in der Kolonialgeschichte des deutschen
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Kaiserreichs: eine ebenfalls von rassistischem Gedankengut unterfütterte, aber liberal-demokratische und letzten Endes wesentlich langlebigere Variante kolonialen Denkens. Kontinuitätslinien führen nicht nur von Afrika nach Auschwitz, sondern auch von Windhuk nach Weimar und Bonn.
BE R L I N, 15 . M Ä R Z 18 90
Otto von Bismarck auf einem Ausritt 1890
Ein alter Herr mag nicht gehen Berlin, 15.nicht Märzgehen 1890 Ein alter Herr mag
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er alte Mann hatte seine beste Zeit hinter sich. Darüber waren sich nahezu alle Beteiligten einig. Schon früher war er für seine Launen berüchtigt gewesen. Doch jetzt klagten jene, die näher mit ihm zu tun hatten, über mehr als nur plötzliche Wutausbrüche: Der 74-Jährige wirkte fahrig und unkonzentriert. Mit der Führung der laufenden Geschäfte schien er offensichtlich überfordert. Seine Politik, hieß es, sei konfus und konzeptlos geworden. Ein unvoreingenommener Beobachter, der badische Gesandte beim Bundesrat Marschall von Bieberstein, brachte den Befund Anfang des Jahres 1890 auf den Punkt: «Niemand versteht den Reichskanzler.»1 Marschall hielt es für offensichtlich, «daß der Reichskanzler etwas an Altersschwäche leidet, die sich in Potenzierung aller seiner Fehler äußert». Andere hatten einen ähnlichen Eindruck. Dem engen persönlichen Freund des neuen Kaisers Wilhelm II. Philipp zu Eulenburg galt Bismarck wie vielen zwar als ein «Genius»: Er sei «der größte Mann unserer Zeit». Aber diese Größe erschien Eulenburg nur durch die Vergangenheit gegeben, nicht durch die Gegenwart. In letzter Zeit sei Bismarck «recht alt geworden». Da der «greise Kanzler» nur noch ein «Schatten» früherer Tage zu sein schien, müsse man für aktuelle und zukünftige Aufgaben nun auf den jungen Kaiser bauen.2 Dieses Urteil mochte durch persönliche Sympathien gefärbt und auch von eigenen politischen Aspirationen beeinflusst sein. Freilich stand Eulenburg damit alles andere als allein. Die meisten Zeitgenossen teilten seine Sicht. Der deutsche Militärattaché in Paris war nur einer von vielen, die Bismarck längere Zeit nicht gesehen hatten und denen er nun «sehr gealtert» schien. Der Generaladjutant des russischen Kaisers fand den Kanzler im Herbst 1889 «sehr viel älter geworden in den vergangenen zwei Jahren». Einige Informanten von Kaiser Wilhelm II. urteilten diesem zufolge sogar, sie hätten bei ihren Besuchen auf Bismarcks Landsitz Friedrichsruh einen «Eindruck rasch fortschreitender Senilität empfangen».3
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Das war übertrieben. Denn selbst seine erklärten Gegner gestanden unter der Hand zu: «Bei allem Rückgang ist der Kanzler doch immer noch ein kluger und höchst verschlagener Mann.» Aber spätestens nach den dramatischen Ereignissen des 15. März 1890 gelangten Freunde wie Feinde zu der Schlussfolgerung, dass Bismarck weder die Politik des Deutschen Reiches noch sich selbst länger im Griff hatte. Der Großherzog von Baden, der bis zuletzt um eine Vermeidung des Dramas bemüht gewesen war, meinte danach desillusioniert, der Reichskanzler habe «alle Fassung verloren».4 Und zehn Tage vor dem dramatischen Höhepunkt der «Kanzlerkrise» schrieb Friedrich von Holstein, langjähriger Mitarbeiter Bismarcks im Auswärtigen Amt, dass er sich «über meinen Chef, unter dem ich 29 Jahre gedient habe, ungern ein Urteil erlaube […]. Aber als Tatsache muß ich konstatieren, daß jetzt an ihm eine Kritik geübt wird wie noch nie und von Leuten, die sonst durch dick und dünn mit ihm gingen. […] Die Kritiker finden ihn sachlich unorientiert und persönlich rücksichtslos.» Nun war Bismarck nie wirklich ein Ausbund an Taktgefühl gewesen. Im Gespräch konnte er von einer verletzenden Direktheit sein, die seine Gegenüber im In- und Ausland schockierte und entsetzte. Trotzdem gelang es ihm immer wieder, Gesprächspartner nach allen Regeln der diplomatischen Kunst um den Finger zu wickeln. So jähzornig und sarkastisch er manchmal war, so charmant konnte er sein. Hildegard von Spitzemberg, die ihm und seiner Familie in persönlicher Freundschaft verbundene Frau des württembergischen Gesandten in Berlin, registrierte Anfang 1889, wie Bismarck sich im Reichstag «bebend vor Wut» mit seinen politischen Gegnern geradezu verbal duellierte. Doch einige Wochen später gab er «ein parlamentarisches Diner, nach welchem er im freundlichsten Verkehre mit seinen Gästen sie alle wieder bezauberte».5 Schon am Ende desselben Jahres gelang ihm das allerdings nicht mehr. «Unzufriedenheit mit dem Kanzler findet man jetzt in allen Parteien», registrierte Generalstabschef Alfred von Waldersee im November 1889. Das galt auch für Konservative und Nationalliberale, die bisher Bismarcks wichtigste Stützen in den Parlamenten gewesen waren. «Die größte Mißstimmung herrscht aber innerhalb des Ministeriums, alle Minister sind mißmutig und klagen, daß sie nicht wissen, was der Kanzler wolle, daß er alle Augenblicke seine Ansicht ändere.» Wie die preußischen Minister beklagten auch die Ressortchefs der Reichsverwaltung,
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dass mit Bismarck «nicht mehr zu wirtschaften sei». Er entwickele selbst keine konstruktiven Ideen mehr, lasse aber auch keine Initiativen seiner Mitarbeiter zu, die er herablassend wie «Untergebene» behandle. Ohnehin sei er kaum zu sprechen, weil er sich meist statt in Berlin in Friedrichsruh aufhalte. Anfang März 1890 notierte Waldersee: «Der Kanzler klagt fortwährend über Übermüdung und will sich nun noch mehr Arbeit machen!» Bismarck wolle «alles beherrschen und hat dazu nicht mehr die Kraft». Minister und Staatssekretäre beschwerten sich «sämtlich über Mangel an Instruktionen, Unsicherheit in den Entscheidungen, auch namentlich über das Lügen des Kanzlers».6 Nun war Waldersee alles andere als ein unparteiischer Zeuge. Wohl lag er, was die deutsche Innenpolitik anging, durchaus auf Bismarcks Linie. Mit Blick auf die Außenpolitik galt das freilich ganz und gar nicht. Und auch wenn der Generalstabschef oft an der eigenen Courage zweifelte, machte er sich doch gelegentlich insgeheim Hoffnungen, nach Bismarcks Abschied als Reichskanzler dessen Nachfolge antreten zu können, weil er sich zutraute, die Dinge besser machen zu können als dieser. Zwar meinte Waldersee, der alte Kanzler habe sich in der Vergangenheit «ganz großartige Verdienste» erworben. Das galt nach Ansicht des Stabschefs allerdings nur bis zur Reichsgründung 1871, die er wie die meisten Zeitgenossen in erster Linie Bismarck zuschrieb – danach hörten dessen «hervorragende Taten auf». Insbesondere in letzter Zeit falle der alte Kanzler eher negativ auf, was etwa die «Bevorzugung seiner Familie, das Verhalten gegenüber dem Kaiser anlangt, ebenso inbezug auf den Mißbrauch der Presse, auf Verhetzen der Parteien untereinander usw.».7 Zu einem solch vernichtenden Urteil über Bismarck gelangte jedoch beileibe nicht allein der ehrgeizige Waldersee. Friedrich von Holstein, der keinerlei Ambitionen auf das Reichskanzleramt hegte, dachte nicht nur ähnlich. Er stellte auch fest, dass an dem alten Kanzler kaum jemand in Deutschland noch ein gutes Haar lasse. Zuerst in den Parteien, aber zunehmend ebenso bei Hof und in der Bevölkerung habe dieser fast jede Unterstützung verloren: «Die parlamentarische Galle ist geschwollen, und von da geht die Bitterkeit schnell ins allerhöchste Gehirn wie in den Wählermagen. Der Gedanke, daß der Fürst selbst nichts tue und andere verhindere, etwas zu tun, kehrt immer wieder.» Im Januar 1890 warnte Holstein Otto von Bismarcks ältesten Sohn Herbert, seit dreieinhalb Jahren Staatssekretär des Auswärtigen und deutlich zugänglicher als sein
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sich in Friedrichsruh abkapselnder Vater, dass dieser «augenblicklich recht isoliert» stehe. Durch sein Verhalten erschwere der Reichskanzler regierungsfreundlichen Elementen in den Parteien ihre Stellung zu den «Wählern unnötig». Während der alte Kanzler für die Regierung des Reiches immer mehr eine Hypothek darstelle, gewinne der junge Kaiser an Popularität.8 Selbst enge persönliche Freunde der Bismarcks hatten denselben Eindruck. Hildegard von Spitzemberg war dem Reichskanzler und seiner Familie seit einem Vierteljahrhundert ein gern gesehener Gast. Für sie galt Fürst Otto von Bismarck als «des deutschen Volkes größter Mann», als ein «Heros», und sie sah es «als eine der schönsten Fügungen» ihres Lebens an, «daß ich dem einzigen Manne persönlich so nahestehen und seiner Liebe und Hochachtung mich erfreuen» durfte. Sein Abgang als Kanzler bedeutete für sie das Ende einer Ära. Und doch urteilte auch Spitzemberg im März 1890: «Habe ich von jeher darunter gelitten, daß meinem mächtigen Freunde so viel Kleines und Kleinliches anhaftete, so stehe ich tief erschüttert vor der Tatsache, daß an diesem Meister und Werk zugrunde zu gehen drohen! Leider ist es ja nicht zu leugnen, daß seit Jahren im Innern ein furchtbarer Marasmus [Altersverfall] eingerissen war: eine Reihe der notwendigsten Gesetze fielen unter den Tisch, weil sie dem Fürsten für seine privaten Gutsinteressen nicht paßten oder er keine Zeit für sie hatte.» Es sei «überaus traurig zu hören, wie furchtbar Gewalttätigkeit und kleinliche Herrschsucht in letzter Zeit beim Fürsten überhand genommen hatten»: Dem «alten, starren, eisernen Manne» gegenüber, echote Spitzemberg die allgemein verbreitete Ansicht, komme der Kaiser einem «jungen Halbgott» gleich.9 Ja, sogar seine eigenen Familienangehörigen stimmten in die Klagen über den alten Kanzler ein. Sein jüngerer Sohn Wilhelm stöhnte hinter vorgehaltener Hand, den alten Bismarck erfülle ein schon krankhaftes Misstrauen gegen alle und jeden. Außerdem leide sein Vater unter massiven Stimmungsschwankungen. Als Reichskanzler sei er ganz offensichtlich nicht mehr «den Anforderungen gewachsen», zumal der junge Kaiser einen sehr eigenen Kopf habe, und solle besser zurücktreten. Der ältere Sohn Herbert, die Loyalität in Person, hielt sich mit solchen Äußerungen anderen gegenüber zurück. Aber auch er riet dem Vater zum Rücktritt.10 Allein, für den Kanzler kam ein Rücktritt nicht ernsthaft in Frage. Zwar drohte Bismarck wie schon früher gelegentlich Anfang 1890 wie-
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derholt damit, einige oder alle seiner Ämter niederzulegen. Doch jedes Mal zog er diese Ankündigungen nach kurzer Zeit wieder zurück. Mitte Februar klagte auch der Kaiser, Bismarck leide an einer «durch das Alter prädominierend gewordenen Herrschsucht». Durchaus treffend stellte Waldersee fest: «Das bezeichnende ist, daß er unter keinen Umständen seinen Abschied nimmt.» Stattdessen mache Bismarck «alle, die mit ihm arbeiten müssen, mißmutig». Während ihr Chef nur mit der Idee eines Rücktritts spielte, nahmen mehrere Minister und Staatssekretäre deshalb wirklich ihren Hut. Denn nicht nur lehnte Bismarck «alle Vorschläge ab mit der Bemerkung, für so etwas sei er zu alt». Er verdächtigte auch zunehmend seine Untergebenen, ihn stürzen zu wollen und es auf seine Position abgesehen zu haben.11 Misstrauen wuchs freilich nicht nur auf Seiten Bismarcks. In der Umgebung des Kaisers breitete sich der Verdacht aus, der Kanzler treibe das Reich innenpolitisch bewusst in einen «schweren Konflikt, für den er selbst nicht mehr die Kraft besitzt»: Er wolle «ein Fiasko», um sich unentbehrlich zu machen.12 In dem politisch dissonanten «Berliner Ameisenhaufen»13 aus Reichstag und preußischem Landtag, Bundesrat und Bürokratie gewann eine Überzeugung deshalb zunehmend Raum: Bismarck war nicht mehr tragbar. Doch wer sollte ihn ersetzen? Nach fast zwei Jahrzehnten erschien ein Deutschland ohne den «Reichsgründer», den ersten und bislang einzigen Reichskanzler, in verantwortlicher Position kaum noch vorstellbar. Selbst ein in seinem Tagebuch und unter vier Augen ebenso scharfer wie ehrgeiziger Kritiker Bismarcks wie Waldersee scheute deshalb in der Öffentlichkeit davor zurück, den ersten Stein zu werfen. Zudem waren die Zeiten auch ohne die Bemühungen des Kanzlers, Konflikte anzufachen, schon schwierig genug: Seit den Reichstagswahlen im Februar 1890 blies der Regierung der Wind wie kaum jemals zuvor ins Gesicht. Entlassen konnte Bismarck ohnehin nur der Kaiser. Aber der zeigte dazu zunächst keinen Willen. Jedenfalls vermochte Wilhelm II. es lange nicht, sich zu einer klaren Entscheidung aufzuraffen. Im Lauf des Januar 1890 erklärte er wiederholt, er sei «völlig entschlossen, den Kanzler zu behalten», wolle «aber mehr Einsicht in die Geschäfte nehmen». Als Wilhelm Ende des Monats dann allerdings erfuhr, dass seine Initiativen zum Arbeiterschutz im Bundesrat von Bismarck sabotiert wurden, tobte er: Der Kanzler sei ein «Hochverräter», der sich gegen seinen Monar-
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chen verschwöre. Er «werde ihn wegen Ungehorsam entlassen».14 Doch der Drohung folgte keine Tat. Obwohl Bismarck fortfuhr, den sozialpolitischen Projekten Wilhelms Hürden in den Weg zu stellen, wurde er nicht gefeuert. Nach den Reichstagswahlen im Februar kam es sogar zu einer förmlichen Versöhnung von Kaiser und Kanzler. Wilhelm erklärte nun, zwischen ihm und Bismarck sei wieder «alles ausgeglichen». Freilich, Anfang März plagten den Kaiser schon wieder Zweifel an der Einigung mit dem Kanzler. Den badischen Bundesratsgesandten fragte er, ob er «es in diesem Augenblick auf Konflikt ankommen lassen» solle. Einmal mehr würden ihn die Minister dann aber wohl «im Stich lassen», und zutiefst verunsichert fügte er hinzu: «Ich weiß auch nicht, ob ich den Kanzler nicht in späterer Zeit wieder brauchen werde.»15 Am 15. März 1890 war es dann jedoch schließlich so weit. «Der große Krach ist da!», notierte Waldersee in sein Tagebuch.16 Am Morgen des Tages ließ Wilhelm II. um neun Uhr überraschend ausrichten, er wolle Bismarck in einer halben Stunde im Auswärtigen Amt sehen. Allein das ließ schon nichts Gutes erwarten: Schließlich wusste der Kaiser genau, dass der alte Kanzler meist die Nacht zum Tag machte, zudem schlecht schlief und deshalb selten vor Mittag aus dem Bett kam. Unsanft aus viel zu kurzem Schlaf gerissen, musste Bismarck sich in größter Eile anziehen und kam «in Hast durch die morgenfeuchten Gärten» des Berliner Regierungsviertels zum Auswärtigen Amt gelaufen, wo ihn sein Sohn Herbert erwartete. Als direkt danach Wilhelm eintraf, konnte der Kanzler sich nicht die vorwurfsvolle Bemerkung verkneifen, «er wäre fast zu spät gekommen, er sei erst vor 25 Minuten mit Seiner Majestät Befehl geweckt worden».17 Für den weiteren Verlauf des Treffens stützen historische Darstellungen sich meist auf die Schilderung, die Bismarck selbst davon in seinen Lebenserinnerungen gegeben hat. Seine eigenen Gesprächsanteile waren danach nicht nur deutlich höher als die Wilhelms. Dieser beschränkte sich Bismarcks Schilderung zufolge auch in geradezu kindischer Sturheit darauf, seinen Willen durchsetzen zu wollen. Zu allem Überfluss sei der junge Kaiser dem Kanzler, der ruhig und differenziert seinen Standpunkt erläutert habe, noch durch unsachliche Zwischenrufe ins Wort gefallen. Bismarck diktierte die erste Fassung seiner Version der Auseinandersetzung dem ältesten Sohn Herbert im April 1890, also bereits mehrere Wochen nach dem Ereignis. Später ergänzte er sie für die Veröffent-
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lichung noch. Nachdem der «Krach» zwischen Kaiser und Kanzler innerhalb weniger Tage zur Entlassung Bismarcks geführt hatte und eine öffentliche Debatte darüber entbrannte, wen von beiden die größere Schuld an dem Bruch traf, diente seine subjektive Schilderung offensichtlich nicht zuletzt der eigenen Rechtfertigung. Kaum weniger subjektiv, aber anders als diese spätere Darstellung Bismarcks noch unter dem direkten Eindruck des Ereignisses stehend und nicht für eine breite Öffentlichkeit gedacht waren die Aussagen, die beide Beteiligte schon am Tag der Auseinandersetzung selbst oder kurz darauf gegenüber engen Vertrauten machten. Diese Aussagen lassen zwar nicht den Ablauf, wohl aber die Atmosphäre während des Gesprächs zwischen Wilhelm und Bismarck in einem anderen Licht erscheinen. So war es nach dem, was der Kaiser direkt nach dem Treffen am Morgen des 15. März erzählte, nicht er selbst, sondern vielmehr der Kanzler gewesen, der sich während des Treffens im höchsten Grad erregte. Offenbar steigerten sich beide gegenseitig in einen zunehmend emotionalen Schlagabtausch hinein, der am Ende eine weitere Zusammenarbeit unmöglich erscheinen ließ. Der Kaiser erschien, wie der anfangs noch als Augenzeuge anwesende Sohn des Kanzlers registrierte, bereits «in hochmütiger Kampfstimmung». Bismarck hatte drei Tage vorher Ludwig Windthorst, den Vorsitzenden der katholischen Zentrumspartei, für eine Unterstützung seiner Politik zu gewinnen versucht, nachdem bei den Reichstagswahlen im Februar die bisherige Regierungsmehrheit aus Konservativen und Nationalliberalen verloren gegangen war. Doch als er das Gespräch mit der Mitteilung eröffnete, «daß der Centrumsfuchs Windthorst aus dem Bau gekommen sei und ihn aufgesucht habe», unterbrach Wilhelm den Kanzler sofort im Ton der Entrüstung: «Nun, Sie haben ihn doch natürlich zur Türe hinauswerfen lassen?»18 Daraufhin verließ Bismarcks Sohn den Raum. Den übereinstimmenden Aussagen von Kanzler und Kaiser zufolge eskalierte nun die Diskussion einer Zusammenarbeit mit der Zentrumspartei zu einem Grundsatzkonflikt. Wilhelm hielt in Erinnerung an den «Kulturkampf» eine Kooperation mit Windthorst und dem politischen Katholizismus für undenkbar: «Ich werde nicht den großen Fehler begehen, mit dem Todfeind des Deutschen Reiches zu paktieren.» Bismarck habe «sofort sehr heftig» erwidert, er könne «empfangen, wen er wolle», und sei keinerlei
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Rechenschaft schuldig. Der Kaiser bestritt das und kritisierte zudem, dass Windthorsts Besuch durch Bismarcks jüdischen Bankier Bleichröder vermittelt worden war: «Juden und Jesuiten hielten immer zusammen.» Daraufhin wurde der Kanzler nach Wilhelms Darstellung «völlig wütend und sprach konfuses Zeug. Zum Beispiel, er sei von Spionen umgeben.» Zeitweise habe Bismarck sogar Anstalten gemacht, dem Monarchen ein Tintenfass an den Kopf zu werfen. «Nachher weinte er plötzlich.»19 Wilhelm wechselte dann das Thema, blieb aber beim Grundsätzlichen: Er beschwerte sich, dass der Kanzler ihn völlig von anderen Informationen abschirme. Sogar den preußischen Ministern hatte Bismarck verboten, den Kaiser ohne seine Zustimmung oder Anwesenheit zu sprechen, «und sich dabei auf eine alte vergilbte Ordre gestützt, die schon ganz vergessen war». Besagte Ordre stammte tatsächlich aus dem Jahr 1852, und der Kanzler hatte tagelang nach ihr suchen lassen müssen. Bismarck versuchte erst zu beschwichtigen. Doch der Kaiser blieb kompromisslos. Wie der Reichskanzler seiner Frau und diese wiederum Hildegard von Spitzemberg erzählte, «tobte» Wilhelm und «benahm sich förmlich kindisch». Freilich fiel Bismarck nach dem Zeugnis des Kaisers ebenso «wieder in seine Heftigkeit zurück. Ich verlangte die Kassierung der alten Ordre von 1852 – er weigerte sich. Er gab mir in nichts nach. Ich sagte ihm zum Schluß, daß ich eine Mitteilung über die geschehene Kassierung der Ordre verlange.»20 Nach späteren Notizen Herbert von Bismarcks, die dessen Vater in seinen Lebenserinnerungen beträchtlich erweiterte, ging Wilhelm allerdings nicht, bevor der Kanzler noch Fragen des deutsch-russischen Verhältnisses angesprochen hatte. In den Memoiren versuchte Bismarck damit vor dem Hintergrund der späteren Kontroversen um den Rückversicherungsvertrag mit Russland, der nach seiner Entlassung nicht verlängert worden war, sich selbst als den geschickteren Außenpolitiker zu präsentieren. In der konkreten Situation des 15. März 1890 beging der unausgeschlafene und mit dem linken Bein aufgestandene Kanzler aber mit diesem Vorstoß einen Fehler, der wohl das Ende seiner Karriere besiegelte. Er erwähnte nämlich einen Bericht, in dem eine abfällige Bemerkung des Zaren über Wilhelm enthalten sei. Einerlei, ob ihm das unbedacht herausrutschte oder es eine kleinliche Retourkutsche war – der Kaiser verlangte den Inhalt des Berichts natürlich sofort zu erfahren,
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und als Bismarck sich weigerte, griff Wilhelm selbst nach dem betreffenden Aktenband, um darin zu lesen, dass sein russischer Vetter ihn für einen «schlecht erzogenen Jungen» hielt. Weiß glühend vor Wut, rauschte er sporenklirrend und säbelrasselnd ab.21 Am nächsten Morgen schickte Wilhelm den Chef seines Militärkabinetts zum Kanzler und verlangte erneut die Aufhebung der Ordre von 1852. Bismarck weigerte sich wieder und erklärte provozierend, dann könne der Kaiser ihn auch gleich entlassen. Am folgenden Tag, dem 17. März, ließ Wilhelm den Reichskanzler dann gleich zweimal auffordern, entweder die Ordre zurückzunehmen oder umgehend sein Abschiedsgesuch einzureichen. Statt das zu tun, berief Bismarck erst einmal sämtliche Minister zu einer Sitzung ein, um diese über die Lage zu informieren. Wenn er gehofft hatte, seine Kollegen zur Drohung eines kollektiven Rücktritts zu bewegen und damit Wilhelm noch einmal umzustimmen, hatte er sich jedoch getäuscht: Die Minister nahmen seine Mitteilung lediglich zur Kenntnis und entschieden sich am Abend bei einem informellen Treffen ohne ihn, in ihren Ämtern zu verbleiben und den Kanzler nicht zu unterstützen. Bismarck blieb so nichts anderes mehr übrig, als sich ins Unvermeidliche zu fügen. Den gesamten 18. März über arbeitete er bis zum Abend am Text eines Entlassungsgesuchs mit ausführlicher Begründung, in der er die Ursache dafür in unverantwortlicher Politik des Kaisers und von dessen Beratern verortete. Während der alte Kanzler so in einem Raum der Reichskanzlei von der aktuellen zur Vergangenheitspolitik überging und den Grundstein für seinen eigenen historischen Mythos legte, machte sich sein designierter Nachfolger nebenan bereits an die Arbeit. Die «Bismarck-Ära» war vorbei.
Kanzler und Kaiser Kanzler und Kaiser
Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat bekanntlich zwei. Bismarcks Kanzlerschaft war aber offenbar ein sehr spezieller Typ von Dauerwurst. Bis zum Tod Wilhelms I. 1888 hatte er mehr als ein Dutzend Mal das Ende seiner Tätigkeit als Kanzler des Deutschen Reiches angekündigt. Der alte Kaiser lehnte das immer ab. Bismarck, soll Wilhelm I. bei einer solchen Gelegenheit in der für ihn typischen Bescheidenheit einmal gesagt
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haben, sei schließlich notwendiger als er selbst.22 Seinem gleichnamigen Enkel, der ihm nach der nur 99 Tage dauernden Regierung Friedrichs III. als preußischer König und deutscher Kaiser nachfolgte, fehlte diese Bescheidenheit. Bismarck drohte dennoch nach dem Thronwechsel zu Wilhelm II. auch weiterhin zunächst mit Rücktritt, um sich gegen den Monarchen durchzusetzen, wie es unter dem Großvater des neuen Kaisers schon fast zur Routine geworden war. Doch im März 1890 drehte der Enkel den Spieß um und zwang den mit allen Fasern seines Herzens am Amt hängenden Kanzler schließlich dazu, sein Abschiedsgesuch einzureichen. Es liegt nahe, Bismarcks Entlassung als logische Folge des Herrscherwechsels zu sehen. Das ist die landläufige Erklärung, und sie hat manches für sich. Bismarcks Macht beruhte in erster Linie auf seinem engen Vertrauensverhältnis zu Wilhelm I. Ein solches Vertrauensverhältnis bestand zu dem zweiten Wilhelm nicht. Und während der 21 Monate zwischen dem Regierungsantritt des jungen Kaisers im Sommer 1888 und der Entlassung des alten Kanzlers vermochte sich zwischen beiden auch keine solche Intimität zu entwickeln, wie sie zwischen Bismarck und Wilhelm I. in Jahrzehnten gewachsen war. Dem hätten, so kann man oft lesen, vor allem zwei Faktoren entgegengestanden. Zum einen strebte Wilhelm II. von vornherein an, selbst zu regieren. Dieses Streben vertrug sich zweifellos schlecht mit dem umfassenden Mandat auf Gestaltung von innerer und äußerer Politik, das Bismarck aus Gewohnheit für sich beanspruchte. Zum anderen war eine Kamarilla von Beratern um den neuen Kaiser auf eine Demontage des Reichskanzlers erpicht, um dessen Machtposition zu übernehmen. Unter den Mitgliedern dieses Kreises befanden sich so illustre Persönlichkeiten wie Waldersee, als Nachfolger Moltkes 1888 zum Generalstabschef berufen, und der Kaiserfreund Philipp zu Eulenburg, dessen «Outing» als Homosexueller später einen der größten Skandale des Kaiserreichs hervorrufen sollte. Waldersee und Eulenburg arbeiteten zielbewusst auf den Sturz des alten Kanzlers hin. Bismarck, ist gesagt worden, sei dadurch in einen verzweifelten Abwehrkampf gedrängt worden, in dem er zum Mittel einer Dramatisierung der innenpolitischen Lage gegriffen habe, um sich unentbehrlich zu machen. Das ist nicht ganz falsch. Aber in allen Aspekten richtig erscheint es auch nicht. Warum hat Bismarck, wenn er doch verzweifelt darum be-
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müht gewesen ist, sich unentbehrlich zu machen, fast zwei Drittel der Zeit zwischen dem Regierungsantritt Wilhelms II. und seiner eigenen Entlassung auf seinen Landsitzen in Friedrichsruh und Varzin verbracht statt in Berlin, in der Nähe des Kaisers? Schon dreieinhalb Wochen nach Wilhelms Thronbesteigung Mitte Juni 1888 reiste er dorthin ab, um die gesamte zweite Jahreshälfte fern vom Hof zu verbringen. Nachdem er dann von Januar bis Juni 1889 in Berlin zugebracht hatte, blieb er anschließend sogar die nächsten siebeneinhalb Monate der Hauptstadt fern, von zwei nur kurzen Stippvisiten abgesehen. Das sieht nicht eben danach aus, als ob hier jemand sich gezwungen fühlte, die eigene Unentbehrlichkeit zu beweisen. Es ist deshalb argumentiert worden, Bismarck habe sich vielmehr bewusst von dem jungen Kaiser ferngehalten, um potentiell vorhandene Reibungsflächen zu reduzieren. Aber wenn von der Kamarilla um Wilhelm II., die den Sturz des Kanzlers betrieb, tatsächlich ernsthafte Gefahr drohte – wäre das dann eine geeignete Strategie gewesen? Wohl kaum. Tatsächlich hat Bismarck seine Gewohnheiten 1888 gar nicht erkennbar verändert. Schon einige Jahre vor dem Regierungsantritt des neuen Kaisers verbrachte er die meiste Zeit nicht in Berlin, sondern auf seinen Gütern. Er regierte per Fernschreiben und Boten, darunter in zunehmendem Maß seine beiden Söhne und der Schwiegersohn. Das «Dreikaiserjahr» 1888 markierte in dieser Praxis gar keinen Einschnitt. Von Verzweiflung war bei dem alten Kanzler also kaum etwas zu spüren. Sein Verhalten orientierte sich vielmehr an dem Grundsatz business as usual. Diese entspannte Haltung des Kanzlers hatte auch damit zu tun, dass er den tatsächlichen Einfluss des Beraterkreises auf Wilhelm II. für weniger hoch einschätzte als manche spätere Historiker. Und damit lag er offenbar richtig. Selbst als Wilhelm sich schließlich von ihm getrennt hatte, wurde kein Mitglied der Kamarilla sein Nachfolger. Wilhelm ernannte dazu vielmehr den General Leo von Caprivi – und damit einen Mann, den Bismarck selbst vorgeschlagen hatte. Für jemanden, der die meisten seiner Mitmenschen so kritisch sah wie Bismarck, war das Urteil des Kanzlers über Wilhelm II. nicht ungünstig. Im Vergleich zu seinem liberalisierenden Vater Friedrich ähnele der junge Wilhelm, meinte er schon 1882 erfreut, mit seinen politisch konservativen Überzeugungen eher dem gleichnamigen Großvater. Auch sonst sah er viel Gutes in dem jungen Prinzen: Der sei «energisch und
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entschieden, gar nicht für parlamentarische Mitregenten, der reine Gardeoffizier […] vielleicht entwickelt sich aus dem einmal der rocher de bronze, der uns fehlt». Einen Tag vor Wilhelms Regierungsantritt im Juni 1888 vermerkte Bismarck dann zufrieden die Zusicherung des neuen Kaisers ihm gegenüber, er wolle «die Regierung im Sinne seines Großvaters führen». Danach rief der Kanzler im Familienkreis auf Platt «mit glücklichem Lachen: ‹Im Sattel hew ick en jetzt!›»23 Auswärtige Beobachter registrierten im Sommer 1888, der alte Kanzler und der junge Kaiser seien geradezu ein Herz und eine Seele. Nach dem Tod des «99-Tage-Kaisers» Friedrich III., von dem Beobachter am Hof ein Sinken von Bismarcks Stern erwartet hatten, konstatierte ein Diplomat: «In der Thronbesteigung Wilhelms II. erblickt man das Wiederaufgehen der Bismarckschen Sonne.»24 Die Frau des Reichskanzlers teilte einem ihrer Söhne zwar mit, der «liebe Papa» werde sicher «Kraft zur Durchführung der nicht leichten Sachen, die nun kommen», brauchen, denn im Hinblick auf den neuen Monarchen sei ihr doch «schrecklich bange vor seiner Heißspornigkeit und seiner großen inneren Jugend». Ihr Mann jedoch ließ einen preußischen Ministerkollegen unter Berufung auf die «Erfahrungen, die ich auf diesem Gebiet mit vier Königen gemacht habe», mit stoischer Zuversichtlichkeit wissen, man werde sich eben «mit dem jungen Herrn einleben müssen». Bald darauf atmeten auch seine Familienangehörigen auf, die anfänglichen Befürchtungen über Wilhelm II. seien «unbegründet».25 Die Annahme, dass ein Bruch zwischen Wilhelm II. und Bismarck von Anfang an unvermeidlich gewesen sei, stützt sich von daher allein auf die dem neuen Kaiser zugeschriebene Ambition, selbst regieren zu wollen. Der zentrale Beleg für diese Ambition ist eine angebliche Äußerung Wilhelms, die von Hofprediger Adolf Stoecker kolportiert wurde. Ihm zufolge hat der Kaiser zwei Monate nach seiner Thronbesteigung gesagt: «Sechs Monate will ich den Alten verschnaufen lassen, dann regiere ich selbst.»26 Das war im August 1888. Sechs Monate später war Bismarck aber immer noch im Amt. Und er blieb es danach noch über ein ganzes Jahr. Die Äußerung, mit der Wilhelm angekündigt hatte, selbst die Zügel in die Hand nehmen zu wollen, war offenbar eines jener markigen Worte, mit denen der Monarch seine Umgebung je nach Naturell öfter erfreute oder erschreckte, dem aber keinerlei Taten folgten. Als Steuermann eines
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klaren Kurses hat Wilhelm sich ohnehin nicht gerade einen Namen gemacht. Er ließ sich vielmehr von spontanen Impulsen treiben. Häufig änderte er in kürzester Frist vollkommen seine Meinung. So hatte er im krassen Gegensatz zu der von Stoecker wiedergegebenen Äußerung etwas früher gemeint, «den Fürsten Bismarck brauche man natürlich noch einige Jahre sehr dringend»; erst danach könne der Monarch einige Aufgaben des Kanzlers übernehmen.27 Auch diese und ähnliche Aussagen muss man angesichts der wankelmütigen Natur Wilhelms II. nicht besonders ernst nehmen. Überhaupt helfen die Äußerungen des jungen Kaisers, der wie ein Blatt im Wind schwankte und sich überhaupt für Politik nur punktuell und gelegentlich interessierte, bei der Suche nach den tieferen Ursachen von Bismarcks Entlassung nicht weiter. Diese erschließen sich nur aus den Handlungen der Akteure, vor allem aus der Interaktion zwischen Wilhelm und dem alten Kanzler. Größere Spannungen zwischen beiden gab es zunächst tatsächlich nicht – jedenfalls nicht mehr, als es sie zwischen Bismarck und Wilhelms gleichnamigem Großvater gegeben hatte, von dem Vater ganz zu schweigen. Im Sommer 1889 auftretende Meinungsverschiedenheiten darüber, wie auf einen Bergarbeiterstreik an der Ruhr reagiert werden sollte, hielten sich in diesem Rahmen und wurden bald beigelegt. Noch Ende desselben Jahres meinte Bismarck zu Hildegard von Spitzemberg, der junge Monarch sei zwar flatterhaft, eingebildet und leicht beeinflussbar. Bisher habe Wilhelm II. sich aber letzten Endes doch immer von seinem Ratschlag leiten lassen.28 Erst 1890 verlor der Kanzler dann die Kontrolle, entstand zwischen ihm und dem Kaiser ein ernsthafter Dissens. Dessen rapide Eskalation führte innerhalb weniger Wochen zu Bismarcks Entlassung. Diese war ein spontaner Entschluss Wilhelms – wie für ihn typisch. Der Entschluss wurde allerdings beeinflusst durch grundlegende Veränderungen der gesellschaftlichen und politischen Konstellation, die im Umfeld der Reichstagswahlen vom Februar 1890 plötzlich grell beleuchtet wurden. In diesem Licht erschien Bismarcks bisheriger Kurs, das bestehende System zu bewahren, indem er die nichtkonservativen Parteien im Parlament gegeneinander ausspielte, immer weniger erfolgversprechend. Außenpolitische Fragen spielten bezeichnenderweise bei der Entlassung eine nur vordergründige, untergeordnete Rolle. Wilhelm II.
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schwankte zwar zeitweise zwischen der von Waldersee verfochtenen Idee eines Präventivkriegs gegen Russland und Bismarcks Mahnung zur Vorsicht. Letzten Endes schloss er sich in dieser Frage aber der Ansicht des alten Kanzlers an, und dabei blieb es auch nach dessen erzwungenem Rücktritt. Die Meinungsunterschiede über das Verhältnis zu Russland dienten dem Kaiser erst ganz am Ende der Auseinandersetzung als ein Vorwand für die Entlassung. Das gab Bismarck die Möglichkeit, aus der Rückschau so zu tun, als ob diese Differenzen der entscheidende Punkt gewesen wären. Doch das waren sie nicht: Zentrale Bedeutung für das Zerwürfnis zwischen Kanzler und Kaiser hatte vielmehr die Innenpolitik. Konkret ging es vor allem um den Umgang mit den immer stärker werdenden «roten Reichsfeinden», den Sozialdemokraten. Bei der Verabschiedung des Gesetzes zur Alters- und Invalidenversicherung hatte Bismarck 1889 seine letzte Rede im Reichstag gehalten. Das politische Projekt, durch Sozialreformen dem Sozialismus das Wasser abzugraben, war damit für ihn in mehr als einer Hinsicht an sein Ende gekommen. Denn die Erfolglosigkeit dieses Projekts war an den stetigen Stimmengewinnen der Sozialdemokratie bei den Reichstagswahlen seit 1881 überdeutlich abzulesen. Der Kanzler plante deshalb, nun andere Wege zur Bekämpfung der SPD einzuschlagen. Das Zuckerbrot der Sozialreform wollte er jetzt ganz beiseitelegen und stattdessen die Peitsche der Repression wesentlich lauter knallen lassen als bisher. Er schlug vor, das 1890 auslaufende Sozialistengesetz nicht nur unbefristet zu verlängern, sondern es auch massiv zu verschärfen. Das ging freilich Zentrum und Nationalliberalen zu weit, und die Linksliberalen waren erst recht nicht dafür zu haben. Wie der neue Kaiser hielt die Reichstagsmehrheit stattdessen einen neuen Vorstoß auf dem Feld der Sozialreform, vor allem auf dem Gebiet des Arbeiterschutzes, für nötig. Daraufhin erwog der Kanzler «Gewaltmaßregeln» und Auflösungen des Parlaments, bis man zuletzt «doch die Töpfe zerschlagen» müsse: Die Probleme der Sozialdemokratie und des Reichstags würden «nicht gelöst ohne Bluttaufe, wie die deutsche Einheit auch». Wilhelm II. ließ er in einem Brief zum Jahreswechsel 1889 / 90 vielsagend wissen: «Vor der Hand halte ich innre Kämpfe für näher bevorstehend wie äußre Kriege, und bedaure lebhaft, daß ich für dieselben nicht mehr ganz so rüstig bin wie 1862.»29 Der Kaiser reagierte zunächst entsetzt und verschreckt. Er habe, vertraute er seinem Freund Eulenburg an, «den Wunsch, dem Volke, und
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besonders den Arbeitern, meinen guten Willen zu zeigen und ihnen zu helfen, nicht aber die Absicht, auf sie zu schießen!» Das von Bismarck gewünschte strengere Sozialistengesetz sei «ja an und für sich nicht übel». Aber Wilhelm war auch klar, dass der Kanzler damit letzten Endes auf einen Staatsstreich zusteuerte: Bismarcks Politik müsse «zu einem Konflikt führen, der eine Verfassungsänderung im Gefolge haben werde, ja wohl eigentlich solle. Er, der Kaiser, sei in einer ganz entsetzlichen Lage, denn seine Regierung mit einer Art von Revolution, mit Schießen und Blutvergießen zu beginnen, hielte er für bedenklich.» Eulenburg bestärkte ihn darin. Ende Januar 1890 setzte Wilhelm gegen Bismarck die Ankündigung neuer sozialpolitischer Initiativen durch. Der Kaiser griff dabei Ideen auf, mit denen Theodor Lohmann Jahre zuvor am Widerstand des Kanzlers gescheitert war. Am nächsten Tag lehnte der Reichstag die von Bismarck gewünschte Verschärfung des Sozialistengesetzes mit großer Mehrheit ab.30 Dann gewannen bei den Reichstagswahlen im Februar die oppositionellen Parteien eine satte Mehrheit. Sozialdemokraten und Linksliberale verfügten nun zusammen über deutlich mehr als ein Viertel der Mandate. Auch das Zentrum hatte etwas zugelegt und stellte wieder über ein Viertel der Reichstagsabgeordneten. Konservative und Nationalliberale, auf die Bismarck sich seit 1887 gestützt hatte, gingen dagegen zusammen auf nur noch ein Drittel der Sitze zurück. Der Verlust der konservativ-nationalliberalen Mehrheit wäre an sich noch zu verschmerzen gewesen. Vor 1887 hatte diese schließlich auch nicht bestanden, und es war durchaus denkbar, dass die Regierung sich nun wie damals wieder auf wechselnde Majoritäten unter Einschluss des Zentrums stützte. Die «Opposition» war zudem nicht einig: Nicht nur zwischen Zentrum und Linksparteien, sondern auch zwischen Sozialdemokraten und linken Liberalen gab es weiterhin beträchtliche Gegensätze. Aber dass die SPD Wählerzahl und Stimmenanteil gegenüber den letzten Wahlen verdoppelte, ließ bei Kanzler, Kaiser und ihrer Umgebung alle Alarmglocken schrillen. Angesichts des schockierenden Wahlausgangs schlug der Reichskanzler dem Kaiser Ende Februar einen Stufenplan vor. Auf jeder Stufe sollten Maßnahmen ergriffen werden, die die Reichsleitung in den letzten Jahren bereits erfolglos praktiziert hatte. Erst wollte Bismarck den neuen sozialpolitischen Vorstoß Wilhelms unterstützen mit dem Ziel, die SPD wieder
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zu schwächen. Danach würden Kaiser und Kanzler dem Reichstag wie 1887 schon einmal eine Heeresreform vorschlagen, um durch Entfesselung nationaler Leidenschaften Konservative und Nationalliberale zu stärken. Schließlich sollte dann eine Neuauflage des Sozialistengesetzes in wesentlich verschärfter Form durch das Parlament gepeitscht werden. Wenn der Reichstag sich einem solchen Repressivgesetz erneut versagte, wollte Bismarck ihn auflösen, zur Not mehrfach. Und wenn Neuwahlen keine gefügige Parlamentsmehrheit hervorbrachten, womit aller Wahrscheinlichkeit nach zu rechnen war, müsse man eben das Wahlrecht einschränken oder auch den Reichstag ganz abschaffen und zu einem mehr oder weniger absolutistischen Regiment zurückkehren. Auch diese Idee war nicht neu. Bismarck hatte in den 1880er Jahren wiederholt mit dem Gedanken an einen solchen Staatsstreich gespielt. Aber einiges spricht dafür, dass er dieses Mal bereit war, über bloße Gedankenexperimente und leere Drohungen an die Adresse der Parlamentarier hinauszugehen. Wovor er sogar in der aufs Äußerste angespannten Konfliktsituation von 1862 noch zurückgeschreckt war, 1890 wurde es für ihn offenbar zu einer realen Option: mit «Gewaltmaßregeln» gegen den Parlamentarismus vorzugehen, wie Bismarck es in seinem Neujahrsbrief dem Kaiser schon angekündigt hatte. Bei der verbalen Ankündigung blieb es nicht. Als im Februar Bismarck Wilhelm II. für einen Kampf gegen den Reichstag gewann, besiegelten Kanzler und Kaiser ihre Bereitschaft «zu fechten» mit einem martialischen Handschlag und dem Schlachtruf: «No surrender!» Wilhelm sagte jetzt zu, «im Notfalle werde er auch vor den äußersten Maßnahmen nicht zurückschrecken». Er war nun bereit, «Gewalt anzuwenden und schießen zu lassen». In Berlin pfiffen danach die Spatzen von den Dächern, es solle «der Reichstag in die Luft gesprengt werden». Anfang März kündigte Bismarck seinen Kollegen im preußischen Staatsministerium einen Kampf für die Rechte der Fürsten gegen das Parlament an. Am 12. März ließ er sich vom Kriegsminister den Text einer kaiserlichen Anweisung entwerfen, in dem der Belagerungszustand verkündet wurde.31 Doch der Kaiser hatte in der Zwischenzeit, wie für ihn charakteristisch, kalte Füße bekommen. Vom Ernst der Situation überzeugt, war Wilhelm ausnahmsweise dazu übergegangen, sich mit einer gewissen Ausdauer selbst zu informieren. Dabei hatte er herausgefunden, dass die
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Parteien seine beiden Herzensanliegen, mehr Arbeiterschutz und eine mäßige Verstärkung des Heeres, mehrheitlich durchaus befürworteten. Alle, sogar die Konservativen, sprachen sich aber gegen ein verschärftes Sozialistengesetz aus, das unweigerlich zur Auflösung des Reichstags führen würde. Unter diesen Umständen erschien ein Staatsstreich als ausgesprochen riskantes Unterfangen. Wilhelm rückte deshalb nach wenigen Tagen wieder von dem Konfrontationskurs gegenüber dem Parlament ab, zu dem der Reichskanzler ihn überredet hatte. Er wies Bismarck an, den Plan eines neuen Sozialistengesetzes zu begraben. Der fügte sich scheinbar, arbeitete aber tatsächlich weiter auf eine Konfrontation mit dem Parlament hin. Bei Wilhelm, dem das nicht verborgen blieb, verdichtete sich so der – zutreffende – Eindruck, dass sein Kanzler ihn hinterging. Als Bismarck die alte Ordre von 1852 ausgrub, um den Kaiser von anderen Informationsquellen abzuschirmen, und sich hinter seinem Rücken mit dem Zentrumsführer Windthorst traf, wurde das dann zum Anlass für den endgültigen Bruch. Freilich, das waren nur die letzten Tropfen, die das Fass zum Überlaufen brachten. Die eigentlichen Ursachen lagen tiefer. Allerdings ist es bezeichnend, dass es gerade diese die Eitelkeit des Monarchen verletzenden Schachzüge des Kanzlers waren, die den finalen «Krach» zwischen beiden auslösten. Und für die Zukunft verhieß es wenig Gutes. Denn bei allem guten Willen und Ehrgeiz, es besser zu machen, hatte Wilhelm II. die Zeichen der Zeit im Grunde ebenso wenig verstanden wie Bismarck. Zu einer tiefer gehenden Analyse der Reichstagswahl von 1890, die zum Katalysator der Entlassung des alten Kanzlers wurde, gelangten auch der junge Kaiser und seine Ratgeber nicht. Die aus einer solchen Analyse zu gewinnenden weitreichenden Einsichten darüber, wohin die Reise des deutschen Kaiserreiches ging, blieben auch ihnen deshalb verwehrt.
Land im Umbruch Land im Umbruch
Um die Jahreswende 1889 / 90 starrte das politische Berlin auf die bevorstehende Reichstagswahl wie das Kaninchen auf die Schlange. Seit 1887 hatte die Reichsleitung sich auf eine solide Mehrheit im Parlament stüt-
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zen können, gebildet durch das sogenannte Kartell aus Konservativen und Nationalliberalen. Doch nicht nur waren die Wahlaussichten dieser «Regierungsparteien» schlecht; das Kartell bröckelte auch an allen Ecken und Enden. Wahlniederlage und Zerfall des konservativ-nationalliberalen Bündnisses würden, befürchtete der Kaiserfreund Philipp zu Eulenburg, angesichts der «drohenden Erscheinungen auf dem Gebiete des sozialen Lebens […] geradezu den Boden für Katastrophen düngen». Auch Generalstabschef Waldersee sah das Land in einer «höchst bedenklichen Situation», die er wie Kaiser und Kanzler mit dem preußischen Verfassungskonflikt von 1862 verglich: «Auf dem Gebiete der auswärtigen Politik die Wahrscheinlichkeit einer russisch-französischen Allianz gegen uns, im Innern ein noch keineswegs gefestigtes Deutsches Reich, die drohende soziale Frage, ungesunde Parteiverhältnisse und nahe vor uns wahrscheinlich schlechte Wahlen.»32 In den ersten Monaten des neuen Jahres kreisten die Gedanken des Kaisers und aller derjenigen, die eine Berufung verspürten, sich den Kopf des jungen Monarchen zu zerbrechen, erst recht immer wieder um die Reichstagswahlen. Sollte Wilhelm Bismarck entlassen, um die Wahlaussichten zu verbessern? Oder würde das im Gegenteil «national» gesinnte Wählerkreise in die Stimmenthaltung oder gar der Opposition in die Arme treiben? Würde die Vorlage eines neuen Sozialistengesetzes das konservativ-nationalliberale Kartell noch einmal zusammenschweißen oder endgültig sprengen? Konnte man, nachdem Letzteres eingetreten war, vielleicht nationale Leidenschaften wie 1887 erneut durch eine Militärvorlage anfachen? Ließen sich der Sozialdemokratie durch Ankündigung weiterer sozialer Reformen Wähler abspenstig machen, woran Wilhelm glaubte, oder war das eine vergebliche Hoffnung, wie Bismarck meinte? Welche Erfolge die sozialdemokratische Wahlagitation haben würde, erschien dabei als die «wichtigste aller Fragen». Entsprechend schockiert reagierten die politischen Eliten auf «das gewaltige Anwachsen der Sozialdemokratie», als die Wahlergebnisse Ende Februar einliefen. «Das Wahlresultat ist schlechter, als irgend gedacht wurde», fasste Waldersee die Stimmung zusammen. «Das Kartell ist in die Luft geflogen. […] Wir stehen vor einem wichtigen Wendepunkte.» Die preußischen Konservativen meinten alarmiert, «daß ungeheure Massen der Bevölkerung bewußt von der Monarchie abgefallen sind». Aber auch in Süddeutschland
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stand es für die «Ordnungsparteien», wie Hildegard von Spitzemberg registrierte, «schlechter denn je». Der badische Großherzog war «sehr besorgt» über den Ausgang der Wahlen, der zeige, «daß sich eine ganz auffallende Reichsfeindschaft herausgebildet» habe. Unter dem unmittelbaren Eindruck des sozialdemokratischen Wahlsieges war die Auffassung zunächst fast eine allgemeine, man komme nun um die von Bismarck propagierten «äußersten Maßnahmen» bis hin zu Staatsstreich und autoritärem «Systemwechsel» nicht herum, wenn eine soziale Revolution vermieden werden sollte.33 Während Bismarck jedoch starr an der Ansicht festhielt, der sozialpolitische Schmusekurs Wilhelms II. habe die SPD begünstigt, revidierten andere diese Ansicht bald. Nach einigen Tagen, als der Schock über das Wahlergebnis nachließ und nüchterner Ursachenanalyse Platz machte, sahen der Kaiser und seine Umgebung die Dinge bereits in ganz anderem Licht. Nicht zu viel «Zuckerbrot», sondern vielmehr die harte Politik des «eisernen» Kanzlers hatte demnach den sozialdemokratischen Triumph verursacht. Waldersee etwa, der direkt nach den Wahlen Bismarcks Ruf nach Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts unterstützt hatte, meinte eine Woche später, der Kanzler solle erst einmal die Suppe auslöffeln, die er sich selbst eingebrockt habe: Die «schlechte Zusammensetzung» des Reichstags falle «doch vor allem ihm zur Last».34 Was der badische Bundesratsgesandte Marschall schon in den letzten Februartagen 1890 notiert hatte, wurde in den ersten beiden Wochen des März zur überwiegenden Ansicht: Weniger Wilhelm als vielmehr Bismarck hatte den Karren in den Dreck gefahren. Nicht nur habe der Kanzler durch das gegenseitige Ausspielen von Nationalliberalen und Zentrum das Vertrauen dieser beiden Parteien, ihrer Wähler und schließlich selbst das der meisten Konservativen verloren: «Der Ausfall der Reichstagswahlen ist in der Tat ein trauriges Spiegelbild der Verwirrung, welche das systematische Spiel mit den Parteien und die durch die offiziöse Presse geschürte Verhetzung gezeitigt hat.» Bismarck habe vor allem auch der SPD eine Steilvorlage geliefert – durch die mehrfache Erhöhung von Verbrauchssteuern, Zöllen und Einfuhrsperren für Agrarprodukte und durch seine strikte Weigerung, diese vor den Wahlen trotz weitverbreiteten Unmuts über steigende Lebensmittelpreise wieder zu senken.35 «Leute, die durch die Teuerung der Lebensmittel sich unangenehm berührt fühlten und die Schuld daran den Getreidezöllen und
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Vieheinfuhrverboten geben, haben zahlreich durch sozialdemokratische Wahlen ihrer Unzufriedenheit Luft gemacht», machte auch der Vorsitzende des bayerischen Ministerrats Johann von Lutz gegenüber Philipp zu Eulenburg geltend. Durch eine andere Politik als die von Bismarck betriebene könne man diese Protestwähler, die «nichts weniger als Sozialdemokraten sind», aber noch zurückgewinnen. Der besorgte Bayer rannte damit in Berlin freilich schon offene Türen ein: Kaum hatte er diese warnenden Zeilen geschrieben, erreichte ihn die Nachricht, dass Wilhelm II. den alten Kanzler entlassen hatte.36 Tatsächlich war die deutsche Handelspolitik seit dem Ende der 1870er Jahre einseitig auf landwirtschaftliche Interessen ausgerichtet gewesen. Eine agrarische Protestbewegung hatte den Ausgangspunkt für die Einführung von Zöllen 1879 gebildet, die eine Ära des Freihandels beendete. 1885 unterstützte Bismarck dann das Drängen der schutzzöllnerischen Mehrheit des Reichstags auf eine Erhöhung der Tarife vor allem für landwirtschaftliche Produkte: Schließlich sei die Landwirtschaft der «Grundpfeiler unseres Staatslebens», wie er Wilhelm I. gegenüber diese Politik begründete.37 Ein Zoll auf Holzeinfuhren, den der Reichskanzler als einer der größten Waldbesitzer Preußens wollte, kam zwar nicht ganz in der von ihm gewünschten Höhe zustande. Aber die Tarife für Agrarimporte wurden im Durchschnitt gegenüber 1879 noch einmal verdreifacht. 1887 folgte eine weitere Tariferhöhung, so dass die Zollsätze für landwirtschaftliche Erzeugnisse jetzt fünfmal so hoch wie 1879 lagen. Bismarcks Unterstützung der landwirtschaftlichen Interessenpolitik ist ihm oft als anachronistisch angekreidet worden. Ja, angesichts der fortschreitenden Industrialisierung und der damit verbundenen Schrumpfung des Agrarsektors erschien sie manchem Historiker gar als Gipfel des Anachronismus. Doch das war sie nicht. Im Gegenteil: Gerade Bismarcks Engagement für Agrarzölle seit den späten 1870er Jahren zeigt, wie sehr er damals den Finger am Puls der Zeit hatte. Und es war nicht zuletzt die Tätigkeit als innenpolitischer Makler der Zolltarife von 1879, 1885 und 1887, die seinen beeindruckend langlebigen Erfolg als Politiker nach der Reichsgründung mitbedingte. Denn trotz aller Fortschritte der Industrialisierung lebte die Mehrheit der Deutschen bis in die 1880er Jahre nach wie vor von der Landwirtschaft. Der schwache Protest der immer noch vergleichsweise wenigen städtischen Verbraucher von Agrarprodukten gegen die Zölle, die zudem lange nur fallende Weltmarktpreise ausglichen,
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ließ sich unter diesen Bedingungen politisch zunächst einmal vernachlässigen. Doch um 1890 änderte sich das. Zunächst trieben zwei Missernten in den Jahren 1888 und 1889 die Lebensmittelpreise nach oben. Die Sozialdemokraten nutzten das im Reichstagswahlkampf von 1890 geschickt aus, um in den Städten neue Wähler und Anhänger zu gewinnen. Bald nach den Wahlen fielen die Preise zwar für einige Jahre wieder. Dann kehrte der langjährige Trend sich aber erneut und nunmehr dauerhaft um: Nach der Mitte der 1890er Jahre wurden Agrarprodukte bis zum Ersten Weltkrieg schubweise immer teurer. Gleichzeitig veränderten Industrialisierung und Verstädterung das Gesicht Deutschlands einschneidend. Das hatte nicht allein wirtschaftlich und sozial, sondern auch politisch gravierende Konsequenzen. Bei seiner Gründung 1871 war das Deutsche Reich ein Land von Bauern gewesen. Knapp zwei von drei Deutschen lebten in Gemeinden mit weniger als 2000 Einwohnern, die die zeitgenössische Statistik als «ländlich» klassifizierte. Etwa der gleiche Anteil der Bevölkerung war direkt oder indirekt von der Landwirtschaft abhängig. Noch bis weit in die 1880er Jahre hinein haben wahrscheinlich wesentlich mehr Reichstagswähler ihren Lebensunterhalt dort verdient als in der Industrie. Als Wilhelm II. Kaiser wurde, war auch die Wertschöpfung im Agrarsektor noch höher als in jedem anderen Wirtschaftsbereich. Doch 1888 sollte das letzte Jahr sein, in dem das so war. 1889 fiel die Wertschöpfung in Industrie und Handwerk zum ersten Mal seit Bestehen des Deutschen Reiches höher aus als im Agrarsektor. Und von nun an sollte die Landwirtschaft Jahr für Jahr immer weiter hinter die gewerbliche Konkurrenz zurückfallen. Bei der Zahl der Erwerbstätigen und ihrer Angehörigen überholte das industrielle Gewerbe den Agrarsektor Anfang der 1890er Jahre. Bereits einige Jahre früher dürfte die Zahl der Reichstagswähler in der Industrie, wo der Anteil männlicher Beschäftigter höher war, die der Wähler aus der Landwirtschaft überstiegen haben. Gleichzeitig verstädterte Deutschland in atemberaubendem Tempo. Während die Einwohnerzahl der Dörfer stagnierte, wuchs die der städtischen Gemeinden kontinuierlich an. Die Zahl der Bewohner von Großstädten explodierte geradezu: Sie verdreifachte sich zwischen Reichsgründung und 1890; vor allem während der 1880er Jahre nahm sie besonders schnell zu.38
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Hätten die rasante Industrialisierung und Verstädterung sich auf die wenigen Gebiete beschränkt, die schon 1871 gewerblich geprägt waren, hätten sie sich auf die politische Zusammensetzung des nationalen Parlaments nicht unbedingt auswirken müssen. Denn der Zuschnitt der Reichstagswahlkreise, bei der Gründung des Nationalstaats festgelegt, wurde bis 1918 nicht mehr verändert. Während der gesamten Zeit des Kaiserreichs reichte es deshalb im ländlichen Rastenburg in Ostpreußen, einige Tausend Wählerstimmen zu gewinnen, um ins Parlament zu kommen. In dem zum Großraum Berlin gehörenden Wahlkreis Charlottenburg war das 1871 auch noch so. Bei den letzten Reichstagswahlen im Kaiserreich brauchte ein Kandidat dagegen dort bereits über 100 000 Stimmen für den Einzug ins Parlament. Aber das Vordringen von industrieller und städtischer Lebensweise beschränkte sich nicht auf die früh gewerblich entwickelten Gebiete wie Thüringen, die Gegend an Rhein und Ruhr, Berlin und das Königreich Sachsen. Vielmehr wurde das Deutsche Reich aus dem Agrarstaat mit inselhafter Industrie, das es 1871 gewesen war, bis zur Jahrhundertwende eine der weltweit führenden Industrienationen mit nur noch einigen zurückgebliebenen, landwirtschaftlich geprägten Gegenden. In einer deutschen Region nach der anderen verschob sich das Schwergewicht der Beschäftigten vom Agrarsektor weg. Das Industriegebiet an Rhein und Ruhr dehnte sich nach Norden, Osten und Süden aus. In Schlesien entstand ein zweites Ruhrgebiet. Brandenburg und die preußische Provinz Sachsen industrialisierten sich ebenfalls. Im Südwesten des Reiches entwickelte sich ein neuer industriell geprägter Großraum, der Württemberg, Baden, Hessen, die Pfalz und Elsass-Lothringen umfasste. Hamburg und Bremen wurden von Handelsmetropolen zu Industriezentren, die sich über die Grenzen der Stadtstaaten in die angrenzenden preußischen Provinzen Hannover und Schleswig-Holstein ausbreiteten. Bei der letzten Berufszählung vor dem Ersten Weltkrieg 1907 war nur noch an der Ostseeküste und in Teilen Bayerns eine Mehrheit der Beschäftigten in der Landwirtschaft tätig. Sonst arbeiteten überall im Deutschen Reich die meisten Menschen in der Industrie. Im nationalen Durchschnitt hatte sich das Verhältnis der wichtigsten Wirtschaftssektoren umgekehrt. Die Landwirtschaft, die während 1870er und 1880er Jahre dominiert hatte, beschäftigte gut eine Generation später nur noch etwas mehr als jeden vierten Deutschen. Damit war ihre Bedeutung auf
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das Niveau herabgesunken, auf dem sich die jetzt dominante Industrie 1871 befunden hatte. Der wirtschaftliche Strukturwandel verringerte schrittweise das Gewicht ländlich-agrarischer Interessen in Gesellschaft und nationalem Parlament, während er die Bedeutung städtisch-industrieller erhöhte. Die gesellschaftlichen Folgen von Industrialisierung und Verstädterung wurden zudem durch eine sich gleichzeitig vollziehende Fundamentalpolitisierung noch verstärkt. Sichtbarster Ausdruck davon war das Ansteigen der Beteiligung bei den Wahlen zum Reichstag. 1871 hatten weniger als vier Millionen Männer ihre Stimme abgegeben. Das war gerade einmal jeder zweite Wahlberechtigte. Bei den nächsten Reichstagswahlen erhöhte die Zahl der Wähler sich jedoch beträchtlich. Seit 1874 lag sie zunächst zwischen fünf und sechs Millionen. Die Wahlbeteiligung pendelte sich damit um die 60 Prozent ein. 1887 stieg sie dann auf über 70 Prozent, die Zahl der Wähler auf über sieben Millionen. Nach der Jahrhundertwende kam es zu weiteren Sprüngen auf schließlich 85 Prozent und mehr als 12 Millionen, die von ihrem Wahlrecht Gebrauch machten. Diese Zahlen spiegeln eindrücklich wider, wie massiv der Reichstag in der deutschen Gesellschaft seit der Nationalstaatsgründung an Ansehen gewann. 1890 war er bereits zu dem wichtigsten Forum geworden, in dem die Nation sich repräsentiert sah und über sich selbst verständigte – ganz entgegen den Intentionen der konservativen Eliten um Bismarck, der diese Funktion eigentlich der Vertretung der Fürsten, dem Bundesrat, zugedacht hatte. Doch während der Bundesrat in der Gesellschaft kaum Interesse auf sich zog, genossen die öffentlichen Verhandlungen des Reichstagsplenums eine ungeheure Aufmerksamkeit. Sie dominierten die Schlagzeilen der entstehenden Massenpresse, waren Tagesgespräch und bewegten die Menschen des Kaiserreichs in einem Ausmaß, das heute kaum noch vorstellbar ist. Für Konservative wie Bismarck war das ein gewaltiges Ärgernis. Denn spätestens nach den Wahlen von 1890 ließ sich kaum noch übersehen, dass die wirtschaftliche Entwicklung im Parlament die politischen Vertreter städtisch-industrieller Schichten stärkte – und damit auf Dauer die Dominanz der landbesitzenden Aristokraten herausforderte, die das Deutsche Reich regierten. In den drei Wochen zwischen den Wahlen und dem 15. März wurde überdies deutlich, dass die große Mehrheit dieser regierenden Elite nach Überwindung des ersten Schocks schon nicht
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mehr wagte, dieser Herausforderung durch einen Staatsstreich gegen das Parlament zu begegnen. Allein der alte Reichskanzler hielt an dem Plan eines gewaltsamen Systemwechsels fest und hatte sich damit schließlich völlig isoliert, als Wilhelm II. ihn entließ. Es mag wie eine tragische Ironie wirken, dass gerade Bismarck es war, der ursprünglich zur Fundamentalpolitisierung der deutschen Gesellschaft und damit auch zum Bedeutungsgewinn des Reichstags wichtige Anstöße lieferte. Denn der Aufstieg des Parlaments zum zentralen Forum nationaler Leidenschaften wurde befeuert von «Kulturkampf» und Sozialistengesetz, an deren Initialzündung er einigen Anteil hatte. Die Versuche, «schwarze» und «rote Reichsfeinde» zu beseitigen, erwiesen sich gleichermaßen als Bumerang: Sie rüttelten Katholiken und Arbeiter politisch wach. Auch das Experiment, Wahlen durch die preußische Verwaltung im konservativen Sinn beeinflussen zu wollen, lieferte kaum die erhofften Resultate, schürte aber weitere Ressentiments gegenüber staatlicher Bevormundung und damit den Prozess politischer Mobilisierung. Zunächst die Zentrumspartei und dann vor allem die Sozialdemokratie nutzten diese Mobilisierung zum Aufbau eigener bürokratischer Apparate, die angesichts ihrer Erfolge zum Modell für die anderen Parteien wurden und damit den Prozess weiter vorantrieben.39 Dieser Prozess wurde außerdem noch durch das rapide Wachstum der Interessenverbände beschleunigt, die seit den späten 1880er Jahren wie Pilze aus dem Boden schossen. Den Anfang machten die sozialistischen Freien Gewerkschaften. Obwohl sie schon während der Reichsgründungszeit zu den mitgliederstärksten Verbänden in Deutschland überhaupt gehört hatten, blieb ihre Mitgliederzahl bis 1887 doch noch unter der magischen Marke von 100 000. Am Ende der 1880er Jahren gelang es den Freien Gewerkschaften jedoch nicht nur, diese Schallmauer zu durchbrechen, sondern ihre Mitgliedschaft sogar binnen kürzester Zeit zu verdreifachen. Hintergrund war eine Streikwelle, die nicht zuletzt dadurch motiviert war, die gestiegenen Lebensmittelpreise durch Lohnerhöhungen zu neutralisieren, und zwischen Kaiser und Kanzler den Streit darüber entfachte, ob man der Arbeiterschaft besser mit Sozialreformen oder einem verschärften Sozialistengesetz begegnen sollte. Dem Vorbild der Gewerkschaften folgten bald bäuerliche, konfessionelle und «nationale» Massenverbände, deren Mitgliederzahlen ebenfalls schnell in die Hunderttausende gingen.
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In der Geschichtsschreibung über das Kaiserreich dominierte früher lange die Auffassung, die Parteien seien mehr oder weniger von Verbänden abhängig geworden. Vor allem kapitalkräftige industrielle oder auch landwirtschaftliche Arbeitgeberorganisationen standen deshalb im Fokus der Forschung. Neuere Studien, die während des letzten Vierteljahrhunderts Parteien, Wahlen und Wahlkämpfe näher in den Blick nahmen, haben die ältere Ansicht mittlerweile gründlich widerlegt. Das Verhältnis zwischen Parteien und Interessenverbänden war vielmehr ein symbiotisches. Hohe Mitgliederzahlen stellten für die Politiker zudem oft eine attraktivere Münze dar als Mark. Obwohl die SPD mit ihrem antikapitalistischen Programm kapitalkräftige Arbeitgeberorganisationen abschreckte, profitierte sie von allen Parteien am stärksten von ihren Beziehungen zu einem Verband – nämlich zu den Freien Gewerkschaften, der größten Massenorganisation des Kaiserreichs, die bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs schließlich auf mehr als zweieinhalb Millionen Mitglieder anwuchs. Schon 1890 jedoch wurde die Sozialdemokratie mit tatkräftiger Unterstützung der Gewerkschaften zur stärksten Partei des Kaiserreichs – auch wenn sich das im Parlament einstweilen noch nicht so deutlich auswirkte, weil die Wahlkreiseinteilung die Industriestädte benachteiligte. Gleichsam über Nacht machten die Wahlen dennoch klar, dass es der Regierung überhaupt nicht gelungen war, die neuen städtischen Wählerschichten zu gewinnen. Die Masse der Menschen in den explosionsartig anwachsenden Industriezentren bekannte sich vielmehr zu einer Partei, die als entschiedenste Feindin der etablierten politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung galt – und deren engagierte Vertreter sich tatsächlich größtenteils selbst noch als Revolutionäre verstanden. Das verhieß für die Zukunft nichts Gutes. Denn der Wandel des Deutschen Reiches von einem Agrar- zu einem Industriestaat, das zeichnete sich 1890 immer deutlicher ab, war nicht aufzuhalten. Dadurch war zwar ein weiteres Wachstum der Sozialdemokratie keineswegs determiniert. Denn nicht Industrialisierung, Verstädterung und Politisierung der Bevölkerung an sich trieben die städtischen Wählerschichten in Scharen der SPD zu, sondern der Umstand, dass die Politik des Reiches den Interessen dieser Wähler keine Rechnung trug. Wie aufmerksame Beobachter erkannten, war es die Wirtschafts- und Gesell-
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schaftspolitik der deutschen Reichsleitung unter Bismarck gewesen, die dazu führte, dass die wachsende Zahl der Städter und industriell Beschäftigten sich der sozialdemokratischen Fundamentalopposition zuwandte. Konstruktive neue Ideen, um die bisher gemachten Fehler in Zukunft zu vermeiden, hatte in den regierenden Eliten freilich kaum jemand – am allerwenigsten der alte Reichskanzler. Bismarck hatte stets eine an den Interessen von grundbesitzendem Adel und bäuerlichen Agrarproduzenten ausgerichtete Politik praktiziert. Das war bisher auch durchaus zeitgemäß gewesen, angemessen für eine noch mehrheitlich agrarisch geprägte Gesellschaft. Jetzt aber, angesichts des bevorstehenden Übergangs zum Industriestaat, begann eine an den Interessen des landwirtschaftlichen Sektors orientierte Politik anachronistisch zu werden. Der Erdrutschsieg der SPD bei den Reichstagswahlen war in dieser Hinsicht ein eindrückliches Warnsignal. Gewonnen hatten die Sozialdemokraten die Wahlen ja vor allem mit ihrer Kritik an den Zöllen, die angesichts der steigenden Lebensmittelpreise in den schnell wachsenden Gruppen städtischer Verbraucher auf ausgesprochen fruchtbaren Boden fiel. Auf die Interessen dieser an Zahl rasant zunehmenden Verbraucherkreise war Bismarck in keiner Weise eingestellt. Er kannte nur alte Antworten auf neue Herausforderungen.
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Einige Wochen nach dem Zusammenstoß mit Wilhelm II. am 15. März 1890, der zu seinem erzwungenen Rücktritt führte, fasste Otto von Bismarck sein Verhältnis zur Politik in eine ausgesprochen treffende Metapher. Die Leidenschaften des Menschen, sinnierte er, seien wie Forellen in einem Teich: «Eine frißt die andere auf, bis nur eine dicke alte Forelle übrig bleibt. Bei mir hat im Lauf der Zeit die Leidenschaft zur Politik alle anderen Leidenschaften aufgefressen.»40 Der Verlust der politischen Gestaltungsmöglichkeiten, die ihm das Kanzleramt gegeben hatten, traf ihn entsprechend hart. Politik war für ihn eine Droge. Er brauchte sie wie die Luft zum Atmen. Ohne sie konnte er nicht mehr leben. Der Entzug des Amtes entzog ihm diese Droge. Den Rest seines Lebens musste er deshalb damit verbringen, nach Ersatzstoffen zu suchen.
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Das war das entscheidende Motiv für Bismarck, sich auch nach seinem Abgang von der Bühne weiter in die Politik einzumischen. Andere Beweggründe kamen verstärkend hinzu. Zum einen ist die Rachsucht des Altkanzlers zu nennen. Im Kreis seiner Familie und alter Freunde zog er rückhaltlos über nahezu jeden her, den er verdächtigte, zu seinem Sturz beigetragen zu haben: das angeblich rückgratlose «hochgeborene Hofgesinde», die Fürsten, «welche nicht zu den Wirbelgeschöpfen gehören», die Schmeichler und Speichellecker um den Kaiserthron und natürlich Wilhelm II., den er in diesem Kreis einen «dummen Jungen» nannte.41 In der Öffentlichkeit legte er sich zwar mehr Zügel an. Selbst in seinen öffentlichen Äußerungen war Bismarck aber immer noch von einer für damalige Verhältnisse ausgesprochenen Derbheit – wie überhaupt seine nachkartende Kritik an Weggefährten und Zeitgenossen aller Art ein bis dahin ausgesprochen ungewöhnliches Verhalten für ehemalige Amtsträger war. Schließlich trieb den Altkanzler eine grundsätzliche Unzufriedenheit mit der Politik seines Nachfolgers Leo von Caprivi um. An dessen bald so genanntem «Neuen Kurs» ließ Bismarck kein gutes Haar. Was auch immer Caprivi tat, alles verfiel seinem vernichtenden Urteil – ob die Reform der Landgemeindeordnung, Steuer- und Heeresreform, Handelsverträge und Neufassung des Bürgerlichen Gesetzbuchs, die Politik gegenüber der SPD oder der polnischen Minderheit, Ostasienpolitik, Krüger-Depesche und das Helgoland-Sansibar-Abkommen mit Großbritannien. Das galt auffälligerweise auch dann, wenn der Nachfolger seine eigene Politik im Grunde nur fortsetzte, was gar nicht selten der Fall war. Das Helgoland-Sansibar-Abkommen mit Großbritannien etwa hatte Bismarck vor seiner Entlassung noch persönlich eingefädelt, während er es danach heftig kritisierte. In seinen Forderungen nach einem Festhalten am «Alten Kurs» dürfte sich von daher persönliches Geltungsbedürfnis stark mit Kritik an der Sache vermischt haben. Bismarcks Interpretation des «Alten Kurses» war ohnehin eine sehr persönliche. In der Öffentlichkeit sammelten sich unter diesem Schlagwort die zahlreichen Gegner des «Neuen Kurses». Der «Alte Kurs» wurde in politischen Kommentaren, in Reden und sogar auf Wirtshausschildern beschworen. Verbunden wurde er mit den Personen von Wilhelm I., Bismarck und Moltke. Von diesen Personifikationen des «Alten Kurses» lebte nach dem Tod Moltkes 1891 freilich nur
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noch Bismarck. Der aber knüpfte in seinen Stellungnahmen etwa zu sozialer Frage und Handelsverträgen zwar durchaus an seine Politik als Reichskanzler an. Er radikalisierte diese jedoch zunehmend. So bezeichnete er nun etwa die Sozialdemokraten als «die Ratten im Lande», die «vertilgt werden» sollten.42 Und während er sich als Kanzler zumindest noch um einen handelspolitischen Ausgleich von industriellen und landwirtschaftlichen Interessen bemüht hatte, bekämpfte er Caprivis Zollpolitik aus agrarischer Perspektive völlig kompromisslos. Betrachtet man die Mittel, die Bismarck nutzte, um nach seiner Entlassung politisch weiter mitzureden, tritt die relative Bedeutung seiner Motive noch deutlicher hervor. Der Altkanzler ging drei Wege, um im Gespräch zu bleiben. Erstens schaltete er sich durch Reden, Interviews und Presseveröffentlichungen in öffentliche politische Diskussionen ein. Zweitens versuchte er mit der Arbeit an seinen Memoiren nicht nur das Andenken an seine Person zu formen, sondern auch die Vergangenheit für die Gegenwart politisch zu instrumentalisieren. Drittens schließlich akzeptierte er nach einigem Zögern ein Reichstagsmandat und einen Sitz im preußischen Herrenhaus. Das hätte ihm die Möglichkeit gegeben, die Politik der Jahre nach 1890 nicht nur kritisch kommentierend, sondern auch konstruktiv gestaltend zu begleiten. Bezeichnenderweise nahm er diese Möglichkeit nicht wahr. Im Reichstag erschien er nie, sein Mandat füllte er also tatsächlich nicht aus, nachdem er sich schon geweigert hatte, im Wahlkreis zu erscheinen und persönlich als Wahlkämpfer aufzutreten. Auch den Sitz im preußischen Herrenhaus nahm er nie ein. Das war zum Teil altersbedingter Unbeweglichkeit und Bequemlichkeit geschuldet. Allerdings hielten ihn diese nicht davon ab, in dem Jahr nach der Formsache bleibenden Annahme des Mandats im Reichstag eine große Reise nach Wien mit Zwischenstopps in Dresden und München zu unternehmen. Dabei setzte er sich unterwegs immer wieder dem Stress von Empfängen und öffentlichen Auftritten aus. Mit sichtlichem Behagen ließ er sich zujubeln und badete in der Menge. Er genoss die Begeisterung, die ihm hier entgegenbrandete. Dass Bismarck auf ein solches ungeteilt positives Echo im Reichstag nicht zählen konnte, war ihm aus Erfahrung wohlbewusst. 1891 und 1892 entschied er sich nach einigem Hin und Her letzten Endes immer wieder dagegen, persönlich im Parlament aufzutreten. Ausschlaggebend dafür war neben Bequemlichkeit die Angst, dort als einfacher Abgeord-
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neter «wie ein Pestkranker» ganz alleine zu stehen. Bismarck teilte offensichtlich sehr wohl die Befürchtungen seines ältesten Sohnes darüber, «welch Abschaum von Gemeinheit ihm entgegentreten und in was für Lagen er als simpler Abgeordneter kommen würde – ohne jede Unterstützung, jede Hilfe, und eine heulende geifernde Menge sich gegenüber, die alles daran setzen würde, ihn gesundheitlich zu ruinieren». Eine erneute Kandidatur lehnte er dann mit dem Hinweis auf sein Alter und seine politische Isolation ab: «Mein Name allein», meinte er, «würde ja genügen, um eine Sache zu diskreditieren.»43 Auf die konkrete und konstruktive Gestaltung gegenwärtiger Politik im Parlament verzichtete er so. Das sagt einiges über die Bedeutung, die Unzufriedenheit mit der Tagespolitik als Motiv von Bismarcks Handeln nach seiner Entlassung tatsächlich hatte: Allzu hoch wird man diese nicht veranschlagen dürfen. Wesentlich mehr Energie investierte er in Vergangenheitspolitik. An seinen Memoiren arbeitete er um einiges motivierter als an einer Karriere als Parlamentarier. Aus den Briefen seines getreuen Eckermann, Lothar Bucher, geht hervor, was Bismarcks Hauptmotiv dafür war: Rachsucht. So registrierte Bucher, der zwei Jahrzehnte Vortragender Rat im Auswärtigen Amt gewesen war, dass sein ehemaliger Chef nicht nur dazu neigte, sich selbst in bestes Licht zu setzen, während er seine Gegner in schwärzesten Farben malte – für Memoiren freilich keine ganz untypische Vorgehensweise. Bismarck hatte nach Bucher auch keinerlei Skrupel, dabei «absichtlich zu entstellen, und zwar selbst bei klaren, ausgemachten Vorgängen».44 Allerdings war Bismarcks Interesse an den Memoiren auf Dauer dann doch kein allzu großes. Nicht nur diktierte er zusammenhanglos Bruchstücke aus der Erinnerung, wie sie ihm gerade in den Sinn kamen. Wiederholt saß Bucher auch untätig mit gespitztem Bleistift im Salon von Friedrichsruh, während Bismarck, auf dem Sofa liegend, ihn schlicht vergaß und Zeitung zu lesen begann. Es war vor allem Buchers Geduld, seinem Insistieren und seiner mühevollen Redaktionsarbeit zu verdanken, dass die Erinnerungen des Altkanzlers in eine lesbare Form kamen. Und nach dem Tod seines selbstlosen Helfers redigierte Bismarck immer wieder hier und da an den Fahnen der Memoiren herum, ohne sich zu Lebzeiten zu einer Veröffentlichung aufraffen zu können. Von allen drei Werkzeugen politischer Aktivität, die sich ihm boten,
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setzte Bismarck am stärksten auf Äußerungen in der Presse. Presseartikel erforderten keinen langen Atem, der für das Verfassen von Memoiren nun einmal unabdingbar war. Sie nötigten ihren Urheber auch nicht, sich wie im Parlament direkter Kritik und Gegenrede auszusetzen – zumal Bismarck die meisten seiner Interventionen in der Presse nicht namentlich zeichnete, oft auch lediglich «inspirierte». «Inspirierte» Presseartikel hatten außerdem den zusätzlichen Vorteil, die konkrete Formulierung anderen zu überlassen, sich selbst dagegen auf Durchsicht und Kritik beschränken zu können. Das Wirken über die Presse kam deshalb der Bequemlichkeit des Altkanzlers ebenso entgegen, wie es geeignet war, sein Geltungsbedürfnis zu befriedigen. Auf Interviews, von denen Bismarck nach seinem Ausscheiden aus dem Amt anfangs zahlreiche gegeben hatte, verzichtete er dagegen bald größtenteils wieder. Denn deren schriftlicher Niederschlag ließ sich nicht im gleichen Maß von Friedrichsruh aus kontrollieren wie Presseartikel. Zudem war die nachträgliche Distanzierung von Interviews schwieriger als bei ungezeichneten oder «inspirierten» Artikeln. Das Halten von Reden vermochte Bismarck sich dagegen nie zu verkneifen. Dafür behagte ihm das Bad in der Menge einfach zu sehr. Das unterstreicht noch einmal die überragende Bedeutung des Geltungsbedürfnisses als Motiv seiner öffentlichen Interventionen. Auf wen stützte Bismarck sich bei diesen Interventionen? Wir wissen, dass ihn der Verlust seiner offiziellen Kommunikationskanäle schwer traf. Das galt vor allem für die effiziente Presseabteilung des Auswärtigen Amtes. In Windeseile baute er daher Verbindungen zu verschiedenen Zeitungen auf. Als hauptsächliches Sprachrohr dienten ihm die Hamburger Nachrichten. Deren verantwortlichen Redakteur Hermann Hofmann verpflichtete Bismarck sich mit großzügigen Privatkrediten, auf deren Rückzahlung er nie bestand. Auch zu anderen Journalisten knüpfte er enge Verbindungen. Während Hofmann freilich ganz sein Werkzeug war, blieben diese wesentlich unabhängiger. Den Altkanzler und seine journalistischen Kontakte einte zwar zumindest anfangs die Ablehnung des «Neuen Kurses». Aber nicht nur Bismarck verfolgte dabei seine eigene Agenda. Am besten wird das durch die schillernde Figur Maximilian Hardens illustriert. Harden und das von ihm gegründete Blatt Zukunft florierten zunächst infolge einer engen Symbiose mit Bismarck. Harden war frei-
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lich ein hochgradig eigenständiger Kopf. Und seine Interpretation des «Alten Kurses» war eine andere als die des Altkanzlers. Beide Männer einte zwar die Abneigung gegenüber Wilhelm II. Allerdings war Harden überzeugt von der Notwendigkeit, die in den 1880er Jahren begonnene Sozialreform fortzuführen – ein Ziel, von dem Bismarck sich längst verabschiedet hatte. Er benutzte den Altkanzler ebenso wie dieser ihn – bis ihre unterschiedlichen Sichtweisen des «Alten Kurses» sie schließlich entzweiten. Die wenigsten derjenigen, auf die Bismarck sich als «Kanzler ohne Amt» stützen konnte, folgten ihm bedingungslos. Die meisten waren keine verzückten Jünger im Sinne einer charismatischen Herrschaft, sondern Bündnispartner auf Zeit, die ihre eigene Sichtweise des «Alten Kurses» kultivierten. Galt das schon für die meisten Journalisten in Bismarcks Umfeld, so galt es erst recht für die Parteien. Am engsten waren seine Beziehungen zu den Konservativen. Wenn überhaupt einer Parteirichtung, dann hatte Bismarck sich dieser zeitlebens zugehörig gefühlt. Von den Freikonservativen war er schon während seiner Zeit als preußischer Ministerpräsident unterstützt worden. Mit den Deutschkonservativen hatte er spätestens seit 1879 eng zusammengearbeitet. Grundlage dieser Zusammenarbeit war das gemeinsame Eintreten für die Interessen der Monarchie, des Adels und der Landwirtschaft gewesen. Diese aristokratisch-agrarische Interessengemeinschaft bildete auch jetzt noch den Kitt zwischen Bismarck und den Konservativen. Allein, sosehr die Konservativen Bismarck als Galionsfigur gegen die Handelsvertragspolitik seines Nachfolgers ins Spiel brachten – mehr als eine Galionsfigur war er für sie tatsächlich nicht mehr. Zu groß waren die Unterschiede der Motive und Ziele. Während der alte Mann in Friedrichsruh nur für die unbeglichenen Rechnungen der Vergangenheit lebte, ging es den Konservativen letzten Endes um die Gewinnung des jungen Kaisers für ihre Politik. Wenn Bismarck die mit seiner eigenen Praxis brechende liberale Polenpolitik Caprivis verdammte, folgten ihm die ostelbischen Großgrundbesitzer darin nicht, weil sie mehr und mehr auf polnische Wanderarbeiter angewiesen waren. Und wo Bismarck eine Verbesserung der Beziehungen zu Russland forderte, sahen die konservativen Agrarier eine Entfremdung vom Zarenreich gar nicht ungern, weil es ihnen die Konkurrenz des billigen russischen Getreides vom Hals hielt.
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Als Konservativer hätte er im Reichstag ohnehin nicht auftreten können. Zwar wurde ihm im Frühjahr 1891 nach dem Tod Helmuth von Moltkes dessen ostpreußischer Wahlkreis angeboten. Bezeichnenderweise gab es darüber aber offenbar Meinungsverschiedenheiten unter den deutschkonservativen Honoratioren vor Ort. In jedem Fall kam das Angebot zu spät: Denn Bismarck war nach langem Zögern kurz vorher auf den Vorschlag eingegangen, für die Nationalliberalen in einem Reichstagswahlkreis zu kandidieren. Auch mit den Nationalliberalen hatte er wiederholt zusammengearbeitet, und es gab manche Gemeinsamkeiten. Die lagen allerdings, was die Partei als Ganzes betraf, größtenteils auf dem Gebiet nationaler Symbolpolitik. Über das Interesse hinaus, den «Reichsgründer» als eine Art Maskottchen zu gewinnen, war die Person Bismarcks unter Nationalliberalen höchst umstritten. Der schwerindustrielle Parteiflügel sah ihn als Bundesgenossen gegen überzogene Sozialpolitik, nationalliberale Agrarier teilten seine Opposition gegen Caprivis Handelsverträge. Viele bürgerliche Honoratioren hatten freilich Bismarcks Politik im preußischen Verfassungskonflikt und die konservative Wende von 1878 / 79 noch nicht vergessen. Die Idee, dem Altkanzler eine Kandidatur im 19. hannoverschen Wahlkreis anzutragen, kam denn auch nur von einem Teil der nationalliberalen Reichstagsfraktion. Angeboten wurde Bismarck das Mandat vom lokalen Wahlkomitee der Partei vor Ort. Das Berliner nationalliberale Zentralkomitee erklärte noch vor dem ersten Wahlgang ausdrücklich, daran nicht mitgewirkt zu haben. Wie schon das vorhergehende Angebot eines Wahlkreises in Kaiserslautern 1890, das Bismarck noch abgelehnt hatte, war auch dieses zweite in der Partei umstritten. Führende nationalliberale Zeitungen distanzierten sich mehr oder weniger deutlich davon. Im Grunde ähnelte die Einstellung zu Bismarck in der nationalliberalen Elite der unter Deutsch- und Freikonservativen. Als Galions- und Symbolfigur wollte man ihn gerne vereinnahmen: «Wir müssen den sterbenden Löwen für uns ausbeuten», gab wenige Tage nach Bismarcks Entlassung Johannes von Miquel einem nationalliberalen Parteifreund gegenüber die Richtung vor.45 Als Mensch aus Fleisch und Blut und erst recht als Politiker stellte der Exkanzler dagegen ein Problem dar. Für die Reichsleitung war er erst recht ein Ärgernis. Seine trotz aller oberflächlichen Gesten bleibende Unversöhnlichkeit gegenüber Wil-
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helm II. beschäftigte dessen Hofstaat immer wieder. Tatsächlich gefährdete Bismarcks Opposition eine konservative Einheitsfront, um monarchische und aristokratische Herrschaft im Kaiserreich zu verteidigen. Allerdings hatte es solche Risse im herrschenden Establishment schon vorher gegeben. Und die innerkonservativen Auseinandersetzungen der frühen 1890er Jahre waren nicht hauptsächlich auf Bismarck zurückzuführen. Vielmehr wirkten sich hier vor allem strategische Dissense zwischen Wilhelm II. und der Reichsleitung auf der einen Seite, traditionellen und neuen Agrarkonservativen auf der anderen Seite aus. Auch das gesellschaftliche Echo auf Bismarck lässt sich leicht überschätzen. Natürlich waren die fast halbe Million Briefe und Postkarten, die zu seinem 80. Geburtstag 1895 in Friedrichsruh eintrafen, ein imposanter Beleg für seine Popularität. Allerdings kamen die Gratulationsschreiben ebenso wie die vieltausendköpfige Schar der persönlich erscheinenden Gratulanten nicht gleichmäßig aus allen Schichten, sondern überwiegend aus dem Bürgertum. Der Inhalt der überlieferten Ansprachen und Briefe legt zudem nahe, dass die darin zum Ausdruck kommende Verehrung dem «Reichsgründer» galt, dem Nationalhelden, dem letzten Überlebenden des Triumvirats aus Generalstabschef, König und Kanzler. Der «Alte Kurs», für den Moltke, Wilhelm I. und Bismarck standen, hatte zu diesem Zeitpunkt aber bereits seine vielfältigen tagespolitischen Bezüge zu verlieren begonnen und war dabei, in einer weiteren Metamorphose zum zeitlosen nationalen Mythos zu werden. Die Verehrung, die dem noch zu Lebzeiten zum Denkmal gewordenen Bismarck entgegenschlug, galt für den Menschen und Politiker Bismarck nicht unbedingt. In einer Reichstagsdebatte verweigerte die Mehrheit der gewählten Volksvertreter 1895 dem Altkanzler eine Glückwunschadresse zum 80. Geburtstag. Linksliberale, Zentrum und Sozialdemokraten begründeten das mit dessen konkreter Politik in Vergangenheit und Gegenwart. Konservative, Nationalliberale und Antisemiten stimmten dagegen für die Glückwunschadresse, wobei ihre Redner die durchaus auch vorhandenen kritischen Zwischentöne in den eigenen Reihen übergingen und mit dem positiven Mythos zudeckten. Die Bismarckkritiker repräsentierten dabei knapp zwei Drittel der Wähler. Als Bismarck selbst 1891 als Kandidat zur Reichstagswahl antrat, tat er das in einem rein protestantischen Wahlkreis, wo wenigstens die Erinnerung an den «Kulturkampf» allenfalls zu seinen Gunsten ausschlagen
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konnte. Dennoch ließ er dort knapp die Hälfte der Wähler kalt und polarisierte die andere Hälfte. Im ersten Wahlgang beteiligten sich 55 Prozent der Wahlberechtigten. Davon wählten ihn nur zwei von fünf. Die anderen Stimmen verteilten sich auf einen sozialdemokratischen Zigarrenarbeiter, einen Linksliberalen und einen Welfen. Bei der deshalb nötig werdenden Stichwahl setzte Bismarck sich dann gegen den Sozialdemokraten durch, weil die Welfenpartei eine Empfehlung für ihn aussprach. Das Interesse der Wähler sank freilich noch weiter: Nur gut ein Drittel der Wahlberechtigten stimmte letztlich für den Altkanzler. Bei den nächsten Wahlen ließ er sich nicht mehr aufstellen. Der ihn ersetzende nationalliberale Kandidat gewann dann über 1000 Stimmen mehr. Seit 1895 zog Bismarck sich dann aus gesundheitlichen Gründen immer weiter aus der Öffentlichkeit zurück. Immer öfter klagte er über Beschwerden – Gesichtsneuralgie, Ischias, Atemnot. Lungenödeme plagten ihn, ein Fuß starb langsam und qualvoll ab. Meistens saß er nun im Rollstuhl, wenn er nicht bettlägerig war. Seine Kinder und deren Ehepartner pflegten ihn. Am Abend des 30. Juli 1898 ist der erste Kanzler des Deutschen Reiches, bereits zum Mythos überhöht, gestorben. An diesem Mythos hatte er selbst fleißig mitgestrickt. Allerdings tat er das schon vor seiner Entlassung im März 1890, und die Mythisierung zum «Reichsgründer» sollte sich nach seinem Tod beschleunigt fortsetzen, als er nichts mehr dazu beitragen konnte. Sie verlief, wie auch die politische Instrumentalisierung als Galionsfigur durch Konservative und Nationalliberale, weitgehend unabhängig von seiner Person. Wenn überhaupt, hat Bismarck durch seine politischen Interventionen nach 1890 der von ihm selbst und anderen betriebenen Überhöhung zum Nationaldenkmal eher geschadet als genützt. Erst als die Zwischenrufe des widerborstigen alten Mannes in Friedrichsruh endgültig verklungen waren, ließ sich sein Bild vollends auf den Denkmalsockel hieven.
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General Leo von Caprivi, den Wilhelm II. nach dem «Krach» mit Bismarck im März 1890 zum neuen Reichskanzler und preußischen Ministerpräsidenten ernannte, erfreute sich zunächst allgemeiner Hochach-
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tung. Hildegard von Spitzemberg gefiel «der Mann in seiner Schlichtheit und seinem Ernste; gleichweit entfernt von Selbstüberschätzung und Verzagtheit», seine «Begabung, Tüchtigkeit, Charakter». Bismarck hatte sein Rücktrittsgesuch nach dem 15. März noch nicht eingereicht, als sie bereits überall «Caprivi als Reichskanzler genannt» hörte. Auch Philipp zu Eulenburg gehörte zu denen, die in hohen Tönen das Loblied «des bedeutenden Mannes» sangen und sich angesichts «seiner Klugheit und seiner Haltung» keinen geeigneteren Kandidaten vorstellen konnten. Selbst Generalstabschef Alfred von Waldersee, der Hoffnungen hegte, vom Kaiser zum Reichskanzler ernannt zu werden, musste in seinem Tagebuch sich eingestehen: «Der Kaiser könnte keine bessere Wahl treffen. Caprivi ist ein grundehrenwerter, charakterstarker Mann, der die größte Achtung genießt und sich auch als Marineminister große Achtung im Reichstag erworben hat. Fraglich ist mir nur, ob er mit dem Kaiser zusammen wird gut wirtschaften können.»46 Sogar Bismarck hielt vor seiner Entlassung große Stücke auf den «selbständigen, unabhängigen Caprivi».47 Auch wenn er später kein gutes Haar mehr an dessen Politik ließ, empfahl er ihn im Februar 1890 in einem schwachen Moment sogar dem Kaiser als potentiellen Nachfolger. Insofern stellte die Ernennung des Generals keinen radikalen Bruch mit der bisherigen Regierungspolitik dar. Caprivi war preußischer Aristokrat wie Bismarck, wenn auch kein Großgrundbesitzer wie dieser. Wie seinem Vorgänger ging es ihm ebenfalls um Verteidigung und Stabilisierung der zentralen Machtposition von Monarchie und Aristokratie im Deutschen Reich. Um dieses Ziel zu erreichen, schlug Caprivi allerdings einen anderen Kurs ein. Er setzte weder auf Repressionsmaßnahmen gegenüber der Sozialdemokratie noch darauf, Liberale und Zentrum in den Parlamenten gegeneinander auszuspielen. Bismarck hatte während der 1880er Jahre einen Kurs der Konfrontation praktiziert. Caprivi bevorzugte dagegen eine Politik der Integration. Bezeichnenderweise übernahm unter Caprivi 1890 zum ersten Mal seit 1879 wieder ein Liberaler ein Ministeramt in Preußen. Der Nationalliberale Johannes von Miquel war sogar der erste führende liberale Parlamentarier seit 1848, der Mitglied des preußischen Staatsministeriums wurde – wenn er auch sein Reichstagsmandat dafür aufgeben musste, weil dessen Ausübung nach der Verfassung mit der Übernahme eines Staatsamts unvereinbar war. Als Finanzminister reformierte Miquel
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während der nächsten Jahre das Steuersystem in Preußen grundlegend. Zunächst führte er eine progressive Einkommensteuer ein, die ärmere Bevölkerungsschichten entlastete und dafür Wohlhabende stärker zur Deckung staatlicher Ausgaben heranzog. Es folgte eine Reform der Gewerbe- und Kommunalsteuern. Die sogenannte Miquel’sche Finanzreform hat das Steuersystem des größten deutschen Staates wesentlich modernisiert. Viele der damals eingeführten Neuerungen gelten in Deutschland bis heute. Die Reformen zielten erklärtermaßen darauf, die weniger vermögenden Massen der Bevölkerung durch ihre Entlastung für den Staat zu gewinnen. Allerdings werden an der Finanzreform auch die Grenzen der neuen Politik sichtbar. So ging die Reform der Einkommensteuer vor allem auf Kosten des industriellen Kapitals. Die traditionelle Privilegierung der Landwirtschaft blieb also erhalten. Ganz besonders galt das für die Gutsbezirke des östlichen Preußen, wo die konservative Aristokratie ihre wirtschaftliche und politische Machtbasis hatte. Diese Machtbasis wurde auch durch eine versuchte Neugliederung der Landgemeinden nicht erschüttert. Die Finanzreform hat die politische Dominanz der Konservativen wenigstens in Preußen sogar noch untermauert: Weil das Wahlrecht dort an die Steuerleistung gekoppelt war, wurden die konservativen Parteien im preußischen Abgeordnetenhaus nun noch stärker als vorher. Und daran sollte sich bis zum Ende des Kaiserreichs nichts wesentlich ändern. Alle Versuche einer Änderung des Wahlrechts zum Abgeordnetenhaus sollten deshalb bis 1918 vergeblich sein. Preußen blieb, allem Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft des Reiches zum Trotz, ein Bollwerk des Konservatismus und Hindernis für substantielle politische Veränderungen. Auf Reichsebene war das erste große Projekt des «Neuen Kurses» unter Caprivi ebenfalls nur teilweise neu. Es handelte sich um die von Wilhelm II. schon vor Bismarcks Entlassung vollmundig angekündigten Initiativen zum Arbeiterschutz. Bismarck hatte ähnliche Vorschläge Theodor Lohmanns Anfang der 1880er Jahre abgebogen, weil er sich von einem Ausbau der Sozialversicherung eher die Realisierung seiner gegen SPD und Reichstag gerichteten Ziele versprach. Der Kaiser und Caprivi griffen die Ideen Lohmanns nun wieder auf. Auch sie verfolgten damit das Ziel, die Industriearbeiterschaft zu gewinnen und von der Sozialdemo-
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kratie abzuhalten. Anders als Bismarck verbanden Caprivi und der Kaiser das Zuckerbrot der sozialen Reform aber nicht mit der Peitsche politischer Repression. Die meisten der Reformmaßnahmen wurden 1891 in einer neuen Fassung der Gewerbeordnung gebündelt. Für Frauen und Jugendliche legte sie eine maximale tägliche Arbeitszeit fest. Die Zahl der staatlichen Fabrikinspektoren, die eine Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften in den großen Industriebetrieben kontrollieren sollten, wurde noch einmal erhöht, ihr Tätigkeitsfeld erneut ausgeweitet. Die Inspektoren kontrollierten jetzt etwa strikt das Verbot der Kinderarbeit. Außerdem konnten in größeren Unternehmen Arbeiterausschüsse eingerichtet werden. Die Städte durften kommunale Gewerbegerichte gründen, um Konflikte zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu entscheiden. Das kam potentiell den Beschäftigten zugute, deren Position in solchen Konflikten die schwächere war. Die Reformen machten auf Dauer die Lage der Arbeiter in den wachsenden Industriezentren tatsächlich erträglicher. Ihr unmittelbares politisches Ziel verfehlten sie aber. Bei den nächsten Reichstagswahlen 1893 gewann die SPD wieder die meisten Stimmen, sogar noch mehr als 1890. Wie bisher wurde sie vor allem in den Industriestädten gewählt. Die Industriearbeiter honorierten die von der Reichsleitung initiierten Reformen also nicht. Die Reformen waren freilich auch halbherzig. Wo Arbeiterausschüsse eingerichtet wurden, hörten die Unternehmer meist nicht auf deren Mitglieder. Die Gründung von Gewerbegerichten war zunächst fakultativ, erst 1901 wurde sie verpflichtend. In der Landwirtschaft galt kaum eine der neuen Arbeiterschutzmaßnahmen, selbst Kinderarbeit blieb in ländlichen Gegenden noch jahrzehntelang verbreitet. Für die erwachsenen männlichen Arbeiter, die von allen Betroffenen allein wahlberechtigt waren, gab es weiterhin nicht einmal eine gesetzliche Begrenzung der Arbeitszeit. Zu den Wahlen von 1893 kam es, weil Caprivi den Reichstag hatte auflösen lassen. Anlass war eine Auseinandersetzung mit den Linksliberalen, die der neue Reichskanzler entgegen seinen Hoffnungen größtenteils ebenso wenig gewinnen konnte wie die sozialdemokratischen Industriearbeiter. Der Kanzler hielt eine Verstärkung des deutschen Heeres für nötig, für die das Parlament die Mittel bewilligen sollte. In der alten Streitfrage des parlamentarischen Budgetrechts wollte er dem Reichstag
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zwar entgegenkommen, hielt aber doch eine Bewilligung des Militäretats über fünf Jahre für nötig. Die meisten Linksliberalen akzeptierten dieses Kompromissangebot nicht. Bei den Wahlen verloren sie Stimmen; eine zum Kompromiss mit Caprivi bereite Minderheit der Partei spaltete sich ab. Der Kanzler konnte sich dann zwar in der Sache durchsetzen. Eine Kooperation mit der Mehrheit der linken Liberalen zu etablieren gelang ihm jedoch nicht. Um das Verhältnis zu den anderen Parteien stand es nur wenig besser. Durch die Aufnahme von Miquel ins preußische Staatsministerium hatte Caprivi seinen Willen zur Zusammenarbeit mit den Nationalliberalen deutlich gemacht. Auch um das Zentrum und die mit ihm verbündete Vertretung der polnischen Minderheit im Reichstag bemühte er sich. Die Polen, die in Preußen ungefähr ein Zehntel der Bevölkerung ausmachten, waren unter Bismarck einer Politik rabiater Germanisierung ausgesetzt gewesen: Deutsch war alleinige Amts- und Gerichtssprache geworden, das Polnische aus dem Schulunterricht verdrängt, Polen ohne deutsche Staatsbürgerschaft ausgewiesen, schließlich sogar polnischer Grundbesitz mit Steuergeldern aufgekauft und an deutsche Ansiedler verteilt worden. Caprivi brach diese Ansiedlungspolitik vorübergehend ab, polnischsprachiger Schulunterricht wurde zum Teil wieder erlaubt. Damit verstimmte der Kanzler aber die Nationalliberalen, die in der Germanisierung der Polen ein nationales Erfordernis sahen. Noch weiter verschlechterte sich das Verhältnis Caprivis zu den Nationalliberalen durch ein von ihm in Preußen als Ministerpräsident vorgelegtes Volksschulgesetz. Das Gesetz sollte den Kirchen wieder stärkeren Einfluss in den Schulen geben. Im Grunde handelte es sich um einen Versuch, vom Kulturkampf gerissene Wunden zu schließen. Das Zentrum begrüßte die Gesetzesvorlage. Gerade das provozierte aber bei Miquel und den Nationalliberalen einen Sturm der Entrüstung gegen die vorgesehene Rekonfessionalisierung der Schulen. Wilhelm II. entzog Caprivi deshalb seine Unterstützung. Das Schulgesetz kam schließlich nicht zustande. Daraufhin reagierte dann auch das Zentrum verstimmt. Caprivi trat als Ministerpräsident in Preußen zurück. Wilhelm, der zunehmend an ihm zweifelte, ersetzte ihn in diesem Amt durch einen Reformen abgeneigten Konservativen. Caprivi blieb allerdings zunächst weiterhin Reichskanzler. Und im Reich sah es lange so aus, als ob er mit seiner Reformpolitik da erfolg-
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reich sein würde, wo die öffentliche Aufmerksamkeit am größten war: in der Wirtschaftspolitik. In den frühen 1890er Jahren liefen mehrere Handelsabkommen des Deutschen Reiches mit anderen europäischen Staaten ab. Caprivi wollte die Abkommen verlängern und bei dieser Gelegenheit die unter Bismarck schrittweise erhöhten deutschen Agrarzölle wieder senken. Dafür gab es mehrere Gründe. Zunächst einmal sah der neue Kanzler anders als der alte durchaus die Notwendigkeit, den Interessen der wachsenden Verbrauchermassen in den Städten entgegenzukommen, um deren Abwanderung zur Sozialdemokratie aufzuhalten. Aber nicht nur deswegen stellte Caprivi eine Fortsetzung der Politik seines Vorgängers in Frage, die hauptsächlich an den Bedürfnissen des Agrarsektors ausgerichtet gewesen war. Während das Deutsche Reich Lebensmittel importierte, weil die heimische Landwirtschaft immer weniger vermochte, die wachsende Bevölkerung zu ernähren, entwickelte sich das Land zu einem Exporteur von Industrieprodukten. Der Wohlstand seiner Bewohner hing zunehmend von diesen Exporten ab. Deutsche Industrieexporte waren in anderen europäischen Staaten nachgefragt. Noch stärker landwirtschaftlich geprägte Länder wie Österreich-Ungarn, Russland oder Italien hatten allerdings auch ein Interesse daran, im Gegenzug ihre Agrarerzeugnisse nach Deutschland auszuführen. Auf die hohen deutschen Getreidezölle drohten sie mit Zöllen auf Industrieprodukte zu antworten. Eine Senkung der deutschen Tarife lag auch deshalb nahe. Eine solche Politik bot sich außerdem an, um das seit den späten 1880er Jahren immer schlechtere Verhältnis zu Russland wieder zu verbessern. Bismarck hatte, um die Stellung des Deutschen Reiches in Europa zu sichern, seit 1871 vor allem auf gute Beziehungen zu den konservativen Monarchien Russland und Österreich-Ungarn gesetzt. Diese «Dreikaiserpolitik» wurde aber durch Gegensätze zwischen den beteiligten Mächten erschwert. Nicht nur beanspruchte der Zar eine Führungsposition, die von den beiden anderen Monarchen nicht anerkannt wurde. Russland und Österreich-Ungarn rivalisierten auch auf dem Balkan miteinander. Schließlich belasteten die deutschen Agrarzölle das Verhältnis zum Zarenreich, das auf Gewinne aus Getreideexporten angewiesen war, um seine Industrialisierung zu finanzieren. Nachdem der Dreikaiserbund deshalb 1887 endgültig auseinandergebrochen war, hatte Bismarck die Bruchstücke mit dem Notbehelf
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zweiseitiger Verträge wieder zusammenzuflicken versucht, sich dabei jedoch in Widersprüche verstrickt. Im deutsch-russischen Rückversicherungsvertrag versprach er dem Zaren insgeheim Unterstützung bei einer Besetzung der türkischen Meerengen. Das widersprach nicht nur bereits bestehenden vertraglichen Zusagen Deutschlands gegenüber Österreich-Ungarn und Rumänien. Parallel zum Rückversicherungsvertrag regte Bismarck auch noch den Abschluss eines Abkommens zwischen Großbritannien, Österreich-Ungarn und Italien an, dessen Ziel es gerade war, Russland von den Meerengen fernzuhalten. Nicht nur der missgünstige Waldersee schüttelte darüber den Kopf: «Die Manipulationen des Kanzlers mit Russland müssen Österreich schließlich argwöhnisch und mißmutig machen.»48 Auch den Fachleuten im Auswärtigen Amt schien Bismarcks Politik zu riskant. Von ihnen beraten, hatte Caprivi es unmittelbar nach seiner Übernahme der Reichskanzlerschaft abgelehnt, den Rückversicherungsvertrag mit Russland zu verlängern. Stattdessen baute er darauf, durch Eingehen auf die zollpolitischen Wünsche der russischen Regierung die Beziehungen zum Zarenreich wieder zu entkrampfen. Seit den Wahlen von 1890 gab es für Zollsenkungen eine breite Mehrheit im Parlament. 1892 stimmte der Reichstag zunächst Handelsverträgen unter anderem mit Österreich und Italien zu, in denen geringere Zollsätze für Getreide als bisher vorgesehen waren. Nur die meisten Konservativen stimmten dagegen. Nach dem Preisanstieg um 1890 begannen jedoch die Preise für Getreide seit Ende 1892 für einige Jahre noch einmal zu sinken. Die Konkurrenz auf dem Weltmarkt machte sich vorübergehend wieder bemerkbar. Nicht nur unter den Großgrundbesitzern im östlichen Preußen, sondern in der ganzen deutschen Landwirtschaft entstand deshalb eine lautstarke Protestbewegung gegen den bevorstehenden Abschluss des wichtigen Handelsvertrags mit Russland. Ein schlesischer Landwirt rief die Bauern dazu auf zu «schreien, dass es bis in die Parlamentssäle und Ministerien dringt – wir müssen schreien, dass es bis an die Stufen des Thrones vernommen wird».49 1893 gründete sich mit dem Bund der Landwirte eine agrarische Interessenvertretung, die schnell zur Massenorganisation wurde. Der Bund stand in enger Verbindung mit der Deutschkonservativen Partei, der er bald weitgehend eine Parteiorganisation ersetzte. Auch im Zentrum und unter den Nationalliberalen bildeten sich agrarische Interessengruppen. Dennoch ratifizierte der Reichs-
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tag nach heftigen Debatten 1894 den Handelsvertrag mit Russland – mit den Stimmen von Sozialdemokraten, Linksliberalen und den Mehrheiten von nationalliberaler und Zentrumsfraktion. Bei den Abstimmungen über die Handelsverträge der Jahre 1892 bis 1894 wurden zum ersten Mal seit der liberalen Ära wieder wesentliche Vorlagen im Reichstag gegen die Konservativen verabschiedet. Damit zeichnete sich in zarten Umrissen eine potentielle neue politische Konstellation ab. Sogar die SPD hatte bei den handelspolitischen Auseinandersetzungen mit der Regierung Caprivi an einem Strick gezogen. In Bayern stimmten 1894 die Sozialdemokraten sogar dem Landeshaushalt zu. Es war das erste Mal überhaupt, dass sozialdemokratische Abgeordnete den Etat eines Einzelstaates im Deutschen Reich bewilligten. Bisher hatte die SPD sich konstruktiver parlamentarischer Mitarbeit regelmäßig verweigert. Das wurde aber für eine Partei, die mittlerweile fast ein Viertel der Wähler des Reichstags vertrat, immer schwieriger. Bei aller Bereitschaft zu begrenzten Reformen war jedoch auch Bismarcks Nachfolger Leo von Caprivi nicht der Mann, der zu einem Dialog zwischen Reichsleitung und SPD bereit gewesen wäre. Schon gar nicht galt das für seinen obersten Dienstherrn, den Kaiser. Wilhelm II. war seit den Reichstagswahlen von 1893 zutiefst verärgert über die vermeintliche «Undankbarkeit» der Arbeiterschaft, die alle sozialpolitischen Wohltaten des «Neuen Kurses» so gar nicht würdigen wollte. Stattdessen tendierte er nun zu einem harten staatlichen Vorgehen gegen Streiks und Gewerkschaften und erst recht gegen die vermeintlich «vaterlandslosen Gesellen» von der Sozialdemokratie. Auftrieb erhielt diese Tendenz noch von einer Reihe politischer Anschläge, die radikale Linke in Europa verübten. So fiel 1894 der französische Staatspräsident einem Attentat zum Opfer. Wilhelm II. forderte deshalb ein Gesetz gegen den angeblich drohenden «Umsturz». Er wollte also jetzt wieder zurück zu der Repressionspolitik, die er selbst noch 1890 gegenüber Bismarck abgelehnt hatte. Weil es wie damals keine Mehrheit für eine solche Politik im Reichstag gab, liebäugelte er schließlich sogar mit einem Staatsstreich, der das Parlament als Machtfaktor ganz ausschalten würde. Caprivi lehnte das als zu gefährlich ab. In charakteristischer Inkonsequenz verlor Wilhelm II. dann ebenfalls den Mut dazu. Das persönliche Verhältnis zwischen Kaiser und Kanzler war mittlerweile jedoch weitgehend zerrüttet. Dem nüchternen Caprivi lagen die
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höfischen Schmeicheleien nicht, für die der im Grunde zutiefst unsichere und eitle Wilhelm ausgesprochen empfänglich war. Das nützten nun die Konservativen im preußischen Staatsministerium und bei Hof aus. Vor den Kopf gestoßen durch Caprivis Handelsvertragspolitik, intrigierten sie nach Kräften gegen den Kanzler. Ihre politische Isolation im Reichstag konnten die konservativen Eliten durch den direkten Kontakt zum Monarchen ausgleichen. Von ihnen beeinflusst, ging Wilhelm II. im Herbst 1894 auf ein Rücktrittsgesuch des entnervten und desillusionierten Caprivi ein. Das Experiment des «Neuen Kurses» war beendet.
«Der Kurs bleibt der alte, und nun Volldampf voraus!» «Der Kurs bleibt der alte, und nun Volldampf voraus!»
Der letzte deutsche Kaiser genießt heute alles andere als einen guten Ruf. Besonders im Vergleich mit Bismarck fällt das auf. Dessen Bild wird zwar kontrovers diskutiert. Dass der erste Kanzler des Deutschen Reiches wirkungsmächtig gewesen ist, ist aber unumstritten. Die Bedeutung Wilhelms II. für die deutsche Geschichte wurde dagegen lange entweder gering oder rein negativ bewertet. Erst in letzter Zeit hat sich das durch kulturhistorisch inspirierte Forschungsarbeiten teilweise verändert. Die darin vertretene positivere Sicht des Kaisers kann an zeitgenössische Bilder anknüpfen. Denn besonders zu Beginn seiner Regierungszeit war Wilhelm alles andere als unpopulär. Im Gegenteil: Während der alte Reichskanzler Bismarck als verbraucht, als Dinosaurier einer vergangenen Epoche erschien, wurde der junge Kaiser vielfach als strahlender Botschafter eines neuen, modernen Deutschland begrüßt. Schon Wilhelms erste Erlasse hatten 1888 nach dem Zeugnis des alles andere als unkritischen Waldersee «einen ganz ausgezeichneten Eindruck» in der Öffentlichkeit gemacht: «Das Gefühl ist weit und breit, daß wir eine schwere Krankheit glücklich überwunden haben und nun einer glücklichen Zeit entgegengehen.»50 Sein erster großer öffentlicher Auftritt als Monarch bei der feierlichen Eröffnung des Reichstags im Berliner Stadtschloss, an der neben den Abgeordneten auch alle Reichsfürsten teilnahmen, wurde euphorisch bejubelt. Auf manche Zeitgenossen wirkte die Feier geradezu wie eine zweite Reichsgründung. Anton von Werner, der Maler der Kaiserproklamation von Wilhelms gleich-
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namigem Großvater in Versailles 1871, hatte die Dekoration ausgesucht und hielt auch die neue Zeremonie im Bild fest. Die Entlassung des alten Bismarck 1890 verstärkte den Eindruck, dass mit der Machtübernahme des jungen Kaisers wenn nicht unbedingt alles anders, so doch das meiste besser werden würde. Groß war der Vertrauensvorschuss für Wilhelm, als er im März 1890 ankündigte: «Der Kurs bleibt der alte, und nun Volldampf voraus!»51 Die «wilhelminische» Ära versprach eine dynamische zu werden. Wilhelms quirliger Aktivismus vermittelte jedenfalls anfangs das Bild eines Aufbruchs zu neuen Ufern. Nur wenigen Zeitgenossen fielen zunächst die inneren Widersprüche seiner Politik auf. Selbst dass der Kaiser keineswegs beabsichtigte, den Kurs des Staatsschiffs zu ändern, wurde vielfach überhört. In seinen ersten Regierungsjahren war Wilhelm II. der Liebling der Presse und der Bevölkerung. Ein Journalist fasste diese Stimmung 1891 in einem Brief an Philipp zu Eulenburg mit den Worten zusammen: «Als unser Kaiser zur Regierung gekommen war, atmete alles auf, die Herzen flogen ihm entgegen, neues Vertrauen, rege Unternehmungslust griff überall Platz.»52 Der österreichische Botschafter in Berlin registrierte, dass der junge Kaiser mit Jubel begrüßt wurde, wo er sich auch zeigte: Sogar «in den Straßen während der Fahrt wird Höchstderselbe nicht selten acclamirt, was selbst dem Großvater zumeist auch nur bei besonderen Anlässen geschah». Die Popularität Wilhelms II. «besonders im großen Publikum und in den breiteren Volksschichten» sei immens. Noch mehr als sein Großvater und Vater sah man ihn als Figur der nationalen Einheit. In Süddeutschland, wo seinen Vorgängern oft noch antipreußische Ressentiments entgegengeschlagen waren, rühmte ihn die Karlsruher Badische Presse in einem repräsentativen Artikel als jugendlichen Kaiser, mit dem das «jugendliche Reich» endlich den geeigneten Monarchen gefunden habe. Während Wilhelm I. «schon zu bejahrt» und «sein edler Sohn Kaiser Friedrich schon zu leidend» gewesen sei, erscheine «für die neue Phase der Reichsentwicklung» Wilhelm II. als «der rechte Mann am rechten Platz».53 Der junge Kaiser selbst betonte besonders nach der Entlassung Bismarcks 1890 bei jeder sich bietenden Gelegenheit nachdrücklich seinen Willen, «die neuen Bahnen zu beschreiten, die wir unbedingt beschreiten müssen».54 Manchen älteren Zeitgenossen ging das zwar schon bald
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auf die Nerven. In der «ungestümen» Art des jungen Monarchen vermissten sie den Respekt vor Traditionen und gewachsenen Strukturen. Seine Neigung zu spontanen Entscheidungen verlieh ihm in diesen Kreisen den Beinamen «Wilhelm der Plötzliche». Gerade die zwanglose Spontaneität des Kaisers, seine Neigung, die Hofetikette zu ignorieren und den direkten Kontakt mit der Bevölkerung zu suchen, machten ihn jedoch zunächst populär. Besonders Jüngeren galt er als Verkörperung einer neuen Zeit, eines «modernen» Deutschland. Und tatsächlich war, wie ein Teil der neueren historischen Forschung herausgearbeitet hat, Wilhelm II. durchaus für viel von dem aufgeschlossen, was landläufig als «modern» bezeichnet wird.55 Schon als Kind hatte er außergewöhnliches Interesse an allem gezeigt, was mit Technik und Wissenschaft zu tun hatte. Im Erwachsenenalter entwickelte er sich erst recht zum Technikfreak. Als Kaiser förderte er die Gründung Technischer Hochschulen und bemühte sich um deren Aufwertung gegenüber den klassischen Universitäten. Die Reform der höheren Schulbildung lag ihm ebenfalls am Herzen. Hier plädierte er dafür, die alten Zöpfe eines auf Latein und Griechisch konzentrierten Curriculums abzuschneiden. Stattdessen sollte der Behandlung der neueren Zeit, unter anderem im Geschichtsunterricht, mehr Raum gegeben werden. Wilhelm interessierte sich auch für die noch in den Kinderschuhen steckende drahtlose Telegraphie: Auf seine Veranlassung hin wurden in den Schiffen der Kriegsmarine, seinem größten Steckenpferd, erstmals Funksender eingebaut. Er war ein Autonarr und Schutzherr des Kaiserlichen Automobilclubs, unterstützte lautstark die Luftschiffprojekte des Grafen von Zeppelin und setzte sich bei Industriellen persönlich für die Finanzierung neuer Technologien ein, weil diese im «nationalen» Interesse lägen. Überhaupt war dem jungen Kaiser im Gegensatz zum alten Bismarck, der sich auf seinen Landsitzen unter Bäumen am wohlsten fühlte, die Entwicklung der Industrie ein wichtiges Anliegen. Schon als 1889 die Bergarbeiter an der Ruhr streikten, schaltete er sich gegen den Rat des alten Kanzlers in die Verhandlungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern ein. Dass er dabei im Gegensatz zur bisherigen Praxis der Reichsleitung die Arbeitnehmerseite gegen Vorwürfe verteidigte, verstärkte seine Popularität und brachte ihm Respekt selbst unter Sozialdemokraten ein. Wilhelm erschien, wie der nach Bismarcks Abschied frisch zum Minister ernannte Johannes von Miquel im März 1890 regis-
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trierte, als «Friedensstifter» im Innern, dem es um «die Versöhnung der Klassengegensätze, den Schutz der Schwachen, […] die Herstellung von Organisationen für die arbeitenden Klassen zur wirksamen Vertretung berechtigter Interessen» ging.56 Dieses Ziel propagierte der Kaiser zudem durch öffentliche Auftritte und Presseinterviews in einem für deutsche Monarchen bisher beispiellosen Ausmaß. Sein Großvater Wilhelm I. hatte kaum öffentliche Reden gehalten. Sein Vater Friedrich war neben Bismarck selten zu Wort gekommen und, als er schließlich Kaiser wurde, praktisch stumm geworden durch den Kehlkopfkrebs, an dem er bald darauf sterben sollte. Wilhelm II. suchte dagegen stetig Kontakt zur Öffentlichkeit, die er bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit meist improvisierten Reden beschallte. Er war zudem ein wahrer «Medienmonarch», der um seine Selbstdarstellung in Wort und Bild mehr bemüht war als um alles andere – in der Regel einschließlich der Inhalte der von ihm repräsentierten Politik. Christopher Clark hat in diesem Zusammenhang von einer «offensichtlich modernen Sorge um das eigene Image» gesprochen.57 Allerdings wird gerade bei der Betrachtung von Wilhelm als politischem Redner deutlich, dass seine Regierungspraxis nur vordergründig «modern» war. Im landläufigen Sinn wird zwar historischen Personen oder Epochen gerne «Modernität» zugesprochen, wenn diese heutigen Standards nahe erscheinen, was etwa ihre Einstellung zu Medien oder Technik angeht. Das Konzept der Moderne als analytisches Instrument meint aber etwas anderes. Modern ist danach eine Gesellschaft, die ausdifferenziert und individualisiert ist und in der politische Entscheidungen in komplexen Organisationen nach Kriterien bürokratischer Rationalität gefällt werden. Wilhelm mag eine hochgradig individuelle und individualisierte Person gewesen sein. Als Redner wie als deutsches Staatsoberhaupt war sein Handeln jedoch von spontanen, irrationalen Impulsen angetrieben. Die politischen Empfehlungen der Bürokratie wischte er ebenso regelmäßig beiseite wie die ausgefeilten Redemanuskripte, die ihm seine Minister und Staatssekretäre vorlegten. Auch um die Empfindlichkeiten der in Sozialmilieus ausdifferenzierten deutschen Gesellschaft und ihre im Parlament durch die Parteien repräsentierten Vertretungen scherte er sich selten einen Deut. Seine unkontrollierte Neigung zur öffentlichen Selbstdarstellung kostete Wilhelm II. infolgedessen schon bald nach der Entlassung Bis-
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marcks den Vertrauensvorschuss, der ihm zunächst entgegengebracht worden war. Bereits im Sommer 1890 sorgten sich Miquel und Waldersee über eine «steigende Unzufriedenheit großer Bevölkerungskreise mit dem Kaiser». Als Ursache machten sie dessen Eitelkeit aus, die ihn zu ständigen Reden verführte, bei denen er «auf keinem Gebiete eine eigentliche Ansicht» zeigte und, beeinflusst von wechselnden Günstlingen am Hof, «die überraschendsten Sprünge nach allen Seiten» machte.58 1891 musste der Kaiserfreund Eulenburg sich sagen lassen, «daß man überall den Kaiser als einen Herrn schildert, der überaus sprunghaft in seinen Gedanken, veränderlich in seinen Entschlüssen, unbesonnen in seinen Reden ist».59 Diese Sprunghaftigkeit schränkte die Wirkung der kaiserlichen Initiativen beträchtlich ein – mit einer unbeabsichtigten Ausnahme: Jede Rede Wilhelms bringe der Sozialdemokratie neue Wähler, konnte August Bebel schließlich spotten.60 Charakteristischerweise wandte der Kaiser sich deshalb bald von seinem Schmusekurs gegenüber der Industriearbeiterschaft ab. Das war bezeichnend für die Kurzatmigkeit seiner Politik. Es offenbarte zudem, dass seine frühen Versuche einer «Versöhnung» von Arbeitnehmern und Arbeitgebern in der Industrie Ausdruck einer Gesellschaftskonzeption waren, die allenfalls in einem sehr speziellen Sinn modern genannt werden kann. Denn dahinter hatte offensichtlich nicht eine Anerkennung unterschiedlicher Interessen, von sozialer Ausdifferenzierung und Individualität gestanden. Es ging Wilhelm nicht um institutionelle Arrangements, die den Ausgleich gesellschaftlicher Interessengegensätze ermöglichten, sondern um deren Aufhebung durch die Beschwörung nationaler Einheit und Symbole. Damit stand er späteren Ideen einer «Volksgemeinschaft» nicht völlig fern, auch wenn sich seine Vorstellungen eher am historischen Ideal harmonischer Einheit von Herrscher und Beherrschten, an einem «Volkskaisertum» orientierten. Mittels der Bürokratien des Reiches und Preußens zu regieren und sich als Staatsoberhaupt auf die Kontrolle der Spielregeln einer solchen bürokratischen Regierung zu beschränken war für ihn im ersten Jahrzehnt seiner Herrschaft völlig unvorstellbar. Stattdessen beanspruchte er ausdrücklich, als Kaiser und König selbst über den Regeln zu stehen. So betonte er in den 1890er Jahren wiederholt, der Wille des Herrschers müsse oberstes Gesetz sein. Mit solchen rhetorischen Griffen in die Mottenkiste des Absolutismus verspielte er erst recht sein Ansehen.
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Selbst unter ihm politisch eigentlich nahestehenden Konservativen verlor Wilhelm zusehends an Anhängern, weil er dazu neigte, sich bei seinen irrlichternden Interventionen in die Politik von zufälligen Bekanntschaften beraten zu lassen. Auch dass er beständig nach Popularität gierte, machte ihn für Einflüsterungen von allen möglichen Seiten offen. Wilhelms Egozentrik, Vetternwirtschaft und Haschen nach Popularität bestimmten so 1894 die schwierige Suche nach einem Nachfolger für Leo von Caprivi. Der Kaiser selbst wollte einen Mann, der bedingungslos seinen Willen in der Politik umsetzte. Von Caprivi war er in dieser Hinsicht enttäuscht worden. Denn der hatte sich einer Rückkehr zu Repressionsmaßnahmen, die Wilhelm angesichts der politischen Wirkungslosigkeit der Arbeiterschutzgesetze für nötig hielt, rundheraus verweigert. Nun war der Kaiser auf der Suche nach jemandem, der sich als williges Werkzeug seines persönlichen Regiments eignete. Außerdem sollte der Kandidat zentrale konservative Interessen wahrnehmen. Für die aristokratischen Kreise in der kaiserlichen Umgebung am Hof kam eine Neuauflage selbst der begrenzten Reformpolitik Caprivis nicht in Frage. Aber der neue Reichskanzler musste auch für Nationalliberale und Zentrumspartei einigermaßen akzeptabel sein. Denn sowenig Wilhelm und seine Günstlinge aus den konservativen Eliten bereit waren, sich durch diese Parteien von den zentralen Schalthebeln der Macht verdrängen zu lassen: Auf ihre Unterstützung konnten und wollten sie nicht ganz verzichten. Dafür war der konservative Rückhalt im Reichstag – ein Viertel der Mandate – zu gering, während die den Umsturz der bestehenden Staats- und Wirtschaftsordnung anstrebenden Sozialdemokraten immer mehr an Sympathien in der Bevölkerung gewannen. Auch die süddeutschen Regierungen sollten durch die Wahl des Kandidaten zumindest symbolisch wieder stärker in die Reichspolitik eingebunden werden. Denn die politische Entwicklung nördlich und südlich des Mains klaffte immer weiter auseinander. Im Norden dominierten unangefochten die Konservativen. Ihre Position im preußischen Landtag war durch die Folgen der Miquel’schen Steuerreform für das Wahlrecht noch gestärkt worden. Im hochgradig industrialisierten Sachsen wurde 1896 das Wahlrecht nach preußischem Modell geändert, um sozialdemokratische Mehrheiten zu verhindern. In Baden, Württemberg, Bayern und Hessen-Darmstadt dagegen regierten die Fürsten weitgehend im
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Einvernehmen mit liberalen Landtagsmehrheiten. Die Schwerpunkte dieser parlamentarischen Mehrheiten verschoben sich zudem mehr und mehr nach links. Das Wahlrecht zu den meisten süddeutschen Landtagen wurde nach der Jahrhundertwende demokratisiert – in Bayern und Württemberg 1906, in Hessen-Darmstadt 1911. Die Wahl fiel schließlich auf Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst. Hohenlohe entstammte fränkischem Hochadel. Er hatte für die Freikonservativen im Reichstag gesessen; radikalen Reformen war er abgeneigt. Als erstem Reichskanzler süddeutscher Herkunft und katholischer Konfession wurde ihm das Potential zugeschrieben, außerhalb Preußens und beim Zentrum integrierend zu wirken. Dass Hohenlohe als bis 1870 amtierender bayerischer Ministerpräsident die Reichseinigung befürwortet hatte, sicherte ihm die Sympathien der Nationalliberalen. Bei seinem Amtsantritt war er bereits 75 Jahre, damit älter als Bismarck bei dessen Entlassung, und fühlte sich der Aufgabe weder physisch noch psychisch gewachsen. Unter anderem das Versprechen großzügiger Unterstützung aus der Privatschatulle des Kaisers bewegte ihn schließlich dazu, sie doch zu übernehmen.61 Die materielle Abhängigkeit machte Hohenlohe noch abhängiger vom Kaiser, als es seine Vorgänger gewesen waren. Wilhelm II. übertrug ihm zwar neben dem Amt des Reichskanzlers auch das des preußischen Ministerpräsidenten. Der Kaiser zwang Hohenlohe jedoch von vornherein Minister in besonders relevanten Politikfeldern auf. So setzte Wilhelm einen Mann als Landwirtschaftsminister in Preußen ein, der dem Bund der Landwirte nahestand, um eine Rückkehr zu höheren Zolltarifen vorzubereiten. Da die zwischen 1892 und 1894 abgeschlossenen Handelsverträge die Zölle auf längere Zeit festgelegt hatten, war das einstweilen allerdings Zukunftsmusik. Kurzfristiger umsetzbar als ein neuerliches Umsteuern zugunsten agrarischer Interessen in der Wirtschaftspolitik, zu dem es erst nach der Jahrhundertwende kommen sollte, erschienen dagegen Repressionsgesetze gegen die SPD und die mit ihr verbundenen Freien Gewerkschaften. Wilhelm ließ diese im preußischen Innenministerium ausarbeiten, dessen Chef er ebenfalls selbst ausgewählt hatte. Noch Ende 1894 musste der widerstrebende Hohenlohe die Gesetzesvorlage in den Reichstag einbringen. Sie enthielt Vorschläge zur Verschärfung des Strafrechts gegen alle, die «Grundlagen von Staat und Gesellschaft» in Frage stellten. Ausdrücklich genannt wurden zwar nur
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anarchistische Gruppen. Es war freilich klar, dass sich die Vorlage auch gegen die Sozialdemokraten richtete – zumal der Kaiser in einer seiner markigen Reden, die mittlerweile berüchtigt geworden waren, allen Kräften des «Umsturzes» einschließlich der SPD eine wesentlich härtere Gangart des Staates androhte. Im Reichstag veränderte das Zentrum die «Umsturzvorlage» dann: Auch Angriffe auf Religion und Kirche sollten härter bestraft werden. Damit wurde der Gesetzentwurf aber für die Liberalen aller Schattierungen unannehmbar. 1895 lehnte eine Mehrheit des Reichstags ihn ab. Der Kaiser schäumte vor Wut, forderte eine Auflösung des Parlaments, einen Staatsstreich und die Verkündung des militärischen Ausnahmezustands. Der Kanzler wiegelte ab, mahnte zu Geduld und Vorsicht. Ohne Wilhelm direkt zu widersprechen, verwies er auf die strikt ablehnende Haltung der süddeutschen Fürsten gegenüber solchen Gewaltmaßnahmen, die schwierige außenpolitische Lage des Reiches angesichts des 1894 in Kraft getretenen Bündnisses zwischen Russland und Frankreich, das Caprivi mit seiner Handelsvertragspolitik nicht hatte verhindern können, und schließlich die bei einem Staatsstreich drohende Gefahr eines Bürgerkriegs. Wilhelms Umgebung am Hof realisierte, dass eine solche Gewaltpolitik in der Tat ein unkalkulierbares Risiko für die Herrschaft von Monarchie und konservativer Aristokratie bedeutete, und brachte den Kaiser zur Vernunft. 1896 wurde das 25-jährige Jubiläum der Reichsgründung begangen. Die Haltung der Sozialdemokraten dazu bestätigte ihren Ruf als «vaterlandslose Gesellen». Das brachte Wilhelm II. erneut auf, und er forderte noch einmal schärfere Maßnahmen gegen die Partei. Statt auf Reichsebene wurde der Vorstoß jetzt in Preußen unternommen, weil die Konservativen im preußischen Abgeordnetenhaus fast die Hälfte der Mandate innehatten. Aber außer ihnen stimmte sonst niemand dafür. Unter den nichtkonservativen Parteien fanden sich zwar genug Stimmen, um Sozialdemokraten den Zugang zum Lehramt an Hochschulen zu verweigern. Das faktisch gegen die Parteiorganisation der SPD gerichtete sogenannte kleine Sozialistengesetz, das die preußische Regierung 1897 vorschlug, lehnten sowohl Liberale als auch Zentrum aber ab. Das Scheitern von «Umsturzvorlage» und «kleinem Sozialistengesetz» hatte mehrere Folgen. Erstens verstärkte der Kaiser sein persönliches Regiment zunächst noch. Die letzten Vertreter sozialpolitischer
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Reformen mussten die Regierung Preußens verlassen. Gegen Hohenlohes Rat besetzte Wilhelm nicht nur die Führungspositionen aller preußischen Ministerien, sondern auch die der meisten Reichsämter mit Konservativen seiner Wahl. Der neue Chef des Auswärtigen Amts, der Karrierediplomat Bernhard von Bülow, entwickelte sich zu seinem engsten Vertrauten. Der greise Hohenlohe führte nur noch formal die Geschäfte weiter, bis er 1900 auch offiziell durch Bülow als Reichskanzler und Ministerpräsident in Preußen abgelöst wurde. Zweitens verlagerte Wilhelm seine Energien nach dem Scheitern der Gesetze gegen die SPD vorübergehend auf den Kampf gegen die Freien Gewerkschaften. Bei einer Welle von Streiks kam es in den späten 1890er Jahren zu Auseinandersetzungen zwischen gewerkschaftlichen Streikposten und «Arbeitswilligen». Der Kaiser forderte daraufhin in mehreren Reden, die «Rädelsführer» der Gewerkschaften mit Zuchthaus zu bestrafen. 1899 wurde deshalb die sogenannte Zuchthausvorlage in den Reichstag eingebracht. Doch auch diesmal lehnten außer den Konservativen alle Parteien die Vorlage ab. In Reichsleitung und preußischer Regierung ist danach ein letztes Mal der vom Kaiser kategorisch geforderte Staatsstreich gegen das Parlament ernsthaft diskutiert worden. Selbst Wilhelm konnte sich jedoch, nachdem seine Wut verraucht war, den Argumenten dagegen nicht ganz verschließen. Zwar wurde den Parlamentariern auch unter Hohenlohes Nachfolger Bülow gelegentlich mit einem Staatsstreich gedroht. Doch das war nur noch Bluff. Die regierenden konservativen Eliten des Kaiserreichs waren seit der Jahrhundertwende überzeugt davon, dass ein Putsch ihre Herrschaft mittelfristig eher beenden als absichern würde. Bezeichnenderweise endete die Auseinandersetzung um das Streikpostenstehen nach der Ablehnung der «Zuchthausvorlage» durch die Reichstagsmehrheit schließlich mit einer Regelung, die die Rechtsstellung der Gewerkschaften verbesserte. Der Kaiser verlor nun das Interesse an der Frage. Überhaupt zog er sich wenigstens aus der Innenpolitik seit dem Ende der 1890er Jahre weitgehend zurück. Gelegentlich meldete er sich zwar noch spontan in einer Rede zu Wort. Das überwiegend negative Echo, das er in der Öffentlichkeit damit auslöste, verleidete ihm allerdings zusehends die Lust daran. Das persönliche Regiment beschränkte sich so mehr und mehr auf militärische Fragen – insbesondere auf Wilhelms Steckenpferd, die Flotte.
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Alfred Tirpitz Anfang 1896
Der Admiral kann warten Kiel, 3.kann Januar 1896 Der Admiral warten
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er Mann in dem Haus über der Förde arbeitete langsam, aber stetig. Hier in Kiel, wo vor dreißig Jahren seine Karriere bei der Flotte begonnen hatte, fühlte er sich wohl. Hier hatte er die ersten Jahre nach der Hochzeit mit Marie gewohnt, hier waren die ersten drei ihrer vier Kinder geboren worden. Marie mochte den Trubel Berlins, die Bälle, die Feste, die Einkaufspassagen. Ihm selbst sagte das alles wenig zu. In Berlin litt er an Schlaflosigkeit, klagte häufiger über Rheuma, Rückenschmerzen und Lungenprobleme. Im «idyllisch-friedlichen» Kiel dagegen schlief er gut. Die Nähe zum Wasser hatte eine geradezu therapeutische Wirkung auf ihn. Er liebte den Blick auf das Meer. Hier waren die Austern, für die er eine Schwäche hatte, gut und günstig. Und hier kam er in Ruhe zum Schreiben.1 Der Auftrag des Kaisers für das Gutachten war kurz vor Weihnachten 1895 gekommen. Alfred Tirpitz ging die Sache bedächtig an. Die Aufgabe konnte wichtig sein, vielleicht endlich den Durchbruch bringen, auf den er seit Jahren geduldig hinarbeitete. Aber sie war auch alles andere als einfach. Denn Wilhelm II. wollte nicht nur wissen, ob Tirpitz den Vorschlag des Oberkommandos der Marine zur Flottenrüstung der nächsten Jahre befürwortete – was er tat. Der Kaiser hatte auch die Frage gestellt, wie dieses gewaltige Rüstungsprogramm überhaupt politisch durchgebracht werden könne. Denn die meisten der bisherigen Flottenvorlagen waren vom Reichstag zusammengestrichen worden. Dabei hatten sie nur einen Bruchteil des Geldes kosten sollen, den jetzt das Oberkommando in seinem Entwurf eines langfristigen Bauprogramms veranschlagte. In seinem am 3. Januar 1896 fertiggestellten Gutachten gab Tirpitz auf die Frage des Kaisers die dreiste Antwort: indem man das Programm noch teurer machte. Das Reichsmarineamt hatte bisher die Salamitaktik verfolgt, dem Parlament Jahr für Jahr kleinere Bauvorhaben zu unterbreiten. Mit dieser Praxis sei «ein grundsätzlicher Bruch» erforderlich. Stattdessen müsse «das eingehend begründete Gesamtbedürfnis rück-
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haltlos ausgesprochen werden». Der deutschen Öffentlichkeit und ihren Vertretern im Reichstag sei vor Augen zu führen, dass die Flotte sich erst bei wesentlich höheren Ausgaben rentiere, «gerade wie man einem starken Pferd genug Hafer geben muß, um es mit Vorteil verwerten zu können». Aber wie sollte das geschehen, wie das «Gesamtbedürfnis» begründet werden? Das Reichsmarineamt und auch das Oberkommando hatten die Flottenrüstung mit der Notwendigkeit einer effektiven Verteidigung gegen potentielle Angriffe zur See gerechtfertigt. Tirpitz betonte dagegen jetzt, «daß für die Motivierung der Entwicklung unserer heimischen Schlachtflotte und damit für die rationelle Erweiterung unserer Flotte überhaupt die bloße Ausführung des defensiven Falls auf die Dauer nicht ausreicht». Vielmehr müsse man fordern, die deutsche Marine so weit aufzurüsten, dass sie gegen andere Seemächte in die Offensive gehen konnte. Denn erst dann werde der Mehrwert für die ganze Nation und für einzelne Interessengruppen in der Gesellschaft sichtbar, der das Parlament zur Zustimmung bewegen würde. Das galt nach Tirpitz vor allem «für die wirtschaftliche Erstarkung Deutschlands». Die Sicherung der wachsenden deutschen Handels- und Exportinteressen durch eine starke Schlachtflotte schienen ihm so offensichtlich, dass er sie mit solchen und ähnlichen Formulierungen wiederholt nur grob umriss. Konkreter wurde er, was die vom Kaiser angestrebte Stellung des Deutschen Reichs als Welt- und Kolonialmacht anging. So habe zum Beispiel Frankreich die «Erwerbung eines großartigen Kolonialreiches in den letzten zehn Jahren seinen heimischen Geschwadern in erster Linie zu verdanken». Verzichte man auf einen vergleichbaren Ausbau der deutschen Schlachtflotte in eigenen Gewässern, bestehe sogar die Gefahr, «daß unser Reich im kommenden Jahrhundert von seiner Großmachtstellung herabsinkt». Das war eine Anspielung auf die Thesen eines 1890 veröffentlichten Buchs des USamerikanischen Admirals Alfred Thayer Mahan. Erste «Brüskierungen» durch die USA, der Wettlauf mit diesen und den europäischen Mächten um Stützpunkte in China, wohin Tirpitz im Frühjahr 1896 aufbrechen sollte, «der sich langsam vorbereitende Zollverband des britisch empire, das angestrebte englisch Groß-Africa» erschienen ihm «gerade jetzt als eindrucksvolle Mahnrufe für uns». Den eigentlichen Sinn der Flottenrüstung sah er dabei allerdings
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nicht in einer Vorbereitung von Seekriegen mit anderen Mächten. Tirpitz hob im Gegenteil gerade die Bedeutung hervor, die einer wesentlich verstärkten deutschen Marine «für die Erzwingung des Friedens» zukommen sollte. Sein Kalkül war kein rein militärisches. Tirpitz war kein Fachidiot, sondern räumte als Mann der Marine politischen Überlegungen weiten Raum ein. Offensive Ziele wie die Ausweitung des deutschen Handels oder den Erwerb von Kolonien und Stützpunkten würde die Flotte nicht durch Seeschlachten, sondern durch die Drohung damit unterstützen. Ihr wirklicher Wert lag in der Abschreckung potentieller Gegner und Konkurrenten. In diesem Zusammenhang tauchte in Tirpitz’ Stellungnahme vom 3. Januar 1896 auch erstmals eine Seemacht auf, die bis zu diesem Zeitpunkt in der deutschen Flottenplanung praktisch keine Rolle gespielt hatte: Großbritannien. Die allen anderen Kriegsmarinen der Welt haushoch überlegene britische Flotte war in Deutschland bisher allenfalls als unerreichtes und unerreichbares Vorbild bewundert worden. Seit Bismarcks Entlassung 1890 bemühte die deutsche Diplomatie sich erfolglos um ein Bündnis mit den Briten. Gleichzeitig wuchsen durch den Ehrgeiz des bei der Aufteilung der Welt zu spät gekommenen Deutschen Reichs, sein bescheidenes Kolonialreich zu vergrößern, die Spannungen zu dem Inselstaat, der nicht nur zur See, sondern auch zu Land als unangefochtene Weltmacht Nummer eins gelten konnte. Das britische Imperium war gleichermaßen Modell und Rivale. Tirpitz schlug insofern ein für deutsche Kolonial- wie Bündnispolitik unter Wilhelm II. gleichermaßen hochrelevantes Thema an, wenn er schrieb: «Selbst der größte Seestaat Europas würde entgegenkommender gegen uns sein, wenn wir 2–3 gute hochgeschulte Geschwader in die Waagschale der Politik und dementsprechend nötigenfalls in diejenige des Konflikts zu werfen im Stande wären.» Vergleichsweise nebenher ging er auf mögliche innenpolitische Aspekte der Flottenrüstung ein. Dass diese «das beste Mittel gegen gebildete und ungebildete Sozialdemokratie» sein könne, erwähnte er lediglich in einem Halbsatz. Die Bekämpfung der SPD beschäftigte den Kaiser stark. Wie die Flotte konkret dazu beitragen könnte, führte Tirpitz allerdings bezeichnenderweise nicht weiter aus. Später sollte er gelegentlich argumentieren, die «wirtschaftliche Erstarkung Deutschlands» mit Hilfe der Flotte werde den Nährboden der Sozialdemokratie
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ebenso austrocknen, wie sie den Menschenverlust durch Auswanderung stoppen könne. All diese Argumente für einen massiven Ausbau der Marine wollte er auf verschiedenste Weise unters Volk bringen, um «größere Kreise der Nation für dieses Vorgehen so zu erwärmen, daß von ihnen schließlich der erforderliche Druck für Reichstagsbewilligung ausgeht». Dabei dachte er in erster Linie an ein stärkeres Engagement von Marineoffizieren in «denjenigen bestehenden Vereinen, welche allgemeine Seeinteressen fördern». Ins Auge gefasst hatte Tirpitz aber auch eine «stärkere Berührung der Marine» mit Interessenten wie «der direkt von der Flotte nutzen ziehenden Privat-Industrie» und «Kreisen der Hansestädte». Schließlich schlug er vor, deutsche Autoren von Sachbüchern wie Romanen mit Marinethemen ebenso zu fördern wie Übersetzungen aus dem Englischen, außerdem Vorträge und die «Preßbewegung» anzuregen.2 Große Hoffnungen, mit seiner zu einem Manifest für den Ausbau der Flotte gewordenen Stellungnahme Erfolg zu haben, machte Tirpitz sich nicht. Zu oft hatte er in den letzten Jahren in dieser Hinsicht Enttäuschungen erlebt. Bevor er die Arbeit an der Stellungnahme aufnahm, kommentierte er erste Ideen dazu in einem Brief an seinen früheren Vorgesetzten Albrecht von Stosch, er glaube zwar, «daß in Deutschland eine wachsende Stimmung zugunsten des vorstehend skizzierten Gedankengangs heute besteht». Aber selbst wenn Wilhelm II. jetzt dafür zu gewinnen sei, «bleibt sehr zweifelhaft, ob bei den entstehenden Widerwärtigkeiten einigermaßen durchgehalten und Rückendeckung gewährt würde». War die Arbeit also überhaupt der Mühe wert?3 Dennoch machte Alfred Tirpitz sich zwischen den Jahren in Kiel schließlich ans Werk. Am 3. Januar unterschrieb er die fertige Stellungnahme und sandte sie nach Berlin. Auch wenn das Papier wie zahllose andere Denkschriften und Gutachten lediglich ein Grab in einem Aktenordner finden würde, ging das Leben doch weiter. Tirpitz war guten Mutes. Im Mai würde er, zum Konteradmiral befördert, nach Ostasien aufbrechen. Und früher oder später würde auch der Ausbau der Flotte erneut auf die Tagesordnung kommen. Der Admiral konnte warten. Gut 9000 Kilometer südlich von Kiel hatte ein anderer Mann nicht mehr warten können. Und nun saß er in der Falle. Lange hatte Leander Starr Jameson im Niemandsland an der Grenze zwischen Britisch-Botswana und der Burenrepublik Transvaal mit 600 berittenen Männern aus-
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geharrt. Doch das vereinbarte Signal, ein Aufstand englischer Minenarbeiter in Transvaal, der Jameson den Vorwand für eine britische Polizeiaktion zur Wiederherstellung der «Ordnung» und Annexion von Transvaal geben sollte, kam nicht. Schließlich verlor seine bunt zusammengewürfelte Truppe aus Abenteurern, Kolonialpolizisten, Herumtreibern und Halunken die Geduld, und ihr Anführer musste, wenn er seine Autorität wahren wollte, am 29. Dezember 1895 zum Aufbruch blasen. Doch vier Tage später gerieten Jameson und seine Männer in einen Hinterhalt der Buren und mussten schließlich kapitulieren. Am 3. Januar 1896 wurden die Überlebenden in ein Gefängnis in Pretoria gebracht. Die Buren, Nachfahren der ersten niederländischen Siedler am Kap der Guten Hoffnung, waren nach der Annexion des Kaplands durch die Briten nach Norden gezogen und hatten dort eigene Staaten gegründet. Die Zuid-Afrikaansche Republiek, auch Transvaal genannt, war der größte davon. Goldfunde bei Johannesburg zogen seit Mitte der 1880er Jahre britische Glücksritter und Bergleute an, deren Zahl 1896 die der erwachsenen Männer unter den burischen Siedlern in Transvaal bereits überstieg. Die British South Africa Company von Cecil Rhodes versuchte die Spannungen zwischen alteingesessenen Buren und zugezogenen Briten zu nutzen, um Transvaal unter ihre Kontrolle zu bekommen. Mit Wissen und Billigung des Kolonialministers in London wurde Jameson von Rhodes beauftragt, eine Eingreiftruppe aufzustellen. Das klägliche Scheitern des Unternehmens war für London ausgesprochen peinlich. Die Nachricht vom Jameson Raid löste in den anderen europäischen Ländern Empörung und eine Welle der Sympathie für die Buren aus. Auch wenn die britische Regierung ihre Beteiligung an dem Einfall nach Transvaal bald dementierte und sich von dessen Anführer distanzierte, beseitigte das keineswegs allen Verdacht. Besonders heftig war die Reaktion in Deutschland, wo erste Informationen über die Ereignisse im südlichen Afrika ab dem 31. Dezember einliefen. In Transvaal lebten 5000 deutsche Staatsbürger. Deren Vertreter und der deutsche Generalkonsul in Pretoria alarmierten Berlin mit der Bitte um «sofortige Intervention». Der Staatssekretär des Äußeren, Adolf Freiherr Marschall von Bieberstein, ließ in Absprache mit Wilhelm II. einem in der Nähe kreuzenden Kriegsschiff befehlen, 50 Marinesoldaten zum Schutz der Deutschen in Transvaal anzulanden. Weder der Staatssekretär noch der Kaiser brillierten dabei freilich mit Geo-
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graphiekenntnissen: Denn die Burenrepublik hatte leider keine Küste. Und die Briten verweigerten den Soldaten ebenso eine Durchmarscherlaubnis wie die Portugiesen im benachbarten Mosambik. Wilhelm II. schimpfte währenddessen über den «unerhörten Schuft» Cecil Rhodes. Gemeinsam mit Marschall von Bieberstein versuchte er Frankreich und Russland für gemeinsame Schritte gegen Großbritannien zu gewinnen. Der Staatssekretär war drauf und dran, London mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu drohen. Am Vormittag des 3. Januar 1896, an dem Tirpitz in Kiel sein Memorandum nach Berlin sandte, das den Aufbau einer deutschen Schlachtflotte erstmals auch mit der Möglichkeit begründete, Großbritannien damit «entgegenkommender» zu machen, wurde im Berliner Reichskanzlerpalais die «südafrikanische Frage» beraten. Der Kaiser erschien in Begleitung der Chefs von Reichsmarineamt, Flottenoberkommando und seines Marinekabinetts und entwickelte, wie Marschall in seinen Aufzeichnungen über die Besprechung notierte, «etwas wunderbare Pläne». Offenbar hatte er immer noch nicht in einen Atlas geschaut, denn nach wie vor wollte er deutsche Marineinfanteristen nach Pretoria entsenden. Wilhelm erwog zunächst sogar die Möglichkeit, ein deutsches «Protektorat über Transvaal» zu errichten. Das redeten der Staatssekretär des Äußeren und Reichskanzler Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst ihm aber schnell wieder aus. Stattdessen wurde beschlossen, ein Telegramm an den Präsidenten der Burenrepublik Paul «Oom» Kruger zu schicken. In diesem als «Krüger-Depesche» bekannt gewordenen Schriftstück gratulierte der Kaiser dazu, dass es den Buren, «ohne an die Hülfe befreundeter Mächte zu appellieren», gelungen war, «die Unabhängigkeit des Landes gegen Angreifer von außen zu wahren». In Großbritannien entfachte das einen Sturm der Entrüstung – sah man doch hier Transvaal als Teil der eigenen Interessensphäre und das Telegramm als einen unverschämten Versuch des Eingriffs in diese.4 Die «Krüger-Depesche» war freilich mehr und anderes als Ausdruck einer Neigung Wilhelms II. zu spontanen und unüberlegten Interventionen in die deutsche Außenpolitik, als die sie oft gesehen worden ist. Tatsächlich ging die Entscheidung, das Telegramm zu schicken, am 3. Januar auf einen Vorschlag vom Staatssekretär des Äußeren Marschall zurück. Dieser wollte dem Kaiser damit auch nicht nur dessen anfänglich geäußerte weitergehende Ideen ausreden – was bereits vorher ohne grö-
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ßere Schwierigkeiten gelungen war. Im Auswärtigen Amt wollte man die durch den Jameson Raid geschaffene Lage vielmehr nutzen, um einen schon vorher gefassten Plan in die Praxis umzusetzen: Großbritannien sollte durch internationale Isolierung und Drohungen so in die Enge getrieben werden, bis es endlich zu dem in Berlin seit Jahren angestrebten Bündnis mit dem Deutschen Reich bereit war. Die Gelegenheit wirkte günstiger denn je. In London regierten seit 1895 die Konservativen unter Lord Salisbury als Premierminister, der für eine Zusammenarbeit mit Deutschland deutlich offener war als sein liberaler Vorgänger Gladstone. In Afrika lagen die Briten mit den ihr Kolonialreich aggressiv ausbauenden Franzosen über Kreuz, in Asien mit Russland. Wegen des Jameson Raid schien nun sogar kurzfristig eine Einheitsfront der Kontinentalmächte gegen die Seemacht Großbritannien in den Bereich des Möglichen zu rücken. Gleichzeitig stellten das Auswärtige Amt und der Kaiser jedoch den Vertretern der britischen Diplomatie wiederholt eine Verbesserung der beiderseitigen Beziehungen in Aussicht, wenn London bereit sei, sich an den Dreibund aus Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien anzunähern. «Die Engländer», fasste Wilhelm II. diese Strategie salopp zusammen, «würden schon noch auf den Knien angerutscht kommen, wenn wir sie nur zappeln lassen.»5 Tirpitz’ neue Idee, den Druck auf die Briten mit einem Ausbau der Marine zu erhöhen, kam in dieser Situation gerade recht. Es ist unklar, ob der Konteradmiral in Kiel das vorausgeahnt hat. Während er noch an dem Gutachten für den Kaiser arbeitete, liefen Silvester 1895 die ersten Nachrichten über den Jameson Raid in Deutschland ein. Für einen politisch denkenden Kopf wie ihn mochte es naheliegen, daraus Schlüsse zu ziehen. Vielleicht nahm er ebendeshalb in die Endfassung seines mehrfach überarbeiteten Gutachtens das Argument auf, deutsche Flottenrüstung könne britisches Entgegenkommen auf bündnis- und kolonialpolitischem Gebiet provozieren. Möglicherweise kam die Anregung dazu aber auch schon einige Tage früher von seinem alten Chef Albrecht von Stosch, der Tirpitz in einem Brief vom ersten Weihnachtsfeiertag 1895 zu bedenken gab, angesichts des britisch-französischen und britisch-russischen Gegensatzes könne eine starke deutsche Flotte helfen, England zu «ducken».6 Wie auch immer – vor dem Hintergrund der durch den Skandal um Transvaal entstandenen Situation las Wilhelm II. Tirpitz’ Ausarbeitung, wie er an den Rand notierte, «mit großem Interesse».7 In den ersten
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Januartagen 1896 fand die «Krüger-Depesche» in der deutschen Öffentlichkeit zudem fast ungeteilte Zustimmung. Der flottenbegeisterte Kaiser hoffte deshalb, jetzt solche Zustimmung für sein Steckenpferd zu finden, dass der bisherige finanzielle Aufwand für die Rüstung zur See sich verdoppeln lasse: «Ein so günstiger Zeitpunkt um dem Lande klar zu machen, daß es so mit der Marine nicht weitergeht wird sich nie wieder finden, umsomehr als die Bewegung, die durch unser Volk geht, eine tiefe ist, und der Reichstag, wenn er zaudern sollte, nicht anders kann als der Stimmung Rechnung zu tragen!» Doch Reichskanzler, Auswärtiges Amt und selbst Reichsmarineamt zeigten sich in dieser Hinsicht weniger optimistisch.8 Der ungeduldige Wilhelm II. bestellte Tirpitz zu einer Unterredung nach Berlin und bot ihm die Leitung des Marineamts an. Das Warten des Admirals schien endlich belohnt zu werden.
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Alfred Tirpitz war nicht aus Begeisterung für Schiffe zur Flotte gekommen. Manche der Bewunderer des späteren Admirals haben zwar den Mythos eines Mannes konstruiert, der von frühester Jugend an darauf brannte, ein Leben für die Marine zu führen. Tirpitz selbst hat dagegen in seinen Lebenserinnerungen unverblümt klargestellt, dass von der kurzlebigen «deutschen Flottenbegeisterung» während der Revolution von 1848 /49, an deren Ende er geboren wurde, «in meinen Knabenjahren kaum mehr etwas zu spüren» war. «Ich selbst bin auch nicht durch Schwärmerei zur Marine gekommen, sondern als unbeabsichtigtes Produkt des seiner Zeit vorauseilenden Bildungsideals meines Vaters.» Der Vater, ein Jurist im preußischen Staatsdienst, schickte den Sohn nicht auf ein klassisch altsprachliches Gymnasium, wie es der bürgerlichen Familientradition entsprochen hätte, sondern auf eine Realschule. Die Lehrer dort erlebte Alfred freilich als «antiquiert». Seine schulischen Leistungen waren ziemlich mäßig. Der von den Eltern angestrebte spätere Wechsel an eine zum Abitur weiterführende Lehranstalt stand in Frage. Um «raus aus der Schule» zu kommen, erklärte der 15-Jährige Ende 1864 schließlich, dem Beispiel eines Klassenkameraden folgen und bei der preußischen Marine anheuern zu wollen.
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Die Eltern waren zunächst sprachlos. Zur See zu gehen entsprach so gar nicht ihren Vorstellungen von einer bürgerlichen Karriere. Außerdem war das Leben in der Marine nicht ungefährlich. Nur wenige Jahre vorher hatten drei nahezu vollständige Kadettenjahrgänge der preußischen Kriegsflotte beim Untergang eines Segelschulschiffs das Leben verloren. Doch nach einigen Wochen erklärte der Vater, der seinen Sohn noch als Erwachsenen liebevoll «Herzensjungen» und «Dickerchen» nannte, dennoch sein Einverständnis. Im Frühjahr 1865 bestand das «Herzenskind» die Aufnahmeprüfung am Seekadetteninstitut in Berlin.9 Dem jungen Alfred kam dabei zugute, dass die preußische Flotte damals jeden Mann brauchte. Der desaströse Untergang des Schulschiffs hatte die verbreitete Abneigung, zur Kriegsmarine zu gehen, noch verstärkt. Dem jungen Kadetten, für den die Flotte eine willkommene Möglichkeit zur Flucht aus der ungeliebten Schule darstellte, blieb aber auch danach das Glück hold. Denn der Aufstieg Preußens und die Gründung des Deutschen Reiches während der folgenden Jahre führten zu einem Ausbau der Marine und eröffneten ihm so außerordentliche Aufstiegschancen. Erst einmal brachten die Kriege von 1866 und 1870 / 71 für den Offiziersanwärter aber eine Kette von frustrierenden Erfahrungen. Während die preußische Armee Sieg um Sieg errang, war die Flotte sämtlichen Gegnern weit unterlegen. Schon gegen die Dänen hatte sie 1864 kaum eine Chance gehabt. Bei der Rückkehr von einer ersten großen Fahrt auf dem Atlantik verbrachte der junge Tirpitz 1866 eine angstvoll durchwachte Nacht an einem Bordgeschütz, als sein Schulschiff im Kanalnebel von einer vermeintlich österreichischen Korvette verfolgt wurde, bis die Verfolger am Morgen schließlich eine norwegische Flagge hissten. Während des Krieges mit Österreich lagen die preußischen Kriegsschiffe untätig in ihren Heimathäfen. Die einzige weitere aufregende Erinnerung des schlechten Schwimmers Tirpitz an diese Zeit blieb, dass er bei einer Rettungsaktion für einen über Bord gegangenen Matrosen in Kiel beinahe selbst ertrunken wäre. Seine Erlebnisse während des deutsch-französischen Krieges waren noch ernüchternder. 1870 diente er auf dem preußischen Flaggschiff «König Wilhelm», das nach einer Reihe von Pannen zu Reparaturen im englischen Hafen Plymouth lag, als Wachoffizier, als Gerüchte vom unmittelbar bevorstehenden Ausbruch von Feindseligkeiten mit Frankreich
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eintrafen. Mühsam dampfte die «König Wilhelm», verlangsamt durch 60 Tonnen seit Jahren nicht beseitigter Muscheln unter dem Kiel, nach Wilhelmshaven. Die Fregatte war aber zu groß, um in den Schutz des inneren Hafens einzulaufen, wo die Docks noch nicht fertiggestellt waren. In ständiger Furcht vor einem Angriff der weit überlegenen französischen Flotte verbrachte die Schiffsbesatzung unruhige fünf Monate auf der äußeren Reede. Die Franzosen kamen nicht, dafür aber der Winter, und Tirpitz verbrachte bei Eisregen ganze Nächte damit, von Sturmfluten losgerissene deutsche Minen auszuspähen. Ende Dezember konnte das Schiff endlich in die Sicherheit des Hafens einlaufen, wo die Besatzung den Rest des Krieges untätig herumsaß. Die preußische Bürokratie verweigerte den Beschäftigten der Flotte sogar den Gehaltszuschuss, den es während der Feindseligkeiten für die Armee gab: Schließlich waren sie im Gegensatz zu den Landtruppen ja nicht in Kriegshandlungen verwickelt gewesen. Tirpitz’ angestaute Frustrationen entluden sich im Herbst 1871 in einem Brief an den Vater, in dem der Unterleutnant zur See seine Träume über eine künftige deutsche Kriegsmarine zu Papier brachte. Nötig sei der Bau einer großen Flotte aus Panzerschiffen. Erst dann könne man aus der bisher von eigener Schwäche diktierten Verteidigungsposition zur Offensive übergehen und «zu einer wirklichen, ernsthaften Schlacht kommen», die mit der «Vernichtung des Gegners» enden werde.10 Der junge Marineoffizier griff damit den Gedanken der «Vernichtungsschlacht» auf, der die Strategie des preußischen Generalstabs bei den letzten siegreichen Feldzügen zu Land beeinflusst hatte. Mit der Hoffnung, die Gründung des Deutschen Reiches würde endlich den ersehnten Ausbau der Flotte und so deren Aufwertung gegenüber dem Landheer bringen, stand Tirpitz unter seinesgleichen alles andere als allein. Schließlich hingen davon die persönlichen Karriereaussichten aller Marineoffiziere ab. Obwohl der neue deutsche Nationalstaat tatsächlich auch zur See aufrüstete, blieb der Umfang dieser Aufrüstung aber während der Kanzlerschaft Bismarcks hinter den Erwartungen zurück. Das Deutsche Reich verfügte 1871 schon über die drittgrößte Handelsflotte der Welt. Nur unter britischer und US-amerikanischer Flagge segelten mehr Handelsschiffe. Die deutsche Kriegsflotte dagegen blieb bis in die 1890er Jahre von einer vergleichbaren Bedeutung noch weit entfernt. Auch nach der Reichsgründung waren deshalb weitere Enttäuschun-
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gen für das Offizierskorps der Marine vorprogrammiert. Zum Schutz der Heringsfischerei abgeordnet, musste Tirpitz 1872 als Erster Offizier erleben, dass viele deutsche Fischer sich aus Angst vor Diskriminierung durch die Briten noch nicht einmal in die Nordsee trauten. Aber sogar die deutsche Kriegsmarine stand nicht auf eigenen Füßen, sondern war von britischem Wohlwollen abhängig: Das preußische Flaggschiff «König Wilhelm» war auf Werften in Großbritannien gebaut worden, und das galt auch während der 1870er und 1880er Jahre noch für viele der neuen deutschen Schiffe und ihre Ausrüstung. «Wenn eine Maschine sicher und ohne Störung arbeitete», erinnerte sich Tirpitz später an diese Zeit, «ein Tau oder eine Kette nicht riß, dann war es bestimmt kein heimisches Werkstück, sondern ein Fabrikat aus englischen Werkstätten, ein Tau mit dem berühmten roten Faden der britischen Marine. An den Schiffen, die wir selbst gebaut hatten, brach ungemütlich leicht etwas.»11 Entsprechend unwillig zeigte sich Bismarck, auch nur das kleinste Risiko eines Affronts gegenüber der britischen Royal Navy einzugehen. Als deutsche und britische Schiffe 1873 gemeinsam in den spanischen Bürgerkrieg eingriffen, um die eigenen Staatsangehörigen zu schützen, und der deutsche Befehlshaber dabei das Oberkommando übernahm, pfiff der Reichskanzler ihn wegen Überschreitung seiner Befugnisse zurück, ja ließ ihn sogar vor ein Kriegsgericht stellen. Tirpitz hatte an dem Einsatz in Spanien teilgenommen, und die Erfahrung desillusionierte ihn. Sein Vorgesetzter stellte ihm zudem ein ambivalentes Zeugnis aus. Der 24-Jährige sei zwar energisch und talentiert, vor allem in theoretischen Fragen. Er habe aber Probleme, sich Vorgesetzten unterzuordnen. Um dennoch beruflich voranzukommen, besuchte Tirpitz zwischen 1874 und 1876 Kurse der Marineakademie. Die technische Ausbildung, die er dort erhielt, bereitete auf die Aufgabe vor, die ihn die nächsten zwölf Jahre beschäftigen sollte: Anfang 1877 übernahm er eine Referentenstelle bei der Torpedoversuchs- und Prüfungskommission der Marine. Der Torpedo war ein Beispiel für die technischen Neuerungen, von denen die Seekriegsführung während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fundamental und in atemberaubendem Tempo verändert wurde. Während die Industrialisierung in allen militärischen Waffengattungen einen Entwicklungsschub provozierte, fiel dieser bei der Marine doch wesentlich größer und dynamischer aus als beim Landheer. Der Über-
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gang vom Segel- zum Dampfschiff, vom hölzernen zum gepanzerten und schließlich ganz aus Metall bestehenden Schiffsrumpf, Torpedo- und Geschützentwicklung bildeten dabei nur die wichtigsten Aspekte. Die technische Ausstattung der Marine veraltete wesentlich schneller als die der Armee. Um im Rüstungswettlauf der Nationen mithalten zu können, mussten ihre Schiffe in immer kürzeren Zeiträumen durch Neubauten ersetzt werden. Technisch versierte Offiziere waren unter diesen Umständen unverzichtbar. In der Armee mochten Aristokraten aus den Gutsbezirken des östlichen Preußen noch tragbar sein, deren Kompetenzen sich weitgehend darin erschöpften, mit schnarrender Stimme Befehle zu erteilen, aufrecht auf einem Pferd zu sitzen und schneidige Kavallerieattacken zu reiten. In der Flotte hatte es immer schon etwas mehr an Fähigkeiten gebraucht. Und das galt nun erst recht. Die Zahl der technisch vorgebildeten Marineoffiziere, von denen die meisten aus dem Bürgertum stammten, nahm deshalb beständig zu – obwohl bei der Einstellung nach wie vor Aristokraten bevorzugt wurden. Alfred Tirpitz verkörperte diesen neuen, stark bürgerlich geprägten Offizierstyp. Bei der Torpedoentwicklung machte er sich schnell einen Namen. Als General Albrecht von Stosch, der Chef der Admiralität, im Herbst 1877 mehrere Marineoffiziere zu einer Stellungnahme über die Potentiale von Torpedos aufforderte, reichte Tirpitz die überzeugendste ein. Das verschaffte ihm nicht nur den Respekt zahlreicher Kollegen und Mitarbeiter. Die aus diesen gebildete «Torpedobande» sollte für seinen weiteren Aufstieg noch eine wichtige Rolle spielen. Es etablierte auch ein enges Vertrauensverhältnis zu Stosch, das nach dessen Pensionierung 1883 bestehen blieb. Stoschs Nachfolger als Chef der Admiralität Leo von Caprivi, der spätere Reichskanzler, war ein weitläufiger Verwandter von Tirpitz. «Onkel Leo» zeigte sich wahrhaft begeistert von Torpedos. Allerdings rührte die Begeisterung des Armeegenerals Caprivi vor allem daher, dass er in ihnen eine Defensivwaffe sah. Ihr Aufbau sollte den einer teuren Schlachtflotte ersparen, die die Kontinentalmacht Deutschland sich nicht leisten könne. Tirpitz war darüber alles andere als glücklich – bedeutete es doch, dass die Marine gegenüber der Armee weiterhin die zweite Geige spielen sollte, mit allen negativen Konsequenzen für die Karriereaussichten von ihm und seinesgleichen.
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Mit dem Regierungsantritt Wilhelms II. 1888, der sich die Flotte bald selbst direkt unterstellte, verband sich die Hoffnung auf einen Wandel zugunsten der Marine. Caprivi wurde abgelöst. Sein Nachfolger hatte für die Torpedowaffe jedoch nichts übrig. Er spottete sogar über Tirpitz’ bisherige Arbeit. Der zog die Konsequenzen, erbat seine Rückversetzung auf ein Schiff und erhielt sie, zusammen mit einer Beförderung. Mit 39 Jahren wurde er der jüngste Kapitän zur See in der gesamten deutschen Marine. Es war ihm nicht genug. Das war nicht allein eine Frage von Ehrgeiz – auch wenn Alfred Tirpitz davon reichlich besaß. Es war ebenso eine Frage des Geldes. Allzu lange hatte er die Unterstützung anderer gebraucht, um finanziell über die Runden zu kommen, und jetzt brauchte er sie wieder. Mehr als zehn Jahre lang, von Tirpitz’ Aufnahme in die Marine als Kadett bis Ende 1875, hatte ihm sein Vater Geld zuschießen müssen, weil der gezahlte Sold nicht zum Leben reichte. Daran mochte auch eine Vorliebe für Rotwein und Austern schuld sein, die Tirpitz junior in rohen Mengen vertilgte. Dann heiratete er 1884. In rascher Folge wurden vier Kinder geboren, und erneut reichte es hinten und vorne nicht mehr. Der Familienvater sah sich gezwungen, von dem wohlhabenden Vater seiner Frau Geld anzunehmen, um das große Wohnhaus in Kiel zu finanzieren. Mit Ende dreißig war er also immer noch nicht finanziell unabhängig. Und den meisten der Kollegen und Freunde, die er in fast einem Vierteljahrhundert bei der Marine gewonnen hatte, ging es nicht besser. Grundlegend konnte sich das nur ändern, wenn es gelang, den der Flotte geneigten jungen Kaiser dafür zu gewinnen, diese der Armee gleichoder besserzustellen. Tirpitz ließ nichts unversucht, um das zu bewerkstelligen. Eine Empfehlung seines zum Reichskanzler aufgerückten «Onkel Leo» Caprivi bei Wilhelm II. ebnete ihm 1890 den Weg zum Stabschef des Oberkommandos der Marine für die Ostsee. Nachdem es ihm gelungen war, auf Wilhelm persönlich einen guten Eindruck zu machen, berief ihn dieser zwei Jahre später zum Stabschef des zentralen Oberkommandos der Flotte in Berlin. Mit großem Engagement und Geschick beteiligte Tirpitz sich von diesen Positionen aus an dem Papierkrieg, mit dem die verschiedensten Interessenten versuchten, den schwankenden Kaiser für ihren Kurs zu gewinnen. 1891 legte er gleich drei Gutachten vor. Im ersten plädierte er da-
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gegen, das Oberkommando, dem er selbst angehörte, dem neu geschaffenen Reichsmarineamt unterzuordnen. Im zweiten wendete er sich gegen vom Reichsmarineamt empfohlene Sparmaßnahmen bei der Flotte. Im dritten schließlich argumentierte er vorsichtig für den Bau von mehr Schlachtschiffen. Deren Effektivität war zwar seit einem Vierteljahrhundert in keiner großen Seeschlacht mehr auf die Probe gestellt worden. Aber ihr Bau war teurer als der von Kreuzern und bedeutete damit mehr Aufgaben und Prestige für die Flotte und ihre Beschäftigten. 1894 wiederholte die Denkschrift IX des Oberkommandos, an deren Erstellung Tirpitz wesentlichen Anteil hatte, dieses Votum für den Schlachtschiffbau. Nur damit sei eine offensive Seekriegsführung möglich. Wie Tirpitz schon in dem Brief an seinen Vater 1871 argumentierte die Denkschrift zudem, dann die vom Generalstab der Armee propagierte Strategie der «Vernichtungsschlacht» auf den Seekrieg übertragen zu können. Angesichts des gerade abgeschlossenen russisch-französischen Bündnisses wurde jetzt auch ein konkretes Ziel des Flottenausbaus genannt: Die deutsche Kriegsmarine sollte die Stärke der russischen oder französischen Marine mindestens um ein Drittel übertreffen. Das war ausgesprochen ehrgeizig. Denn die eigene Flottenstärke lag damals noch deutlich hinter der dieser beiden potentiellen Gegner. Auch mit der italienischen oder amerikanischen konnte die deutsche Kriegsmarine sich nicht messen, von der britischen ganz zu schweigen.12 Allein, die mit großem Aufwand vorbereitete Denkschrift IX erwies sich für Tirpitz und die Marine als ein Rohrkrepierer. Der Kaiser bevorzugte Kreuzer statt Schlachtschiffe. Er sah sich darin bestätigt, als drei Monate nach Vorlage der Denkschrift ein japanisches Geschwader vor der Küste Koreas die von drei Schlachtschiffen angeführte Flotte Chinas besiegte – zumal die beiden größten der chinesischen Schlachtschiffe in Stettin gebaut worden waren. Der Leiter des Reichsmarineamtes, Admiral Friedrich von Hollmann, wagte dem Reichstag eine teure Flotte aus Schlachtschiffen ohnehin nicht vorzuschlagen. Entnervt bat Tirpitz im Herbst 1895 einmal mehr um seine Rückversetzung auf ein Schiff. Wilhelm II. ernannte ihn zum Konteradmiral und Leiter eines Geschwaders, das einen deutschen Stützpunkt in China ausfindig machen sollte, wo nach dessen Niederlage gegen die Japaner alle Großmächte einen Fuß in die Tür zu bekommen versuchten. Während Tirpitz sich in Kiel auf die Fahrt nach Ostasien vorberei-
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tete, formulierten frühere Angehörige seiner alten «Torpedobande» im Berliner Oberkommando der Marine eine neue Vorlage für den Kaiser. Sie betonten darin vor allem das Tempo der Flottenrüstung Russlands und Frankreichs, das bis 1901 jedem dieser potentiellen Gegner Deutschlands allein eine doppelte, beiden zusammen sogar eine vierfache Übermacht zur See geben werde. Das schreckte den Kaiser auf. Den Chef seines persönlichen Marinekabinetts, der Tirpitz seit ihrer gemeinsamen Kadettenzeit in den 1860er Jahren kannte, beauftragte Wilhelm, bei dem scheinbar unparteiischen alten Bekannten eine Stellungnahme zur Vorlage des Oberkommandos anzufordern. Wenige Tage vor Weihnachten landete diese Aufforderung auf Tirpitz’ Schreibtisch in Kiel. Der frischgebackene Konteradmiral nutzte seine Chance. Statt nur einmal mehr die militärischen Gründe für einen Ausbau der Flotte zu bemühen, stellte er auch alle denkbaren politischen Argumente dafür zusammen und skizzierte noch einige Gedanken, wie diese unters Volk gebracht werden könnten. Genau das war es, was den Kaiser interessierte: Wilhelm II. suchte jemanden, der die günstige Stimmung in der deutschen Öffentlichkeit nach dem Jameson Raid ausnutzte, um ein großes Flottenbauprogramm im Reichstag durchzusetzen. Er bot Tirpitz an, ihn als Nachfolger Friedrich von Hollmanns zum Chef des Reichsmarineamts zu ernennen. Doch nun bekannte Tirpitz Angst vor der eigenen Courage. Er habe «hinsichtlich parlamentarischer Wortkämpfe sicherlich kein Talent», sei keine «Schlagschnauze», äußerte er in einer Besprechung mit Wilhelm Ende Januar 1896. Die Nachfolge Hollmanns könne er nur übernehmen, wenn die gesamte Reichsleitung hinter ihm stehe und er im Marineamt «freie Hand» erhalte. Das sicherte der Kaiser gerne zu. Etwas verschnupft reagierte er dagegen auf Tirpitz’ Wunsch, auch der Monarch solle sich persönlich aus Marineangelegenheiten heraushalten.13 In der Öffentlichkeit hatte sich mittlerweile die erste Erregung über den Jameson Raid gelegt. Hier und da wurde die «Krüger-Depesche» bereits als ungeschickte Provokation Großbritanniens kritisiert. Die Kritik traf vor allem den Kaiser. Dennoch gelang es Hollmann im Frühjahr, den Reichstag für die Finanzierung von vier neuen Schiffen zu gewinnen. Das war mehr als in vergangenen Jahren, auch wenn der Chef des Reichsmarineamts ein langfristiges Rüstungsprogramm weiterhin nicht im Parlament einzubringen wagte. Wilhelm II. zeigte sich einigermaßen
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befriedigt und ließ Tirpitz mitteilen, er nehme von einem Wechsel an der Spitze des Reichsmarineamts «zunächst Abstand». Allerdings sei «hinausgeschoben nicht aufgehoben».14 Tirpitz schiffte sich also nach Ostasien ein. Seine Stunde schlug erst ein Jahr später, als der Reichstag Hollmanns nächsten Marineetat zerpflückte und zusammenkürzte. Wilhelm II. wollte einmal mehr das Parlament auflösen oder ganz abschaffen, aber seine Umgebung brachte ihn davon ab. Der Chef des kaiserlichen Marinekabinetts, mit Tirpitz seit ihrer gemeinsamen Kadettenzeit befreundet, empfahl dessen «sehr energische, man kann sagen rabiate Natur, die eher zu dämpfen ist, als vorwärts zu treiben. Er ist ehrgeizig, in den Mitteln nicht wählerisch, von sanguinischem Charakter.» Prinz Heinrich, der als Marineoffizier mit Tirpitz dem «geheimen Kammersuff» gefrönt hatte und noch flottenvernarrter war als sein älterer Bruder Wilhelm, stimmte in das Loblied auf seinen Trinkkumpan ein.15 Im März 1897 rief der Kaiser den Konteradmiral aus Fernost zurück, um die Leitung des Reichsmarineamts zu übernehmen: Sollte der neue Mann sein Glück versuchen.
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Als Chef des Reichsmarineamtes entfaltete Tirpitz eine beispiellose Aktivität. Freilich rannte er dabei vielfach Türen ein, die schon weit offen standen. Die Mehrheit der Parlamentarier sah die Notwendigkeit, die deutsche Flotte zu verstärken, durchaus ein. Zudem hatte sein viel gescholtener Vorgänger Friedrich von Hollmann die Fahrrinne für Tirpitz’ Kurs bereits ausgebaggert. Hollmanns Salamitaktik, die Ausgaben für den Marineetat scheibchenweise zu erhöhen, war der Reichstagsmehrheit zwar schließlich zu weit gegangen. Sie hatte die Parlamentarier aber daran gewöhnt, steigende Ausgaben für die Flotte zu erwarten. Hollmann war nur zu ängstlich gewesen, ein Ausbauprogramm für mehrere Jahre vorzulegen. Tirpitz fiel dagegen mit der Tür ins Haus und legte für 1898 gleich ein solches Programm vor. Überraschenderweise kam er mit diesem brachialen Vorgehen den Interessen vieler Politiker im Reichstag entgegen. Denn selbst noch so sehr von der Flotte begeisterte Abgeordnete wollten möglichst vermeiden, deren Finanzierung durch
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neue Steuern jedes Jahr aufs Neue vor ihren Wählern rechtfertigen zu müssen. Das zunächst bis 1904 befristete Flottenprogramm von 1898 enthob sie dieser Verlegenheit. Tirpitz war zudem so klug, sich für diesen Zeitraum zunächst sogar mit weniger Geld pro Jahr zufriedenzugeben, als Hollmann 1897 gefordert hatte. Außerdem akzeptierte er, dass Ausgaben für die Flotte, die einen bestimmten Betrag überstiegen, nur durch Steuern für Wohlhabende gedeckt werden sollten. Die Angst mancher Abgeordneten davor, dass der Kaiser den Reichstag auflösen und Neuwahlen ansetzen oder gar seine wiederholten Staatsstreichdrohungen wahrmachen würde, trug ebenfalls dazu bei, dass Tirpitz’ Flottengesetz 1898 von einer Mehrheit aus Konservativen und jeweils zwei Dritteln der liberalen und Zentrumsabgeordneten angenommen wurde. Begründet worden war die Vorlage in der Öffentlichkeit mit den Vorteilen, die eine starke Flotte für deutschen Handel, deutsche Kolonien und die Erhaltung des Friedens habe. Dass sie auch als Druckmittel gegen Großbritannien dienen sollte, ließ Tirpitz einstweilen nur intern verlauten. Das änderte sich, als im nächsten Jahr das Pulverfass Transvaal explodierte. Der Ausbruch eines offenen Krieges zwischen dem Burenstaat und Großbritannien ließ den Kaiser und Teile der deutschen Öffentlichkeit eine weitere Verstärkung der Flotte fordern. Obwohl das Deutsche Reich diesmal strikte Neutralität wahrte, heizten Kolonialkonflikte mit den Briten um deutsche Interessen im Transvaal benachbarten Mosambik und im Pazifik die Stimmung zusätzlich an. Tirpitz nutzte das, um 1900 ein zweites Flottengesetz in den Reichstag einzubringen, das zu einer Verdopplung der Zahl deutscher Schlachtschiffe bis 1907 führen sollte. Den seit 1896 verfolgten Hintergedanken, Großbritannien damit «entgegenkommender» zu machen, machte er nun zumindest andeutungsweise öffentlich. In der Begründung des zweiten Flottengesetzes von 1900 hieß es nämlich, um «Deutschlands Seehandel und Kolonien zu schützen», müsse das Land «eine so starke Schlachtflotte besitzen, daß ein Krieg auch für den seemächtigsten Gegner mit derartigen Gefahren verbunden ist, daß seine eigene Machtstellung in Frage gestellt wird. Zu diesem Zwecke ist es nicht unbedingt erforderlich, daß die deutsche Schlachtflotte so stark ist, wie die der größten Seemacht, denn eine große Seemacht wird im allgemeinen nicht in der Lage sein, ihre sämtlichen Streitkräfte gegen uns zu konzentrieren. Selbst wenn es ihr aber
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auch gelingt, uns mit größerer Übermacht entgegenzutreten, würde die Niederkämpfung einer starken deutschen Flotte den Gegner doch so erheblich schwächen, daß dann trotz des etwa errungenen Sieges die eigene Machtstellung zunächst nicht mehr durch eine ausreichende Flotte gesichert wäre.»16 Das war die «Risikotheorie»: Das zweite Flottengesetz von 1900 sollte die deutsche Marine so weit vergrößern, dass ihre Stärke schließlich zwei Drittel der britischen betrug. Damit werde Deutschland nicht nur vor einem Angriff Großbritanniens geschützt, weil eine solche Attacke für den Angreifer zu riskant sei. Über kurz oder lang, kalkulierte Tirpitz, müssten die Briten sich dann auch im Frieden dem Deutschen Reich annähern, um keine gegen sie gerichtete Koalition mit deutscher Beteiligung zu riskieren, die ebenfalls den Verlust der eigenen maritimen Weltmachtstellung zur Folge haben würde. Tirpitz’ Flottenpolitik diente in außenpolitischer Hinsicht vor allem drei Zielen. Die Vorbereitung eines deutschen Offensivkrieges war für ihren Urheber nicht darunter. Vielmehr ging es Tirpitz erstens militärisch um Sicherheit vor einem Angriff anderer Mächte, einschließlich Großbritanniens. Zweitens war die Flotte für ihn politisch ein Mittel zum Schutz deutscher Wirtschafts- und Kolonialinteressen weltweit. Und drittens war sie ein bündnistaktisches Instrument. Das Verhältnis zu London stellte den Schlüssel zu allen drei außenpolitischen Zielen seines Plans dar. Wenn die deutsche Flottenrüstung die Briten an die Seite des Deutschen Reiches brachte, dann hatte Deutschland weder in Europa die russisch-französische Allianz noch weltweit irgendeinen Gegner zu fürchten. Tatsächlich suchte ein Teil der britischen Regierung 1898 das Gespräch mit der Führung des Deutschen Reiches. Dafür war zu diesem Zeitpunkt allerdings noch kaum die deutsche Aufrüstung zur See der Grund. Die Ursache war hauptsächlich die verschärfte Konkurrenzsituation, in der sich das britische Empire weltweit befand. Die Interessen Großbritanniens kollidierten in Asien mit denen Russlands, in Afrika mit denen Frankreichs. Die Etablierung der USA und Japans als neue Kolonialmächte drohte das Empire noch mehr unter Druck zu setzen. Ein Arrangement mit Deutschland versprach diesen Druck zu verringern. Zunächst kam es auch zu einer begrenzten Zusammenarbeit in der Kolonialpolitik. Diese brachte dem Deutschen Reich ein kleines Stück-
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chen von jenem «Platz an der Sonne» in der Welt, den 1897 der zum Chef des Auswärtigen Amtes ernannte Bernhard von Bülow gefordert hatte. Nachdem Deutschland und Großbritannien bereits bei der Einrichtung von Stützpunkten und Einflusssphären in China kooperiert hatten, einigten sie sich 1898 über eine mögliche Aufteilung der afrikanischen Kolonien Portugals, falls das Land bankrott machen sollte. Eine Intervention der europäischen Kontinentalmächte in den Krieg, den die Briten gegen die unabhängigen Burenrepubliken in Südafrika führten, scheiterte am Deutschen Reich – nachdem die in der «KrügerDepesche» öffentlich geäußerten Sympathien Wilhelms II. für die Buren London 1896 noch irritiert hatten. Im Gegenzug akzeptierte Großbritannien den deutschen Erwerb einiger Inselgruppen im Pazifik. Trotzdem führten die deutsch-britischen Gespräche bis 1901 in eine Sackgasse. Tirpitz als Staatssekretär für die Marine spielte dabei nur eine Nebenrolle. Die Gespräche scheiterten letztlich nicht an seinem Einfluss, sondern an den unvereinbaren Erwartungen beider Seiten. Die britische Regierung war im Grunde nur an einer Kooperation in kolonialen Fragen interessiert. Die deutsche Seite dagegen bestand angesichts der russisch-französischen Allianz auch auf einem förmlichen Bündnisvertrag für den Fall eines europäischen Kontinentalkrieges. Dazu fanden sich die Briten jedoch nicht bereit. Großbritannien suchte danach andere Partner, die auf seine Vorstellungen eingehen wollten. 1902 schloss es mit Japan ein Abkommen. Dieses war vor allem gegen den gemeinsamen Gegner in Asien, Russland, gerichtet. Zwei Jahre später folgte eine Entente cordiale, ein «herzliches Einvernehmen», zwischen London und Paris über kolonialpolitische Zusammenarbeit besonders in Nordafrika. Frankreich erkannte Ägypten als britisches Interessengebiet an, Großbritannien Marokko als französische Einflusszone. Zwar bemühte sich die deutsche Politik, in diese Kooperation einen Keil zu treiben. 1905 stattete Wilhelm II. dem marokkanischen Sultan überraschend einen Staatsbesuch ab und sagte seinem Gastgeber Unterstützung des Deutschen Reiches gegen eine Kolonialisierung durch andere zu. Eine internationale Konferenz bestätigte schließlich zumindest formell die Unabhängigkeit Marokkos, die ein Vierteljahrhundert zuvor von allen europäischen Mächten festgelegt worden war. Für Deutschland war es freilich ein Pyrrhussieg. Denn abgesehen von Österreich-Ungarn
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wurde es auf der Konferenz von niemandem unterstützt. Italien, der dritte Dreibundpartner, hatte sich insgeheim Frankreich angenähert, und die USA sekundierten Großbritannien, nachdem die beiden angelsächsischen Mächte ihre Interessen in Südamerika voneinander abgegrenzt hatten. Der deutsche Vorstoß festigte nur die britisch-französische Entente. Tirpitz, der Kaiser und Bernhard von Bülow, der 1900 als Nachfolger Hohenlohes weiter zum Reichskanzler aufgestiegen war, gingen jedoch nach wie vor davon aus, den fortdauernden Gegensatz zwischen Großbritannien und Russland für deutsche Interessen ausnutzen zu können. 1905 schien sich sogar eine Chance zu bieten, die französisch-russische Allianz zu sprengen. In einem zwischen Japan und dem Zarenreich ausgebrochenen Krieg half Frankreich seinem Bündnispartner nicht. Der Verlauf der militärischen Auseinandersetzungen war für Russland ein Desaster. Die Japaner zerstörten zunächst die Pazifikflotte des Zarenreichs. Dann schlugen sie auch noch die um die halbe Welt gedampfte russische Ostseeflotte. Unter dem Eindruck der Niederlage kam es zu revolutionären Unruhen gegen die Regierung des Zaren. Dessen Vetter Wilhelm II. schlug seinem Verwandten vor diesem Hintergrund einen deutsch-russischen Defensivvertrag vor. Doch der Vertrag trat nie in Kraft. Da er nur für Europa gelten sollte, hatte er keinen direkten Nutzen für Russland, das gerade im Fernen Osten gegen Japan seine Machtstellung verlor. Und nach dem demütigenden Frieden orientierte sich das Zarenreich außenpolitisch neu. Seine Ambitionen verlagerte es fortan von Asien weg und auf den Balkan. Dort aber kollidierten die russischen Interessen mit denen von ÖsterreichUngarn, Deutschlands engstem und mittlerweile einzigem Verbündeten. Außerdem ermöglichte die außenpolitische Umorientierung des Zarenreichs nach Europa eine Entspannung im russisch-britischen Verhältnis. 1907 einigten sich London und Sankt Petersburg über eine Abgrenzung ihrer Einflussgebiete in Zentralasien. In Berlin, wo man von einer Wahlfreiheit zwischen russischem «Bär» und britischem «Walfisch» ausgegangen war, löste die Nachricht einen herben Schock aus. Umso mehr setzte die deutsche Politik nun darauf, Großbritannien mit dem Ausbau von Tirpitz’ «Risikoflotte» so unter Druck setzen zu können, dass London seine Annäherung an Frankreich und Russland revidierte. Der Stapellauf eines völlig neuen Typs von Schlachtschiff, des britischen Dreadnought, intensivierte ab 1906 den
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Rüstungswettlauf zur See. Durch drei Novellierungen der Flottengesetze wurde dieser in Deutschland bis 1912 vorangetrieben. Aber Großbritannien behielt die Nase vorn: Englische und schottische Werften produzierten nicht nur wesentlich mehr Schiffe als die deutschen. Zu Tirpitz’ großem Ärger erreichte seine Flotte nie die angegebene Stärke von zwei Dritteln der britischen. Zudem blieben die Schiffe Großbritanniens denen des Deutschen Reiches auch qualitativ überlegen. Dennoch fand London sich wiederholt zu den von Berlin angestrebten Verhandlungen bereit. Der Grund dafür lag in der britischen Innenpolitik. Die Einführung eines Pakets von staatlich finanzierten Sozialversicherungen in Großbritannien wurde durch die massive Aufrüstung zur See in Frage gestellt. Die britische Regierung war deshalb durchaus zu einem gewissen Arrangement bereit. Auch zivilgesellschaftliche Initiativen aus beiden Ländern arbeiteten für einen deutsch-britischen Ausgleich. Allerdings konnten diese sich nur selten gegen nationalistische Stimmen durchsetzen, die auf beiden Seiten in der Öffentlichkeit immer mehr dominierten. Eine erneute internationale Krise um Marokko 1911, während der Deutschland demonstrativ mit Kanonenbooten vor der marokkanischen Küste Präsenz zeigte, gab solchen Kreisen zusätzlichen Auftrieb. 1912 scheiterten die letzten Flottengespräche zwischen Berlin und London. Dazu trugen nun nicht allein die schwer zu vereinbarenden gegenseitigen Erwartungen, sondern auch der Einfluss der jeweiligen nationalen Öffentlichkeit bei. Die deutsche Seite forderte eine Neutralitätszusage Großbritanniens für den Fall eines Krieges zwischen Frankreich und Russland einerseits, Deutschland und Österreich-Ungarn andererseits. Beeinflusst von den deutschfeindlichen Stimmen zu Hause, argwöhnten die britischen Unterhändler daraufhin, das Deutsche Reich wolle sich nur absichern, um mit einem solchen Krieg seine dominante Machtstellung auf dem Kontinent noch weiter auszubauen. Zumindest aber verlangten die Briten, die den Rüstungswettlauf zur See ohnehin gewonnen hatten, für irgendwelche substantiellen Zugeständnisse von der deutschen Seite eine Vorleistung. Während Wilhelm II. zeitweise schwankte, war Tirpitz jedoch überhaupt nicht bereit, auf den Ausbau «seiner» Flotte zu verzichten. Und auch angesichts des Drucks, der von der flottenbegeisterten deutschen Öffentlichkeit ausging, wagte es niemand, die Politik des Deutschen Reiches auf einen vernünftigeren Kurs zu bringen.
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Noch im selben Jahr schloss Großbritannien mit Frankreich eine Marinekonvention ab. Die französische Flotte sollte fortan im Mittelmeer stationiert werden, die britische dagegen in Nordsee und Atlantik kreuzen. Diese Arbeitsteilung vertiefte die Entente und verstärkte die Stellung der Royal Navy gegenüber der deutschen Marine noch weiter. In der Folgezeit begann London Verhandlungen mit Sankt Petersburg über ein ähnliches britisch-russisches Flottenabkommen. Tirpitz’ Strategie, mit dem Bau der «Risikoflotte» Großbritannien zu einem Bündnis mit dem Deutschen Reich zu bewegen, war damit auf der ganzen Linie gescheitert. Stattdessen stand die deutsche Marine beim Beginn des Ersten Weltkriegs zur See einem Bündnis aller anderen Seemächte von Bedeutung gegenüber. Ihren Gegnern um ein Vielfaches unterlegen, verbrachten die deutschen Schlachtschiffe und ihre frustrierten Besatzungen wie schon 1870 / 71 den Krieg größtenteils in den eigenen Häfen. Das Scheitern der «Risikoflotte» war nicht in jeder Hinsicht vorauszusehen. Ihr Architekt war schließlich kein Dummkopf. Tirpitz dachte strategischer und politischer als die meisten Marineoffiziere seiner Generation. Dass Russland 1905 im Krieg gegen Japan unterlag und seine imperialen Ambitionen daraufhin von Asien weg auf den Balkan verlagerte, hätte zuvor kaum jemand prophezeit. Während des gesamten 19. Jahrhunderts hatte keine europäische Flotte gegen einen außereuropäischen Gegner größere Seeschlachten verloren. Die vollkommen unerwartete Niederlage des Zarenreiches in Fernost und die folgende Verlagerung seiner außenpolitischen Prioritäten nach Westen pflasterten den Weg für den britisch-russischen Ausgleich von 1907. Dieser war bis dahin nicht nur in Berlin für unmöglich gehalten worden. Mit dem weltpolitischen Gegensatz zwischen Großbritannien und Russland entfiel aber eine wichtige Voraussetzung für Tirpitz’ Plan. Tirpitz oder ein anderer der politisch Verantwortlichen in Berlin hätte freilich erkennen können, dass die Weltmachtstellung Großbritanniens nicht allein auf der Royal Navy basierte. Als man sich in London 1914 entschied, auf der Seite der Gegner Deutschlands in den Krieg einzutreten, war der ausschlaggebende Grund dafür nicht die Flottenrivalität. Zu diesem Zeitpunkt hatte Großbritannien den Rüstungswettlauf auf dem Wasser ohnehin uneinholbar gewonnen. Die Entscheidung für die britische Beteiligung am Ersten Weltkrieg fiel vielmehr aus Sorge um das europäische Gleichgewicht. Dass die europäischen Kontinentalmächte
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sich seit dem Wiener Kongress 1815 gegenseitig in Schach hielten, war neben der Flotte Voraussetzung für die globale Machtposition Großbritanniens. Die halbhegemoniale Stellung Deutschlands auf dem Kontinent seit 1871 gefährdete dieses Gleichgewicht potentiell bereits. Jeder weitere Machtgewinn des Deutschen Reiches hätte es zerstört. Deshalb konzentrierten sich die Befürchtungen in London auf Deutschland. Diese Erfahrung hatte bereits Bismarck 1875 machen müssen, als er Frankreich mit Präventivkrieg drohte. Aus Erfahrung klug geworden, hielt der alte Reichskanzler sich danach mit solchen verbalen Aggressionen zurück und betonte fortan bei jeder Gelegenheit die «Saturiertheit» des neuen Nationalstaats in der Mitte Europas. Von Bismarcks Nachfolgern unter Wilhelm II. war insbesondere Bernhard von Bülow deutlich weniger bemüht, die britischen Befürchtungen zu zerstreuen. Gleichzeitig mit Bülows Berufung ins Auswärtige Amt ernannte Wilhelm außerdem Tirpitz zum Chef der Marine, der nun auch noch eine deutsche Schlachtflotte aufbaute. Zumindest in der Wahrnehmung der britischen Öffentlichkeit wurde die eigene Position so nicht nur indirekt in Frage gestellt, weil Deutschland das europäische Gleichgewicht gefährdete: Das Deutsche Reich schien Großbritanniens Stellung in der Welt durch den Flottenbau auch direkt herauszufordern. Tatsächlich war das nicht der Fall, wie die britische Regierung durchaus erkannte. Denn Tirpitz’ Entscheidung für den Bau einer deutschen Flotte, die überwiegend aus Schlachtschiffen bestand, machte diese in größerer Entfernung von heimischen Gewässern praktisch unbrauchbar. Sämtliche Planungen, die Tirpitz anstellte, gingen denn auch nur von einem Einsatz der Schlachtflotte in der Nordsee aus. Angesichts des Fehlens von nennenswerten Stützpunkten konnte die deutsche Marine Kolonial- und «Weltpolitik» kaum wirkungsvoll unterstützen. Dafür hätte es außerdem mehr Kreuzer gebraucht, als Tirpitz bauen ließ. Was trieb den Admiral dazu, eine Flotte bauen zu lassen, die für eine aktive Kolonialpolitik und den militärischen Schutz deutschen Handels in Übersee weitgehend wertlos war? Alle Großmächte betrieben spätestens seit der Jahrhundertwende den Aufbau einer Schlachtflotte aus Großkampfschiffen. Für Staaten mit einem großen Netz von Stützpunkten, wie es Großbritannien und in Ansätzen auch Frankreich und die USA besaßen, machte das mit Blick auf Kolonialerwerb und Schutz eigenen Handels durchaus Sinn. Für Länder mit langen Küstenlinien, zu denen
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außer den drei Genannten noch Italien und Japan gehörten, besaßen Schlachtflotten darüber hinaus einen realen militärischen Wert: Geschwader von Großkampfschiffen konnten potentielle Angreifer abschrecken oder zur Offensivverteidigung gegen diese dienen. Für die Landmacht Deutsches Reich traf all das aber nicht zu. Um die relativ kurzen deutschen Küstenlinien zu verteidigen, wären mit Torpedos ausgerüstete Kanonenboote eine wesentlich billigere Alternative gewesen. Kleine Kreuzerflottillen hätten deutsche Interessen weltweit besser schützen können als Tirpitz’ Schlachtflotte. Deshalb hatten sich seine Vorgänger mit guten Gründen auf Kreuzer und Kanonenboote beschränkt. Ironischerweise besann Tirpitz selbst sich während des Ersten Weltkriegs wieder auf die Vorteile von Torpedos zurück. Denn gegen die britische Blockadepolitik im Krieg war seine Schlachtflotte machtlos und wäre es auch dann gewesen, wenn sie zwei Drittel der Stärke der Royal Navy erreicht hätte. An der Entwicklung von Torpedos hatte er sogar höchstpersönlich ein Dutzend Jahre erfolgreich gearbeitet. Warum ignorierte er deren offensichtliches Potential in seinen Planungen für einen Ausbau der Flotte dennoch, obwohl das bei der geostrategischen Lage Deutschlands doch so nahelag? Alfred Thayer Mahans sozialdarwinistische Vorstellungen eines Zusammenhangs von Flottenbau und Großmachtstatus spielten für die positive Aufnahme von Tirpitz’ Vorschlag, mit der Konzentration auf Schlachtschiffe zu neuen Ufern aufzubrechen, eine Rolle. Unter zeitgenössischen Marineexperten wurden allerdings durchaus Alternativen zu den Ansichten des amerikanischen Admirals diskutiert. Und Tirpitz selbst hatte den Bau von teuren Großkampfschiffen schon gefordert, bevor er Mahan las. Das zentrale Motiv für ihn war Ressortegoismus: Eine Flotte aus Großkampfschiffen verschlang nicht nur mehr Geld, sie verschaffte ihm und seinen Freunden und Kollegen im Offizierskorps der Marine auch mehr Prestige, mehr Einfluss und bessere Karrieremöglichkeiten. Für die Angehörigen einer Waffengattung, die seit dem Trauma von 1866 und 1870 / 71 materiell wie immateriell unter der Zurücksetzung hinter die Armee gelitten hatten, hatte diese Aussicht etwas so Reizvolles, dass sie der Verlockung unmöglich widerstehen konnten, als sich die Gelegenheit ergab. Die von Tirpitz und seinen Mitstreitern propagierten außenpolitischen Ziele des Flottenbaus traten dahinter zurück. Mehr noch, sie
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wurden durch den Primat des Lebens von der Flotte geradezu torpediert. Die Schlachtflotte war ungeeignet, deutsche Kolonial- und Weltpolitik zu fördern. Entsprechend mager blieb das Resultat des Strebens nach einem weltpolitischen «Platz an der Sonne». Es beschränkte sich, was den Erwerb neuer Kolonien anging, auf einige Inseln im Pazifik und eine Erweiterung des 1885 erworbenen Kamerun als Trostpreis für das nicht erreichte Protektorat über Marokko. Auch als bündnistaktisches Instrument erfüllte Tirpitz’ Schlachtflotte die in sie gesetzten Erwartungen nicht. 1914 sollte sich schließlich zeigen, dass sie dem Deutschen Reich noch nicht einmal Sicherheit vor einem Angriff bot.
Schlachtflotte und «nationale Sammlung» Schlachtflotte und «nationale Sammlung»
Während das außenpolitische Kalkül der Flottenrüstung scheiterte, erfüllten sich die damit verbundenen innenpolitischen Erwartungen zumindest zeitweise. Die Flotte schien nämlich auch als Kristallisationspunkt einer Sammlung aller anderen gesellschaftlichen Kräfte gegen die Sozialdemokratie denkbar. Während der Arbeit an seinem Gutachten vom 3. Januar 1896 für Wilhelm II. skizzierte Tirpitz diese Überlegung knapp in einem Brief an den alten Chef Stosch: Eine Flotte sei nötig «auch deshalb, weil in der neuen nationalen Aufgabe und dem damit verbundenen Wirtschaftsgewinn ein starkes Palliativ gegen gebildete und ungebildete Sozialdemokraten liegt». Eine Aufrüstung zur See sollte, mit anderen Worten, durch die Betonung «nationaler» und damit zusammenhängender wirtschaftlicher Interessen das Wachstum der SPD eindämmen helfen.17 In Tirpitz’ Überlegungen tauchte diese Idee lediglich um die Jahreswende 1895 / 96 beiläufig auf. Eine Instrumentalisierung des Flottenbaus zu innenpolitischen Zwecken war kein zentrales Element des «TirpitzPlans». Bezeichnenderweise ist der Admiral später nie mehr darauf zurückgekommen. Als er die Idee formulierte, geschah das offensichtlich in dem Bemühen, den Aufbau einer großen Schlachtflotte mit allen möglichen Mitteln zu begründen. Um die Marine zu stärken, von der er und seine Kollegen lebten, war ihm jedes Argument recht. Und das Konzept einer «nationalen Sammlung» gegen die SPD, schon von Bismarck pro-
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pagiert, war angesichts der sozialdemokratischen Erfolge seit dem Abgang des alten Kanzlers in konservativen und Regierungskreisen immer populärer geworden. Gerade Mitte der 1890er Jahre wurde es hier wieder verstärkt diskutiert. Zwei Varianten der Politik einer solchen «nationalen Sammlung» lassen sich unterscheiden. Die erste vertrat vor allem Johannes von Miquel, während der 1890er Jahre Finanzminister in Preußen und zeitweise dort auch stellvertretender Ministerpräsident. Miquel zielte in erster Linie auf eine Sammlung der organisierten Interessenvertreter von Industrie und Landwirtschaft. Über diese sollten dann nach Möglichkeit auch die nichtsozialdemokratischen Parteien zusammengebracht werden. Miquels Ansatzpunkt dafür war eigentlich die Zollpolitik des Deutschen Reiches. In einem Wirtschaftspolitischen Ausschuss, der zukünftige Handelsverträge vorbereiten sollte, brachte er 1897 Repräsentanten von Industrieund Agrarverbänden zusammen. Auf Tirpitz’ Pläne zum Ausbau der Flotte reagierte Miquel zunächst reserviert. Angesichts der damit verbundenen Kosten fürchtete der Finanzminister, dass die Flottenrüstung im Reichstag auf massiven Widerstand stoßen würde. Vor allem aber rechnete er mit der Ablehnung durch die organisierten Agrarier. Während sich die Werften direkt und die Exportindustrie durch Schutz des Handels indirekt von der Flotte Vorteile versprechen konnten, galt das für die Landwirtschaft nicht. Im Gegenteil: Je mehr durch eine Flotte der deutsche Außenhandel geschützt und belebt würde, desto mehr Konkurrenz aus dem Ausland mussten die einheimischen Landwirte erwarten. Allerdings gab Miquel auch zu, die Flottenprojekte könnten ein «brauchbares nationales Ferment» abgeben.18 Nicht nur eigneten sie sich, um nationale Begeisterung unter allen Bevölkerungsgruppen hervorzurufen. Es waren auch ganz konkrete politische Geschäfte unter Einbeziehung des Flottenbaus vorstellbar, die Interessen von Industrie und Landwirtschaft gleichermaßen befriedigten. Vielleicht ließen sich sogar die Beschäftigten beider Wirtschaftszweige, einschließlich der für die Sozialdemokratie so anfälligen Industriearbeiterschaft, an diesen Geschäften auf Gegenseitigkeit beteiligen. Der Flottenbau konnte den Industriellen Rüstungsaufträge verschaffen und Absatzmärkte in Übersee sichern. Dafür sollten sie eine Erhöhung der Agrarzölle mittragen. Eine Belebung der Industrieproduktion durch die Flottenrüstung könne
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zudem Arbeitsplätze schaffen und sichern. Damit, so die Hoffnung, könne man die Arbeiterschaft zufriedenstellen und von der Sozialdemokratie lösen. Dieses Kalkül ging nie wirklich auf. Die Arbeiter ließen sich der SPD nicht abspenstig machen. Zudem waren die industriellen Arbeitgeber schon untereinander selten einig. Zwischen dem 1895 gegründeten Bund der Industriellen, der insbesondere die Interessen exportorientierter Branchen vertrat, und dem älteren Zentralverband der Industriellen, der hauptsächlich die für den Binnenmarkt produzierende Schwerindustrie repräsentierte, gab es wenig Gemeinsamkeiten. Das Verhältnis von Industrieverbänden und Landwirtschaft war erst recht alles andere als harmonisch. Besonders deutlich wurde das um die Jahrhundertwende, als der Bund der Landwirte den Bau eines von der Industrie gewünschten Kanals vom Rhein zur Elbe blockierte. Nach dem Scheitern dieses Mittellandkanal-Projekts musste Miquel 1901 als Minister in Preußen zurücktreten. Erfolgreicher war die zweite, mehr auf die Parteien statt die Verbände zielende Variante der Sammlungspolitik. Als deren wichtigster Protagonist kann Bernhard von Bülow gelten. Schon fünf Jahre bevor er die Ämter des Reichskanzlers und preußischen Ministerpräsidenten übernahm, hatte Bülow sein Konzept 1895 so zusammengefasst: «Die Basis der kaiserlichen inneren Politik muss eine möglichst breite sein, damit Konservative, Nationalliberale, gemäßigte Klerikale [Zentrumsanhänger] und maßvollere Linksliberale auf ihr Platz finden. Einerseits wegen der Aufrechterhaltung der Reichseinheit, andererseits weil wir im Kampf gegen die soziale Revolution eine lange und tiefe Phalanx brauchen.»19 Gegenüber der ursprünglichen Sammlungsidee Bismarcks bedeutete das eine wesentliche Erweiterung. Der erste Reichskanzler hatte es sich noch leisten können, bürgerliche Protestanten und Katholiken gegeneinander auszuspielen. Während ihm Ende der 1870er Jahre beim Übergang vom liberalen Freihandel zum Schutzzoll eine Koalition aus Konservativen und Zentrum assistierte, regierte er zehn Jahre später mit einem konservativ-nationalliberalen Kartell. Für Bismarcks Nachfolger wurde es jedoch immer schwerer, auf diese Weise Mehrheiten zu bilden, in der Reichsleitung und Konservative letztlich immer den Ton angaben. Das lag nicht nur am Aufstieg der Sozialdemokraten, für die fast jeder vierte Wähler bei den Reichstagswahlen 1893 gestimmt hatte. Gründung
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und Wachstum von katholischen, protestantischen und überkonfessionellen Bauernvereinen, christlichen oder liberalen Gewerkschaften und anderen Basisbewegungen machten in den 1890er Jahren nationalliberaler und Zentrumsführung die Kontrolle ihrer Abgeordneten immer schwieriger und infolgedessen eine Zusammenarbeit mit diesen Parteien für die Reichsleitung unberechenbarer. Schon Caprivi hatte deshalb auch die Linksliberalen für eine Zusammenarbeit zu gewinnen versucht. 1893 war das zumindest teilweise gelungen, als ein Dutzend linksliberaler Befürworter der Militärvorlage im Reichstag als Freisinnige Vereinigung eine neue Partei gründeten. Diese unterstützte in den folgenden Jahren auch den von Tirpitz betriebenen Ausbau der Flotte. Die Freisinnige Vereinigung verband die Tradition der alten preußischen Fortschrittspartei mit neuen Gedanken von deutscher Groß- und Weltmachtpolitik. Sie vertrat «nationale» Positionen ebenso wie städtisch-industrielle Interessen und Forderungen nach Stärkung des Parlaments. Ihre soziale Basis hatte die neue politische Kraft hauptsächlich in norddeutschen Küstenregionen, wo ihr Programm für Handelsmagnaten und Werftarbeiter gleichermaßen attraktiv war. Der Ausfall der Reichstagswahlen von 1898, die unter dem Eindruck des mit großer Mehrheit verabschiedeten ersten Flottengesetzes stattfanden, stellte die Stabilität der um die Freisinnige Vereinigung erweiterten «Sammlung» jedoch wieder in Frage. Die SPD, die den Flottenbau ablehnte, gewann erneut Stimmen und Mandate dazu. Auf der anderen Seite gelangten mehr Vertreter christlicher Bauernvereine ins Parlament, die in der Zentrumsfraktion «uferlose» Ausgaben für die Flotte kritisierten. Und mit Hilfe des Bundes der Landwirte gewählte konservative und nationalliberale Abgeordnete opponierten ebenfalls gegen die «grässliche» Flotte, die aus agrarischer Perspektive an sich keinerlei Attraktivität hatte. Selbst wachsende Teile der Konservativen waren jetzt keine zuverlässige Stütze der Regierungspolitik mehr. Die Reichsleitung versuchte daher, Flottenpolitik und Schutz der Landwirtschaft miteinander zu verknüpfen, damit auch die konservativen, liberalen und Zentrumsagrarier auf ihre Kosten kamen. Außerdem musste der Ausbau der Marine irgendwie finanziert werden. Das sollte durch die seit langem angepeilte Erhöhung der unter Caprivi gesenkten Agrarzölle geschehen. Die erste Probe aufs Exempel wurde im Frühsommer 1900 gemacht, als zweites Flottengesetz und Fleisch-
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beschaugesetz dem Reichstag vorgelegt wurden. Das Ergebnis war durchwachsen. Das Fleischbeschaugesetz, das unter dem Vorwand des Seuchenschutzes faktisch ein Einfuhrverbot für Vieh aus Übersee etablierte, wurde im Parlament von einer Mehrheit aus Zentrum, Nationalliberalen und den meisten Konservativen verabschiedet. Neben der SPD und allen Linksliberalen einschließlich der Freisinnigen Vereinigung, die das Gesetz als zu verbraucherfeindlich ablehnten, stimmten auch konservative Vertreter des Bundes der Landwirte dagegen, weil es agrarischen Interessen nicht weit genug entgegenkam. Für das Flottengesetz votierten dagegen Nationalliberale, Konservative, Freisinnige Vereinigung und ein Drittel der Zentrumsabgeordneten. Der Rest der Zentrumsfraktion enthielt sich. Die Reichsleitung hatte also zwar beide Vorlagen durch das Parlament gebracht, aber mit verschiedenen Mehrheiten. Auch wenn es eine starke «gouvernmentale» Gruppe von Abgeordneten gab, deren Kern die Nationalliberalen bildeten, war es nicht gelungen, eine feste «Sammlungsmehrheit» zu bilden. Der neue Reichskanzler Bülow unternahm dennoch einen neuen Anlauf dazu. Nach schier endlosen Debatten in Reichstag und Öffentlichkeit wurde 1902 ein neuer Zolltarif verabschiedet, der vor allem die Einfuhrabgaben auf Getreide erhöhte. Das Resultat war wieder ambivalent, die Mehrheit dafür die gleiche wie beim Fleischbeschaugesetz: Zentrum, Nationalliberale und die meisten Konservativen. Die SPD stimmte dagegen. Die Linksliberalen votierten nach kontroversen Diskussionen aus Rücksicht auf ihre städtische Klientel gleichermaßen geschlossen mit Nein. Einige der dem Bund der Landwirte nahestehende Konservative, denen die Zollerhöhungen nicht weit genug gingen, verweigerten ebenfalls die Zustimmung. Mehr Sorgen bereitete Bülow allerdings, dass er sein Ziel einer dauerhaften Finanzierung der Flotte durch den Zolltarif verfehlte. Denn der Entscheidung für dessen Verabschiedung waren auch in nationalliberaler und Zentrumspartei heftige Kontroversen zwischen landwirtschaftlichen und städtischen Interessenvertretern vorangegangen. Um städtische Verbraucher für ihre Belastung durch die höheren Zölle zu entschädigen, bestand besonders das Zentrum darauf, Einnahmen aus den Tariferhöhungen für sozialpolitische Zwecke zu reservieren. Die Zolleinnahmen flossen also größtenteils in einen Fonds zur Versorgung von Witwen und Waisen. Doch weder dieser taktische Schachzug noch weitere sozialpolitische
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Maßnahmen konnten erneute, diesmal spektakuläre Gewinne der SPD bei den «Zolltarifwahlen» von 1903 verhindern. Zum ersten Mal gelangen den Sozialdemokraten jetzt auch signifikante und dauerhafte Erfolge unter katholischen Arbeitern und bürgerlichen Wählern. Vor dem Hintergrund von Preiserhöhungen für Lebensmittel intensivierte sich 1905 / 06 die Abwanderung von Anhängern der Liberalen und des Zentrums zur Sozialdemokratie noch. Der Preisanstieg hatte zwar mit den Zöllen wenig zu tun, zumal er bei Fleisch höher ausfiel als bei Brot. In der öffentlichen Wahrnehmung wurde freilich ein Zusammenhang mit dem Zolltarif konstruiert. Die Konzentration auf den «Massenluxusartikel» Fleisch erweiterte die Reichweite des Konsumentenprotests zudem bis weit in den bürgerlichen Mittelstand. Die Suche nach alternativen Finanzierungsquellen für den Flottenbau gestaltete sich deshalb außerordentlich schwierig. Denn die für die langfristige Finanzierung des Flottengesetzes von 1900 von Tirpitz und Bülow eingeplanten Reichseinnahmen aus Zöllen waren ausgeblieben. Als danach der Rüstungswettlauf mit Großbritannien zur See begann, war guter Rat erst recht teuer. Tirpitz und Wilhelm II. bestanden auf einer weiteren Flottennovelle, die 1905 im Reichstag eingebracht wurde. Diese wurde im nächsten Frühjahr auch überraschend glatt vom Parlament verabschiedet. Außer Nationalliberalen, Konservativen und dem Zentrum stimmten jetzt nicht allein die Abgeordneten der Freisinnigen Vereinigung, sondern alle Linksliberalen dafür. Die wie üblich dagegen votierenden Sozialdemokraten wurden isoliert. Damit kam Bülow dem gut zehn Jahre zuvor von ihm skizzierten Ideal einer «langen und tiefen Phalanx» hinter der Reichsleitung so nah wie nie. Doch das dicke Ende kam noch: die Finanzierung. Denn alle Liberalen und das Zentrum lehnten Verbrauchssteuern jetzt entschieden ab, weil sie fürchteten, damit die Abwanderung ihrer Wähler unter den Konsumenten zur SPD weiter zu forcieren. Stattdessen einigten sie sich 1906 auf eine Finanzreform im Reich, die erstmals auch in größerem Umfang Besitzende belastete. Die Einführung einer progressiven Erbschaftssteuer brach sogar mit dem bisherigen Prinzip einer steuerlichen Privilegierung der Landwirtschaft. Reichskanzler Bülow blieb nichts anderes übrig, als das zu akzeptieren. Er konnte auch nicht verhindern, dass die Erbschaftssteuer gegen die Stimmen der Konservativen, aber teilweise mit Unterstützung der Sozialdemokraten beschlossen wurde.
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Für Tirpitz stellte das kein Problem dar. Ihm ging es allein um die Bewilligung des Geldes für die Flotte. Woher die Mittel kamen, interessierte ihn tatsächlich nicht weiter. Seine zehn Jahre zuvor nebenher geäußerte Anregung, den Flottenbau als innenpolitisches Instrument zur Isolation der Sozialdemokratie zu nutzen, war bloße Rhetorik gewesen, um mit beliebigen Argumenten jede erdenkliche Unterstützung für den Ausbau der Marine zu mobilisieren. Bernhard von Bülow hingegen versuchte ernsthaft, die Flotte für eine «nationale Sammlung» auf möglichst breiter Basis gegen die SPD zu instrumentalisieren. Der von ihm unternommene Anlauf dazu hatte ein mehrdeutiges Resultat erbracht. Zwar stimmten seit 1906 auch die Linksliberalen für den Ausbau der Marine. Sie hielten aber an ihrer Opposition gegen die Politik der Reichsleitung in Fragen der Zollpolitik und der Parlamentsrechte fest. Dabei ergaben sich zunehmend Berührungspunkte zwischen ihnen und der SPD. Auch zwischen Sozialdemokratie und Zentrum eröffneten sich bisher undenkbar gewesene Felder der Kooperation. So kam es bei den Reichstagswahlen von 1907 zu einer taktischen Zusammenarbeit zwischen beiden Parteien. Und bei der Finanzierung der Flotte war es erst recht nicht gelungen, eine Einheitsfront der Parteien gegen die SPD zu zimmern. Hier führte die Sammlungspolitik sogar zur Isolation der Konservativen, statt wie beabsichtigt deren Herrschaft zu sichern. Bülow war damit zu einem Zauberlehrling geworden: Allzu gern wäre er die von ihm gerufenen Geister wieder losgeworden. Seine Politik der «nationalen Sammlung» hatte zwar zu einem Zusammengehen der Parteien geführt. Doch der Schwerpunkt dieser Sammlung lag mittlerweile deutlich weiter links, als ihm selbst lieb sein konnte. Denn wie die frühere Annäherung der Freisinnigen Vereinigung an die militärischen Planungen der Reichsleitung ging auch das Einschwenken der übrigen Linksliberalen auf eine solche «nationale» Plattform keineswegs mit einem Verzicht auf innere Reformen einher. Vielmehr war das Gegenteil der Fall. Je «nationaler» die Linksliberalen im Kaiserreich sich gebärdeten, desto stärker wurde auch ihr Einsatz für einen innenpolitischen Systemwechsel. Friedrich Naumann, der sich 1903 der Freisinnigen Vereinigung anschloss, ist dafür nur das bekannteste Beispiel. Sein Ziel einer Verbindung von deutscher Weltpolitik nach außen, Demokratisierung und Parlamentarisierung im Innern des
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Deutschen Reiches teilten seit der Jahrhundertwende immer mehr linke Liberale. Dass die Flotte für diese Metamorphose des Linksliberalismus eine zentrale Rolle spielte, hat mehrere Ursachen. Einige der Vertreter des liberalen Bürgertums in Handel und Industrie profitierten in wirtschaftlicher Hinsicht von der Flotte. Nicht zufällig war es zuerst die Freisinnige Vereinigung mit ihren Schwerpunkten an der Küste und insbesondere in den Hansestädten, die zur Unterstützung der Flottenpolitik überging. Doch das war nicht der einzige und nicht einmal wichtigste Grund. Die Mehrheit der linksliberalen Wähler, Aktivisten und Abgeordneten lebte im Binnenland und hatte keinerlei ökonomisches Interesse am Flottenbau. Mehr noch spielte die überwiegend bürgerliche Prägung des Offizierskorps der Marine eine Rolle – während im Heer nach wie vor konservative Aristokraten das Sagen hatten. Die Flotte entsprach dem alten liberalen Ideal des Militärs als einer «Bürgerwehr» wesentlich mehr als die Armee. Nur in der Artillerie waren sonst noch technische Kenntnisse in vergleichbarem Ausmaß Voraussetzung für eine erfolgreiche Offizierslaufbahn. Das verschaffte den im Durchschnitt besser gebildeten Bürgerlichen einen Vorteil gegenüber den sonst privilegierten Adligen. Der aus dem Bürgertum stammende Tirpitz war selbst ein Beispiel dafür. Die meisten bürgerlichen Marineoffiziere wurden aber nicht von einem euphorischen Wilhelm II. in den erblichen Adelsstand erhoben, wie es Alfred Tirpitz nach der Passage der Flottenvorlage von 1900 geschah. Und beileibe nicht alle entwickelten wie er konservative politische Auffassungen. Vor allem jedoch war die Zustimmung der linken Liberalen zur Flottenpolitik Folge eines tief greifenden Prozesses der Nationalisierung. Das Kaiserreich bestand mittlerweile seit drei Jahrzehnten. Für die in ihm aufgewachsene jüngere Generation war seine Existenz eine Selbstverständlichkeit. Aber auch diejenigen, die zu der Gründung von 1871 in Distanz gestanden hatten, identifizierten sich nun zunehmend mit ihr. In dem Maß freilich, wie die Zugehörigkeit zum deutschen Nationalstaat ein Teil persönlicher Identität wurde, wuchsen Bedürfnis und Bereitschaft, dessen Entwicklung im Innern wie nach außen mitzugestalten. Bezeichnenderweise freundete sich ein personell verjüngter Linksliberalismus seit der Jahrhundertwende nicht nur mit dem Ausbau der Flotte,
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sondern auch mit einer aktiven deutschen Kolonialpolitik an, die von der älteren Generation linker Liberaler in den 1880er Jahren noch entschieden bekämpft worden war. In der Zentrumspartei vollzogen sich parallel zum generationellen Wandel ähnliche Metamorphosen. Zwar weckten kulturpolitische Auseinandersetzungen, wie um die Wiederzulassung des Jesuitenordens oder das preußische Schulaufsichtsgesetz 1905, mit der Erinnerung an Kulturkampfzeiten gelegentlich immer noch konfessionelle Animositäten. Das verhinderte aber nicht eine zunehmend «nationale» Orientierung des politischen Katholizismus. Je mehr das konfessionelle Sonderbewusstsein verblasste, desto mehr setzte die Zentrumsführung den Appell an das wachsende Nationalgefühl seiner Anhänger dabei auch taktisch im Sinne der Parteieinheit ein, um die angesichts wirtschaftlicher Differenzen auseinanderstrebenden Gruppen katholischer Adeliger, Bürger, Bauern und Arbeiter zusammenzuhalten. Das trug dazu bei, dass die Zentrumsfraktion im Reichstag die Flottenrüstung seit 1906 wie die Linksliberalen geschlossen unterstützte. Auch die Bemühungen des Nachrichtenbüros im Reichsmarineamt sind oft als wichtige, wenn nicht entscheidende Ursache der Wende von Linksliberalismus und Zentrum zur Unterstützung des Flottenbaus gesehen worden. Bald nach seiner Berufung zum Staatssekretär der Marine veranlasste Tirpitz 1897 die Gründung dieser «Abteilung für Nachrichtenwesen und allgemeine Parlaments-Angelegenheiten». Aufgabe der Abteilung war die Verbreitung von Flottenpropaganda unter Medienvertretern und Reichstagsabgeordneten. Hauptsächlich versorgten ihre bis zu fünf hauptamtlichen Mitarbeiter Nachrichtenagenturen, Zeitungsredaktionen und einzelne Journalisten mit Texten. Daneben verfügte das Nachrichtenbüro über einen Etat, mit dem Übersetzungen und Druck von Sachbüchern wie Romanen gefördert wurden. Seit 1899 stellte es Interessierten auch Lichtbilder für Vorträge zur Verfügung. Immer ging es darum, die Öffentlichkeit für einen Ausbau der Marine zu gewinnen. In seinen Lebenserinnerungen lobte Tirpitz die Arbeit seiner Mitarbeiter im Nachrichtenbüro in höchsten Tönen. Ihnen sei «die geistige Mobilmachung der Massen» für die Flotte gelungen. Große Teile der Literatur über Tirpitz und die Flottenpolitik im Kaiserreich folgten dieser Einschätzung eines nicht ganz Unbeteiligten. So urteilte Wilhelm
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Deist in dem Standardwerk zur Propaganda des Reichsmarineamts, Tirpitz’ Flottenpropaganda sei «der erste, über weite Strecken gelungene Versuch» einer Manipulation der öffentlichen Meinung «von oben» gewesen. Die parlamentarischen Mehrheiten für die Flottenvorlagen hätten zwar wohl «eine Reihe verschiedener politischer Gründe» gehabt. Letzten Endes könne es aber «keinen Zweifel daran geben, daß die Informations- und Propagandapolitik des Nachrichtenbüros ganz wesentlich dazu beigetragen hat, die Popularität der Kaiserlichen Marine in einem vor 1897 für unmöglich gehaltenen Ausmaß zu steigern».20 Immer wenn Historiker etwas für über jeden Zweifel erhaben erklären, sollte gerade das Zweifel wecken. Denn statt sich mit solchen Verbalkrücken zu behelfen, könnten sie ja auch Belege liefern. Die blieb Deist allerdings schuldig. Tatsächlich hat er zwar die Tätigkeit des Nachrichtenbüros im Reichsmarineamt breit untersucht, dessen Wirkung und Rezeption aber nicht. Sogar Deist und andere Autoren, die in der Propaganda des Reichsmarineamts ein Paradestück politischer Beeinflussung sehen möchten, kommen zudem nicht darum herum, deren offensichtliche Defizite zu registrieren. Tirpitz und seinen Mitarbeitern gelang es nie, eine gegen die SPD gerichtete innenpolitische «Sammlungsmehrheit» aller anderen Parteien für die Flottenvorlagen zu konstruieren, geschweige denn eine solche für die Finanzierung der Flotte oder auf anderen Politikfeldern zu bewerkstelligen. Oft gingen die im Nachrichtenbüro beschäftigten Marineoffiziere, von denen die meisten kaum Erfahrung in Öffentlichkeitsarbeit hatten, ausgesprochen stümperhaft vor. Mit dem Flottenverein, der in der zweiten Hälfte der 1890er Jahre entstand und breiten Anklang in der Gesellschaft fand, lag das Reichsmarineamt meist über Kreuz. Sieht man genauer hin, bleibt von der These einer gelungenen Manipulation der Deutschen durch Tirpitz und seinen Apparat nicht viel übrig. In Wirklichkeit war eine solche Manipulation gar nicht nötig. Denn eine Begeisterung für die Flotte gab es zwar nicht in allen, aber doch in beträchtlichen Teilen der deutschen Gesellschaft, schon bevor Tirpitz den Plan eines groß angelegten Propagandafeldzugs für die Marine, den er in seinem Gutachten für Wilhelm II. 1896 entworfen hatte, in die Tat umsetzte.
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Als Tirpitz dem Kaiser 1896 seine Ideen für einen Ausbau der Flotte und dessen propagandistische Flankierung in der Öffentlichkeit präsentierte, fand in Berlin gerade eine große Gewerbeausstellung statt. Zwei Attraktionen der Ausstellung zogen besonders viel Publikum an. Eine davon war eine Präsentation der deutschen Kolonien. Hier konnten die Zuschauer etwa den ältesten Sohn Samuel Mahareros bestaunen, der aus Südwestafrika für eine Audienz bei Wilhelm II. angereist war. Die andere Attraktion waren die sogenannten Marineschauspiele. Unter ihren Besuchern war der für seine vernichtenden Verrisse berüchtigte Theater- und Literaturkritiker Alfred Kerr. Doch selbst dieser skeptische Kopf war überaus angetan von dem, was er hier sah. Er schrieb: «Die Marineschauspiele sind sehr fesselnd. Den Eingang zu ihnen bildet ein schiffsartiger Bau. Hinter diesem Riesenfahrzeug ist ein quadratisches Gewässer ausgegraben, dessen Hintergrund besteht aus einer Seefestung und einem Küstenstrich – natürlich aus Pappe – aber sehr täuschend. Auf dem Gewässer bewegen sich in drei Meter langen Nachbildungen deutsche Kriegsschiffe. Es sind bestimmte Geschwader, die hier in zierlichen und geschickten Modellen kopiert sind. Jedes der Kriegsschiffe – vom Admiralsschiff bis zum kleinen Aviso – wird durch einen darin verborgenen, eng eingezwängten Mann gelenkt, und sie schießen, elektrisch getrieben, mit wahrhaft blitzartiger Geschwindigkeit auf der Wasserfläche entlang und führen alle Manöver aus, die bei unserer Marine üblich. Nicht genug daran: Sie schlagen Seeschlachten, zwei Geschwader rücken gegeneinander vor und beschießen sich, es knallt von einem Fahrzeug nach der Breitseite des anderen, piff, paff, bumm, bumm, bumm, dann sieht man den Pulverdampf sich hinüberziehen, das eine Geschwader retiriert, das andere verfolgt. Dann findet ein Angriff auf die Seefestung aus Pappe statt. Ein Geschwader rückt vor, aber aus den Luken des Forts knattert und dampft es heraus, bumm, bumm, ein großes Panzerschiff nähert sich dem Hafeneingang – da krack, krack, krack, explodieren Torpedos, die am Hafeneingang versenkt worden sind: es ist ein seltsamer Anblick, wie der weißgraue Dampf zischend und knallend aus dem Wasser emporfährt wie ein Pulverspringbrunnen; der Panzer aber zieht schwer verletzt, etwas nach der Seite gebeugt, ab.»
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Am Ende der Vorstellung rauschte schließlich die Jacht des Kaisers, «die herrliche weiße ‹Hohenzollern› durch die Fluten, es werden Salven abgegeben, die ganze Luft über dem Wasser wird von Pulverdampf erfüllt, die Täuschung ist wirklich groß, und dazu kann man am Ufer sitzen und Bier trinken. Und diese siegreichen Schlachten werden fünf bis sechs Mal des Tages geschlagen, in Zwischenräumen von zwei Stunden, und kostet jede zum Zusehen nur fünfzig Pfennige.» Tausende Zuschauer kamen so täglich für wenig Geld in den Genuss dieses von Musik begleiteten, ungemein populären Spektakels.21 Wie die Marineschauspiele erfreuten sich auch Filmvorführungen über die Flotte schon Mitte der 1890er Jahre großer Popularität. Das erste gefilmte und in deutschen Kinos gezeigte öffentliche Ereignis war 1895 die feierliche Eröffnung des Kaiser-Wilhelm-Kanals zwischen Nord- und Ostsee. Wenig später nahmen die «Lichtspielhäuser» Filme von Stapelläufen deutscher Kriegsschiffe in ihr Programm auf. Millionen wollten die Aufnahmen sehen. Als der Autor und Kritiker Alfred Döblin 1909 die Geschichte des noch jungen Massenmediums Film analysierte, identifizierte er als dessen beim Publikum beliebteste Objekte Kriminalgeschichten, Rührstücke und Kriegsschiffe. Marineschauspiele und Filmaufnahmen der deutschen Flotte waren kommerzielle Unternehmungen. Sie unterhielten bereits seit geraumer Zeit mit ungemeinem Erfolg die Deutschen, als Tirpitz das Reichsmarineamt übernahm und dort mit dem Nachrichtenbüro seine Propagandaabteilung gründete. Zwar hatte der Admiral auf Anregung Wilhelms II. schon 1894 beim Oberkommando der Marine ein Pressereferat eingerichtet. An Spektakel wie die Marineschauspiele oder das neue Medium Film hatten aber weder Tirpitz noch der Kaiser gedacht, und das blieb auch weiterhin so. Selbst in den Printmedien war die Wirkung ihrer Öffentlichkeitsarbeit wegen Unfähigkeit des Referenten im Oberkommando, Tirpitz’ Abschied von dort im Herbst 1895 und Kompetenzgerangel mit dem Marineamt anfangs praktisch gleich null. Dabei gab es in der Öffentlichkeit durchaus großes Interesse an Informationen in Text und Bild über die Flotte. Doch Tirpitz und seine Pressereferenten brachten es zunächst fertig, die aus eigener Initiative an sie herantretenden Journalisten zu vergrätzen. Von interessierten Zeitungsredaktionen verlangten sie in den ersten Jahren bei Übernahme von Artikeln die Geheimhaltung ihrer Herkunft, jeglichen Verzicht auf
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unautorisierte Kürzungen, aber Übernahme völliger Verantwortung für den Inhalt. Das lehnten die Redakteure meist als unzumutbar ab. Einem Journalisten, der dem Oberkommando die Gründung einer Marinekorrespondenz vorschlug, wurde mit misstrauischer Zurückhaltung begegnet. Selbst das Reichsmarineamt, das immerhin von der Hilfe und Erfahrung der bestens organisierten Presseabteilung des Auswärtigen Amts profitieren konnte, blieb in seiner Öffentlichkeitsarbeit lange hinter der Nachfrage weit zurück: Ein vom Marineamt geförderter Bildband über Unsere Kriegsflotte erschien Ende 1895 in gerade einmal 1000 Exemplaren, die trotz des stolzen Preises von 30 Mark in wenigen Wochen bereits restlos vergriffen waren.22 Nicht Tirpitz’ Flottenpropaganda weckte die Begeisterung der Deutschen für die Flotte. Eher war es umgekehrt: Die «von unten», aus der deutschen Gesellschaft kommende Begeisterung für die Marine schuf eine Nachfrage nach Informationen, Bildern, unterhaltenden Geschichten und Schauwerten, auf die das Reichsmarineamt erst nach großen Anlaufschwierigkeiten reagierte, ohne den Bedarf auch nur annähernd jemals vollständig zu decken. Auch die Entstehungsgeschichte des Flottenvereins illustriert das. Wie das Nachrichtenbüro des Marineamts ist der Verein häufig als effektives Manipulationsinstrument der Reichsleitung gesehen worden. Doch er war alles andere als das. Wie der kommerzielle Erfolg der Marineschauspiele und der ersten Filmaufnahmen deutscher Kriegsschiffe gingen die ersten Initiativen für die Gründung des Flottenvereins der Berufung von Tirpitz zum Staatssekretär und der Einrichtung des Nachrichtenbüros im Reichsmarineamt voraus. Bereits im April 1895 wurde in Baden-Baden ein Verein zur Förderung der deutschen Flotte gegründet, dessen Einzugsbereich allerdings lokal begrenzt blieb. Anderswo organisierten sich Flottenenthusiasten in Ortsgruppen von Kolonialvereinen und des Alldeutschen Verbands, dessen Mitgliederzahlen sich seit Mitte der 1890er Jahre deshalb in kurzer Zeit verdreifachten. Während Tirpitz im Januar 1896 noch seine Ideen für den Flottenbau Wilhelm II. erläuterte, forderte der politische Publizist Hans Delbrück zur Gründung eines Bundes auf, der mit Volksversammlungen und Petitionen auf eine Verstärkung der deutschen Kriegsflotte hinwirken sollte. In der Folge häuften sich die Vorstöße aus der Gesellschaft. Interes-
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sierte Industrielle, Schriftsteller, Lehrer, Verleger, Kolonialbegeisterte, Repräsentanten von Hansestädten, Handelskammern und der Alldeutschen überboten sich in Aktivismus für den Ausbau der Flotte. Anfang 1898 kündigte ein Berliner Fischölfabrikant die Gründung eines populären Reichsmarinevereins an. Tirpitz war daran nicht beteiligt und erklärte eine solche Organisation sogar für «völlig unnötig»; ihr selbsternannter Initiator sei «ein Phantast».23 Andere waren genauso überrascht wie der Staatssekretär, hielten es aber für nötig, durch eine eigene Vereinsgründung die Marinebegeisterung in eine ihnen genehme Richtung zu lenken: Im April 1898 wurde in Berlin der Deutsche Flottenverein ins Leben gerufen. Dahinter standen zunächst hauptsächlich Vertreter von Werft- und Schwerindustrie, die den Berliner Fischölfabrikanten und andere Flottenfans einbinden und für ihre materiellen Interessen instrumentalisieren wollten. Doch das gelang nicht. Rasantes Mitgliederwachstum des Flottenvereins schon in den ersten Monaten ging mit zunehmender Kritik an der Instrumentalisierung durch industrielle Interessenten einher. Diese Kritik kam sowohl aus den Reihen der Mitglieder selbst wie von linksliberaler Seite und radikalen Nationalisten um den Alldeutschen Verband. Friedrich Naumann und andere mahnten eine stärkere Orientierung des Vereins an den Interessen von Unter- und Mittelschichten statt der Großindustrie an, der Aufbau der Marine dürfe nicht auf Kosten des «kleinen Mannes» gehen. Zeitweilig bildete sich eine Konkurrenzorganisation. Schließlich warf der erste Vorsitzende des Flottenvereins das Handtuch, die Industrievertreter wurden aus der Vereinsführung herausgedrängt. Mit den Industriellen hatte Tirpitz sich noch auf eine gemeinsame Basis verständigen können. Mit den neuen Führern des Flottenvereins gelang ihm und Reichskanzler Bülow das dagegen immer weniger. War der Verein von vornherein schon kein Geschöpf des Reichsmarineamts gewesen, so wurde er für dessen Chef nun zunehmend zu einem Ärgernis ersten Ranges. Denn die neue Vereinsführung stellte ständig radikalere Forderungen nach einer Aufrüstung zur See, die beim Kaiser ein geneigtes Ohr fanden, im Reichstag aber unmöglich durchzusetzen waren. Für die Ansprüche des Flottenvereins, des Monarchen und der Parlamentsparteien einen gemeinsamen Nenner zu finden kam der Quadratur des Kreises gleich. Ein erneuter Krach im Verein, der 1908 noch einmal den
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Austausch seines Leitungsgremiums zur Folge hatte, änderte daran nichts Grundsätzliches. In der Gesellschaft fand der Flottenverein ohnehin ein umso größeres Echo, je mehr er das Tempo der Reichsleitung beim Ausbau der Flotte als zu lasch angriff. Neue Anhänger strömten ihm vor allem dann zu, wenn er gegen das aus Rücksicht aufs Parlament notgedrungen vorsichtigere Vorgehen von Tirpitz opponierte. Um 1907 erreichte er nach eigenen Angaben mit mehr als 300 000 Einzelmitgliedern den Höhepunkt seiner Popularität. Die korporativ dem Flottenverein angeschlossenen Verbände dazurechnend, prahlte seine Leitung zu diesem Zeitpunkt sogar mit fast einer Million Mitgliedern. Dabei waren freilich Doppel- und Mehrfachmitgliedschaften eingerechnet. Eine einigermaßen realistische Einschätzung der Zahl aktiver Mitglieder erlaubt die Auflage der Vereinszeitschrift Die Flotte. Diese lag nach 1900 zwischen 270 000 und 280 000. Das blieb hinter den Mitgliedszahlen der Freien Gewerkschaften und der SPD weit zurück, konnte sich aber mit denen der Bauernverbände und anderen berufsständischen oder konfessionellen Organisationen im späten Kaiserreich durchaus messen. Unter den nationalen Agitationsverbänden war der Flottenverein der mit weitem Abstand wichtigste. Dabei hatte er von vornherein einen großen und wachsenden Teil der deutschen Bevölkerung von einer Mitgliedschaft ausgeschlossen. Denn laut Satzung des Flottenvereins war die Voraussetzung dafür ein Bekenntnis zum Monarchismus. Das machte die Aufnahme von bekennenden Sozialdemokraten zu einem Ding der Unmöglichkeit. Wie auch die Agitation des Nachrichtenbüros im Reichsmarineamt unter Tirpitz zielte die des Flottenvereins praktisch ausschließlich darauf, Angehörige des Bürgertums zu gewinnen. Nach den überlieferten Mitgliederlisten von Lokalorganisationen gehörten dem Verein neben Beamten, Angehörigen freier Berufe wie Ärzten und Anwälten, Unternehmern und Ladenbesitzern auch Angestellte, Handwerksmeister und deren Gesellen an, aber keine Industriearbeiter. Die SPD konnte der Flottenpolitik nichts abgewinnen. Ihr Zentralorgan Vorwärts ätzte 1895, sie solle das Volk lediglich von inneren Missständen ablenken. Feiern bei Stapelläufen und die vom Kaiser angeregten Flottenparaden seien nur Versuche, die Massen wie im antiken Rom durch «Brot und Spiele» zu benebeln. In der sozialdemokratischen Hochburg Hamburg nutzten Arbeiter solche Gelegenheiten manchmal,
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um ihre Opposition gegen Staat und Unternehmer auszudrücken. Als etwa 1899 ein auf der Werft von Blohm & Voss gebautes Kriegsschiff zu Wasser gelassen wurde, bewarfen die Beschäftigten vor den Augen Wilhelms II. den Betriebsdirektor mit für die Feier bereitgestellten Schnittchen. 1912 besuchte Wilhelm Hamburg erneut, weil der Stapellauf des damals größten Kreuzfahrtschiffes «Imperator» bevorstand. Die Arbeiter der Vulkanwerft empfingen den Kaiser stumm und mit verschränkten Armen, ohne – wie von ihnen erwartet – zu jubeln oder zumindest mit den Mützen zu winken.24 Auch ein Spitzel der Hamburger Polizei, der um die Jahrhundertwende in sozialdemokratischen Kneipen die Gäste belauschte, registrierte eine kritische Einstellung der Arbeiter zur Flotte. Allerdings war die Kritik eher pragmatisch als prinzipiell. Die Anwesenden stießen sich vor allem daran, dass vom Flottenbau die Großindustriellen profitierten, während die Kosten wohl über neue Steuern die «kleinen Leute» treffen würden. Grundsätzliche Ablehnung einer Rüstung zur See gab es kaum. «Zum Schutz der deutschen Küste» sei eine eigene Marine schon nötig, meinte ein Arbeiter. Ein anderer erklärte: «Mag eine größere Flotte notwendig sein oder nicht, diese Frage mag dahingestellt sein.» Die offizielle Position der SPD, die eindeutig gegen einen Ausbau der Marine Stellung bezog, war unter der Arbeiterschaft an der Parteibasis alles andere als Konsens. Einer der Hamburger Sozialdemokraten machte beim Bier in der Kneipe mit einem Stoßseufzer das entwaffnende Eingeständnis: «Warum läßt sich das Volk nicht bekehren, daß eine große Flotte durchaus nicht nötig ist?»25 Tatsächlich waren es keineswegs allein Angehörige der Ober- und Mittelschichten, die sich bei feierlich begangenen Stapelläufen und Flottenparaden einfanden. Tirpitz’ Leute im Reichsmarineamt und die Polizei versuchten die Anwesenheit von Beschäftigten der Werften zwar auf sorgfältig handverlesene Personen zu beschränken. Doch nicht nur diese vom Kaiser «brave deutsche Arbeiter» und von sozialdemokratischen Zeitungen «Mußpatrioten» und «Staffage» genannten Abordnungen nahmen an den Feiern teil. In Bremen war der Andrang bei Stapelläufen so groß, dass die Versuche der Polizei, den Zugang zu kontrollieren, wiederholt kläglich scheiterten und geladene Gäste auf den Genuss des Spektakels verzichten mussten, weil sie nicht mehr durchkamen. Der Dienstwagen des Präsidenten der Bremer Bürgerschaft blieb 1902 ste-
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cken, weil große Mengen einfacher Zuschauer die Wege zum Ort eines Stapellaufs verstopften. Dem hohen Herrn blieb nichts anderes übrig, als auszusteigen und zu Fuß zu gehen. Umsonst forderte Tirpitz von Senat und Polizei der Hansestadt rigorosere Handhabung von Straßensperren. In Hamburg fuhr 1904 sogar die Feuerwehr mit Wasserwerfern auf, um die Massen von Schaulustigen abzuhalten, nachdem Polizei und selbst Militär bei dieser Aufgabe versagt hatten. Nach Zeitungsberichten bestaunten hier eine halbe Million Menschen eine kombinierte Heer- und Flottenparade – das entsprach der gesamten erwachsenen Bevölkerung Hamburgs, wo bei den Reichstagswahlen im Jahr davor über 60 Prozent der Wähler der SPD ihre Stimme gegeben hatten. Industriearbeiter und Anhänger der Sozialdemokratie besuchten nach Beobachtungen von Zeitgenossen auch in Kiel oder Bremen massenhaft solche Spektakel. Die Motive dafür konnten vielfältig sein. Viele wollten einfach nur feiern. Das wirkliche Spektakel, kommentierte eine Hamburger Zeitung 1904, habe in Gaststätten und Bordellen nach der Parade stattgefunden. Dabei spielte, wie die Polizeispitzel in sozialdemokratischen Kneipen oft notierten, der Stolz auf die eigene Arbeit eine große Rolle. Schließlich waren es die Arbeiter gewesen, die mit ihrem Schweiß die vom Stapel laufenden oder in der Parade vorgeführten Schiffe gebaut hatten. Manche Werftarbeiter gedachten bei Stapelläufen auch still der Kollegen, die beim Bau des Schiffes verunglückt waren. Die meisten aber trieb Neugier an. Flottenparaden und Stapelläufe galten als Sensationen, die es sich lohnte zu «beluken», wie es in Hamburg hieß. Die gigantischen Metallkolosse der Kriegsschiffe allein waren bereits faszinierend. Ihre spektakuläre Präsentation erweckte Begeisterung – und das ganz und gar nicht nur bei Bewunderern aus dem Bürgertum. Selbst die Redakteure sozialdemokratischer Parteizeitungen konnten sich in ihren bemüht kritischen Beschreibungen der «verführerischen und berauschenden» Natur der «Schauspiele» nicht vollständig entziehen. Diese «Wunder» der «modernen Technologie», in Szene gesetzt durch Lichtshows und begleitet durch Vorführungen von Zeppelinen und Flugzeugen, beeindruckten nahezu alle, die ein solch «faszinierendes Spektakel» erlebten. Man kann darüber geteilter Meinung sein, wie weit sich in diesen Spektakeln «traditioneller Pomp» und Prunk mit «moderner Technik» verband.26 Mehrdeutig waren sie und ihre Wirkung jedenfalls auch sonst.
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Flottenparaden und Stapelläufe wurden als Inszenierungen nationaler Macht und Stärke sorgfältig geplant. Für Wilhelm II. und die Reichsleitung waren sie nicht allein Spielzeug und Steckenpferd. Insofern lagen führende Sozialdemokraten und die Redakteure des Vorwärts mit ihrer Kritik gar nicht falsch: Die Flotte diente den regierenden Eliten des Kaiserreichs zumindest auch als Instrument gesellschaftlicher Integration und konservativer Systemstabilisierung. Doch das war nur eine Seite der Medaille. Wie die Teilnehmer an den Flottenspektakeln ihre eigenen Gründe hatten, die keineswegs immer mit denen der Initiatoren «oben» identisch waren, versprachen sich andere gesellschaftliche Akteure ganz anderes von der Flotte. So bezeichnete der Hamburger Bürgermeister die Stapelläufe von Kriegsschiffen pointiert als öffentliche Leistungsschauen eines vorwärtsgewandten, selbstbewussten deutschen Bürgertums. Wie bei anderen Gelegenheiten wurde die Flotte damit zum Ausdruck eines neuen, städtisch-industriellen Deutschland stilisiert. In betonter Distanz zur Sicht der traditionellen Eliten, die das Deutsche Reich regierten, hoben bürgerliche und liberale Akteure den «modernen» Charakter der Marine hervor. Als Produkt der Industrie sollte sie deren globale Handelsinteressen verteidigen – nicht aber die von im Agrarsektor verwurzelten Aristokraten. Einer dieser Aristokraten war Otto Fürst zu Salm-Horstmar, Mitbegründer und langjähriger Vorsitzende des Deutschen Flottenvereins. Der westfälische Adlige engagierte sich darüber hinaus in Agrarverbänden und verschiedenen rechten Parteien. Als rabiater Antisemit förderte er nach dem Ersten Weltkrieg die Übersetzung der gefälschten «Protokolle der Weisen von Zion», die den Gedanken einer jüdischen Weltverschwörung popularisierten, ins Deutsche. In den frühen 1930er Jahren drängte er auf eine Koalitionsregierung zwischen Nationalsozialisten und Deutschnationalen, wie sie 1933 schließlich zustande kam. Doch Flottenpolitik und Flottenbau hatten auch nicht weniger engagierte Anhänger mit diametral entgegengesetzten politischen Überzeugungen. Der linke Liberale Friedrich Naumann war ein ebenso begeisterter Anhänger von Flottenrüstung und Flottenpolitik wie der rechtsradikale Salm-Horstmar. Seit der Jahrhundertwende propagierte Naumann eine Zusammenarbeit von Bürgertum und Sozialdemokratie gegen die das Kaiserreich regierende Aristokratie. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde er erster Vorsitzender der Deutschen Demokratischen Partei, die bis 1932
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Kiel, 3. Januar 1896
in allen Regierungen der Weimarer Republik vertreten war. Und als Mitglied der Nationalversammlung war Naumann einer derjenigen, die die Verfassung der ersten deutschen Demokratie erarbeiteten.
KO N I TZ / W E S T P R E U S S E N, 11. MÄRZ 1900
Konitz / Westpreußen, Stolz11. und März Vorurteil 1900
Die Konitzer Synagoge nach einem Brandanschlag, von Soldaten bewacht (Frühsommer 1900)
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G
egen halb zwei Uhr am Sonntag, dem 11. März, verließ Ernst Winter nach dem Mittagessen das Haus von Bäckermeister Lange am Konitzer Marktplatz. Er wohnte dort zur Untermiete. Winter stammte aus dem dreißig Kilometer entfernten Dorf Prechlau, besuchte aber in der Kreisstadt Konitz das Gymnasium. Bei Langes erhielt er Kost und Logis. Das Mittagessen am 11. März war sonntäglich üppig. Es gab Milchsuppe, Schweinebraten, Kartoffeln und Gurken. Anhand der davon in Winters Speiseröhre erhaltenen Reste sollten Ärzte und Gerichtschemiker später zu bestimmen versuchen, wann der junge Mann bestialisch ermordet worden war. Ernst Winters letzter Tag war für die meisten Konitzer ein ausnehmend schöner. Die Sonne schien. Nicht ein Wölkchen trübte den strahlend blauen Himmel. Zwar stieg das Thermometer nur auf wenige Grad über null, und in den Straßen lag hier und da noch Schnee. Aber für westpreußische Verhältnisse, wo Nachtfröste im Mai und Juni nicht ungewöhnlich waren, konnte man von schönem Wetter reden. «Es war der erste Frühlingssonntag», erinnerte sich Bäckermeister Lange später. Bei fast völliger Windstille, die nur hin und wieder durch ein laues Lüftchen aus dem Süden unterbrochen wurde, hatte die Sonne nachmittags schon viel Kraft.1 Der Sonnenschein lockte nicht nur Ernst Winter, sondern auch viele andere Konitzer nach dem Mittagessen zu ausgedehnten Spaziergängen. Und nicht allein diese. Die Landbevölkerung, die zahlreich zum sonntäglichen Kirchgang in die Stadt gekommen war, nutzte die Gelegenheit ebenfalls zu einem Bummel. Vor allem auf dem Marktplatz und vor den Schaufenstern der Läden in der Danziger Straße sammelten sich die Leute. Verhohlen und mitunter etwas misstrauisch beäugten sich die aus der evangelischen Kirche geströmten deutschsprachigen Handwerker und Beamten einerseits, die polnischen Katholiken andererseits, unter denen Bauern, Gesellen und Arbeiter überwogen. Dazwischen mischten sich die Minderheiten der deutschsprachigen Katholiken und der Juden.
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Die meisten Blicke zogen allerdings die Kaschuben auf sich. Die Angehörigen dieser kleinen slawischen Volksgruppe fanden in ihren farbenfrohen Sonntagstrachten immer wieder viel Aufmerksamkeit in der Stadt: die kaschubischen Frauen mit ihren «in den buntesten Farben unter Verwendung von Tulpen-, Herz- und Kreismotiven gestickten, wertvollen Häubchen, […] mit Goldstichfaden auf schwarzem oder rotem Samt ausgeführt», während die Männer ein rotes Seidentuch mit weißen oder grünen Blumen und auffällige Pelzmützen aus Lammfell trugen.2 In diesem bunten Treiben fiel Ernst Winter nur wenigen auf. Fünf Menschen konnten sich später mit Sicherheit erinnern, ihn am Nachmittag des 11. März gesehen zu haben. Vier davon waren Frauen. Bei der fünften Person handelte es sich um Zigarrenhändler Fischer, in dessen Geschäft auf der Danziger Straße sich Winter gegen zwei Uhr mit etwas zu rauchen eindeckte. Gegen vier sah ihn die Inhaberin eines Textilwarenladens auf derselben Straße durch die Menschenmenge flanieren. Eine 22-jährige Bürgerstochter erkannte ihn gegen halb sechs, als sie von einem langen Spaziergang im Stadtwald zurückkam, unter dem wuchtigen Schlochauer Tor, einem Teil der mittelalterlichen Stadtbefestigung, wo zu dieser Zeit immer noch «ziemliches Gedränge» herrschte. Klara Spigalski, eine 21 Jahre alte Arbeiterin, die Winter aus der Tanzschule kannte, und ihre ein Jahr jüngere Freundin Martha Streu sahen den jungen Mann gleich zweimal: zunächst kurz vor fünf Uhr stadtauswärts gehend; das letzte Mal dann gegen Viertel vor sechs, als er wieder zurückkam. Dass bis auf einen alle Zeugen Frauen waren, und hauptsächlich junge Frauen, kam nicht von ungefähr. Ernst Winter war offensichtlich jemand, der weibliche Blicke auf sich zog. Martha Streu drehte sich nach ihm um und fragte ihre Freundin, wer das sei. Andere beschrieben ihn als «großen hübschen Mensch», der Frauen auffiel. Dienstmädchen, die Ernst Winter in Gesellschaft anderer Gymnasiasten sahen, erkundigten sich verstohlen bei diesen, wer denn ihr Freund sei.3 Zigarrenhändler Fischer, dem einzigen Mann unter den Zeugen, mochte Winter aufgefallen sein, weil dieser bei ihm einkaufte. Oder aber aus einem anderen Grund. Denn Fischer hatte in Konitz den Ruf, sich für junge Männer nicht nur als Kunden zu interessieren. Gerüchte liefen in dieser Stadt freilich viele um. Um sein äußeres Erscheinungsbild war Ernst Winter sehr bemüht.
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Auf Kleidung legte er besonderen Wert. Bei seinem letzten Spaziergang trug er einen dunkelblauen Anzug mit passender, sorgfältig gebundener Seidenkrawatte, darüber einen dunkelblauen Webpelzmantel mit Samtkragen und im Futter eingesticktem Monogramm, ein bläuliches Seidenhalstuch mit roten Tupfen, und auf dem Kopf einen schwarzen Filzhut mit vergoldeten Knöpfen an der Krempe. Verlässt man sich auf spätere Aussagen, machte Ernst Winter aber auch unbekleidet eine gute Figur. Im Schwimmbad fiel er einem Bademeister auf, «weil er mir so kräftig vorkam». Andere Zeugen beschrieben ihn ebenfalls als «breitschultrig».4 Sein Vater erinnerte sich, er habe den Sohn beim Waschen beobachtet, als dieser über Neujahr 1900 die Eltern in Prechlau besuchte, und die Mutter stolz auf den kräftigen Oberkörper des Jungen hingewiesen. Der junge Winter galt als guter Schwimmer. Er war aktives Mitglied im Konitzer Turnverein und fuhr auch gerne Rad. Im Winter lief er oft Schlittschuh auf dem zugefrorenen Mönchsee, an dem Konitz lag. Nicht zuletzt war er ein begeisterter Tänzer. In den Tanzstunden und auf dem Eis gab es reichlich Gelegenheit zu Kontakten mit Mädchen und jungen Frauen. Wie Winter auf deren offensichtliches Interesse an ihm reagierte, darüber liefen in Konitz zahlreiche Gerüchte um. Manche seiner Mitschüler beschrieben ihn als eher «verschlossen» und «schweigsam». Sein Ruf allerdings war ein ganz anderer. In der Stadt galt er weithin als Frauenheld. Man sagte ihm Verhältnisse mit mehreren Mädchen nach, die als die besten Partien unter dem deutschsprachigen Teil der Einwohnerschaft galten: mit Meta Caspari und Selma Tuchler, den Töchtern der reichsten jüdischen Kaufleute der Stadt, und besonders auch mit Anna Hoffmann, der gerade 14-jährigen Tochter des Obermeisters der Konitzer Fleischerinnung.5 An diesem Ruf als Casanova, der jugendlichem Imponiergehabe entgegenkommen mochte, strickte der junge Mann selbst gelegentlich mit. Einem 16-jährigen Bekannten gegenüber, der mit ihm einen Spaziergang machen wollte, brüstete er sich angeblich einmal damit, «er müsse erst zu den Mädels vögeln gehen». Auf die Frage des Bekannten, «wohin er vögeln gehe», nannte Winter die Namen von gleich zwei Mädchen. Beide stammten aus wohlbehüteten bürgerlichen Verhältnissen, die jüngere war damals gerade einmal 15 Jahre alt. Der Bekannte hielt die Erzählungen über intime Beziehungen Winters zu Bürgertöchtern denn auch für bloßes Gerede. Geglaubt habe er ihm aber, dass Winter mit
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Arbeiterinnen «geschlechtlich verkehre», die ihren Lohn als Gelegenheitsprostituierte aufbesserten.6 Nur das sahen auch die Ermittlungsbehörden für erwiesen an. Jedenfalls herrschte in Konitz nach Ernst Winters zunächst spurlosem Verschwinden vielfach die Meinung, dass ein Zusammenhang mit den ihm nachgesagten Frauengeschichten bestand. Diese Überzeugung prägte auch die Wahrnehmung eines älteren Ehepaars, das am 11. März abends gegen acht Uhr die Danziger Straße herunterging. Vom Schlochauer Tor kommend, waren Herr und Frau Gehrke zwei jungen Männern gefolgt. Plötzlich bog einer der beiden Männer in eine Seitenstraße ab, um ein dort an der Ecke stehendes Mädchen zu «necken». Einige Tage später, die Nachricht von Winters Verschwinden und Ermordung hatte sich mittlerweile in der Stadt verbreitet, kam das Ehepaar zur Polizei. Der von ihnen in verfänglicher Situation gesehene junge Mann, sagten sie aus, sei kein anderer als Ernst Winter gewesen. Auf kritische Nachfrage der Polizeibeamten erklärten sie kategorisch, sie hätten ihn «genau erkannt». Gerade der Vorfall mit dem Mädchen habe sie «besonders sicher» gemacht. Doch sie hatten sich geirrt. Denn um acht Uhr war Winter, darin stimmten alle Ärzte und Gerichtschemiker überein, definitiv schon tot.7 Die verzerrte Wahrnehmung der beiden Gehrkes war offenbar durch Ernst Winters Ruf als Kleinstadtcasanova beeinflusst worden. Das Ehepaar hatte ein bestimmtes Bild von Winter im Kopf. Dass dieser nach seinem Verschwinden in aller Munde war, aktualisierte das Bild. Der junge Mann, den beide gesehen hatten, war tatsächlich jemand ganz anderes gewesen, wie die Polizei herausfand. Aber er hatte sich so verhalten, wie es das Vorurteil Winter zuschrieb – also war es Winter. Solche Vorurteile oder, wie Psychologen und Soziologen sich ausdrücken, stereotype Fremdbilder spielen eine große Rolle in allen zwischenmenschlichen Beziehungen. Sie mögen mehr oder weniger zutreffend, gelegentlich auch ganz falsch sein. Sie mögen auf bloßem Hörensagen oder intimer Kenntnis beruhen: Gegenwärtig sind sie immer. Wir alle sortieren Menschen nach unserem ersten Eindruck bewusst oder unbewusst in geistige «Schubladen» ein. Einzelne werden dabei als Angehörige bestimmter Gruppen klassifiziert. Wir sortieren unsere Mitmenschen etwa nach Geschlecht, Alter, Körpereigenschaften, nach Sprache, Religion oder sozialer Schicht. Wir etikettieren sie zum Beispiel
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als Frauenhelden und jugendliche Wüstlinge, als gutbehütete Bürgermädchen oder als Schlampen, als Angeber oder als aufrichtig, als homosexuell, als Juden. Dieser erste Eindruck kann im Laufe der Zeit differenziert und auch korrigiert werden. In Zeitabschnitten und Situationen, die sie als bedrohlich empfinden, neigen Menschen allerdings dazu, sich besonders stark auf einmal etablierte Fremdbilder zu verlassen. Für Konitz, wo man seit der Ermordung Ernst Winters mit dem Gefühl leben musste, dass ein grausamer Mörder unerkannt durch die Stadt streifte, traf das 1900 mit Sicherheit zu. Unter Psychologen gelten stereotype Fremdbilder nicht unbedingt als etwas Negatives. Denn durch Abgrenzung von anderen werden individuelle und kollektive Selbstbilder gestärkt. Diese geben Identität und damit ein Gefühl von Sicherheit. Wer sich der eigenen Identität sicher ist, kann für andere offener sein. Fremdbilder dienen zudem einer Ökonomie der Wirklichkeitsverarbeitung. Die Menge an Informationen, die ein Mensch verarbeiten kann, ist begrenzt. Je komplexer die Umwelt, desto größer ist deshalb die Notwendigkeit, Wahrnehmungen zu filtern und dadurch Komplexität zu reduzieren. Stereotype Fremdbilder können also für Einzelne und Gruppen durchaus hilfreich sein. Sie können auch harmlos sein. Das war der Fall beim Ehepaar Gehrke. Ihre Wahrnehmung am Abend des 11. März war durch Vorurteile verzerrt, doch sie blieb ohne weitere Folgen. Die vorurteilsbeladene «Etikettierung» anderer kann aber auch eine gefährliche Dynamik entwickeln und Schritt für Schritt das Zusammenleben vergiften. Das war, was in Konitz geschah. Denn je länger Ernst Winters Tod unaufgeklärt blieb und die Angst wuchs, desto mehr spielten durch Fremdbilder und Gruppenidentitäten beeinflusste Gerüchte eine verheerende Rolle in der Stadt. Am Morgen des 12. März entdeckte Bäckermeister Lange, dass Ernst Winters Bett unberührt war. Zunächst nahm er an, der junge Mann habe bei Konitzer Freunden seiner Familie übernachtet, die er öfter besuchte. Am späten Vormittag fragte er dort nach, doch niemand hatte Winter gesehen. Mittlerweile sehr beunruhigt, telegraphierte er an die Eltern des Jungen, die abends in Konitz eintrafen. Bei der Polizei wurde eine Vermisstenanzeige erstattet. Aber die Konitzer Polizei, wo man schon lange über Personalmangel klagte, der gerade durch Krankheitsfälle noch verschärft wurde, unternahm nicht viel.
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Am nächsten Tag, Dienstag, den 13. März, nahm Lange den niedergeschlagenen Vater des jungen Winter auf einen Spaziergang mit, «damit er auf andere Gedanken komme». Aber Johann Winter wollte nur nach Spuren seines Sohnes suchen. Er schlug vor, zum Ufer des Mönchsees zu gehen. Vielleicht hatte sein Sohn versucht, am Sonntagabend auf dem Eis Schlittschuh zu laufen, und war wegen des Tauwetters eingebrochen? Doch die Eisdecke des Sees glitzerte glatt und unversehrt im Sonnenschein. Nur wo in den See die Holzkonstruktion reichte, an der im Sommer Wäsche gewaschen wurde, war das Eis aufgetaut. Dort bemerkte Lange plötzlich einen großen Gegenstand im seichten Wasser liegen, eine Handbreit unter der Oberfläche. Gemeinsam wuchteten die beiden Männer ihn auf die Holzbretter. Es war ein Paket, sorgfältig eingeschlagen in braunes Packpapier und mit einem fast fingerdicken Bindfaden fachmännisch verschnürt. Rötlich gefärbtes Wasser perlte davon ab und sickerte zurück in den See. Mit der Spitze seines Spazierstocks bohrte Lange ein Loch in das Paket, fasste mit dem Finger hinein, um das Loch zu erweitern, und sah etwas Weißes, «wie weiße Haut und Fleischteile». Mehr rötliche Flüssigkeit sickerte aus dem Paket. Lange fragte den alten Winter nach einem Messer, um den Bindfaden durchzuschneiden, doch der hatte auch keines dabei. Mittlerweile hatten einige andere Leute sich um die beiden Männer gesammelt: eine Handvoll Frauen mit Kindern und zwei in der Nähe tätige Arbeiter. Schließlich fand sich ein Messer; der Bindfaden wurde zerschnitten und das Packpapier aufgerissen. Ein sorgfältig zugenähter Leinensack kam zum Vorschein. Auch dieser wurde geöffnet. In dem Sack war ein nackter menschlicher Oberkörper, unter den Rippen abgesägt, ohne Kopf, ohne Hals, ohne Arme und Beine. «Das ist mein Junge!», schrie der alte Winter auf. Er hatte recht.8 Der grausige Fund sollte Konitz noch lange beschäftigen. Mehr als ein halbes Jahr später erzählten Lange und Winter ihre Erinnerungen daran vor Gericht. Ihre beiden Versionen der Geschichte stimmten in den großen Linien und auch den meisten Einzelheiten überein. In einem Punkt wichen sie allerdings auffallend voneinander ab. Denn beide Männer behaupteten, selbst das Paket geöffnet und als Erster in den Sack hineingesehen zu haben. An der Berliner Universität erforschten Kriminologen etwa gleichzeitig zum ersten Mal, wie solche Divergenzen und offensichtlichen Ver-
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zerrungen der Erinnerung zustande kommen. Ihre Experimente unternahmen sie mit «gebildeten Personen im aufnahmefähigsten Alter», bei denen man wegen ihres Berufs eine «gewisse Übung in der Beobachtung und in der Selbstkritik des Gedächtnisses erwarten» könne. Sie kamen zu einem Ergebnis, das bis heute in unzähligen psychologischen Versuchsanordnungen mit den verschiedensten Gruppen von Menschen immer wieder bestätigt worden ist: Die fehlerlose Erinnerung ist «nicht die Regel, sondern die Ausnahme». Das Gedächtnis spielt selbst den geübtesten Beobachtern Streiche, und das nach bestimmten Regeln. So passt sich die Erinnerung an das «normale, oft Erlebte» an. Mit anderen Worten: Sie wird durch stereotype Vorurteile verändert.9 Was aber, wenn die erinnerte Situation etwas völlig Neues ist? Die wenigsten Menschen haben Erfahrungen mit dem Auspacken von menschlichen Leichenteilen. Auch in solchen Fällen scheint die Deformation von Wahrnehmungen in der Erinnerung bestimmten Regeln zu folgen. Je weiter das erinnerte Ereignis zurückliegt, desto mehr fallen in Erzählungen darüber die für unwichtig gehaltenen Details weg. Die Darstellung spitzt sich auf den subjektiv als zentral angesehenen Punkt zu, und der Erzähler verändert diesen entsprechend seiner persönlichen Interessen. Und jeder Mensch hat ein Interesse daran, selbst im Mittelpunkt zu stehen. Kriminalisten können ein Lied davon singen, wie das allen Menschen eigene Geltungsbedürfnis ihre Arbeit erschwert. Sie sangen es auch im Mordfall Ernst Winter, freilich in weniger wissenschaftlichen Tönen als die Kriminologen der Berliner Universität. Erst Dutzende, schließlich Hunderte von Menschen wandten sich an die Konitzer Polizei, um dort zu erzählen, was sie gesehen, gehört, gerochen, geträumt oder aus umlaufenden Gerüchten entnommen hatten. Alle glaubten, etwas für die Aufklärung des Mordes wichtiges zu wissen. Die meisten wurden zu ihrem großen Ärger von den Beamten barsch abgefertigt, das seien doch «Quatschereien», die nichts zur Sache beitrügen.10 Je länger der Tod Winters zurücklag, desto mehr Leute wollten entweder das Opfer an seinem Todestag zuletzt gesehen oder ihn vorher in Gesellschaft eines vermeintlichen Mörders bemerkt haben. Wo in solchen Fällen Ermittlungen durchgeführt wurden, entpuppten die Beobachtungen sich am Ende oft wie beim Ehepaar Gehrke als Folge von Verwechslungen. Viele hatten wie die Gehrkes Personen in bestimmten Situationen gesehen. Erst nach Bekanntwerden des Mordes an Winter
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verdichtete sich bei ihnen der Eindruck, dieser sei der Gesehene gewesen. In den meisten Fällen wurden die damit wichtig gewordenen eigenen Wahrnehmungen zunächst genüsslich vor Bekannten und Nachbarn ausgebreitet. Erst später ging man zur Polizei – wenn überhaupt. Sehr häufig erfuhren die Ermittlungsbehörden erst über Dritte davon. Wer in Konitz 1900 etwas Neues über den mysteriösen Mordfall zu erzählen hatte, konnte allgemeiner Aufmerksamkeit sicher sein. Einige nutzten auch die Möglichkeit, mit offensichtlich erfundenen Geschichten im Rampenlicht zu stehen. Manche präsentierten so lange stets neue Enthüllungen, die immer absurder und widersprüchlicher wurden, bis schließlich selbst die gutgläubigsten Zuhörer das Vertrauen in sie verlieren mussten. Einzelne Aussagen hatten wenig oder nichts mit dem Mordfall zu tun, aber umso mehr mit denjenigen, die sie machten. Ein besonders bezeichnendes Beispiel war die Geschichte der Mathilde Rutz. Ende 1900 wurde sie vor Gericht als Zeugin vernommen über die Glaubwürdigkeit ihrer Nachbarin Anna Roß. Anna Roß hatte gegen den jüdischen Metzger Adolf Lewy den Vorwurf erhoben, im Keller seines Hauses sei Ernst Winter getötet worden. Dabei erzählte die 46-jährige Mathilde Rutz eine für die Fragestellung völlig irrelevante, aber für den Stil ihrer ganzen Aussage typische Geschichte: Sie selbst habe einmal abends mit ihrem halbwüchsigen Sohn bei Lewy Kartoffeln in den Keller gebracht. Plötzlich sei die von ihm gehaltene Lampe ausgegangen, «und da kriegte mich der Lewy zu packen und drückte mich, und ich sagte: Was wollen Sie? Ich fing an zu schreien. Er sagte: Sagen Sie nichts meiner Frau; ich will Ihnen auch ein Stückchen Fleisch abschneiden. Ich sagte: Führen Sie mich aus dem Keller, ich will nichts haben […] Hier an die Brüste packte er mich und sagte: Kommen Sie, ich will mit Ihnen Spaß haben. Ich sagte: Ich bin nicht zum Spaß da, ich will hinaus.» Lewy habe sie zum Stroh in einer Ecke des Kellers ziehen wollen, fabulierte Rutz weiter, doch sie «habe ihm die Hand zurückgeschleudert von mir. Da kam mein kleiner Junge, faßte mich an die Hand und führte mich aus dem Keller heraus.»11 Die Geschichte war nicht nur für die Ermittlungen im Fall Winter völlig irrelevant. Sie war auch so unglaubwürdig, dass die Ermittler, die im Laufe des Jahres schon vielfach Ähnliches gehört hatten, Ende 1900 mit einem Achselzucken über sie hinweggingen. Nicht nur galt Adolf Lewy unter seinen Nachbarn als «stiller, friedlicher Mensch», Mathilde
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Rutz unter ihren jedoch als das genaue Gegenteil: Nach den Aussagen mehrerer Zeugen trank sie gerne einen über den Durst, prügelte sich mit ihrem Mann und log. Nicht nur war es sehr unwahrscheinlich, dass Lewy sie in Gegenwart ihres Sohnes zu vergewaltigen versuchte. Lewys wohnten auch in «engen Verhältnissen»; direkt über dem Keller hielten sich im Wohnzimmer Frau Lewy und ihre beiden Söhne Moritz und Hugo auf, als Frau Rutz die Kartoffeln brachte, und dass Adolf Lewy sie noch attackiert haben sollte, nachdem ihr Geschrei schon seine ganze Familie hätte alarmieren müssen, war ausgeschlossen.12 Für die ermittelnden Kriminalisten waren solche Geschichten «Unsinn», «Märchen» und «Quatsch».13 Für ihre Erzähler waren sie dagegen Ausdruck eines Bedürfnisses nach Selbstdarstellung und Anerkennung. Die offensichtlich erfundene Geschichte von Mathilde Rutz stellte einen Extremfall dar. Ihr einziger Zweck war, sich selbst als Heldin einer eigenen Erzählung am vermeintlichen Schauplatz des Verbrechens ins rechte Licht zu rücken. Aber auch die Aussagen von Bäcker Lange und dem alten Winter oder dem Ehepaar Gehrke blieben vom Geltungsbedürfnis ihrer Erzähler nicht unbeeinflusst. Geltungsbedürfnis ist allen Menschen eigen, und die «Konitzer Affäre» bot viele Gelegenheiten, es zu befriedigen. Wie jede Form von Sprache hatten die zu Zeugenaussagen geronnenen Geschichten und Gerüchte in Konitz zwei Funktionen. Zum einen dienten sie der Übermittlung von Informationen. Zum anderen aber konnten die Erzähler durch sie Aufmerksamkeit erregen, ihre Einsamkeit überwinden, soziale Beziehungen aufbauen oder pflegen. Für diesen Aspekt blieben die Ohren der Ermittlungsbeamten taub. Weil sie nur auf die inhaltliche Seite der Botschaft lauschten, mussten ihnen die emotionalen Zwischentöne als irrationaler Missklang erscheinen. Ihnen entging, dass Kommunikation nicht immer und unbedingt persönliche Überzeugungen ausdrückt. Ebenso und manchmal ausschließlich dient sie dazu, gesellschaftliche Geltung zu erreichen. Und wer diese erreichen will, der tut gut daran, über Themen zu reden, die möglichst alle interessieren. Der blutige Fund, den Bäckermeister Lange und Johann Winter am Mönchseeufer machten, interessierte alle. Innerhalb weniger Minuten «durcheilte die Nachricht gleich die ganze Stadt». Eine beständig anwachsende Menschenmenge drängte sich um Lange und Winter und ver-
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suchte einen Blick auf den Torso zu erhaschen. Einige rannten zu den nur einige Dutzend Meter entfernten Schlachterläden von Gustav Hoffmann und Adolf Lewy in der Danziger Straße und liehen sich Fleischerhaken, um das Ufer nach weiteren Leichenteilen abzusuchen. Andere benutzten Spazierstöcke und Heugabeln. Zunächst wurden nur Blechteile und anderer Müll aus dem Wasser gefischt. Schließlich aber fand jemand etwas, das auf den ersten Blick «wie ein Schinken» aussah. Es war das Becken des Ernst Winter, das sein Mörder säuberlich vom Oberkörper getrennt und unverpackt in den See geworfen hatte. Mittlerweile waren der Bürgermeister, der in Konitz auch als Polizeichef fungierte, und der Erste Staatsanwalt am Konitzer Landgericht an der Fundstelle eingetroffen. Der Bürgermeister untersuchte die Leichenteile. Dabei stellte er fest, dass das Rückgrat fachmännisch durchsägt war. «Das kann nur ein Schlächter getan haben», sagte er.14 Aber auch andere hatten schon ihre Theorien über die Identität des Täters. Unter den Schaulustigen, die sich am Nachmittag des 13. März sammelten, befand sich der pensionierte ehemalige Sergeant Preuß der Konitzer Polizei. «Ich hörte von der Zerstückelung der Leiche», erinnerte er sich später, «und da ich von gleichartigen Fällen aus Xanten und Skurz früher gelesen hatte und dort Juden der Tat verdächtigt worden waren, so kam ich sogleich auf den Gedanken, daß auch hier Juden die Täter sein würden.» Preuß teilte das dem anwesenden Polizeikommissar mit, der deshalb den Bürgermeister ansprach. Der rief den pensionierten Sergeanten herbei und fragte ihn, was er wüsste. «Das müssen die Juden getan haben», sagte der Sergeant. «Weibergeschwätz», entgegnete der Bürgermeister mit einer abwehrenden Handbewegung. «Nun auch männlich», warf der Staatsanwalt ein.15
Anna Roß, Meistererzählerin des Ritualmordgerüchts Anna Roß, Meistererzählerin des Ritualmordgerüchts
Die Vorstellung, dass Juden Christen ermorden würden, um ihr Blut zu rituellen Zwecken zu verwenden, ist in Europa seit dem Hochmittelalter verbreitet. Die Wurzeln des Ritualmordglaubens liegen wahrscheinlich in einer Projektion christlicher Glaubensvorstellungen auf das Juden-
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tum. Christen interpretieren die Kreuzigung unter anderem als rituelles Opfer. Sie gedenken der Kreuzigung jeden Sonntag, in jeder Messe, in jedem Credo. Ostern stellen sie die Kreuzigung teilweise auch in Passionsspielen nach. Besonders in der christlichen Volksreligiosität verankerte sich dadurch die Vorstellung, dass die jüdischen «Gottesmörder» dasselbe tun würden. Das jüdische Pessachfest erschien als Gegenstück der etwa zeitgleichen christlichen Osterfeiern. Im Frühjahr wurden Ritualmordgerüchte deshalb besonders häufig laut. Besonderes Echo fanden sie immer dann, wenn nicht aufzuklärende Mordfälle in Dörfern und Kleinstädten ein Klima von Furcht und gegenseitigen Verdächtigungen heraufbeschworen. Genau das war in dem 50 Kilometer von Konitz entfernten westpreußischen Dorf Skurz schon 1884 geschehen. Ein ähnlicher Fall im niederrheinischen Xanten hatte 1891 im ganzen Deutschen Reich großes Aufsehen erregt. Wer das Ritualmordgerücht in Konitz zuerst aufbrachte, ist unklar. Vielleicht entstand es auch an mehreren Stellen unabhängig voneinander. In den ersten Tagen nach dem bizarren Fund der Leichenteile am Mönchsee köchelte die Konitzer Gerüchteküche jedenfalls noch auf kleiner Flamme. Zwar wurden schon seit dem Verschwinden Winters hier und da Vermutungen darüber laut, was mit dem jungen Mann geschehen sei. An Biertischen, Marktständen und über Gartenzäune hinweg tauschte man Theorien aus. Darunter war auch das Ritualmordgerücht. Aber noch eine Woche nach dem Fund von Winters Rumpf wurde «der Verdacht gegen die Juden erst vereinzelt ausgesprochen».16 Einwohner und Ermittler arbeiteten zudem gemeinsam. Polizei und Staatsanwaltschaft ertranken fast in einer Flut von weitgehend wertlosen Hinweisen aus der Bevölkerung. Das änderte sich jedoch, je mehr die Ermittlungen im Fall Winter zu einem Fiasko wurden. Denn die Arbeit von Polizei und Staatsanwaltschaft blieb nach dem Fund der Leichenteile lange planlos und unkoordiniert. Die gerichtsmedizinische Untersuchung wurde zuerst unnötig verzögert und dann stümperhaft durchgeführt; Beweisstücke gingen verloren; Vernehmungen wurden nicht protokolliert und Hausdurchsuchungen bei den Hauptverdächtigen schlampig gemacht. Die Ermittlungsbeamten in Konitz mussten sich von ihren Vorgesetzten schließlich den Vorwurf gefallen lassen, «dass im Anfange die Sache verfahren worden sei».17
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Die Einwohner verloren deshalb bald das Vertrauen in die Ermittler. Die Flut an Hinweisen ebbte ab. Sie wurde zu einem Rinnsal, das zeitweise fast ganz versiegte. Stattdessen schwoll der Strom an Geschichten, die sich die Konitzer untereinander erzählten, immer weiter an. «Die mannigfaltigsten Gerüchte tauchen täglich auf», stellte das Konitzer Tageblatt Ende März fest.18 In dem Maß, in dem die Bevölkerung das Vertrauen in die öffentlichen Ermittlungen verlor, wurde die Gerüchteküche zu einer Gegenöffentlichkeit. Sie etablierte sich als ein alternatives Forum der Untersuchung des Mordfalls. Weil eine offizielle Aufklärung ausblieb, begannen das Ritualmordgerücht und andere Theorien über die Identität des Täters zu blühen. Mit ihren Geschichten füllten die Konitzer die von den Ermittlern gelassene Lücke. Wenn es eine «Meistererzählung» des Ritualmordgerüchts in Konitz gab, dann die von Anna Roß zum Besten gegebene Geschichte. Danach hatten am Abend des 11. März die Juden der Stadt Ernst Winter im Keller der Fleischerei von Adolf Lewy rituell abgeschlachtet. Das war, als Roß es seit Mitte des Monats zu erzählen begann, zwar schon nicht mehr ganz neu. Es war bis dahin freilich nur als Hörensagen verbreitet worden. Und die von Anna Roß erzählte Geschichte verlieh der alten Geschichte eine neue Qualität. Denn sie behauptete nichts weniger, als Ohren- und Augenzeuge des Mordes gewesen zu sein. Das inspirierte viele andere – allen voran ihren Schwiegersohn Bernhard Masloff, der die Erzählung seiner Schwiegermutter bald aufgriff, noch weiter ausschmückte und als seine eigene ausgab. Die Geschichten von Roß und Masloff waren ebenso unappetitlich wie ihre Erzähler ungebildet. Anna Roß konnte weder lesen noch schreiben. Doch das machte die 43-Jährige mit großer Beredtheit wieder wett. Die Frau sei «nicht fähig, ohne Umschweife zu reden», meinte selbst ein ihr und der antisemitischen Sache wohlgesonnener Zeuge. Mehrfach vorbestraft und ohne Vermögen, verdiente sie ihren Lebensunterhalt als Vermittlerin von Dienstboten für besser gestellte Konitzer, oder sie putzte und wusch selbst für diese. Ihr 24 Jahre alter Schwiegersohn Bernhard Masloff arbeitete mal hier, mal dort oder längere Zeit auch gar nicht. Am Wochenende betrank er sich öfter bis zur Bewusstlosigkeit und konnte dann montags nicht zur Arbeit erscheinen. Manchmal blieb, wie sein in dieser Hinsicht ebenfalls nicht gerade unbeschlagener Schwager es ausdrückte, «etwas bei ihm kleben»: Wegen kleiner Diebstähle war
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Masloff deshalb wie seine Schwiegermutter mehrfach vorbestraft. Bei ihm kam noch eine Haftstrafe wegen vorsätzlicher Körperverletzung dazu. Das «Lügengewebe ersten Ranges», das beide in Konitz 1900 spannen, brachte ihnen Ende des Jahres schließlich Zuchthausstrafen wegen Meineids ein.19 Was den Geschichten von Roß und Masloff an Wahrheit fehlte, machten sie mit spektakulären Elementen wieder mehr als gut. Kaum jemand in Konitz log so schamlos wie die Gesindevermittlerin und ihr Schwiegersohn. Keiner wurde dafür aber auch mit so großer Aufmerksamkeit belohnt. Doch was Roß und Masloff schließlich vor einem gewaltigen Publikum erzählten, entstand zunächst langsam und im Kleinen. Ihre Geschichten hatten eine eigene Geschichte. Ihr Lügengewebe wuchs, während die beiden es gelegentlich gemeinsam, häufiger aber gegeneinander erzählten. Neben dem Echo, das sie fanden, erklärt gerade ihre Rivalität als Geschichtenerzähler viel über den Entstehungsprozess der Geschichten. Es lohnt sich, diesen Prozess aus der komplizierten Quellenlage so weit wie möglich zu rekonstruieren. Am Anfang der Geschichten stand ein Schweigen. Am Mordtag, dem 11. März, kam Anna Roß abends zwischen sieben und acht Uhr in das Haus des jüdischen Metzgers Adolf Lewy in der Danziger Straße. Anschließend ging sie weiter zu einer Bekannten. Drei Stunden, von acht bis elf Uhr, saßen die beiden Frauen zusammen am warmen Ofen. Dabei sagte Roß auch, Frau Lewy habe sie um Vermittlung einer Haushaltshilfe gebeten. Sonst aber erzählte sie ihrer Bekannten von dem Besuch bei Lewys während der gesamten drei Stunden nichts. Zwei Tage später wurden die ersten Leichenteile im Mönchsee gefunden. Der Tag darauf, Mittwoch der 14. März, war Markttag in Konitz. Anna Roß mischte sich unter die Einkaufenden und ließ wissen, dass sie eine Haushaltshilfe für Frau Lewy suche. Doch ihre Bemühungen blieben erfolglos. Auf dem Markt wurde bereits geraunt, «der Mord sei bei Lewys passiert».20 Aber war sie nicht selbst am Abend des Mordes dort gewesen? Jetzt wollte sie dort plötzlich doch etwas bemerkt haben, was sich zu erzählen lohnte. Nach ihrer eigenen späteren Aussage sagte Roß am 15. März zu Hause ihren zwei verheirateten Töchtern und den Schwiegersöhnen Masloff und Berg, am Mordtag habe sie bei Lewys im Keller etwas «rumpeln hören».21 Von verdächtigen Wahrnehmungen dort erzählte sie am 19. März auch ihrer Vermieterin und deren Töchtern. Die
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Vermieterin war keine andere als Mathilde Rutz, die später von einer versuchten Vergewaltigung durch Adolf Lewy phantasierte. Nun war zwar Mathilde Rutz eine notorisch unzuverlässige Zeugin, die auch von der Erzählung der Anna Roß eine recht blumige Schilderung gab. In diesem Fall bestätigten die Aussagen ihrer Töchter jedoch, dass Roß im Hause Rutz tatsächlich eine Geschichte zum Besten gegeben hatte. Was sich als gemeinsamer Nenner aus den Zeugenaussagen darüber herausschälte, war Folgendes: Als Roß zu Lewys gekommen war, traf sie angeblich dort nicht nur Frau Lewy, sondern auch deren Schwägerin an. Beide erschraken; «es war ihnen anzusehen, daß sie etwas vor hatten.» Dann hörte Roß «ein furchtbares Gewinsel und Gestöhn». Von den beiden Jüdinnen kurz abgefertigt und hinausgeschickt, vernahm sie dieses «Gewinsel und Gewimmer» aus dem Keller erneut. Diese Geschichte eröffnete Frau Roß am 19. März mit den Worten: «Mein Gott, ich habe was auf meinem Herzen, was Wichtiges. Ich weiß was von dem Morde.» Ihr Herz wurde durch das Erzählen zu Hause und bei Mathilde Rutz jedoch offenbar noch nicht genügend erleichtert. Vielmehr gab sie die Geschichte in Varianten jedem, der ihr zuhörte, «immer wieder» zum Besten. Zur Polizei wollte sie aber damit nicht gehen. Selbst als Nachbarn sie drängten, es winke ihr doch eine große Belohnung, wenn sie ihre wichtigen Beobachtungen aussage, wehrte sie angeblich ab: «Sie sagte darauf, von dem Sündengeld würde sie nicht einen Heller nehmen.»22 Anna Roß’ Schwiegersohn Bernhard Masloff zierte sich da weniger. Ihn musste man nicht erst lange bitten, wenn es um Belohnungen ging. Als der Mord geschah, wohnte Masloff nicht in Konitz, sondern eine Viertelstunde entfernt. Am 19. März zog er mit seiner Frau Martha zur Schwiegermutter und fand durch Vermittlung seines Schwagers Berg Arbeit am Konitzer Gaswerk. Am 21. März wurde für Hinweise, die zur Ergreifung von Winters Mörder führten, eine Belohnung von 2000 Mark ausgesetzt. Das war ein Vielfaches von dem, was Masloff in einem Jahr verdiente. In den nächsten Tagen begann er seinem Schwager, anderen Arbeitern und Vorgesetzten im Gaswerk von Beobachtungen zu erzählen, die er in der Mordnacht bei Lewys gemacht haben wollte. Die Zuhörer ermutigten ihn, damit zur Polizei zu gehen. Am 23. März abends erschien Masloff, nicht ohne sich vorher einige Stunden lang Mut angetrunken zu haben, mit Berg auf dem Polizeirevier und erzählte dort seine Geschichte. Sie baute
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auf der seiner Schwiegermutter auf, war aber um weitere Elemente angereichert. In der Mordnacht war Masloff, so behauptete er, auf dem Nachhauseweg aus der Kneipe an Lewys Haus vorbeigekommen. Dort sah er im Keller Licht und hörte ein Rumoren oder Stimmen. Neugierig geworden, ging er um das Haus herum. Vor dem Hintereingang zu Lewys Grundstück legte er sich auf den Boden und blickte unter dem Tor durch in den Hof. Nach einiger Zeit kam eine vermummte Gestalt aus dem Keller herauf. Die Gestalt blieb horchend in dem dunklen Hof stehen und ging dann wieder zurück in den Keller.23 In späteren Aussagen und Vernehmungen reicherte Masloff diese Geschichte mit immer mehr Details an und veränderte sie. So wurde das anfänglich gehörte Rumoren im Lauf der Zeit zu einem «Gewinsel», «Gestöhn», «Gebabbel» oder «Gemurmel». Dass er um das Haus herumgegangen und sich dort auf die Lauer gelegt habe, begründete Masloff später damit, er habe etwas von dem Fleisch stehlen wollen, das in Lewys Hof an Haken hing. Diese Begründung war ihm offenbar vom Verleger der antisemitischen Staatsbürger-Zeitung Wilhelm Bruhn, den Geschichten wie die von Roß und Masloff nach Konitz gelockt hatten, suggeriert worden. Die vermummte Gestalt identifizierte Masloff bei seiner zweiten Aussage als Adolf Lewy. «Nichts soll herauskommen», habe dieser gesagt, bevor er in den Keller zurückkehrte. Doch als Masloff zum dritten Mal vernommen wurde, ging Adolf Lewy gar nicht mehr in den Keller zurück. Stattdessen folgten ihm drei Männer, einer davon Lewys Sohn Moritz, von denen zwei ein in Sackleinwand eingeschlagenes Paket zum Mönchsee hinuntertrugen.24 Auch darüber, wann genau er das alles beobachtet haben wollte, machte Masloff verschiedene Aussagen. Mal war es um zehn, mal gegen zwölf Uhr nachts. Ebenso differierten seine Angaben darüber, wie lange er bei Temperaturen unter null auf dem eisigen Boden vor Lewys Hoftür gelegen hatte, zwischen zwei Stunden und 15 Minuten. Winters Rumpf war zwar in Sackleinwand eingeschlagen, diese aber zusätzlich mit Packpapier verhüllt gewesen. Mal wollte Masloff vor Lewys Haus durch einen Vorhang Licht im rechten Kellerfenster durchschimmern gesehen haben, mal im linken. Doch bei einem Ortstermin stellte die Polizei fest, dass die Fenster nicht verhängt und so voller Spinnweben waren, dass dort geraume Zeit gar kein Vorhang gewesen sein konnte.
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Polizei und Staatsanwaltschaft schenkten deshalb bereits Masloffs erster Aussage im März weder Glauben noch Gehör. Anders als seine Schwiegermutter Anna Roß erzählte er daraufhin privat seine Geschichte nicht weiter. Stattdessen ging er im April zu Lewys und versuchte sie zu erpressen. Er wisse, wer die Mörder seien, sagte er Adolf Lewys Sohn Moritz ins Gesicht: «Es sind die Juden, und Sie sind auch dabeigewesen.» Doch Lewy holte die Polizei.25 Ließen die Behörden sich von Masloffs Geschichte nicht beeindrucken, so inspirierte diese doch andere. Nachdem Masloff sich ohne Glück das erste Mal als Geschichtenerzähler versucht hatte, begannen in Konitz Gerüchte zu kursieren, die seiner Erzählung weitgehend glichen. Nun wollten noch zwei weitere Menschen in der Mordnacht bei Lewys Ähnliches gesehen haben. Und diese Gerüchte gingen von niemand anderem aus als von Masloffs Schwager Berg und von seiner Schwiegermutter Anna Roß. Über Berg raunte man, er habe am 11. März abends Kohlen aus einem Grundstück neben Lewys Hinterhof gestohlen. Dabei hätte er gesehen, wie mehrere Juden, darunter der Schächter der Konitzer Gemeinde, Lewys Grundstück betraten. Dann sei aus dem Keller ein Winseln zu hören gewesen. Berg war schlau genug, die Geschichte zu dementieren und auf Tauchstation zu gehen, bevor die Staatsanwaltschaft in der «Konitzer Affäre» Meineidsverfahren einleitete. Anna Roß fehlte diese Klugheit. Sie erzählte seit Anfang April Nachbarn und Presseleuten, ein Knecht habe ihr von Beobachtungen in der Mordnacht berichtet, die noch mehr als ihre eigenen den Verdacht zur Gewissheit erhärten würden, dass Ernst Winter in Lewys Keller einem Ritualmord zum Opfer gefallen sei. Dieser aus der Gegend von Schlochau stammende Knecht habe in Konitz Arbeit gesucht und sie deshalb aufgesucht. Da er den letzten Zug nach Hause verpasst hätte, sei er nachts durch die Stadt gegangen und an Lewys Haus vorbeigekommen. Dort habe er Licht gesehen. Neugierig geworden, sei er um das Haus herum zur Hofseite ans Tor gegangen. Dort habe er schließlich beobachtet, wie einige Männer ein großes Paket zum Mönchsee getragen hätten und dann wieder zu Lewys zurückgekehrt seien. Die Geschichte glich der von Masloff erzählten wie ein Ei dem anderen. Aber während seine Version immer mehr das Vertrauen vieler Konitzer fand, die ihre Details weniger kritisch prüften als die Polizei, wurde Anna Roß selbst in der Stadt verhältnismäßig wenig Glauben ge-
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schenkt. Obwohl der Knecht sie angeblich als Gesindevermittlerin aufgesucht hatte, wollte sie sich seinen Namen nicht gemerkt haben, was ihr kaum jemand abnahm. Vor allem aber litt ihre Glaubwürdigkeit zunehmend darunter, dass sie ihre Version gelegentlich vor Publikum aktualisierte, offenbar um sie als vermeintlich taufrische Neuigkeit interessanter zu machen. So erzählte sie Anfang April zunächst, der Knecht sei am 12. März zu ihr gekommen. In der zweiten Aprilhälfte gab sie dagegen zum Besten, er habe ihr seine Beobachtungen am Ostersonntag, dem 15. April, verraten. Selbst als die Staatsanwaltschaft sich für den seltsamen Umstand zu interessieren begann, dass zwei, wenn nicht drei Menschen gleichzeitig am selben Ort dasselbe gesehen haben wollten, ohne sich gegenseitig wahrzunehmen, bestand Anna Roß hartnäckig auf ihrer Geschichte. Die Schlinge eines Meineidsverfahrens zog sich bereits um ihren Hals zu, da hielt sie immer noch an dem fest, was ihr schließlich zweieinhalb Jahre Zuchthaus einbringen sollte. Als man ihr die goldene Brücke bauen wollte, den offensichtlichen Widerspruch durch die Aussage aufzulösen, der Knecht sei wohl ihr Schwiegersohn Masloff gewesen, lehnte sie ab. Seine Geschichte wollte sie nicht stützen. Im Gegenteil diskreditierte sie seine Erzählung bei ihrem ersten polizeilichen Verhör mit der Bemerkung, dass ihr «der Masloff wankelmütig vorkam».26 Masloff revanchierte sich später mit dem Vorwurf, sie habe seine Geschichte «gestohlen».27 Schwiegermutter und Schwiegersohn insistierten beide eifersüchtig auf der Wahrheit nur ihrer eigenen Geschichte. Nachdem sich beide zwischenzeitig notdürftig auf eine gemeinsame Version geeinigt hatten, um ihre Köpfe zu retten, stritten sie sich während des Meineidsprozesses wieder vehement darüber, wer im Familienkreis zuerst von verdächtigen Bemerkungen bei Lewys berichtet hatte. Warum? Anna Roß war eine besonders robuste und willensstarke Frau. In ihrem Familienclan – ihre fünf Kinder wohnten, obwohl zum Teil erwachsen, mit ihr zusammen – hatte sie lange Zeit eindeutig das Sagen gehabt. Ihr Mann war von ihr schon vor längerer Zeit aus der Wohnung geworfen geworden. Von ihm ist nicht viel mehr bekannt, als dass er ein weinerlicher Charakter war, den selbst die Töchter blutig prügelten, ohne dass er zurückgeschlagen hätte. Noch 1900 erschien Anna Roß Journalisten als «der weibliche Generalstabschef der Familie».28 Aber das Matriarchat von Frau Roß war ins Wanken geraten, seit ihre
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Tochter Martha 1898 Bernhard Masloff geheiratet hatte. Schon an der Frage der kirchlichen Hochzeit hatte sich ein Machtkampf zwischen Schwiegermutter und Schwiegersohn entzündet. Die Protestantin Anna Roß ging mit ihren Töchtern regelmäßig sonntags zum Gottesdienst. Das Interesse des Katholiken Masloff an Religion war vergleichsweise gering. Doch er bestand darauf, dass Martha zum Katholizismus übertrat. Vergebens insistierte Anna Roß auf einer evangelischen Trauung; Masloff setzte seinen Willen durch. Kurz darauf musste Frau Roß die für sie neue Erfahrung machen, in einem zur Prügelei ausartenden Streit mit einem männlichen Familienmitglied den Kürzeren zu ziehen: Um sich vor Masloff zu schützen, rief sie schließlich sogar die Polizei. Auch danach sprachen beide kaum miteinander, und immer wieder kam es zu Streit. In der «Konitzer Affäre» setzte sich der alte Konflikt zwischen dem «weiblichen Generalstabschef der Familie» Anna Roß und ihrem Herausforderer Bernhard Masloff als Geschlechterkampf der Geschichtenerzähler fort. Und er überdauerte die Affäre. Nach dem Prozess, in dem Anna Roß widerwillig und notgedrungen die Aussagen ihres Schwiegersohns gestützt hatte, giftete sie im Zuchthaus: «Der Masloff hat sich ja die ganze Geschichte erdacht.» Was sie vor ihren Töchtern über das angebliche Gewinsel in Lewys Keller am Mordabend fabuliert hatte, habe «Masloff benutzt, um sich eine Erzählung zurecht zu machen, mit welcher er vor die Behörden kommen wollte […] Er hat die ausgesetzte Belohnung verdienen wollen und hat seiner Frau hiervon nun Mitteilung gemacht. Die Frau ist weinend zu mir gekommen und hat gesagt: ‹Denk mal Mutter, was mein Mann vorhat. Was du hier erzählt hast, das will er jetzt gesehen haben!»29 Anna Roß erfasste damit die Motive ihres Schwiegersohns wohl teilweise richtig. Aber sie machte auch ihre eigenen transparent. Nicht genug damit, dass Masloff ihr die Tochter und die unangefochtene Machtposition in der Familie weggenommen hatte: Jetzt stahl er auch noch ihre Geschichten. Die Erzählung von den angeblichen Beobachtungen des Knechtes war ihre Revanche. So wollte sie sich zumindest das wieder aneignen, was ihr geblieben war: die Aufmerksamkeit, das Prestige und die Macht über andere, die das Erzählen von Geschichten geben kann. Um die an Masloff verlorenen Zuhörer wiederzugewinnen und den Schwiegersohn doch zu übertrumpfen, nutzte sie ihre Vertrautheit mit
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den Lewys, für die sie auch nach dem Mord noch gewaschen hatte, für eine weitere spektakuläre Erzählung. In der ihr von Frau Lewy gegebenen Wäsche, ließ sie schließlich Ende April verlauten, habe sie ein Taschentuch gefunden, das nicht nur «reiner war als die anderen», sondern auch mit dem Monogramm EW bestickt – EW wie Ernst Winter.30 Die Geschichten von Anna Roß und Bernhard Masloff waren ein einziges Lügengebäude, konstruiert aus Geltungssucht und Geldgier. Einem Erfolg in breiten Kreisen der Konitzer Bevölkerung stand das freilich nicht im Weg. Zumindest Masloffs Geschichte fand nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer Verlogenheit großen Glauben. In dem gegen ihn von der Staatsanwaltschaft angestrengten Meineidsprozess wurde Masloff von der Mehrheit der Konitzer Geschworenen schließlich nur dafür verurteilt, dass er bei seiner ersten Vernehmung nicht angegeben hatte, bei Lewys Fleisch stehlen zu wollen. Die Jury glaubte ihm jedoch, dass er seine Beobachtungen am Mordabend tatsächlich gemacht hatte. Über die von der Anklage aufgezeigten feinen Unstimmigkeiten in den Aussagen des vermeintlichen Augenzeugen gingen die Geschworenen ebenso hinweg wie vorher schon ein großer Teil der öffentlichen Meinung in Stadt und Umland. Masloffs Geschichte erfüllte wie keine andere ein allgemeines Sehnen nach Sicherheit, ein Bedürfnis nach schneller und klarer Aufklärung des furchtbaren und erschreckenden Mordfalls, das von den polizeilichen Ermittlungen nicht befriedigt wurde. Sie gab vielen verängstigten Konitzern ein Gefühl von Gewissheit, welches die vorsichtige und mosaikhaft bleibende Kleinarbeit der Kriminalisten schuldig blieb. Dass sie außerdem mit weitverbreiteten Vorurteilen über religiöse Praktiken der Juden übereinstimmte, konnte das Echo auf sie nur positiv verstärken.
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In der von Furcht vor einem grausamen Mörder vergifteten Atmosphäre, die 1900 über Konitz lastete, wucherte aber nicht nur das Ritualmordgerücht. «Alle möglichen Gerüchte» über die Identität des Täters kursierten in der Stadt.31 Besonders in den ersten Wochen nach Auffindung der Leichenteile im Mönchsee liefen «ganze Berge von Verdächtigun-
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gen» bei den Behörden ein, die in die verschiedensten Richtungen wiesen.32 Ende März bat die Polizei bereits darum, sie «mit den vielen unnützen anonymen Briefen und Karten zu verschonen», in denen immer wieder neue Konitzer von ihren Mitbürgern als vermeintliche Mörder angeschwärzt wurden.33 Erst langsam begannen sich die Denunziationen mehr und mehr gegen Juden zu richten. Die Gerüchte und Eingaben an die Behörden, die andere Außenseiter der städtischen Gesellschaft anklagten, brachen jedoch nie ganz ab. Die meisten dieser Gerüchte richteten sich gegen Gustav Hoffmann und seine Familie. Wie sein jüdischer Nachbar Adolf Lewy war auch der Christ Hoffmann Fleischer. Und Gustav Hoffmanns Grundstück befand sich ebenfalls in der Nähe der Spüle am Mönchsee, wo am 13. März die Leichenteile Ernst Winters gefunden worden waren. Als Stadtrat und Obermeister der Konitzer Fleischerinnung war Hoffmann zwar zumindest im konservativen Teil der sogenannten besseren Gesellschaft der Stadt gut integriert. Aber für andere, und vor allem für die Masse der einfachen Konitzer, mochte er durchaus als Außenseiter gelten. Denn Hoffmann und seine Familie waren Altlutheraner. Angehörige dieser Religionsgemeinschaft gab es in Westpreußen nur sehr wenige, jedenfalls deutlich weniger als Juden. Wie Altlutheraner generell hielt Gustav Hoffmann sehr «auf strenge Zucht und Ordnung». Diese «Sittenstrenge» trug bei zu dem Ansehen, das er unter konservativen Honoratioren und Beamten genoss.34 Unter der breiten Masse der Bevölkerung verschaffte sie dem Fleischermeister und seiner Familie jedoch offenbar den Ruf der Heuchelei. Jedenfalls wimmelte es in Konitz schon vor dem Tod Winters an Gerüchten, nach denen sich hinter der puritanischen Fassade des Hoffmann’schen Hauses ein ausschweifendes Sexualleben abspielte. Seinen beiden minderjährigen Töchtern Anna und Martha wurden von den Konitzer Lästermäulern ausgeprägte sexuelle Aktivitäten unterstellt. Noch bevor in den Kneipen der Stadt das Ritualmordgerücht auftauchte, kursierte dort schon die Behauptung, «daß Winter bei Gelegenheit eines Geschlechtsverkehrs ums Leben gekommen» sei.35 Die 14jährige Anna Hoffmann, mit der das Mordopfer nach weitverbreiteter Ansicht angebändelt hatte, wisse wohl mehr. Jener pensionierte Polizeisergeant, der nach dem Fund der Leichenteile Ernst Winters am 13. März gegenüber dem Konitzer Bürgermeister das antisemitische Ritualmord-
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gerücht ins Spiel brachte, hatte zuvor schon einen Verdacht gegen die Hoffmanns geäußert. Damit stand er nicht allein. «Der Verdacht der Täterschaft», schrieb ein aus Berlin zur Untersuchung entsandter Kriminalkommissar später in einem alle Verdachtsmomente zusammenfassenden Bericht, «fiel nach Bekanntwerden der Tat sofort auf Hoffmann und seine Lehrlinge, weil man annahm, Winter könne aus Wut über den intimen Verkehr mit Anna Hoffmann durch den Vater getötet oder ein Opfer der Eifersucht geworden sein.» Dieser Verdacht wurde genährt und verstärkt durch «eine Unmenge Briefe», die Gustav Hoffmann den Behörden «gegenüber als Täter bezeichneten».36 Die Schreiber dieser Briefe wollten Ernst Winter und Anna Hoffmann wiederholt bei Gesprächen in Hausfluren gesehen haben. Anna sei von Winter bei Spaziergängen und Einkäufen begleitet worden. Und sie habe ihm Postkarten geschrieben, über deren Inhalt die wildesten Spekulationen angestellt wurden. Mitschüler Winters bekundeten gegenüber der Polizei sogar, mit Sicherheit zu wissen, dass beide auch «intim» miteinander verkehrt hätten. Freunde von Anna Hoffmann und Ernst Winter erklärten Geschlechtsverkehr zwischen beiden zwar für ausgeschlossen. Die Köche der Konitzer Gerüchteküche berührte das jedoch nicht weiter. Wieso sollte Anna Hoffmann sich von ihrer älteren Schwester Martha unterscheiden? Dass diese einen «unmoralischen» Lebenswandel führte, galt in Konitz als «feststehende Tatsache».37 Warum, raunte man in der Stadt, war sie sonst zunächst nach Danzig gefahren, um sich dort von einem Frauenarzt untersuchen zu lassen? Und warum war sie dann über alle Berge bis Sankt Petersburg gegangen, angeblich als Gouvernante? Ein Referendar prahlte sogar damit, Martha Hoffmann selbst geschwängert zu haben. Zumindest die Wahrheit hinter den Gerüchten über Anna Hoffmanns Schwester konnte die Polizei ermitteln. Sie war tatsächlich in Danzig von einem Frauenarzt behandelt worden – allerdings nicht wegen einer Schwangerschaft, sondern wegen einer Unterleibskrankheit. Der Arzt bestätigte zudem, dass sie «intakt», also Jungfrau, sei. Schließlich kam Martha Hoffmann zwar vollschlank, aber nicht schwanger persönlich aus Russland zurück nach Konitz, um Schwester und Vater beizustehen. Denn das Gerede hinter vorgehaltener Hand, das diese belastete, hörte nicht auf. In «vielen privaten anonymen Zuschriften»,38 aber auch namentlich
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unterzeichneten Eingaben und beeideten Aussagen wurde den Ermittlern von angeblichen Drohungen berichtet, die Gustav Hoffmann gegen Ernst Winter ausgestoßen haben sollte. Der «sittenstrenge» Hoffmann sei gegen das Techtelmechtel seiner jüngsten Tochter mit dem jungen Gymnasiasten gewesen. Einer seiner Fleischerlehrlinge, ein gewisser Wilhelm Welke, habe sich zudem mit Billigung des Vaters ebenfalls um Annas Gunst bemüht. Kurz vor Winters Tod sei unter Hoffmanns Lehrlingen über den Gymnasiasten die Bemerkung gefallen: «Wenn der noch mal herkommt, kriegt er gleich eine ins Genick, daß er liegen bleibt.»39 Außerdem wiesen «Zuschriften von den verschiedensten Seiten, von denen Hoffmann als Täter bezeichnet» wurde,40 die Behörden auf zahlreiche diesen belastende Indizien hin. Ernst Winter war zuletzt in der Danziger Straße gesehen worden, nahe bei Hoffmanns Haus. Das Haus lag nicht nur in der Nähe des Mönchsees – Hoffmann besaß auch einen Schuppen mit direktem Zugang zu dem Teil des Sees, wo die Leichenteile gefunden worden waren. Am Abend des Mordtages wollten mehrere Zeugen aus dieser Richtung einen Schrei gehört haben. In der Nacht nahmen andere dort einen Geruch wahr, als ob Kleidungsstücke verbrannt würden. In ihren ersten Vernehmungen hätten Gustav und Anna Hoffmann zudem ausgesagt, Winter am 11. März, seinem Todestag, gesehen zu haben, das aber später widerrufen. Schließlich berichtete im Mai ein Lehrer des Konitzer Gymnasiums dem Berliner Kriminalinspektor Braun, er habe Gustav Hoffmann auf den Kopf zugesagt, der Mörder «könne nur ein Fleischer gewesen sein. Da sei Hoffmann aschfahl geworden».41 Hoffmann verfügte zwar über ein scheinbar wasserdichtes Alibi. Am 11. März, einem Sonntag, hatte Familie Hoffmann Gäste zum Mittagessen gehabt. Nachmittags waren alle gegen drei Uhr zur Kirche gegangen und auch danach noch bis sieben Uhr zusammengeblieben. Dann hatte Hoffmann im Kreis der Familie zu Abend gegessen. Auch von seinem Lehrling Wilhelm Welke war das bezeugt worden. Die beiden anderen Lehrlinge waren dagegen erst verspätet um acht Uhr eingetroffen, weshalb der strenge Hausvater sie ohne Essen ins Bett geschickt hatte. Kriminalinspektor Braun erschien daran jedoch etwas verdächtig. Wilhelm Welke hatte seine Lehre bei Hoffmann erst im Frühjahr 1899 begonnen. Doch seinen Gesellenbrief bekam er statt wie üblich nach drei Jahren Lehrzeit schon im April 1900 ausgehändigt, kurz nach dem Mord an Winter. Danach war Welke auffallend schnell aus Konitz ver-
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schwunden. Für kurze Zeit tauchte er wenig später noch einmal in Danzig wieder auf. Dann verlor sich seine Spur. Angeblich war er nach Amerika ausgewandert. Welke, so schloss Kriminalinspektor Braun, habe zwischen sieben und acht Uhr zusammen mit Gustav Hoffmann dessen Tochter und Ernst Winter in flagranti erwischt. Der Gymnasiast sei von dem Vater im Affekt erschlagen worden. Später in der Nacht hätten Meister und Lehrling die Leiche fachgerecht zerlegt. Welkes Lohn für sein Stillschweigen seien der Gesellenbrief und wohl Geld gewesen. Auf der Grundlage dieses Verdachts ließ Inspektor Braun Metzgermeister Hoffmann und seine Tochter Anna schließlich früh am Morgen von der Polizei holen und aufs Rathaus abführen. Dort wurden beide getrennt und den ganzen Tag lang einem erbarmungslosen Kreuzverhör unterzogen. Braun baute darauf, dass Vater oder Tochter unter der Last des ihnen vorgehaltenen Beweismaterials zusammenbrechen und ein Geständnis ablegen würden. Nach Gustav Hoffmanns späterer Darstellung versuchten die Kriminalbeamten seine Tochter während des Verhörs sogar mit der Behauptung zu beeinflussen, ihr Vater habe alles schon gestanden. Doch der Bluff blieb erfolglos. Weder der Metzgermeister noch seine Tochter ließen sich zu einem Geständnis bewegen. Am Nachmittag musste Braun beide wieder freilassen. Auch danach schwebte das Damoklesschwert einer Anklage freilich weiter über Hoffmann. Der Metzgermeister wehrte sich, indem er den Verdacht gegen andere schürte. Aus dem gejagten Hasen wurde ein Hund, der sich selbst an der Jagd beteiligte. Von seiner Familie wurde er dabei nach Kräften unterstützt. Denn kaum etwas ist besser geeignet, Gerüchte zu bekämpfen als andere Gerüchte. Ähnlich reagierte auch der Schneidermeister Otto Plath. Plath war nach Hoffmann der am meisten des Mordes verdächtigte Nichtjude. Geweckt wurde dieser Verdacht zunächst durch ein Indiz. Die Packleinwand, in die Winters im Mönchsee gefundener Rumpf eingeschlagen war, trug die Seriennummer einer Tuchfabrik. Aus den Geschäftsbüchern der Fabrik ließ sich ermitteln, dass die Lieferung mit dieser Nummer an niemand anderen als den Schneider Plath gegangen war. Der bestätigte das auch. Er behauptete freilich – ohne es belegen zu können –, er habe die Leinwand kurz vor dem Mord an die Schwägerin von Adolf Lewy verkauft.
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Die Nachricht, dass Plath wegen der Packleinwand verdächtig erschien, hatte kaum in Konitz die Runde gemacht, als es aus der Bevölkerung schon Denunziationen gegen ihn hagelte. Ein Mann wandte sich an die Behörden und bekundete, der Schneidermeister habe doch eine Ausbildung zum Sanitäter absolviert. Er besitze von daher ebenso wie ein Metzger die nötigen anatomischen Kenntnisse, um Winters Leiche zu zerteilen. Eine Reihe weiterer Zeugen ließ sogar noch Kompromittierendes wissen. Zwei Wochen vor dem Mord hatte Plath angeheitert in geselliger Runde einen Vortrag darüber gehalten, wie man fachgerecht einen menschlichen Körper zerlege. Gleich dazu lieferte die Konitzer Gerüchteküche den Ermittlern das Motiv des Schneidermeisters. In der Stadt war Plaths «Ruf kein günstiger». Über den trotz seiner 38 Jahre immer noch unverheirateten Mann, der mit seiner alten Mutter zusammenlebte, kursierten die wildesten Geschichten. Hinter vorgehaltener Hand munkelte man in Konitz, er sei ein «warmer Bruder», ein «Urning». Mit anderen Worten: Plath galt als homosexuell. In der Vorstellung vieler Zeitgenossen verband sich Homosexualität weitgehend mit Päderastie. Und Otto Plath hatte für einen Mann seines Alters viel Umgang mit Schülern und anderen jungen Leuten – auffällig viel in den Augen seiner Umgebung. Auch mit dem halb so alten Ernst Winter war er häufig zusammen gesehen worden. Winter, so wollten einige Konitzer wissen, habe sogar kurz vor seinem Todestag die Absicht geäußert, Plath an diesem Tag zu besuchen. Schamhaft deuteten sie an, der Gymnasiast sei möglicherweise bei einer sexuellen Handlung im Haus des Schneidermeisters ums Leben gekommen. Die Gerüchte über «perverse sexuelle Neigungen» Plaths konnten die Behörden zwar nicht erhärten – was die in Konitz bei vielen verbreitete Überzeugung, das Sexualleben des Schneiders sei «zweifellos kein ganz normales», freilich nicht im Geringsten zu widerlegen vermochte. Die Zeugenaussagen veranlassten Polizei und Staatsanwaltschaft aber zu einer Hausdurchsuchung. In der Stadt wurde kolportiert, die Durchsuchung habe zahlreiche belastende Indizien zutage gefördert. Neben Resten verbrannter Kleidungsstücke und einem Fetzen blutbefleckter Leinwand fand sich danach in Plaths Haus braunes Packpapier von genau derselben Art wie das, mit dem Winters Rumpf eingewickelt worden war. Von einer späteren Durchsuchung hieß es sogar, in einem Raum des
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Hauses sei eine Wand über und über mit Blut bespritzt gewesen. Das wäre beim ersten Mal nicht aufgefallen, weil Anzüge davor gehangen hätten.42 Diese Gerüchte hatten freilich keinerlei Bezug zur Wahrheit. Wie die Staatsanwaltschaft später verlauten ließ, erbrachten die Hausdurchsuchungen keinerlei Hinweise auf eine Täterschaft von Plath. Außerdem verfügte Plath wie Gustav Hoffmann über ein Alibi. An Winters Todestag war er nach eigenen Angaben von halb vier nachmittags bis gegen ein Uhr morgens durch verschiedene Kneipen gezogen, vor allem in Begleitung seines Untermieters Lurch. Die Ermittlungen gegen Plath wurden deshalb vorübergehend ganz eingestellt. Aber dann gerieten eines Tages der Schneidermeister und sein Untermieter auf einer ihrer Sauftouren in Streit. Vor Zeugen ließ Lurch dabei durchblicken, er habe Plath nur aus alter Freundschaft mit einem Alibi versorgt. Diese Äußerung provozierte die zweite Hausdurchsuchung. Kurz darauf versöhnten Plath und Lurch sich jedoch wieder. Der Untermieter widerrief seine Vorwürfe gegen den Schneider, die er tatsächlich im bis zur Unzurechnungsfähigkeit alkoholisierten Zustand gemacht hatte. Plath besaß damit wieder ein wasserdichtes Alibi für den Mordtag, zumal er nach eigener Aussage zwischen halb zwei und halb vier Uhr spazieren gegangen war mit einem Lehrer namens Weichel, der das bestätigte. Weichel geriet allerdings bald selbst unter Verdacht. Wie seinem Freund Plath wurde auch dem Lehrer in der Stadt eine «perverse» Veranlagung nachgesagt. Weichel war zwar verheiratet. Doch zur Zeit des Mordes lebte er von seiner Frau nach einem Streit getrennt. Dass Weichel kurz nach der Tat in Berlin einen ärztlichen Spezialisten aufsuchte, gab reichlich Stoff für Gerüchte, nach denen er sich bei «widernatürlichem» Geschlechtsverkehr eine Krankheit zugezogen hatte. Ein Schüler behauptete zudem, der Pädagoge habe ihm gegenüber Annäherungsversuche gemacht. Auch bei Weichel wurden solche aus Gerüchteküche und Denunziationen erwachsenen Verdachtsmomente durch «Indizienbelege» verstärkt, die sich allerdings wie bei Plath größtenteils aus dem Stadtklatsch ergaben. Der Fall Winter wies auffallende Parallelen zu einem Mord auf, der sich 1884 im nahe gelegenen Dorf Skurz ereignet hatte. Dort war ein neunjähriger Junge umgebracht und die Leiche in so ähnlicher Weise
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wie 16 Jahre später Winters zerstückelt worden, dass zeitweise die Rede davon war, es müsse sich um denselben Täter handeln. Der Skurzer Mord wurde wie der Konitzer zum Teil als Ritualmord gesehen. Daneben bestand aber ebenfalls die Interpretation als Lustmord eines Homosexuellen. Weichel hatte 1884 in Skurz gewohnt. 1900 lag seine Konitzer Wohnung in unmittelbarer Nähe des Mönchsees, wo die ersten Leichenteile gefunden wurden – näher als die Häuser Hoffmanns, Lewys oder Plaths. Weichel hatte zudem in Konitz wie Plath den Ruf eines Sonderlings. Er galt als charakterschwacher Alkoholiker, der zwischen unberechenbarem Jähzorn und Anfällen von Selbstmitleid schwankte. In betrunkenem Zustand, hieß es schließlich über ihn, habe er sich in einer Kneipe selbst zum Mörder Winters erklärt und um eine Pistole gebettelt, damit er Selbstmord begehen könne. Das von Furcht und gegenseitigen Verdächtigungen vergiftete Konitzer Klima wirkte also 1900 für viele Gerüchte wie ein Treibhaus. Allerdings fielen nicht alle davon auch auf fruchtbaren Boden. Das Gerede etwa, der Zigarrenhändler Fischer, bei dem Winter noch an seinem Todestag eingekauft hatte, sei homosexuell und komme als Täter in Frage, fand kaum ein Echo. Ähnliches Raunen über einen Mädchenschullehrer war ebenfalls nur wenig erfolgreich. Nur kurzfristige und geringe Verbreitung fanden auch Gerüchte über zwei Ärzte. Während die Denunziationen über einige Personen wucherten, erstarben die über andere bald. Der Mädchenschullehrer, der Zigarrenhändler und die beiden Ärzte wurzelten offenbar zu fest im Zentrum der Konitzer Gesellschaft, als dass ihnen solches Gerede den Mutterboden sozialen Vertrauens unter den Füßen hätte erschüttern oder wegnehmen können. Es waren jedenfalls die Existenzen am Rand, wo die Würgepflanzen der Gerüchte beste Wachstumsbedingungen vorfanden. Die Sonderlinge Weichel und Otto Plath, die altlutheranische Familie Hoffmann und die jüdische Familie Lewy standen nicht außerhalb der Konitzer Gesellschaft. Sie standen am Rand, teilweise integriert und teilweise nicht. Hoffmanns waren eingebunden in die sozialen Zirkel der Konitzer Honoratioren, die Juden in das städtische Vereinsleben. Plath und Weichel hatten ihre Stammtische. Keiner von ihnen war zumindest ohne gute Bekannte in der Stadt. Aber oft brachten gerade ihre guten Bekannten das Gerede über sie auf oder gaben ihm Nahrung. Die Hoffmanns wie die Lewys machte ihr abweichendes religiöses Bekenntnis zu
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Randexistenzen. Bei Weichel und Plath war es deren Eigenbrötlerei. Über sie alle kursierten notwendigerweise Halbwahrheiten, weil man sie nur halb kannte. Der andere Teil ihrer Existenz blieb der städtischen Gesellschaft verborgen. Unter gewöhnlichen Umständen waren diese Unsicherheiten auszuhalten. In der angstbeladenen Atmosphäre nach dem Mord an Winter aber hatten sie fatale Konsequenzen. Wie hinter der Maske des wohlanständigen Dr. Jekyll den mörderischen Mr. Hyde, so vermutete man jetzt hinter den gutbürgerlichen Existenzen Plaths und Weichels Homosexuelle, die zu jeder monströsen Schandtat fähig seien. Hinter dem Puritanismus der Hoffmanns argwöhnten viele Konitzer orgiastische Zügellosigkeit. Und in den höflichen jüdischen Nachbarn sahen sie nun die Anhänger mörderischer Rituale eines archaischen Kultes.
Die Faszination des Bizarren Die Faszination des Bizarren
Am Ostersonntag, dem 15. April, fanden drei spielende Kinder den Kopf von Ernst Winter. Der Kopf lag in einem Graben, nicht weit von einem beliebten Ausflugslokal und Aussichtspunkt, und war auffällig gut erhalten. Hatte der Mörder ihn erst vor Kurzem dort platziert? Sollte der Kopf über die Osterfeiertage gefunden werden, an denen allen Christen die Kreuzigungsgeschichte ins Gedächtnis zurückgerufen und damit auch der Ritualmordglaube besonders aktualisiert wurde? Wenn das die Rechnung des Täters war, ging sie auf – umso mehr, als die Polizei nun einen ersten Tatverdächtigen verhaftete und dieser Tatverdächtige ein Jude war. Es handelte sich um einen jüdischen Lumpenhändler, der am Morgen des Karfreitag mit einem Sack auf dem Rücken, in dem etwas Rundes gewesen war, in der Nähe des Fundorts gesehen worden war. Unter dem Vorwurf der Beihilfe zum Mord wurde der Mann in das Konitzer Stadtgefängnis eingesperrt. Dort blieb er bis zu seinem Gerichtsverfahren, das erst im September mit einem Freispruch aus Mangel an Beweisen endete. Der Fund des Kopfes am Ostersonntag und die anschließende Verhaftung des Lumpenhändlers wirkten elektrisierend. «Ein großer Teil der Bevölkerung nicht bloß in Konitz, sondern auch im weiten Umkreise»
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bekannte sich seitdem zu der Annahme, dass Ernst Winter einem jüdischen Ritualmord zum Opfer gefallen sei.43 Schon während der letzten Märztage waren in der Stadt Steine gegen Häuser von Juden geflogen. Eine neue Welle von antisemitischen Ausschreitungen, die nun auch ins Konitzer Umland überschwappte, war die Folge. Von den etwas über 10 000 Einwohnern, die Konitz 1900 hatte, waren damals 480 Juden. In den kommenden Wochen wurden sie immer wieder zur Zielscheibe von wüsten Beschimpfungen und Drohungen. Mit Schmährufen und Verhöhnungen fing es an. Dann warf man den Juden in Stadt und Umland die Fensterscheiben ein. Straßenaufläufe und Plünderungen jüdischer Läden folgten. Von Westpreußen breiteten sich die antisemitischen Ausschreitungen ins benachbarte Pommern und die Provinz Posen aus. Kaiser Wilhelm II. ließ sich wiederholt über die Lage unterrichten, die Behörden und Polizei vor Ort zunehmend entglitt. Anfang Juni kam es in Konitz schließlich zu wilden Tumulten, die ihren Tiefpunkt in der Verwüstung der Synagoge fanden. Erst eine ganze Kompanie Soldaten vermochte den Aufruhr niederzuschlagen. Die preußische Regierung rief den Belagerungszustand über Konitz aus. In Trupps von 20 Mann patrouillierte das Militär Tag und Nacht durch die Straßen. Vor dem Haus der Lewys standen rund um die Uhr Wachen. Eine Postenkette mit geschultertem Gewehr bezog rings um die Synagoge Stellung. Langsam beruhigten sich die Gemüter. Doch die Armee blieb noch bis ins nächste Jahr. Zehn Monate nach dem Fund von Ernst Winters Rumpf, im Januar 1901, fand ein Spielmannszug im Stadtgarten die Jacke des Toten. Bald darauf hingen eines Morgens seine Hosen über den Zaun eines Konitzer Gartengrundstücks. Drei Tage später wurde Winters Webpelzmantel auf dem Gelände der Mädchenschule entdeckt. Noch einmal glomm die Hoffnung auf, den Mörder zu finden. Ein ganzer Stadtteil wurde abgesperrt und die Häuser in diesem Viertel durch Konitzer und Berliner Polizeibeamte vom Keller bis zum Dach auf den Kopf gestellt – ohne jeden Erfolg. Gerichtsmediziner diagnostizierten Spermaflecke an Winters Hosen und gaben damit der Theorie neuen Auftrieb, der Tod des jungen Mannes sei ein Sexualverbrechen gewesen. Noch einmal brodelten die Gerüchteküchen über die Identität des Täters. Bürger bildeten ein Überwachungskomitee, das den Lehrer Weichel auf Schritt und Tritt beschattete. Die Ermittler erwogen eine Wiederaufnahme des Er-
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mittlungsverfahrens gegen Gustav Hoffmann. Schließlich wurden auch Anna Roß und ihr Schwiegersohn Masloff verdächtigt, den Mord an Ernst Winter begangen zu haben. Doch sämtliche Hinweise führten ins Leere. Alle Bemühungen der Untersuchungsbehörden blieben vergeblich. Langsam verblasste in der Bevölkerung wie bei den Behörden das Interesse an dem rätselhaften Todesfall. Allein Kriminalinspektor Braun ermittelte noch jahrelang weiter, zum Teil auf eigene Faust. Schließlich gab auch er sich geschlagen. 1912 wurden die Akten über den Fall Winter endgültig geschlossen. Der Mörder Ernst Winters ist nie gefasst worden. Niemand verdiente die für damalige Verhältnisse astronomische Summe von 20 000 Mark, die der preußische Staat als Belohnung für Hinweise ausgesetzt hatte, die zur Ergreifung des Täters führten. Hunderte und Aberhunderte von Eingaben, die schließlich Dutzende von Aktenordnern füllten, ergaben nicht eine einzige heiße Spur. Das Rätsel um Ernst Winters Tod wird ungelöst bleiben. Aber die in verstaubten Folianten aufbewahrten Eingaben und Protokolle bieten die Chance zu einer anderen, nicht weniger spannenden Spurensuche. Wer die Mühen detektivischer Detailarbeit nicht scheut, dem winkt die Aufklärung der Hintergründe jener Ausbrüche von antisemitischer Gewalt, die den Kern der «Konitzer Affäre» ausmachen. Fraglos spielte das gegen die Juden gerichtete Ritualmordgerücht dabei eine wichtige, wenn nicht zentrale Rolle. Es gab den Krawallmachern ihr Ziel vor. Warum aber hatten die Gerüchte über Hoffmann, Plath oder Weichel nicht ähnliche Folgen? Vorurteile waren die Voraussetzung für das Ritualmordgerücht und die daraus erwachsenden Krawalle. Vorurteile gab es in Konitz freilich nicht nur gegen Juden, sondern auch gegen vermeintliche Homosexuelle und andere. Wie das in Konitz umlaufende Gerede über Plath, Weichel und Hoffmann zeigt, wurde ihnen die Tat ebenso zugetraut. Worin also lag das Handicap der anderen Gerüchte gegenüber dem Ritualmordgerücht? Sicherlich hatte das Ritualmordgerücht Förderer, die an seiner Verbreitung arbeiteten. Dazu gehörte in erster Linie Familie Hoffmann. Niemand sonst nutzte seine vielfältigen Beziehungen in Konitz so rücksichtslos und raffiniert, um die Juden der Stadt als Sündenbock anzuschwärzen. Dazu gehörten auch Otto Plath und manche anderen Konitzer, die den Verdacht wie Gustav Hoffmann von sich selbst auf Juden
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ablenken wollten. Sie wurden nach Kräften unterstützt von antisemitischen Hetzern. Unter diesen taten sich besonders die Redakteure der Berliner Staatsbürger-Zeitung hervor. Doch nicht wenige Konitzer, darunter der in der Stadt hochangesehene Führer der örtlichen Liberalen, einer der Lehrer Ernst Winters, wandten sich gegen das Ritualmordgerücht. In Konitz waren bald nach dem 11. März auch Korrespondenten liberaler Zeitungen aus Berlin und Abgesandte jüdischer Organisationen tätig, die im selben Sinn tätig waren. Einige davon versuchten die Richtung der polizeilichen Ermittlungen gegen Hoffmann und andere Verdächtige zu lenken. Und nicht nur die des Mordes verdächtigten Christen sahen im Angriff auf andere die beste Verteidigung. Tatsächlich versuchten die Familien Hoffmann und Lewy, sich gegenseitig den schwarzen Peter zuzuschieben. Die Lewys fanden damit aber, anders als die Verbreiter der Gerüchte über sie selbst, kein Echo. An Versuchen, mit dem Ritualmordgerücht konkurrierende Geschichten unter die Leute zu bringen, fehlte es in Konitz nicht. Doch ein Gerücht wird nicht deswegen erfolgreich, weil es von denen, die daran ein spezielles Interesse haben, mit besonderer Energie propagiert wird. Denn es ist «keine individuelle Schöpfung, die sich ausbreitet, sondern eine kollektive Formation, die in der Zusammenarbeit von vielen entsteht». Gerüchte werden nicht «gemacht». Die verbreitete Vorstellung, dass ihr Erfolg oder Misserfolg von strategisch wirkenden Manipulatoren abhängig ist, ist ebenso verführerisch wie falsch. Sicherlich werden Gerüchte auch absichtlich lanciert. Ob sie sich allerdings in einer Gruppe verbreiten, ob sie Wurzeln schlagen und schließlich durch allgemeine Akzeptanz zur unbestrittenen «Wahrheit» werden, darauf haben ihre Urheber tatsächlich wenig oder keinen Einfluss. In jeder Gesellschaft werden andauernd zahllose Gerüchte in die Welt gesetzt. Die meisten davon rufen nicht den geringsten Widerhall hervor. Manche zirkulieren schüchtern, um bald wieder mangels Interesse einzugehen. Nur wenige werden, wie das Ritualmordgerücht in Konitz 1900, immer weiter erzählt. Nur diese können gesellschaftliche Erschütterungen auslösen. Solche erfolgreichen Gerüchte haben bestimmte Eigenschaften. Als «improvisierte Nachrichten» übermitteln Gerüchte zunächst Informationen. Wenn ein Gerücht in einer Gruppe erfolgreich ist, hat es immer
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hohe Bedeutung für die Lage, in der diese Gruppe sich gerade befindet. Es thematisiert, was alle bewegt. Und es erleichtert den Gruppenmitgliedern die Lage, indem es Erklärungen für bisher Ungeklärtes gibt. Gerüchte florieren besonders in Krisensituationen. Sie blühen vor allem dann, wenn über Dinge, die alle interessieren, große Unsicherheit besteht. Je unsicherer die Situation und je bedeutender die Information, desto stärker das Gerücht.44 All das traf 1900 in Konitz zu. Nach dem grausigen Fund der Leichenteile Ernst Winters beherrschte die Frage nach dem Täter das Stadtgespräch. Es gab kaum jemanden, den sie nicht bewegte. Niemand konnte sicher sein, ob der Mörder nicht noch einmal zuschlagen würde. Jede Information, die diese Unsicherheit der Lage aufzuheben versprach, wurde begierig aufgenommen. Diese Faktoren begünstigten allerdings nicht allein das Ritualmordgerücht. Sie gaben auch den übrigen Gerüchten über Ernst Winters Tod Auftrieb. Bedeutung der vermittelten Information und Unsicherheit der Situation waren zwar notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen für den Erfolg des Ritualmordgerüchts. Für den Erfolg von Gerüchten spielen freilich auch noch andere Voraussetzungen eine Rolle. Gerüchte sind Geschichten. Jedenfalls werden sie typischerweise in dieser Form erzählt. Geschichten aber haben viele Funktionen. Wer ein Gerücht als Geschichte erzählt, will nicht nur informieren. Er will ebenso unterhalten. Nicht selten ist das sogar das wichtigste Motiv. Gerüchte werden dann deshalb erzählt, weil der Erzähler anderen gefallen oder einfach eine peinliche Pause in der Konversation überbrücken will. Der letzte Beweggrund fällt vor allem dort ins Gewicht, wo fast jeder jeden kennt und man sich deshalb oft nicht viel Neues zu sagen hat. Darum waren und sind Ladentheken, Stammtische, Friseursalons, Märkte, Mittagstische und Bürokantinen die Hauptumschlagplätze von Gerüchten. Deshalb blühen diese besonders in Kleinstädten. Hier sind Gerüchte auch und häufig hauptsächlich «ein großer gemeinschaftlicher Kaugummi».45 Wie erfolgreich Gerüchte sind, hängt daher besonders in Kleinstädten wie Konitz auch von ihrem Unterhaltungswert als Geschichte ab. Was aber den Unterhaltungswert der Geschichten um den Tod Ernst Winters ausmachte, war von Anfang an die Faszination des Bizarren. Verbrechen und vor allem Morde sind an sich schon faszinierend genug. Die bizarren Umstände des Konitzer Falls, vor allem die Zerstückelung
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des Opfers und das Auftauchen immer wieder neuer Leichenteile an den verschiedensten Ecken der Stadt, erregten außergewöhnliches und langanhaltendes Interesse. Und sie beflügelten die Phantasie. Ein derart spektakulärer Kriminalfall schrie geradezu nach einer spektakulären Auflösung. Was aber war spektakulärer als die Erklärung, Ernst Winter sei Opfer eines finsteren religiösen Rituals geworden, an dessen Vertuschung selbst die höchsten staatlichen Stellen mitarbeiteten? Was war dagegen Inspektor Brauns kühle Diagnose eines Totschlags im Affekt, begangen von einem Einzeltäter? Wie auch die Theorie eines homosexuellen Lustmordes erreichte sie nicht entfernt die Faszination des Bizarren, die von der Vorstellung einer weitverzweigten jüdischen Verschwörung ausging. Diese Vorstellung, dass alle Juden aus Konitz und Umgebung zumindest Mitwisser des Mordes an Winter waren, bot zudem einer sehr großen Zahl von potentiellen Erzählern die Gelegenheit, über persönlich Bekannte zu klatschen. Das machte das Ritualmordgerücht noch faszinierender. Denn Gerüchte über Bekannte sind immer pikanter als solche über Unbekannte. Deshalb war auch das Gerede über Gustav Hoffmann weiter verbreitet als das über Plath und Weichel, obwohl Totschlag im Affekt sicher weniger bizarr ist als homosexueller Lustmord. Hoffmann zog aber als Obermeister der Metzgerinnung und Stadtverordneter nicht nur viel Sozialneid auf sich, er hatte als städtischer Honoratior auch einen hohen Bekanntheitsgrad in Konitz. Das machte den Klatsch über ihn attraktiver.46 Für das Ritualmordgerücht galt das freilich noch um ein Vielfaches mehr, und zwar nicht allein in der Stadt, sondern ebenso im Umland. Wo es 1900 zu antisemitischen Ausschreitungen kam, machten Juden zwischen vier und 16 Prozent der Bevölkerung aus.47 Fast jeder Christ hatte hier jüdische Nachbarn oder Geschäftspartner. Wer in der Region über den alle interessierenden Fall Winter mitreden und durch Andeutungen über die Verwicklung gemeinsamer Bekannter in den Fall Aufmerksamkeit erregen wollte, dem bot das Ritualmordgerücht dafür ungleich größere Möglichkeiten als jedes andere. Zweifellos besaßen auch die Gerüchte über Hoffmann, Plath und Weichel manches an Unterhaltungswert. Vor allem verbanden sie Elemente von sex and crime. Solche Elemente fehlten im Ritualmordgerücht freilich auch nicht. Ernst Winter wurden ja nicht nur Verhältnisse mit Anna Hoffmann und Plath nachgesagt, sondern auch intime Beziehun-
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gen zu den Töchtern der jüdischen Kaufleute Caspari und Tuchler. In der Stadt tuschelte man deshalb, Selma Tuchler und Meta Caspari hätten für die jüdische Gemeinde Lockvögel gespielt, um Winter in die Falle zu führen. Gerüchteweise hatte der junge Mann an seinem Todestag Blumensträuße bei den Mädchen oder bei Lewys abgeben lassen. Vorsichtig kolportierte die Staatsbürger-Zeitung Gerede von einem angeblichen Stelldichein Winters «mit den Jüdinnen, mit denen er poussierte».48 Die damit schamhaft angedeutete menage à trois stand an verbotener Faszination den Phantasien über homosexuelle Praktiken zwischen Winter und Plath oder Weichel in nichts nach. Beides weiter auszumalen, verbot jedoch die viktorianische Prüderie der Zeit. Und darin lag das entscheidende Handicap für eine Verbreitung der Gerüchte, die von einem Lustmord oder einem Eifersuchtsdrama als Ursache für Winters Tod ausgingen. Sexualität war um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ein Tabu. Die Gerüchte, nach denen Ernst Winter Opfer eines Sexualverbrechens geworden war, konnten daher ihr Potential nie wirklich entfalten. Sie ließen sich nur hinter vorgehaltener Hand in unvollständiger Form erzählen. Wer sie öffentlich propagieren wollte, um dem Ritualmordgerücht etwas entgegenzusetzen und der antisemitischen Agitation das Wasser abzugraben, stieß bald an die Grenzen der «Schicklichkeit». Organisationen wie der Verein zur Abwehr des Antisemitismus und die liberale Presse mussten sich deshalb mit Andeutungen begnügen. Auf Judenfeindschaft lag damals dagegen noch kein vergleichbares Tabu. Erst seit 1945 ist jede Form von Antisemitismus in Deutschland tabuisiert. Das galt 1900 noch nicht. Antisemitische Propaganda in Wort und Bild wurde bezeichnenderweise während der «Konitzer Affäre» nur selten von den Behörden verfolgt. Wie in den USA und vielen anderen Ländern noch heute galt sie auch während des Kaiserreichs als grundsätzlich durch das Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt. Antisemitische Agitation wurde von den Behörden ebenso behandelt wie Propaganda von Feministinnen oder Vegetariern: Wenn sie die öffentliche Ordnung nicht zu stören schien, wurde sie toleriert. Nicht Antisemitismus, sondern Sexualität war das große Tabu der Zeit. Dem Erfolg der Gerüchte über Hoffmann und andere vermeintliche Täter wurden dadurch enge Grenzen gesetzt. Das Ritualmordgerücht jedoch konnte, ungehindert von Tabus, seine bizarre Faszination voll entfalten.
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Zudem schufen die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen des späten 19. Jahrhunderts in Konitz und Umgebung günstige Voraussetzungen dafür. Durch die rabiate Germanisierungspolitik der Reichsleitung gegenüber den polnischen Bevölkerungsteilen verschlechterte sich das seit Längerem problematische Verhältnis zwischen Deutschen und Polen um 1900 im preußischen Osten noch weiter. Die Beamten dort wurden aus Berlin angewiesen, die «Förderung des Deutschtums» als «nationale Aufgabe» mit allen Mitteln und selbst in ihrer Freizeit zu betreiben. Der preußische Landtag genehmigte regelmäßig gewaltige Geldmittel für eine Ansiedlung deutscher «Kolonisten». Seit 1900 propagierte der wenige Jahre zuvor gegründete deutsche «Ostmarkenverein» sogar die Enteignung polnischer Landbesitzer. Eine religiös wie ethnisch eigentlich wesentlich komplexere Gesellschaft wurde durch die Germanisierungspolitik in zwei Lager polarisiert. Unterschiede zwischen Polen und Kaschuben waren um die Jahrhundertwende weitgehend verwischt. Besonders ruhte die bipolare Konstruktion nationaler Identitäten stark auf religiösen Fundamenten. Katholisch wurde allgemein mit polnisch gleichgesetzt. «Ich kann nicht evangelisch», antworteten die Bauern in der Umgebung von Konitz, wenn sie von einem Besucher auf Deutsch angesprochen wurden. Für die Protestanten in der Region um Konitz war ein Übertritt zum Katholizismus gleichbedeutend mit «polnisch werden».49 In dem sich immer mehr verschärfenden Nationalitätenkonflikt standen die Juden «ganz überwiegend im deutschen Lager». Das war jedenfalls ihre eigene Sicht der Dinge. «Auch von den Polen wurden sie dem deutschen Kreise zugerechnet.»50 Der polnische Antisemitismus erhielt dadurch in der Grenzregion eine besondere Schärfe. Denn hier wurden die Juden nicht nur als Juden, sondern zusätzlich auch als Parteigänger des Gegners im Kampf um die eigene «nationale Befreiung» wahrgenommen. Welche Monster diese Kombination von Antisemitismus und Nationalismus zeugen konnte, hatten die Grausamkeiten bereits demonstriert, die 1848 vor dem Hintergrund bewaffneter Kämpfe zwischen Deutschen und Polen an der jüdischen Bevölkerung in Posen verübt worden waren: Polnische Landwehrmänner «brachen in die Synagogen ein
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und zerstörten diese teilweise». An einem Ort schossen sie einen jüdischen Mann, «der eben aus dem Gotteshause kam, tot, stachen einem anderen Juden die Augen aus, schnitten einem dritten das Ohr ab und zerhackten ihm die Finger».51 Die forcierte Germanisierungspolitik des späten 19. Jahrhunderts hatten die polnischen Nationalisten dagegen bis 1900 noch ausschließlich mit Anschlägen auf deutsche Beamte beantwortet. Die «Wahlschlachten» zu Landtag und Reichstag bildeten immer wieder den Anlass «zu Schlägereien zwischen Polen und Deutschen».52 Das Zusammentreffen des Ritualmordgerüchts mit der Konitzer Landtagsersatzwahl im Frühjahr 1900 zog auch die Juden Westpreußens und Posens in den Strudel dieser Konflikte. Den Honoratioren des polnisch-katholischen Lagers kam das Gerücht gerade recht, um durch gezielten Wahlterrorismus die Stimmabgabe der wahlentscheidenden jüdischen Voten für den protestantischen deutschen Kandidaten zu verhindern. Systematisch wurde zu diesem Zweck die antisemitische Hysterie geschürt durch nationalpolnische Blätter und durch die Westpreußische Volkszeitung, das Organ der Zentrumspartei, deren verantwortlicher Redakteur Bruder des katholischen Pfarrers in Konitz war. Der Pfarrer selbst betrieb offenbar «planmäßige Hetze hinter den Kulissen».53 Nach der Wahlentscheidung im April 1900, die dem deutschprotestantischen Kandidaten einen hauchdünnen Sieg brachte, versuchte der Konitzer katholische Pfarrer dann die Wogen wieder zu glätten. In krassem Kontrast zu seiner früheren Haltung ermahnte er jetzt die polnische Landbevölkerung «dringend zu ruhigem Verhalten».54 Doch so leicht wurde er die einmal gerufenen Geister nicht wieder los. Die antisemitischen Ausschreitungen hatten eine eigene Dynamik gewonnen und ließen sich nicht ohne Weiteres einfach anhalten. Zudem war durch das Eingreifen deutscher Sicherheitskräfte zum Schutz der Juden bei den Wahlen eine neue Komponente ins Spiel gekommen. Die Lehrlinge, Gesellen und jungen Arbeiter, die in Konitz «fast ausnahmslos» Polen waren und bei den Krawallen in der ersten Reihe standen, hatten sichtbar Gefallen gefunden an der gewaltsamen Konfrontation mit den Pickelhaubenträgern des deutschen Obrigkeitsstaates, die sich ihnen in den Weg stellten.55 Besonders deutlich wurde das auf dem Höhepunkt der Krawalle am 10. Juni 1900. In Konitz waren die Ausschreitungen an diesem Tag schon
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weitgehend abgeebbt, als das Erscheinen des deutschen Militärs am Abend eine neue Welle von Gewalt hervorrief. Die Soldaten wurden «von Steinwürfen betroffen, auch gegen die Häuser begann wieder vereinzeltes Werfen». Als Hauptzielscheibe der polnischen Jugendlichen, die das Gros der Steinewerfer stellten, dienten die Repräsentanten der deutschen Staatsmacht. Mit ins Visier der Attacken waren diese schon bei früheren Ausschreitungen geraten. Bereits im April bemerkten Beobachter aus Konitz, die «Unruhe» sei «auch gegen behördliche Organe gerichtet». Von einem Krawall Ende Mai berichtete der Landrat: «Steine sind in großer Anzahl sowohl in die Fenster als auch gegen die Beamten geschleudert worden.» Demonstranten griffen Polizisten an und verletzten sie zum Teil schwer. Am 10. Juni entkamen Bürgermeister und Landrat demselben Schicksal nur durch die Flucht. Dem aus Berlin zur Untersuchung des Mordes an Ernst Winter entsandten Kriminalkommissar und seinem Konitzer Kollegen wurden Festgenommene entrissen und sie selbst von Demonstranten «durchgeprügelt», bevor diese sich am Abend mit dem Militär eine Straßenschlacht lieferten.56 Lieferte der politische Nationalitätenkonflikt zwischen Deutschen und Polen so wiederholt Zündfunken für antisemitische Ausschreitungen, so trug auch die wirtschaftliche Entwicklung in Konitz und Umgebung dazu bei. Die Industrialisierung und die Entstehung eines Weltmarkts erzeugten Spannungen zwischen Gewinnern und Verlierern dieser Entwicklung. Die Verlierer waren in dieser ländlichen Region, wo die Industrialisierung nur langsam vorankam, in der Überzahl. Den nach wie vor traditionell arbeitenden Konitzer Handwerkern bescherte der Anschluss an den Weltmarkt durch Eisenbahn und Dampfschiff vor allem die bisher ungewohnte Konkurrenz weit entfernter Industriebetriebe, die ihre Waren günstiger produzierten als sie. Die Bauern aus dem Umland erzielten im kalten Westpreußen auf mageren, sandigen Böden mit großem Aufwand nur dürftige Ernten. Mit Importen aus Übersee, wo auf besseren Böden und unter günstigeren klimatischen Bedingungen gearbeitet wurde, konnten sie immer weniger konkurrieren, je mehr die Ausweitung des Handels die Frachtkosten senkte. Die Juden, die in der Region überwiegend als Händler tätig waren, gehörten dagegen zu den Gewinnern der Globalisierung. Deshalb gerieten sie ins Visier der Verlierer in Landwirtschaft und Handwerk. Im Frühjahr 1900 verschärften erst Hagel- und Schneestürme, dann
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langanhaltende Dürre in der Region noch die krisenhafte Lage der Landwirte, von denen auch die meisten Handwerksbetriebe abhängig waren. Bei jüdischen Händlern verschuldete Bauern und Handwerker, die in dieser Situation auf ein Entgegenkommen ihrer Gläubiger hofften, wurden enttäuscht: Angesichts der Krisensituation hatte sich auch für die Händler der finanzielle Spielraum dermaßen verengt, dass eine Stundung von Krediten ihren wirtschaftlichen Ruin bedeutet hätte. Die Schuldner nutzten daraufhin die Gelegenheit, um unerkannt in der vielköpfigen randalierenden Menge den Juden einen «Denkzettel» zu erteilen. Bezeichnenderweise wurden die Ausschreitungen in Konitz, an denen sich viele Landwirte aus dem Umland beteiligten, und auf den Dörfern damit gerechtfertigt, die jüdischen Händler hätten ein «taktloses, undemütiges Betragen» an den Tag gelegt. Die jüdischen Akte der Gegenwehr galten zumindest einem Teil der Landbevölkerung als «Provokationen».57 Hinter dieser grotesken Umkehr von Ursache und Wirkung, von Opfer und Täter steckte eine perfide Logik. Trotz formeller Emanzipation der Juden wurden die jüdischen Händler und Kaufleute nur dann toleriert, wenn sie sich als nützlich erwiesen, indem sie «gutes Geld» fürs Vieh zahlten, günstige Kredite gaben und sonst nicht weiter auffielen. Offenbar kamen die Juden aus der Sicht zahlreicher christlicher Landwirte dieser Erwartung während der krisenhaften Entwicklung im Agrarsektor 1900 aber nicht mehr nach. In der Form einer rituellen Demütigung rief man den Juden deshalb ihre Außenseiterposition ins Gedächtnis. Dieser Erinnerung dienten die «Jud»-Rufe der Dorfgemeinschaft spielenden Randalierer, die regelmäßig am Anfang des Rituals standen. «Hepp-Hepp»-Sprechchöre erinnerten an die Pogrome vor der Emanzipation und aktualisierten so die traditionelle Drohung mit Vertreibung. Wenn die Juden die ihnen damit zugemutete Rolle des nur Geduldeten «demütig» annahmen, blieb es bei solchen verbalen Warnungen. Verhielten sie sich aber «in unangemessener Weise»,58 also anders als von ihnen erwartet, und setzten sie sich selbstbewusst zur Wehr, wurde das Ritual der Demütigung in verschärfter Form fortgesetzt. Die Demolierung von Fenstern und Türen verlieh der Vertreibungsdrohung dann auch handgreiflich Nachdruck. Darüber hinaus gingen die Ausschreitungen allerdings nur sehr selten. In zwei Fällen sollen Juden in der Umgebung von Konitz 1900 körperlich
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angegriffen und schwer verletzt worden sein. Angesichts von mehreren Dutzend antisemitischen Krawallen ist das auffallend wenig, zumal die Polizei bei den Ausschreitungen mehrfach jede Kontrolle über die Lage verlor. Außerdem kam gefährliche Körperverletzung in der Region ausgesprochen häufig vor – fünfmal so oft wie in Hamburg, viermal so oft wie in Sachsen, zweieinhalb so oft wie selbst in Berlin. Bei den Krawallen 1900 blieb dennoch Gewalt gegen Sachen die Regel, Gewalt gegen Menschen die seltene Ausnahme. Körperverletzung hätte nicht nur das Überschreiten einer Hemmschwelle bedeutet, die in Westpreußen, Posen und Pommern nach Ausweis der Kriminalstatistik freilich nicht besonders hoch war. Sie wäre auch kaum möglich gewesen, ohne dass Täter und Opfer sich ins Auge blickten. Das aber hätte jede Fortsetzung von Geschäftsbeziehungen unmöglich gemacht. Wohl auch deshalb bevorzugten die Täter den Schutz der Dunkelheit und die Anonymität der Menschenmenge. Anders als bei den Pogromen im nationalsozialistischen Deutschland seit 1933 wurden in Konitz und Umgebung 1900 keine Juden erschlagen. Die Angst der jüdischen Opfer war deshalb 1900 nicht geringer, ihre Erfahrungen nicht weniger traumatisierend. Der Konitzer Rabbiner bewahrte sein ganzes Leben lang einen Stein auf, der damals durch sein Fenster flog. Wer von den westpreußischen Juden 1900 das Splittern des Fensterglases und die «Hepp-Hepp»-Rufe gehört hatte, vergaß es nie mehr. Und genau das war für viele Träger der Ausschreitungen auf dem Land der Sinn der Krawalle. Auswärtige Antisemiten verfolgten darüber hinaus zwar auch das Ziel, die Juden zu vertreiben. Sie riefen 1900 zum Boykott jüdischer Geschäfte auf. Wären diese Aufrufe erfolgreich gewesen, hätten sie den jüdischen Händlern und Kaufleuten die Lebensgrundlage entzogen und diese so zur Abwanderung gezwungen. Aber die Boykottaufrufe fanden vor Ort kaum ein Echo. Die Mehrheit der christlichen Bevölkerung kaufte weiter bei den Juden. Deren Läden blühten jedenfalls auch nach 1900, ihr Einkommen stieg in den folgenden Jahren sogar an.59 Die meisten Christen in der ländlichen Region um Konitz waren durchaus weiter an den vorteilhaften Geschäftskontakten mit jüdischen Händlern interessiert. Das Ritualmordgerücht änderte daran langfristig wenig – auch wenn manche es kurzfristig zur «Disziplinierung» der Geschäftspartner nutzen mochten.
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Die Pogrome, die 1900 in Konitz und Umgebung stattfanden, waren kein Einzelfall. Bereits 1881 war es in der Region zu einer Welle von antisemitischen Ausschreitungen gekommen. Allerdings hatten die Unruhen damals im pommerschen Neustettin begonnen. Den Funken hatte damals auch kein Ritualmordgerücht geschlagen wie später in Konitz. Der Anstoß war stattdessen offenbar von einer Petition ausgegangen, die eine Rücknahme der bei der Reichsgründung gewährten staatsbürgerlichen Gleichberechtigung der Juden forderte und 1881 von etwa 225 000 Deutschen unterschrieben wurde. 1891 folgten erneut antisemitische Krawalle, diesmal aber am Niederrhein. Der Vorwurf eines jüdischen Ritualmordes in Xanten bildete den Auslöser. Gegenüber den Ausschreitungen im preußischen Osten davor und danach blieb das Verbreitungsgebiet hier relativ klein. Während die Vorfälle in Xanten lediglich den äußersten Norden der Rheinprovinz erschütterten, erfasste die Welle antisemitischer Gewalt 1881 die beiden preußischen Provinzen Pommern und Westpreußen.60 1900 brandeten die Ausläufer der «Konitzer Affäre» sogar bis in die Provinz Posen. Gemessen an geographischer Ausbreitung und Teilnehmerzahl, handelte es sich bei den Ausschreitungen von 1900 nicht nur um die massivsten Pogrome in der Zeit des Kaiserreichs: Schon seit 1849 hatte es keine vergleichbaren Ausbrüche antisemitischer Gewalt in Mitteleuropa mehr gegeben. Trotz dieser Diskontinuitäten haben manche Historiker das, was sich 1900 in Konitz und Umgebung abspielte, ausschließlich als Ausdruck einer Kontinuität antisemitischer Mentalitäten zu erklären versucht. Auf einen mysteriösen Mordfall, wie er sich dort ereignete, mit einem Ritualmordvorwurf gegen jüdische Nachbarn zu reagieren, sei ein in Jahrhunderten von Christen erlernter Reflex gewesen. Als Beleg dafür wird auf die lange Geschichte der Ritualmordanklagen seit dem Hochmittelalter verwiesen.61 Dieser Hinweis auf eine lange Tradition erklärt aber nicht, warum der gleiche Stimulus – ein nicht aufgeklärter Mord – über den Hebel des Ritualmordgerüchts einmal einen verheerenden Flächenbrand antisemitischer Ausschreitungen entfachte wie 1900 im preußischen Osten, ein andermal zu wesentlich eng begrenzteren Pogromen führte
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wie 1891 am Niederrhein, und meistens gar keine Gewaltaktionen gegen Juden provozierte wie 1884 im Konitz benachbarten Ort Skurz und in Dutzenden anderer Fälle während des Kaiserreichs.62 So wichtig ein kulturelles Phänomen langer Dauer wie die Ritualmordlegende als Auslöser der Unruhen von 1900 und 1891 war, so wenig war es ihre alleinige Ursache. Spezifische soziale und wirtschaftliche Bedingungen mussten hinzukommen, damit die hässlichen Pflanzen antisemitischer Gerüchte einen geeigneten Nährboden finden und ins Monströse wuchern konnten. Überhaupt keine Rolle spielte die Ritualmordlegende zudem für die Pogrome von 1881. Mit den Agitatoren antisemitischer Parteien tauchten in deren Vorfeld zudem neue, politisch organisierte Akteure auf, die es so in der langen Geschichte der Judenfeindschaft noch nicht gegeben hatte. Die erstmalige Bildung antisemitischer Parteien ab den späten 1870er Jahren des Kaiserreichs hat nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus große Aufmerksamkeit in der Geschichtsschreibung auf sich gezogen. Auch für die Pogrome im Kaiserreich ist ihre Bedeutung hervorgehoben worden. Die Ausschreitungen von 1881 waren die mittelbare Folge der von organisierten Judenfeinden initiierten Antisemitenpetition. In Xanten trugen 1891 antisemitische Parteizeitungen zur Verbreitung der Ritualmordgerüchte bei. In Konitz fielen nach dem Bekanntwerden erster Ritualmordvorwürfe ebenfalls einschlägigen Parteien verbundene Journalisten wie Aasgeier in die Region ein. Besonders unrühmlich tat sich die antisemitische Berliner Staatsbürger-Zeitung hervor. Sie druckte alles, was irgendwie den Glauben an einen Ritualmord stützte. Freilich haben die antisemitischen Parteien und ihre Presse diesen Glauben nicht begründet. Ritualmordvorwürfe gab es schließlich bereits Hunderte von Jahren, bevor es zu den ersten Bildungen judenfeindlicher Parteien kam. Deren Presse konnte den Vorwürfen zwar eine weitere Verbreitung geben. Sie stand dabei aber in Konkurrenz zu einer Vielzahl von Blättern, die das nicht taten. Zahlreiche liberale Zeitungen bekämpften auch das Ritualmordgerücht. Diese und viele unpolitische Blätter in Konitz und Umgebung boten zudem 1900 ein bereitwilliges Forum für wildeste Spekulationen über den Tod Ernst Winters, die Nichtjuden der Tat beschuldigten. So skrupellos die Parteiantisemiten auch agitierten: Ihre Arbeit wurde konterkariert von anti-antisemitischen liberalen Journalisten, die ebenfalls nicht gerade zimperlich waren in der Wahl ihrer
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Methoden. Doch diese Liberalen vermochten den Sumpf, in dem das Ritualmordgerücht blühte, ebenso wenig trockenzulegen, wie antisemitische Presse und Parteien ihn geschaffen hatten. Im Kreis Konitz hatte es vor 1900 keinerlei antisemitischen Organisationen gegeben. Während der 1880er und 1890er Jahre bekannte sich in der Stadt als Einziger ein Schneidermeister offen zu antisemitischen Ansichten, der deshalb geradezu als lokales Kuriosum galt. 1900 änderte sich das. Die deutschsprachige Lokalzeitung wandelte sich plötzlich zum Sprachrohr eines gehässigen Antisemitismus, als Fleischermeister Gustav Hoffmann, der Schwiegervater des einzigen Redakteurs, selbst des Mordes an Ernst Winter verdächtigt wurde. Der Verleger des Blattes, Führer der Konservativen im Konitzer Stadtrat, nutzte die antisemitische Bewegung in der Auseinandersetzung mit seinen liberalen Widersachern in der Kommunalpolitik. Eine Kontinuität antisemitischer Politik begründeten diese Entwicklungen jedoch nicht. Bei den nächsten allgemeinen Reichs- und Landtagswahlen 1903 warben die antisemitischen Parteien zwar intensiv um die Stimmen der Wähler in der Region um Konitz. Doch ihre eifrigen Bemühungen, im Windschatten der Ereignisse von 1900 dort eine reiche politische Ernte einzufahren, blieben fast überall vergebens. In vier Wahlkreisen wurden sogar Juden als deutsche Kandidaten in das preußische Abgeordnetenhaus gewählt. Dagegen konnten die Antisemiten in ganz Westpreußen und Posen 1903 nur ein einziges Reichstagsmandat gewinnen. In einem weiteren westpreußischen Wahlkreis entfiel auf einen ihrer Kandidaten ein Fünftel der abgegebenen Stimmen. Sonst blieb ihnen jeder Erfolg in den beiden Provinzen versagt. Und selbst die dürftigen Gewinne von 1903 gingen bei den folgenden Wahlen wieder vollständig verloren. Der Versuch, eine antisemitische Partei als festen Bestandteil der politischen Landschaft in den Grenzregionen des preußischen Ostens zu verankern, scheiterte. Nach 1900 orientierte die politische Kultur in dieser Landschaft sich vielmehr wieder entlang des Gegensatzes, der sie vorher geprägt hatte: des tief und mit vielen Wurzeln religiös wie gesellschaftlich verankerten Konflikts zwischen Deutschen und Polen. Das völlige Verbot der polnischen Sprache in den Schulen, das die preußische Regierung 1901 durchzusetzen begann, konzentrierte die Energien beider Seiten wieder voll auf den Nationalitätenkonflikt. Die Gewaltausbrüche während der
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bis 1907 andauernden Schulstreiks stellten die der «Konitzer Affäre» bald in den Schatten. Etwa die Hälfte der polnischen Kinder verweigerte in Posen, Westpreußen und Oberschlesien den Schulbesuch, Zehntausende Polen gerieten bei Versammlungen und Tumulten mit den deutschen Obrigkeiten aneinander. Schulhäuser wurden demoliert, Lehrer und Schulinspektoren verprügelt, mehrfach scharfe Schüsse auf deutsche Beamte abgegeben. Das hat die Konstruktion von Kontinuitäten der Gewalt zwischen den Pogromen von 1900 und den Massenmorden während des Zweiten Weltkriegs in der Geschichtsschreibung nicht verhindert. So seien, formulierte etwa Helmut Walser Smith, «die antisemitischen Ausschreitungen in Konitz 1900 die Vorboten einer Katastrophe» gewesen, «bei der das nationalsozialistische Deutschland, weit davon entfernt, die Juden zu schützen, nun ihre Vernichtung betrieb und beinahe auch vollendete. In Konitz riefen Demonstranten ‹Schlagt die Juden tot!›, und vierzig Jahre später tat eine deutsche Regierung, unterstützt von einem Aufgebot williger Vollstrecker und ganz normaler Männer, genau dies.» Für die antisemitischen Ausschreitungen von 1881 ist ähnlich argumentiert worden, nur der Schutz der Juden durch den Staat habe diese im Kaiserreich noch vor Schlimmerem bewahrt. Ab 1933 und vollends seit 1939 sei das dann anders geworden: «Als man ihnen die Gelegenheit dazu gab, hatten ganz gewöhnliche Männer, die Deutschen aus Konitz, keine Hemmungen, ihre Nachbarn zu ermorden.»63 Diese Thesen sind in mehrfacher Hinsicht fragwürdig. Erstens gingen die antisemitischen Krawalle in Konitz 1900 zunächst von Polen aus. Später beteiligten sich dann sowohl Deutsche wie Polen daran. Andere nichtjüdische Deutsche – auswärtige Journalisten und Kriminalisten, Konitzer Liberale und Repräsentanten der Behörden – verteidigten und schützten 1900 die angegriffenen Juden. 1939 verliefen die Konfliktlinien jedoch anders: Nun gingen Angehörige des «Volksdeutschen Selbstschutzes», von SS, Gestapo und deutscher Wehrmacht gegen Polen und Juden vor und töteten Hunderte von ihnen. Zweitens blieben Juden im Kaiserreich nicht nur deswegen davon verschont, totgeschlagen zu werden, weil die staatlichen Behörden sie schützten. Denn sowohl während der Pogrome von 1900 wie auch schon 1881 entglitt den Vertretern der Staatsmacht wiederholt die Kontrolle über die Situation. Die antisemitischen Krawallmacher hätten damals bereits genug Gelegenheiten für
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Mord und Totschlag gehabt. Dennoch beschränkten sie sich in beiden Fällen auf Beschädigung jüdischen Eigentums und symbolische Rituale der Demütigung, schreckten aber vor gewalttätigen Angriffen auf Personen und erst recht Mord zurück – in krassem Gegensatz zu 1939. Betrachtet man statt der Ausprägung antisemitischer Gewalt die Erfolge antisemitischer Organisationen, fallen ebenfalls deutliche Diskontinuitäten auf. Als antisemitische Partei gewann die NSDAP auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs einen gewaltigen Massenanhang. Ihr bestes Ergebnis bei deutschlandweiten freien Wahlen erzielte sie bei den Reichstagswahlen im Sommer 1932: Damals wurde sie von knapp 14 Millionen Deutschen gewählt, das waren mehr als 37 Prozent der abgegebenen Stimmen. Im Kaiserreich blieben antisemitische Parteien dagegen nicht nur in der Region um Konitz ein politisches Randphänomen. Sie erhielten nie mehr als 300 000 Stimmen. Selbst in der Zeit ihrer größten Erfolge, während der 1890er Jahre, konnten sie weniger als vier Prozent der Wähler auf sich vereinigen. Nach 1900 sank ihr Stimmenanteil noch weiter ab. Allerdings ist denkbar, dass judenfeindliches Gedankengut sich vor dem Ersten Weltkrieg von Parteien abgelöst und in verschiedensten Milieus und Verbänden ausgebreitet hat. Einem ansteckenden Virus vergleichbar, wäre Antisemitismus dann in andere Organisationen vorgedrungen und hätte in dieser diffusen Form eine weitere Verbreitung gefunden. Tatsächlich sind judenfeindliche Einstellungen nachweisbar bei Vereinen wie dem Bund der Landwirte oder dem Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband, einer Angestelltenorganisation. Diese scheinen auf den ersten Blick gesellschaftliche Kontinuitätslinien des Antisemitismus zu repräsentieren, die vom Kaiserreich ins Dritte Reich führen. Sieht man genauer hin, fragt sich aber zum einen, wie repräsentativ solche Organisationen waren. Von den organisierten Angestellten etwa gehörte die deutliche Mehrheit anderen Verbänden an als dem Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband, der als einziger judenfeindliche Positionen vertrat. Die Intensität, in der er das tat, nahm außerdem in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg ab – parallel zum Bedeutungsverlust der Antisemitenparteien. Der letztere Befund wirft zum anderen die Frage auf, was für ein relativer Stellenwert antisemitischen Positionen in denjenigen gesellschaftlichen Organisationen und Milieus zukam, wo sie vertreten wurden. Als wichtigstes Vehikel für die Verbreitung des Antisemitismus im
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wilhelminischen Kaiserreich wird der Bund der Landwirte angesehen. Der Bund wurde nach seiner Gründung 1893 schnell zu einer der größten gesellschaftlichen Massenorganisationen. Weithin eine sonst bis in die letzten Jahre vor dem Ersten Weltkrieg kaum vorhandene konservative Parteiorganisation ersetzend, kultivierte er eine rabiate Judenfeindschaft. Dabei knüpfte der Bund vielfach an Klischees an, wie sie ebenfalls von den antisemitischen Parteien verbreitet wurden, und zeichnete jüdische Händler und Geldverleiher als Feinde der Bauern. Allerdings machten im Korrespondenzblatt des Bundes der Landwirte, dem für die Propaganda des Verbandes zentralen Organ, Artikel mit judenfeindlichen Inhalten Jahr für Jahr nur gut ein Prozent des Inhalts aus. Die Interessenvertretung der agrarischen Bevölkerung war dem Bund letzten Endes immer wichtiger als die Vertretung antisemitischer Ideen. Gerade deshalb hat er im Kaiserreich wohl mehr Erfolg und Massenwirksamkeit erzielt als Organisationen, für die Antisemitismus das primäre Anliegen war. Zwischen dem Bund der Landwirte und den aristokratischen Honoratioren der Deutschkonservativen Partei, unter denen judenfeindliche Ressentiments ebenfalls weitverbreitet waren, ergab sich nach anfänglichen Schwierigkeiten eine immer engere Zusammenarbeit. Umgekehrt entwickelte sich das Verhältnis zwischen den Konservativen und jenen Gruppen, die Anhänger nicht wie der Bund in erster Linie durch wirtschaftliche Interessenpolitik, sondern über Antisemitismus zu mobilisieren versuchten. Vielen elitär denkenden Konservativen waren die entschiedenen Antisemiten von vornherein zu vulgär. Dennoch standen die meisten konservativen Honoratioren Aktivitäten wie denen des ehemaligen Hofpredigers Adolf Stoecker wohlwollend gegenüber, solange dieser mit seiner antisemitischen Agitation erfolgreich Stimmenfang für sie betrieb. Als die antisemitische Welle Mitte der 1890er Jahre allerdings wieder abebbte, ließen sie Stoecker fallen und warfen ihn schließlich aus ihrer Partei hinaus. Zwar blieben die Verbindungen zwischen Konservativen und Antisemiten in einigen Regionen wie Sachsen oder Baden auch nach 1900 eng. Doch die Mehrheit der Parteielite und auch die konservative Parteizentrale in Berlin sah in Judenfeindschaft vor allem ein wahltaktisches Instrument. Im Vergleich mit der Vertretung landwirtschaftlicher Interessen erwies sich dieses Instrument aber zumindest bis zum Ersten Weltkrieg als deutlich weniger effektiv.
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Während die häufig an der Idee eines «christlichen Staats» festhaltenden Konservativen des Kaiserreichs mit antisemitischem Denken noch einigermaßen sympathisierten, standen die Liberalen ihm denkbar fern. Die Emanzipation der Juden war von jeher eine liberale Forderung gewesen. Und nach ihrer Verwirklichung waren es immer wieder Liberale, die Juden in der Öffentlichkeit gegen Antisemiten verteidigten. In den Parlamenten wehrten sie alle Versuche ab, die jüdische Gleichberechtigung rückgängig zu machen. Erklärte Antisemiten diffamierten die Liberalen deshalb immer wieder als «Judenschutztruppe». Im Bismarckreich zählten die liberalen Parteien die meisten Juden unter ihren Abgeordneten. Ein maßgeblich von Liberalen gegründeter Verein zur Abwehr des Antisemitismus bemühte sich seit 1890 darum, judenfeindliche Verleumdungen vor Gericht zu bekämpfen. Auch in der «Konitzer Affäre» waren seine Vertreter 1900 aktiv. Nichtsdestoweniger sind die Liberalen nicht dem Vorwurf entgangen, ihre Haltung gegenüber dem Judentum sei zumindest ambivalent gewesen. Da der deutsche Liberalismus dem Ideal nationaler Homogenität verpflichtet war, habe er auf Dauer von den Juden die völlige Aufgabe ihrer separaten Identität erwartet. Das Recht auf Andersartigkeit sei diesen damit auch von ihren «Freunden» verweigert worden. Michael Brenner hat diese These polemisch zugespitzt, der Liberalismus des Kaiserreichs sei dadurch charakterisiert gewesen, dass «seine prominentesten Vertreter sich zwar der Sache der Juden annahmen, dem Judentum (beziehungsweise jüdischer Existenz in Deutschland) jedoch jegliche Daseinsberechtigung absprachen». Die Liberalen hätten es auf Elimination durch totale Assimilation angelegt. Der liberale «Philosemitismus» wird in dieser Sicht letzten Endes zu einer weichen Variante des Antisemitismus gestempelt, weil er sich mit dem deutschen Nationalismus verband.64 Diese These knüpft an zeitgenössische Vorwürfe an, die der angeblich überangepassten Mehrheit deutscher Juden bereits aus der zionistischen Minderheit gemacht worden sind. Die in Öffentlichkeit und Wissenschaft während der letzten Jahrzehnte geführten Debatten über Multikulturalismus haben ihr erneut Aktualität verliehen. An der historischen Realität des Verhältnisses zwischen Juden und Nichtjuden im liberalen Bürgertum vor 1933 geht sie freilich weitgehend vorbei. Neuere Lokalstudien belegen nämlich, dass die Liberalen sich keineswegs der
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Anerkennung von Andersartigkeit und Differenz versagten. Aus liberaler Sicht war ein Bekenntnis zur jüdischen Religion im Kaiserreich ohne Weiteres mit dem zur deutschen Nation vereinbar. Und für immer mehr Juden wurde das Entzünden von Kerzen am Weihnachtsbaum ebenso selbstverständlich wie am siebenarmigen Leuchter. Juden nahmen am allgemeinen Vereinswesen teil und bildeten daneben auch spezifisch jüdische Vereine. Homogenität stand neben durchaus akzeptierter Heterogenität. Jüdisch-nichtjüdisches Zusammenleben wurde im liberalen Bürgertum «in einem komplexen wechselseitigen Verhandlungsakt» gestaltet.65 Nicht die nationalen Ideen der liberalen bürgerlichen Eliten bereiteten einer gesellschaftlichen Ausgrenzung von Juden den Weg. Diese Ausgrenzung war auch keine Folge einer Abwanderung des Bürgertums vom Liberalismus nach rechts während des Kaiserreichs. In der Forschung hat sich ohnehin ein weitgehender Konsens darüber herauskristallisiert, dass Erster Weltkrieg und Revolution 1918 die entscheidende Zäsur in der Entwicklung des Antisemitismus in Deutschland bildeten. Ursache dafür war weniger ein politischer Frontwechsel der manchmal als «Meinungsführer» gesehenen bürgerlichen Eliten. Vielmehr war der Aufstieg des Antisemitismus nicht zuletzt gerade auf einen Bedeutungsverlust dieser Eliten zurückzuführen. Wie neuere Langzeitstudien gezeigt haben, rissen 1918 kulminierende Demokratisierungsprozesse vielfach auch die sozialen und kulturellen Schranken nieder, die der Einfluss bürgerlicher liberaler Honoratioren gegenüber einer von der gesellschaftlichen Basis ausgehenden Judenfeindschaft bis dahin aufrechterhalten hatte.66 Die wichtigste gesellschaftliche Basisbewegung im Kaiserreich war die sozialistische. Zur Zeit der deutschen Reichsgründung 1871 noch sehr klein, repräsentierte die Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkriegs das zahlenmäßig größte Sozialmilieu. Keine Partei zählte 1914 mehr Menschen in ihren Reihen als die SPD, kein Verband hatte mehr Mitglieder als die mit ihr eng verbundenen Freien Gewerkschaften. Bis in die frühen 1930er Jahre stellten die Sozialdemokraten auch die größte Fraktion im Reichstag, dann wurden sie von den Nationalsozialisten abgelöst. Die Frage nach dem Verhältnis der sozialistischen Arbeiterbewegung zu Juden und Antisemitismus ist deshalb von besonderer Bedeutung. Wenn die These einer wachsenden Diffusion des Antisemitismus während des Kaiserreichs außerhalb der antisemitischen
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Parteien richtig ist, dann müssten sich Belege dafür auch und gerade im Arbeitermilieu und in der darin wurzelnden SPD finden lassen. Wer suchet, der findet. Es gibt Anzeichen für Antisemitismus im sozialistischen Arbeitermilieu. Die Arbeiterbewegung war vor 1933 strikt antikapitalistisch eingestellt, und vor allem in ihrer antikapitalistischen Propaganda finden sich Versatzstücke von judenfeindlichen Klischees. Negative antijüdische Stereotype gehen pikanterweise mindestens bis auf Karl Marx zurück. Seitdem tauchten sie immer wieder in der Arbeiterbewegung auf. In der während des späten Kaiserreichs erschienenen sozialdemokratischen Unterhaltungsliteratur und Karikaturen des SPDSatireblattes Der wahre Jakob lassen sich diffamierende Darstellungen von Juden nachweisen. Diese populären Veröffentlichungen hatten eine wesentlich höhere Auflage als die politische Publizistik der Sozialdemokratie.67 Um die Jahrhundertwende verlagerte sich die Stoßrichtung sozialdemokratischer Agitation allerdings auch zunehmend auf Angriffe gegen die Deutschland regierenden aristokratischen «Junker», während die antikapitalistische Agitation der Partei, die gelegentlich judenfeindliche Klischees nutzte, relativ an Bedeutung verlor. Politisch nahm die SPD gegenüber den antisemitischen Parteien eindeutig Stellung. Denn die Sozialdemokraten sahen in diesen einen «Sozialismus der dummen Kerls» am Werk, von dem es sich nachdrücklich abzugrenzen galt. Infolgedessen wuchsen die Sympathien der deutschen Juden, die ursprünglich fast ausschließlich beim Liberalismus gelegen hatten, für die SPD. Die Sozialdemokratie avancierte neben den Liberalen zur politischen Richtung mit den meisten jüdischen Mitgliedern. Vor dem Ersten Weltkrieg gab es sogar mehr sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete, die sich zum jüdischen Glauben bekannten, als liberale. Immer mehr Juden wählten auch die SPD, weil sich diese in dem Maß, in dem sie zur stärksten politischen Kraft wurde, immer mehr gegen den Antisemitismus wandte. Wie im Sozialismus verbanden sich auch im Katholizismus tradierte judenfeindliche Klischees mit politischem Anti-Antisemitismus. Judenhass äußerte sich im katholischen Milieu hauptsächlich in Presse und Publizistik. Besonders während des «Kulturkampfs» der 1870er Jahre wimmelte es hier von antijüdischen Stereotypen. Katholische Autoren distanzierten sich zwar ausdrücklich von den antisemitischen Parteien. Sie griffen aber selbst oft auf negative Judenbilder vor allem aus dem
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Fundus christlicher Tradition zurück, darunter auch die Ritualmordlegende, und rechtfertigten deren Verwendung aus der Situation des «Kulturkampfs». Denn die Juden stünden in diesem auf Seiten ihrer liberalen Verbündeten, beteiligten sich also an Angriffen gegen die katholische Kirche und Religion. In mancher Hinsicht wurde damit nur alter Wein in neue Schläuche gegossen und die Fortsetzung alter, religiös motivierter Judenfeindschaft mit einer neuen Legitimation versehen. Allerdings nahm, als diese Legitimation mit dem Ende des «Kulturkampfs» wegfiel, die Frequenz judenfeindlicher Ausfälle in Druckerzeugnissen katholischer Herkunft ab. Ganz verschwanden sie aber während des Kaiserreichs nie. Denn zum einen gab es im katholischen Milieu konservative Kräfte, deren Judenhass dem der schlimmsten Parteiantisemiten in nichts nachstand. Zum anderen bildeten Presse und Publizistik den wichtigsten Kitt des katholischen Milieus. Kulturell verankerte Formen von Judenfeindschaft spielten für den inneren Zusammenhalt dieses Milieus, dessen verschiedene soziale Bestandteile nach dem Ende des «Kulturkampfs» mehr und mehr auseinanderzufallen drohten, eine gewisse Rolle. Dagegen trieb die zunehmend bürgerlich dominierte Führungsebene der Zentrumspartei, die in den Parlamenten die Vertretung des Milieus nach außen übernahm, in erster Linie die Furcht vor einer erneuten Diskriminierung durch die protestantische Bevölkerungsmehrheit um. Weil sie in einer Rücknahme der Judenemanzipation dafür einen Präzedenzfall sah, lag ein Kurs des politischen Anti-Antisemitismus nahe. Dieses Motiv wurde mit dem zeitgenössischen Schlagwort «Heute gegen Juda, morgen gegen Rom» bündig umschrieben. Im Reichstag und in den Parlamenten der Einzelstaaten hat das Zentrum antisemitische Anträge auf Aufhebung der Emanzipation oder Ausnahmegesetze gegen die jüdische Minderheit daher nicht unterstützt und oft bekämpft. Auch dafür war die Erfahrung des «Kulturkampfs» prägend. Denn was es hieß, eine von Ausnahmegesetzen verfolgte Minderheit zu sein, hatte die katholische Minderheit während der 1870er Jahre schmerzlich erfahren. Sowohl die anti-antisemitische «Außenpolitik» als auch die von sozialkulturell fundierter Judenfeindschaft angekränkelte «Innenpolitik» des katholischen Milieus waren nicht zuletzt auch pragmatisch bedingt. Je näher man sich mit der Stellung verschiedener Milieus zum Antisemitismus im Kaiserreich beschäftigt, desto fragwürdiger werden
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pauschale Urteile. Stattdessen zeichnet sich ein Spektrum ab, dessen Pole das relativ stark von Judenhass geprägte konservative Lager auf der einen, der davon vergleichsweise freie Liberalismus auf der anderen Seite sind. Aber auch innerhalb der Milieus gab es Differenzen. Sozialkulturell verankerte Judenfeindschaft konnte, wie besonders deutlich im Fall der sozialistischen Arbeiterbewegung und des Katholizismus, neben politischer Ablehnung des Antisemitismus stehen. Eindeutig ist nur die relative Schwäche der antisemitischen Parteien während des Kaiserreichs. Das gilt nicht allein im Verhältnis zu der Zeit nach 1918 und besonders ab 1930 in Deutschland. Auch im internationalen Vergleich blieb die deutsche antisemitische Bewegung im engeren Sinn bis zum Ersten Weltkrieg eher schwach. In Frankreich und erst recht in Russland war Antisemitismus politisch wesentlich virulenter als im deutschen Kaiserreich. 1898 wurden nahezu alle französischen Regionen von judenfeindlichen Demonstrationen und Ausschreitungen erschüttert. Dagegen wirkten selbst die größten Pogrome des Kaiserreichs zwei Jahre später in Konitz und Umgebung klein und unbedeutend. Erst recht trifft das für den Vergleich mit antisemitischen Ausschreitungen im Zarenreich zu: Diese forderten Anfang der 1880er Jahre schon Hunderte, zwischen 1904 und 1907 Tausende und 1917 schließlich Zehntausende Todesopfer.
Die «Barbarei längst verflossener Jahrhunderte»? Die «Barbarei längst verflossener Jahrhunderte»?
Was 1900 in Konitz geschah, steht in einer langen Reihe von Geschichten, die in scheinbar ermüdender Monotonie die Muster von Gerücht, Gewalt und Antisemitismus wiederholen. Diese lange Tradition der Ritualmordlegende hat Menschen, die sich selbst für modern und aufgeklärt hielten, wiederholt zu voreiligen Urteilen verleitet. Im Sommer 1834, ein Menschenalter vor den Ereignissen in Konitz und Hunderte Kilometer von der westpreußischen Kleinstadt entfernt, verbreitete sich am Niederrhein ein Ritualmordgerücht. Das sich dort entrollende Szenario ist vertraut. Auslöser war der Fund einer grausig zugerichteten Knabenleiche. Stimmen aus der Bevölkerung verdächtigten bald Juden als Mörder des Jungen. In mehreren Dörfern und Klein-
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städten des nördlichen Rheinlandes kam es zu antisemitischen Krawallen. Juden wurden beleidigt und bedroht, ihre Häuser demoliert, Synagogen verwüstet oder in Brand gesteckt. Es war nicht der erste Fall eines Ritualmordgerüchts in der Region. Eine Tradition des Ritualmordglaubens ist im Rheinland seit dem Spätmittelalter nachweisbar. Doch für manche Zeitgenossen kam es als ein Schock, dass diese Tradition auch im aufgeklärten 19. Jahrhundert noch lebendig war. Der grausige Leichenfund habe «einen aus der Barbarei längst verflossener Jahrhunderte hervorgegangenen Aberglauben geweckt», meinte der preußische Oberprokurator der Rheinprovinz 1834.68 Für Kinder der Aufklärung wie ihn war der Ritualmordglaube ein Ding aus einer anderen Welt – das Relikt einer finsteren Vergangenheit, die eigentlich längst vom Licht der Vernunft hätte vertrieben sein müssen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verfielen jene Zeitgenossen, die sich um eine Erklärung der «Konitzer Affäre» bemühten, in dieselben Deutungsmuster. So etwas sei nur in der tiefsten Provinz möglich, wo die Neuzeit eigentlich noch nicht begonnen habe. Das Ritualmordgerücht könne lediglich «finsterem Aberglauben entspringen». Die Fackeln moderner Wissenschaft und Bildung erhellten eben manchen dunklen Winkel der Gesellschaft noch nicht. Die Region um Konitz sei so ein dunkler Winkel; «der Konitzer Bevölkerung fehle die Bildung.» Vereinzelte vage Hinweise auf die Existenz eines Glaubens an Hexen und Vampire in der Gegend wurden bemüht, um diese These zu stützen.69 Damit einher ging die Etikettierung des Ritualmordglaubens als «Pöbelwahn». Die Verbreitung der antisemitischen Gerüchte sei ausschließlich das Werk eines vom Licht der Aufklärung noch nicht erleuchteten «Mobs» und «Janhagels». In liberalen Zeitschriften interpretierten Psychologen die Konitzer Ritualmordgerüchte in diesem Sinn als Resultat einer «Massensuggestion». Besonders «primitive Völker» und «unkultivierte» Menschen seien dafür anfällig.70 Das führte dazu, dass den Liberalen in Konitz nicht besonders viel Sympathie entgegenschlug. Die Interpretation des Ritualmordglaubens als «Pöbelwahn» ist heute noch populär.71 Dass hauptsächlich einfache und ungebildete Leute Juden des Ritualmords verdächtigten, behaupteten auch nationalsozialistische Historiker – allerdings mit ganz anderer Wertung. Für die Nationalsozialisten war diese Behauptung, um deren empirische Untermauerung sie sich freilich nicht weiter kümmerten, ein Beleg für die Chimäre des
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«gesunden Volksempfindens». Das «Volk» habe jüdische Heimtücke früher erkannt und bekämpft als die sich zu lange mit Zweifeln und Skrupeln aufhaltenden «Gebildeten».72 Aber diese These ist falsch. Zu den Köchen der Konitzer Gerüchteküche zählten Rechtsanwälte, Gymnasiallehrer, Ärzte und andere Akademiker ebenso wie einfaches «Volk». Auch anderswo waren unter den Anhängern des Ritualmordglaubens alle Bildungsgrade und sozialen Schichten vertreten. Genauso unhaltbar ist die Interpretation, das Blühen des Ritualmordgerüchts sei eine Folge von fehlendem Kontakt mit der Moderne in abgelegenen, «dunklen» Winkeln. Konitz war zwar sicherlich nicht der Nabel der Welt. Vor 1870 hatte es sogar noch in mancher Hinsicht an deren Ende gelegen. Aber seitdem waren einschneidende Veränderungen erfolgt. Wer 1900 nach dreißig Jahren Abwesenheit nach Konitz zurückkehrte, erkannte es kaum wieder. Ein ehrgeiziges Programm der Stadtentwicklung hatte sein Gesicht vollständig verändert. Statt in hutzeligen Holzhütten wie noch zur Zeit der Reichsgründung wohnte die Bevölkerung nun in mehrstöckigen Steinhäusern. Konnten damals zwei von fünf Bewohnern der Region weder lesen noch schreiben, war Analphabetismus bis 1900 fast ganz ausgerottet, ein leistungsfähiges Schulsystem aufgebaut worden. Es gab moderne Krankenhäuser und Abwasserentsorgung. Es gab ein gerade neueröffnetes Gas-, Wasser- und Elektrizitätswerk, das den letzten Stand der Technik repräsentierte. Hatte man bis in die 1860er Jahre auf matschigen Landstraßen unter Umständen noch tagelang gebraucht, um von Berlin nach Konitz zu kommen, so dauerte diese Reise 1900 mit der Eisenbahn nur wenige Stunden. Auch gut ausgebaute, befestigte Chausseen führten in alle Himmelsrichtungen. Über Telegraph, über das vor Kurzem erfundene Telefon und über eine vielfältige Presse standen die Konitzer in ständig intensiver werdendem Kontakt mit dem übrigen Deutschland. Der nahe Danziger Hafen verband mit der ganzen Welt. Die Region um Konitz war Teil einer modernen Weltwirtschaft geworden. Und es waren nicht zuletzt gerade auch die aus der Integration in diese Weltwirtschaft erwachsenden Probleme, die das Entstehen von Antisemitismus in der Region mitbegünstigten. Die Konitzer Ritualmordgerüchte lassen sich also nicht ohne Weiteres als das Aufwallen einer «Barbarei längst verflossener Jahrhunderte» erklären. Die Sache ist offensichtlich komplexer. Das wird noch deut-
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licher, wenn man die Identität der organisierten Antisemiten berücksichtigt, die sich den Konitzern als Sprachrohr für ihre Geschichten andienten. Denn diese Aufgabe wurde übernommen von der Staatsbürger-Zeitung, dem publizistischen Flaggschiff der Gruppe um Wilhelm Bruhn, die zu den ersten Vertretern eines «modernen» Antisemitismus gezählt wird. Von Programm und politischem Stil her war sie direkter Vorläufer des Nationalsozialismus. Auch dieser hat, obwohl eigentlich Inbegriff eines rassistischen, areligiösen Antisemitismus, sich häufig der Ritualmordpropaganda bedient. Unter den Einsatzkommandos und SSEinheiten, die während des Zweiten Weltkriegs die Ermordung der Juden durchführten, wurde sie gezielt verbreitet. Andererseits haben die durch Ritualmordgerüchte ausgelösten judenfeindlichen Ausschreitungen in Xanten und Konitz im Kaiserreich nicht die Antisemiten gestärkt, sondern vielmehr ihre Gegner. Beide Pogrome trieben dem 1890 von überwiegend nichtjüdischen Liberalen gegründeten Verein zur Abwehr des Antisemitismus neue Mitglieder zu. Die Krawalle in Xanten waren zudem einer der Gründe für die Entstehung des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, der wie der liberale Abwehrverein in der Folgezeit juristisch und publizistisch gegen antisemitische Strömungen in Deutschland vorging. Nach den Ereignissen in Konitz intensivierten beide Verbände ihre Anstrengungen noch einmal. Während des Kaiserreichs waren Abwehr- und Centralverein ausgesprochen erfolgreich. Weder in Xanten noch in Konitz und Umgebung konnten die antisemitischen Parteien dauerhaft Fuß fassen. Reichsweit verloren diese Parteien seit den 1890er Jahren an Einfluss und Unterstützung. Die deutschen Juden und ihre Verbündeten vor allem in Liberalismus und Sozialdemokratie wiegten sich deshalb mehr und mehr in dem Glauben, der Antisemitismus sei ein absterbendes Phänomen. Nach 1900 erschien ihnen die «Konitzer Affäre» zunehmend als letzter Ausdruck überwundener Vorurteile, als verhallendes Echo des alten Jahrhunderts. Die aufdämmernde Moderne werde endlich frei sein von der alten Geißel der Judenfeindschaft. Sie sollten sich irren.
KÖ PE N I C K , 16 . O K TO B E R 1906
Wilhelm Köpenick, Voigt kauft 16. Oktober eine Uniform 1906
Aus der «Verbrecherkartei» der Berliner Kriminalpolizei
Wilhelm Voigt kauft eine Uniform
D
en Coup hatte er schon seit Langem geplant. Jahre zuvor, er saß gerade eine seiner zahlreichen Vorstrafen ab, war zwischen Mitgefangenen eine Unterhaltung über das perfekte Verbrechen entstanden. Es sei schwierig, klagten die Knastbrüder, «mal ein ordentliches Geschäft zu machen, weil man so selten genügend Leute zusammenbekommen könnte, auf die wirklich Verlaß wäre». Nach seiner eigenen Erinnerung schaltete Wilhelm Voigt sich in das Gespräch mit der Bemerkung ein, er würde dafür «einfach Soldaten von der Straße holen!». Einer der Gesprächspartner gab der Polizei gegenüber detaillierter zu Protokoll, «Voigt habe gesagt: er würde sich als Offizier verkleiden und dann irgend wo eine Truppe anhalten, mit der er dann einen Raubzug unternehmen würde».1 Die Teile der Hauptmannsuniform kaufte er vorsichtshalber einzeln. Am 8. Oktober erwarb er bei einem Trödelhändler in Potsdam einen gebrauchten Offiziersmantel mit Überrock. Zwei Tage darauf kam Voigt zurück und erkundigte sich nach einem Helm mit Abzeichen des Garderegiments. Den hatte der Trödelhändler nicht. Er erkannte aber den Besucher wieder und fragte nach dem Mantel, den dieser gekauft hatte. Voigt gelang es, das Misstrauen des Mannes zu zerstreuen, indem er sich selbst als Händler ausgab. Den Mantel habe er «mit kleinem Nutzen weiter verkauft». Dann bezahlte er für eine Feldbinde und ging. Noch einmal zwei Tage später, am 12. Oktober, besuchte er den Trödler vormittags ein drittes Mal und erstand eine alte, abgetragene Offiziershose. Wie bei dem Helm blieb er auch bei der Suche nach gebrauchten Uniformsporen erfolglos. Die Sporen musste er deshalb, ebenfalls in Potsdam am 12. Oktober, fabrikneu kaufen. Am Nachmittag des gleichen Tages erwarb er als Ersatz für den Helm noch eine neue Offiziersmütze mit Kokarde in einem Berliner Spezialgeschäft für Militärausrüstung, außerdem einen Degen mit Koppel. Die damit einigermaßen komplettierte Uniform gab er bei einem Bahnhofsportier zur Aufbewahrung. Am 15. Oktober holte er sie dort wieder ab. Vorher hatte Voigt sich den kurzen stoppeligen Vollbart, den er wohl
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zur Tarnung bei den Einkäufen getragen hatte und auch nach dem Coup wieder wachsen ließ, abrasiert. Dennoch machten die verschiedenen Zeugen weitgehend übereinstimmende Angaben zu seiner Person, mit denen die Polizei schließlich erfolgreich nach ihm fahnden konnte: «50– 60 Jahre alt, 1,75 m groß, schlank, nach vorn gebeugte Kopfhaltung, silbergraues etwa 1 cm langes dichtes Kopfhaar, grauer unter der Nase rötlich-blonder Schnurrbart, krankhaft gelbe Gesichtsfarbe, eingefallene Backen, vorstehende Backenknochen, ziemlich breites Gesicht, tiefliegende Augen, um dieselben bogenförmige Falten, große Ohren.» Diese Beschreibung auf den Fahndungsplakaten war ebenso treffend wie wenig schmeichelhaft. Sie gipfelte in der Aussage: «Der Täter, der schmale weiße Hände hat, ist auffallend häßlich.» Nur in einem Punkt stimmten die Aussagen der Zeugen ganz und gar nicht überein. Dem Verkäufer in dem Berliner Spezialgeschäft, wo Voigt die Militärmütze kaufte, kam dieser «etwas heruntergekommen vor». Er hatte den Eindruck, den verlotterten Diener eines Offiziers vor sich zu haben – obwohl der Kunde auf die Frage nach Größe der Mütze erklärte, sie müsse auf seinen eigenen Kopf passen. Auch der Trödelhändler in Potsdam glaubte einen Proleten vor sich zu haben. Voigt machte auf ihn «nicht den Eindruck eines besonders gebildeten Mannes». In krassem Kontrast dazu wirkte Voigt auf andere sogar ausgesprochen kultiviert, selbstsicher und selbstbewusst, «seine Redeweise gewählt». Diesen Zeugen schien er ein Mann von Stand zu sein, «da sein Benehmen auf einen gebildeten Menschen schließen ließ».2 Eines war der Gesuchte offenbar jedenfalls: ein guter Schauspieler. Bei dem Coup in Köpenick imitierte er so überzeugend den schnarrenden Befehlston eines preußischen Offiziers, dass der zusammengewürfelte Charakter seiner Uniform keinem auffiel. Auch dass er für den aktiven Militärdienst schon zu alt war, registrierte niemand. Das Fehlen des bei militärischen Einsätzen eigentlich vorgeschriebenen Helms wurde selbst von anderen Uniformierten nicht bemerkt. Dass der falsche Hauptmann die preußische und die deutsche Reichskokarde verkehrt herum an die Mütze gesteckt und seine Stiefelsporen falsch angebracht hatte, wagte einer der Gefoppten erst zu äußern, als Voigt längst über alle Berge war. Und obwohl dieser überhaupt keine O-Beine hatte, stolzierte er in Köpenick herum, als ob er den größten Teil seines Lebens auf Militärpferden verbracht hätte.
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Seine Tat war so aberwitzig, dass Zeitungen, Zeugen und teilweise auch die Polizei zunächst annahmen, es mit einem Irren zu tun zu haben. Im ersten Pressebericht war von der «Tat eines Geistesgestörten» die Rede. Der Bürgermeister von Köpenick sagte vor Gericht später aus, er habe am 16. Oktober geglaubt, «daß es sich vielleicht um einen geisteskranken Hauptmann handele». Der Köpenicker Stadtobersekretär pflichtete seinem Chef bei: Auch er sei anfangs davon ausgegangen, «es handele sich um die fixe Idee eines Geisteskranken». Die Fahndungsaufrufe der Berliner Polizei fragten danach, «ob vorbestrafte oder geisteskranke Personen, auf welche die Beschreibung zutrifft, bekannt sind». Polizeipräsident Georg von Borries ließ gezielt in Irrenhäusern nach gerade Entlassenen recherchieren.3 Der die Ermittlungen leitende Kriminalkommissar Arthur Wehn glaubte dagegen nicht an die Tat eines Irren. Wehn hatte in Konitz 1900 erfolglos nach dem Mörder von Ernst Winter gefahndet. Im Köpenicker Fall bewies er 1906 einen besseren Riecher. Von Anfang an war Wehn der Überzeugung, der Täter müsse ein Mann mit krimineller Vergangenheit sein. Die deshalb von ihm an alle Strafanstalten im Deutschen Reich gesandte Personenbeschreibung brachte schließlich den entscheidenden Hinweis. Der Direktor des Zuchthauses von Rawitsch in der preußischen Provinz Posen erinnerte sich an den erst im Februar des Jahres von dort entlassenen Sträfling Wilhelm Voigt, auf dessen Äußeres die Beschreibung passte. Und ein noch in Rawitsch einsitzender Mithäftling bestätigte, der Entlassene habe «eine Sache mit dem Militär drehen wollen».4 Die 15 Jahre, die Voigt in Rawitsch abgesessen hatte, waren bereits mindestens seine siebte Freiheitsstrafe. Geboren wurde er 1849 im ostpreußischen Tilsit, an der Grenze zu Russland. Direkt gegenüber der elterlichen Wohnung liegt die Garnison des örtlichen Regiments. Uniformen und Waffen faszinieren den Jungen nach eigener späterer Aussage von Kindesbeinen an, Soldaten des Tilsiter Regiments behandeln ihn wie ein Maskottchen: So «fängt der Knabe an, Soldat zu spielen, sobald er laufen kann». Erzählungen der Großväter von den «Befreiungskriegen» gegen Napoleon und des Vaters, der als preußischer Soldat im Geburtsjahr des Sohnes an der Niederschlagung der revolutionären Bewegung in Baden beteiligt ist, verstärken das Interesse am Militär. Doch die Hoffnungen des aufgeweckten Jungen, «durch Vermittelung der
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Armee zu einer angesehenen Beamtenstellung gelangen» zu können, werden enttäuscht. Weil er schon als Jugendlicher zu einer Haftstrafe wegen Bettelei verurteilt worden ist, bleibt seine Bewerbung beim Militär-Bezirkskommando erfolglos. Stattdessen erlernt er das Handwerk eines Schuhmachers wie schon der Vater. Glaubt man den Erinnerungen des Sohnes, verzockte Voigt senior allerdings seinen Verdienst regelmäßig beim Glücksspiel. Auch soll der Vater oft Frau und Kinder geschlagen haben. Vor solchen Prügeln flüchtend, will der junge Wilhelm Voigt 1863 einmal «halbnackt auf die Straße gerannt» sein. Im Haus eines abwesenden Nachbarn habe er sich dann «dort hängende Kleider» übergezogen, «um meine Blöße zu bedecken», und sei geflüchtet. Der Nachbar verklagt den Vierzehnjährigen wegen Diebstahls, und das Kreisgericht seiner Heimatstadt verurteilt ihn zu zwei Wochen Gefängnis. Der Behauptung des Jungen, er habe die Kleider doch nur leihen wollen, schenkt der Richter keinen Glauben.5 Weniger als drei Monate später wird Voigt zum zweiten Mal straffällig, wieder wegen eines Diebstahls. In seinen Lebenserinnerungen erwähnt er das nicht. Diesmal handelt es sich offenbar um einen größeren Fischzug, denn das Tilsiter Gericht brummt ihm drei Monate Haft auf. Ein Jahr später, er ist mittlerweile 15 Jahre alt, erwischt man ihn ein drittes Mal: Erneut hat er sich als Langfinger betätigt. Wegen Diebstahls «im wiederholten Rückfall» verurteilt ihn der Tilsiter Richter zu neun Monaten Gefängnis, plus ein Jahr Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte.6 Auch darüber geht Voigt in seinen Memoiren mit Stillschweigen hinweg. Mitte 1866 aus dem Gefängnis entlassen, zieht er über Danzig, wo ihn die Schiffe der preußischen Kriegsmarine beeindrucken, nach Berlin. Dort mausert er sich vom einfachen Dieb zum raffinierten Urkundenfälscher und erleichtert eine Zeit lang die Reichspost um größere Geldsummen. Voigt nutzt dazu Postanweisungen, eine frühe bargeldlose Form des Zahlungsverkehrs. Er zahlt unter falschem Namen zunächst einen geringen einstelligen Geldbetrag bei einer Postfiliale ein, füllt ein Anweisungsformular darüber aus und lässt dieses an sich selbst zustellen. Dann fügt er auf dem Formular eine zweite Zahl hinzu. Aus einem einstelligen wird so ein zweistelliger Geldbetrag. Den lässt er sich in einer anderen Postfiliale auszahlen. Das gelingt ihm wenigstens zehn Mal, bis die geschickt gemachten Fälschungen schließlich doch auffallen. Noch
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nicht 18 Jahre alt, wird er im Januar 1867 erneut verhaftet. Das Schwurgericht Prenzlau verurteilt ihn zu zehn Jahren Zuchthaus und 1500 Talern Geldstrafe. Weil er die nicht zahlen kann, wird die Freiheitsstrafe ersatzweise um noch einmal zwei Jahre verlängert. Den deutsch-französischen Krieg von 1870 / 71 und die Reichsgründung erlebt Wilhelm Voigt so hinter Gittern mit. Seiner ungebrochenen Begeisterung für alles Militärische kann er nur in der Gefängnisbibliothek frönen. Dort liest er zahlreiche historische und andere Bücher, vor allem über preußische Armeegeschichte. Aus dieser Lektüre ergibt sich für ihn «als Resümee, daß Gewalt allemal vor Recht geht und daß der Begriff ‹Recht›, wie man ihn auch auffaßt, in Wirklichkeit eine reine Idee, d. h. illusorisch», sei. Im Zusammenhang damit verfestigt sich wohl auch die Auffassung, selbst ein Opfer von gesellschaftlichen Umständen, Justiz- und Behördenwillkür geworden zu sein, die jedenfalls seine später geschriebenen Lebenserinnerungen durchzieht.7 Nach Verbüßung von insgesamt zwölf Jahren Haft kommt Voigt 1879 wieder frei. Ein Jahrzehnt lang wird er danach nicht mehr rückfällig – zumindest nicht in Deutschland. Zeitgenössische Dokumente, die zuverlässig Auskunft darüber geben könnten, wo er sich in dieser Zeit aufgehalten und was er dort getan hat, gibt es nicht. Selber sollte Voigt später mehrfach behaupten, er habe damals zunächst in Schuhfabriken in Erfurt und Eisenach gearbeitet, dann in häufig wechselnden Orten in Österreich-Ungarn, Rumänien und Russland. Nirgends sei er länger geblieben oder engere Beziehungen eingegangen. Ein andermal erklärte er dagegen, in Prag geheiratet und vier Kinder gezeugt zu haben.8 1889 hält er sich jedenfalls wieder nachweislich in Deutschland auf – und kommt prompt einmal mehr mit dem Gesetz in Konflikt. Er wird erneut beschuldigt, gestohlen zu haben. Wie schon früher verteidigt er sich, er habe das fremde Eigentum – diesmal ist es ein Musikinstrument – nur ausleihen wollen. Zurückgebracht hatte er es freilich nicht. Mit einem Jahr Freiheitsentzug fällt die Strafe relativ glimpflich aus – wahrscheinlich auch, weil er sich mittlerweile den Vornamen Richard zugelegt hat und deswegen zunächst nicht als der mehrfach vorbestrafte Wilhelm Voigt identifiziert wird. Als die teilweise Neuerfindung seiner Identität dann doch auffliegt, bekommt er noch eine zusätzliche Strafe wegen Urkundenfälschung aufgebrummt. Im Gefängnis lernt er den Mithäftling Wilhelm Kallenberg näher
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kennen. Von Kallenberg soll 1906 der entscheidende Hinweis kommen, durch den Kriminalkommissar Wehn Voigt schließlich dingfest machen kann. Nach ihrer Entlassung 1891 brechen Kallenberg und Voigt, beide mit Revolvern und Sprengstoff bis an die Zähne bewaffnet, in der Provinz Posen in das Gericht von Wongrowitz ein, um die Gerichtskasse zu stehlen. Doch die Einbrecher werden auf frischer Tat ertappt und verhaftet. Diesmal gesteht Voigt rückhaltlos alles ein. Aber es hilft ihm nichts, seine Hoffnung auf ein niedriges Strafmaß wird bitter enttäuscht. Man verurteilt ihn wegen schweren bewaffneten Diebstahls zu seiner höchsten Strafe: 15 Jahre Zuchthaus. Während Voigt mit Kallenberg seine Strafe abbüßt, entwickelt er im Gespräch mit diesem den Plan eines Raubzugs mit Hilfe von Soldaten. Im Februar 1906 wird er wieder auf freien Fuß gesetzt, bleibt aber als mehrfach vorbestrafter «schwerer Junge» unter Polizeiaufsicht. Mittlerweile ist er 57 Jahre alt. Mehr als die Hälfte seines Lebens hat er hinter Gittern verbracht. Voigt sollte später behaupten, sich vor seiner Entlassung aus dem Zuchthaus um einen Reisepass bemüht zu haben. Sein Plan sei nämlich gewesen, «gar nicht erst eine Anstellung in einem Betriebe innerhalb des Deutschen Reiches zu suchen, sondern vielmehr direkt entweder nach Österreich-Ungarn oder Rußland zurückzukehren». Gleich mehrere zuständige Stellen hätten ihm nacheinander aber einen solchen Pass verweigert, und zwar ohne Angabe von Gründen. Belastbare Belege gibt es dafür allerdings keine. Sogar ein von Voigt selbst benannter Zeuge, der bekunden sollte, dass ihm in seiner Heimatstadt Tilsit die Ausstellung eines Passes verweigert worden war, konnte das nicht bestätigen.9 Zweifelsfrei belegt ist dagegen, dass der vorbestrafte Schuster in Wismar, wo er nach seiner Entlassung im Februar 1906 Arbeit in der Werkstatt des mecklenburgischen Hofschuhmachers fand, Ärger mit den Behörden bekam. Die Polizei erkundigte sich zunächst regelmäßig bei Voigts neuem Arbeitgeber über dessen Verhalten. Der Hofschuhmacher stellte seinem Mitarbeiter aber ein gutes Leumundszeugnis aus. Voigts Geschichte war ihm bekannt, und er wollte dem Vorbestraften eine Chance zur Resozialisierung geben. Die zuständigen Beamten bei der Wismarer Polizei teilten diese Einstellung offenbar nicht: Im Juni wurde Voigt aus der Stadt und ganz Mecklenburg ausgewiesen. Der Schuhmacher fand Unterschlupf bei seiner verheirateten Schwes-
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ter in Rixdorf, dem heutigen Berliner Stadtteil Neukölln, damals noch eine selbständige Stadtgemeinde. Ein Fabrikant von Pantoffeln und Filzschuhen stellte ihn als Arbeiter ein. Auch auf diesen Arbeitgeber, der allerdings von seinem kriminellen Vorleben nichts wusste, machte Voigt einen fleißigen und «vollkommen vertrauenerweckenden Eindruck». Wie in Wismar hatte freilich die Rixdorfer Polizei diesen Eindruck nicht. Nachdem Voigt mit sechseinhalb Wochen Verspätung Anfang August bei der zuständigen Polizeibehörde seinen neuen Wohnsitz bei der Schwester angemeldet hatte, wurde dieser am 24. August eine Ausweisungsverfügung für ihren von den Beamten nicht angetroffenen Bruder zugestellt. Als «eine für die öffentliche Sicherheit und Moralität gefährliche Person» müsse dieser innerhalb von 14 Tagen Berlin und Umgebung verlassen.10 Schon die erste Ausweisung hatte Voigt nach eigener Aussage «wie der Schlag einer Axt auf den Kopf» getroffen. Für die zweite dürfte das erst recht gegolten haben, musste er doch nun fürchten, dass «auch die nachfolgenden Orte, die ich aufsuchte, mit der gleichen Rücksichtslosigkeit gegen mich verfahren würden». Dass die Ausweisung aus Berlin im August auch den Anstoß für den Plan seiner «Köpenickiade» gab, wie er später behauptete, ist hingegen zweifelhaft. Schließlich hatte er die Idee dafür in Grundzügen schon Jahre zuvor entwickelt. Und in der Berliner Pantoffel- und Filzschuhfabrik, wo er bereits seit Juni arbeitete, äußerte er wiederholt, er werde bald reich genug sein, um sich selbständig zu machen. Die Kollegen schenkten allerdings «seinen Worten niemals einen rechten Glauben», zumal die angebliche Quelle des zukünftigen Wohlstands häufiger wechselte: Einmal wollte er eine Erbschaft gemacht haben; dann wiederum erwähnte er ein «großes Kapital, das er in Odessa besitze». Nach Einschätzung von Kriminalkommissar Wehn dienten diese Geschichten dazu, seine Umgebung auf den plötzlichen Reichtum vorzubereiten, den Voigt sich von dem geplanten Raubzug in Köpenick erwartete.11 Ende September – die in der Ausweisungsverfügung gesetzte Frist war schon seit drei Wochen verstrichen – legte Voigt die Arbeit in der Fabrik nieder. Bei Krankenkasse und Polizei meldete er sich ab und gab an, nach Hamburg ziehen zu wollen. Tatsächlich zog er aber nach BerlinFriedrichshain, ohne sich dort polizeilich anzumelden. Zwischendurch befiel ihn möglicherweise Angst vor der eigenen Courage, denn Anfang Oktober wurde er wieder bei seiner alten Arbeitsstelle vorstellig und bat
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um Weiterbeschäftigung. Sein Arbeitsplatz war mittlerweile neu besetzt worden. Der Fabrikant bot ihm aber eine andere Tätigkeit an. Die sagte Voigt freilich nicht zu, und am 6. Oktober verließ er die Pantoffel- und Filzschuhfabrik endgültig. Zwei Tage darauf begann er, die Teile der Hauptmannsuniform zusammenzukaufen. Als er diese mit Ausnahme des nicht zu bekommenden Helms beisammenhatte, besuchte er am 14. Oktober eine Bekannte seiner Schwester, zu der er eine so enge Beziehung aufgebaut hatte, dass die Frau sich als seine Verlobte betrachtete. Ihr sagte er, er müsse verreisen, um eine Erbschaft anzutreten, dann könne er heiraten. Am folgenden Tag holte er die Uniformteile von dem Bahnhof ab, wo er sie hatte aufbewahren lassen. Nach kurzer Nachtruhe stand er am Morgen des 16. früh auf, legte die Uniform an, verließ vor Morgengrauen das Haus und nahm den ersten Zug nach Köpenick.
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Als Ziel seines Raubzugs waren von Voigt verschiedene Orte in der Umgebung von Berlin ins Auge gefasst worden. Am 15. Oktober hatte er deswegen, bereits in Uniform, Nauen besucht und sich da umgesehen. Auch Bernau und Oranienburg waren in die engere Wahl gekommen. Am Ende entschied er sich für Köpenick, weil es von Berlin aus am einfachsten zu erreichen war. Außerdem gab es dort keine Garnison, deren Offiziere den falschen Hauptmann hätten entlarven oder ihm in die Quere kommen können. Und schließlich hatten Anfang Oktober Zeitungen über Pläne der Köpenicker Verwaltung berichtet, einen neuen Tresor für die Stadtkasse anzuschaffen, weil dort zwei Millionen Mark in Wertpapieren lagerten. Etwa um halb fünf Uhr morgens kam Voigt in Köpenick an und kundschaftete zunächst die Umgebung des Rathauses aus. Dann trank er Kaffee in einem Lokal, dessen Wirt sich später an den ungewohnten Anblick eines Armeeoffiziers erinnerte. Noch vor sechs Uhr kehrte er mit dem Zug wieder nach Berlin zurück. Dabei erregte er die Aufmerksamkeit von mitfahrenden Arbeitern, die sich wunderten, dass ein Hauptmann dritte Klasse fuhr. Am Vormittag wurde er wiederholt in Plötzensee gesehen. Die meiste Zeit verbrachte er in einer Kneipe gegenüber
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der Charité. Am See befand sich eine Militärbadeanstalt und in der Nähe ein Schießstand, wo ein halbes Dutzend Soldaten des vierten Garderegiments Wache schoben. Voigt hatte während der Vortage in Erfahrung gebracht, dass diese Truppe regelmäßig um ein Uhr mittags abgelöst wurde. Als er kurz vor eins in Richtung des Schießstands ging, kamen ihm jedoch Soldaten unter Führung eines Gefreiten von der Militärbadeanstalt entgegen. Voigt rief den Gefreiten an und befahl ihm, auch die Gruppe vom Schießstand zu holen. Dann gab er «in sehr energischer Weise» die Anweisung: «Die abgelöste Wache hat sofort meinem Befehl zu folgen, um auf Allerhöchste Anweisung des Kaisers eine Verhaftung vorzunehmen.»12 Die Soldaten folgten dem Mann in Hauptmannsuniform ohne Widerspruch. Voigt marschierte mit ihnen zum nächstgelegenen Bahnhof, wo er Fahrkarten dritter Klasse für seine Truppe und zweiter Klasse für sich selbst löste. Beim Umsteigen in Rummelsburg gab er eine Runde Bier aus. Selber ließ er sich ein Glas Kognak bringen. Um Viertel vor drei am Köpenicker Bahnhof angekommen, drückte er dem Gefreiten einen Zwanzigmarkschein in die Hand und wies ihn an, für die Männer ein Mittagessen zu kaufen. Nach dem Essen in der Bahnhofsgaststätte ließ Voigt die Soldaten vor dem Bahnhof antreten, auf Kommando in Dreiergruppen nach rechts und nach links marschieren und gab dann den Befehl, die Bajonette aufzupflanzen. Zwei der Männer gaben später an, während der Bahnfahrt seien ihnen doch Zweifel gekommen, ob es sich tatsächlich um einen echten Hauptmann handele. Auf dem Bahnhofsvorplatz und auch später spielte ihr selbsternannter Kommandeur seine Rolle aber so gut, dass jeder Verdacht in ihnen erstarb. Gegen halb vier marschierte die Truppe schließlich vor dem Köpenicker Rathaus vor. Voigt befahl vier der Soldaten, vor den Eingängen Posten zu beziehen. Niemand dürfe ohne seine ausdrückliche Erlaubnis das Rathaus verlassen oder betreten. Die Männer taten wie ihnen befohlen. Mitgliedern städtischer Behörden, dem Wirt des Restaurants im Rathauskeller und seinen Gästen, die nach den Gründen dafür fragten oder sich beschwerten, erklärten die Uniformierten nur: «Auf Befehl Seiner Majestät ist das Rathaus besetzt.» Rund um das Gebäude versammelten sich Schaulustige, deren Zahl bald einige Hundert betrug. Weil die Menge zunehmend Pferdekutschen und Automobilen die Weiterfahrt unmöglich machte, griffen einige Polizisten ein und versuchten den Verkehr zu regeln.13
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Im Erdgeschoss des Rathauses hatte Voigt währenddessen zwei seiner Männer angewiesen, auf dem Flur Posten zu beziehen. Dort sollten sie dafür sorgen, dass die Mitarbeiter der Behörde in ihren Büros blieben und den Flur nicht betraten. Jeder Kontakt zwischen den städtischen Beschäftigten sei zu unterbinden. Selbst stieg der falsche Hauptmann mit den übrigen Soldaten die Treppe zum ersten Stock hinauf. Dort trafen sie im Korridor auf den Stadtobersekretär Rosenkranz. Voigt fragte diesen zunächst, wer er sei, und erklärte dem verdutzten Beamten dann, «er sei im allerhöchsten Auftrage verhaftet. Er möge sich möglichst ruhig verhalten, um jedes Aufsehen zu vermeiden». Als Rosenkranz nach dem Grund für seine Verhaftung fragte, improvisierte der als Offizier kostümierte Schuhmacher: «Das werden Sie ja selber wissen. Es handelt sich um die Kanalisation, der Landrat ist fuchswild und hat schon ganz Berlin in Aufregung versetzt.» Der Sekretär gab sich damit aber nicht zufrieden und verlangte mehr Informationen. Das ignorierend, wies Voigt stattdessen einen der Soldaten an, den Beamten in sein Büro zu bringen und dort zu bewachen.14 Einige von Rosenkranz’ Kollegen hatten, durch den zunehmend lauter geführten Wortwechsel aufgeschreckt, mittlerweile ihre Bürotüren geöffnet, um nachzusehen, was dort auf dem Gang los war. Einige waren auch auf den Korridor getreten. In «ganz strammem militärischen Tone» schnauzte der falsche Hauptmann sie an: «Scheren Sie sich schleunigst in ihre Bureaus zurück, sonst lasse ich Gewalt anwenden.» Dann betrat er, gefolgt von den bewaffneten Soldaten, das Arbeitszimmer des Bürgermeisters Langerhans, das neben dem des Stadtobersekretärs lag. Langerhans sprang überrascht auf, aber bevor er etwas sagen konnte, erklärte Voigt auch ihn «im Namen Seiner Majestät» des Kaisers für verhaftet. Der Bürgermeister war freilich aus etwas anderem Holz geschnitzt als der Stadtsekretär. Während Letzterer nur den Grund für seine Verhaftung hatte wissen wollen, bestritt Langerhans sofort deren Rechtmäßigkeit. Der mit allen Wassern gewaschene Voigt gab in autoritärem Ton zurück: «Sie haben sich jetzt gar nichts zu erlauben. Sie haben mich wohl nicht verstanden, Sie sind mein Arrestant!» Der Bürgermeister ließ sich dadurch aber nicht einschüchtern. Er verlangte zunächst einen Ausweis, was der falsche Hauptmann natürlich barsch mit den Worten ablehnte: «Ich habe Ihnen gar keine Aufklärung weiter zu geben, ich habe nur meine Befehle auszuführen, die mir erteilt wurden. Das
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Nähere werden Sie auf der Neuen Wache erfahren!» Auch die Forderung von Langerhans, mit dem Landrat zu telefonieren, lehnte er ab. Anschließend wies Voigt zwei der Soldaten an, den Bürgermeister in seinem Büro einzuschließen und niemanden hineinzulassen. Dann ließ er sich den Weg zur Stadthauptkasse zeigen. Immer noch begleitet von mehreren bewaffneten Soldaten, befahl er den vier Beamten im Kassenzimmer zunächst, sich auf ihre Plätze zu setzen. Dem Stadtkämmerer von Wiltberg erklärte er anschließend, «er komme im Auftrag Seiner Majestät, der Bürgermeister sei verhaftet. Er selbst habe die Verwaltung der Stadt übernommen, und befehle, daß sofort Kassenabschluß gemacht und das Geld aufgezählt werde, damit er den Bestand prüfen könne.» Von Wiltberg wandte ein, er könne das ohne Genehmigung des Bürgermeisters oder zumindest des Stadtobersekretärs nicht tun. Er machte auch noch weitere Bedenken geltend. Voigt entgegnete dem Kämmerer daraufhin schroff, wenn dieser sich weigere, werde er ihn eben gleichfalls «verhaften lassen und den Kassenabschluß selbst machen». Während von Wiltberg daraufhin den Inhalt der Kasse zu zählen begann, zunehmend nervös angesichts der mit ihren Bajonetten neben ihm stehenden Soldaten, trat deren selbsternannter Kommandeur wieder auf den Flur und sah sich weiter im Gebäude um. Dabei traf er unter anderen auf einen städtischen Gendarmen. Diesen beauftragte er, Kutschen zu beschaffen, in denen der Bürgermeister nach Berlin geschafft werden sollte. Als Voigt dann wieder das Kassenzimmer betrat, zählte ein immer noch widerstrebender von Wiltberg ihm gut 4000 Mark vor, von denen allerdings etwas weniger als 450 Mark kein Bargeld, sondern Zinsverschreibungen waren. Ungeduldig drängte der Besucher zur Eile. Das machte den Kämmerer nur noch nervöser, so dass er sich verzählte: Der vorhandene Barbestand wich schließlich von dem im Kassenbuch vermerkten um gut 13 Mark ab. Darüber ging der falsche Hauptmann freilich großzügig hinweg. Auch für die 62 Mark der städtischen Armenkasse interessierte er sich nur wenig. Vielmehr trieb ihn die Frage um, wo die in Zeitungsberichten erwähnten zwei Millionen in Wertpapieren waren. Doch er hatte Pech: Denn die Wertpapiere befanden sich in einer durch zwei Schlösser gesicherten Abteilung des Geldschranks, und der Stadtkämmerer verfügte nur über einen der beiden Schlüssel. Voigt packte das abgezählte Bargeld daraufhin in zwei Beutel, die er der Form halber versiegeln ließ. Die
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Zinsscheine ließ er liegen. Als von Wiltberg nach einer Quittung fragte, wurde ihm diese von dem falschen Offizier anstandslos ausgestellt und mit verstellter Handschrift krakelig mit «Hauptmann v. Malzahn» unterschrieben. Inzwischen waren die angeforderten Kutschen vor dem Rathaus vorgefahren. Voigt ließ den Bürgermeister und zur Sicherheit auch den Kämmerer einsteigen und befahl einigen seiner Soldaten, diese in Berlin bei der Neuen Wache abzuliefern. Der Frau des Bürgermeisters, die zwischenzeitlich aus Sorge um das Schicksal ihres Mannes zum Rathaus geeilt war, gestattete er galant, ihren Gatten auf der Fahrt in die Hauptstadt zu begleiten. Dann wies er den Rest seiner Truppe an, das Köpenicker Rathaus noch eine halbe Stunde besetzt zu halten, steckte die Beutel mit dem Bargeld in die Taschen seines Uniformmantels und ging zu Fuß zum Bahnhof. Gegen halb sechs fuhr er wesentlich unspektakulärer, als er gekommen war, aber um mehr als zwei Jahresverdienste reicher mit dem Zug zurück nach Berlin. Als selbsternannter «Herr der Stadt» – anstelle des unter Arrest gestellten Bürgermeisters – hatte der falsche Hauptmann zuvor noch einigen Köpenicker Stadträten mit großer Geste das Betreten des Rathauses erlaubt, um dort eine Kommissionssitzung abzuhalten. Als Voigt sich in Richtung Bahnhof entfernte, setzten die Stadträte eilig ein Telegramm an den Landrat auf: «Rathaus militärisch besetzt. Bitten dringend um Angabe der Gründe». Im Landratsamt, wo die telegraphische Anfrage um sechs Uhr eintraf, wurde das erst für einen Witz gehalten. Erst ein Telefonat mit dem Rathaus ließ hier wie in Köpenick die Erkenntnis dämmern, dass man sich von einem raffinierten Gauner hatte hereinlegen lassen. Dieser Gedanke war inzwischen auch Bürgermeister Langerhans gekommen, nachdem er auf dem Weg zur Berliner Neuen Wache von den ihn in der Kutsche begleitenden Soldaten erfuhr, dass ihr Hauptmann den Inhalt der Stadtkasse an sich genommen hatte. In seinem Büro festgehalten und isoliert, war Langerhans bis dahin davon ausgegangen, Opfer einer politisch motivierten Denunziation oder Intrige geworden zu sein. Weil seine Begleiter stur den ihnen gegebenen Befehl ausführten, blieb ihm freilich nichts anderes übrig, als die Ankunft in Berlin abzuwarten. Als die Kutsche gegen sieben Uhr abends dort eintraf, war die Besatzung der Neuen Wache bereits telefonisch aus Köpenick kontak-
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tiert worden. Die Kommandantur erklärte sofort, allerhöchste Befehle würden niemals von einem Hauptmann ausgeführt. Auf Anweisung von Generalstabschef Helmuth von Moltke kamen der Köpenicker Bürgermeister und der Stadtkämmerer umgehend frei. Die sie begleitenden Soldaten wurden einem ersten Verhör unterzogen. In Berlin wie Köpenick sprach die Geschichte sich in Windeseile herum. Vor der Neuen Wache versammelte sich eine «vielköpfige Menge» von Neugierigen. In Köpenick war das öffentliche Interesse noch größer: «Tausende wogten in den Straßen, namentlich in der Nähe des Rathauses auf und ab.» Kurz nach sieben Uhr erschien eine Sonderausgabe der Lokalzeitung, des Cöpenicker Dampfboots, die eilig zusammengestellte Berichte von Augenzeugen über die Ereignisse des Nachmittags enthielt. «Das andrängende Publikum focht einen regelrechten Kampf um die Extrablätter aus, die dabei vielfach zerrissen wurden.» In den folgenden Tagen ebbte das Interesse nicht ab. Durch Extrablätter, die in Hunderttausenden von Exemplaren verbreitet wurden, versorgten der Berliner Lokal-Anzeiger und andere Blätter die Öffentlichkeit wiederholt mit Neuigkeiten über die «Besetzung» des Köpenicker Rathauses am 16. Oktober. Wochenlang bildete der «Hauptmann von Köpenick» das Tagesgespräch. Schon 24 Stunden nach den Ereignissen marschierten in der täglichen Revue des Berliner Metropol-Theaters zur Begeisterung des Publikums zehn Uniformierte auf, die jede Äußerung ihres «Hauptmanns» im Chor mit begeistertem «Jawoll!» beantworteten. Kurz darauf eröffnete in einem anderen Theater eine Posse mit dem Titel «Der Hauptmann von Köpenick». Am 18. Oktober meldete das Berliner Tageblatt: «Die Coupletdichter, die Schlagwortpräger und Witzereißer sind an der Arbeit, und last not least die – Ansichtskartenindustrie. Fast an jeder Straßenecke steht solch ein biederer ‹fliegender Händler›, mit der einen Hand drückt er ein Päckchen Ansichtskarten an die Brust, mit der anderen hält er eine Probe der neuesten Errungenschaften des Berliner Humors den ihn umdrängenden Passanten unter die Nase, und seinen Lippen entströmt der Schlachtruf: ‹Der Staatsstreich von Köpenick! Stück für een Jroschen.› Etwas so hochaktuelles geht natürlich wie warme Semmeln weg.» Auch auf Schallplatten gepresste Hörspiele und neu getextete Lieder zu bekannten Melodien über die Ereignisse von Köpenick fanden reißenden Absatz. Sogar ein Brettspiel kam bald auf den Markt. Beworben als
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«hochamüsantes Gesellschaftsspiel» mit dem Titel «Der Räuberhauptmann von Köpenick und der gestohlene Bürgermeister», enthielt es außer einem Spielplan «mit 28 witzigen Zeichnungen und Versen» unter anderem einen «porträtgenauen Hauptmann aus Zinn (urdrollig!)» und zwölf Zinnsoldaten «(hoch originell!)». Das Spiel sei «durchaus harmlos» und deshalb auch für Kinder geeignet. Offenbar war auch die spielerische Umsetzung von Voigts Köpenicker Raubzug populär; vor angebotenen Nachahmungen wurde jedenfalls gewarnt.15 Kaiser Wilhelm II., der am 16. Oktober tagsüber in Bonn ein neues Denkmal für seinen Großvater enthüllt hatte, erfuhr über ein noch am Abend des Tages abgesandtes Telegramm von dem Vorfall in Köpenick. Dass der falsche Hauptmann dort unter Berufung auf kaiserlichen Befehl scheinbar überall bedingungslosen Gehorsam gefunden hatte, schmeichelte dem beträchtlichen Ego des Monarchen offenbar, enthielt seine erste Reaktion doch ein an den Rand der Nachricht gekritzeltes Lob des «genialen Kerls». Als er sich später detailliert über die Vorkommnisse in Köpenick und erste Pressekommentare dazu unterrichten ließ, kamen allerdings ganz andere «Ausdrücke äußerst kräftiger und deutlicher Natur über die kaiserlichen Lippen». Denn Wilhelm Voigts Gaunerei wurde bald auch zum Anlass für breite öffentliche Kritik an der militärischen Tugend unbedingten Gehorsams und der kaiserlichen «Kommandogewalt».16 Der Urheber der ganzen Aufregung hatte sich derweil eifrig darum bemüht, seine Spuren zu verwischen. Nachdem Voigt kurz vor sieben Uhr abends wieder in Berlin angekommen war, gönnte er sich von dem erbeuteten Geld erst einmal ein neues Paar Stiefel. Gegen halb acht ließ er dann durch einen Straßenjungen vor einem vornehmen Herrenausstatter an der Friedrichstraße eine Droschke heranwinken, betrat das Geschäft und kaufte dort für die stattliche Summe von 188,50 Mark einen Anzug, Mantel und Filzhut. Bereitwillig gab ihm der Verkäufer auf einen Tausendmarkschein, der aus der in Köpenick gemachten Beute stammte, Wechselgeld heraus. Wie in Köpenick nannte der falsche Hauptmann sich auch hier «von Malzahn». Dann ließ Voigt, immer noch in Uniform, sich von dem Droschkenkutscher zu einem kleinen Bahnhof in der Nähe des Tempelhofer Feldes fahren. Dort zog er in einer Bahnhofstoilette die Uniform aus und legte die gekaufte Zivilkleidung an. Den Militärdegen ließ er in der Toilette zurück, weil die Waffe zu sperrig war, um wie die
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Bestandteile der Uniform in den bei dem Herrenausstatter erhaltenen Karton zu passen. Zumindest Militärmütze und -hose warf er dann am östlichen Rand des Tempelhofer Felds weg. Dort wurden sie am nächsten Tag, dem 17. Oktober, von Passanten gefunden. Schon am Abend dieses Tages konnte die Polizei die Bewegungen des falschen Hauptmanns vor und nach seinem Köpenicker Raubzug minutiös nachzeichnen. Von dem Mann selbst fehlte aber trotz Hunderten von Hinweisen aus der Bevölkerung noch jede Spur. Der Potsdamer Regierungspräsident setzte eine Belohnung von 2000 Mark für Informationen aus, die zur Ergreifung des Täters führen würden. Bald darauf wurde diese Belohnung auf 3000 Mark erhöht. Während Kriminalkommissar Wehn und seine Mitarbeiter fieberhaft ermittelten, liefen in der Öffentlichkeit die wildesten Gerüchte über die Identität des «Hauptmanns» um. Nach wenigen Tagen belief sich die Zahl der im Berliner Polizeipräsidium eingelaufenen Hinweise im «Fall Köpenick» bereits auf mehrere Tausend. Einer davon, die Aussage von Wilhelm Voigts kriminellem Kompagnon Kallenberg, der noch im Zuchthaus Rawitsch einsaß, erwies sich schließlich als heiße Spur. Kommissar Wehn verfolgte Voigts Weg nach dessen Entlassung aus Rawitsch akribisch zunächst bis nach Wismar. Dorthin hatte der Schuster seinem früheren Arbeitgeber, dem mecklenburgischen Hofschuhmacher, aus Rixdorf dankbar ein Foto von sich mit seiner Schwester geschickt. Das Bild legte Wehn verschiedenen Zeugen des Köpenicker Raubzugs vor. Diese erkannten den falschen Hauptmann sofort wieder. Durch unauffällige Beschattung von Voigts Schwester und der mit ihm verlobten Arbeiterin konnte die Polizei schließlich seinen Aufenthaltsort ermitteln. Am Morgen des 26. Oktober besetzten Kriminalbeamte alle Ausgänge und das Dach des Mietshauses, in dem Voigt bei einem Ehepaar zur Untermiete wohnte. Um acht Uhr früh überraschten sie ihn beim Morgenkaffee. In seinem Zimmer fanden sich die Kleidungsstücke, die er noch in Hauptmannsuniform nach seinem Raubzug zehn Tage zuvor an der Friedrichstraße gekauft hatte, und ein Beutel mit erbrochenem Siegel der Köpenicker Stadtkasse. Von dem geraubten Geld hatte er in der Zwischenzeit gut 750 Mark ausgegeben. Die Kriminalbeamten behandelten den ertappten «Hauptmann» äußerst zuvorkommend. Erst einmal ließen sie ihn seinen Kaffee austrinken und zu Ende frühstücken. Dann baten sie ihn freundlich, sie zum
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Polizeipräsidium zu begleiten. Dort war «Voigt zunächst sehr schweigsam». Wehn spendierte ihm jedoch einige Gläser Portwein und machte sich in seiner Anwesenheit mit Kollegen über die von ihm getäuschten Köpenicker Beamten lustig. Das weckte den Stolz Voigts, der sich auf seine schauspielerischen Fähigkeiten zu Recht einiges einbildete, und er wurde gesprächiger. Als die Kriminalbeamten ihn schließlich nach seinen Motiven fragten, erklärte er, nach der Haftentlassung im Februar sei es seine ehrliche Absicht gewesen, «neuen redlichen Erwerb zu suchen». Die wiederholten Ausweisungen hätten ihm das aber unmöglich erscheinen lassen, «und da habe er dann einen alten Plan, sich auf andere Weise Geld zu verschaffen, wieder aufgenommen». Ob das so der Wahrheit entsprach, mag dahingestellt bleiben. Einigermaßen plausibel war es immerhin. Gesichert ist allerdings nur eines – nämlich die Formulierung, mit der Kriminalkommissar Wehn am nächsten Morgen die Ergebnisse von Wilhelm Voigts Verhör in einem dürren Satz zusammenfasste: «Ist geständig, den Kassenraub in Köpenick ausgeführt zu haben.»17
Eine Legende wird gemacht Eine Legende wird gemacht
Am 27. Oktober 1906 wurde Wilhelm Voigt ins Zuchthaus Moabit eingeliefert. Hier saß er bis zum Beginn seines Prozesses vor dem Berliner Landgericht einen guten Monat später in Untersuchungshaft. Das Interesse der Öffentlichkeit am «Fall Köpenick» blieb in dieser Zeit unverändert hoch, verlagerte aber seinen Fokus. Bisher hatte neben dem Ablauf des Raubzugs im Köpenicker Rathaus die Frage nach der Identität des Täters im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit gestanden. Mit der Ergreifung Voigts war das Rätselraten um die Person des falschen Hauptmanns beendet. Presse und Publikum begannen sich stattdessen nun mit seiner Biographie und seinen vermeintlichen Motiven zu beschäftigen. Schon bevor die Kriminalpolizei seine Identität lüftete, war dem «Hauptmann von Köpenick» in der Öffentlichkeit vielfach Anerkennung gezollt worden. Er habe, hieß es bereits am Tag nach der Tat im Feuilleton des Berliner Tageblatts, «in jedem Fall seine Rolle gut gespielt». Wäh-
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rend Bürgermeister Langerhans und die anderen Köpenicker Beamten mit Spott und Hohn überzogen wurden, galt nicht wenigen der falsche Hauptmann als eigentlicher Held der Geschichte: Er erschien als ein Eulenspiegel, der geschickt die Obrigkeiten genarrt und bloßgestellt hatte. Sollte er gefasst und verurteilt werden, schrieb die Berliner Zeitung am Mittag, so «würde das der allgemeinen Stimmung nicht entsprechen; Gott sei Dank hat der Berliner noch immer etlichen Humor und würde daher die Ergreifung und Bestrafung des Talmi-Hauptmanns mit sehr gemischten Gefühlen begrüßen. Die Gerechtigkeit fordert das ja freilich, aber ernstlich gram wird dem fidelen Räuber niemand sein, denn die Sache ist zu komisch und das herzliche Lachen von zwei Millionen Menschen ist schon 4000 Mark wert.» Victor Klemperer beschrieb den noch unbekannten «Hauptmann» in einem satirischen Gedicht mit viel Sympathie. Von dem populären Kabarettisten und Schriftsteller Hans Hyan erschien am Tag von Voigts Festnahme eine ebenfalls gereimte Moritat mit Bildern in einer Auflage von 10 000 Stück. Bis Ende des Jahres acht Mal nachgedruckt, zeichnete sie den Hauptmann von Köpenick gleichermaßen als sympathisches Schlitzohr, das dem «Volk» einen «Heidenspaß» bereitet hatte. Berliner Arbeiter schrieben bei den Wahlen zum Gewerbegericht am 23. Oktober sogar reihenweise «Hauptmann von Köpenick» auf ihre Stimmzettel, obwohl der natürlich gar nicht zur Wahl stand, und zeigten damit ihre Sympathien für den findigen Hochstapler.18 Nachdem Voigt von der Polizei gefasst worden war, nahmen diese Sympathien nicht ab, sondern eher noch zu. Während Kriminalkommissar Wehn am 26. Oktober den gerade Festgenommenen im Polizeipräsidium am Berliner Alexanderplatz verhörte, drängten sich im Foyer und in den Gängen des Präsidiums stundenlang Hunderte Neugierige «und harrten geduldig Kopf an Kopf des Moments, wo der falsche Hauptmann von Köpenick vorgeführt werden musste». Als das endlich geschah, wurde Voigt mit lauten «Hoch! Hurra!»-Rufen begrüßt. In die Untersuchungshaft erhielt er zahlreiche aufmunternde Briefe, Postkarten und sogar Geldspenden geschickt. Seiner Schwester schrieb er: «Ich empfange viele Zeichen herzlicher Theilnahme aus allen Theilen des ganzen Reiches, selbst des Auslandes, und darf annehmen, daß meine Mitmenschen mich mehr bemitleiden als verurteilen.»19 In der Presse machte der anfängliche Respekt vor dem unbekannten
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Gauner, der raffiniert aufgeblasene Autoritäten an der Nase herumgeführt habe, nach dessen Ergreifung und Identifizierung einem Bild Platz, das zwischen Bewunderung und Mitleid schwankte. Voigt habe das Aussehen einer «Jammergestalt», berichteten Zeitungen unmittelbar nach seiner Verhaftung. Seine Tat lasse aber auch auf «Intelligenz» und «Menschenkenntnis» schließen, und seine «Sprache ist, wie schon mehrmals erwähnt wurde, sehr gewählt». Nach ersten eiligen Recherchen über sein Vorleben wurde hinzugefügt, er sei «ein sehr geschickter Arbeiter», ja sogar «ein sehr beanlagter Schüler» gewesen.20 Tatsächlich entwickelte sich das Urteil über ihn umso positiver, je mehr Einzelheiten die Journalisten über seine Biographie ausgruben. Am Tag nach der Festnahme, an dem er zur Untersuchungshaft einmal mehr ins Zuchthaus eingeliefert wurde, hieß es in der Berliner Morgenpost: «Er ist ein Verbrecher, aber er ist auch ein Genie, und man hat das Gefühl, daß irgend etwas in unserer Rechtspflege faul sein muß, wenn der Lebensweg eines solchen Menschen durch das Zuchthause vom Anfang bis zu seinem Ende hindurchgeht.» Das Berliner Tageblatt griff diese Argumentation am folgenden Tag auf und führte sie weiter. Voigts Tat könne man «schon wegen der genialen Kühnheit in Anlage und Durchführung, wegen ihres völligen Gelingens und des geringen Schadens, den sie angerichtet hatte», gar nicht wirklich als Verbrechen ansehen. Er selbst sei weniger ein Gauner als vielmehr ein Künstler: «Ja, ein Künstler! […] Zum Gauner gehört doch wohl die niedrige Gesinnung, und davon ist in den Handlungen, die wir von Wilhelm Voigt seit seiner letzten Entlassung aus dem Zuchthause kennen, keine Spur wahrzunehmen.» Er habe vielmehr versucht, durch ehrliche Arbeit seinen Unterhalt zu verdienen. Verhindert worden sei das nur durch das gesellschaftliche Misstrauen, das ihm mit der wiederholten polizeilichen Ausweisung entgegenschlug. «Nicht Wilhelm Voigt, unsere Gesellschaft gehört auf die Anklagebank als Hauptangeklagte: als mitleidslose Anstifterin!»21 Aus dem Eulenspiegel, der «die da oben» genarrt hatte, wurde der «Räuberhauptmann von Köpenick» in der öffentlichen Wahrnehmung teilweise sogar zu einer Art von Robin Hood. Er habe, hieß es nun wiederholt, auch gegenüber anderen Opfern der Gesellschaft Solidarität gezeigt. So fand jetzt besonders Beachtung, dass Voigt in Köpenick zwar die der Stadt gehörenden gut 3500 Mark an sich genommen, die 62 Mark der kommunalen Armenkasse dann aber liegen gelassen hatte. Es wurde
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sogar behauptet, er habe sich stets nur auf Kosten öffentlicher Kassen bereichert. Sein Vorstrafenregister schrumpfte dabei auf die Fälschung der Postanweisungen und den Einbruch in das Gericht von Wongrowitz. Dass er auch wiederholt Privatpersonen bestohlen hatte, fiel in solchen selektiven Darstellungen unter den Tisch. Gleichzeitig entstand im Zusammenwirken der Öffentlichkeit mit Wilhelm Voigt eine ganz neue Lesart der Ereignisse des 16. Oktober. Nach seiner Festnahme hatte Voigt der Polizei gegenüber noch freimütig gestanden, in Köpenick einen Raubüberfall ausgeführt zu haben. Am nächsten Tag konnten die Berliner in der Zeitung jedoch lesen, es sei ihm eigentlich gar nicht um das Geld der Stadtkasse gegangen. Er habe vielmehr darauf gehofft, sich im Köpenicker Rathaus mit List einen Pass zu verschaffen!22 Bei dem Ende November beginnenden Prozess gegen ihn baute Voigt diese neue Version der Geschehnisse weiter aus. Er und seine Anwälte machten sie zur Grundlage seiner Verteidigungsstrategie vor Gericht. Nach der wiederholten Ausweisung sei ihm die Existenzsicherung durch «ehrliche» Arbeit nur noch im Ausland möglich erschienen. Doch dafür habe ein Pass gefehlt. Der aber sei ihm verweigert worden. Nur deshalb habe er sich als Hauptmann verkleidet, die Soldaten rekrutiert und mit ihnen das Köpenicker Rathauses besetzt. Denn dort habe er gehofft, sich endlich «ein Paßformular verschaffen» zu können, beteuerte er: «Darauf will ich leben und sterben!» Das Geld aus der Stadtkasse «habe er zunächst gar nicht in der Absicht der Aneignung an sich genommen, sondern es sei ihm durch den Gang der Ereignisse gewissermaßen aufgedrängt worden». Seine Anwälte soufflierten, Voigt habe «in fast überraschender Weise das Geld von den Gemeindebeamten förmlich in den Schoß gelegt» bekommen. Angesichts der späten Erkenntnis, dass in Köpenick gar keine Pässe ausgestellt wurden, dürfe «der Angeklagte wohl erst auf den Gedanken gekommen sein, sich statt der Reisepapiere, die er zuerst sich verschaffen wollte, nunmehr das Reisegeld zu verschaffen». Das Gericht nahm ihm diese Geschichte nicht ab. Es billigte dem Angeklagten zwar mildernde Umstände zu, weil Voigt durch die wiederholten behördlichen Ausweisungen in die Enge getrieben worden sei. Dass er danach kaum noch eine Möglichkeit mehr gesehen habe, sich seinen Lebensunterhalt auf legale Weise zu verdienen, wirke durchaus
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plausibel. Die Behauptung freilich, der Köpenicker Coup sei unternommen worden, um an ein Passformular zu kommen, erschien dem Vorsitzenden Richter «gänzlich unglaubwürdig». Tatsächlich hatte der falsche Hauptmann sich «während der gesamten Zeit, als er das Rathaus besetzt hielt», nie nach einer Passstelle erkundigt, wie die Urteilsbegründung festhielt. Während des Prozesses war der Angeklagte auch gefragt worden, warum er in Köpenick nicht einfach behauptet hatte, «es wären Unregelmäßigkeiten im Paßbureau vorgekommen, und Sie hätten dieses zu revidieren». Voigt gab darauf jedoch keine Antwort.23 In der Öffentlichkeit wurde seiner Geschichte allerdings vielfach Glauben geschenkt. Wäre Voigt freigesprochen worden, berichtete ein Journalist und Prozessbeobachter, «hätte ihn die Volksmenge, die draußen des Urteilsspruchs harrte, im Triumph davongeführt, denn vieler Sympathien hat er durch seinen Geniestreich und seine ruhige und bescheidene Haltung vor Gericht errungen». Stattdessen verurteilte ihn das Gericht am 1. Dezember 1906 zu vier Jahren Haft. «Wie ein grotesker Spaß fing die Geschichte des ‹Hauptmanns von Köpenick› an, als eine menschliche Tragödie klingt sie aus», kommentierte das Berliner Tageblatt dieses Urteil. «Aus dem lustigen Hauptmann ist ein armer, elender Mensch geworden, gehetzt von der Polizei, mißhandelt von der Justiz, niedergetreten, so oft er sich aus dem Staube erheben wollte, systematisch um sein Menschenrecht und seine Menschenwürde gebracht.»24 Auch viele kritische Geister und Intellektuelle im Inland wie im Ausland brachten dem Verurteilten Sympathien entgegen. «Im Köpenicker Fall ist gerichtsordnungsmäßig festgestellt worden, daß die staatliche Gerechtigkeit Vorschub geleistet hat, als ein Schuster rauben ging», ätzte der Wiener Satiriker Karl Kraus in der von ihm herausgegebenen Fackel: «Dort wird milder gerichtet, weil vor allem die Gesellschaftsordnung eines Verbrechens gegen den Angeklagten überführt wird.»25 Zwei linksliberale Blätter, die Frankfurter Zeitung und die Welt am Montag, riefen zu Spendenaktionen für den Inhaftierten auf. Nach Voigts eigenen Angaben kamen bei diesen Geldsammlungen für ihn etwa 2400 Mark zusammen – also mehr als zwei Drittel der Summe, die er in Köpenick erbeutet hatte. Die Frau des Kaufhausbesitzers Wertheim versprach, ihm für den Rest seines Lebens eine monatliche Rente auszuzahlen. Im Februar 1907 wurde Voigts «Köpenickiade» im Preußischen Abgeordnetenhaus thematisiert. Vertreter der Linksliberalen gaben zwar
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«zu, daß in dem Falle Voigt in der Öffentlichkeit vielfach ein gewisser Ausfluß sentimentaler oder romantischer Regungen enthalten war, die vielleicht gerade in diesem Falle nicht immer am Platze gewesen sein mögen». Sie nahmen die «Affäre Köpenick» aber dennoch zum Anlass, die Praxis der polizeilichen Ausweisung durch die konservativen Regierungen in Preußen und Mecklenburg zu kritisieren. Der preußische Innenminister Theobald von Bethmann Hollweg und konservative Parlamentarier erwiderten darauf, im konkreten Fall sei die Kritik daran in der Öffentlichkeit «weit über das Ziel hinausgeschossen. Man hat den Hauptmann von Köpenick als eine Art von Helden gefeiert.» Die Regierung sagte jedoch zu, zukünftig «die Polizeiaufsicht so diskret wie möglich» zu handhaben. Denn man wolle «den Reuigen, welche bestrebt sind, einem geordneten Leben sich wieder zuzuwenden, keine Steine in den Weg legen». Das genügte den Kritikern freilich keineswegs, und zwei Monate darauf kam die Sache erneut auf parlamentarischer Bühne zur Sprache, diesmal im Reichstag. Hier schlossen sich die Sozialdemokraten der linksliberalen Kritik an und beanstandeten insbesondere, dass polizeiliche Ausweisungen auch zu politischen Zwecken genutzt würden.26 Parallel zu dieser politischen Instrumentalisierung lief nicht nur in der Presse eine Kampagne dafür, Wilhelm Voigt zu begnadigen. Theaterstücke und Filme über den «Streich» des falschen Hauptmanns hielten die Erinnerung an ihn wach. Wurden darin hauptsächlich diejenigen Aspekte seines Raubzugs im Köpenicker Rathaus behandelt, die die Lachmuskeln des Publikums strapazierten, fehlten doch nicht ernste Zwischentöne. Schon die ersten Zeitungsmeldungen hatten das «Tragikomische» der Vorfälle hervorgehoben, und die szenischen Umsetzungen griffen das auf. So führte das Mainzer Stadttheater schon im November 1906 ein Stück über den Hauptmann von Köpenick auf, das im Untertitel als «satirisch-burlesk-musikalische Tragikomödie» charakterisiert war. Gleichzeitig wurde die preußische Regierung mit Briefen geradezu bombardiert, deren Schreiber die Begnadigung des «Hauptmanns» forderten.27 Diese Kampagne brach nach der Verurteilung Voigts Anfang Dezember 1906 nicht ab, sondern intensivierte sich noch und ging 1907 und 1908 weiter. Auch der Strom von aufmunternden Schreiben und Geschenken, die der Verurteilte in die Haft zugesandt bekam, hielt an. Das nicht abreißende öffentliche Interesse an dem «Fall Köpenick», dessen anhaltende mediale Ausschlachtung in der Presse, auf der Bühne
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und der Kinoleinwand, und schließlich seine politische Instrumentalisierung durch die liberale und sozialdemokratische Opposition setzten Regierung und Monarch unter zunehmenden Handlungsdruck. Besonders Wilhelm II., der sich nach anfänglichem Amüsement über die Tat des falschen Hauptmanns für eine harte Bestrafung ausgesprochen hatte, geriet in Zugzwang. Stets besorgt um seine Popularität, sah der Kaiser den eigenen Stern in der Öffentlichkeit sinken, je länger die Inhaftierung des Sympathieträgers Wilhelm Voigt dauerte. «Wenn der andere Wilhelm, Wilhelm der Postwendende, diesmal nicht begnadigt», hatte Karl Kraus noch während des Prozesses gegen Voigt prophezeit, «hat er den Anschluß an seine Beliebtheit definitiv versäumt.» Im August 1908 war es schließlich so weit. Auf «allerhöchste Order» wurde Wilhelm Voigt aus dem Gefängnis entlassen, obwohl er nicht einmal die Hälfte seiner Haftstrafe verbüßt hatte.28 Tausende Berliner bereiteten ihm «einen jubelnden Empfang». Nach Presseberichten kannte die Begeisterung kaum Grenzen. So sei «ein großer Teil der reichshauptstädtischen Bevölkerung durch die Begnadigung des Schuhmachers Voigt, des sogenannten ‹Hauptmanns von Köpenick›», geradezu in fieberhafte Krämpfe, in einen «Fieber-Paroxismus» versetzt worden, schrieb ein Blatt. Dass der Entlassene sofort begann, Postkarten von sich zu verkaufen, deren Reinerlös angeblich Opfern einer Brandkatastrophe in Süddeutschland zugutekommen sollte, nahm zunächst noch mehr für ihn ein. Was die veröffentlichte Meinung über Voigt anging, schieden sich die Geister allerdings, wie schon bei den parlamentarischen Debatten des Vorjahrs erkennbar, entlang politischer Gräben. Von Liberalen und Sozialdemokraten wurde er zum sympathischen Opfer eines unmenschlichen Systems stilisiert. Seine Entlassung komme zu spät, bemängelte etwa die von dem Linksliberalen Hellmut von Gerlach, einem engen Mitarbeiter Friedrich Naumanns, redigierte Welt am Montag – sei sie doch «bereits vor fast zwei Jahren allgemein im Volke als sicher angenommen» worden. Die Haft habe Voigts Integrität freilich nichts anhaben können: «Nach wie vor ist er ein ungebrochener, aufrechter Verteidiger seines einst arg niedergetretenen Menschenrechts.» Endlich könne «der vielgeprüfte Mann» nun «wieder die freie Luft atmen, von der ihn ein schweres Schicksal bereits für eine so lange Zeit seines Lebens ausgeschlossen». Konservative Blätter spotteten dagegen über die linke «Sensations-
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presse», die den falschen Hauptmann «zu einem Nationalheiligen des Micheltums» mache. Bei allem Hohn kamen freilich auch die Konservativen nicht umhin, widerwillig die weitverbreitete Begeisterung für den Entlassenen zu registrieren: «Leute stellen ihm ihre Villen zur Verfügung; berauschen sich an seinem Bilde; wollen ihn auf der Bühne zeigen; zu Vorstellungen und Vorträgen ermutigen; mit ihm, als einem Wundertier, durch das Land ziehen.»29 Der wendige Voigt war geschäftstüchtig genug, um dieses Interesse an seiner Person in klingende Münze umzusetzen. In den ersten Monaten nach seiner Entlassung aus der Haft verkaufte er in Berlin, Kiel, Leipzig und anderswo Tausende signierte Postkarten von sich in Zivil und in Hauptmannsuniform. Er machte Filmaufnahmen, besprach Schallplatten und ließ sich dafür bezahlen, in Schankstuben, Varietés und bei Theateraufführungen Autogramme zu geben. Schmunzelnd erklärte er einem Journalisten, man müsse «das Eisen schmieden, solange es warm ist».30 Als die Polizei, nachdem unter dem Druck der Öffentlichkeit die Ausweisungsverfügung gegen Voigt aufgehoben worden war, ihm das in Preußen schließlich wegen Verstößen gegen das Gewerberecht unmöglich machte, tourte er von Januar bis Mai 1909 mit Auto, Chauffeur, Privatsekretär und einer «Geschäftsdame» durch Süddeutschland. Die geschickte Selbstvermarktung machte den ehemaligen «Räuberhauptmann von Köpenick» wohlhabend, kostete ihn bald aber auch Sympathien. Der sozialdemokratische Vorwärts bemängelte schon wenige Tage nach seiner Entlassung: «Die Vorführungen der Person des ‹Hauptmanns› in dieser oder jener Form sind leider geeignet, die Aufmerksamkeit von der sozialen Tragödie und von den politischen Schlaglichtern abzulenken, die der Leidensweg des Wilhelm Voigt in so anschaulicher Weise aufweist.»31 Je mehr Voigt sein «Schicksal» innerhalb des herrschenden «Systems» erfolgreich vermarktete, desto unglaubwürdiger wurde er als dessen Opfer, und desto schwerer fiel auch seine politische Instrumentalisierung. Wie die Sozialdemokratie rückten deshalb die Liberalen ebenfalls zunehmend von ihm ab. Auch in der breiteren Öffentlichkeit Deutschlands begann sein Stern langsam zu verlöschen. Im Mai 1909 ließ er sich in Luxemburg nieder. Geldgeschenke während seiner Haft und erst recht die Vermarktung seiner Person danach hatten ihm mittlerweile ein Vielfaches von dem Geld eingebracht, das er am 16. Oktober 1906 in Köpenick erbeutet hatte.
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Davon konnte er bis an sein Lebensende zehren, ohne jemals wieder arbeiten zu müssen. Mit der Veröffentlichung seiner Lebenserinnerungen verdiente er 1909 noch ein erkleckliches Sümmchen hinzu. Gleichzeitig versuchte er in Frankreich seinen über die Reichsgrenzen gedrungenen Ruf zu Geld zu machen, wurde aber von dort ausgewiesen. Ebenso erging es ihm im nächsten Jahr in den USA. 1912 wirbelte er noch einmal etwas Staub auf, als ein neues Theaterstück über die «Köpenickiade» auf die Bühne kam und Zeitungen irrtümlich seinen Tod meldeten. Ein Jahrzehnt später, am 3. Januar 1922, ist Wilhelm Voigt im Alter von 72 Jahren tatsächlich gestorben. Ganz vergessen wurde er freilich nie. Und acht Jahre nach seinem Tod machte ihn ein weiteres Bühnenstück schließlich unsterblich – oder vielmehr seine Legende. Denn aus der historischen Realität eines trickreichen Raubzugs auf die Köpenicker Stadtkasse wurde in diesem Bühnenstück endgültig etwas ganz anderes: die Legende von der Verzweiflungstat eines Opfers behördlicher Willkür, das nur einen Pass hatte haben wollen. Der Vollender der Legende hieß Carl Zuckmayer. 1931 am Deutschen Theater in Berlin uraufgeführt, wurde sein Stück Der Hauptmann von Köpenick auf Anhieb ein Riesenerfolg. Nachdem es noch im gleichen Jahr verfilmt und zwei Jahre lang überall im Deutschen Reich vor ausverkauften Häusern gespielt worden war, verbannten die Nationalsozialisten Zuckmayers Werk von allen deutschen Bühnen und trieben seinen Schöpfer ins Exil. Während sein Autor nie mehr dauerhaft nach Deutschland zurückkehrte, wurde Zuckmayers Text schon 1945 von Helmut Käutner zu einem vielbeachteten Hörspiel verarbeitet. Ein gutes Jahrzehnt später machte Käutner einen schnell Kultstatus gewinnenden Film daraus, in dem Publikumsliebling Heinz Rühmann mit unnachahmlichem Seehundblick Wilhelm Voigt verkörperte. Dieser Film, dem ein halbes Dutzend ähnlich gestrickte Verfilmungen folgten, und das zugrundeliegende Theaterstück prägen bis heute das Bild von Voigt und seiner «Köpenickiade». Zuckmayer gab seinem Stück den Untertitel «Ein deutsches Märchen». Das charakterisiert den Inhalt ausgesprochen treffend. Denn mit dem historischen Voigt und seinem Köpenicker Raubzug hatte dieser herzlich wenig zu tun. Zwar kann man bis heute lesen, Zuckmayer habe «sich bis in die Einzelheiten an die historischen Vorlagen gehalten».
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Und literaturwissenschaftliche Kommentare heben das spätere Zeugnis des Autors hervor, sich nur in zeitgenössischen Quellen über die Ereignisse von 1906 informiert zu haben. Das mag auch durchaus zutreffen. Die Gerichtsakten hat Zuckmayer aber offensichtlich nicht eingehend studiert, sondern sich vor allem auf Zeitungen und «Witzblätter aus der Zeit» gestützt.32 Die aus dem Zusammenwirken von Voigts Verteidigungsstrategie vor Gericht und seiner politischen Instrumentalisierung entstandenen «alternativen Fakten» hat der Dramatiker dann in künstlerischer Freiheit noch einmal um einige pure Erfindungen angereichert. In Zuckmayers Stück erscheint Voigt von Anfang an in einem Teufelskreis gefangen. Weil er keine Arbeit hat, bekommt er keine Aufenthaltserlaubnis und keinen Pass. Und weil er weder das eine noch das andere hat, bekommt er keine Arbeit. Vorbestraft ist er nicht wegen wiederholten Diebstahls, sondern lediglich wegen «Melde- und Paßvergehen, Irreführung der Behörden und versuchter Urkundenfälschung».33 Aus dem Einbruch in das Gerichtsgebäude von Wongrowitz, wo der historische Wilhelm Voigt die Kasse stehlen wollte, wird bei Zuckmayer ein Einbruch in ein Polizeirevier, aus dem der Theater-Voigt ein Passformular stehlen will. Nachdem er dabei erwischt wird und seine Strafe abgesessen hat, befindet er sich wieder in dem alten Teufelskreis. Mit seinem Schwager streitet er über Recht und Gerechtigkeit und kümmert sich rührend um die sterbende Tochter der Untermieterin seiner Schwester. Als er schließlich auch noch ausgewiesen werden soll, entschließt er sich zu dem Coup in Köpenick, um endlich einen Pass zu bekommen. Groß ist seine Enttäuschung, als er feststellen muss, dass im Köpenicker Rathaus gar keine Pässe ausgestellt werden. Einige Tage später geht Voigt zur Polizei. Nachdem ihm dort ein Pass versprochen worden ist, wenn er den Täter verrät, gibt er sich selbst als der falsche Hauptmann zu erkennen. Die emotionale Sogwirkung von Zuckmayers bittersüßer Tragikomödie, die den Zuschauer in die Handlung hineinzieht und mit dem sympathischen Protagonisten mitleiden und mitfühlen lässt, ist zu Recht gelobt worden. Rund um die Hauptfigur hat der Autor zudem mit großem künstlerischen Geschick eine Vielzahl weiterer Charaktere aus den verschiedensten sozialen Schichten gezeichnet. Einem bunten Kaleidoskop gleichend, scheint diese Zeichnung gerade durch ihre Komplexität ein
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umso realistischeres Abbild der wilhelminischen Gesellschaft zu geben. Eines haben die Charaktere in Zuckmayers Stück mit Ausnahme der Hauptperson freilich alle gemeinsam: eine geradezu abgöttische Ehrfurcht und Achtung vor dem Militär und der Uniform. Das hat die Sicht auf den Vorfall, der die historische Vorlage für das Drama darstellt, massiv beeinflusst. Es war aber vor allem durch die Umstände der Entstehung des Stücks Anfang der 1930er Jahre bedingt. 1930 erhielt Carl Zuckmayer von einem der SPD nahestehenden Freund, dem Schauspieler und Regisseur Fritz Kortner, den Hinweis auf Wilhelm Voigt. Zuckmayer dachte damals eigentlich eher daran, der unruhigen Gegenwart in Deutschland durch eine Bearbeitung des EulenspiegelStoffs den Spiegel vorzuhalten. Doch als er sich näher mit der Geschichte des «Hauptmanns von Köpenick» beschäftigte, sah er plötzlich eine bessere Möglichkeit dazu: «Denn wenn auch die Geschichte mehr als zwanzig Jahre zurücklag, so war sie gerade in diesem Augenblick, im Jahre 1930, in dem die Nationalsozialisten als zweitstärkste Partei in den Reichstag einzogen und die Nation in einen neuen Uniform-Taumel versetzten, wieder ein Spiegelbild, ein Eulenspiegel-Bild des Unfugs und der Gefahren, die in Deutschland heranwuchsen.»34 Vom Autor so ausdrücklich als «Politikum» geschrieben, wurde Zuckmayers Stück bei seiner Premiere von Freund und Feind zutreffend als Kritik an «Kadavergehorsam» und gesellschaftlichem Militarismus verstanden. Anfang der 1930er Jahre entstanden noch ein Roman und eine weitere Theaterproduktion zum Thema, die in dieselbe Kerbe schlugen. An den phänomenalen Erfolg von Zuckmayer kamen diese aber nicht heran. Deshalb verboten die Nationalsozialisten dessen Stück, als sie die Macht übernahmen. Deshalb wurde es in den 1950er Jahren, während der politischen Debatten über die «Wiederbewaffnung» in der Bundesrepublik, wieder besonders populär. Und deshalb gab es um die Jahrtausendwende, als in einem wiedervereinigten Deutschland erstmals Bundeswehreinsätze außerhalb des NATO-Gebiets diskutiert wurden, eine neue Welle von Verfilmungen und Bühneninszenierungen des Hauptmanns von Köpenick. Allerdings hat nicht erst Carl Zuckmayer das, was in Köpenick am 16. Oktober 1906 geschah, mit Kritik an Sozialmilitarismus und der Vergötterung von Uniformträgern verbunden. Diese Verbindung fand er bereits in den zeitgenössischen Quellen vor. Und auch in dieser Hinsicht
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gilt es eine Legende zu hinterfragen – eine Legende, die zwar weit älter ist als die Ereignisse jenes Tages in Köpenick, aber in ihnen ihre scheinbar überzeugendste Stütze fand.
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Drei Tage nach Wilhelm Voigts Raubzug, am 19. Oktober 1906, reichte in Köpenick Bürgermeister Georg Langerhans sein Abschiedsgesuch ein. Mit einem Seitenhieb auf Kritik, die in Teilen der Presse an seinem Verhalten bei der «Besetzung» des Rathauses durch den falschen Hauptmann geübt worden war, bemerkte er darin zunächst, es sei «ja hinterher leicht, klug zu reden». Er wolle aber dennoch als «Leiter der Verwaltung die formelle Verantwortung auf sich nehmen». Magistrat und Stadtverordnete baten ihn tags darauf jedoch geschlossen, sein Amt nicht niederzulegen. Er besitze nach wie vor «das Vertrauen der Bürgerschaft». Dem schloss sich selbst ein sozialdemokratischer Stadtverordneter im Namen seiner Partei ausdrücklich an. Denn die «Schuld an dem ganzen Unglück» trage nicht der Bürgermeister, sondern «der Militarismus».35 Im kleinen und etwas verschlafenen Köpenick wurde eine Verbindung zwischen übertriebener Ehrfurcht vor dem Militär und den Ereignissen des 16. Oktober erst relativ spät thematisiert. Die Leitartikler liberaler Zeitungen in der benachbarten Reichshauptstadt hatten das schon einen Tag nach dem Vorfall getan. Das dem Linksliberalismus nahestehende Berliner Tageblatt kommentierte unter der Überschrift «Fetisch Uniform» am 17. Oktober, der «Hauptmann von Köpenick» hätte «sein Ziel nicht erreichen können, wenn dem preußischen Soldaten nicht systematisch das Denken abgewöhnt würde». Die «Köpenickiade» sei «ein beschämendes Zeichen für Bürgersinn, Mannesmut vor Königsthronen, Rechtsstaat, Konstitutionalismus, und wie die schönen Worte alle heißen mögen, aber es ist nun einmal eine Tatsache, daß in Preußen die Uniform herrscht und regiert. Vor der Uniform liegen alle auf dem Bauch, die sogenannte ‹Gesellschaft›, die Behörden vom Minister bis zum letzten Nachtwächter, das Bürgertum und die Masse des Volkes auch.» Auch die ebenfalls linksliberale Berliner Morgenpost nahm Köpenick zum Anlass, die «Allmacht der Uniform» anzuprangern. Die nationalliberale Vossische
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Zeitung schloss sich dieser Kritik an: Spöttelnd bemerkte sie, der Respekt vor «des Königs Rock» sei «den Deutschen durch Gesetz und Verwaltung seit Menschengedenken anerzogen worden». Deshalb müsse es eigentlich «wundernehmen, daß der Gauner im Offiziersrock noch immer eine Seltenheit ist».36 Die liberale Presse der Hauptstadt gab damit die Schlagworte vor, von denen die Diskussion der «Affäre Köpenick» in der Öffentlichkeit dominiert werden sollte. Selbst das eher auf dem konservativen Flügel der katholischen Zentrumspartei stehende Blatt Germania wetterte gegen das «Vorrecht der Uniform», den «Kadavergehorsam» und «sich überschlagenden Militarismus», der in dem Fall zum Ausdruck komme.37 Erst recht stimmten sozialdemokratische Zeitungen in den Ton ein, den die Liberalen vorgegeben hatten: Der Köpenicker Raubzug sei «für die preußische Verwaltung, für die Psychologie und die Auffassung seiner Beamtenschaft von symptomatischer Bedeutung». Ermöglicht hätten ihn «Militarismus, das militärische Erziehungssystem, die Militärgesetzgebung». Der allseits verbreitete «blinde Gehorsam» mache Preußen zum «Land der unbegrenzten Lächerlichkeiten». Aus diesem Tenor der Kommentare im sozialdemokratischen Vorwärts bezog der Genosse in der Köpenicker Versammlung der Stadtverordneten dann seine Weisheit. Die SPD-Presse gab sich wenig zuversichtlich, dass die «ohrenbetäubenden Lachsalven» über die «Köpenicker Rathausbesetzung» irgendwie «die hehre preußische Autoritätsgläubigkeit» erschüttern könnten. Die Kritik werde vielmehr wie üblich abprallen an der «Dickhäutigkeit» der «ostelbischen Junkerschaft», die Preußen und Deutschland regiere.38 Mehr satirisch veranlagte Zeitgenossen stilisierten dagegen die Ereignisse des 16. Oktober schon selbst zu einer Art Revolution. Auf den Straßen Berlins wurden Ansichtskarten über den «Staatsstreich von Köpenick» verkauft. Und der Kolumnist des liberalen Berliner Tageblatts imaginierte spöttisch schon am Tag danach die Möglichkeiten, die sich aus dem Coup des falschen Hauptmanns für einen sozialistischen Umsturz ergäben: «Wär’ es nicht denkbar, daß ein genialer Sozi, zum Beispiel Bebel, seine Abneigung gegen den bunten Rock überwindet, den Leib in eine Generalsuniform steckt, eine Rotte Soldaten auf der Chaussee abfängt und den Reichskanzler aus der Wilhelmstraße geschlossen nach Spandau führt? ‹Auf Befehl des Kaisers –!›»39
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Später mutierte die Satire zur Prophezeiung. Schon zeitgenössische Stimmen, heißt es in einer neueren Darstellung, hätten «in Voigts Schicksal ein Fanal für den Untergang des Kaiserreiches» erblickt. Mit dem Wissen um die Revolution von 1918 werden die Ereignisse vom 16. Oktober 1906 jetzt als «komödienhafte Vorwegnahme des traurigen Endes des preußischen Militarismus» interpretiert. Sie hätten die Natur einer «durch und durch obrigkeitsstaatlichen Gesellschaft» bloßgestellt, «die Sonderstellung des Militärischen im Kaiserreich» entlarvt. Der «Farce» von Köpenick, einem «Lehrstück aus der Zeit des wilhelminischen Militarismus», sei folgerichtig die «Tragödie» des Ersten und Zweiten Weltkriegs gefolgt.40 Historische Handbücher, die als Kennzeichen des deutschen Kaiserreiches Untertanengeist und Militarismus identifizieren, verweisen als Beleg öfter kursorisch auf die «Affäre Köpenick».41 Ein Ausschnitt aus Zuckmayers Bühnenstück über den Hauptmann von Köpenick dient einer weitverbreiteten Quellensammlung über das Kaiserreich zur Illustration sozialer Militarisierung. In einem Fachbuch wird Zuckmayers 1930 geschriebenes Stück sogar zu «zeitgenössischer Kritik» an der angeblich dominanten Rolle des Militärs in der deutschen Gesellschaft vor 1914.42 Das ist symptomatisch für einen großen Teil der Literatur über das Verhältnis von Militär und Zivilgesellschaft im Kaiserreich. Nicht nur wird der Begriff des Zeitgenössischen oft sehr großzügig definiert. Als Beleg für Militarismus dient auch vor allem die Kritik daran. Und die war zumindest bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs in Deutschland ausgesprochen lautstark. Abgesehen von Armeeführung und aktiven Offizieren, plädierten dagegen nur wenige Stimmen für eine Formung der Zivilgesellschaft nach militärischen Werten. Im Fall Köpenick, der für die zahlreichen Kritiker solcher Forderungen ein gefundenes Fressen war, taten das nicht einmal die sonst recht militärfrommen, aber nun in eine Verteidigungsstellung gedrängten konservativen Parteien und ihre Presse. Was am 16. Oktober geschehen sei, argumentierte diese vielmehr, sei ein durch gewisse «Ausnahmeerscheinungen» bedingter «Betriebsunfall». Mit grundlegenden Systemfehlern militärischer Ausbildung oder gar einer Erziehung preußischer und deutscher Rekruten zu «Kadavergehorsam» habe es nichts zu tun. Liberale, Sozialdemokraten und andere zielten mit solchen Vorwürfen nur auf «eine himmelschreiende Bloßstellung unseres ganzen militärischen Reglements».43
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Die Welle der Kritik gegen eine angebliche Militarisierung der deutschen Gesellschaft erreichte 1906 neue Höhen. Diese Kritik hatte freilich eine lange Tradition. Die Erfolge der preußischen Armee gegen Österreich 1866 und der unter preußischem Oberbefehl vereinigten Truppenkontingente deutscher Staaten gegen Frankreich 1870 / 71, die die Reichsgründung ermöglichten, erhöhten zwar das Prestige des Militärs. Die zunehmende Nationalisierung der Bevölkerung in den Jahrzehnten seitdem verstärkte das noch. Liberale aller Schattierungen sperrten sich dennoch während des gesamten Kaiserreichs entschieden gegen eine Übernahme militärischer Werte ins Zivilleben. «Unser bürgerliches Leben», erklärte der Gymnasiallehrer und Landwehroffizier Heinrich Stürenburg 1879 kategorisch, sei «von einem weiteren Hereingreifen des von ihm in Zweck und Mitteln so grundverschiedenen kriegerischen Lebens möglichst freizuhalten».44 Wenn auch die Appelle des linksliberalen Pazifisten Ludwig Quidde verhallten, die Quelle des «Militarismus» durch grundsätzliche Verweigerung von Militärbudgets trockenzulegen, bildete deren Behandlung in den Parlamenten doch immer wieder Anlass für kontroverse Debatten über das Verhältnis von ziviler und militärischer Sphäre. Dass der Verlust militärischer Ehren Konsequenzen im Zivilrecht haben sollte, war vom liberalen Bürgertum schon vor der Gründung des deutschen Nationalstaats wiederholt erfolgreich abgeblockt worden. Mit dem Reichstag entstand dann eine neue Arena, in der über Jahrzehnte erbitterte Auseinandersetzungen um Reformen des Militärstrafrechts ausgetragen wurden. Die liberalen Militärkritiker bekamen dabei teilweise Unterstützung aus der Zentrumsfraktion und von der Sozialdemokratie. Wohl hielten die Sozialdemokraten nach der Reichsgründung prinzipiell an der Forderung nach einem Milizheer fest, während die Liberalen, beeindruckt vom Erfolg der preußischen Armeen 1866 und 1870 / 71, davon abrückten. Je mehr die SPD sich allerdings nach dem Ende des Sozialistengesetzes 1890 praktischer Reformpolitik zuwandte, desto wichtiger erschienen ihrer Führung andere Fragen. Unter dem maßgeblichen Einfluss von August Bebel konzentrierte die Partei sich auf eine Kritik an militärischen Initiationsriten, unsinnigem Drill, unzeitgemäßer Bewaffnung und «Firlefanz» wie Paraden mit federbuschgeschmückten Helmen. Anders als Sozialdemokraten und Liberale hatten nicht wenige Katholiken zur Zeit der Reichsgründung eine Wehrpflicht überhaupt abgelehnt,
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weil die Aufrüstung von Volksheeren die Einheit des christlichen Europa gefährde. Die Konfrontation mit dem neuen Nationalstaat im «Kulturkampf» verstärkte diese grundsätzliche Oppositionshaltung zunächst noch. Erst mit ihrer wachsenden Integration in die deutsche Nation ab den 1880er Jahren wurde die Einstellung der Katholiken zu Militärfragen moderater und pragmatischer. Ihre politischen Vertreter bemängelten nun vor allem die Misshandlung von Rekruten. Damit näherte sich die Militärkritik des Zentrums im Verlauf des Kaiserreichs teilweise liberalen und sozialdemokratischen Positionen an. Besonders süddeutsche Zentrumsabgeordnete kritisierten darüber hinaus aber auch die vom «kleinen Mann» für die Rüstungsfinanzierung zu zahlenden Steuern.45 1906 akzeptierten in der Praxis schließlich zwar alle relevanten politischen Kräfte des Kaiserreichs dessen Militär. Die Existenz von Armee und Flotte in der bestehenden Form sah man, abgesehen nur vom linken SPD-Flügel und wenigen Pazifisten, als nationale Notwendigkeit. Allerdings wurde auch von allen Seiten Kritik am bestehenden Militärsystem geübt. Das traf sogar für die Konservativen zu, wo vielen das umstrittene, bürgerlich dominierte Reserveoffizierskorps ein Dorn im Auge war. So klagte etwa Theodor Fontane spöttisch, «das Haupt-Idol» des «preußischen Cultus» sei «der Reserve-Offizier: Da haben Sie den Salat.»46 Alle politischen Richtungen und gesellschaftlichen Kräfte von Bedeutung forderten deshalb, wenn auch mit verschiedenen Schwerpunktsetzungen, eine Reformierung des Militärsystems. Einerlei ob es dabei um Finanzierungsfragen, die Misshandlung von Rekruten, das Reserveoffizierskorps, die Abschaffung vermeintlich ineffizienter Traditionen, Änderungen des Militärstrafrechts oder die Umwandlung des stehenden in ein Milizheer ging: Immer brandmarkten die Befürworter der angestrebten Reformen deren Gegner als «Militaristen». Selbst bezeichnete sich niemand so. Der Begriff war ein Schimpfwort, Militarismus stets der Militarismus der anderen. Das wird gerade im zeitgenössischen Echo auf den Coup des «Hauptmanns von Köpenick» sehr deutlich. Im Ausland, besonders in Frankreich, wurde Wilhelm Voigts Raubzug als Beleg für einen typisch deutschen Militarismus gedeutet, der «das Vaterland Goethes und Schillers in eine Kaserne verwandelt» habe.47 In Süddeutschland galt der gleiche Militarismus dagegen als typisch preußisch. Ein Münchner Witzblatt thematisierte in einer speziellen «Köpenicker Ausgabe» genüsslich den
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«preußischen Kadavergehorsam in Wort und Bild». In der bayerischen Hauptstadt bildete die «Köpenickiade» sogar den Anlass zur Gründung eines neuen Satiremagazins, in dessen erster Ausgabe es hieß: «Ja, es kann in Preußen viel gelingen – Wenn man die Schnauze gut weiß anzubringen – Uniform, sowie Kommandoton – Das genügt im Allgemeinen schon!» Eine Karikatur zeigte einen arrogant dreinblickenden Offizier mit Peitsche, der auf einer mit preußischem Adler verzierten Sitzgelegenheit thronte und sich von einem auf Knien rutschenden Zivilisten die Stiefel küssen ließ.48 Auch im Königreich Sachsen wurde Wilhelm Voigts Köpenicker Raubzug zum willkommenen Anlass dafür, Hohn über die Nachbarn im Norden auszugießen. Leipziger und Dresdner Zeitungen überboten sich mit Spott darüber, was in der «preußischen Residenz» möglich sei. In Der Hauptmann von Köpenick, einer in Leipzig gedruckten «schaurigtraurigen Geschichte vom beschränkten Untertanenverstand», frotzelte der Texter, es könne «in Preußen jeder, der sich – ohne Waffenschein! – eine alte Uniform kauft, ohne weiteres Feldherr sein!». Auch zu Lästereien über die angebliche Sucht der Preußen nach militärischen Orden bot das Köpenicker Ereignis in Sachsen Anlass.49 In Preußen schoben sich die Parteien währenddessen gegenseitig den schwarzen Peter zu. Für den sozialdemokratischen Vorwärts war der «blinde Gehorsam», der in Köpenick zum Vorschein gekommen sei, Folge konservativer Politik. Verantwortlich für die «Komik der Köpenicker Rathausbesetzung», die «den Kulturstaat Preußen» weltweit zur Lachnummer degradiert habe, machte das SPD-Zentralorgan den Adel der preußischen Ostprovinzen. Denn diese «ostelbischen Mandschus» dominierten in Armeeführung und konservativer Regierung. Der antiquierte Militarismus dieser ewig gestrigen Elite sei schuld an unhaltbaren Zuständen im deutschen Militär, die der «Hauptmann von Köpenick» nun entlarvt habe.50 In Ostpreußen, einer der Hochburgen der so an den Pranger gestellten «ostelbischen Junkerschaft» und Heimat Wilhelm Voigts, wurde das nach dessen Festnahme süffisant kommentiert: «Bisher hat die Welt geglaubt, die Berliner und alle, die da rum wohnen, seien helle – aber jetzt sind sie von einem simplen Ostpreußen überrumpelt worden.»51 Tatsächlich war Voigt der einzige an der Affäre beteiligte «Ostelbier». Die Presse der Konservativen nahm das zum Ausgangspunkt dafür, den Spieß umzudre-
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hen: Verantwortlich für den «Betriebsunfall» von Köpenick seien keineswegs administrative Strukturen oder unzeitgemäße Mentalitäten aristokratischer Hinterwäldler aus dem Osten, sondern «allein die unbegreifliche, teils lächerliche, teils beklagenswerte Kopflosigkeit der Beteiligten». Insbesondere der Köpenicker Bürgermeister Georg Langerhans wurde zur Zielscheibe konservativer Vorwürfe. Am 16. Oktober habe er «geradezu unbegreiflich gehandelt», polemisierte etwa die Deutsche Tageszeitung. Für Konservative eignete Langerhans sich gleich aus mehreren Gründen als Sündenbock. Nicht nur war er bürgerlicher Herkunft. Unter seinen nahen Verwandten gab es auch einen prominenten Politiker der Linksliberalen, die wie die SPD den Militarismus von aristokratischen Konservativen für die «Affäre Köpenick» verantwortlich machen wollten: Sein Onkel Paul Langerhans hatte jahrzehntelang in Reichstag und Preußischem Abgeordnetenhaus gesessen und amtierte 1906 immer noch als Vorsteher der Berliner Stadtverordnetenversammlung. Selbst hatte der Neffe zudem als «Einjährig-Freiwilliger» im preußischen Heer «gedient» und die Militärzeit als Leutnant der Reserve beendet. Selbst ein bürgerlicher Reserveoffizier, spotteten die konservativen Blätter verächtlich, müsse aber doch in der Lage sein, einen richtigen von einem falschen Hauptmann zu unterscheiden. Der linke Flügel der Sozialdemokratie schloss sich dieser Kritik teilweise an.52 Die bürgerlichen Liberalen, von denen die politische Skandalisierung der Köpenicker Ereignisse ursprünglich ausgegangen war, gerieten dadurch in die Defensive. Allerdings waren sie unter den Kommentatoren die Einzigen, die von Anfang an auch wenigstens etwas Selbstkritik geübt hatten. So formulierte das liberale Berliner Tageblatt schon am 17. Oktober, auch das Bürgertum müsse sich angesichts der Ereignisse von Köpenick Vorwürfe machen. Zu sehr habe man es an unabhängigem «Bürgersinn» fehlen lassen. Nicht laut genug habe man dagegen protestiert, «daß unsere Vorliebe für militärisches Gepränge und Gepräge, die jedem Preußen im Blute steckt, in den letzten Jahren allzu reichliche Nahrung erhalten hat». Zu unkritisch hätten Bürger sich um das Reserveoffizierspatent bemüht, das als Sprungbrett für eine Karriere in der höheren staatlichen Verwaltung diente. Der Köpenicker Bürgermeister Langerhans sei ein solcher Fall: ein fähiger Verwaltungsmann, aber doch auch «eben selber Reserveoffizier, und der Respekt vor der Uniform steckt ihm in den Knochen».
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Freilich, so schränkten die liberalen Zeitungen sofort ein, sei das eigentliche Problem kein individuelles, sondern ein strukturelles. Selbst wo zivile Amtsträger wie Langerhans sich ihre geistige Unabhängigkeit bewahrten, stünden sie den Uniformträgern angesichts des konservativen Beharrens auf der absoluten kaiserlichen «Kommandogewalt» doch letztlich machtlos gegenüber. Solange die Armeeführung auf dem Vorrang militärischer vor zivilen Institutionen bestehe, der Monarch das unterstütze und die von ihm abhängige Regierung nicht dagegen angehe, seien Vorfälle wie der in Köpenick vorprogrammiert. Und noch Schlimmeres erscheine denkbar: «Menschenköpfe sind keine Druckknöpfe für Klingelleitungen, mit deren Hilfe Wünsche oder Befehle aus dem Oberstock in das Souterrain getragen werden. Komische Mißverständnisse, wie das in Köpenick, wären schließlich noch die geringsten Ergebnisse derartiger Experimente mit der Volksintelligenz; wie aber, wenn einmal die Leitung von oben nach unten zerrissen wird oder gar ein Kurzschluß die Flammen zum Himmel lodern läßt?» Deshalb müsse das «Freiheitsgefühl des Volkes» die nötige Lehre aus Köpenick ziehen und «Militarismus» wie «Absolutismus» überwinden.53 Obwohl also die liberalen Militarismuskritiker im Gegensatz zu anderen zeitgenössischen Akteuren nicht gänzlich immun gegen jede Selbstkritik waren: Auch für sie blieben die eigentlichen «Militaristen», die für die «Affäre Köpenick» wirklich Verantwortlichen, letzten Endes die anderen. Die damit nahezu universelle Kritik der Zeitgenossen am «Militarismus» beeinflusst die Sicht auf das Verhältnis von Militär und ziviler Gesellschaft im Kaiserreich bis heute. Zu diesem Bild einer ausgeprägten Militär- und Obrigkeitshörigkeit beigetragen hat nicht zuletzt auch die künstlerische Verarbeitung der Geschichte Wilhelm Voigts durch Carl Zuckmayer. Doch im Grunde widerlegt die zeitgenössische Kritik sich selbst. Denn wie kann etwas, das in allen Teilen einer Gesellschaft harsch kritisiert wird, ein allgemeines Charakteristikum dieser Gesellschaft sein? Eine nähere Analyse der öffentlichen Debatten über Wilhelm Voigts Coup vom 16. Oktober 1906 stützt vielmehr die der landläufigen Ansicht entgegenstehende These von Benjamin Ziemann, «daß es sich beim Sozialmilitarismus wohl nur sehr begrenzt um eine in den kollektiven Mentalitäten und der öffentlichen Meinung des späten Kaiserreichs fest verankerte historische Tatsache handeln kann».54
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Aber lenkten die wechselseitigen, politisch motivierten Schuldzuweisungen der zeitgenössischen Beobachter nicht von der Realität des Geschehens am 16. Oktober 1906 ab? Schließlich war Voigts Plan an diesem Tag ja voll und ganz aufgegangen. Versehen mit nichts anderem als einer zusammengekauften alten Uniform und schauspielerischer Begabung, war es ihm gelungen, ein Dutzend Soldaten von der Straße zu rekrutieren und mit deren Hilfe in Köpenick die Stadtkasse zu erbeuten. Gegen alle Widerstände hatte er sich dabei mit schnarrendem Befehlston durchgesetzt. War das nicht doch ein Beweis für die Untertanenmentalität seiner Mitmenschen, auf die er ja gebaut hatte? Für blinden Respekt vor der Uniform, ja für einen nahezu allumfassenden «Kadavergehorsam» der Menschen im Kaiserreich? Und belegt nicht insbesondere das Verhalten des ja schon von den verschiedensten Zeitgenossen kritisierten Köpenicker Bürgermeisters, des Reserveleutnants Langerhans, doch die landläufige Interpretation von der militaristischen Durchseuchung des wilhelminischen Deutschland und der zentralen Rolle des Reserveoffizierskorps dabei? Reserveoffizier konnte wie Georg Langerhans nur werden, wer aus wohlhabenden Verhältnissen stammte. Denn im Gegensatz zu angehenden Berufsoffizieren mussten «einjährig-freiwillige» Anwärter auf das Reserveoffizierspatent nicht nur ihren Lebensunterhalt während der Zeit beim Militär selbst finanzieren, sondern auch ihre gesamte Ausrüstung. Das Reserveoffizierskorps entwickelte sich im Kaiserreich deshalb zu einem Tummelplatz reicher Bürgersöhne, die eine Karriere in der höheren preußischen Staatsverwaltung anstrebten. Für die war das Offizierspatent ungeschriebene Eingangsvoraussetzung. Aus der Sicht liberaler und sozialdemokratischer Kritiker wurden die angehenden Reserveoffiziere während der Militärzeit bürgerlich-zivilen Werten entfremdet und durch jene autoritären Normen geprägt, die in der von vormodernen, aristokratischen Eliten geführten preußischen Armee herrschten. Zum anderen würden die derartig «feudalisierten» Absolventen der «einjährig-freiwilligen» Offiziersausbildung die ihnen eingeimpften militärischen Normen dann auch ihren Untergebenen in Amtsstuben und der Bevölkerung insgesamt weitervermitteln. Das Reserveoffiziers-
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korps erschien damit als äußerst effektiver Katalysator einer Militarisierung der gesamten Gesellschaft des Kaiserreichs.55 Das Verhalten des Bürgermeisters von Köpenick am 16. Oktober bestätigte in den Augen der meisten Zeitgenossen diese Sicht. Wenn es etwas gab, worin die Kommentatoren der verschiedenen politischen Richtungen übereinstimmten, dann war es die Einschätzung, der Bürgermeister habe sich wie ein typischer preußischer Reserveoffizier verhalten. Auch jenseits der veröffentlichten Meinung war dieser Glaube weit verbreitet: Während dem falschen «Hauptmann» Voigt eine Welle von Sympathie entgegenschlug, wurde Langerhans mit Schmähbriefen bombardiert. Die erwähnte «schaurig-traurige Geschichte vom beschränkten Untertanenverstande» zeichnete ihn als eitlen und aufgeblasenen Bürokraten, der sich bei der Konfrontation mit dem vermeintlichen militärischen Vorgesetzten freilich sofort in einen unterwürfigen Untergebenen verwandelte: «Einen Finger an die Hosen, und den andern an die Stirn, wo man bei normalen Menschen wohl vermutet das Gehirn.» Und ein in den Straßen gesungenes «Lied vom tapferen Hauptmann» legte ihm die Zeilen in den Mund: «O Köpenick, o Köpenick / Ich muß dich jetzt verlassen / Was ich verbrochen, weiss ich nicht, / Doch füg’ ich mich dem Strafgericht, / Mein König darf es machen.»56 Solche in der Öffentlichkeit dominierenden Bilder trieben Langerhans schon wenige Tage nach Voigts Raubzug dazu, dem Köpenicker Magistrat seinen – dann einstimmig abgelehnten – Rücktritt anzubieten. Sie kamen offenbar einer weitverbreiteten Schadenfreude entgegen: Endlich einmal schienen die beamteten Halbgötter hinter Schreibtischen und Schnurrbärten Opfer ihrer eigenen Autoritätsfixierung geworden. Von dem, was im Köpenicker Rathaus am 16. Oktober wirklich passiert war, waren diese öffentlichen Bilder freilich denkbar weit entfernt. Schon optisch entsprach Georg Langerhans nicht der Darstellung, die ihm in Zeichnungen und Karikaturen gegeben wurde. Dort präsentierte man ihn wiederholt als alten Mann mit weißen Haaren und Bart. Tatsächlich war er 1906 gerade einmal 36 Jahre alt. Auch sein Verhalten gegenüber Voigt entsprach nach den übereinstimmenden Aussagen der Beteiligten ganz und gar nicht dem, was in der Öffentlichkeit kolportiert wurde. Als der falsche Hauptmann das Büro des Bürgermeisters betreten und ihn für verhaftet erklärt hatte, legte Langerhans keineswegs dem Klischee des Reserveoffiziers entsprechend unterwürfig die Hände an die
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Hosennaht. Stattdessen stellte er nicht nur auf der Stelle die Rechtmäßigkeit der Verhaftung in Frage und verlangte Voigts Dienstausweis zu sehen. Nachdem dieser das verweigert hatte, wollte Langerhans sich auch unverzüglich mit seinem zivilen Vorgesetzten, dem Landrat, telefonisch kurzschließen, weil offenbar ein Irrtum vorliegen müsse. Da er sich von den barsch ablehnenden Antworten Voigts nicht einschüchtern ließ, wusste dieser sich schließlich nur zu helfen, indem er den ihn begleitenden Soldaten die vollständige Isolierung des Bürgermeisters auftrug und selbst dessen Büro verließ. Als ausgebildetem Reserveoffizier fiel Langerhans schnell auf, dass sein Gegenüber «nicht ganz vorschriftsmäßig angezogen war». Seine Zweifel an der Echtheit des falschen Hauptmanns verflogen aber rasch wieder, weil «die ihn begleitenden Soldaten zweifellos echt waren». Selbst wenn er sich durch diesen Umstand nicht hätte täuschen lassen, wäre das freilich folgenlos geblieben: Gegen die bewaffneten Soldaten konnte der Bürgermeister ohnehin nichts ausrichten. Entmutigen ließ Langerhans sich dadurch allerdings nicht. Vielmehr wies er Voigt, der im Lauf des Nachmittags noch zwei Mal kurz sein Büro betrat, wiederholt energisch auf die «Ungesetzlichkeit des Verfahrens» hin und forderte, den angeblichen Haftbefehl zu sehen. Erst als der falsche Hauptmann androhte, Waffengewalt anzuwenden und ihn im Keller des Rathauses einzusperren, hörte der Bürgermeister damit auf. Keineswegs handelte Langerhans also aus Respekt vor der Uniform. Schon gar nicht legte er «Kadavergehorsam» an den Tag. Bei keiner seiner drei Begegnungen mit Voigt ließ er sich von dessen militärischem Befehlston beeindrucken. Allein die Bewaffnung der Eskorte des Mannes in Hauptmannsuniform war es, die ihn schließlich zum Verstummen brachte. Bei dem Köpenicker Stadtobersekretär und dem Stadtkämmerer verhielt es sich nicht anders. Wie der Bürgermeister akzeptierte auch der Sekretär die Verhaftung ohne «nähere Aufklärung» nicht. Wilhelm Voigt konnte sich ihm gegenüber ebenfalls nur mit Hilfe seiner bewaffneten Eskorte durchsetzen. Der Kämmerer erkannte Voigts Anspruch, die Uniform legitimiere ihn bereits hinreichend, um im Rathaus Befehle zu geben, ausdrücklich nicht an. Selbst nachdem der falsche Hauptmann ihn deswegen für verhaftet erklärt hatte, wiederholte er, er nehme Anweisungen nur von seinen zivilen Vorgesetzten entgegen, nämlich dem Bürgermeister oder dessen Stellvertreter. Erst als Voigt drohte,
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dann eben selbst Hand an die Kasse zu legen, und ihm zwei bajonettbewehrte Soldaten zur Seite stellte, gab der Kämmerer unter Protest seinen Widerstand auf.57 Auch sonst wurden der selbsternannte Hauptmann und die von ihm rekrutierte Truppe in Köpenick mehrfach mit Fällen von ziviler «Insubordination» konfrontiert. Beim Betreten des Rathauses hatte Voigt befohlen, alle Beamten müssten in ihren Büros bleiben. Er wollte dadurch verhindern, dass Hilfe von außen geholt wurde oder irgendwelche koordinierten Aktionen gegen die Rathausbesetzung zustande kamen. Manche Beamten akzeptierten diese Anweisung; einige boten dem falschen Hauptmann sogar von sich aus ihre Hilfe an. Andere missachteten den Befehl aber auch ein ums andere Mal. Mehrere Stadträte und Stadtverordnete, die Sitzungen im Rathaus abhalten wollten, forderten trotz Voigts anfänglicher Weigerung kategorisch und letztlich erfolgreich, eingelassen zu werden. Zwischen dem Gastwirt des Restaurants im Rathauskeller und einem der von Voigt befehligten Soldaten kam es sogar zu einem Handgemenge, weil der Wirt die Sperrung der Ein- und Ausgänge nicht akzeptieren wollte und deshalb beinahe erstochen worden wäre.58 Dass die Soldaten die Befehle des falschen Hauptmanns widerspruchslos befolgten, fand zeitgenössisch nur wenig Aufmerksamkeit. Zwar erregte ihr Auftritt «in kriegsmäßiger Ausrüstung» während des Prozesses gegen Wilhelm Voigt kurzfristig «unter dem Auditorium allgemeine Heiterkeit». Kritik wurde an ihrem Verhalten jedoch kaum geübt. Aus liberaler und sozialdemokratischer Sicht handelte es sich bei den Mannschaften und Gefreiten lediglich um schuldlose Opfer eines dysfunktionalen Militärsystems. Dessen sinnloser «militärischer Drill» habe ihnen jede «Neigung zur Kritik» ausgetrieben. Als Gerüchte über eine disziplinarische Bestrafung der zwölf Gardisten umliefen, wurden diese auf dem linken Flügel der SPD kommentiert, das könne man «den armen Kerls» doch nicht antun. Darüber herrschte Übereinstimmung bis hin zu den Konservativen: Diese hoben hervor, es gebe schließlich kein einziges Heer, «in dem der Soldat bei jedem Dienstbefehl die schriftliche Autorisation seines Vorgesetzten, ihr Patent und die Gesetzmäßigkeit der befohlenen Handlung nachprüfen darf oder muß».59 Dass einfache aktive Soldaten Befehle nicht hinterfragten, schien nur allzu nachvollziehbar. Das relativ geringe Interesse an ihrem Verhalten hing außerdem wohl auch damit zusammen, dass eine Skandalisierung in
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diesem Fall wenig politische Dividende versprach. Bürgermeister Langerhans war als bürgerlicher Reserveleutnant und Neffe eines prominenten Linksliberalen ein lohnenderes Ziel. Konservative konnten durch Fokussierung der Kritik auf ihn von Defiziten der Militärorganisation ablenken. Sozialdemokraten und selbstkritischen Liberalen diente die Konstruktion eines «Kadavergehorsams» der Beamten im Köpenicker Rathaus dazu, einen Verrat des Bürgertums an den Idealen von Freiheit und Fortschritt anzuklagen. «Köpenick» wurde von ihnen zum Symbol bürgerlicher «Feudalisierung» stilisiert, einer Orientierung des deutschen Bürgertums an vormodernen Traditionen, vermittelt durch das «Unwesen» des Reserveoffizierskorps. Diese Sichtweise der zeitgenössischen Kritik ist bis in die jüngste Zeit von historischen Darstellungen vielfach aufgegriffen worden. Die «Affäre Köpenick» wird darin als Symptom eines deutschen Sonderwegs gezeichnet, der von Militarismus, fehlender Modernität und aristokratisch-autoritären Traditionsüberhängen geprägt gewesen sei. Doch eine solche Interpretation steht nicht allein im Widerspruch zu den Quellen über das, was sich am 16. Oktober 1906 im Köpenicker Rathaus abspielte. Erst recht wirkt sie fragwürdig, wenn man den weiteren Kontext dieser Ereignisse betrachtet. Die außerordentlich hohe Aufmerksamkeit, die den Ereignissen in Köpenick von der Presse aller Richtungen geschenkt wurde, machte den Fall im ganzen Deutschen Reich und weit über dessen Grenzen hinaus bekannt. Vielfach wurde dann auch an andere Fälle erinnert, in denen als Polizisten, Postbeamte oder Militärs verkleidete Gauner im Inland wie im Ausland ähnliche Betrugsversuche unternommen hatten. Ein Frankfurter Friseur habe sogar mit gefälschten Ausweispapieren als vermeintlicher Revisor mehrere Stadtkassen in Bayern um Geld erleichtert. In Hannover hatte ein Mann in Hauptmannsuniform mit «vornehmen Manieren» bei einem Herrenausstatter mehrere Kleidungsstücke ergaunert, ohne zu bezahlen. Das katholische Zentrumsblatt Germania berichtete von einem als deutscher Offizier getarnten französischen Spion, der die Beamten einer Berliner Militärbehörde täuschte, wo er sich ein neues Infanteriegewehr zeigen ließ und dieses dann entwendete. Im niedersächsischen Einbeck musste ein falscher Leutnant dagegen flüchten, als ein Bahnhofsvorsteher ihn aufforderte, sich durch einen Ausweis zu legitimieren. In Düsseldorf schöpften zwei von drei Zivilisten, die ein Mann
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in der Uniform eines Infanteriehauptmanns um größere Geldbeträge zu erleichtern versucht hatte, Verdacht und enttarnten den Betrüger. Aus anderen europäischen Ländern gab es Meldungen über vergleichbare Gaunereien, bei denen ebenfalls Uniformen genutzt worden. In Russland hatten als Armeeoffiziere verkleidete Anarchisten wiederholt im angeblichen Auftrag des Zaren öffentliche Kassen beschlagnahmt, um damit auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden. Das mochte noch wenig überraschen, galt das absolutistisch regierte Zarenreich wie das Deutsche Reich schon den Zeitgenossen doch als ein Land, in dem jede Uniform aus ihrem Träger einen Halbgott machte. Im republikanischen Frankreich und der parlamentarischen Monarchie Großbritannien war der kritiklose Respekt vor Uniformen aber offenbar nicht weniger ausgeprägt. So wurde vor der Enttarnung Wilhelm Voigts zeitweilig ein europaweit polizeibekannter Hochstapler verdächtigt, der «Hauptmann von Köpenick» gewesen zu sein, weil er in Österreich-Ungarn, England und Frankreich mit Erfolg «schon vielfache Betrügereien in OffiziersUniform begangen» hatte. In Großbritannien fühlte sich ein Leserbriefschreiber des Daily Telegraph von der «Affäre Köpenick» an einen erfolgreichen Juwelenraub in London erinnert, bei dem sich der Täter einer Polizeiuniform bedient hatte. Auch das Satiremagazin Punch wies mit subtiler britischer Ironie auf die im eigenen Land verbreitete Tendenz hin, Uniformierten Narrenfreiheit zuzubilligen: Es bildete Diebe ab, die am helllichten Tag die Amtsinsignien des Sprechers im House of Commons entwendeten und dabei wegen ihrer Uniform ganz unbehelligt blieben. Aus Frankreich wurde sogar von einem aus dem Irrenhaus entsprungenen Verrückten in Generalsuniform berichtet, dem beinahe ein Staatsstreich gelungen wäre.60 Von den Autoren neuerer historischer Studien, die das Verhältnis von Zivilgesellschaft und Militär in Europa vor dem Ersten Weltkrieg international vergleichend betrachtend haben, ist der Vorstellung eines deutschen Sonderwegs klar widersprochen worden. In Frankreich und Großbritannien genossen Soldaten und Offiziere jedenfalls kein geringeres Ansehen als im Deutschen Reich. Soweit man von einer «Aufwertung des Militärs und des Militärischen» sprechen könne, so Jakob Vogel, handelte es sich dabei um den «Ausdruck eines breiteren Prozesses der Nationalisierung und Militarisierung, der allgemein die Entwicklung der europäischen Gesellschaften seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
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kennzeichnete». In Deutschland um 1900 aufkommende Bemühungen, die Erziehung nachwachsender Generationen stärker militärisch auszurichten, orientierten sich an französischen und britischen Vorbildern. In der Praxis blieben sie hinter dem in Frankreich oder auch der Schweiz Üblichen zurück. Letzten Endes waren solche Unterschiede aber «weniger grundsätzliche als vielmehr graduelle».61 Wie Armeeführungen in ganz Europa die Gesellschaft zu militarisieren versuchten und damit überall lautstarken Protest und Widerstand von Zivilisten provozierten, beanspruchten sie auch überall Autonomie. Während der Dreyfusaffäre, die sich seit Mitte der 1890er Jahre hinzog und 1906 gerade zu Ende ging, wehrte die französische Armee ebenso entschieden jegliche Einmischung durch Zivilisten ab wie die deutsche, und sie wurde dabei gleichermaßen entschieden von konservativen Kreisen unterstützt. In Großbritannien weigerte sich das Offizierskorps im Frühjahr 1914 geschlossen, gegen paramilitärische Organisationen der Protestanten in Nordirland vorzugehen – bis die liberale Regierung in London ihre Anweisung dazu zurückzog. Sosehr dieser Eigensinn militärischer Organisationen auf der Ebene der Tagespolitik konservativ geprägt war, so wenig erschöpfte sich seine Bedeutung doch darin. Die institutionelle Ausdifferenzierung und Autonomie von Teilbereichen ist ein wesentliches Element moderner Gesellschaften. Das Militär machte dabei keine Ausnahme. Überhaupt spricht viel dafür, dass der in allen europäischen Gesellschaften vor 1914 weitverbreitete Respekt vor Uniformen kein Überhang traditioneller, vormoderner Mentalitäten gewesen ist. Denn die Vormoderne war deutlich mehr von «Aufsässigkeiten» und Revolten gegen Obrigkeiten und Autoritäten geprägt. Die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols und dann die mentale Nationalisierung der Massen änderten das. Nicht die Vormoderne, sondern die im 19. und 20. Jahrhundert aufdämmernde klassische Moderne war die Ära der Sozialdisziplin. An die Stelle der zu Meutereien neigenden Söldnerheere traten hochgradig disziplinierte Volksheere. Erst jetzt wurde dem Offizier und anderen uniformierten Amtsträgern als Repräsentanten des Staats und der Nation hoher Respekt entgegengebracht. Das erklärt, warum die zwölf Infanteriegardisten am 16. Oktober 1906 dem als Hauptmann maskierten Wilhelm Voigt widerspruchslos von Plötzensee bis nach Köpenick folgten. Es erklärt aber auch, warum
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Voigt, während die Soldaten alle seine Befehle befolgten, im Köpenicker Rathaus auf eine ganze Reihe renitenter Zivilisten traf. Diese zeigten ihm gegenüber alles andere als «Kadavergehorsam», so dass er sie letzten Endes nur mit Gewalt oder Androhung von Gewalt kontrollieren konnte. Denn angesichts der funktionalen Trennung und Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilbereiche bestanden Bürgermeister Georg Langerhans und die übrigen zivilen Amtsträger in Köpenick ebenso auf ihrer Autonomie, wie das Militär dies tat. In ihre Domäne wollten sie sich genauso wenig hineinreden lassen wie die preußische Armee und deren «oberster Kriegsherr» Wilhelm II. in die militärische «Kommandogewalt».
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Für ein Land von vermeintlich Militärverrückten gab das Deutsche Reich 1906, als Wilhelm Voigt seinen Raubzug auf das Rathaus von Köpenick unternahm, im europäischen Vergleich nicht besonders viel Geld für seine Armee und Flotte aus. Von den anderen europäischen Großmächten ließen Großbritannien und Russland sich Landheer und Marine zusammengenommen wesentlich mehr kosten. Die Militärausgaben von Österreich-Ungarn und Frankreich lagen unter den deutschen – wobei beide Staaten allerdings auch weniger Einwohner hatten als Deutschland. Pro Kopf der Bevölkerung war Großbritannien das Land mit dem höchsten Militäretat, gefolgt von Frankreich. Jeden Deutschen kostete Heer und Marine zusammengenommen im statistischen Durchschnitt nur halb so viel wie jeden Briten und nur drei Viertel von dem, was dem durchschnittlichen Franzosen von seiner Regierung dafür aus der Tasche gezogen wurde. Die russischen und österreichischen Rüstungsinvestitionen pro Kopf lagen ebenfalls deutlich unter den britischen und französischen, aber auch den deutschen.62 Gerade die von traditionellen aristokratischen Eliten regierten Monarchien Mittel- und Osteuropas gaben also, gemessen an der Bevölkerungszahl, verhältnismäßig weniger Geld für Militär aus als die westlichen, parlamentarisch regierten Staaten Frankreich und Großbritannien. Das hatte zumindest im Fall des Deutschen Reiches einen einfachen Grund: Die Armee wurde hier von den regierenden Konservativen nicht
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zuletzt als Waffe gegen innere Revolten gesehen, die ihre Machtstellung bedrohen könnten. Je größer aber insbesondere das Landheer wurde, desto weniger schien es dazu in der Lage. Denn dann musste man riskieren, dass zunehmend Sozialdemokraten unter den Rekruten waren, während Bürgerliche in wachsendem Maß Eingang ins Offizierskorps fanden. Als Instrument zur Verteidigung aristokratischer Machtpositionen im Fall eines Falles taugte das Heer dann immer weniger. Spätestens seit dem Ende des Sozialistengesetzes plagten Monarch, preußisches Kriegsministerium und Generalstab Albträume von einer Unterwanderung des Heeres durch Sozialdemokraten. Schon kurz nachdem im Reichstag 1890 die Entscheidung gefallen war, das Gesetz nicht zu verlängern, hatte der Kriegsminister im Auftrag von Kaiser Wilhelm II. sämtlichen Armeekorps befohlen, alle sozialistischen Organisationen und deren Mitglieder in ihrem Bereich streng zu überwachen. Bei Verhängung des Belagerungszustandes sollten sie sofort mit Waffengewalt bekämpft, ihre Führer verhaftet werden. Einige Tage später gab der Innenminister die Anweisung, die politische Gesinnung der Wehrpflichtigen auszukundschaften. Wie Preußen verpflichtete auch Bayern die Zivilverwaltungen, als Sozialdemokraten bekannte Personen den Militärbehörden zu nennen, damit diese nicht eingezogen wurden. Seit 1894 wurde zudem das politische Engagement von Soldaten für die SPD strafrechtlich verfolgt. All das führte nach Einschätzung der Armeespitze aber ebenso wenig zum Erfolg wie Versuche, die Rekruten durch Militärgeistliche und im Schnellverfahren dafür ausgebildete Offiziere gegen das Einsickern sozialistischer Ideen zu immunisieren. Auch alle politischen Vorstöße zu einem neuerlichen Verbot der Sozialdemokratie in Reichstag und preußischem Abgeordnetenhaus scheiterten. Währenddessen wuchs die Zahl von Mitgliedern und Wählern der SPD beständig weiter an. Seit Langem schon waren deshalb in den Städten und Industriegebieten, wo die Sozialdemokratie praktisch ausnahmslos ihre Anhänger hatte, weniger Wehrpflichtige eingezogen worden als auf dem platten Land. Im Deutschen Reich wurde so nur etwa die Hälfte der jungen Männer eines Jahrgangs Soldat. In Frankreich waren es dagegen vier von fünf. Ende der 1890er Jahre entschloss das Kriegsministerium sich schließlich zu dem noch verzweifelteren Schritt, bis auf Weiteres das Landheer nicht mehr wesentlich zu vergrößern.
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Eine Überprüfung der Friedenspräsenzstärke der Armee stand turnusmäßig alle sechs Jahre an. Bei der letzten Heeresvorlage 1893 war die Präsenzstärke auf Drängen des Kriegsministeriums nach heftigen parlamentarischen Konflikten, die bis zur Reichstagsauflösung und Neuwahlen geführt hatten, um 90 000 Mann erhöht worden. 1899 verlangte das Ministerium dagegen nur eine Erhöhung um 27 000 Mann, obwohl der Generalstab aus militärischen Erwägungen erneut wesentlich mehr für nötig erklärt hatte. Zur Überraschung der Parteien protestierte der Minister auch kaum, als in den Etatberatungen noch 7000 Mann aus der Vorlage gestrichen wurden. Und auf das Angebot der Parlamentarier, diese 7000 Mann in den folgenden Etatjahren nachzufordern, kam das Ministerium nicht zurück. 1905 und 1911 wurden sogar nur jeweils knapp 10 000 Mann für neue Waffengattungen gefordert und bewilligt. Dass hinter dieser plötzlichen Bescheidenheit die Absicht steckte, die Armee als zuverlässiges Machtinstrument konservativer Innenpolitik zu erhalten, deutete Kriegsminister Heinrich von Goßler schon Anfang 1899 im Reichstag an. In einem parlamentarischen Schlagabtausch mit August Bebel, bei dem der sozialdemokratische Parteivorsitzende den Vorwurf erhoben hatte, dass Industriearbeiter aus politischen Gründen selten zum Kriegsdienst herangezogen würden, bestätigte der Minister zunächst, dass «die landwirthschaftlichen Bezirke durch die Aushebung zweifellos mehr belastet werden als die Städte». Dann griff er die Absicht der SPD an, «die Armee zu demokratisiren», und erklärte: «Was unsererseits geschehen kann, um diesen Gedanken zu vereiteln, das wird geschehen.» Noch deutlicher wurde Karl von Einem, von Goßlers Nachfolger als Kriegsminister, bei einer Reichstagsdebatte 1904. Ebenfalls auf eine Rede von Bebel antwortend, der Intelligenz und militärische Qualitäten sozialdemokratischer Rekruten gerühmt hatte, erklärte von Einem, ihm sei «ein auf königstreuer und religiöser Grundlage fußender Soldat, wenn er auch ein paar Ringe weniger schießt, lieber als ein Sozialdemokrat». Und er fügte hinzu, «wenn nun aber Zeiten kommen, wo nicht bloß die Intelligenz ausreicht, sondern wo es darauf ankommt, wie es im Herzen aussieht und wie die Gesinnung ist, was mache ich dann mit einem so guten Soldaten, wenn der dann sagt: Nein, nun nicht mehr!?» Während der Kriegsminister dabei die Verwendung der Armee im Innern nur verklausuliert ansprach, nahmen konservative Parlamentarier,
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die seine Worte anschließend überschwänglich lobten, kein solches Blatt vor den Mund. So erklärte der Abgeordnete Elard von Oldenburg-Januschau die Armee zu einem «Bollwerk», das dem «Schutz der bestehenden Gesellschaftsordnung» und insbesondere der aristokratischen Herrschaft diene. An die Adresse der anderen Parteien und insbesondere der SPD gerichtet, drohte er: «An diesem Bollwerk werden wir nicht rütteln lassen, und an diesem Bollwerk werden Sie zerschellen!»63 Für die Vertreter der auf innenpolitische Funktionen der Armee fokussierten konservativen Militärpolitik stellten nicht nur sozialdemokratische Soldaten, sondern auch bürgerliche Offiziere eine Gefahr für die aristokratische Machtstellung dar. In den 1860er Jahren waren im preußischen Heer noch fast zwei Drittel aller Offiziere Adlige gewesen. Während der 1880er Jahre sank dieser Anteil auf unter die Hälfte; am Vorabend des Ersten Weltkriegs betrug er nur noch ein knappes Drittel. Allerdings konzentrierten die Offiziere bürgerlicher Herkunft sich vor allem auf die Marine und technische Waffengattungen wie die Artillerie. In Garderegimentern überwogen die Aristokraten nach wie vor genauso wie in den höheren Offiziersrängen. Bei den Generälen etwa ging der Adelsanteil kaum zurück. Dennoch verunsicherte das Vordringen bürgerlicher Offiziere um die Jahrhundertwende die konservativen Eliten zunehmend. 1890 hatte Wilhelm II. Bürgerliche noch ausdrücklich ermuntert, die Offizierslaufbahn einzuschlagen: «Nicht der Adel der Geburt allein kann heutzutage wie vordem das Vorrecht für sich in Anspruch nehmen, der Armee ihre Offiziere zu stellen.» 1902 machte der Kaiser sich dann jedoch Sorgen über eine Verbürgerlichung des Offizierskorps. Dass in dieser Hinsicht «die Grenzen einer gesunden Entwicklung bereits überschritten» seien, meinte das Kriegsministerium schon 1899. Es schlug deshalb sogar die Verkleinerung des Offizierskorps durch Auflösung aller Reserve- und Landwehreinheiten vor, die fast ausschließlich von Bürgerlichen geführt wurden. Obwohl der Generalstab das vom Standpunkt militärischer Effizienz für unsinnig, ja kontraproduktiv erklärte, hielt das Kriegsministerium daran fest. Und hartnäckig widersetzte es sich während der nächsten Jahre im Interesse einer Erhaltung aristokratischer Kontrolle über die Armee deren Vergrößerung.64 Mit Ausnahme der Sozialdemokraten, die aus Fundamentalopposition traditionell ohnehin jegliche Heeresvorlagen ablehnten, fand das
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weitgehende Einfrieren der deutschen Rüstung zu Land seit der Jahrhundertwende die Zustimmung der Parteien im Reichstag. Die Konservativen teilten die damit vom Kriegsministerium verfolgten innenpolitischen Ziele. Die Liberalen konnten dem der Armee verordneten Sparkurs etwas abgewinnen, weil damit Mittel für den von ihnen gewünschten Ausbau der Flotte frei wurden. Wie das Zentrum begrüßten sie es zudem, gegenüber ihren Wählern nicht mehr höhere Ausgaben für das Heer rechtfertigen zu müssen, die in den 1890er Jahren für viel populistischen Unmut gesorgt hatten. So verliefen die Debatten über den Etat für die Armee im Reichstag während der ersten Jahre des neuen Jahrhunderts, von den traditionellen Rededuellen zwischen Sozialdemokraten und Regierungsvertretern abgesehen, ungewöhnlich friedlich und konsensual. Ab 1905 begann dieser Konsens dann langsam zu bröckeln. Die kolonialpolitische Verständigung zwischen Großbritannien und Frankreich wie zwischen Großbritannien und Russland schuf eine neue außenpolitische Großwetterlage. In den Marokkokrisen von 1905 und 1911 manifestierte sich die wachsende internationale Isolation des Deutschen Reichs. Der einzige verbliebene zuverlässige Bündnispartner Deutschlands, Österreich-Ungarn, geriet währenddessen auf dem Balkan zusehends in die Defensive. Dort entwickelte sich eine neue Rivalität zwischen dem Habsburgerreich und Russland, das nach dem 1905 verlorenen Krieg gegen Japan sein Augenmerk wieder von Fernost nach Europa zurückwendete. Beginnend mit der Bosnienkrise von 1908 / 09, verlagerten sich die Konflikte zwischen den Großmächten, die lange an der kolonialen Peripherie geführt worden waren, auf den europäischen Kontinent zurück. 1912 kam es auf dem Balkan schließlich zum ersten größeren Krieg in Europa seit mehr als drei Jahrzehnten. Die zumindest indirekte Beteiligung der Großmächte daran machte, wie schon die zweite Marokkokrise im Jahr zuvor, die prekäre bündnispolitische Situation des Deutschen Reiches endgültig allgemein deutlich. Die ab 1905 erst vereinzelt und dann immer öfter hörbare Kritik an dem weitgehenden Stillstand der deutschen Rüstung zu Land schwoll deshalb 1912 schließlich zu einem ohrenbetäubenden Crescendo an. Die Reichsleitung versuchte die kritischen Stimmen zunächst zu ignorieren. Zum einen war sie angesichts der Erfahrung der russischen Revolution von 1905 um die Schlagkraft der Armee gegen innere Unruhen besorg-
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ter denn je. Noch 1909 empfahl Kriegsminister von Einem dem Kaiser, das Offizierskorps weiterhin möglichst kleinzuhalten: Nur dann könne man sich auf die Offiziere im Falle eines Falles auch verlassen. Anfang des nächsten Jahres entfachte der konservative Heißsporn Elard von Oldenburg-Januschau bei allen anderen Parteien des Reichstags einen Sturm der Entrüstung, als er dort erklärte: «Der König von Preußen und der Deutsche Kaiser muß jeden Moment imstande sein, zu einem Leutnant zu sagen: nehmen Sie zehn Mann und schließen Sie den Reichstag.»65 Zum anderen drohte bei den Mehrheitsverhältnissen im Reichstag eine Finanzierung höherer Rüstungskosten durch Steuern, die erstmals den grundbesitzenden Adel in größerem Umfang zur Kasse gebeten hätten. Reichskanzler Bernhard von Bülow und das Reichsschatzamt schlugen 1907 deshalb sogar eine Kürzung des Etats für die Armee vor. Bülows Nachfolger Theobald von Bethmann Hollweg wagte 1910 /11 aus demselben Grund ebenfalls keine wesentliche Verstärkung des Heeres, obwohl Kaiser und Generalstab, aufgeschreckt durch Nachrichten über russische Aufrüstung, diese mittlerweile energisch forderten. Erst 1912 war diese innenpolitisch motivierte konservative Militärpolitik nicht mehr durchzuhalten. Entscheidend dafür war der angesichts der prekär gewordenen äußeren Lage Deutschlands massiv gewordene öffentliche Druck. Mit der für Militärvorlagen bisher absolut ungewohnten Begründung, «wegen der neuen politischen Vorgänge und der wiederholten Erörterung einer Verstärkung der deutschen Wehrkraft zu Lande und zu Wasser in der Öffentlichkeit» reichten die bisherigen Rüstungsanstrengungen nicht mehr aus, sah sich die Reichsleitung gegen den vergeblichen Widerstand des preußischen Kriegsministers jetzt veranlasst, eine außerordentliche Verstärkung der Armee um 39 000 Mann vorzuschlagen. Das war in einem einzigen Jahr so viel wie in den vorhergehenden zwölf Jahren seit 1899 zusammen. 1913 folgte dann die umfangreichste Heeresvorlage in der Geschichte des Kaiserreichs: Sie sah eine Vermehrung der Armee um noch einmal sage und schreibe 137 000 Mann vor. Trotz der immensen Kosten wurde diese Vorlage wie schon die von 1912 durch eine breite Mehrheit im Reichstag angenommen. 1913 stimmten zum ersten Mal überhaupt sogar die sozialdemokratischen Abgeordneten für die Deckung einer Militärvorlage. Denn diese sah, auch
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das ein Novum, die Belastung von Erbschaften einschließlich der des aristokratischen Großgrundbesitzes vor. Die Konservativen hatten die Deckungsvorlage deshalb verbissen bekämpft, aber schließlich nicht verhindern können, dass sie durch eine Koalition aller anderen Parteien verabschiedet wurde. Die vorrangig innenpolitisch motivierte konservative Militärpolitik war gescheitert, die zu ihrer Verteidigung verzweifelt aufgerichteten Dämme von der Kritik in Öffentlichkeit und Parlament hinweggespült.66 Diese Kritik ging von zwei «vordringenden bürgerlichen Bewegungen» aus. Stig Förster hat sie in seinem Standardwerk über die deutsche Heeresrüstung vor dem Ersten Weltkrieg als die «Demokraten» und die «Rechtsradikalen» bezeichnet.67 Zwischen beiden gab es einzelne personelle und organisatorische Berührungspunkte wie auch programmatische Gemeinsamkeiten. Die rechtsradikalen und demokratischen Gegenentwürfe zur konservativen Militärpolitik der alten adligen Eliten unterschieden sich aber nicht nur von dieser, sondern auch voneinander deutlich. Die offensichtlichste Gemeinsamkeit von rechtsradikaler wie demokratischer Militärpolitik lag darin, dass beide außen- statt innenpolitischen Funktionen der Armee Priorität einräumten. Das Heer sollte kein aristokratisches Machtinstrument im Innern sein, sondern den Interessen der gesamten Nation auf internationalem Parkett dienen. Die Befürchtungen, die Vertreter einer konservativen Militärpolitik über die Rückwirkungen einer Verstärkung der Armee auf deren interne Struktur hegten, teilten sie nicht. Im Gegenteil: Sowohl Rechtsradikale als auch Demokraten traten dafür ein, den unverhältnismäßigen Einfluss des Adels im Offizierskorps zurückzudrängen, den Anteil des Bürgertums und anderer Schichten dort dagegen zu erhöhen. Die traditionell elitäre Institution Armee wollten sie in ein Volksheer umwandeln und effizienter machen. Das Üben schneidiger Kavallerieattacken, auf das ältere Aristokraten im Generalstab noch Wert legten, erschien ihnen angesichts der Feuergeschwindigkeit und Reichweite moderner Repetiergewehre und Geschütze zu Recht als kollektiver Selbstmord. Auch andere alte Zöpfe wie Federbüsche, Pickelhauben, Paradeuniformen und unsinniger Drill sollten beseitigt, moderne technische Waffengattungen wie vor allem die Artillerie gefördert werden. Die Forderungen der rechtsradikalen Militärpolitiker, die zunächst
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meist aus dem Alldeutschen Verband kamen, aber sich mit dem Anfang 1912 gegründeten Deutschen Wehrverein schnell eine größere und weiter expandierende organisatorische Plattform schufen, erschöpften sich darin aber nicht. Eine massive Aufrüstung des Heeres sollte in ihren Augen nicht allein der Verteidigung dienen, sondern besser früher als später auch eine aggressive Expansion Deutschlands auf dem europäischen Kontinent ermöglichen. Krieg erschien ihnen unausweichlich. Er sei ein «reinigendes Gewitter», durch den «die große Zersetzung der Moral des Volkes» ihr Ende finden werde, hieß es auf der Gründungsversammlung des Wehrvereins. Sein Vorsitzender redete engagiert einer Militarisierung von Gesellschaft und insbesondere Jugend das Wort und wandte sich scharf gegen die «Humanitätsduselei» militärkritischer «Volksverderber» und die «falschen Propheten des ewigen Friedens». Die Führung des Wehrvereins unterstrich auch die Bedeutung einer Reinheit deutscher Kultur, Sprache und «Rasse». Offener Antisemitismus fand sich in den Veröffentlichungen des Vereins seit dessen Gründung und sollte während des Ersten Weltkrieges dort immer breiteren Raum einnehmen.68 Die Ideologie des Deutschen Wehrvereins nahm so in vieler Hinsicht die des Nationalsozialismus vorweg. Allerdings gelang es ihm weder, seine programmatischen Ziele zu erreichen, noch, eine wirkliche Massenbasis zu gewinnen. Die 1912 im Reichstag verabschiedete Militärvorlage bezeichnete er als unzureichend. 1913 machte der Verein sich dann die Forderung des Generalstabs zu eigen: Statt um 137 000 Mann, was schon eine absolut beispiellose Vermehrung darstellte, verlangte er, das Heer um die astronomische Zahl von 300 000 Mann zu verstärken. Nachdem das nicht gelungen war, sprachen seine Führer von «Vaterlandsverrat» und radikalisierten ihre Agitation. Doch sonderlich erfolgreich waren sie damit nicht. Als die Armeevorlage im Frühsommer 1913 vom Reichstag verabschiedet wurde, zählte der Wehrverein 78 000 Einzelmitglieder. Diese Zahl konnte er danach nicht mehr wesentlich erhöhen, seine anfänglichen Mobilisierungserfolge nicht fortsetzen. Die Berichte seiner regionalen und lokalen Organisationen malten bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs Bilder von wachsender Resignation und nachlassendem Interesse bei Aktivisten. Sich fortsetzende korporative Beitritte von Kriegervereinen sagen wenig über die tatsächliche Bindung von deren Mitgliedern an den Wehrverein aus. Nicht wenige davon waren ihm zudem
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schon einzeln beigetreten und wurden so nun doppelt gezählt. Dennoch blieb selbst die so künstlich hochgerechnete Mitgliederzahl des Wehrvereins weit unter der von SPD oder dem Volksverein für das katholische Deutschland, der faktischen Parteiorganisation des Zentrums. Sie erreichte nicht einmal annähernd die seines wichtigsten Konkurrenten unter den nationalen Interessenverbänden, des ebenfalls unter Auszehrung leidenden Flottenvereins. Unter den politischen Parteien hatte der Deutsche Wehrverein sich anfangs guter Kontakte zu Freikonservativen und Nationalliberalen erfreut. Nachdem diese den vom Verein rabiater Kritik unterzogenen Heeresvorlagen zugestimmt hatte, kühlten sich die Beziehungen aber schnell ab. Allenfalls auf dem rechten Flügel der Nationalliberalen wurde den Verfechtern rechtsradikaler Militärpolitik nach dem Sommer 1913 schließlich noch die Treue gehalten. Allein in der nationalliberalen Partei berührte sich deren schmale Basis auch mit der wesentlich breiteren einer demokratischen Militärpolitik. Der Vorsitzende der Partei, Ernst Bassermann, war seit 1908 Mitglied des Alldeutschen Verbandes. Bei den Wehrvorlagen von 1912 und 1913 fungierte Bassermann jedoch als einer der Sprecher der Ad-hoc-Koalitionen, von denen diese Vorlagen gegen die rechtsradikalen und konservativen Konzepte durchgesetzt wurden. Links vom Nationalliberalismus umfasste die erste dieser Koalitionen 1912 Zentrumspartei und Linksliberale; 1913 gesellten sich bei der Deckung auch noch die Sozialdemokraten hinzu. Das demokratische Konzept wurde damit letzten Endes von mehr als drei Vierteln der gewählten Volksvertreter im Reichstag unterstützt. Im Gegensatz zu den Rechtsradikalen mit ihrer vergleichsweise sehr dünnen Massenbasis sahen diese die Armee als Werkzeug nationaler Verteidigung, nicht eines aggressiven Radikalnationalismus. Vielen war bewusst, dass sie mit ihrer Zustimmung zur Aufrüstung möglicherweise zwar auch das Risiko eines Krieges erhöhten. Von dem Nationalliberalen Bassermann bis hin zu Bebel bei den Sozialdemokraten wurde deshalb das Votum für die Deckungsvorlagen mit der Aufforderung an die Reichsleitung verknüpft, ernsthafte Abrüstungsverhandlungen mit den anderen europäischen Großmächten zu führen. Das war keine bloße Rhetorik. Wenn es auch unter liberalen und Zentrumsparlamentariern kaum entschiedene Pazifisten gab, so engagierten sich doch viele von ihnen gemeinsam mit Sozialdemokraten in der Interparlamentarischen Union und dem Verband
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für internationale Verständigung. Diese Organisationen, die nach dem Bonmot eines Zeitgenossen weder «mit dem politischen Alkoholismus der Alldeutschen noch mit der Abstinenz der Pazifisten» zu tun hatten, versuchten am Vorabend des Ersten Weltkriegs, die Spannungen zwischen den Großmächten durch Kontakte zwischen deren Parlamentsabgeordneten zu vermindern, besonders des Deutschen Reichstags und der französischen Nationalversammlung.69 Bezeichnend für die Stoßrichtung demokratischer Militärpolitik waren die Resolutionen, auf die beide liberale Parteien, Zentrum und SPD sich 1913 einigten. Sie wurden mit der Zustimmung zur Finanzierung der außerordentlichen Heeresvorlage dieses Jahres verknüpft. Ihre Erfüllung sollte Bedingung für die Freigabe der bewilligten Mittel in den künftigen jährlichen Etats sein. Die Probe aufs Exempel wurde wegen des Kriegsausbruchs im nächsten Jahr nicht gemacht; allein die militärpolitische Einigung dieses breiten Mitte-links-Bündnisses im Reichstag war freilich schon eine Sensation. Gefordert wurde in den Resolutionen zum einen, dass bei Ernennungen von Offizieren zukünftig keine Adligen mehr bevorzugt werden dürften, und zwar insbesondere bei der Garde. Dass die Garde eine «Elitetruppe zur Niederschlagung von Aufständen» darstellte, war ein offenes Geheimnis, das die Sozialdemokraten bei dieser Gelegenheit dann auch beim Namen nannten, und machte die Sache besonders pikant. Die Konservativen schäumten nicht ganz zu Unrecht, die Resolution sei ein Angriff auf die militärische Kommandogewalt des Kaisers. Und der Kriegsminister erklärte anschließend, wenn die Parlamentsmehrheit auf dieser Forderung beharre, werde die Reichsleitung die gesamte Heeresvorlage begraben – eine Drohung, die er dann allerdings zähneknirschend nicht wahr zu machen wagte. Zum anderen forderte die Mehrheit aus Liberalen, Zentrum und Sozialdemokraten die Senkung der militärischen Dienstzeit in zunächst ausgesuchten Truppengattungen von zwei auf nur noch anderthalb Jahre. Der erneut vergeblich protestierende Kriegsminister erfasste die dahintersteckende Absicht durchaus richtig, als er beklagte, dann sei es ja nicht mehr möglich, die Rekruten zu «Leuten zu erziehen, die national denken». Denn durch die Verkürzung der Dienstzeit wollten die Parteien den Einfluss verringern, den die Armee als Instrument gesellschaftlicher Militarisierung und konservativer Indoktrination ausübte. Weitere Reso-
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lutionen der Parlamentsmehrheit zur Reform des Militärstrafrechts, gegen die Misshandlung von Rekruten, das Duellwesen und die Macht des kaiserlichen Militärkabinetts kamen hinzu.70 Damit war das Konzept einer der Kontrolle des Parlaments unterworfenen Armee umrissen, in der adlige wie monarchische Privilegien beseitigt und deren Normen an die des Zivillebens angeglichen waren – die Blaupause einer demokratisierten Armee aus Staatsbürgern in Uniform. Dass die alten aristokratischen Eliten in preußischem Kriegsministerium, Reichsleitung und Generalstab einer Umsetzung dieses Konzepts weiterhin hartnäckig hinhaltenden Widerstand entgegensetzten, überrascht kaum. Im Gegensatz zu den Vorstellungen der rechtsradikalen Reformer, deren konkurrierende völkisch-nationalistische Ideen nur bei einer kleinen Minderheit der Bevölkerung Anklang fanden, standen hinter dem demokratischen Reformkonzept aber politische Kräfte, die sich auf drei Viertel der Wähler des Kaiserreichs stützen konnten. Und es waren nicht nur Fragen der Militärpolitik, in denen diese Kräfte sich während der letzten Jahre des Kaiserreichs zusammenfanden.
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Der Norderney, Reichskanzler 2. Oktober hat Urlaub 1908
Bernhard von Bülow, Herbst 1908
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ür den Kanzler ging ein langer Sommer zu Ende. Die Monate Juni bis September verbrachte er seit Jahren größtenteils an der Nordsee, weit weg von Berlin. In dieser Zeit tagten weder der Reichstag noch das preußische Abgeordnetenhaus. In preußischen Ministerien wie Reichsämtern gewöhnten die Beamten sich während der Sommermonate an einen gemächlicheren Geschäftsgang. Bis in den Mai 1908 noch heftig diskutierte Reformen – die Einschränkung der Strafbarkeit von Majestätsbeleidigungen, das neue Reichsvereinsgesetz, eine Novelle des Börsenrechts – waren schließlich doch verabschiedet worden. Das umstrittene Projekt einer Änderung des Wahlmodus in Preußen war wieder in den Schubladen verschwunden. Selbst die scharfen Kontroversen um eine Reichsfinanzreform kochten im Sommer 1908 nur auf Sparflamme. Auch auf internationalem diplomatischen Parkett blieb es weitgehend ruhig. Statt wie sonst oft von morgens früh bis in die späten Abendstunden am Schreibtisch zu sitzen, konnte Bernhard von Bülow kürzertreten und entspannen. Ihm behagte die Ruhe in der weitläufigen Villa Edda direkt am Strand von Norderney, wo er residierte – abgeschirmt von den Tausenden anderer Touristen, die die Einwohnerzahl der Insel während der Sommermonate vervielfachten. Mit weißer Schirmmütze und Spazierstock unternahm der Reichskanzler ausgedehnte Wanderungen, begleitet von seinem Hund, seltener auch von seiner Frau. Seit Ende August leistete ihm außerdem der Diplomat Felix von Müller auf der Insel Gesellschaft – von dem böse Zungen munkelten, er und der kinderlos gebliebene Kanzler hätten eine homoerotische Beziehung miteinander. Voller Wehmut erinnerte Müller sich später an die «schönen Zeiten von Norderney».1 Bis September ließ es sich dort bei Tagestemperaturen um zwanzig Grad, lauem Westwind und viel Sonnenschein sehr gut aushalten. Doch jetzt, Anfang Oktober, ging die schöne Jahreszeit zu Ende. Die Temperatur fiel empfindlich. Die ersten Herbststürme würden nicht lange auf sich warten lassen.
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In Ostpreußen, wo an der russischen Grenze Bülows kaiserlicher Herr den Hirschen rund um sein Jagdschloss nachstellte, hatte sogar schon der Winter angeklopft. Am 30. September berichtete Wilhelm II. nach Großbritannien: «We have fine weather here with frost. I killed some very fine stags.» Der Empfänger des Berichts war Edward Stuart Wortley, ein Oberst der britischen Armee. Auf Wortleys Herrenhaus in Dorset hatte der Kaiser Ende 1907 einige Tage verbracht. Dabei war es auch zu einem Gespräch zwischen beiden über die deutsch-englischen Beziehungen gekommen. Deren Verschlechterung bedauerten Gast wie Gastgeber gleichermaßen. Nach Fortsetzung des Gesprächs am Rand der deutschen Septembermanöver in Lothringen, zu denen der Kaiser den britischen Offizier eingeladen hatte, sandte Wortley dem Monarchen eine Zusammenfassung von dessen Aussagen, die er in einer englischen Zeitung veröffentlichen wollte. Wilhelm äußerte sich erfreut «darüber, daß auch ein vornehmer Engländer an der Herstellung guter Beziehungen zwischen Deutschland und England mitzuarbeiten sich erbietet». Er las den Artikel sofort, fand ihn «gut geschrieben» und seine eigenen Worte «wahrheitsgetreu wiedergegeben». Noch am selben Tag befahl er Martin Rücker Freiherr von Jenisch, einem Kammerherrn in seinem Gefolge und Vetter Bernhard von Bülows, die Sendung aus Großbritannien an den Reichskanzler auf Norderney weiterzuleiten.2 Dort kam sie – mit privater Post – am Abend des 1. Oktober an. Am Morgen des nächsten Tages landete sie auf Bülows Schreibtisch. In dem Begleitbrief ließ der Kaiser den Kanzler bitten, an der Sendung Wortleys ihm «gut dünkende Veränderungen vorzunehmen und diese neben den jetzigen englischen Text zu schreiben». Wilhelm II. hatte Bülows Vetter Jenisch außerdem «ausdrücklich befohlen, die Stuart Wortleysche Sendung nicht durch das Auswärtige Amt, sondern direkt an Dich gehen zu lassen, da Er wünscht, daß die Sache möglichst geheim und diskret behandelt wird». Der im diplomatischen Dienst tätige Vetter fügte hinzu, er «habe seine Majestät schon darauf aufmerksam gemacht, daß an mehreren Stellen die Allerhöchstihm in den Mund gelegten Worte einer Korrektur bedürften, weil sie mit den Tatsachen nicht übereinstimmten». Das gelte unter anderem «bezüglich der Verhandlungen während des Burenkrieges».3 Diese Bemerkungen in dem relativ kurzen Begleitbrief hat Bülow eindeutig gelesen; einige Passagen darin strich er an. Ob der Reichs-
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kanzler auch den von Wortley übersandten, zehn Seiten langen englischen Text am 2. Oktober las, ist nicht so klar. Anders als bei von ihm durchgearbeiteten Dokumenten üblich, enthalten die überlieferten Exemplare davon keine Anmerkungen oder Hervorhebungen von seiner Hand. Es ist zwar denkbar, dass Bülow ein anderes Exemplar vorlag, das er bearbeitete und später verschwinden ließ. Besonders plausibel ist das allerdings nicht. Denn am selben Tag schickte der Kanzler den englischen Text an das Auswärtige Amt weiter mit der Bitte um «strengste Geheimhaltung» und der vagen Anweisung, diesen «sorgsam prüfen» zu lassen und «die wünschenswerten Korrekturen, Zusätze und Weglassungen» am Rand vorzunehmen. Wenn er den Text selbst im Einzelnen durchgegangen und Änderungen darauf notiert hätte, wäre das wohl kaum nötig gewesen.4 Wie Wilhelm II. erschien auch Bernhard von Bülow eine Verbesserung des deutsch-britischen Verhältnisses bitter nötig. Mit Frankreich und Russland hatte Großbritannien zwischen 1904 und 1907 koloniale Konflikte durch vertragliche Abmachungen beigelegt. Dagegen war die Stimmung gegenüber dem Deutschen Reich auf der Insel in Öffentlichkeit und Regierung zunehmend feindseliger geworden. Vor allem die deutsche Flottenrüstung erzeugte in Großbritannien zunehmend böses Blut. Bülow hatte deshalb im August 1908 auf Norderney einem englischen Journalisten selbst bereits ein Interview gegeben, in dem der Kanzler britische Befürchtungen über die deutsche Hochseeflotte zu zerstreuen versuchte. Die Aussagen Wilhelms II. in dem nun von Wortley übersandten Text waren freilich kaum geeignet, solche Bemühungen zu unterstützen. Zweifel in dieser Hinsicht hatte im kaiserlichen Gefolge offenbar schon Bülows Vetter Jenisch, der die brisante Sendung aus Großbritannien dennoch sorglos mit privater Post beförderte, obwohl er sie ausdrücklich und auf Geheiß seines Auftraggebers mehrfach als «Geheim!» deklarierte. Denn zum einen erklärte der deutsche Kaiser darin, Großbritannien hätte den Burenkrieg 1902 nur deshalb gewonnen, weil er selbst dem britischen Generalstab einen Feldzugsplan dafür habe zukommen lassen – was nicht nur Unsinn, sondern für die Briten auch kaum besonders schmeichelhaft war, unterstellte es ihrer militärischen Führung doch völlige Unfähigkeit. Zum anderen behauptete Wilhelm auch Dinge über das Verhalten Russlands und Frankreichs während des Burenkrieges, die
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alles andere als geeignet waren, das ohnehin schon schwierige Verhältnis dieser Länder zu Deutschland zu verbessern. Und seine Andeutungen, der deutsche Flottenbau sei gar nicht gegen Großbritannien, sondern gegen Japan gerichtet, musste auch noch dessen Regierung vor den Kopf stoßen. Wenn Bülow das gelesen haben sollte, hätten bei ihm als erfahrenem Veteranen des diplomatischen Dienstes eigentlich sofort alle Alarmglocken klingeln müssen. Dann wäre eine klarere Anweisung ans Auswärtige Amt angebracht gewesen – etwa in dem Sinn, über die von seinem Vetter bereits angemahnte Korrektur nicht zutreffender Fakten hinaus auch die mögliche politische Wirkung der kaiserlichen Aussagen zu berücksichtigen und den Text um Abschnitte zu kürzen, die in dieser Hinsicht problematisch erschienen. Wenn er es nicht gelesen hatte, lag eine solche deutliche Direktive angesichts der schwierigen außenpolitischen Situation des Deutschen Reiches genauso nahe. Dass sie nicht erging, ist wohl nur zu erklären durch eine Mischung aus Inkompetenz und dem Bedürfnis, die letzten Sommertage auf Norderney unbeschwert durch allzu viel Arbeit genießen zu können. So wurden die zehn Blätter mit ihrem potentiell explosiven Inhalt vom Reichskanzler ohne klare Vorgaben von Norderney nach Berlin ans Auswärtige Amt weitergereicht. Dort befand sich der Staatssekretär des Äußeren freilich auch noch im Urlaub. So landete die ebenso knappe wie unklare Direktive des Kanzlers zunächst im Büro des Unterstaatssekretärs Wilhelm Stemrich. Stemrich war seit einem Vierteljahrhundert im diplomatischen Dienst. Unter anderem hatte er auch einige Jahre das Deutsche Reich in London vertreten. Nach seinen eigenen späteren Aussagen las Stemrich den englischen Text «und hatte Bedenken». Er glaubte, «daß die Veröffentlichung böses Aufsehen erregen würde, war aber überzeugt, daß der Kanzler die letzte Entscheidung treffen und das Manuskript druckfertig machen wolle». Es ist gut möglich, dass sich der Unterstaatssekretär mit solchen nachträglichen Erklärungen vor allem selbst von Vorwürfen reinwaschen wollte, nachdem genau das eingetreten war, was er angeblich vorausgesehen hatte. Doch auch wenn seine Erklärungen der Wahrheit entsprachen, handelte er zumindest verantwortungslos. Statt die Bearbeitung der angeblich als hochbrisant erkannten Angelegenheit persönlich zu übernehmen, delegierte Stemrich sie zu allem Überfluss noch an einen
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Untergebenen. Diesem wollte er immerhin Eile empfohlen haben, freilich «ebenso wie Vorsicht, da ihm das Ding sehr gefährlich dünkte». Dann ging er ebenfalls in Urlaub.5 Die knifflige und undankbare Aufgabe, die hochproblematischen Äußerungen Wilhelms II. durch Streichungen oder Umformulierungen zu entschärfen, ohne an übergeordneten Stellen oder gar beim Kaiser selbst Unmut zu erregen, blieb also an Reinhold Klehmet hängen. Klehmet trug zwar den pompösen Titel eines «Wirklichen Geheimen Legationsrats mit dem Rang der Räte erster Klasse». Tatsächlich kam seine Position aber der eines simplen Referenten gleich. Auch er war schon seit über zwei Jahrzehnten im diplomatischen Dienst tätig. Abgesehen von vier Jahren als Mitarbeiter beim deutschen Konsulat in Sankt Petersburg, hatte er diese Zeit allerdings nur in Berlin verbracht, wo ihm beim Auswärtigen Amt ein langsamer, weitgehend altersbedingter Aufstieg durch die Gruppen der Beamtenbesoldung geglückt war. Von Bülow hatte Klehmet nur eine äußerst vage Anweisung erhalten, von seinem direkten Vorgesetzten Stemrich allenfalls düstere Warnungen und widersprüchliche Empfehlungen dazu, wie er vorgehen sollte. Er entschied sich deshalb für den Weg, der ihm am wenigsten riskant erschien. Er entwarf, wie er sich später verteidigte, «einen Bericht an den Kanzler, der sich, angesichts der Unklarheit über dessen nähere Absichten, streng an seine Verfügung hielt, also die Frage der Opportunität der ganzen Veröffentlichung nicht berührte». Zwar hatte Bülow eigentlich noch nicht einmal dazu deutlich Stellung bezogen. Lediglich von seinem Vetter im kaiserlichen Gefolge waren kleinere faktische Fehler in dem englischen Text beanstandet worden. Klehmet griff dessen Hinweise dankbar auf und korrigierte nach den diplomatischen Akten, die er sich kommen ließ, diese Kleinigkeiten. Die politisch viel relevanteren, problematischen Äußerungen über den vom Kaiser dem britischen Generalstab angeblich übermittelten Feldzugsplan sowie über Russland, Frankreich und Japan ließ er weitgehend unberührt stehen.6 Spätestens am 7. Oktober 1908 ging der Text mit Klehmets geringfügigen Änderungsvorschlägen zurück an Bülow auf Norderney. Der segnete, von einer winzigen und rein stilistischen Änderung abgesehen, alle Vorschläge des Referenten ab. Dabei hätten der Kanzler wie auch sein Mitarbeiter Müller, dem Bülow die Antwort an das Auswärtige Amt diktierte, noch einmal die Chance gehabt, den Text zu lesen. Kurz darauf
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wurde dieser wieder nach Berlin geschickt. Dort gelangte die Sendung am 11. Oktober auf den Schreibtisch des mittlerweile aus seinem Urlaub zurückgekehrten Staatssekretärs des Äußeren, Wilhelm von Schoen. Auch Schoen war im diplomatischen Dienst ein alter Hase. Nach einer ersten, kurzen Karriere beim Militär arbeitete er seit gut drei Jahrzehnten für das Auswärtige Amt. Die meiste Zeit davon hatte er auf Gesandtschaftsposten im Ausland verbracht, während der letzten Jahre in leitender Stellung, bevor er die Berufung zum Staatssekretär annahm. Verantwortung scheute Schoen also kaum. Wenn man seinen späteren Angaben Glauben schenkt, hatte er jedoch «nicht Zeit gehabt», den problematischen Text zu lesen, obwohl dieser mindestens drei Tage lang auf seinem Schreibtisch lag. Außerdem sei ihm gesagt worden, dass die «Bearbeitung sich der Herr Reichskanzler vorbehalten habe».7 Wie der Staatssekretär hatte Bülow seine lange Sommerfrische mittlerweile beendet. Am Nachmittag des 11. Oktober setzte er von Norderney aufs Festland über. Mit einem Nachtzug kam er am nächsten Morgen in Potsdam an. Wilhelm II. war schon abends davor von der Jagd aus Ostpreußen zurückgekehrt. Am Mittag des 12. Oktober trafen sich Kaiser und Kanzler im Berliner Reichskanzlerpalais zu einem späten Frühstück. Nach dem Essen machten beide im Garten noch einen Verdauungsspaziergang. Dabei erkundigte sich Wilhelm nach der Sendung aus Großbritannien, und Bülow sagte zu, die Sache bald zu erledigen. Tags darauf, der Kaiser war schon wieder zur Jagd aufgebrochen, ließ der Kanzler den geringfügig abgeänderten Text von Wortley seinem Vetter Jenisch schicken. Der sandte ihn, zusammen mit dem Entwurf eines englischsprachigen Antwortschreibens an Wortley, «alleruntertänigst» dem Kaiser hinterher. Wilhelm unterschrieb den Entwurf, in dem es hieß, er selbst habe den Text «carefully examined», und autorisierte die Veröffentlichung am 16. Oktober.8 Einigermaßen sorgfältig geprüft hatte den Text am kaiserlichen Hof tatsächlich nur Jenisch. Wie Wilhelm selbst fand dieser daran nichts allzu problematisch. Auch Jenischs Vetter Bernhard von Bülow erkannte die Notwendigkeit nicht, das politische Dynamit der darin enthaltenen Kaiserworte zu entschärfen – wenn er sie denn überhaupt las. Vergleichbares gilt für die im Auswärtigen Amt damit beschäftigten Diplomaten. Mindestens sechs studierte Juristen hatten den aus England dem Kaiser geschickten Text auf ihren Schreibtischen liegen: Außer Jenisch waren
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das Reichskanzler von Bülow, der ihm in Norderney zur Hand gehende Müller, Staatssekretär von Schoen, Unterstaatssekretär Stemrich und der «Wirkliche Geheime Legationsrat» Klehmet. Zusammen verfügten diese sechs Männer über 170 Jahre Erfahrung im diplomatischen Dienst des Deutschen Reiches. Doch keiner von ihnen verhinderte die fatale Veröffentlichung. Bei Klehmet, außer Jenisch dem Einzigen, der den Text mit Sicherheit las, dürfte dafür die Scheu vor der Übernahme von Verantwortung ausschlaggebend gewesen sein. Diese spielte wahrscheinlich auch bei Stemrich eine Rolle. Wie den anderen machte auch ihnen freilich noch ein wesentlich banaleres Handicap zu schaffen – nämlich schlichte Unfähigkeit. Und nicht zuletzt war ein Umstand von Bedeutung, den ein jüngerer Diplomat des Auswärtigen Amts dem befreundeten sächsischen Gesandten in Berlin mit den Worten umschrieb: «Sie wissen ja, wie der Geschäftsbetrieb bei uns ist, besonders in der Zeit des Urlaubs.»9
«Bülow soll mein Bismarck werden» «Bülow soll mein Bismarck werden»
Das Verhalten des Reichskanzlers gegenüber dem Kaiser im Oktober 1908 war charakteristisch für das Verhältnis zwischen beiden. Wilhelm hatte ein schier grenzenloses Vertrauen in Bernhard von Bülow. Der Kanzler nutzte das nicht allein skrupellos aus. Er ignorierte die kaiserlichen Anweisungen auch ein ums andere Mal. Trotz der Bitte des Kaisers, sich mit dem Text Wortleys selbst zu befassen, delegierte Bülow diese Aufgabe unverzüglich an andere. Dabei war Wilhelm II. die Sache so wichtig gewesen, dass er eine persönliche Bearbeitung durch den Kanzler nicht nur einmal «ausdrücklich befohlen», sondern später «nochmals» darauf insistiert hatte, wie Jenisch seinen Vetter wissen ließ: «Er wünsche, daß das Anerbieten Stuart Wortleys so geheim wie möglich behandelt und außer Dir tunlichst niemand anders in das Vertrauen gezogen werde.»10 Der Kanzler hinterging seinen kaiserlichen Herrn sogar doppelt. Denn Wilhelm hatte ja ausdrücklich darum gebeten, die Beamten des Auswärtigen Amtes nicht einzuschalten. Doch genau das war es, was Bülow umgehend tat. Der gewaltige Stein im Brett, den der Kanzler beim Kaiser besaß, war
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zum Teil eine Folge von Glück. Als Bernhard von Bülow 1897 vom Botschafter in Rom zum Chef des Auswärtigen Amtes befördert worden war, geschah das in einer den deutschen Interessen vorübergehend günstigen globalen Großwetterlage. Das Deutsche Reich profitierte von den weltpolitischen Rivalitäten zwischen Großbritannien, Frankreich und Russland. Bald schon konnte der neue Staatssekretär des Auswärtigen sich deshalb brüsten, den seit über einem Jahrzehnt anhaltenden Stillstand in der Kolonialpolitik überwunden zu haben: Nach der Besetzung des chinesischen Kiautschou Ende 1897 kamen zwei Jahre später noch mehrere Pazifikinseln als neue deutsche «Schutzgebiete» hinzu. Ein geheimes Abkommen mit Großbritannien über eine eventuelle Aufteilung portugiesischer Kolonien und der Erwerb von Eisenbahnkonzessionen im Osmanischen Reich 1898 ließen auf weitere Erfolge hoffen. Dem auf einer Orientreise umjubelten Wilhelm II. gegenüber konnte Bülow jedenfalls plausibel beanspruchen, er sei auf dem besten Weg, Deutschland in der Welt einen «Platz an der Sonne» zu verschaffen. In Europa schien das Reich währenddessen Wahlfreiheit zwischen Russland oder England als Bündnispartner zu haben. Bülows anfängliches Glück als Außenpolitiker hat sein Prestige beim Kaiser freilich nur weiter gefestigt. Das Fundament dafür war schon vor seiner Berufung zum Staatssekretär gelegt worden. Bereits Anfang der 1890er Jahre hatte Bülow berechnend mit dem persönlichen Freund Wilhelms II., Philipp zu Eulenburg, intime Beziehungen aufgebaut. Eulenburg gegenüber häufte er Kompliment über Kompliment auf den Kaiser – wohl wissend, dass seine Lobhudeleien dem dafür äußerst empfänglichen Monarchen brühwarm weitergegeben wurden. Wilhelm erscheine ihm, schmeichelte Bülow, «körperlich und geistig voll Leben, Kraft und Macht. Wir können nicht dankbar genug sein, daß wir einen solchen Herrn haben, der mich immer an die heldenhaften Salier- und Hohenstaufen-Kaiser unseres Mittelalters gemahnt.» Der junge Kaiser sei «aus dem Holze gemacht, aus dem unser Herrgott die großen, die sehr großen Herrscher zu schnitzen liebt». Listig fügte Bülow dann aber noch hinzu: «Darin sollte freilich für alle, die ihm dienen, die Aufforderung liegen, für diesen Herrn alles einzusetzen und Ihm und Seiner Sache kleinliche persönliche Interessen, Rivalitäten und Erwägungen freudig zu opfern.» Während der nächsten Jahre wurde er nicht müde zu betonen, er selbst sei dazu jedenfalls bereit.
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Und wiederholt ließ er vorsichtige Andeutungen fallen, nach denen das offenbar für viele am kaiserlichen Hof nicht gelte, die sich vielmehr den Ideen und Plänen des Kaisers in den Weg stellten.11 Diese von Bülow mit bemerkenswerter Ausdauer abgegebenen Bekundungen absoluter Loyalität verfehlten ihre Wirkung auf den Adressaten ebenso wenig wie die von ihm gezogene Schleimspur. Im Dezember 1895 teilte Wilhelm II. dem völlig verdatterten Reichskanzler Hohenlohe mit, dass nach dessen Tod Bernhard von Bülow das Kanzleramt übernehmen solle. Zu Weihnachten skizzierte der Monarch Eulenburg gegenüber die hohen Erwartungen, die er damit verband: «Bernhard, mein treu ergebener Freund, der himmelhoch über den verparlamentierten Ministern steht, wird die alten Hengste mir auf Candare wieder zusammenreiten, daß ihnen Hören und Sehen vergeht […] Bülow soll mein Bismarck werden, und wie der mit Großpapa nach außen Deutschland zusammenschmetterte, so wollen wir beide im Innern den Wust von Parlamentarismus und Parteischablone reinigen!»12 Der Kaiser war nicht der Einzige, der Parallelen zwischen Bismarck und Bülow beschwor. Als Wilhelms Favorit 1900 schließlich den greisen Hohenlohe wirklich als Kanzler ablöste, wurde eine solche Ähnlichkeit sogar an einem Ort gesehen und ebenfalls positiv bewertet, wo man es kaum erwartet hätte – nämlich in einer Hamburger Arbeiterkneipe, wo Sozialdemokraten verkehrten. Dort meinte ein Zecher, Bülows Eignung für den Kanzlerposten zeige sich besonders in seinen Reden: «Schon seine Jungfernrede sei eine kernige gewesen, und man könne sagen, nach Bismarcks Zeiten hätte man von einem Reichskanzler solche kernigen Reden nicht gehört. Deshalb sei er mit Recht der zweite Bismarck.»13 Sogar Bülows Biographie weist manche Übereinstimmungen mit der des ersten Reichskanzlers auf. Wie bei Bismarck war auch sein Vater ein ostelbischer Adliger, die Mutter dagegen eine Bürgerliche. Wie Bismarck orientierte der 1849 geborene Bülow sich zeitlebens mehr an der väterlichen Welt des Adels, während er mit der Mutter und dem Bürgertum nie besonders warm wurde. Und wie Bismarck war auch Bülow ein pietistischer Protestant, Naturliebhaber und belesener Einzelgänger, dessen ausgeprägter Individualismus an Egozentrik grenzte. Eine weitere Übereinstimmung zwischen beiden diagnostizierte in den späten 1850er Jahren Bismarck selbst. Als preußischer Gesandter beim Deutschen Bund in Frankfurt war er damals Kollege von Bülows
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Vater, der dort den dänischen König vertrat. Zu seinem Eindruck von dessen Ältestem befragt, soll Bismarck gemeint haben: «Der Junge sieht ehrgeizig aus.»14 Der weitere Lebenslauf des kleinen Bernhard gab ihm Recht. Während Bismarck preußischer Ministerpräsident und dann Kanzler des Deutschen Reiches wurde, machte Bülow wie der ehemalige Kollege seines Vaters auf einem Internat Abitur, studierte wie dieser anschließend Jura und trat ebenfalls in den preußischen Verwaltungsdienst ein. Anders als der erste Reichskanzler blieb Bernhard von Bülow freilich auf Dauer dort. Seine Karriere verlief deshalb wesentlich gradliniger. Während Bismarck erst auf Umwegen zum Beruf des Diplomaten fand, wurden dem jungen Bülow von seinem aus dänischen in preußische Dienste gewechselten Vater, der seit 1873 das Auswärtige Amt leitete, die Wege geebnet. Als der Vater einige Jahre später starb, suchte und fand der Sohn die Protektion des Reichskanzlers. Kontakte zu dessen gleichaltrigem Sprössling Herbert von Bismarck, einem Kollegen, erwiesen sich dabei als hilfreich. In rascher Folge durchlief Bülow mehrere Stationen im Ausland und erhielt schon vier Jahre nach seinem Eintritt in den diplomatischen Dienst die Leitung einer Gesandtschaft übertragen. Politisch konservativ, entwickelte er wie die Bismarcks eine Abneigung gegen das parlamentarisch regierte Großbritannien. Ein Angebot, an die deutsche Botschaft in London zu wechseln, war das einzige, das er während seiner diplomatischen Laufbahn ablehnte. Stattdessen zog er es vor, nach Russland zu gehen. Das Zarenreich hielt er wegen dessen autokratischer Regierungsweise für den natürlichen Verbündeten des kaiserlichen Deutschland. In der deutschen Innenpolitik sah Bülow wie die Bismarcks seine Aufgabe darin, die Herrschaft von Monarchie und Aristokratie zu verteidigen, auf denen seine eigene Machtposition beruhte. Dazu wollte er den nationalen Gedanken und die Angst des Bürgertums vor Industriearbeiterschaft, sozialer Revolution und SPD ausnutzen. Gegenüber der Sozialdemokratie setzte er allerdings im Gegensatz zum ersten Reichskanzler nicht auf Repression. Man dürfe zwar vor «dem roten Gespenst» keine Angst zeigen. Auf Dauer werde die «sozialistische Krankheit» jedoch «ohne viele Medizinen oder gar (nicht unbedingt gebotene) operative Eingriffe» von selbst abschwellen. Angesichts des gewachsenen politischen Interesses in der Bevölkerung war Bülow anders als der alte Bismarck auch gegen einen Staatsstreich mit Abschaffung des Reichs-
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tagswahlrechts: So etwas werde langfristig für die Erhaltung konservativer Herrschaft nur kontraproduktiv sein. In seiner Zeit als Reichskanzler hat er davon auch Wilhelm II. mühsam überzeugen können.15 Nach Wilhelms Regierungsantritt 1888 und Otto von Bismarcks Sturz zwei Jahre später orientierte Bülow sich mit aalglatter Flexibilität neu. Seine Kontakte zu den Bismarcks ließ er einschlafen. Umso mehr bemühte er sich um die Gunst des jungen Kaisers. Während er gegenüber Eulenburg den Monarchen in den höchsten Tönen lobte, dachte er insgeheim dabei ganz anders über Wilhelm. Dessen Phantasie sei besser entwickelt als seine Urteilskraft, notierte er verächtlich 1897. Der Kaiser überschätze seine eigenen Fähigkeiten stark, befasse sich zu sehr mit Äußerlichkeiten und Trivialem, lege zu viel Wert auf die Meinung anderer. Seine impulsiven Interventionen in die deutsche Politik seien «gefährlich» für die Nation. Am besten wäre es, schlussfolgerte Bülow, wenn man Wilhelm dazu bringen könnte, einfach den Mund zu halten.16 Auch nachdem er 1900 zum Reichskanzler ernannt worden war, strich Bülow dem Kaiser weiterhin dick Honig um den Schnurrbart. So zeigte er sich «enthusiasmirt» über dessen außenpolitische Ideen: Diese seien «so verblüffend einfach, daß man sich frägt, weshalb Andere noch nicht auf dieselben verfallen sind». Die Erhaltung des Friedens in Europa sei neben der göttlichen Vorsehung vor allem dem Wirken Wilhelms zu verdanken. Selbst für seine rhetorische Begabung von allen Seiten bis hin sogar zur Sozialdemokratie respektiert, betonte er wiederholt seine «Bewunderung» für die Reden des Monarchen: «Euere Majestät besitzen eine seltene Gabe Jedem das Richtige zu sagen.» Demütig dankte er für «huldvolle Befehle» und drückte ein ums andere Mal Bedauern darüber aus, «wie sehr meine Leistungen hinter dem zurückbleiben, was für Euere Majestät thun zu können mein Wunsch und Bestreben ist».17 Diese «Schmieg- und Biegsamkeit» Bülows löste bei manchen zeitgenössischen Beobachtern geradezu Ekel aus. Alfred von Waldersee, der frühere Generalstabschef, der sich selbst einmal Hoffnungen auf das Reichskanzleramt gemacht hatte, gehörte dazu. Bülow, meinte Waldersee, sei «dem Kaiser angenehm, weil er ihm sehr schmeichelt und niemals offen widerspricht. Es soll geradezu widerwärtig sein mit anzuhören, wie er dem hohen Herrn die fadesten Schmeicheleien sagt und ihn damit notwendigerweise zum Überschätzen der eigenen Fähigkeiten bringt.» Außerdem mache Bülow sich zu einem willigen Werkzeug Wil-
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helms. Er gebe sogar anderen gegenüber im Gespräch zu, «daß er eigentlich gar nicht Kanzler ist, sondern der Kaiser die Geschäfte führt».18 Selbst der neidische Waldersee musste freilich zugestehen, Bülow operiere «fraglos sehr geschickt, sagt dem Monarchen viel Schmeichelhaftes und niemals ‹Nein›, hat aber öfter schon nachher anders gehandelt, da er weiß, daß der Kaiser sehr schnell in seinem Urteil ist und oft auch vergißt, was er in der Hast gesagt hat». Tatsächlich nutzte der Reichskanzler nicht nur die Sprunghaftigkeit des Kaisers aus, um diesen zu hintergehen. Er setzte seine eigenen Ideen auch durch, indem er den leicht zu beeinflussenden Wilhelm nach Kräften manipulierte. Nach Friedrich von Holstein, Urgestein des Auswärtigen Amtes und einer der engsten Mitarbeiter Bülows in der Außenpolitik, hatte der Kanzler «den Kaiser manches Mal von Dingen abgebracht», ohne ihm jemals «direkte Opposition gemacht» zu haben. Auch der bei Hof ein- und ausgehende Hamburger Reeder Albert Ballin urteilte, dass Bülow Wilhelm «ins Gesicht immer zustimme, hinten herum aber» wisse er «schließlich seine Ansicht durchzusetzen». Der gut vernetzte konservative Politiker Bogdan von Hutten-Czapski sollte sich ebenfalls später erinnern: «Bülow verstand es mit großem Geschick, dankbar für die Erfüllung seiner ehrgeizigen Wünsche, den Kaiser unmerklich zu lenken.» Erst recht hatte der Chef des kaiserlichen Zivilkabinetts den Eindruck, dass nicht der Kanzler das Werkzeug des Kaisers, sondern vielmehr der Monarch Wachs in den Händen des Reichskanzlers war. Danach war es vor allem Bülows «unzweifelhaftes geselliges und diplomatisches Geschick», das entscheidend war für «den großen Einfluß, den dieser außergewöhnliche Mann auf den Kaiser ausübte».19 Unter dem Eindruck, in Bernhard von Bülow endlich «seinen Bismarck» gefunden zu haben, zog Wilhelm sich nach der Jahrhundertwende aus der Innenpolitik und zumindest dem außenpolitischen Tagesgeschäft weitgehend zurück. Schon 1901 vertraute der Kaiser Eulenburg an: «Seit ich ihn habe, kann ich ruhig schlafen. Ich lasse ihn gewähren und weiß, daß alles gut geht!» Nie ein Freund administrativer Detailarbeit und ausgiebigen Aktenstudiums, widmete Wilhelm sich immer mehr der Jagd und anderen Hobbys. Auf sein «Bülowchen» glaubte er sich verlassen zu können.20 Gelegentlich wurde diese Fiktion freilich erschüttert, und das Arrangement zwischen Kanzler und Kaiser stieß an seine Grenzen. Um eine
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Mehrheit für den Zolltarif im Reichstag zusammenzubringen, musste Bülow 1902 Konzessionen an die Parteien machen, die Wilhelm als zu weitgehend erschienen – erst recht, als die beschlossenen Zollerhöhungen der SPD eine Steilvorlage im Wahlkampf lieferten. Die signifikante Verschlechterung des deutsch-englischen Verhältnisses, das Bündnis zwischen Großbritannien und Japan, schließlich die britisch-französische Entente Cordiale von 1904 verstimmten den Kaiser ebenfalls. Im selben Jahr setzte der Monarch sich über den ausdrücklichen Rat des Kanzlers hinweg, als er die verhängnisvolle Entscheidung traf, dem rabiaten Rassisten Lothar von Trotha weitreichende Vollmachten zur Bekämpfung der Herero in Deutsch-Südwestafrika zu geben. Auch Bülow geriet zusehends physisch und mental an sein Limit. Die Vormittage hatte er dafür reserviert, den Kaiser bei Laune zu halten. Danach widmete er sich dem, was aus den Reichsämtern und preußischen Ministerien an ihn herangetragen wurde – «Eingänge, Berichte, Telegramme, Noten, Zuschriften, Ausschnitte in- und ausländischer Zeitungen, dann folgten Vorträge, Empfänge, Sitzungen». Zudem musste er den Kontakt zu Parlamentariern aller Parteien außer den Sozialdemokraten und Vertretern der süddeutschen Staaten kultivieren, um vom Kaiser gewünschte Gesetzesvorhaben in Reichstag und Bundesrat durchzubringen. Der gewachsenen Macht des nationalen Parlaments bewusst, redigierte Bülow seine Reichstagsreden selbst und lernte sie auswendig. Nicht zuletzt verwendete er auf die Selbstdarstellung in der Presse viel Energie und Zeit. Häufig saß er bis tief in die Nacht noch am Schreibtisch. Vor Erschöpfung in wachsendem Maße urlaubsreif, ließ er die Dinge insbesondere während seiner langen Sommer auf Norderney zunehmend schleifen. Im April 1906, während einer scharfen Rede gegen die Politik der Reichsleitung in der Marokkokrise, die der angriffslustige August Bebel im Reichstag hielt, erlitt der Kanzler schließlich einen Schlaganfall und brach auf der Regierungsbank zusammen. Der Kollaps war ein deutliches Zeichen für die Überlastung, die das ständige «Lavieren und Paktieren» zwischen Kaiser, Bundesrat, Parteien und Öffentlichkeit für Bülow bedeutete. «Meist vom frühen Morgen bis in die Nacht hinein tätig», registrierte ein Zeitgenosse, war der Kanzler stets «bereit, Gelegenheiten zu nutzen, Verbindungen anzuknüpfen, Angriffe abzuwehren, immer vor allem auf günstige Wirkung seiner Persönlichkeit bedacht». Beseelt von dem Bestreben, sich um jeden Preis im
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Amt zu halten, versuchte er es allen recht zu machen und nirgends anzuecken. Seine vielbewunderten Reden erweisen sich bei näherer Betrachtung denn auch vor allem als rhetorisches Feuerwerk. In dem Bemühen, schöne Fassaden aufzubauen, blieben politische Inhalte weitgehend auf der Strecke. Als Außenpolitiker hatte Bülow zwar eine gewisse Vorstellung über die von ihm angestrebten Ziele: ein Bündnis mit Russland, idealerweise die Wiederbelebung der Bismarck’schen Dreikaiserpolitik. Eine konkrete Strategie für den Weg dorthin hatte er aber nicht. Die Innenpolitik war ihm letzten Endes nur Mittel zum Zweck des Machterhalts.21 Innenpolitisch prinzipienlos, außenpolitisch planlos und permanent überlastet, entwickelte er kaum konstruktive Ideen und Initiativen. Meist reagierte er lediglich auf auftauchende Probleme, statt vorausschauend zu agieren. Und seit 1905 häuften sich in Außen- wie Innenpolitik die Probleme. In der ersten Marokkokrise wurde der deutschen Öffentlichkeit die weitgehende Isolierung des Reichs, die sich in den Jahren seit Bülows Übernahme der Reichskanzlerschaft vollzogen hatte, mit einem Schlag deutlich. Gleichzeitig begann die SPD eine großangelegte Kampagne für eine Wahlrechtsreform in Preußen. Und die im «Bülowtarif» 1902 erhöhten Zölle gerieten angesichts steil ansteigender Lebensmittelpreise wieder in die Kritik. Weil davon auch die städtische Klientel von Liberalen und Zentrumspartei betroffen war, rückten diese noch weiter von dem Reichskanzler ab, als sie das wegen dessen offensichtlichem außenpolitischen Versagen vor und während der Marokkokrise schon getan hatten. Um den weiteren Ausbau der Flotte zu finanzieren, bestanden sie auf einer Deckung durch Steuern auf Besitz, einschließlich des landwirtschaftlichen, weil eine weitere Belastung der Verbraucher diese erst recht der SPD zugetrieben hätte. Von seinem Kollaps im Reichstag kaum genesen, stimmte Bülow dem im Mai 1906 notgedrungen zu. Damit zog er sich allerdings den Zorn seiner aristokratischen Standesbrüder in der konservativen Partei zu. Denn deren wirtschaftlichen Interessen widersprach die Finanzreform eklatant. Auch das Vertrauen des Kaisers verlor Bülow zusehends. Nach seinem Zusammenbruch im Frühjahr hatten erst nur vage Gerüchte die Runde gemacht, der Kaiser werde sich als Reichskanzler «einen neuen Mann suchen». Im September 1906 stellte Wilhelm bereits Gedanken über mögliche Nachfolger
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an. Zeitgenössischen Beobachtern schien Bülow «kaltgestellt», sein Nimbus als «zweiter Bismarck» war dahin.22 Im weiteren Verlauf des Jahres 1906 kam es zu einer dramatischen Krise seiner Kanzlerschaft, bei der auch die Machtverteilung im politischen System des Kaiserreichs in Frage gestellt wurde.
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Die mit der Reichsfinanzreform von 1906 eingeführte Erbschaftssteuer eröffnete dem demokratisch gewählten Reichstag erstmals den Zugriff auf die Vermögen der preußischen Großgrundbesitzer. Doch nicht nur die materiellen Privilegien der konservativen Aristokratie, die das Deutsche Reich regierte, erschienen 1906 gefährdet. Auch die politische Herrschaft des Adels war in Gefahr geraten. Die Dominanz von Aristokratie und Monarchie ruhte auf drei Säulen: der alleinigen Verantwortlichkeit des Reichskanzlers als Chef der Exekutive gegenüber preußischem König und Kaiser; der durch das Dreiklassenwahlrecht abgesicherten Vorherrschaft der Konservativen in Preußen; und schließlich Preußens starker Stellung im Bundesrat. Doch alle diese Säulen konservativer Macht waren von Erosion bedroht. Am deutlichsten war das im Fall des Bundesrats. In der Verfassung des Reiches 1871 konstruiert als deren wichtigstes Element und fürstlich-aristokratisches Gegengewicht zum demokratisch gewählten Reichstag, hatte diese Vertretung der Fürsten gegenüber dem Parlament immer mehr an Einfluss verloren. Unter Bismarck und Caprivi waren Gesetzentwürfe zunächst im Bundesrat ausführlich beraten und anschließend dem Reichstag zur Zustimmung vorgelegt worden. Seit den späten 1890er Jahren hatte sich diese Prozedur umgekehrt: Hohenlohe und erst recht Bülow verhandelten zunächst in Gesprächen mit den Parteien im Parlament, um dann die entsprechend deren Wünschen abgeänderten Entwürfe im Bundesrat nur noch abnicken zu lassen. Angesichts der permanenten Finanznot des Reiches konnten die Parlamentarier außerdem wiederholt eine Aufwertung ihrer rechtlichen Situation erreichen. So wurde unter Hohenlohe vor dem Hintergrund der ersten Flottengesetze die reichsweite Rechtsstellung der Parteien verbessert. Bülow rang der
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Reichstag im Zusammenhang mit der Finanzreform 1906 gegen den Widerstand von Konservativen und Kaiser Diäten für Abgeordnete ab, die diese materiell unabhängig machten. Grundsätzlich hätte die preußische Regierung zwar jedes Gesetz im Bundesrat weiterhin blockieren können. Davon machte sie aber kaum noch Gebrauch. Zudem verschob der Fokus der Exekutive sich mehr und mehr von Preußen auf das Reich. Während unter Bismarck die preußischen Ministerien die wichtigeren Gesetze ausgearbeitet hatten, so taten das nun meist die Reichsämter.23 Gleichwohl blieb Preußen ein Bollwerk konservativer Macht, schon wegen der Zusammensetzung des preußischen Abgeordnetenhauses. Allerdings zog die Kritik am Dreiklassenwahlrecht, das diese Zusammensetzung garantierte, mittlerweile immer weitere Kreise. Denn während das Wahlrecht zu den meisten süddeutschen Landtagen demokratisiert wurde, drängten nicht nur die Sozialdemokraten mit ihren seit 1905 veranstalteten Massendemonstrationen auf eine Reform auch in Preußen. Wie die Linksliberalen schon seit Längerem erklärten 1906 auch Nationalliberale und Zentrumspartei das preußische Dreiklassenwahlrecht öffentlich für reformbedürftig. Die Zentrumshonoratioren glaubten angesichts der sozialdemokratischen Demonstrationen von der bisher in dieser Frage eingenommenen «kühlen Haltung eine unangenehme Rückwirkung auf unsere Arbeiter befürchten» zu müssen. Sie bequemten sich daher zu der Erklärung, dass «auf Dauer» eine Änderung des Wahlrechts in Preußen unumgänglich sei. Die Nationalliberalen bezeichneten «das bestehende preußische Wahlsystem» jetzt ebenfalls als «unhaltbar».24 Und auch die dritte Säule konservativer Macht, die Abhängigkeit der Exekutive allein vom Kaiser, wurde von den Parteien immer lauter in Frage gestellt. In den späten 1860er Jahren hatten die Liberalen eine Verantwortlichkeit von Kanzler und Ministern gegenüber dem Reichstag verlangt. Jetzt griffen sie diese Forderung wieder auf. Bülow sah sich gezwungen, die Einführung von verantwortlichen Reichsministern zu erwägen. Zwar versicherte er Wilhelm II. seine Entschlossenheit, «Ausbreitungsgelüsten und Übergriffen der Parlamente entgegenzutreten». Dennoch kamen außer den Konservativen alle Parteien wiederholt auf das Thema einer Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Reichstag zurück. Seit dem Frühjahr 1906 verweigerte das Zentrum,
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unterstützt von Sozialdemokraten und teilweise auch den Linksliberalen, angesichts eines sich ausweitenden Korruptionsskandals in der Kolonialverwaltung Geld für mehr «Schutztruppen» in Ost- und Südwestafrika, solange das Parlament keine Mitspracherechte in der Personal- und Außenpolitik der Reichsleitung erhielt. Schäumend vor Wut, verlangte der Kaiser daraufhin, «die unverschämten Eingriffe des Zentrums in meine Kommandogewalt» zu unterbinden.25 Im November 1906 geriet jedoch der Kaiser selbst in die Schusslinie massiver öffentlicher Kritik, nachdem bisher nur hinter vorgehaltener Hand über ihn gelästert worden war. Als der Linksliberale Ludwig Quidde 1894 die Selbstverliebtheit und den exzentrischen Regierungsstil Wilhelms II. aufgespießt hatte, musste er das noch im satirischen Gewand einer Parabel über «Cäsarenwahnsinn» in der römischen Antike tun. In den nächsten Jahren lockerte die Rechtsprechung gegen «Majestätsbeleidigung» sich freilich zusehends. Seit 1904 wurden negative Karikaturen des Kaisers nicht mehr gerichtlich verfolgt. Im Oktober 1906 irritierten Indiskretionen über die Regierungspraxis unter Wilhelm in den Memoiren von Chlodwig zu Hohenlohe, Bülows verstorbenem Vorgänger als Reichskanzler, die Öffentlichkeit. Wie in einem kurz nach Hohenlohes Memoiren erschienenen, aber vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit findenden Buch über die «Byzantiner» am kaiserlichen Hof richtete sich die Spitze der Kritik hier zunächst aber noch gegen die Umgebung des Kaisers. Das war auch der Fall bei den ersten Enthüllungen Maximilian Hardens über die höfische «Kamarilla» um den Kaiserfreund Philipp zu Eulenburg, dessen Enttarnung als homosexuell in den folgenden beiden Jahren einen beispiellosen Skandal entfachen sollte. Hinter verschlossenen Türen war allerdings im Oktober 1906 schon Wilhelm II. selbst zur eigentlichen Zielscheibe geworden. Einen Kristallisationspunkt dafür bot neben den Hohenlohe-Memoiren auch die Rezeption von Wilhelm Voigts raffiniertem Raubzug auf das Köpenicker Rathaus. In Berliner Salons herrschte «allgemein die Empfindung» vor, «ein solches Ereignis sei nur möglich unter einem Regimente wie dem des Kaisers, wo die Menschen die unmöglichsten Dinge an Willkür und Wohldienerei für angängig halten». Der ungekrönte König des Skandaljournalismus Maximilian Harden notierte Ende des Monats: «Nach bester Überzeugung, nach immer erneuter Prüfung kann ich nicht anders: Die persönliche Politik des Kaisers verschuldet alles Unheil.»26
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Doch all das war noch nichts gegen den Sturm, der im November gegen Wilhelm in der Öffentlichkeit losbrach. «Geradezu erschreckend», meinte Hildegard von Spitzemberg jetzt, sei «der Ton, den die Zeitungen aller Farben gegen das selbstherrliche und retrograde Regiment des Kaisers angeschlagen haben – sie drohen förmlich». Sogar die Nationalliberalen, die mit den Konservativen bisher zu den zuverlässigsten Stützen der Monarchie und der Regierung Bülow gehört hatten, nahmen den Kaiser nun persönlich aufs Korn. Ihr Vorsitzender Ernst Bassermann brachte eine Interpellation im Reichstag ein, die nach allgemeiner Auffassung mit «einer verblüffenden und erschreckenden Deutlichkeit auf Seine Majestät gemünzt» war. Darin wurde nicht nur von allgemeiner Unzufriedenheit im Land gesprochen, sondern auch «von Willkür, spiritistischen Einflüssen, Byzantinismus – alles nur zu wahr, aber also öffentlich ausgesprochen wie nie!»27 Verstärkt wurde der Wirbel durch die vielbeachtete Veröffentlichung eines anonym bleibenden Autors, der offenbar über beste Insiderinformationen aus Hofkreisen verfügte. Im September 1906 hatte Wilhelm II. in einer Rede kritische «Schwarzseher» aufgefordert, das Land zu verlassen. Zwei Monate später erschien als Antwort darauf ein Buch mit dem Titel Unser Kaiser und sein Volk: Deutsche Sorgen, von einem Schwarzseher. Innerhalb weniger Tage druckten die meisten deutschen Zeitungen umfangreiche Auszüge daraus ab. Gerichtet an «das deutsche Bürgertum», erklärte der «Schwarzseher», der Monarch wandele «auf halsbrecherischem Pfade unablässig am Abgrund eines prestigemordenden Dilettantismus hin». Er sei in antiquierten Vorstellungen eines königlichen Gottesgnadentums befangen, «welche längst verrauschte Jahrhunderte geboren haben» und die ihn «jeder Kritik, ja schon jeder direkten Einrede unzugänglich» machten. Der Reichskanzler bekam ebenfalls sein Fett weg: Als «amüsanter Plauderer» habe Bülow sich «in das Herz seines kaiserlichen Herrn geschmeichelt», und wenn er beim Kaiser auch «das unumgänglich Nötige wenigstens zu Gehör gebracht», habe er doch «vieles geschehen lassen» und «nichts Eigenes geschaffen».28 Zusätzliche Nahrung bekam der anschwellende Sturm gegen den Kaiser durch dessen beharrliche Weigerung, den unpopulären preußischen Landwirtschaftsminister Victor von Podbielski zu entlassen. Für die Massen städtischer Verbraucher war der Minister, entschiedener Befürworter von hohen Konsumsteuern und Grenzsperren gegen Lebens-
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mitteleinfuhren, angesichts der im Herbst 1906 neue Rekordhöhen erreichenden Fleischpreise ein rotes Tuch geworden. Zudem hatte der Zentrumsabgeordnete Matthias Erzberger enthüllt, dass Mittel der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amts in privaten Taschen versickert waren, darunter denen Podbielskis. Die Kampagne gegen ihn und den an ihm festhaltenden Kaiser gab der Zentrumsführung einen willkommenen Anlass, den innerparteilichen Spannungen über Zoll- und Steuerpolitik in einer Offensive gegen die Reichsleitung ein Ventil zu verschaffen. Bernhard von Bülow hoffte daher seit Längerem auf eine Möglichkeit, wie Bismarck 1887 den Reichstag auflösen und Neuwahlen unter «nationaler» Parole durchführen zu können. Denn das schien die einzige Chance, eine vom Kaiser gewünschte Mehrheit ohne Zentrum zu erreichen und alle Liberalen für ein Bündnis mit den Konservativen zu gewinnen. In der nationalliberalen Partei, die ebenso wie das Zentrum von Auseinandersetzungen zwischen landwirtschaftlicher und städtischer Klientel geplagt wurde, waren die führenden Honoratioren auch durchaus offen dafür, von diesen internen Konflikten durch eine Betonung «nationaler» Fragen abzulenken. Bei der Finanzreform, die von Protesten gegen die Lebensmittelteuerung überschattet wurde, hatten sie sich dennoch gezwungen gesehen, im Windschatten der populären Politik des Zentrums zu segeln. Auch danach blieben sie auf diesem Kurs. Empörung über die Kolonialskandale verband sich mit dem Ruf nach Entlassung des «Schweineministers» Podbielski, mündete schließlich ebenfalls in Kritik am «persönlichen Regiment» des Kaisers und steigerte sich im November 1906 bis zur Losung der führenden nationalliberalen Tageszeitung: «Dem System, wie wir jetzt regiert werden – keinen Pfennig mehr!»29 Linksliberale Blätter begrüßten diese Äußerungen und kündigten an, ein «Kampf um die Konstitution» stehe bevor. Zwar hatten alle linksliberalen Reichstagsabgeordneten 1906 erstmals einer Flottenvorlage zugestimmt und zeigten zunehmende Bereitschaft, die Kolonialbudgets mitzutragen – wenn auch nicht zuletzt mit dem Hintergedanken, auf diese Weise «regierungsfähig» zu werden und das politische System des Kaiserreichs von innen heraus verändern zu können. Bülow nährte die damit verbundenen Hoffnungen sorgfältig, indem er im Frühjahr Bernhard Dernburg, der den Linksliberalen nahestand, zum Leiter der Kolonialabteilung im Auswärtigen Amt machte. Dennoch rief kurz darauf
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sogar die für «nationale» Argumente besonders offene Freisinnige Vereinigung um Friedrich Naumann bei einer Ersatzstichwahl zwischen Nationalliberalen und SPD zur Wahl des Sozialdemokraten auf: Denn «Wehrfragen», die linksliberale Wähler «verpflichten würden, für den Nationalliberalen zu stimmen», stünden «nicht auf der Tagesordnung». Vielmehr zwängen die Finanzreform, die «Frage des Wahlrechts und der Erweiterung der Volksrechte sowie schließlich die verkehrte Wirtschaftspolitik mit der ausgesprochenen Verteuerung aller Lebensbedürfnisse» zu einer Unterstützung der Linken.30 Bülow verglich die Lage im Reich Wilhelm II. gegenüber deshalb bereits mit der im preußischen Verfassungskonflikt zwischen Krone und Parlament während der 1860er Jahre. Nur sei sie jetzt «schwieriger und gefährlicher, als es früher Konflikte in Preußen waren».31 Ängstlich erwartete der Kanzler daher Ende 1906 einen Vorstoß zur Parlamentarisierung des politischen Systems, der von einer breiten Mehrheit aus Liberalen, Zentrum und SPD getragen würde. Der verhasste Podbielski, bedrängte Bülow den Kaiser, müsse vor dem Zusammentreten des Reichstags zu dessen Wintersession entlassen werden, wenn man eine Machtprobe mit dem Parlament vermeiden wolle. Widerwillig beugte der Monarch sich schließlich dem Druck. Zwei Tage zuvor war gegen das Votum Podbielskis bereits beschlossen worden, die Grenzen für Fleischeinfuhren zu öffnen, um die Lebensmittelteuerung zu lindern. Konkrete Maßnahmen blieben jedoch vorerst noch in der Schwebe. Da ließen die Lebensmittelpreise auf dem Höhepunkt der Krise plötzlich nach. Die wirtschaftliche Unterfütterung der Proteststimmung im Land fiel auf einmal weitgehend weg. Dann zeigten sich im Dezember 1906 die Liberalen im Gegensatz zu SPD und Zentrum grundsätzlich bereit, mit den Konservativen einen Nachtragshaushalt zur Bekämpfung der Aufstände in den afrikanischen Kolonien zu bewilligen. Mit beiden Händen ergriff Bülow diese Gelegenheit, die gefürchtete Reformkoalition zu sprengen: Er ließ den Reichstag auflösen und Neuwahlen ansetzen. Die Wahlen im Januar 1907 brachten erstmals seit der Zeit des Sozialistengesetzes einen Rückgang der sozialdemokratischen Mandate. Das hatte freilich weniger mit Bülows «nationaler» Wahlkampfparole zu tun. Es war vor allem die Folge von strategischen Absprachen zwischen Konservativen und Liberalen. Im neuen Reichstag, in dem beide Partei-
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richtungen zusammen eine knappe Mehrheit gewinnen konnten, wurde die enge Kooperation fortgesetzt. Dieser schon bald nach seinem Architekten so genannte BülowBlock aus Liberalen und Konservativen war die erste feste «Regierungskoalition» in der Geschichte des Reichstags. In Abkehr von der bis dahin üblichen Praxis parlamentarischer Ad-hoc-Bündnisse, bei der von Gesetzesvorhaben zu Gesetzesvorhaben die Mehrheiten wechselten, verständigten sich konservative und liberale Parteien gemeinsam mit dem Reichskanzler auf ein langfristiges «Regierungsprogramm». Insofern ließ sich der Bülow-Block sogar als ein Schritt in Richtung einer Parlamentarisierung des Reichs verstehen. Doch das war er allenfalls in formaler Hinsicht. Machtpolitisch signalisierte er vielmehr die Rückkehr zur früheren konservativen Praxis, Liberale und Zentrum gegeneinander auszuspielen und so eine wirkliche Transformation des politischen Systems abzublocken. Denn die Konservativen machten bereits bei der Bildung des Bülow-Blocks unmissverständlich klar, dass sie liberale Forderungen nach Machterweiterung des Reichstags oder Änderungen des Wahlrechts in Preußen zum Anlass nehmen würden, wieder Kontakt zum Zentrum aufzunehmen. Doch dann wurde am 28. Oktober 1908 ein neuer Sturm der Entrüstung ausgelöst, dessen Stärke selbst die des Novembersturms von 1906 vergessen ließ. Am Morgen des Tages erschien in der britischen Zeitung Daily Telegraph der Artikel, der die Aussagen Wilhelms II. gegenüber Stuart Wortley zusammenfasste, und dessen politische Sprengkraft Reichskanzler Bülow in seinem Urlaub auf Norderney ebenso ignoriert hatte wie die damit befassten Beamten im Auswärtigen Amt. Um neun Uhr früh fragte die erste deutsche Nachrichtenagentur, Wolffs Telegraphisches Bureau, bereits im Amt an, ob Einwände gegen eine Verbreitung des Artikels in Deutschland bestünden. Jetzt erkannte der Staatssekretär des Äußeren von Schoen, der während der Prüfung des Textes am Anfang des Monats wie der Reichskanzler noch in Urlaubsstimmung gewesen war, dessen Brisanz. Um halb zwölf wies er das Telegraphenbureau an, den Daily-Telegraph-Artikel nicht an die deutschen Zeitungen weiterzugeben. Doch anders als der Staatssekretär glaubte, war die Reichsleitung nicht mehr in der Lage, eine Verbreitung der fatalen Kaiserworte zu unterdrücken. Wenn das Telegraphenbureau den Artikel des Daily Telegraph
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nicht verbreitete, dann würden es innerhalb weniger Stunden deutsche Zeitungen mit eigenen Auslandskorrespondenten tun. Im Gegensatz zu von Schoen war man sich in der Nachrichtenagentur darüber vollständig im Klaren. Tatsächlich hatte Wolffs Telegraphisches Bureau beim Auswärtigen Amt nur angefragt, um diesem eine Chance zu geben, den angerichteten Schaden durch eine vorsorgliche Erklärung mit offiziellem Charakter zumindest einzugrenzen. Der Direktor des Telegraphenbureaus kontaktierte deshalb den Pressereferenten des Auswärtigen Amtes Otto Hammann. Hammann war nicht so naiv wie sein Chef, der Staatssekretär. Auch Bülow «sah sofort ein, daß man der deutschen Öffentlichkeit nicht künstlich vorenthalten konnte, was staunend das Ausland zu erfahren im Begriff war».32 Tatsächlich ging der Artikel des Daily Telegraph innerhalb von 48 Stunden um die ganze Welt. In Japan meldeten Zeitungen, der Kaiser habe den deutschen Flottenbau als gegen die «gelbe Gefahr» gerichtet bezeichnet. Bülow konnte im Bemühen um diplomatische Schadensbegrenzung nur erklären, dass Wilhelm II. zumindest diese Formulierung nicht gebraucht hatte. Die schwelende Marokkokrise wurde durch die Veröffentlichung weiter verschärft. Vor allem aber trübte sich das deutschbritische Verhältnis weiter ein. Britische Presse und Politik argwöhnten, das Deutsche Reich wolle offenbar Zwietracht zwischen Großbritannien, Frankreich und Russland säen. Für Wilhelms Gesprächspartner Stuart Wortley war das Resultat seiner Bemühungen «almost heartbreaking». Andere Briten, die sich für die Verständigung mit Deutschland engagierten, zeigten sich «ganz entsetzt und sehr niedergedrückt über diese Veröffentlichung».33 Löste der Artikel im Ausland bereits beträchtliche Irritationen aus und bereitete der Reichsleitung einiges Kopfzerbrechen, so kam seine Wirkung im Inland der einer Bombe gleich. «Die Presse sämtlicher Parteien», notierte der niederländische Gesandte über die Reaktion in Deutschland, habe «die Person des Souverän noch nie so heftig angegriffen». Auch die sonst Monarch und Reichsleitung gegen Vorwürfe von links verteidigenden Konservativen und Nationalliberalen, registrierte ein Mitarbeiter der britischen Botschaft in Berlin, kritisierten vor allem Wilhelm II. denkbar scharf. «Der Kaiser ruiniert unsere politische Stellung und macht uns zum Gespött der Welt», formulierte Hildegard von Spitzemberg die allgemeine Ansicht. Selbst unter Armeeoffizieren, deren
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oberster Befehlshaber Wilhelm formell war, wurde offen Kritik an ihm geübt: Der Kaiser sei «pathologisch», werde im nächsten Krieg «die Nerven verlieren», erinnere an seinen verrückt gewordenen Großonkel Friedrich Wilhelm IV. und müsse «einer Regentschaft unterstellt werden». Selbst die älteste Schwester des Monarchen wollte die übrigen deutschen Fürsten im November 1908 dazu bewegen, eine solche zu übernehmen.34 Die Aufregung beschränkte sich dabei keineswegs auf die gesellschaftlichen Eliten. Vielmehr war «das große Publikum», berichtete der badische Gesandte aus Berlin nach Karlsruhe, «hier in allen seinen Schichten tief erregt». Und nicht allein in der Hauptstadt oder in überregional verbreiteten Zeitungen wurde über Wilhelms Äußerungen vernichtend geurteilt. Auch Leserbriefschreiber und Redakteure von Provinzblättern zeigten sich «entsetzt darüber, daß so etwas bei uns möglich ist». Jeder, der «irgendwie mit Politik zu tun hat», sei außer sich «vor Wut und Entrüstung über diese schamlose Bloßstellung» der deutschen Nation gegenüber dem Ausland. «Das deutsche Volk ist einig wie selten seit der Gründung des Reiches», doch anders als 1871 richte nun «diese Einigkeit sich gegen den deutschen Kaiser». Selbst im ländlichen Donaueschingen, wohin Wilhelm sich während des Proteststurms in ein Jagdschloss zurückzog, wurde er mit kritischen Stimmen konfrontiert und begegnete in der Bevölkerung stummer Verachtung.35 Reichskanzler Bülow und Auswärtiges Amt hatten sich zunächst nur um außenpolitische Schadensbegrenzung bemüht. Die Unruhe im Innern überraschte sie. Bülow sah jedoch bald eine Möglichkeit, die Erregung in der deutschen Öffentlichkeit für seine Zwecke zu nutzen. Auf die Idee brachte ihn wahrscheinlich Friedrich von Holstein, der zwei Jahre zuvor wegen der Marokkokrise im Auswärtigen Amt seinen Abschied genommen hatte. Holstein schrieb dem Kanzler am 29. Oktober, also am Tag nach der Veröffentlichung im Daily Telegraph: «Die Sache ist unbequem, kann aber vielleicht den Nutzen haben, daß Seine Majestät etwas vorsichtiger wird!» Tags darauf redigierte Bülow eine amtliche Erklärung und erklärte seinen Mitarbeitern anschließend lächelnd, «so schlimm eine Sache sei, so habe sie doch auch in der Regel eine gute Seite; man könne diese auch so gestalten, daß sie nicht ohne gute Wirkung verlaufe». In der Erklärung ließ er verlauten, er habe den umstrittenen Text vor der Veröffentlichung nicht gelesen, sondern dem Auswärtigen Amt zur
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«sorgfältigen Prüfung» übersandt. Die Schuld schob er damit seinen Beamten zu. Zwar übernahm Bülow formell die Verantwortung und bot dem Kaiser sogar seinen Rücktritt an. Er verband das aber mit der Zusage, bei einem Verbleiben im Amt «den ungerechtfertigten Angriffen gegen meinen kaiserlichen Herrn offen und nachdrücklich entgegenzutreten». Wilhelm registrierte das dankbar und entließ ihn nicht. Allerdings hatte Bülow in der amtlichen Erklärung für die Öffentlichkeit auch raffiniert betont, wenn er den Text gelesen hätte, «würde er Bedenken erhoben und die Veröffentlichung widerraten haben». Damit manövrierte er sich selbst subtil aus der Schusslinie der Kritik und den Kaiser, der die Brisanz seiner Äußerungen ja ebenso wenig erkannt hatte wie die Beamten im Auswärtigen Amt, vollends in diese hinein.36 Seit Anfang November wurde aus der Erregung in Deutschland so Empörung, die sich immer mehr gegen die Person Wilhelms II. richtete. Anfangs war vielfach noch angenommen worden, die Veröffentlichung im Daily Telegraph gehe «auf die gutgemeinte Übereilung eines englischen Freundes des Kaisers» zurück. Die von Bülow lancierte amtliche Erklärung stellte jedoch klar, dass der Kaiser sich «wirklich in einer das Deutsche Reich bloßstellenden Weise ausgesprochen» hatte. Die Öffentlichkeit wendete sich deshalb vom Versagen des Kanzlers wie des Auswärtigen Amts ab und einer Diskussion von Wilhelms «absolutistischen Regime» zu. Zwar hatten auch Bülow und Außenamt zunächst noch «eine denkbarst schlechte Presse». Doch zunehmend richtete «sich der allgemeine Unwille mehr oder minder verblümt gegen die Person des Monarchen, der selbst merkwürdigerweise den Ernst der Situation nicht verstehen will», wie der badische Gesandte beim Bundesrat am 2. November registrierte.37 Es war charakteristisch, dass der Kaiser tatsächlich fast als Einziger die Tragweite der Ereignisse lange nicht erfasste. Als er am 29. Oktober von einem mehrtägigen Ausflug in den Harz per Sonderzug nach Berlin zurückkehrte, lagen im Speisewagen Zeitungen mit Abdrucken des Daily-Telegraph-Artikels aus. Sein gesamtes Gefolge las den Text mit wachsender Bestürzung, wie der Chef von Wilhelms Zivilkabinett festhielt: «Unser Erschrecken war allgemein, aber der Kaiser, der mitten unter uns saß und den Artikel ebenfalls las, verhielt sich völlig stumm. Nach unserer Ankunft in Berlin brach der Sturm los.» Beruhigt von Bülow, der sich scheinbar schützend vor ihn stellte und in dessen amtlicher
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Erklärung er bezeichnenderweise nicht zwischen den Zeilen las, blieb Wilhelm dennoch weiterhin ganz entspannt. «Er sei nur froh», meinte der Monarch schadenfroh zu Staatssekretär von Schoen, «daß nun die gewohnte allgemeine Kritik sich nicht mehr mit Ihm befasse, sondern sich gegen das Auswärtige Amt richten werde; die Herren sollten nur sehen, wie sie damit fertig würden!» Dann verabschiedete er sich wieder aus Berlin, um während der nächsten zwei Wochen zuerst in Österreich und dann in Donaueschingen seiner Jagdleidenschaft zu frönen.38 Diese demonstrative Indifferenz des Kaisers allen Vorwürfen ihm gegenüber steigerte die öffentliche Empörung auf Gluthitze. Zu allem Überfluss kam dann noch die Meldung, dass der Chef des kaiserlichen Militärkabinetts in Donaueschingen einer Herzattacke erlegen war, nachdem er in einem Ballkleid der Hofgesellschaft vorgetanzt hatte. Der Vorfall aktualisierte erneut die Bilder von Wilhelms Dekadenz, latenter Homosexualität und Infantilität, die der gerade abgeschlossene Skandal um seinen Freund Philipp zu Eulenburg heraufbeschworen hatte. Doch schon zuvor, unmittelbar nach der Abreise des Kaisers aus Berlin, wurde dort am 4. November registriert, der «Sturm unserer Presse und der öffentlichen Meinung» wegen des Artikels im Daily Telegraph sei «zum Orkan geworden, der jedenfalls Opfer fordern wird».39 Nicht allein sozialdemokratische Satireblätter spotteten wie nie zuvor über den Kaiser. Die Linksliberalen, seit 1907 Teil der Regierungskoalition, forderten eine Beschränkung des Monarchen auf repräsentative Funktionen und wollten eine Verantwortlichkeit von Kanzler und Ministern gegenüber dem Parlament in der Verfassung verankern. Die nationalliberale Partei verlangte von Bülow eine Behandlung der Affäre im Reichstag und «Garantien», um «die Wiederholung solcher Vorkommnisse zu verhüten». Ihr Vorsitzender Ernst Bassermann schimpfte in einem Brief an seine Frau über «Nullen» und «Esel» in der Reichsleitung: «Die Lage ist ernst, an dem Reichstag ist es nun zu retten, was zu retten ist.» Ob Bülow auf Dauer im Amt bleiben könne, sei «zweifelhaft», er erscheine «angeschossen». Der Vorstoß des Parlaments müsse sich aber «gegen den Kaiser, nicht den Kanzler» richten. Auch der führende Zentrumspolitiker Georg von Hertling meinte: «Der Reichstag muß zu den unglaublichen Äußerungen des Kaisers Stellung nehmen. So etwas ist noch nicht dagewesen.»40 Im Bundesrat herrschte ebenfalls Einigkeit darüber, dass man zu den
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Kaiserworten kritisch Position beziehen müsse. Sogar der Leiter der preußischen Delegation stimmte dem «unbedingt» bei. Die bayerische Gesandtschaft plante eine Erklärung, nach der «schon öfters – wenn auch noch so wohlgemeinte – Äußerungen von Allerhöchster Stelle Beunruhigung hervorgerufen» hätten. «Dies sei diesmal in erhöhtem Maße der Fall.» Der Reichskanzler solle «seinen ganzen Einfluß aufbieten, damit derartiges sich wenigstens in Zukunft nicht wiederhole». Motiviert war das nicht zuletzt durch die in der Vertretung der Bundesstaaten verbreitete Furcht, sonst im Vergleich mit dem nationalen Parlament noch weiter an Einfluss zu verlieren: «Gerade gegenüber dem in der Öffentlichkeit hervortretenden Bestreben, dem Reichstag eine stärkere Beteiligung an den Fragen der auswärtigen Politik zu sichern, ist es notwendig, daß auch die verbündeten Regierungen beweisen, daß sie sich ihrer Mitverantwortung bewußt sind.»41 Selbst der Vorstand der Deutschkonservativen Partei sah sich am 5. November zu einer öffentlichen Verlautbarung über die «Äußerungen Seiner Majestät des Kaisers» genötigt, die «nicht selten dazu beigetragen» hätten, «unsere auswärtige Politik in schwierige Lage zu bringen». So gewunden die Formulierungen darin auch waren, liefen sie doch schließlich auf die Aufforderung heraus, «daß in solchen Äußerungen zukünftig eine größere Zurückhaltung beobachtet werden möge». Zwar preschten die konservativen Honoratioren hauptsächlich deswegen vor, um sich nicht an einer von Liberalen und Zentrum angeregten gemeinsamen Resolution gegen Wilhelms Verhalten beteiligen zu müssen. Sie verbanden damit zudem ausdrücklich die Hoffnung, die öffentliche Debatte beenden zu können. Dass sogar die aristokratischen Standesgenossen Wilhelms II. diesem empfahlen, in Zukunft den Mund zu halten, zeigte allerdings die völlige politische Isolation des Kaisers.42 Das Vorpreschen der Konservativen konnte zudem nicht verhindern, dass die Behandlung des Daily-Telegraph-Artikels im Reichstag am 10. und 11. November zu einem nahezu einhelligen Scherbengericht über den Kaiser wurde. Der erste Redner, der Nationalliberale Bassermann, gab die Richtung vor, als er erklärte, dass «das persönliche Regiment ausgeschaltet werden muß […] Keine persönlichen Stimmungen und Impulse, keine temperamentvollen Kundgebungen, keine Politik der übermäßigen Freundlichkeiten und der Ohrfeigen!» Der Reichstag müsse deshalb «einen größeren Einfluß gewinnen auf die auswärtige Politik».
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Die Sozialdemokraten, aber auch der Linksliberale Conrad Haußmann klagten das Verhalten des Kaisers noch wesentlich deutlicher an. Wilhelm betreibe Politik «mit durch und durch untauglichen Mitteln» und sei «kein Mehrer der Sympathien Deutschlands», erklärte etwa Haußmann. «Nie zuvor hat jemand es gewagt», registrierte der niederländische Gesandte in Berlin, «solche Worte offen im Parlament zu gebrauchen.» Allein der konservative Heißsporn Elard von Oldenburg-Januschau verteidigte Wilhelm. Auch Reichskanzler Bülow nahm den Monarchen kaum in Schutz, unterstellte ihm nur unverbindlich «beste Absichten» und versprach, dafür sorgen zu wollen, dass der Kaiser zukünftig «auch in Privatgesprächen» mehr Zurückhaltung üben werde.43 Am Abend des zweiten Tages der Reichstagsdebatte bescheinigte eine Versammlung der preußischen Minister dem Kanzler: «Bei der Einmütigkeit, mit der alle Parteien gegen das ‹persönliche Regiment› Stellung genommen haben, war es unmöglich, die parlamentarische Kritik von der Person Seiner Majestät des Kaisers fernzuhalten, wie dies bisher Übung gewesen ist.» Weil «die Wiederholung ähnlicher Vorkommnisse für Kaiser und Reich, für König und Preußen verhängnisvoll werden müßte», beauftragten die Minister Bülow, Wilhelm II. «über den Ernst der Lage und über die Notwendigkeit Vortrag zu halten, daß Seine Majestät alles vermeiden wollen, was eine ähnliche Kritik herausfordern würde». Am Tag darauf schloss sich der Bundesrat dieser Aufforderung an.44 In Donaueschingen dämmerte währenddessen Wilhelm bei der Lektüre der Zeitungsberichte über die Reichstagsdebatten endlich, was er angerichtet hatte. Verstört beorderte er den Chef seines Zivilkabinetts, Rudolf von Valentini, aus Berlin zu sich. Der fand den Monarchen bei seiner Ankunft «sehr niedergedrückt und besorgt, was nun werden solle». Schließlich gelang es ihm, den Kaiser zur Rückkehr in die Hauptstadt zu bewegen. Dort kam es am 17. November zu einem zweistündigen Gespräch Wilhelms mit Bülow. Der Kanzler hielt dem Kaiser nach dessen Erinnerung dabei «eine Vorlesung über meine politischen Sünden» und verlangte schließlich die Unterzeichnung einer öffentlichen Erklärung. Trotz der «von Ihm als ungerecht empfundenen Übertreibungen der öffentlichen Kritik» gab der Monarch die schriftliche Zusage, in Zukunft «die Stetigkeit der Politik des Reichs unter Wahrung der verfassungsmäßigen Verantwortlichkeiten zu sichern». Wilhelm ver-
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ließ die Besprechung mit dem Kanzler «blaß und erregt»; wenige Tage später erlitt er einen Nervenzusammenbruch. Zeitweilig überlegte er abzudanken.45 Formal gesehen, war die Zusage des Kaisers ausgesprochen vage. Die eigentliche Bedeutung der Affäre lag freilich nicht in ihr, sondern in der dauerhaften Beschädigung von Wilhelms Prestige. Als Repräsentant der Nation hatte er sein Ansehen nahezu vollkommen verspielt. Die sarkastischen Seitenhiebe auf den Monarchen, die sein schärfster Kritiker Maximilian Harden in Essays und Vorträgen austeilte, wurden dagegen begeistert umjubelt. Harden, der privat für eine Abdankung oder Entmündigung Wilhelms eintrat, erklärte in der Öffentlichkeit, dieser habe «der Nation nie nützliches geleistet und für seinen Willen dennoch die höchste Geltung verlangt. Nun sieht er die Ernte. Wenn’s ihm, nach allem Geschehen, möglich dünkt, wird er die Krone auf seinem Haupte behalten. Doch niemals wieder darf an seinem Willen das Schicksal des Deutschen Reiches, deutscher Menschheit hängen.» Denn der Kaiser habe «bewiesen, daß er zur Erledigung politischer Geschäfte ganz und gar ungeeignet ist».46 Die Reaktion der Reichsleitung auf diese scharfen Worte war symptomatisch. Bülow sprach sich dagegen aus, gegen Harden einen Prozess wegen Majestätsbeleidigung anzustrengen, und brachte schließlich auch Wilhelm davon ab. Nicht nur sei eine Verurteilung angesichts der zunehmend liberaleren Rechtsprechung keineswegs sicher. Einen Prozess anzustrengen, erschien auch kontraproduktiv. Denn dieser werde nur «unendlich viel Staub aufwühlen und insbesondere dem Angeklagten die (von ihm wahrscheinlich erhoffte) Gelegenheit bieten, die ganzen Vorgänge der letzten Zeit forensisch zu verwerten und zu vergiften». Die Grenzen des öffentlich Sagbaren waren mittlerweile so weit verschoben worden, dass praktisch jegliche Kritik am Kaiser gesellschaftlich legitim erschien. Gegen die Macht der veröffentlichten Meinung war kein Kraut mehr gewachsen.47
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Man lebe, bemerkte Bernhard von Bülow schon 1893, in einer «Zeit schrankenloser Publizität, wo so zahllose Fäden hin und her laufen und keine Glocke geläutet wird, ohne dass jeder sich ein Urteil über den Ton bildet».48 Niemals zuvor waren Informationen so schnell übermittelt worden wie während der Regierungszeit Wilhelms II. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert verbanden Tiefseekabel alle Kontinente miteinander. War 1858 eine kurze Grußbotschaft von Queen Victoria an den amerikanischen Präsidenten durch das erste transatlantische Kabel noch 16 Stunden unterwegs gewesen, konnten fünfzig Jahre später selbst umfangreiche Texte fast ohne jede Verzögerung telegrafisch übermittelt werden. Die Aussagen des deutschen Kaisers in dem Artikel, der am Morgen des 28. Oktober 1908 in London im Daily Telegraph erschien, wurden noch am selben Tag in deutschen Zeitungen gesetzt, gedruckt und publiziert. Technische Neuerungen wie die Erfindung der Setzmaschine und der Rotationspresse oder die Automatisierung von Falzung und Fadenheftung hatten seit den 1870er Jahren den Druck von Zeitungen wie Büchern massiv beschleunigt und verbilligt. Bereits die Zeitgenossen sprachen von einer wahren Medienrevolution. Als das Deutsche Reich 1871 gegründet worden war, hatte die große Mehrheit der Zeitungen nur wenige Tausend Abonnenten gehabt, die meisten davon wohlhabende Bürger oder Adlige. Die Blätter brachten überwiegend politische und Wirtschaftsnachrichten aus aller Welt. Optisch glichen sie Bleiwüsten. All das änderte sich in den nächsten vier Jahrzehnten fundamental. Mit sinkenden Zeitungspreisen explodierten die Auflagen. Eine rasante Erweiterung der Leserkreise veränderte Inhalt und äußere Gestaltung. Statt internationaler Diplomatie und Neuigkeiten von der Börse traten Innenpolitik, Lokalnachrichten, Sensationen und Skandale in den Mittelpunkt der Berichterstattung. In einem schnell wachsenden und sich stetig verändernden Zeitungsmarkt kämpften Verleger und Redaktionen mit reißerischen Balkenüberschriften und Bildern um Marktanteile. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts gab es in Deutschland mehr als 4000 Zeitungen. Das waren drei Mal so viel wie in den 1870er Jahren. Viele Blätter brachten tägliche mehrere Ausgaben auf den Markt. Die
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Gesamtauflage aller Tageszeitungen 1906 wird auf bis zu 25 Millionen geschätzt – bei einer Bevölkerung von 60 Millionen Menschen, von der knapp die Hälfte minderjährig war. Allein in Berlin wurden vor dem Ersten Weltkrieg täglich über zwei Millionen Zeitungen gedruckt, sieben Mal so viel wie eine Generation zuvor. Niemals vorher fanden Zeitungsnachrichten solches Interesse wie zwischen Jahrhundertwende und Ende des Ersten Weltkriegs (und angesichts der dann aufkommenden Konkurrenz audiovisueller Methoden auch niemals mehr danach). Die Verbilligung des Mediums war nur ein Faktor für seinen großen Bedeutungsgewinn. Auch die immer weitere Verbreitung der Lesefähigkeit infolge einer Durchsetzung der Schulpflicht und das wachsende politische Interesse in der Bevölkerung trugen dazu bei. Für nahezu alle Deutschen wurden Zeitungen, wie Frank Bösch festgestellt hat, «zu einem Teil des Alltags und der Alltagsgespräche». Zum ersten Mal überhaupt entstanden umfassende «nationale und transnationale Kommunikationsräume, in denen unmittelbar aufeinander reagiert wurde».49 Der Aufstieg der Massenpresse spiegelte und verstärkte politische Mobilisierungsprozesse in der Gesellschaft. In einem komplexen Prozess verschafften Verleger und Journalisten einerseits, ihre Leser andererseits sich damit wechselseitig Einfluss auf öffentliche Diskurse. Veröffentlichte Meinung und Öffentlichkeit wurden zu einer Macht, die in wachsendem Maß Politik beeinflusste. Die erfolgreiche Skandalisierung des Verhaltens der deutschen Reichsleitung, insbesondere des Monarchen, in der Daily-Telegraph-Affäre 1908 durch die Presse demonstriert das ebenso deutlich wie die Reaktion von Parteien, Parlament, Kanzler und Kaiser darauf. Die mediale Kritik schwächte letzten Endes die Position der Exekutive. Und sie stärkte neben der Presse auch den Reichstag und die in ihm vertretenen Parteien, die ebenfalls für sich beanspruchen konnten, die Volksmeinung zu vertreten. Bezeichnenderweise mussten sich sogar die Konservativen 1908 dazu herablassen, mit den Wölfen zu heulen und den Kaiser wenigstens verhalten zu kritisieren, um nicht die Unterstützung ihrer Wähler zu verlieren. Die Zensur erwies sich als stumpfe Waffe gegen die wachsende Macht der Presse. Das wurde bereits in den 1890er Jahren deutlich, als Ludwig Quiddes Parabel über antiken «Cäsarenwahnsinn», auf Wilhelm II. gemünzt, und verschlüsselte Anspielungen des liberalen Satireblatts Klad-
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deradatsch auf die Zustände am kaiserlichen Hof Aufsehen erregten. Denn einerseits war die politische Elite viel zu zerstritten, um solche Sticheleien durch staatliche Machtmittel massiv zu unterdrücken, wenn sie nicht gerade von Sozialdemokraten ausgingen. In den beiden genannten Fällen führte sogar erst die öffentliche Entschlüsselung der Andeutungen Quiddes und des Kladderadatsch durch konservative Kreise, die damit am Hof ihre eigenen Interessen verfolgten, zur Skandalisierung. Andererseits musste die Reichsleitung die bittere Erfahrung machen, an die Bülow 1908 dann Wilhelm II. erinnerte, dass eine juristische Verfolgung von «Majestätsbeleidigungen» unabhängig von ihrem Erfolg vor Gericht die öffentliche Aufmerksamkeit dafür nur erhöhte. Bestenfalls wurde die Verbreitung von Vorwürfen gegen den Monarchen wie die von Pornographie unter den Ladentisch verlegt, was ihre Attraktivität eher noch steigerte. Infolgedessen gab die Reichsleitung den Widerstand gegen die Vorstöße im Parlament, «Majestätsbeleidigung» zu entkriminalisieren, seit der Jahrhundertwende weitgehend auf. Allerdings konnten Monarch wie Regierung die zunehmende Macht der Presse durchaus auch für ihre eigenen Zwecke instrumentalisieren. Bernhard von Bülow war nicht der Erste, der das als Staatssekretär des Äußeren und dann als Reichskanzler virtuos praktizierte. Schon sein großes Vorbild Bismarck hatte insbesondere die gut organisierte Presseabteilung des Auswärtigen Amtes genutzt, um die Öffentlichkeit in seinem Sinn zu beeinflussen. Angesichts des seit der Entlassung des ersten Reichskanzlers 1890 weiter gewachsenen Gewichts der öffentlichen Meinung war das für Bülow aber von noch größerer Bedeutung. Von allen Kanzlern des Deutschen Reiches galt Bernhard von Bülow seinen Zeitgenossen als der den Medien am meisten Zugeneigte. Selbst enge Mitarbeiter im Auswärtigen Amt lästerten, er «arbeite lediglich für die Galerie». Der Vorsitzende der Deutschkonservativen Partei nannte ihn deshalb sogar verächtlich einen «Windbeutel».50 In der Tat war Bülow um seine mediale Selbstdarstellung außerordentlich bemüht. Selbst während der langen Erholungsurlaube auf Norderney trieb ihn sein Image in der Presse um. Kaum ein Sommer dort verging, ohne dass der Reichskanzler Berichte über sich selbst anregte. Mal wollte er in entsprechenden Direktiven betont sehen, die Zeit an der Nordsee sei für ihn keineswegs nur ein «Ruheaufenthalt». Vielmehr arbeite er dort, unermüdlich um das Wohlergehen der Nation besorgt, fast mehr als in
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Berlin, wo «Pflichten der Repräsentation» zu viel seiner Zeit beanspruchen würden. Dann wieder wollte er sich als volksnah und leger präsentiert wissen, ließ Bilder von sich im Freizeitanzug und in Begleitung seiner Frau verbreiten, umringt von Insulanern. Für seine Kritiker war all das lediglich ein Beweis für extreme Eitelkeit. Dafür schienen auch Bülows oft höchstpersönlich entworfene Pressemitteilungen politischeren Inhalts zu sprechen, in denen er nicht müde wurde, sich selbst als «Meister der Staatskunst» zu loben. Freilich war er nicht der einzige oder erste Kanzler des Deutschen Reichs, der das tat. Und selbst für die persönlichen homestories, die er insbesondere aus Norderney über sich anregte, gab es Vorläufer. Bülows Vorgänger als Reichskanzler, Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst, hatte sich Ende der 1890er Jahre ebenfalls schon im Urlaub an seinem Schreibtisch oder im Kreis der Familie fotografieren lassen. Hohenlohe berichtete bei solchen Gelegenheiten Journalisten auch aus seinem privaten Alltag und gab Geschichten über seinen Dackel Fridolin zum Besten. Bülow kopierte das fast eins zu eins: Er erzählte gleichfalls darüber, wie er auf Norderney den Tag verbrachte und was währenddessen sein Hund dort tat. Wie sein Vorgänger bediente er damit das gewachsene Bedürfnis der deutschen
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Öffentlichkeit, den Privatmann hinter dem Regierungschef kennenzulernen.51 Einerlei was für eine Rolle persönliche Eitelkeit dafür gespielt haben mag: Wie er seinem Pressechef im Auswärtigen Amt Otto Hammann wiederholt offenbarte, war Bülow überzeugt, dass seine politische Stellung ganz wesentlich von der öffentlichen Meinung abhing. Diese zu lenken, erschien ihm als das A und O erfolgreicher Politik. Die öffentliche Meinung aber, erklärte er 1905 Wilhelm II., stehe unter dem nahezu grenzenlosen Einfluss der Presse. Kein Wunder also, dass er seit Übernahme des Kanzleramtes versuchte, über die Presseabteilung des Auswärtigen Amtes alle Kontakte der Reichsleitung wie der preußischen Regierung zu Journalisten zu kontrollieren. Kein Wunder auch, dass er seine öffentlichen Reden penibel vorbereitete und einen Großteil seiner Arbeitszeit in die Bearbeitung von Pressemitteilungen investierte. Kein Wunder schließlich, dass er nicht müde wurde, in solchen für die Öffentlichkeit bestimmten Verlautbarungen anfangs seine enge Beziehung zum Kaiser hervorzuheben – um dann, je mehr Wilhelm zur Zielscheibe öffentlicher Kritik wurde, in vorsichtigen Formulierungen zunehmend von diesem abzurücken. Wie sein «Bismarck» Bernhard von Bülow schien auch Wilhelm II. selbst vielen Zeitgenossen ein Ausbund an Eitelkeit. Und wie Bülow ein Medienkanzler, war Wilhelm ein Medienmonarch. Wo er auch auftauchte, fiel die exzessive Sorge des Kaisers um sein Äußeres auf: der sorgfältig gezwirbelte Schnurrbart, die bemüht hoheitsvolle Körperhaltung, das Verstecken des bei der Geburt verkrüppelten linken Armes. Und er suchte die Öffentlichkeit. Der deutsche Kaiser ließ kaum eine Gelegenheit aus, vor großem Publikum zu reden – in krassem Gegensatz zu seinem österreichischen Gegenstück, dem schweigenden Franz Joseph. Die öffentliche Zurückhaltung des Habsburgers verhinderte allerdings auch nicht die Vivisektion seines Privatlebens und seiner Familie durch die Presse. Franz Joseph war nur, wie der ebenfalls zurückhaltende Hohenzoller Wilhelm I. in Deutschland, noch zu einer anderen Zeit aufgewachsen – einer Zeit vor der Revolutionierung der Öffentlichkeit durch die Massenpresse. Bei Wilhelms gleichnamigem Enkel hing die Neigung zur öffentlichen Selbstdarstellung jedenfalls nicht allein mit persönlichen Vorlieben, sondern auch mit generationsspezifischen Erfahrungen über die Macht des neuen Massenmediums zusammen. Die gesteigerten Er-
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wartungen an öffentliche Präsenz des Monarchen rannten in seinem Fall nur offene Türen ein: Halb zog die Presse ihn, halb sank er hin. Das mediale Interesse an seiner Person begrenzte einerseits die Spielräume Wilhelms II. wie die anderer Fürsten, konnte andererseits aber auch zu eigenen Zwecken genutzt werden. Die Medialisierung setzte den Kaiser einer Dauerbeobachtung aus. Persönliche Marotten und Unzulänglichkeiten ließen sich dadurch ebenso schlechter verbergen wie politische Missgriffe und Verstöße gegen in der Öffentlichkeit formulierte Erwartungen und Normen. Das musste Wilhelm besonders 1908 schmerzlich erfahren. Doch die vermehrte öffentliche Aufmerksamkeit eröffnete auch neue Möglichkeiten zur Selbstdarstellung. Der Monarch konnte alte Bindungen zu seinen Untertanen festigen und neue aufbauen, wenn er bereit war, sich in den Medien als volksnaher Herrscher inszenieren zu lassen. Bilder und Berichte über öffentliche Auftritte inmitten von Menschenmengen präsentierten den Kaiser unweigerlich im Mittelpunkt. Sie suggerierten damit, auch wenn die Menge sich tatsächlich nur aus Schaulustigen und Neugierigen zusammensetzte, seine Beliebtheit und steigerten sein Prestige. Erst recht galt das für seine prominente Präsenz bei Ereignissen mit nationalem Symbolcharakter wie Parlamentseröffnungen, Militärparaden oder Feiern an nationalen Gedenktagen. Nach dem Erfolg des Bülow-Blocks aus Liberalen und Konservativen bei den Reichstagswahlen Anfang 1907 fand es große Aufmerksamkeit, dass der Kaiser zum ersten Mal überhaupt bei einem solchen Anlass in der Wahlnacht eine Ansprache an «sein» Volk hielt. Angesichts der «sonst üblichen Distanz zwischen Nation und Krone» half diese Rede, bei der zumindest der bürgerlichen Presse zufolge «die Herzen von Kaiser und Volk zusammenschlugen wie nie zuvor», das während der Novemberkrise 1906 massiv ramponierte Image Wilhelms II. zeitweise wieder aufzupolieren.52 Doch nicht allein bei solchen öffentlichen Anlässen nutzte Wilhelm die Möglichkeiten, die ihm die neuen Massenmedien boten. Seit etwa der Jahrhundertwende kam er gleichzeitig mit den Reichskanzlern Hohenlohe und Bülow auch offensiv dem medialen Interesse an seinem Privatleben entgegen. Wie seine royalen Verwandten aus dem britischen Königshaus ließ der Kaiser sich von Journalisten und Fotografen in homestories porträtieren, die den «Vater des Vaterlandes» als treusorgen-
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den Familienmenschen und Ehemann zeigten. Dabei war der Technikfreak Wilhelm natürlich auch offen für die neueste Technik des Films. Nachdem er sich schon auf seiner Palästinareise 1898 von einem Kameramann hatte begleiten lassen, dessen bewegte Bilder überall mit großem Erfolg im ganzen Deutschen Reich gezeigt wurden, gab er 1905 seinem Hoffotografen den Auftrag, öffentliche Auftritte wie private Szenen zu filmen. In Kinos konnten die Deutschen Wilhelm II. seitdem bei Schiffstaufen, bei der Jagd, auf Deck der kaiserlichen Yacht Hohenzollern oder in seinem 1907 erworbenen Sommerpalast auf der griechischen Insel Korfu bewundern – und taten das scharenweise auch.53 Ob dabei Bewunderung oder Neid die Zuschauer vorrangig bewegten, wissen wir nicht. Die hohen Kosten für den Umbau des Palasts auf Korfu wurden im Vorfeld der Daily-Telegraph-Affäre während des Sommers 1908 von vielen Zeitungen kritisiert. Teilweise steigerte die Kritik sich dabei bis zum Vorwurf einer generellen Verschwendungssucht des Kaisers. Dessen Gespräch mit dem Schriftsteller Ludwig Ganghofer, in dem der Monarch aus seinem Leben erzählte und sich darüber beklagte, «wie ihn oft die Fülle und Schwere der Pflichten und Arbeiten, die auf ihn herabstürmten, schwer ermüdete», rief andererseits selbst auf dem ersten Höhepunkt politischer Kritik an ihm im November 1906 bis in linksliberale Kreise eine Welle persönlicher Sympathiebekundungen hervor. Auch eine Rede, in der Wilhelm 1907 ansatzweise Selbstkritik übte und die religiös motivierte Betonung einer grundsätzlichen Gleichheit von Herrscher und Untertanen «im deutschen Volke» als Vorbedingung «für eine vollständige Einigkeit» bezeichnete, fand große Zustimmung in der Presse.54 Sosehr die Inhalte seiner Reden in gedruckter Form bei der nachträglichen Lektüre zunehmend öffentlichen Anstoß erregten, so sehr begeisterten sie zunächst die Zuhörer. Noch 1913 sprachen und schrieben Ohren- und Augenzeugen bewundernd von der «vollen, sonoren Stimme» des Kaisers und lobten seine Mimik und Gestik. Wilhelm, hieß es, sei ein «Redner vom Scheitel bis zur Zehe». Dass er sich lange nicht an vorbereitete Manuskripte hielt und Ansprachen frei improvisierte, verstärkte nur den positiven ersten Eindruck bei den Zuhörern. Seine Neigung, die Dinge verbal zuzuspitzen, statt vorgestanzte diplomatische Formeln abzulesen, machte seine Äußerungen ebenso wie seine Vorliebe für bunte, wenn auch oft schiefe Metaphern zu einem gefundenen Fressen für die neue Massenpresse.55
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Schon Anfang der 1890er Jahre hatte Philipp zu Eulenburg sich freilich veranlasst gesehen, seinem kaiserlichen Freund nach einer bejubelten Ansprache auf dem brandenburgischen Provinziallandtag mehr Vorsicht anzuraten: «Die große Redegewandtheit und die Art und Weise Euerer Majestät üben auf die Zuhörer und Anwesenden einen bestrickenden Einfluss – wie dies die Haltung unter den Brandenburgern nach der Rede Euerer Majestät wieder bewiesen hat. Bei der kühlen Beurteilung des Inhalts ergibt sich aber, unter den Händen des deutschen Professors, ein anderes Bild.» Da Wilhelm II. sich um die Meinung von Professoren freilich wenig scherte, hinterließ die Mahnung kaum Eindruck. Selbst ein besonnenerer Redner als er hätte zudem wohl Probleme gehabt, es allen Strömungen in der zerklüfteten Landschaft des politischen Deutschland seiner Zeit recht zu machen. Darum bemühte er sich freilich auch gar nicht, und unter seinem bevorzugten Publikum, der konservativen preußischen Landbevölkerung und dem meist nationalliberal eingestellten Bürgertum der Großstädte, kamen die meisten seiner Reden lange weiterhin gut an. Seit der Jahrhundertwende änderte sich das jedoch. Wilhelms «Hunnenrede» vor nach China aufbrechenden Soldaten, denen er zur Bekämpfung der Unruhen gegen Europäer dort im Sommer 1900 ein denkbar rücksichtsloses Vorgehen nahelegte, provozierte im Reichstag erstmals eine Debatte über Äußerungen des Kaisers. Damit war ein Tabu gebrochen, und die Grenzen dessen, was über den Monarchen gesagt werden konnte, verschoben sich in den folgenden Jahren immer weiter. Wilhelm beeindruckte auch das zwar anfangs nicht sonderlich. Nachdem aber selbst die Fraktionsvorsitzenden von Konservativen, Nationalliberalen und Zentrum im Reichstag 1903 in einer gemeinsamen Erklärung Bülow gegenüber auf mehr öffentliche Zurückhaltung des Kaisers gedrängt hatten, zeigte dieser sich doch getroffen. Auch die Beziehung Wilhelms zur Massenpresse, die lange einer glücklichen Symbiose geähnelt hatte, trübte sich ein. 1904 registrierte sein Hofmarschall, «wie empfindlich der Kaiser der Presse gegenüber» geworden sei.56 Der immer weiter anschwellenden Pressekritik an seinen Reden begegnete Wilhelm während der folgenden Jahre, indem er einfach den Kopf in den Sand steckte. Auf dem Tiefpunkt seiner Popularität während der Daily-Telegraph-Affäre 1908 darauf angesprochen, wie er so lange den Proteststurm im Land hatte ignorieren könnte, erklärte er bockig nur:
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«Zeitungen lese ich überhaupt nicht. […] Was diese Schafsköpfe schreiben, ist mir ganz gleichgültig.»57 Anders als sein «Bülowchen» hatte er es zu diesem Zeitpunkt aufgegeben, die Presse für sich zu nutzen und möglichst zu steuern. Dafür fehlten Wilhelm letzten Endes auch schlicht der nötige Fleiß und die Ausdauer. Doch selbst der eifrige Bülow war langfristig mit der Aufgabe überfordert, das neue Massenmedium eigenen Zwecken dienstbar zu machen. Hatte er während der ersten Amtsjahre als Reichskanzler dabei noch einige Erfolge verbuchen können, waren spätestens 1906 bereits die Grenzen seiner Möglichkeiten deutlich geworden. 1908 wurde das Scheitern seiner Manipulationsversuche vollends offensichtlich. Die alles bisher Dagewesene in den Schatten stellende, vernichtende Kritik an Wilhelm II., die in deutscher Presse und Reichstag nach der Veröffentlichung im Daily Telegraph entbrannte, hatte nicht nur die schärfste Zäsur im Verhältnis von Kaiser und Öffentlichkeit zur Folge. Sie verleidete Wilhelm auch Eingriffe in die Politik mehr als je zuvor. Als Valentini, der Chef seines Zivilkabinetts, den Monarchen nach dem ersten Abflauen des Proteststurms im Dezember 1908 wiedersah, fand er «den Herrn sehr blaß und leidend aussehend und auch im Wesen sehr verändert». Der Kaiser zeigte sich für die politischen «Geschäfte wenig interessiert» und «sprach über die Erlebnisse der letzten Wochen im Tone müder Resignation. Ich hatte den Eindruck, daß in diesem so komplizierten Mechanismus eine Saite gesprungen, und daß damit ein gut Stück der alten Lebensaktivität verloren gegangen war.»58 Wilhelm hatte bereits seit 1900 das innen- und teilweise auch außenpolitische Tagesgeschäft an Bülow delegiert. Frustriert, verletzt und innerlich gebrochen, zog er sich jetzt vollends von politischen Entscheidungen zurück. Allein für Flotte und Armee, den Kern seiner kaiserlichen «Kommandogewalt», war er nach 1908 gelegentlich noch zu interessieren. Sein radikaler Rückzug aus der Politik ist umso auffälliger, als dieser einherging mit dem völligen Verlust seines Vertrauens in Bülow, das bisher die Grundlage dafür gebildet hatte, diesem zumindest die Routineangelegenheiten zu überlassen. Was den Reichskanzler nach der Daily-Telegraph-Affäre im Amt hielt, war allein die Unterstützung der Reichstagsmehrheit und der öffentlichen Meinung, die er sich durch raffinierte Abwälzung der Verantwortung für die Affäre auf den Kaiser erkauft hatte.
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Der nahm verbittert nicht nur von der Politik, sondern auch von der Öffentlichkeit so weit wie möglich Abschied. Wenn er noch Reden hielt, las er sie nun meist vom Blatt ab. Als er nach zwei Jahren noch einmal in seine alte Gewohnheit zurückfiel und 1910 bei einem Trinkspruch im ostpreußischen Königsberg vom Manuskript abwich, um das Gottesgnadentum wenigstens der preußischen Krone zu betonen, rief das in der Öffentlichkeit nur allgemeines Kopfschütteln hervor. Die Presse aller politischen Richtungen zerlegte seine Äußerung Wort für Wort. Gegenüber Theobald von Bethmann Hollweg, dem Nachfolger Bernhard von Bülows, der in der Zwischenzeit beim Auseinanderbrechen der nach ihm benannten Reichstagskoalition zurückgetreten war, maulte Wilhelm zwar, die von Bülow gehätschelten Massenblätter beanspruchten mittlerweile «über alle entscheidend mitzureden, zumal über höchste Stellen». Aber weder der Kaiser noch sein neuer Kanzler machten sich irgendwelche Illusionen, den Aufstieg der Massenmedien zur «vierten Gewalt» neben Exekutive, Reichstag und Bundesrat zurückdrehen zu können.59 Wilhelm beschränkte sich fortan endgültig auf gefühlvolle homestories und öffentliche Auftritte, bei denen er salbungsvolle, keinerlei Empfindlichkeiten verletzende Plattitüden absonderte und sich als glatte Galionsfigur der Nation ohne Haken und Ösen präsentierte. Und der neue Reichskanzler Bethmann Hollweg ließ nach der letzten anstößigen Rede des Kaisers in Königsberg einfach verkünden, es habe sich dabei lediglich um eine persönliche Meinungsäußerung gehandelt. Das beschwor allerdings unweigerlich die Frage herauf, wer denn eigentlich die Richtlinien der Politik bestimmte. Wenn der Kaiser nur noch eine repräsentative Figur war, der tatsächlich nicht die «im Namen des Reichs» erlassenen «Anordnungen und Verfügungen» traf, wie es in der Verfassung von 1871 hieß, wer dann? Worauf bezog sich dann die «Verantwortlichkeit» des Reichskanzlers, von der in der Verfassung vage die Rede war? Und wem gegenüber bestand sie?
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Einen Tag nach der dramatischen Debatte über den Artikel im Daily Telegraph, am 12. November 1908, beantragten die Sozialdemokraten einschneidende Änderungen der Reichsverfassung. Der Kanzler sollte dem Parlament verantwortlich gemacht und von diesem entlassen werden können. Für Kriegserklärungen wollte die SPD in Zukunft nicht nur die Zustimmung des Bundesrats, sondern auch des Reichstags verbindlich machen. Die sozialdemokratischen Anträge sahen sogar die Möglichkeit vor, den Kanzler bei einem noch einzurichtenden Staatsgerichtshof anzuklagen, wenn er verdächtigt wurde, «verfassungswidrig gehandelt oder sonst das Wohl des Reiches geschädigt zu haben». Auch die Zentrumsfraktion des Parlaments forderte am gleichen Tag, die von der Verfassung unklar geregelte Verantwortlichkeit des Reichskanzlers durch ein Gesetz zu klären.60 Sowohl die SPD als auch das Zentrum waren kein Teil des BülowBlocks. Mit ihren Anträgen, die beide schon einmal nach der «Hunnenrede» Wilhelms II. 1900 in ähnlicher Form eingebracht hatten, verfolgten sie offensichtlich nicht zuletzt taktische Absichten: Die während der Daily-Telegraph-Debatte offensichtlich gewordenen Differenzen zwischen liberalen und konservativen «Regierungsparteien» sollten ausgenutzt, der Block möglichst gesprengt werden. Dennoch griff die linksliberale Fraktionsgemeinschaft Ende November 1908 einen von ihr ebenfalls bereits vorher eingebrachten Gesetzentwurf wieder auf und schloss sich damit der Forderung an, den Reichskanzler dem Parlament verantwortlich und von dessen Vertrauen abhängig zu machen. Damit sprach sich nun zum ersten Mal eine Mehrheit des Reichstags für die Parlamentarisierung des politischen Systems aus. Gebildet wurde diese Mehrheit von den drei Parteigruppen, die ein Jahrzehnt später als Weimarer Koalition die erste parlamentarische Demokratie in Deutschland aus der Taufe heben sollten. Allerdings operierten die Befürworter einer Parlamentarisierung einstweilen noch getrennt und mit zumindest in den Details voneinander abweichenden Vorschlägen. Im Bundesrat wurden diese Vorschläge, durch deren Verwirklichung die schon gewachsene Macht des Reichstags noch erweitert worden wäre, einhellig abgelehnt. Auch Bernhard von Bülow war zunächst dafür,
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möglichst die im Parlament eingebrachten «Anträge und Gesetzentwürfe aus der Welt zu schaffen». Anfang 1909 scheint er allerdings zeitweilig dann doch erwogen zu haben, dem Reichstag ein Gesetz zur Verantwortlichkeit des Kanzlers vorzulegen. Doch das scheiterte am entschiedenen Widerstand der Konservativen. Diese lehnten jedes derartige Gesetz als einen Übergang zur parlamentarischen Monarchie ab. Und geschickt nutzten sie die Rivalität zwischen den anderen Parteien aus, um es zu vereiteln.61 Die deutschkonservative Reichstagsfraktion hatte so schon im Vorfeld der Daily-Telegraph-Debatte eine gemeinsame Adresse des Parlaments an den Kaiser verhindert. Von Nationalliberalen und Zentrum war aus Furcht, der jeweils andere werde sich sonst mit den Konservativen verbinden, ihr bereits abgegebenes Votum zugunsten einer gemeinsamen Resolution wieder zurückgezogen worden. Auf ähnliche Weise torpedierten die Konservativen auch jetzt die Bildung einer Reformkoalition. Zusammen mit Initiativen zur Änderung der Geschäftsordnung des Reichstags, die auf eine Einführung parlamentarischer Misstrauensvoten gegen den Kanzler hinausliefen, wurden die Vorschläge zur Verfassungsänderung zunächst einer parlamentarischen Kommission überwiesen. Dort gelang es dann den konservativen Kommissionsmitgliedern, Liberale und Zentrum dermaßen gegeneinander auszuspielen, «daß die entscheidenden Anträge mit wechselnden Mehrheiten abgelehnt wurden und nichts zustandekam».62 Dazu trugen auch einmal mehr Konflikte um die Finanzierung der Reichsausgaben bei. Über eine notwendig gewordene neue Reichsfinanzreform entwickelten sich schon parallel zur Eskalation der Daily-Telegraph-Affäre zwischen den Parteien des Bülow-Blocks unüberbrückbare Differenzen. Während die Liberalen wie 1906 erneut eine steuerliche Belastung auch des Großgrundbesitzes forderten, lehnten die Konservativen das nach wie vor kategorisch ab. Sie drohten offen damit, den Block aufzukündigen und die Finanzreform mit dem Zentrum zu machen. Verfassungsänderungen im Reich oder auch Wahlrechtsreformen in Preußen mit dem Druckmittel einer Verweigerung neuer Steuern erzwingen zu wollen, wie die Linksliberalen das während der Daily-Telegraph-Debatte im November 1908 überlegten, war daher von vornherein aussichtslos. Deshalb hatten die vorsichtigeren Nationalliberalen, obwohl sie grundsätzlich eine parlamentarische Verantwortlichkeit des
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Reichskanzlers durchaus befürworteten, schon den linksliberalen Antrag dazu nicht mitgetragen. Dann zeichnete sich während der Verhandlungen über die Finanzreform im Frühsommer 1909 schließlich ein Bündnis aus Konservativen und Zentrum ab. Die drohende Sprengung des Bülow-Blocks vor Augen, boten nun selbst die Linksliberalen dem Reichskanzler an, ihre «politischen Forderungen» fallen zu lassen.63 Bülow war allerdings in der Zwischenzeit selbst jegliche Kontrolle über die Entwicklung verloren gegangen. Vorübergehend hatte es noch so ausgesehen, als ob er aus dem Novembersturm von 1908 sogar gestärkt hervorgehen könnte. Durch sein Lavieren zwischen Reichstag und Kaiser war es ihm gelungen, die Schuld an der Veröffentlichung im Daily Telegraph dem Monarchen in die Schuhe zu schieben. Als lachender Dritter schien er zunächst von dessen Rückzug aus der Politik zu profitieren. Doch das war nur vordergründig so. Die Grundlage von Bülows Macht war bisher sein enges Vertrauensverhältnis zu Wilhelm II. gewesen. Damit war es jetzt vorbei. Der Kaiser sah im Kanzler seit der Daily-Telegraph-Affäre immer mehr nur noch einen «Verräter an der Krone». Im Frühjahr 1909 machte es zwar zeitweilig den Eindruck, als ob beide Männer sich wieder versöhnt hätten. Der Schein trog freilich, die Versöhnung blieb oberflächlich und nicht von Dauer. Auch danach kündigte Wilhelm Bülow und anderen wiederholt an, den Kanzler bald entlassen zu wollen. Solange der die Unterstützung einer Mehrheit im Reichstag hatte, wagte der Kaiser das aber tatsächlich nicht.64 Seit der «Novemberrevolution» von 1908, wie manche Zeitgenossen die Erschütterungen nach der Veröffentlichung im Daily Telegraph mittlerweile bereits nannten,65 beruhte Bülows Stellung auf der Unterstützung des nach ihm benannten Blocks im Parlament. Mit dem Auseinanderbrechen dieses Blocks im Sommer 1909 waren seine Tage als Kanzler gezählt. Als eine Mehrheit aus Konservativen und Zentrum die Finanzreform in zweiter Lesung am 24. Juni verabschiedet hatte, bot Bülow dem Kaiser umgehend seinen Rücktritt an. Das hatte er schon im vorhergehenden November und erneut im März getan. Doch damals war er noch der Kanzler einer parlamentarischen «Regierungskoalition» und die Rücktrittsdrohung vor allem ein taktisches Manöver gewesen, das Wilhelm II. in Erinnerung bringen sollte, wie sehr dieser an Macht eingebüßt hatte. Jetzt freilich stand Bülow selbst nach dem Verlust seiner
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parlamentarischen Basis machtlos da, und der Kaiser konnte ihn, ohne zu zögern, entlassen. Die Umstände von Bülows Abgang 1909 illustrieren gleichermaßen Ausmaß wie Grenzen der gewachsenen Macht des Reichstags im politischen System des Kaiserreichs. Das Parlament konnte, solange sich in ihm eine handlungsfähige, stabile Mehrheit fand, auch den beim Kaiser in Ungnade gefallenen Kanzler im Amt halten. Aber es vermochte nicht, dem Monarchen einen Kandidaten seiner Wahl zu präsentieren. Tatsächlich zeigten die Parteien daran auch gar kein Interesse. Der desillusionierte Wilhelm legte freilich ebenso wenig Wert auf seine traditionelle Kompetenz, den neuen Kanzler zu bestimmen. Zwei Kandidaten, an die er selbst gedacht hatte, ließ er sich vom Chef seines Zivilkabinetts wieder ausreden. Zwei weitere, vom Kabinettschef vorgeschlagene Männer hatten kein Interesse an dem Amt. Den dritten Vorgeschlagenen lehnte der Kaiser zunächst ab, weil man mit diesem «nicht arbeiten» könne. Dann gab er aber auf dem Weg zum Tennisspielen «zwischen Tür und Angel» doch seinen im wahrsten Sinne des Wortes beiläufigen Segen, den «überheblichen Schulmeister und Dickschädel» Theobald von Bethmann Hollweg zu berufen.66 Bethmann Hollweg war nach einer steilen Verwaltungskarriere unter Bülow zu dessen Stellvertreter und Staatssekretär des Innern aufgestiegen. Als Kanzler bemühte er sich, an die alte Strategie der Sammlungspolitik seines Vorgängers anzuknüpfen. Durch eine Politik vorsichtiger Reformen sollte die Unterstützung der Liberalen wieder gewonnen werden, ohne Konservative und Zentrum zu vergraulen. 1910 schlug Bethmann deshalb eine geringfügige Veränderung des Dreiklassenwahlrechts in Preußen vor. Dessen plutokratischer Charakter sollte etwas abgeschwächt, die direkte Wahl eingeführt, das Gewicht der Stimmen von Akademikern und Soldaten erhöht werden. Das kam zumindest nationalliberalen Vorstellungen entgegen. Doch die Konservativen verweigerten sich jedem Kompromiss. Mit dem Zentrum, das im preußischen Landtag stärker großagrarisch und weniger demokratisch geprägt war als in Süddeutschland, spielten sie sich bei der Verschleppung der Reformvorlage die Bälle zu, bis Bethmann diese entnervt zurückzog. Im nächsten Jahr unternahm er – nunmehr im Reichstag – einen neuen Vorstoß, eine Sammlungsmehrheit zusammenzuführen. ElsassLothringen, seit 1871 von Berlin aus verwaltet, sollte eine eigene Verfas-
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sung und einen Landtag mit Ober- und Unterhaus erhalten. Die beim Wahlrecht zum Unterhaus und bei der Besetzung des Oberhauses vorgesehene Privilegierung bürgerlicher Honoratioren kam besonders den Nationalliberalen entgegen, bleibende Vorrechte des Kaisers sollten die Konservativen gewinnen. Anders als in Preußen konnte das Zentrum von einer Demokratisierung in Elsass-Lothringen, wo drei Viertel der Einwohner katholisch waren, profitieren. Bethmann Hollwegs Reforminitiative bewirkte deshalb schließlich mehr und anderes, als er eigentlich beabsichtigt hatte: Eine Mehrheit aus Zentrum, Liberalen und Sozialdemokraten setzte die Einführung des Reichstagswahlrechts zum Landtag Elsass-Lothringens durch. Das bestätigte freilich nur einmal mehr, dass die Uhren südlich des Mains anders liefen als in Preußen. Abgesehen von einem tiefen Zerwürfnis zwischen Deutschkonservativen und Kanzler wirkte es auf die Reichspolitik nicht zurück. Das zeigte sich, als im Herbst 1911 ein erneutes Ansteigen vor allem der Fleischpreise eine Protestwelle der Konsumenten auslöste. Im Vorfeld der im Januar 1912 stattfindenden Reichstagswahlen nutzte die SPD das, um die Öffnung der für Viehimporte gesperrten deutschen Grenzen zu fordern. Doch eine Parlamentsmehrheit aus Konservativen und Zentrum lehnte den Antrag ab. Auch bei den Wahlen kooperierten diese beiden Parteigruppen so eng miteinander, wie es fünf Jahre zuvor Konservative und Liberale getan hatten. Doch diesmal war das Resultat ein ganz anderes. Die Wut der städtischen Verbraucher, die mittlerweile eine deutliche Mehrheit der Wähler stellten, über ihre Belastung durch Grenzsperren und die Finanzreform von 1909 führte zu erdrutschartigen Gewinnen der SPD. Es geschah, was wegen der die Städte diskriminierenden Wahlkreiseinteilung bisher für unmöglich gehalten worden war: Die Sozialdemokraten gewannen nicht nur wie seit 1890 schon die meisten Stimmen, sondern erstmals auch die meisten Wahlkreise. Dazu trug ein Wahlabkommen mit den Linksliberalen bei, das die weitgehende Isolation der SPD gegenüber den anderen Parteien beendete. Die Liberalen konnten ihren Stimmenund Mandatsanteil halten. Dagegen erzielten die Konservativen das schlechteste Wahlergebnis seit Gründung des Kaiserreichs. Und auch das Zentrum musste zum ersten Mal in seiner Geschichte massive Verluste hinnehmen. Das Ergebnis der Reichstagswahlen von 1912 kam einem politischen
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Erdbeben gleich. Nicht nur stellten die Sozialdemokraten mit mehr als einem Viertel der Mandate jetzt die stärkste Fraktion. Auch eine «schwarzblaue» Mehrheit aus Zentrum und Konservativen gab es nicht mehr. Ein wiederbelebter Bülow-Block hätte im Parlament ebenfalls keine Mehrheit mehr gehabt. Damit entfiel jede Möglichkeit für die Konservativen, Liberale und Zentrum im Interesse des eigenen Machterhalts weiter gegeneinander auszuspielen. Theoretisch war zwar eine Neuauflage der Sammlungspolitik weiterhin denkbar. Aber angesichts der parlamentarischen Schwäche der Konservativen, die jetzt nur noch ein gutes Achtel der Reichstagsabgeordneten stellten, wäre das über kurz oder lang nur um den Preis erheblicher Zugeständnisse an liberale und Zentrumsinteressen möglich gewesen. Das politische System des Kaiserreichs war nach Jahrzehnten erfolgreicher Verteidigung konservativer Herrschaft erkennbar in eine Krise geraten. Das kündigte sich bereits unmittelbar nach den Wahlen an. Bei der Eröffnung des neuen Reichstags im Februar 1912 forderten außer den Konservativen alle Parteien in separaten Anträgen ein Gesetz zur Verantwortlichkeit des Reichskanzlers. Bethmann Hollweg und der Bundesrat lehnten das «als Etappe auf dem Weg zur Parlamentsherrschaft» jedoch ab. Die nichtkonservativen Parteien im Reichstag konzentrierten sich danach auf eine Änderung der Geschäftsordnung, die das Parlament ohne Mitwirken der anderen Verfassungsorgane beschließen konnte. Im Mai einigten Liberale, Zentrum und SPD sich darauf, nach der Beantwortung von parlamentarischen Anfragen durch den Reichskanzler Abstimmungen darüber zuzulassen, ob die Antwort gebilligt wurde oder nicht. Das lief, wie die Konservativen zu Recht feststellten, auf «die Einführung von Vertrauens- und Mißtrauensvoten und damit einen ersten, aber sehr bedeutsamen Schritt zum parlamentarischen Regiment» hinaus.67 Damit das Parlament so mit Hilfe der öffentlichen Meinung effektiven Druck auf den Kanzler ausüben konnte, mussten die Parteien sich über ein pauschales Misstrauensvotum hinaus aber auch darauf einigen, in welchen Punkten sie konkret eine Änderung der Politik erwarteten. Diese Möglichkeit war in der neuen Geschäftsordnung des Reichstags zunächst offengelassen worden. Die Probe aufs Exempel wurde im Herbst 1912 gemacht, als die SPD angesichts der anhaltenden Fleischteuerung erneut forderte, die Grenzen für Vieheinfuhren dauerhaft zu öffnen. Nach Ablehnung dieser Maßnahme durch Bethmann Hollweg sprachen
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Liberale, Zentrum und Sozialdemokratie dem Reichskanzler pauschal ihr Misstrauen aus. Die Sozialdemokraten beantragten dann noch eine «Spezialisierung» dieses Votums. Dafür erhielt die SPD aber jetzt keine Unterstützung mehr von den anderen Parteien. Denn ein «spezialisiertes» Misstrauensvotum war ohne eine detailliertere Diskussion der Frage von Grenzöffnungen nicht denkbar. Das aber hätte Liberale wie Zentrum genötigt, sich zwischen den Interessen ihrer ländlichen und ihrer städtischen Wähler klar zu entscheiden, und sie damit einer Zerreißprobe ausgesetzt. Wie sehr die Mehrheit der Parteien im Parlament zögerte, die gewachsene Macht des Reichstags zu einer substantiellen Reform des politischen Systems im Kaiserreich zu nutzen, zeigte sich ein Jahr später. Im November 1913 beschimpften preußische Offiziere Rekruten im elsässischen Zabern. Daraufhin in den Straßen des Städtchens spöttischen Bemerkungen der Einwohner ausgesetzt, verhafteten die Militärs in eindeutiger Überschreitung ihrer Befugnisse willkürlich mehr als zwei Dutzend Menschen. Diese vollkommen unverhältnismäßige Reaktion der Armee provozierte einen Aufschrei in der deutschen Öffentlichkeit – wurde damit doch die Integration Elsass-Lothringens ins Deutsche Reich, durch die Verfassungsreform von 1911 gerade gefördert, wieder in Frage gestellt. Ein Sturm der Entrüstung lief auch durch den Reichstag. Bethmann Hollweg lehnte aber jede parlamentarische Mitsprache in militärischen Angelegenheiten ab. Zwar strafte eine gewaltige Parlamentsmehrheit, die von den Sozialdemokraten bis zu den Nationalliberalen reichte und die Konservativen einmal mehr isolierte, den Kanzler daraufhin durch ein Misstrauensvotum symbolisch ab. Doch als es darum ging, konkrete verfassungspolitische Konsequenzen aus dem Skandal zu ziehen, um das Militär parlamentarischer Kontrolle zu unterstellen, machte eine der Parteien nach der anderen einen Rückzieher.68 Das Deutsche Reich mochte, wie Manfred Rauh vollmundig formuliert hat, am Vorabend des Ersten Weltkriegs «auf der Schwelle zum parlamentarischen System» stehen.69 Aber kaum jemand zeigte sich bereit, diese Schwelle zu überschreiten. Ebenso wenig wie die Parlamentarisierung kam in den letzten Jahren vor 1914 die Demokratisierung Deutschlands voran. Bemühungen um eine Reform des preußischen Dreiklassenwahlrechts brachten weiterhin keine Ergebnisse. Die relativ größere Bedeutung kulturpolitischer Fragen in Preußen trennte Liberale und
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Zentrum dort mehr als im Reich. Auch die im Verhältnis zum nationalen Parlament stärkere Stellung der Industriellen unter den nationalliberalen und der Großagrarier unter den Zentrumsabgeordneten in Preußen ließ diese mehr zu den Konservativen tendieren, erschwerte also die Entstehung einer Reformkoalition. Vor allem aber fürchteten Vertreter des politischen Katholizismus wie der Liberalen, dass Wahlrechtsreformen vor allem den Sozialdemokraten zugutekommen würden. Die Diskussionen darüber drehten sich deshalb zunehmend im Kreis. Die Zeitgenossen hatten zwar seit 1912 den Eindruck, das Kaiserreich stecke in einer Krise. Doch es handelte sich um eine stabile Krise. Parlament und Exekutive, Reformkräfte und Kräfte der Beharrung standen sich nicht nur in einem weitgehenden Patt gegenüber. Die Immobilität des Kaiserreichs wurde gerade auch dadurch verursacht, dass sich mächtige Gruppen in dem Schwebezustand zwischen monarchischem und parlamentarischem System, zwischen Herrschaft der alten aristokratischen Elite und Dominanz der neuen demokratischen Massenbewegungen häuslich eingerichtet hatten. Die Verlockung dazu war besonders für Nationalliberale und Zentrum stark – befanden diese sich doch jetzt in der parlamentarischen Schlüsselposition. Deshalb waren sie nun weniger geneigt, den begonnenen Weg der Parlamentarisierung weiterzugehen. Denn wie von einer Reform des Wahlrechts in Preußen drohten davon auf Dauer andere, insbesondere die Sozialdemokraten, zu profitieren. Das Wahlergebnis von 1912 bildete in dieser Hinsicht eine deutliche Warnung. Zudem begünstigte das politische System des Kaiserreichs bei den Parteien im Reichstag die Ausbildung einer Mentalität der politischen Verantwortungslosigkeit. Gerade die Kanzler registrierten das. Bernhard von Bülow hatte wenige Monate vor seinem Rücktritt 1909 den «Mangel an Verantwortlichkeitsgefühl bei den Parteiführern» vermerkt, «die nicht wie in parlamentarisch regierten Ländern mit der Möglichkeit rechnen, in absehbarer Zeit selbst Regierung zu sein». Sein Nachfolger Bethmann Hollweg, obwohl wie Bülow alles andere als ein Befürworter des Parlamentarismus, beschwerte sich sogar darüber, dass «das Niveau des Reichstags beklagenswert tief» sei, «sobald es sich darum handelt, dem Wunsch nach Macht die Fähigkeit, solche zu üben, als Beweismittel hinzuzufügen, das heißt nicht bloß immer zu negieren und zu kritisieren, sondern einmal tüchtig der Regierung zu helfen und dann seine Bedingungen zu stellen».70
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Die entscheidende Ursache dafür war die Kombination eines ausgesprochen demokratischen Wahlrechts zum nationalen Parlament mit einer ausgesprochen undemokratischen Verfassungsstruktur. Die Macht des Reichstags blieb, bei allen Veränderungen der Verfassungsrealität, die Politisierung der Massen und Bedeutungsgewinn der öffentlichen Meinung zu seinen Gunsten seit 1871 ausgelöst hatten, doch begrenzt und einseitig negativ. Durch die Verweigerung des Budgets vermochte eine Parlamentsmehrheit Vorhaben der Exekutive vor allem Steine in den Weg zu legen. Die einzelnen Parteien konnten darüber hinaus durch Verhandlungen mit der Reichsleitung politische Geschäfte machen, indem sie von Fall zu Fall die Stimmen ihrer Abgeordneten gegen Zugeständnisse an die eigene Klientel eintauschten. Verantwortung übernehmen konnten – und mussten – sie aber nicht. Im Lauf der Zeit arrangierten sich die meisten Parteien mit diesem System, das für sie manche Vorteile hatte. Denn es bot die Möglichkeit, Einfluss auszuüben und politisch mitzugestalten, ohne für die Resultate voll verantwortlich gemacht zu werden. Parteiführer, Aktivisten und Wähler gewöhnten sich an eine politische Praxis, die von Demagogie geprägt war. Im engeren Sinn demokratische Tugenden, wie die Bereitschaft zum Interessenausgleich durch Kompromiss, erlernten sie dagegen nicht. Die politischen Eliten kamen selten in die Verlegenheit, unpopuläre Entscheidungen gegenüber ihrer Klientel zu begründen. Und den Wählern wurde entsprechend selten zugemutet, Unvermeidliches zu akzeptieren oder selbst Verantwortung für ihr Gemeinwesen zu übernehmen. Eine verantwortungsvolle Zivilgesellschaft konnte so kaum entstehen. Selbst die Linksliberalen waren nicht frei von der Tendenz zu politischer Verantwortungslosigkeit und Demagogie. Hinter den weitreichenden Forderungen zur Demokratisierung des preußischen Wahlrechts, die von ihnen öffentlich vertreten wurden, standen wie bei Nationalliberalen und Zentrum beileibe nicht alle Parteimitglieder. Und wenn auch Friedrich Naumann und manche andere vor 1914 bereits ein parlamentarisches System anstrebten: Den meisten Linksliberalen war 1908 und erneut nach 1912 bei den Vorstößen zur Verantwortlichkeit von Reichskanzler und Ministern wie bei der Etablierung eines parlamentarischen Misstrauensvotums die öffentliche Wirkung wichtiger als die eigentlich verfassungspolitische. Wie die übrigen Parteien im Reichstag bemühten sie sich deshalb nicht nachhaltig um fraktionsübergreifende Resolu-
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tionen. War die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit abgeklungen, ließen auch sie Anträge in Kommissionen versanden.71 Auch die Haltung der Sozialdemokraten zum Parlamentarismus war zumindest ambivalent. Programmatisch forderte die SPD zwar den Übergang zur parlamentarischen Demokratie. An der Regierung beteiligen wollte sich die Partei freilich keineswegs. Dass sozialdemokratische Abgeordnete von Bethmann Hollweg seit 1912 erstmals an Besprechungen der Reichsleitung mit Parlamentariern beteiligt wurden, änderte daran nichts. Wie alle anderen Parteien scheute die SPD die politische Verantwortung. Kaum etwas war so charakteristisch für die «negative Integration» der Partei in das politische System des Reiches wie ihr Verhalten bei der Wehrvorlage von 1913, als die sozialdemokratischen Abgeordneten das Kunststück fertigbrachten, zwar für die finanzielle Deckung der Heeresvermehrung, aber gegen diese selbst zu stimmen. Für ein demokratisches Wahlrecht in Preußen, das sie begünstigt hätte, setzten sich die Sozialdemokraten zwar vorbehaltlos ein. Als Massendemonstrationen dafür wirkungslos blieben, wollte der Parteivorstand Wahlrechtsreformen schließlich mit politischen Massenstreiks der Arbeiter erzwingen. Doch selbst in sozialdemokratischen Vereinen Berlins, die als Hort des Radikalismus galten, wurde das im Frühjahr 1914 von den Mitgliedern abgelehnt. Dass deutsche Sozialdemokraten vor der revolutionären Erstürmung eines Bahnhofs grundsätzlich erst einmal eine Bahnsteigkarte kaufen würden, wie Wladimir Iljitsch Lenin später gespottet haben soll, mochte zwar nicht ganz zutreffen. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs wollte die sozialdemokratische Basis allerdings Aktionen zivilen Ungehorsams, die zu gewaltsamen Zusammenstößen mit der Staatsmacht führen könnten, nicht riskieren. Die übrige Bevölkerung wäre dafür erst recht nicht zu gewinnen gewesen. So heftig auch Kritik an Kaiser, Kanzler, Ministern und Staatssekretären im ganzen Land geübt wurde, sosehr Gemecker über Reichsleitung, Staatsregierungen und Beamte in der Presse, an Stammtischen, bei Teegesellschaften, in Fabriken, Büros, Werkstätten und Wäschereien üblich war: Die meisten Deutschen verspürten nicht das Bedürfnis nach radikalen politischen Reformen oder gar einem Wechsel der Staatsform. Sicher, der Kaiser mochte ein tennisspielender Tunichtgut sein. Aber das waren seine royalen Vettern in Großbritannien und Russland schließlich auch. Und seit Wilhelm sich nach der Daily-Telegraph-Affäre nicht
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mehr großmäulig in die Innenpolitik einmischte, war er wie die britischen Royals noch mehr als vorher zum Liebling der Regenbogenpresse geworden. Sicher: Das Deutsche Reich war eine Klassengesellschaft, geprägt von himmelschreiender sozialer Ungleichheit. Aber das sind viele heutige Demokratien ebenfalls, wie auch das vor 1914 bereits parlamentarisch regierte Großbritannien. Die parlamentarische Republik Frankreich war damals sogar eher noch mehr ein Klassenstaat als das deutsche Kaiserreich. Während die in Paris regierende bürgerliche Elite bei industriellen Arbeitskonflikten Polizei und Armee rücksichtslos gegen Streikende und zugunsten der Unternehmer einsetzte, waren die in Berlin regierenden Aristokraten in dieser Hinsicht deutlich zurückhaltender. Im deutschen Kaiserreich wurden Hunderte, wenn nicht Tausende als Staatsfeinde etikettierter Sozialisten zwischen 1878 und 1890 inhaftiert oder aus ihren Wohnorten ausgewiesen. Die Regierung der französischen Republik ließ 1871 eine annähernd gleiche Zahl von Sozialisten mit der gleichen Begründung kurzerhand ohne Gerichtsverfahren an die Wand stellen und erschießen.72 In Russland eröffneten Soldaten vor dem Zarenpalast 1905 das Feuer auf unbewaffnete Demonstranten. Vorsichtigere Schätzungen über die Zahl der Opfer gehen von wenigstens 130 Toten aus. Kam es in Russland zu Gewaltausbrüchen, die nicht von den Staatsorganen ausgingen, war der Zar dagegen weit: Bei Pogromen wurden zwischen 1904 und 1907 einige Tausend russische Juden getötet, während Vertreter der Staatsgewalt entweder durch Abwesenheit glänzten oder sich nicht einmischten. Im Deutschen Reich konnten sich Bürger dagegen darauf verlassen, dass Polizei und Armee wie bei den antisemitischen Ausschreitungen in Xanten 1891 und Konitz 1900 zur Stelle waren, um Leben und Eigentum von Juden oder Nichtjuden zu schützen. Im Herbst 1913 und Frühjahr 1914 griffen Soldaten der US-amerikanischen Nationalgarde im Bundesstaat Colorado in Auseinandersetzungen zwischen Bergwerksbesitzern und ihren Beschäftigten ein. Bei Angriffen auf Lager streikender Bergleute töteten sie etwa sechzig Menschen, darunter Frauen und Kinder. Ein einziger der beteiligten Soldaten wurde später vor Gericht verurteilt – weil er einem der Opfer unnötig brutal seinen Gewehrkolben ins Gesicht gerammt hatte, bevor er es erschoss.73 Währenddessen erregte sich ganz Deutschland darüber, dass im
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elsässischen Zabern preußisches Militär zwei Dutzend Bürger über Nacht widerrechtlich einsperrte und ein Offizier einen Schuhmacher am Kopf verletzte. Dass die verantwortlichen Uniformträger von Militärgerichten freigesprochen wurden, löste hierzulande empörte Reaktionen aus. Denn die Einwohner des Deutschen Reichs waren stolz auf dessen Ruf als Rechtsstaat, in dem die Gerichte sonst zuverlässig und ohne Ansehen der Person urteilten. Auch dass Deutschland als Sozialstaat galt, war ein Objekt nationalen Stolzes – und das mit einem gewissen Recht. Die in den 1880er Jahren begründete deutsche Sozialversicherung wurde in nicht wenigen europäischen Staaten als Vorbild gesehen und eifrig kopiert. Ihre Leistungen waren höher als anderswo in Europa – von den demokratisch und parlamentarisch regierten USA, wo es Vergleichbares überhaupt nicht gab, ganz zu schweigen. Nie zuvor hatten die Deutschen einen so hohen Lebensstandard genossen wie in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. Aus einem rückständigen Agrarland war das Kaiserreich in gerade einmal vier Jahrzehnten zur bedeutendsten Industrienation Kontinentaleuropas geworden. International konnte es sich, zum ebenfalls nicht geringen Stolz seiner Bürger, mit Weltmächten wie Großbritannien, den USA oder Russland messen. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs glaubte man zwischen Aachen und Königsberg allgemein, verglichen mit den Bewohnern des russischen Zarenreichs nicht nur in materieller Hinsicht wesentlich besser zu leben, sondern auch über deutlich mehr Rechte zu verfügen. Selbst ein Sozialdemokrat wie August Bebel stimmte dem emphatisch zu. Im Vergleich mit Staaten wie Großbritannien, Frankreich oder den USA sahen die meisten Deutschen dagegen wenig Unterschiede. Ungeachtet aller Differenzen der politischen Verfassung wirkte das Kaiserreich genauso «modern», genauso der Zukunft zugewandt. Zudem schien der weitgehende Rückzug des Monarchen auf rein repräsentative Funktionen, mit dem ein Bedeutungsgewinn des nationalen Parlaments und der öffentlichen Meinung einherging, besonders seit 1908 die Unterschiede zu den parlamentarischen Demokratien des Westens immer weiter zu reduzieren. All das war nicht falsch. Freilich bestimmte nach wie vor eine kleine aristokratische Elite von Berlin aus zumindest die Außenbeziehungen des Deutschen Reiches weitgehend autonom und ohne parlamentarische Kontrolle. Erst recht fehlte, wie die Ereignisse in Zabern noch einmal
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drastisch demonstrierten, immer noch praktisch jede Kontrolle der Zivilgesellschaft über das Militär. Das war am Vorabend des Ersten Weltkrieges nicht allein in Deutschland so. Doch nur noch in Russland und Österreich-Ungarn pflegten Militärs unter dem Deckmantel einer kaiserlichen Kommandogewalt ein vergleichbares Eigenleben und funkten auch in die Außenpolitik hinein. Im Sommer 1914 sollte das weitreichende Konsequenzen haben.
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Die TränenFreiburg, der Charlotte 30. Juli Herder 1914
Charlotte Herder, 1914
Die Tränen der Charlotte Herder
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ach dem Frühstück packte sie die Koffer. Morgen würde Freitag sein, Wochenende, außerdem der letzte Tag im Juli. Die Familie würde in ihr Landhaus im Schwarzwald fahren, wie sie es im Sommer und an Wochenenden tat. Aber dann musste sie wieder daran denken – die Schlagzeile im Extrablatt der Zeitung gestern Abend: «Deutschland stellt Rußland ein Ultimatum.» Dann war sie wieder da, die dunkle Vorahnung. Der Zustand «dumpfer, würgender, erstickender Angst: Krieg – Krieg!» Die schrecklichen Kriegsbilder aus Büchern, aus den Erzählungen ihrer Kindheit. «Dumpfe, drohende Schwüle, Stille vor dem Sturm.» Und sie packte die Koffer wieder aus. Machtlos kam sie sich vor, ratlos und rastlos, wie eine Tigerin im goldenen Käfig. Schließlich raffte Charlotte Herder sich auf, ging in das Zimmer ihrer Tochter und begann «die Puppenstube einzupacken, für die Abreise, für den Krieg, für immer». Elisabeth war 13 Jahre alt, ihre Kindheit ging zu Ende. Bisher hatte Charlotte sich das nicht eingestehen wollen. «Aber jetzt», vertraute sie ihrem Tagebuch an, «brachte ich es fertig, ohne etwas zu denken, fieberhaft arbeitend». Erst als sie zum Schluss die vier Puppen in die Kiste legte «und ganz mechanisch ihre kalten Puppenköpfe an meine Lippen drückte, da überkam es mich mit demselben Schmerz wie damals, als ich sie am Schluß meiner eigenen Spielzeit wegpacken mußte – lebt wohl, ihr geliebten Püppl, lebt wohl für immer! Und leb wohl, du Kindheit meines Kindes, und, wer weiß, leb wohl, mein Haus und Heim und alles – wissen wir denn, was davon übrigbleiben wird, wenn der Krieg wirklich über uns hereinbricht?» Ihr Mann hatte die Zukunft bisher optimistischer gesehen. Als Hermann Herder am Vortag mit dem Auto gekommen war, um sie aus einem Sanatorium am Feldberg abzuholen, hatte er die Ängste seiner Frau zu zerstreuen versucht. Er «gab die Möglichkeit, aber nicht die Wahrscheinlichkeit zu, überhaupt glaubte er wieder zuversichtlicher an den Frieden – ich nicht». Jetzt aber war auch ihm, wie Charlotte registrierte, «die Er-
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kenntnis gekommen». Die katholischen und liberalen Zeitungen brachten Berichte und Bilder von jubelnden Menschenmengen in Berlin. Sozialdemokratische Blätter dagegen sprachen vom «Schwindel der Kriegsbegeisterung» und riefen zu Antikriegsdemonstrationen auf. Überall in der Stadt wurde von nichts anderem als vom Krieg gesprochen, auch auf dem Freiburger Bezirksamt, von dem Hermann Herder am Nachmittag «ganz verstört» zu seiner Frau zurückkehrte. «Einen Augenblick saß er bei mir und war ganz überwältigt von allem, was jetzt auf ihn einstürmte: am dritten Mobilmachungstag würde er sich in Offenburg stellen müssen, bis dahin seine Sachen in Ordnung bringen, sein Haus bestellen und den Verlag, sein Lebenswerk, den anderen übergeben müssen.» Als Reserveoffizier war Hermann Herder trotz seiner fünfzig Jahre im Kriegsfall wehrpflichtig. Wer sollte dann seinen Verlag mit fast 500 Mitarbeitern weiterführen? Während ein Angestellter Uniform und Waffen des Verlegers zusammenpackte, fuhren Hermann und Charlotte Herder zum Notar, um ein Testament aufzusetzen und die Fortführung der Verlagsarbeit im Fall seines Todes zu regeln. Es waren Stunden hektischer Betriebsamkeit. «Kaum hatte man Zeit, zur Besinnung zu kommen. Beim Abendbrot saßen wir bei Tisch und rührten kaum etwas an.» Allein das «Mädele», die Tochter Elisabeth, «konnte noch essen». Vor dem Zubettgehen notierte Charlotte Herder, ihr Mann wirke «ermattet, abgespannt und doch erregt». Sie selbst «war in einem Seelenkrampf, daß ich wie betäubt dasaß». Die Nacht verlief unruhig. «Draußen rasten die Autos vorbei, erregte Menschenmassen strömten hin und her, einmal erhob sich ein furchtbares Geschrei»: Der Hysterie nahe Bürger glaubten einen französischen Spion identifiziert zu haben. Dieser «wurde beim Bezirksamt eingebracht, lange hielt mich das Entsetzen wach über diesen Ausbruch der Volkswut – Gott, wie wird es erst werden im Kriege selbst!»1 Irgendwelche eigenen Kriegserfahrungen hatte Charlotte Herder nicht. Sie war 1872 geboren worden, ein Jahr nach der Gründung des deutschen Nationalstaats. Seitdem hatte sich das Deutsche Reich an keinem europäischen Krieg beteiligt. Die Tochter eines aus Preußen stammenden katholischen Pädagogen und Philosophen, der an der Deutschen Universität in Prag lehrte, wuchs in einem großbürgerlichen Haushalt auf, umgeben von Büchern und Dienstboten. Als Kind half sie an Winterabenden der Köchin der Familie beim Plätzchenbacken, und die aus der
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Gegend von Königgrätz stammende Frau erzählte ihre Erinnerungen vom Kanonendonner, von brennenden Dörfern und den Schlachtfeldern des Krieges von 1866. Mit zehn Jahren las Charlotte ein Buch über die napoleonischen Kriege, das sie tief beeindruckte. Auch die Kindheitserinnerungen ihrer Großmutter an die Jahre 1813 bis 1815 wurde sie «nicht müde immer wieder zu lesen». Diese frühen Eindrücke prägten das Bild des empfindsamen Mädchens vom Krieg als einem «Erlebnis, für das es keine Worte gab, weil das Grauen, das es in mir auslöste, über alle Worte ging».2 Erwachsen geworden, lernte Charlotte 1900 den acht Jahre älteren Hermann Herder kennen und lieben. Sie heiratete ihn und zog nach Freiburg. Dort wurde achteinhalb Monate später die gemeinsame Tochter Elisabeth geboren. Sie sollte das einzige Kind des Paares bleiben. Wie Charlotte war auch Hermann katholisch. Politisch neigten beide zum rechten Flügel der Zentrumspartei, die in Freiburg stramm antisozialistisch eingestellt war. Charlotte war zudem glühende Monarchistin. Wie sie stammte auch ihr Mann aus dem wohlhabenden und gebildeten Großbürgertum. Der von ihm in dritter Generation als Familienbetrieb geführte Verlag war auf katholische Theologie, Lexika und Sachbücher spezialisiert. Obwohl ungemein belesen und klug, hatte Charlotte an der Verlagsarbeit keinen Anteil. Als Frau aus «gutbürgerlichen» Verhältnissen wurde von ihr erwartet, sich ausschließlich Haushalt und Familie zu widmen. Das entsprach auch durchaus ihrem eigenen Selbstverständnis. In einem großen Haus mit Dienstboten blieb ihr allerdings außer deren Anleitung kaum etwas zu tun. So konzentrierte sie sich auf die Sorge um ihre einzige Tochter, das «Elisabethle». Ein Engagement in karitativen Vereinen, das mit dem konservativen Frauenbild ihrer Zeit vereinbar gewesen wäre, lag ihr nicht besonders. Auch die Pflege von Freundschaften und Bekanntschaften fiel ihr schwer. Denn so humorvoll sie sein konnte, litt sie doch unter extremer Wetterfühligkeit und Stimmungsschwankungen. Manchmal fühlte sie sich «von Schwermut wie zusammengepreßt». In solchen Phasen scheute sie den Kontakt zu anderen Menschen, zog sich in sich selbst zurück wie in ein Schneckenhaus.3 Im Juli 1914 laborierte sie an einer schweren Bronchitis, die wieder mit einer solchen depressiven Stimmung einherging. Dass ihr Mann sie auf Anraten eines Arztes zur Behandlung fürsorglich in das Sanatorium
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am Feldberg brachte, verschlimmerte diesen Zustand nur noch. Als er wieder gefahren war, begann für sie «eine einsame Zeit». Sie wich den anderen Patienten aus, sprach auch beim Essen mit keinem und litt doch unter dem Alleinsein. Am ersten Tag ging sie bei hellem Sonnenschein wandern, fand sogar einen alten Lieblingsplatz, fühlte sich aber selbst dort «matt und krank und traurig». Dann zog Nebel auf, und sie verfiel vollends in trübsinnige Stimmung. Einen knappen Monat zuvor waren der österreichische Thronfolger und seine Frau in Sarajevo einem Attentat serbischer Nationalisten zum Opfer gefallen. Am 24. Juli brachten die Zeitungen die Meldung von einem Ultimatum, das Österreich-Ungarn deswegen an Serbien gestellt hatte. Am Abend des nächsten Tages, als die serbische Regierung ausweichend antwortete und die Österreicher darauf mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen und einer Mobilmachung ihrer Armee reagierten, erinnerte Charlotte Herder sich wieder an einen «seltsamen Traum», den sie eine Woche zuvor geträumt hatte. In dem Traum war sie mit ihrem Mann und ihrer Tochter Elisabeth zusammen gewesen, «im Freien, an einem köstlich gedeckten Teetisch. Ringsum war eine wundervolle Landschaft, eine bläulich dämmernde Bergkette zog sich am Horizonte hin, und die ganze Gegend war in freundliches Sonnenlicht getaucht. Trotzdem lag eine bange Stimmung über uns.» Eine militärische Auseinandersetzung schien bevorzustehen, für die Hermann Herder nur unzureichende Vorbereitungen getroffen hatte. Dann erschütterten «ein paar dumpfrollende Schüsse, dass die Teetassen klirrten», die vermeintliche Idylle – und Charlotte fand sich plötzlich in der Bibliothek ihres Prager Elternhauses wieder, wo sie als Kind über die napoleonischen Kriege gelesen hatte, mit Elisabeth verschanzt «hinter einem alten Sofa, in das unaufhörlich Flintenkugeln schlugen». Ihr mit einem blanken Säbel bewaffneter Mann kam bleich hineingestürzt und erklärte, es sei «alles verloren». Sie warf sich in seine Arme und beschwor ihn zu kapitulieren, «aber Hermann fuhr mit dem Säbel durch die Luft und stieß wild hervor: ‹Dann fallen wir alle bis zum letzten Mann, ergeben tun wir uns nicht!› Laut aufschluchzend umklammerte ich noch einmal seinen Hals, da schüttelte er mich jählings ab und – ich erwachte.» Ihr Mann und ihre Tochter, denen sie den Traum damals erzählt hatte, hatten darüber gelacht. Als die beiden am nächsten Tag, dem 26. Juli,
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Charlotte in dem Sanatorium besuchten, war ihnen nicht mehr zum Lachen zumute. Angesichts der Nachricht von der österreichischen Mobilmachung hatten Hermann und Elisabeth in Freiburg kaum ein Auge zugetan, «wegen der furchtbaren Erregung über die politische Spannung, die alle Menschen in Atem hält und die sich in nächtlichen Umzügen und Kundgebungen Luft macht». Noch, notierte Charlotte in ihrem Tagebuch, sei «das letzte Wort über einen Krieg nicht gesprochen, aber es ist, als würde er seine gespenstischen Schatten schon drohend vorauswerfen, und mit Bangen schaut alles in die Zukunft».4 Nachdem sich die «Spannung» am Abend des 25., einem Samstag, in Freiburg auf den Straßen lautstark «Luft» gemacht hatte, blieb es dort in den nächsten Tagen ruhig. Umso erregter wurde in den Spalten der Presse darüber diskutiert, wie Deutschland sich angesichts der drohenden Kriegsgefahr auf dem Balkan verhalten sollte. Dann erklärte ÖsterreichUngarn am 28. Juli Serbien den Krieg. Die SPD rief deshalb für den Abend des Tages zu deutschlandweiten Demonstrationen gegen die drohende Gefahr eines großen europäischen Krieges auf. In Freiburg fand eine solche Versammlung in geschlossenen Räumen statt. Sie wurde begleitet von verbalen wie handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen Teilnehmern und Störern. Am Ende nahm die Versammlung eine Resolution an gegen den Krieg und für die sofortige Einberufung des Reichstags, der sich in der Sommerpause befand. 24 Stunden später, am Abend des 29. Juli, verbreitete sich die Nachricht von einer Mobilmachung Russlands. Weil diese offensichtlich gegen Österreich-Ungarn gerichtet war, stellte sich damit nun deutlicher als zuvor die Frage, ob Deutschland sich auf Seiten der österreichischen Verbündeten in den Konflikt hineinziehen lassen würde. Für Charlotte Herder fiel die Meldung von der russischen Mobilmachung «in unsere schwüle Stimmung wie eine Bombe». Die Menschen um sie herum nahmen die Nachricht mit großer Sorge auf: «Überall schreckensbleiche Gesichter und aufgeregte Unterhaltungen.» Sie selbst wurde davon in geradezu panische Stimmung versetzt: «Über uns werden die Schrecken des Krieges kommen, über uns, die wir so nahe der Grenze sind, und wo werde ich die Kraft nehmen, sie zu ertragen, wenn ich jetzt schon bei dem bloßen Gedanken daran vom Wahnsinn der Angst gewürgt werde?»5 Während die bürgerliche Verlegersgattin ihrem persönlichen Naturell entsprechend ihre Ängste für sich behielt, riefen andere dazu auf,
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eine deutsche Kriegsbeteiligung aktiv zu verhindern. Am 30. Juli druckte das Blatt der Freiburger Sozialdemokraten, die Volkswacht, einen Artikel von Rosa Luxemburg. Die auf dem linken Flügel der SPD stehende Luxemburg war im Frühjahr vor mehreren Tausend Menschen in der Stadt aufgetreten. Damals hatte sie bereits angekündigt, die Sozialdemokratie werde es durch Massenstreiks zu verhindern wissen, wenn die Reichsleitung Deutschland in einen Krieg führen wolle. Nun rief Luxemburg dazu auf, «eine nachdrückliche Massenaktion gegen den Krieg zu organisieren. Den Regierungen und den herrschenden Klassen muß gezeigt werden, daß heutzutage ohne das Volk und gegen das Volk keine Kriege mehr geführt werden können.» Viele wurden aus Angst vor dem Krieg auf ganz andere Weise aktiv. Schon seit der österreichischen Mobilmachung hatten die Freiburger begonnen, in den Lebensmittelläden die Regale leer zu kaufen. Durch die Hamsterkäufe stiegen die Preise in den letzten Julitagen steil an. Deshalb wurde bald auch in großem Umfang Bargeld abgehoben. Erklärungen der Stadtverwaltung und in Zeitungen, «daß ein Anlaß zur Beunruhigung nicht vorliegt», zeigten wie überall in Deutschland keine Wirkung. Der Freiburger Stadtchronist vermerkte, dass der «Sturm auf die Sparkassen, die Banken und die Lebensmittelgeschäfte» unverändert weiterging. Nachdem zunächst vor allem bürgerliche Hausfrauen vom «Kriegsfieber» erfasst wurden, steckte dieses bald alle Verbraucher an. Die Menschen begannen, sich wie in «Festungen auf jahrelange Belagerung» einzustellen. Die sich verdichtende Aussicht auf eine deutsche Beteiligung am Krieg erfüllte die meisten Menschen vor allem mit Sorge und Angst. Das wird neben Charlotte Herders Aufzeichnungen, der Reaktion der Sozialdemokraten und der Verbraucher noch durch ein anderes Tagebuch nahegelegt. Am 30. Juli, als Herder die schon gepackten Koffer wieder auspackte, weil sie vom «Wahnsinn der Angst» vor einem kommenden Krieg erfüllt wurde, entschied sich auch die Freiburger Familie Paufler, ihren unmittelbar bevorstehenden Urlaub abzublasen. Hermine Paufler notierte dazu: «Da Österreich Serbien den Krieg erklärt hat, liegt die deutsche Mobilmachung gewissermaßen in der Luft, obwohl man sich bis jetzt bemüht, den Frieden zu erhalten. Ein schwerer Alp liegt auf der Menschheit; was wird uns die nächste Zeit bringen?»6 Die Antwort auf diese Frage kam schnell. Kurz nach 15 Uhr traf am
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nächsten Tag die Anweisung aus Berlin ein, den Kriegszustand zu erklären. Das geschah durch Extrablätter, Aushänge und Transparente an den Verlagshäusern der Zeitungen, vor denen viele gespannt auf Neuigkeiten gewartet hatten. Auf öffentlichen Plätzen verschafften sich der Freiburger Polizeichef und Offiziere der Armee durch ein Trompetensignal Aufmerksamkeit und verlasen dann die Nachricht. Viele der mehr als 2500 Ausländer, die sich in Freiburg aufhielten, hatten die Universitätsstadt schon im Laufe des Tages verlassen. Als der «Zustand drohender Kriegsgefahr» öffentlich verkündet wurde, kam es zu einem wahren Exodus. Charlotte Herder, die einen Verwandten zum Bahnhof brachte, empfand das Gedränge dort als «unbeschreiblich, Unmassen Ausländer reisten ab, eine Französin stand in unserer Nähe, mit höhnischen, haßerfüllten, triumphierenden Augen sah sie uns an, ‹Revanche› stand darin geschrieben, ‹Revanche!›» Diese Wahrnehmung war offensichtlich durch stereotype nationalistische Feindbilder geprägt. Ohne ein Wort mit der französischen Frau gesprochen zu haben, wollte Charlotte Herder in deren Augen glühende Rachsucht erkannt haben. Ihr Nationalismus brachte Herder aber keineswegs dazu, einen Krieg mit Frankreich zu begrüßen. Im Gegenteil hoffte sie immer noch darauf, dass die Krise vorbeigehen und der Frieden bleiben würde. Pressemeldungen schürten diese Hoffnung. Am 1. August saß Charlotte Herder neben ihrem arbeitenden Mann im Verlagskontor, «und in der tiefen Stille wollte es mir fast scheinen, als sei alles nur ein Traum. Nachrichten aus Paris hatten Friedensgerüchte gebracht, vielleicht ging das Unglück an uns vorüber?» Sie «schloß die Augen, und allerlei Träume und Vorstellungen tauchten auf – es wird doch noch Frieden bleiben, und der Heißgeliebte darf bei uns bleiben, wir werden zusammen reisen und glücklich sein, ach wie unendlich glücklich!» Auch angesichts des schönen Wetters schien die Möglichkeit eines Krieges irgendwie irreal: «Klar und strahlend brechen die Tage jetzt immer an. Wenn man den goldenen Sonnenschein, den klaren blauen Himmel sieht, dann faßt man es nicht, daß zwischen Himmel und Erde so Furchtbares geschehen soll.» Doch dann wurden die hoffnungsvollen Tagträume unter blauem Himmel jäh unterbrochen. Abends um 19 Uhr verkündeten Extrablätter und in der Stadt angeschlagene Plakate die allgemeine militärische Mobilmachung Deutschlands. Parallel dazu erfolgte die deutsche Kriegs-
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erklärung an Russland. Erschüttert notierte Charlotte Herder in ihr Tagebuch: «Also doch, also doch, allmächtiger Gott –!» Am folgenden Tag liefen statt Friedensgerüchten ganz andere, «schreckliche Gerüchte» in der Stadt um: «Es wimmle von Spionen, der Viadukt der Höllentalbahn sei durch eine russische Studentin um ein Haar in die Luft gesprengt worden und die Brunnen Freiburgs seien vergiftet!!» Zwar ließ das Bezirksamt auf Flugblättern und Plakaten erklären, das Leitungswasser in der Stadt sei keineswegs mit Cholerabazillen verseucht. Hermann und Charlotte Herder glaubten das Gerücht auch nicht. Aber verunsichert waren sie doch. Beim Essen erlaubte Hermann der gemeinsamen Tochter deshalb nicht, Wasser zu trinken. Galt die Hauptsorge des Vaters der Tochter, galt die der Ehefrau ihrem Mann. Schon nachdem Charlotte am 30. Juli realisiert hatte, dass Hermann als Reserveoffizier in den Krieg ziehen musste, wenn es «zu dem Entsetzlichen» kam, war ihr «wie in einem bösen, schweren Traum zumute» gewesen. Jede freie Minute hatte sie seitdem mit ihm verbracht. Am Nachmittag des 2. August saß sie wieder an seiner Seite im Verlagskontor, «Hermann schrieb unaufhörlich, und ich tat nichts als ihn ansehen und fühlen: ich bin bei ihm!» Als er sich mit Angestellten besprechen musste, ging sie in sein Zimmer, um auszuruhen. Doch vor innerer Unruhe war sie unfähig, still zu sitzen. «Immer jagte es mich wieder auf, ich mußte auf dem Boden knien und die Stirn auf die Kante des Stuhls pressen und die Hände ringen und beten, beten aus der Tiefe des Herzens: Herr, dein Wille geschehe, ich gebe ihn dir ganz, dir und dem Vaterland, ich behalte ihn nicht zurück für mich, mit keinem Gedanken! Es war ein Kampf in meiner Seele, daß mir die kalten Tropfen auf der Stirne standen, aber in dieser Stunde habe ich den ersten Schritt getan, das Opfer zu bringen.»7 Charlotte Herder sollte sich später an diesen Augenblick wiederholt als ihren «Ölbergmoment» erinnern. Die gläubige Katholikin verglich ihre Lage also mit der von Jesus am Vorabend seiner Kreuzigung. Nach dem Evangelium des Matthäus hatte Jesus am Ölberg in Jerusalem «zu Tode betrübt», aber schließlich «Traurigkeit und Angst» überwindend die ihm von Gott zugewiesene Opferrolle angenommen.8 Auch sie rang sich nun subjektiv dazu durch, ein «Opfer» zu bringen – ihren Mann. Dass ihr dieses Opfer alles andere als leichtfiel, zeigt schon das religiöse Bild, mit dem sie es charakterisierte. Die Verbindung von Religion
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und «Vaterland» war dabei nicht außergewöhnlich. Unter deutschen Protestanten seit Langem üblich, hatte sie sich mit der Nationalisierung der Katholiken auch bei diesen längst als Norm etabliert. Die Angst, männliche Angehörige in dem bevorstehenden Krieg zu verlieren, wurde durch die religiöse Sinngebung zwar nicht verringert, aber doch erträglicher. Während der letzten Julitage und Anfang August 1914 registrierten evangelische Pfarrer wie katholische Priester plötzlich in ganz Deutschland rappelvolle Kirchen und Gottesdienste. Auch für die Herders, die regelmäßige Kirchgänger waren, gewann die Praktizierung religiöser Rituale in diesen Tagen noch an Bedeutung. Am 31. Juli hatten sie frühmorgens die jährliche Messe für Hermanns verstorbene Eltern besucht, «wie gewöhnlich – aber mit welchen Gefühlen!» In den vier Augusttagen, die bis zur Abreise ihres Mannes zu seiner Garnison blieben, verzeichnete Charlotte Herder in ihrem Tagebuch einen Beichttermin und zwei weitere Gottesdienstbesuche mit der gesamten Familie, dazu immer wieder Andachten und Gebete, ob gemeinsam mit Mann und Tochter oder allein, wie bei ihrem «Ölbergmoment» am Nachmittag des 2. August. Danach fühlte sie sich kurzzeitig befreit. Ja, sie verfiel schon fast in eine wenn auch stumme Euphorie. Den Abend verbrachte sie mit Mann und Tochter im Garten, «wir sprachen nicht viel miteinander, wir wußten nur: wir sind noch zusammen, heute und morgen noch. Bei dem Gedanken an den Abschied schlug der Schmerz wie eine große, steile Flamme in mir empor, aber immer wieder trat das stille, selige Glück dazwischen: heute haben wir uns noch, heute noch und morgen!» Vor dem Schlafengehen schrieb sie sogar in ihr Tagebuch: «Niemals in meinem Leben bin ich, wenn auch nur für kurze Zeit, so unaussprechlich glücklich gewesen wie heut an diesem Abend.» Am Vormittag des 3. August, dem Tag der deutschen Kriegserklärung an Frankreich, betäubte Charlotte Herder sich durch hektische Aktivität und registrierte, «wie die Arbeit gut tat». Um Platz für die erwartete Einquartierung von Militär in ihrem großen Haus zu schaffen, ließ sie die Wohnetage im Erdgeschoss ausräumen, dort Betten aufstellen und die beiden Dienstmädchen vom Dachstuhl in die Gästezimmer der Familie umziehen. Dennoch klammerte sie sich wie viele andere Freiburger an die ebenso verzweifelte wie unrealistische Hoffnung, die Feindseligkeiten könnten doch noch aufgehalten werden. Während bereits deutsche Truppen in Belgien einmarschierten, um die französischen
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Grenzbefestigungen zu umgehen, notierte sie, es seien «aus Paris wieder Friedensgerüchte gekommen, infolgedessen allgemeine Hochgefühle». Oder aber die Kämpfe würden nicht lange dauern – «nach ein paar tüchtigen Zusammenstößen ist der Krieg vielleicht wieder zu Ende». Am Nachmittag wurde sie auf den tristen Boden der Realität zurückgeholt. Ihren Mann suchend, durchstreifte sie das «leer und ausgestorben» wirkende Haus, als sie vom Hof des angrenzenden Verlagsgebäudes plötzlich «dumpfbrausend ein dreimaliges Hoch» hörte. «Wie der Blitz» rannte sie hin und platzte in eine Versammlung aller Mitarbeiter des Verlags. «Hunderte von Menschen standen im Hof beisammen, ihnen gegenüber stand Hermann in feldgrauer Uniform, den Helm in der Hand, und richtete seine Abschiedsworte an sie. Dann traten sie einzeln an ihn heran, und jeder schüttelte ihm die Hand. Die meisten weinten.» Nach der Abschiedsfeier, die ihren Mann «bewegt» und sie selbst «wie erstarrt» zurückließ, versuchte Hermann ihr noch Mut zuzulächeln. Später am Abend aber, bei dem letzten gemeinsamen Nachtgebet der Familie, bekam seine bisher mühsam bewahrte Fassung Risse: «Mehrmals blieb Hermanns Stimme aus, und dann sah ich Tränen an seinen Wimpern hängen, auch Mädele versagte hier und da, nur ich konnte immer weiterbeten, denn ich weiß, daß ich nicht weinen darf, solange er da ist – erst nachher.» Lange musste Charlotte Herder ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Nach einer unruhigen kurzen Nacht graute schließlich «der Tag» – der dritte nach der deutschen Mobilmachung, an dem sie ihr «Opfer» zu bringen hatte. Früh am Morgen besuchte sie mit Hermann noch einmal eine katholische Messe. Dann setzte die Familie sich zum Frühstück hin. Aber «niemand konnte etwas essen». Stattdessen fing erst die Tochter, dann der Vater an zu weinen. Auch Charlotte kämpfte mit den Tränen: «Ich biß die Zähne aufeinander, aber schon legte sich ein Schleier auch über meine Augen – ich wußte es, lange kann ich mich auch nicht mehr halten. Dann war alles soweit, vor der Küchentür standen die Mädchen, vor dem Hause hielt das Auto. An der Haustür ein letzter Kuß, ein letztes Winken aus dem Wagen, und fort war er. Ganz langsam kehrten Elisabethl und ich um, still und schwer gingen wir die Treppe hinauf in die leere Wohnung, im öden Wohnzimmer setzten wir uns aufs Sofa – und die Welt verging in Tränen.»9
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Die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs wird oft als die Eskalation einer Krise erzählt, die am 28. Juni 1914 mit dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau Sophie in Sarajevo begann. Aus der Rückschau betrachtet, spricht dafür vieles – nicht zuletzt das Bedürfnis nach einer linearen Erzählung, die Ordnung in eine schwer überschaubare Vielzahl von Schauplätzen, Ereignissen und oft auch gegenläufigen Entwicklungen bringt. Schon in später verfassten Erinnerungsberichten von Zeitgenossen figurieren die Schüsse von Sarajevo als ein böses Omen, das den Weltkrieg unweigerlich heraufbeschwor. So schrieb etwa der Historiker Friedrich Meinecke, der 1914 an der Freiburger Universität lehrte, in drei Jahrzehnte später veröffentlichten autobiographischen Aufzeichnungen über seine erste Reaktion auf die Nachricht von dem Attentat: «Sofort wurde mir schwarz vor Augen. Das bedeutet Krieg, sagte ich mir.»10 Autobiographien sind freilich sehr problematische Quellen. Gerade Historiker wissen das – was sie nicht immer davon abgehalten hat, selbst welche zu schreiben. Wie weit bei Friedrich Meinecke das Wissen um den Beginn des Weltkrieges einen guten Monat danach die spätere Erinnerung an den Tag des Attentates beeinflusste, muss offenbleiben, denn ein Tagebuch hat Meinecke nicht geführt. In überlieferten Tagebüchern der Zeit werden die Schüsse von Sarajevo jedenfalls, wenn überhaupt, nur beiläufig erwähnt. Am Morgen des 29. Juni 1914 war davon zwar in allen Freiburger Zeitungen zu lesen. Ein Kollege Meineckes an der Universität, der politisch sehr interessierte Theologieprofessor Engelbert Krebs, notierte an diesem Tag jedoch nur Persönliches in seinem Tagebuch – die Teilnahme an einem Gottesdienst, Besuche von Freunden und Bekannten, einen Spaziergang «mit Tante Käthe zum Friedhof» und danach eine Autofahrt, bei der er die «schöne Abendlandschaft» bewunderte. Im Tagebucheintrag der Freiburgerin Hermine Paufler dominiert die Schilderung eines sommerlichen Familienausflugs; erst am Ende registrierte die Schreiberin knapp «Entsetzen über die Ermordung des österreichischen Thronfolgers». Bis Ende Juli ist in beiden Tagebüchern dann von den internationalen Verwicklungen infolge des Attentats oder gar einer dadurch drohenden Kriegsgefahr nicht die Rede.
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Zahlreiche Deutsche fingen wie Charlotte Herder zu Beginn des Ersten Weltkriegs an, regelmäßig Tagebuch zu schreiben. Oft begannen die Autoren ihre Darstellung damit, in welcher Situation sie von dem Attentat in Sarajevo hörten. Fast immer handelte es sich dabei aber um nachträglich gemachte Aufzeichnungen, denen die Funktion einer Einleitung zu den tatsächlich erst Ende Juli oder Anfang August 1914 begonnenen täglichen Notizen zukam. Typisch ist die Formulierung der Frau eines Düsseldorfer Juristen, die mit Verwandten «gemütlich im Gartenhäuschen beim Kaffee» saß, als die Nachricht sie erreichte: «Dass die Tat schwere Folgen habe, konnte man wohl denken, wie schwer, ahnten wir jedoch noch nicht.»11 Je länger das Ereignis dann allerdings zurücklag, desto zwangsläufiger erschien die Entwicklung. So meinte Charlotte Herder sich 1917 erinnern zu können, «sofort den Weltkrieg prophezeit» zu haben, als «die Nachricht von der Ermordung des österreichischen Thronfolgers» eintraf.12 In ihrem 1914 geführten Tagebuch findet sich davon freilich nichts. Hier thematisierte sie eine drohende Kriegsgefahr erst in der letzten Woche des Juli, nach der österreichischen Mobilmachung gegen Serbien. Auch den kafkaesken Albtraum, den sie Tage zuvor geträumt hatte, brachte sie erst jetzt mit Angst vor einem Krieg in der realen Welt in Verbindung. Bis dahin war ihre «Julikrise» eine ganz persönliche gewesen, hervorgerufen durch ihre schwere Bronchitis und die damit einhergehende depressive Stimmung. Bei den meisten Menschen war das Interesse an dem Anschlag von Sarajevo und der internationalen Lage bis Ende Juli ähnlich gering. Während Charlotte Herder mit ihren persönlichen Dämonen kämpfte, genossen die meisten Deutschen den Sommer. Das gehobene Bürgertum fuhr an die See oder in die Berge, wo in den Kurorten «über die äußere Politik überhaupt nicht gesprochen» wurde. Industriearbeiter gingen zumindest an den Wochenenden wandern oder vergnügten sich im Freibad. Die Landbevölkerung begann mit der Ernte. In Freiburg feierten die Studenten der Universität das Ende des Sommersemesters, bevor sie für die vorlesungsfreie Zeit zu ihren Familien in ganz Deutschland zurückkehrten. Dafür strömten Touristen in die Stadt. Die Freiburger Geschäfte begannen ihren alljährlichen «Saison-Ausverkauf». Stadtrat und Bürgerausschuss berieten über die Erweiterung einer Straßenbahnlinie und die Neuvergabe von Ämtern. Selbst das Militär vor Ort war vorran-
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gig mit der Vorbereitung und Ausrichtung von Feiern beschäftigt: Am 20. Juli veranstaltete das in Freiburg stationierte Infanterieregiment ein Militärkonzert mit «bengalischer Beleuchtung» und «brillantem Feuerwerk»; der Reservistenverein plante für den 1. August ein Waldfest; und am 24. Juli, dem Tag nach dem österreichischen Ultimatum an Serbien, wurde in den Lokalzeitungen bekanntgegeben, dass die feierliche Entlassung der ihre Dienstzeit beendenden Wehrpflichtigen aus den Kasernen Ende September stattfinden solle.13 An politische Attentate auf Staatschefs und Fürsten war man in Europa seit Langem gewöhnt. Während 1878 die Nachricht von den Anschlägen auf Kaiser Wilhelm I. die Deutschen elektrisiert hatte, wurden ähnliche Ereignisse mittlerweile in der Öffentlichkeit nur noch routinemäßig zur Kenntnis genommen. Und seit Menschengedenken hatte keines dieser Attentate einen Krieg ausgelöst. Auch mit internationalen diplomatischen Krisen hatten die Menschen in den letzten Jahren Erfahrungen gemacht, die sie 1914 lange in Sicherheit wiegten. Bei der ersten Marokkokrise 1905 / 06, «als die Gerüchte vom drohenden Krieg durch die Luft schwirrten und wir tagelang von nichts anderem sprechen konnten», war das nach Charlotte Herders Aufzeichnungen noch anders gewesen. Dann folgte 1908 / 09 die Bosnienkrise, 1911 die zweite Marokkokrise und 1912 /13 eine langandauernde Balkankrise, während der ihre Familie und Freunde zunächst erneut «von nichts anderem sprachen als vom möglichen Krieg». Doch wie die früheren internationalen Krisen konnte auch diese auf diplomatischem Weg entschärft werden. Wieder kam es nicht zu dem befürchteten Ausbruch von Feindseligkeiten zwischen den europäischen Großmächten. 1914 herrschte deshalb weithin die Auffassung, diplomatisches Krisenmanagement und internationale Konferenzen würden diesmal ebenfalls die Situation bereinigen. Da das Attentat von Sarajevo zunächst keine weiteren politischen Konsequenzen zu haben schien, wandte auch der Großteil der Presse sich schon bald nach dem 28. Juni wieder anderen Themen zu.14 Sogar in Österreich-Ungarn ging die Öffentlichkeit nach einer Welle der Erregung Anfang Juli wieder weitgehend zur Tagesordnung über. In Deutschland erklärten Repräsentanten von Arbeitgebern wie Arbeitnehmern angesichts der engen wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen den europäischen Mächten einen Krieg für unwahrscheinlich. Nicht nur
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sozialdemokratische Zeitungen nahmen auch nach dem österreichischen Ultimatum an Serbien weiterhin an, die drohenden «Kriegswolken» würden «sich noch einmal verziehen». In bürgerlichen Kreisen konnte man sich «nach den langen Friedenszeiten» die Beteiligung des Deutschen Reiches an einem Krieg ebenso selten vorstellen. Selbst noch nach der allgemeinen Mobilmachung Österreich-Ungarns und Russlands notierte eine Lehrerin, die am letzten Julitag ihren Urlaub abbrach und mit dem Zug nach Hause fuhr, über die Stimmung unter den Reisenden: «Ernsthaft schien noch keiner zu glauben, daß es wirklich zum Kriege kommen würde.» Auf dem platten Land registrierte am gleichen Tag ein Dorfchronist in der Nähe von Ulm: «Zwar schreiben die Zeitungen schon eine Woche lang von drohender Kriegsgefahr, aber wenige nur glauben an den Ernst der Lage. Erlebten wir doch solche Spannungen öfters die letzten Jahre, ohne daß es zum Krieg kam.»15 Die Vorstellung, dass die deutsche Reichsleitung und die Regierungen der anderen europäischen Mächte im Juli 1914 unter dem Druck kriegsbegeisterter nationaler Öffentlichkeiten handelten, lässt sich deshalb getrost ins Reich der zahlreichen Geschichtsmythen über den Beginn des Ersten Weltkriegs verweisen. Zwar spielten für das Handeln der jeweiligen Entscheidungsträger auch innenpolitische Erwägungen eine gewisse Rolle. Diese waren allerdings gegenüber der Einschätzung außenpolitischer Gefahren und Möglichkeiten zweitrangig. Für die Staatsmänner im Deutschen Reich, in Österreich-Ungarn, Frankreich, Russland und Großbritannien war es vor allem die Wahrnehmung ihrer Gegenüber in den anderen großen europäischen Hauptstädten, die ihr Verhalten bestimmte. Alle nahmen sich dabei weniger als selbständig Handelnde denn als Getriebene wahr: Subjektiv reagierten sie mehr, als dass sie aus freien Stücken agierten. Selbst wo man wie in Berlin darauf hoffte, eine «Einkreisung» aufzubrechen, geschah das aus dem Eindruck heraus, dazu durch die Gegner gezwungen und jeder Alternative beraubt zu sein. Letzten Endes war das entscheidende Handlungsmotiv überall die nagende Furcht vor einem Verlust von Verbündeten, vor der Isolation, in der das eigene Land einer Welt von Feinden schutzlos ausgeliefert sein würde. Darin erschöpften sich freilich die Gemeinsamkeiten. Denn in einigen der europäischen Hauptstädte beeinflussten vermeintliche militärische Sachzwänge den Gang der Entscheidungen, in anderen nicht. In
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manchen hielt man Angriff für die beste Verteidigung, in manchen wartete man lieber die Schritte der Gegenseite ab. Und in jeder Hauptstadt waren die imaginierten oder tatsächlichen Bedrohungen andere. Jede der Regierungen der europäischen Großmächte durchlebte so ihre eigene Julikrise. Die erste der Entscheidungen, die schließlich in ihrem Zusammenwirken zum Weltkrieg führen sollten, fiel in Wien. Die Führung des Habsburger-Vielvölkerreiches sah sich seit Langem durch die nationalen Strömungen der Zeit bedroht. In einem Europa der Nationalstaaten war Österreich-Ungarn, wie selbst sein Kaiser Franz Joseph grantelnd meinte, «eine Anomalie». Zwar hatten die Habsburger sich dazu bequemt, die Macht mit den Ungarn zu teilen und diesen Autonomie zuzugestehen. Andere Nationalitäten in Franz Josephs Reich betrachteten sie jedoch nach wie vor als Unruhestifter. Besonders galt das für die slawischen Völker auf dem Balkan. Die größte Gefahr für den Zusammenhalt des habsburgischen Reiches schien 1914 von der panslawischen Bewegung auszugehen, die durch Serbien und dessen Schutzmacht Russland unterstützt wurde. Den Anschlag auf den eigenen Thronfolger begrüßten einflussreiche Kräfte in Wien deshalb insgeheim sogar. Denn er bot einen willkommenen Vorwand, dieser Gefahr endlich energisch zu begegnen. Wenn auch nicht die Regierung Serbiens als solche hinter dem Attentat stand, so waren doch hohe serbische Beamte an seiner Vorbereitung beteiligt gewesen. Unter den österreichischen Militärs und im Wiener Außenministerium hatte man seit Langem auf eine günstige Gelegenheit gewartet, gegen die «Störenfriede» in Belgrad vorzugehen – jetzt schien sie gekommen. Eine «Strafexpedition» gegen Serbien sollte die von diesem beförderte Unruhe unter den slawischen Nationalitäten in ÖsterreichUngarn vermindern. Und sie sollte die Position des mit Serbien verbündeten Rivalen Russland auf dem Balkan schwächen. Der österreichische Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf plädierte bereits am Tag nach den Schüssen von Sarajevo dafür, allenfalls der Form halber noch Verhandlungen mit Serbien zu eröffnen: Deren programmiertes Scheitern könne dann immerhin ein militärisches Losschlagen vor der internationalen Öffentlichkeit rechtfertigen – denn «zu wirken vermag nur die Gewalt». Nach mehr oder weniger Zögern stimmten die Politiker in Wien schließlich zu. Die Ermordung des Thron-
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folgers hatte den engagiertesten Befürworter eines Ausgleichs mit den slawischen Bevölkerungsgruppen in der Regierung beseitigt und damit Hardliner wie Hötzendorf gestärkt. Ein Krieg gegen Serbien, glaubten diese, werde im Innern wie nach außen «zu einer Gesundung Österreichs» führen. Allerdings musste damit gerechnet werden, dass die geplante «Strafexpedition» gegen den Balkanstaat ein Eingreifen Russlands provozierte. Dem Zarenreich aber war Österreich-Ungarn allein nicht gewachsen. Die Wiener Regierung versuchte sich deshalb vorab deutscher Unterstützung zu versichern. In der Balkankrise von 1912 /13 hatte das Deutsche Reich die Österreicher, die damals bereits zu militärischem Vorgehen neigten, zurückgehalten. Die Tendenz der Berliner Politik, auf Konfliktlösung durch Konferenzen und internationale Entspannung zu setzen, wurmte in Wien immer mehr. Manche zweifelten dort schon an der Zuverlässigkeit des deutschen Bündnispartners. Angesichts der offensichtlichen Verwicklung serbischer Offizieller in das Attentat von Sarajevo standen jetzt jedoch die Chancen gut, Berlins Unterstützung für einen offensiven Kurs zu gewinnen.16 In Deutschland war das Echo auf die Anfrage aus Wien durchwachsen. Generalstabschef Helmuth von Moltke hatte bereits 1912 einen Krieg gegen Russland und Frankreich für unvermeidlich erklärt. Da Russland noch nicht sein volles militärisches Potential erreicht habe, drängte Moltke im Mai 1914 erneut darauf, diesen Krieg gemeinsam mit dem Verbündeten Österreich-Ungarn so bald wie möglich zu beginnen. Allerdings war das vor den Schüssen von Sarajevo. Und möglicherweise meinte der Generalstabschef es auch gar nicht wirklich ernst. Vielleicht wollte er mit seinen Kassandrarufen nur einmal mehr den Forderungen Nachdruck verleihen, das Heer stärker aufzurüsten, die er seit 1912 kontinuierlich erhob. Jedenfalls hatten deutsche Militärs in den letzten Jahrzehnten schon viele Male einen Präventivkrieg gegen Frankreich, Russland oder alle beide gefordert. Gekommen war es dazu bisher aber noch nie. Auch 1914 rechneten sie zunächst offenbar nicht damit. Am Tag des Attentats reiste Moltke aus Berlin nach Karlsbad zur Kur, ohne sich von dort in die Verhandlungen mit den Österreichern einzuschalten. General Erich von Falkenhayn, der preußische Kriegsminister, erklärte auf Anfrage Wilhelms II. Anfang Juli, Deutschland sei natürlich kriegsbereit.
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Dann fuhr auch er in Urlaub. Erst nach dem österreichischen Ultimatum an Serbien kehrten Kriegsminister und Generalstabschef in der letzten Juliwoche nach Berlin zurück. Weil der Kaiser am 6. Juli ebenfalls zu seiner alljährlichen Nordlandkreuzfahrt aufbrach, hielt allein Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg in Berlin die Stellung. Bethmann war ein vorsichtiger Konservativer. Er teilte nicht die Ansicht des Vorsitzenden der Deutschkonservativen Partei, der sich von der Beteiligung an einem großen europäischen Krieg eine «Stärkung der patriarchalischen Ordnung» versprach. Vielmehr erkannte er hellsichtig, dass von einem solchen Waffengang «eine Umwälzung alles Bestehenden» zu erwarten sei. Auch die Zukunft der Monarchie stehe dann auf dem Spiel.17 Bethmann glaubte zudem, ein Krieg könne wie bei früheren Konfrontationen der Großmächte verhindert werden. Darin wurde er besonders durch die Erfahrung des erfolgreichen Krisenmanagements bestärkt, das Deutschland im Zusammenwirken mit Großbritannien auf dem Balkan 1908 / 09 und 1912 /13 geglückt war. Auch hatte sich trotz des Scheiterns von Flottengesprächen das deutsch-britische Verhältnis seitdem merklich verbessert. 1913 war eine neue Absprache über die eventuelle Aufteilung der portugiesischen Kolonien zwischen Berlin und London zustande gekommen. Im ersten Halbjahr 1914 gelang sogar mit Frankreich und Großbritannien eine Einigung über Eisenbahnkonzessionen im Osmanischen Reich. Andererseits erreichten Berlin gleichzeitig auch Nachrichten über britisch-russische Flottengespräche. Das aktualisierte bei dem deutschen Reichskanzler erneut die Furcht vor einer «Einkreisung» Deutschlands durch eine weit überlegene gegnerische Allianz. Österreich-Ungarn war in dieser Situation der einzige verbliebene Verbündete, nachdem Italien sich schon in den Marokkokrisen als unsicherer Bundesgenosse erwiesen hatte. Eine weitere Schwächung oder gar den Zerfall des Habsburgerreichs wollte Bethmann Hollweg deshalb auf keinen Fall riskieren: Deutschlands «eigenes Lebensinteresse» erfordere die «unversehrte Erhaltung Österreichs». Wenn Wien sich aus Enttäuschung über Berlin vom deutsch-österreichischen Zweibund abwendete und andere Partner suchte, drohte dem Deutschen Reich erst recht völlige Isolierung. Bethmann entschied sich vor diesem Hintergrund mit Rückendeckung Wilhelms II. für eine Strategie des «kalkulierten Risikos». Kanz-
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ler und Kaiser sicherten den Österreichern während der ersten Julitage 1914 völlige deutsche Solidarität für eine Aktion auf dem Balkan zu – wie schon 1908 einmal. Schreckte Russland dann wie damals vor der Konfrontation zurück, so die Überlegung in Berlin, verbesserte das die Position des deutschen Verbündeten Österreich-Ungarn. Wenn Frankreich und Großbritannien Russland Unterstützung versagten, würde im besten Fall sogar die Verbindung zwischen diesen drei Mächten gelockert. Setzte das Zarenreich dagegen auf den österreichischen groben Klotz einen groben Keil und wurde von Frankreich unterstützt, schien es nach den Aussagen der Militärs ohnehin besser, den Krieg früher als später zu beginnen. Außerdem ließ dieser sich dann im Reichstag als ein Verteidigungskrieg gegen Russland darstellen, was die Chancen für seine Akzeptanz durch alle Parteien bis hin zur SPD erhöhte. Eine Eskalation der Lage zu einem europäischen Krieg erschien sowohl Bethmann als auch Wilhelm II. freilich sehr unwahrscheinlich. Denn nicht nur war Russland schon 1908 / 09 und 1912 /13 schließlich vor einer Konfrontation auf dem Balkan zurückgewichen. Das Zarenreich sei, so die überwiegende Einschätzung in Berlin, auch jetzt für einen Krieg noch nicht genug gerüstet. Der russische Bündnispartner Frankreich wirkte dafür ebenfalls kaum vorbereitet und außerdem durch innenpolitische Konflikte gelähmt. Selbst den Österreichern schien das Einbringen der Ernte erst einmal wichtiger zu sein, als wirklich entschieden gegen Serbien vorzugehen. Angesichts dieser optimistischen Lagebeurteilung fuhren wie der Kaiser und die Militärs auch die meisten Mitarbeiter des Auswärtigen Amts Anfang Juli entspannt in den Sommerurlaub. Wenn wider Erwarten diese Balkankrise sich anders als die bisherigen doch zuspitzen sollte, glaubte man immer noch gegensteuern zu können. Dann, so einigten Kaiser und Kanzler sich vor der Abreise Wilhelms II., müsse mit allen Mitteln verhindert werden, «dass sich der österreichisch-serbische Streit zu einem internationalen Konflikt auswachse».18 Der deutsche «Blankoscheck» ermutigte die österreichische Regierung, die von ihr bereits ins Auge gefasste Politik der Konfrontation in die Tat umzusetzen. Am 23. Juli ließ sie ihren Botschafter in Belgrad ein auf 48 Stunden befristetes, scharf formuliertes Ultimatum übergeben. Die Regierung Serbiens suchte umgehend den Rat ihrer russischen Schutzmacht. Wie Deutschland Österreich-Ungarn stellte daraufhin auch das Zarenreich seinem serbischen Verbündeten bedingungslose
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Unterstützung in Aussicht. Im Vertrauen darauf ließ die serbische Regierung am 25. Juli Wien wissen, sie sei zwar bereit, einige Punkte des Ultimatums zu akzeptieren. Dessen Kernforderung, Österreicher an einer Suche nach den Urhebern des Attentats von Sarajevo in Serbien zu beteiligen, lehnte sie aber mit russischer Rückendeckung ab. Russland hatte seit einem Jahrzehnt eine außenpolitische Schlappe nach der anderen einstecken müssen. Nach der demütigenden Niederlage im Krieg gegen Japan 1905 in Fernost stand auch die russische Balkanpolitik vor dem Fiasko. Durch ihr zögerndes Verhalten in den Krisen von 1908 / 09 und 1912 /13 verlor die Regierung des Zaren praktisch sämtliche Sympathien in Rumänien und Bulgarien. Serbien war der letzte verbliebene Verbündete in der Region. Diesen wollte man in Sankt Petersburg auf keinen Fall auch noch verlieren. Bereits vor dem österreichischen Ultimatum signalisierte der russische Außenminister Wien gegenüber deshalb Entschlossenheit und Kampfbereitschaft. Nach der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien am 28. Juli war es das Zarenreich, das mit seiner militärischen Mobilmachung die Krise weiter eskalieren ließ. Tatsächlich hatte das russische Militär sogar schon insgeheim mit der Mobilisierung begonnen, während in Wien noch am Wortlaut der Erklärung gefeilt wurde. Wesentlich mehr als in Österreich-Ungarn und Deutschland trugen in Russland auch innenpolitische Krisenszenarien im Juli 1914 zu einer kompromisslosen Haltung nach außen bei. Die nach der Niederlage gegen Japan ausgebrochene und nur mühsam niedergeschlagene russische Revolution von 1905 hatte gezeigt, wie gefährdet die Herrschaft des Zaren war. Infolgedessen war die Neigung gewachsen, von inneren Missständen durch aggressive Außenpolitik ablenken zu wollen. Die panslawistische Bewegung, die diese vor allem auf dem Balkan einforderte, gewann in Regierungskreisen zunehmend Anhänger. Weniger draufgängerisch veranlagte Naturen, darunter der Zar, schwankten unentschlossen zwischen Frieden und Krieg. Denn wenn es über Serbien zu einer militärischen Konfrontation mit Österreich-Ungarn kam, war kaum zu erwarten, dass dessen Bundesgenosse Deutschland stillhielt. Gegen die vereinten Streitkräfte des Zweibundes hatte Russland aber keine Siegeschance.19 Unter diesen Umständen gewann die Haltung des russischen Bündnispartners Frankreich besondere Bedeutung. Wie die Deutschen nach
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1871 vor dem französischen Revanchismus, zitterten die Franzosen seitdem vor einem Angriff des «Erzfeinds» östlich der Vogesen. Die Marokkokrisen hatten auf beiden Seiten die Ängste noch verstärkt. Vor dem Hintergrund des 1912 begonnenen Wettrüstens wurden in Paris wie in Berlin die Sandkastenspiele für einen Präventivkrieg intensiviert. Während aus deutscher Sicht dadurch die Wertschätzung des Zweibunds mit Österreich stieg, erschien in französischen Augen das Bündnis mit Russland umso wertvoller. Allerdings hatte der Sieg der Linksparteien bei den Wahlen zur französischen Nationalversammlung im Mai 1914 die Bündnispartner in Sankt Petersburg verunsichert. Die neue Parlamentsmehrheit in Paris wollte zwar weiter aufrüsten, die gerade erst eingeführte, unpopuläre Verlängerung des Militärdienstes auf drei Jahre aber wieder abschaffen. Der französische Staatspräsident Raymond Poincaré wurde deshalb bei einem am 20. Juli beginnenden Staatsbesuch in Russland mit misstrauischen Fragen seiner Gastgeber konfrontiert: Wie wollte Frankreich dann seinen Bündnisverpflichtungen nachkommen? Poincaré antwortete offensichtlich mit einer unbedingten Zusage der Bündnistreue und forderte die russischen Gesprächspartner sogar auf, den Zweibundmächten gegenüber möglichst offensiv aufzutreten. Auf der Rückreise nach Frankreich machte er sich in seinem Tagebuch lediglich Sorgen darum, die Russen könnten wie 1912 /13 zu ängstlich agieren. Der französische Botschafter bekräftigte währenddessen gegenüber dem russischen Außenminister in Sankt Petersburg die «bedingungslose» Unterstützung seines Landes, wenn es zwischen Zarenreich und Zweibund zu einem Krieg kommen sollte.20 Die französische Ermunterung Russlands ist zu Recht häufig mit dem deutschen «Blankoscheck» für Österreich-Ungarn verglichen worden. Sie gab der Fraktion der kampfbereiten Falken in Sankt Petersburg Aufwind, indem sie die Ängste des Zaren und der vorsichtigeren Tauben an seinem Hof zerstreute, im Kriegsfall allein dazustehen. Auf die französischen Zusagen vertrauend, trieb das Zarenreich die Eskalation der Krise nun mit der Ausweitung seiner militärischen Mobilmachung voran. Als letzte der europäischen Großmächte warf schließlich Großbritannien sein beträchtliches Gewicht in die Waagschale. Bis dahin hatte London weder auf seinen Entente-Partner Frankreich noch auf Russland mäßigend eingewirkt, sondern sich auf unverbindliche Appelle zugunsten einer diplomatischen Lösung der Krise beschränkt. Die Briten fürch-
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teten vor allem um das europäische Gleichgewicht der Mächte, die Voraussetzung für eine Aufrechterhaltung ihrer Weltstellung. Wenn es zum Krieg kam und der Zweibund siegte, drohte Großbritannien danach allein einem hegemonialen Deutschen Reich gegenüberzustehen. Wenn dagegen Russland und Frankreich siegreich blieben, ohne dass ihnen die durch vertragliche Abmachungen verbundenen Briten beistanden, würde Großbritannien nach einem großen Krieg ebenso isoliert sein. London ließ Berlin deshalb am Abend des 29. Juli wissen, bei einem deutschen Angriff auf Frankreich nicht neutral bleiben zu können. Damit war Bethmann Hollwegs Politik des «kalkulierten Risikos» in jeder Hinsicht der Boden entzogen. Zum einen war es nicht gelungen, den Konflikt wie erhofft einzugrenzen, um dem Bündnispartner Österreich-Ungarn einen Prestigeerfolg zu verschaffen. Zum anderen hatte der Reichskanzler für den ohnehin schon für unwahrscheinlich gehaltenen Fall, dass die Krise zu einer gesamteuropäischen Konfrontation auswucherte, nicht mit einer Beteiligung Großbritanniens auf Seiten der Gegner gerechnet. Gemeinsam mit dem von seiner Nordlandreise zurückgekehrten Wilhelm II. versuchte Bethmann deshalb jetzt hektisch, die sich immer schneller drehende Eskalationsspirale hin zu einem großen Krieg zu durchbrechen. Der deutsche Reichskanzler forderte die österreichische Regierung auf, den schon begonnenen Angriff auf Serbien einzustellen oder zumindest zu begrenzen. Der Kaiser kontaktierte seinen Vetter, den Zaren. Einen Moment lang schien noch einmal eine diplomatische Lösung der Krise in greifbarer Nähe. Doch dann gab am Abend des 30. Juli Russland die Generalmobilmachung seiner Truppen bekannt. Zu dem aus Isolationsängsten geborenen Automatismus der Allianzen kam spätestens jetzt ein fataler Automatismus der militärischen Planungen hinzu. In Russland hatten die Generäle seit Tagen bereits Truppenteile mobil gemacht, um bei Kriegsbeginn nicht wegen der logistischen Aufmarschprobleme im Riesenreich des Zaren den Gegnern gegenüber ins Hintertreffen zu geraten. Die österreichischen Militärs wollten den Angriff auf Serbien nicht stoppen oder begrenzen, weil sie fürchteten, dann angesichts der russischen Mobilmachung den Kürzeren zu ziehen. Den Planungen des deutschen Generalstabs lag die fixe Idee zugrunde, im Kriegsfall sofort durch Belgien und Luxemburg nach Frankreich einfallen und dieses besiegen zu müssen, bevor die vermeintlich schwer-
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fällige russische Armee operationsbereit sei. All diese Pläne basierten auf falschen Annahmen: Die Serben vermochten ihr Gebiet allein gegen die Österreicher zu verteidigen; Russland mobilisierte wesentlich schneller als erwartet; und die Verletzung der belgischen Neutralität brachte Deutschland keinen schnellen Sieg über Frankreich, diente dafür aber Großbritannien zur Rechtfertigung seines Kriegseintritts. Jetzt rächte sich, dass im Deutschen Reich das Militär der Kontrolle des Parlaments entzogen blieb. In Berlin konnte deshalb, wie auch in Wien und Sankt Petersburg, die Armeeführung unter dem Deckmantel der «kaiserlichen Kommandogewalt» das Gesetz des Handelns an sich reißen. Alle diplomatischen Vermittlungsversuche, die Bethmann Hollweg und der Kaiser noch unternahmen, wurden dadurch konterkariert. Nicht zufällig waren es die parlamentarisch regierten Mächte Frankreich und Großbritannien, die zuletzt von dem alles verschlingenden Malstrom erfasst wurden. Zwar hatten beide schon vorher militärische Vorbereitungen getroffen. Doch es waren die deutsche Kriegserklärung an Frankreich am 3. August 1914 und die gleichzeitige Verletzung der belgischen Neutralität durch das Deutsche Reich, von Großbritannien am nächsten Tag mit der Kriegserklärung beantwortet, die schließlich aus dem Konflikt auf dem Balkan einen europäischen und Weltkrieg machten.
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Der Beginn des Ersten Weltkriegs wurde von der Mehrheit der Deutschen alles andere als euphorisch begrüßt. Zwar beschworen neben patriotischen Reden auch viele Zeitungen während der ersten Augusttage 1914 immer wieder allgemeine «Entschlossenheit» und nationale Begeisterung. Doch nicht allein zeitgenössische Tagebücher und Briefe belegen anderes. Wo die Presse über konkrete Reaktionen der Menschen berichtete, war nur selten von Jubel und Euphorie die Rede. Auf die Nachricht von der militärischen Mobilmachung am frühen Abend des 1. August herrschte zunächst überall Stille. Erst nach einigen Momenten ertönten aus den Menschenmengen, die in Berlin auf Plätzen und vor Zeitungsredaktionen auf Neuigkeiten warteten, Hoch- und Hurrarufe. Redakteure konservativer und nationalliberaler Blätter meinten solche Rufe auch in größeren
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Städten wie Hamburg und Köln gehört zu haben. Nach anderen Zeitungen wurde die Nachricht vom Kriegsbeginn dagegen dort nur mit großem «Ernst» aufgenommen. Am späteren Abend gab es dann, meist ausgehend von Kneipen und offenbar nach einigem Alkoholgenuss, in mehreren Städten lautstarke «patriotische» Kundgebungen. Besonders in Berlin kam es zu Umzügen, bei denen Fahnen geschwenkt wurden. Der Kaiser sprach von einem Balkon des Berliner Stadtschlosses zu Teilnehmern einer solchen Kundgebung, Bethmann Hollweg von einem Fenster des Reichskanzlerpalais ebenfalls. Oft wurde auf den Straßen oder in Wirtschaften auch, wie in Berlin und Köln schon bald nach Verkündung der Mobilmachung, mehr oder weniger melodisch und textsicher gesungen. Beliebt waren vor allem das protestantische Kirchenlied «Eine feste Burg ist unser Gott» oder die «Wacht am Rhein». Beide Gesangstexte schienen gut zu der allgemeinen Überzeugung zu passen, sich in einem Verteidigungskrieg zu befinden. Wo uniformierte Soldaten sich auf den Straßen zeigten, wurden sie häufig mit «Hurra» begrüßt. Auf dem platten Land kam es freilich zu keinerlei Kundgebungen. Und wo sie in den Städten stattfanden, nahm der Großteil der Bevölkerung nicht daran teil. Die Berichterstattung über Reaktionen auf den Anfang des Krieges in Freiburg, mit seinen knapp 90 000 Einwohnern 1914 eine Stadt mittlerer Größe in weitgehend ländlicher Umgebung, war gerade in ihrer Widersprüchlichkeit repräsentativ. «Die Stimmung war ernst und gedrückt», hieß es in der Volkswacht, dem Blatt der örtlichen Sozialdemokratie, «und allenthalben hoffte man auf eine baldige Beendigung dieses furchtbar drohenden Krieges». Dagegen unterstellte der dem konservativen Zentrumsflügel nahestehende Freiburger Bote, die Stimmung der Bevölkerung sei «echt patriotisch, begeistert, und alles hofft zuversichtlich auf den Sieg der gerechten Sache». Der Reporter des Boten wollte nach der Verkündung der Mobilmachung Hochrufe gehört haben, berichtete aber in gewissem Widerspruch dazu auch: «Furchtbarer Ernst lag auf allen Gesichtern.» Die liberale Freiburger Zeitung formulierte in der all diesen Presseäußerungen charakteristischen Vermischung von Beschreibung und Interpretation: «Kein lautes Wort, kein Hoch, kein Lied, aber in diesem ehernen Schweigen lag drohend eine Welt von Gefühlen gegen die verruchten Störer unseres Friedens und wehe ihnen, wenn diese Empfindungen Taten werden!»21
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Schon diese widersprüchlichen drei Pressestimmen lassen erahnen, wie komplex die Wirkung des Kriegsbeginns in der Bevölkerung war – und wie verschieden ihre Wahrnehmung je nach politischer Orientierung ausfiel. Zwar wurde nun von allen Seiten die Einheit der Nation beschworen. Gemeinsamer Nenner war aber allein der «Ernst» der Entwicklung. Schon über die Natur des Krieges gab es tatsächlich kaum Einigkeit. Das Spektrum reichte hier von einer Bewertung als «furchtbarer» Bedrohung bei den Sozialdemokraten bis zur Etikettierung als «gerechter Sache» auf der politischen Rechten. Zudem deckten öffentliche Äußerungen und Verhaltensweisen sich nicht unbedingt mit persönlichen und privaten Überzeugungen. Charlotte Herder, die als konservative Katholikin selbst gegenüber dem eigenen Mann bemüht war, nationale Opferbereitschaft und Patriotismus zu zeigen, empfand die Mobilmachung innerlich als ebenso «furchtbar» und deprimierend wie die Sozialdemokraten. Mit «patriotischen Gesängen und brausenden Hurras auf Kaiser und Reich» wurde der Beginn des Krieges in Freiburg nach zeitgenössischen Berichten lediglich von gerade eingezogenen jungen Rekruten begrüßt. Später aufgezeichnete Erinnerungen erwähnen außerdem Umzüge, die vom Denkmal für den Sieg im Krieg von 1870 / 71 ausgingen. Auch danach «beteiligte sich nur ein Teil der jungen Leute an den lärmenden Kundgebungen. Der Großteil der erwachsenen Bevölkerung sah den kommenden Dingen mit Sorge, aber auch mit Festigkeit entgegen.»22 Solche Umzüge hatte es in der Stadt schon am Abend des 25. Juli gegeben, als die Nachricht von der österreichischen Mobilmachung gegen Serbien eingetroffen war. Das zeitgenössische Echo war damals allerdings ungleich größer gewesen. Wie Charlotte Herder vermerkte auch der Theologieprofessor Engelbert Krebs am 25. Juli in Tagebuchnotizen «große Begeisterung in Freiburg», während beide für den 1. August nichts Derartiges notierten. Die liberale und katholische Lokalpresse, die ebenfalls Umzüge nach der deutschen Mobilmachung Anfang August nicht erwähnte, hatte eine Woche zuvor angesichts der dramatischen Zuspitzung des Konflikts zwischen Österreich-Ungarn und Serbien von Kundgebungen mit etwa 4000 Menschen berichtet – wobei die Zahl der Teilnehmer umstritten ist, andere Berichte sprachen nur von einigen Hundert. Am Siegesdenkmal und in der Hauptstraße war es demnach
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damals zu «brausenden Hochrufen auf Österreich, seine Armee und seinen greisen Kaiser» gekommen. Wie der Balkan war freilich aus Freiburger Sicht auch der Krieg am 25. Juli noch weit. Die Demonstrationen waren zu diesem Zeitpunkt wenig mehr als Sympathiebekundungen für die österreichischen Verbündeten. Die Feindseligkeiten, so der weitverbreitete Glaube, würden sich lokalisieren lassen. Am 1. August hatte sich das als Illusion erwiesen. Nicht nur wurde nun klar, dass der Krieg keineswegs auf den Balkan beschränkt bleiben und Deutschland in ihn hineingezogen würde. Mit dem drohenden Kriegseintritt des benachbarten Frankreich war Freiburg über Nacht auch zur direkt gefährdeten Frontstadt geworden. Nicht zuletzt deshalb herrschte hier jetzt, wie überall im Südwesten Deutschlands und ebenso im Osten an der Grenze zu Russland, eher ängstliche Betroffenheit als in Berlin und anderen grenzfernen Orten. Dort war das Risiko für die Zivilbevölkerung, selbst Opfer des Krieges zu werden, deutlich geringer. Das jeweilige «Augusterlebnis» fiel entsprechend verschieden aus. Noch wichtiger für das Erlebnis des Kriegsbeginns war die Generationszugehörigkeit. Das zeigte sich nicht nur am 1. August, als es vor allem junge Rekruten und andere «junge Leute» waren, von denen die deutsche Mobilmachung jubelnd begrüßt wurde. Schon an den Demonstrationszügen am 25. Juli nahmen nach dem Bericht der sozialdemokratischen Lokalzeitung «meistens Studenten, junge Stehkragenproletarier aus kaufmännischen Kreisen und die Jugendwehrler» teil. Die Freiburger Sozialdemokraten, die zu diesem Zeitpunkt ihre drei Tage später stattfindende Antikriegsversammlung vorbereiteten, verfolgten dabei zwar offensichtlich ihre eigene politische Agenda. So betonten sie nachdrücklich, «daß in den Kundgebungen einiger Hundert junger Leute sich nicht der Wille des Volkes ausdrückt». Ihre konservative Konkurrenz vom Freiburger Boten bestätigte allerdings die sozialdemokratischen Beobachtungen, als sie am gleichen Tag berichtete: «Studenten vorwiegend und was sich sonst an Enthusiasten fand einigte sich zur Demonstration.» Auch nach der städtischen Kriegschronik waren es «die Chargierten der akademischen Verbindungen», von denen die «patriotischen» Umzüge angeführt wurden. Später veröffentlichte Erinnerungen aus bürgerlichen Kreisen stützen aber die Wahrnehmung der örtlichen Sozialdemokraten, dass es
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neben Studierenden auch andere junge Männer waren, die Kriegsbegeisterung zeigten. «Studenten, junge Kaufleute, Arbeiter und Handwerker» registrierte ein Zoologieprofessor der Freiburger Universität unter den Demonstranten: «Wir Älteren empfanden den Puls der Zeit wohl nicht so stark, wie die Jugend.» Sein Kollege, der Historiker Friedrich Meinecke, erinnerte sich ebenfalls: «Uns Älteren war nicht zum Jubeln.» Aus der Freiburger Garnison in der Karlskaserne, die direkt am Siegesdenkmal für den Krieg von 1871 stand, wurden die dort hurraschreienden Studenten und Arbeiter nicht minder skeptisch beobachtet. Die älteren Soldaten und Offiziere blickten «besorgt und traurig auf diesen Trubel der Begeisterung».23 Wie in Freiburg waren es auch anderswo meist junge Männer, die der Aussicht auf Krieg etwas Positives abgewinnen konnten. Das hatte insgesamt weniger mit fehlender Lebenserfahrung zu tun, wie von älteren Zeitgenossen gern unterstellt wurde. Der deutsch-französische Krieg von 1870 / 71 lag lange zurück. Selbst dessen jüngste Veteranen hatten mindestens sechzig Jahre auf dem Buckel. Der Anteil dieser Altersgruppe an der männlichen Gesamtbevölkerung betrug weniger als drei Prozent, und selbst davon hatte allenfalls jeder zweite jemals ein Schlachtfeld gesehen. Der Krieg von 1870 / 71 war zudem fast ausschließlich auf französischem Boden geführt worden, während der von 1866 vergleichsweise kurz gewesen und noch länger her war. Nur eine winzige Minderheit der Deutschen konnte deshalb 1914 überhaupt auf eigene Kriegserfahrungen zurückblicken. Bücher und Erzählungen von Älteren mochten romantische Bilder des Krieges vermitteln, die Kameradschaftserfahrungen in Aussicht stellten und Abenteuerlust ansprachen. Charlotte Herders Beispiel zeigt freilich, dass Lektüre und mündlich übermittelte Geschichten vom Krieg auch ganz anders wirken konnten. Wenn ein Teil der jungen Männer häufiger die Aussicht auf Krieg begrüßte, hing das wohl eher mit ihrer Freiheit von familiären Verpflichtungen als Ehemänner und Väter zusammen. Für verheiratete Familienväter bedeutete die Teilnahme am Krieg angesichts der Sorge um Frau und Kinder dagegen vor allem seelische Belastung – erst recht, wenn wie bei Hermann Herder noch die Verantwortung für ein Unternehmen und Angestellte dazukam. Bei den Jüngeren, die sich am Anfang ihrer beruflichen Karriere befanden, spielten zudem oft Hoffnungen eine Rolle, einem als eintönig,
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bedrückend und fremdbestimmt empfundenen Arbeitsalltag entkommen zu können. Denn unter den patriarchalischen Strukturen der Zeit litten nicht allein Frauen. Auch Lehrlinge und junge Arbeiter, Kaufleute und Angestellte waren einer rigiden Sozialkontrolle durch ältere Vorgesetzte und Arbeitgeber unterworfen. Jugendliche in einem bayerischen Dorf begrüßten die Nachricht vom Kriegsbeginn mit den Worten: «Jetzt kommen wir auch einmal hinaus!» Die Studenten, die meist aus bürgerlichen Kreisen stammten, fühlten sich durch den dort besonders ausgeprägten Benimmkodex und die finanzielle Abhängigkeit von ihren Eltern eingeengt. Wer Militärdienst geleistet hatte, mochte sich zwar darüber im Klaren sein, dass auch die Armee alles andere als eine autoritätsfreie Institution war. Doch diese Erfahrung hatten die meisten der Studenten, Lehrlinge und jugendlichen Arbeiter noch nicht gemacht. Ohnehin wurde nur etwa die Hälfte der jungen Männer in Deutschland vor 1914 zum Militär eingezogen. Und Krieg, an den es kaum mehr konkrete realistische Erinnerungen in der Gesellschaft gab, erschien vielen als eine potentiell revolutionäre Kraft, an die sich alle möglichen persönlichen und politischen Zukunftshoffnungen knüpfen ließen.24 Wie zwischen den Generationen gab es auch zwischen sozialen Schichten und politischen Milieus Unterschiede, was die Reaktionen auf den Kriegsbeginn betraf. Diese Differenzen waren allerdings von vornherein weniger scharf konturiert und verloren zudem noch Anfang August 1914 schnell an Bedeutung. Die sozialdemokratische Presse rief in den letzten Julitagen in ganz Deutschland zu Kundgebungen gegen den Krieg auf und erklärte, Arbeiter würden sich an Jubel und «patriotischen» Demonstrationen angesichts der österreichischen Kriegserklärung an Serbien nicht beteiligen. Diese oft kolportierten Beteuerungen stimmen allerdings zumindest für Freiburg mit Erinnerungsberichten nicht überein. Denn darin werden neben Studenten auch wiederholt «Arbeiter und Handwerker» als Teilnehmer an den Kundgebungen erwähnt. Die liberalen und katholischen Lokalzeitungen hoben in ihren Berichten ausdrücklich hervor, die «patriotische Begeisterung» habe am 25. Juli «die ganze Stadt» erfasst, einschließlich der industriell geprägten Viertel. Die sozialdemokratische Volkswacht stritt das immerhin nicht ganz ab, wenn sie in ihrem Bericht über die Kundgebungen vor allem die Zahl der jugendlichen Teilnehmer unterstrich, während «Arbeiter» wie «Bürgersleute» nur «spärlich vertreten» gewesen seien.
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In der letzten Juliwoche neigte die bürgerliche Presse bis hin zu linksliberalen Zeitungen eher dazu, deutsche Solidarität mit dem Verbündeten Österreich-Ungarn zu betonen. Die Sozialdemokraten verabschiedeten dagegen im ganzen Land am 28. Juli in Volksversammlungen Resolutionen gegen das «gewissenlose Vorgehen der österreichischungarischen Kriegshetzer». Allein in Freiburg sollen daran 7000 SPDParteimitglieder teilgenommen haben. Allerdings war an der sozialdemokratischen Basis die Erwartung, im Ernstfall den Krieg verhindern zu können, offenbar nicht sonderlich ausgeprägt. So kam es in einer Hamburger Parteikneipe am nächsten Morgen zu einer Diskussion darüber, in der ein Arbeiter meinte, man könne «es doch nicht mehr aufhalten. Gewiß bin ich verheiratet und habe Kinder, aber wenn mein Vaterland in Gefahr ist, denn laß den Staat doch meine Familie ernähren.» Auch die schärfsten Kritiker des Krieges in der SPD würden letzten Endes zur Waffe greifen.25 Das waren gelassen ausgesprochene prophetische Worte. Der im Vorjahr verstorbene August Bebel und viele andere Sozialdemokraten hatten nie einen Zweifel daran gelassen, zumindest bei einem Angriff des autokratischen russischen Zarenreiches zur «Landesverteidigung» bereit zu sein. Als am 30. Juli Russland die totale Mobilmachung seiner Armee bekanntgab und die deutsche Reichsleitung daraufhin zunächst den «Zustand drohender Kriegsgefahr» und schließlich am 1. August den Krieg erklärte, brach die sozialdemokratische Antikriegsbewegung wie ein Kartenhaus zusammen. Der im Freiburger SPD-Blatt Ende Juli veröffentlichte Aufruf Rosa Luxemburgs zum Massenstreik gegen den Krieg verhallte ohne jedes Echo. Anfang August appellierte die Volkswacht stattdessen an ihre Leser, da das Zarenreich den Krieg provoziert habe, müsse nun «jeder die Pflicht des Augenblicks» erfüllen. Zwei Tage später, am 3. August, wiederholte die sozialdemokratische Lokalzeitung wie die Parteipresse überall in Deutschland: «Wir befinden uns in einem Verteidigungskrieg, der uns von Russland aufgezwungen worden ist.» Deshalb gebe es keine Wahl: «Da muß dann klipp und klar ohne Umschweife gesagt werden, daß die Sozialdemokratie alles tun wird, um die deutschen Waffen zum Sieg zu führen.»26 Prinzipiell sei man zwar weiterhin gegen eine militärische Lösung von Konflikten. Aber so «furchtbar» der Krieg auch sein mochte, galt er den Sozialdemokraten seit Anfang August doch als Notwendigkeit. Mit
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der Bewilligung der Kriegskredite auch durch die SPD-Fraktion im Berliner Reichstag am 4. August schien die nationale Einheit endgültig hergestellt. So tief war der Graben zwischen Sozialdemokratie und «bürgerlichen» Parteien freilich auch vorher gar nicht gewesen. Kaum jemand, mit Ausnahme allenfalls der politisch isolierten Alldeutschen, hatte im Juli offen einem Angriffskrieg das Wort geredet. Auch die Reichsleitung hatte das nicht getan, sondern der Öffentlichkeit gegenüber das von Bethmann Hollweg tatsächlich eingegangene Risiko geschickt verschleiert. Die Sozialdemokraten schwenkten in den ersten Augusttagen deshalb lediglich auf den Kurs der übrigen Parteien ein, die einen Verteidigungskrieg akzeptieren wollten, wenn es dazu keine Alternative mehr zu geben schien. Tatsächlich erlebte auch das Bürgertum den Beginn des Krieges in der Regel wie die Sozialdemokraten als «furchtbar». Für Charlotte Herder war es am 1. August schier unfassbar, dass etwas «so Furchtbares» geschehen könne. Den Begriff gebrauchte sie in ihrem Tagebuch mehrfach. Wiederholt charakterisierte sie die durch den Kriegsbeginn entstandene Situation in ihrem Tagebuch während der ersten Augusttage auch als «schrecklich». Der Freiburger Theologieprofessor Krebs benutzte den Begriff «schrecklich» im Zusammenhang mit dem Kriegsbeginn in seiner Tagebuchnotiz vom 1. August ebenfalls. Für die Düsseldorferin Adele Statz, Frau eines Richters, und ihren bürgerlichen Familien- und Freundeskreis war «Kriegsstimmung» gleichbedeutend mit «Angst». Bei einem Spaziergang durch ihre Heimatstadt am 1. August sah sie, wie sie ihrem Tagebuch anvertraute, «Tausende von todernsten Menschen», die sich alle Sorgen um die Zukunft zu machen schienen. Selbst bei einer Hochzeit, die sie an diesem Tag mitfeierte, herrschte wegen des Krieges «Grabesstimmung». Der wehrpflichtige Bräutigam, ihr Neffe, sah «sehr schwarz in die Zukunft», und das Haus des Brautpaares glich «einem Trauerhaus». Hochzeitsgäste und Verwandte, die ebenfalls Söhne im wehrdienstfähigen Alter hatten, verhielten sich «ruhig, aber todtraurig».27 Nach außen wurden die eigenen Ängste oft überspielt. Johanna Schweikert, die Frau eines protestantischen Pfarrers aus Graben bei Karlsruhe, registrierte auf die Nachricht von der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien «überall große Sympathie für den Bundesgenossen», die sie selbst teilte. Gleichzeitig vertraute sie ihrem Tagebuch
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jedoch auch die Hoffnung an, der Krieg «möge sich lokalisieren». Während der folgenden Tage erschien ihr die Lage immer «unruhiger, beängstigender». Ihrer Tochter und sich selbst sprach sie aber Mut zu: «Vielleicht ziehen die Sturmwolken noch einmal vorüber.» Am 1. August machte die Nachricht von der Mobilmachung sie dann «sprachlos». Als sie realisierte, dass auch ihr ältester Sohn zum Militär eingezogen werden würde, reagierte sie tief erschüttert: «Ach Herr mein Gott, auch mein Fritz, mein lieber lieber Bub, der immer so gut zu mir war, an dem meine Seele hängt. Ach, unser Familienglück zerbricht – ich kann es nicht ertragen.» Doch am nächsten Tag notierte sie: «Ich überwinde mich und halte kurze Sonntagsschule, lasse die Kinder Hochrufen auf Kaiser und Vaterland, und es will mir das Herz fast verzweifeln beim Gedanken an Fritz.»28 Charlotte und Hermann Herder kämpften währenddessen ebenfalls mit Tränen. Doch in der Öffentlichkeit unterdrückte Charlotte die Angst um den Ehemann wie Johanna Schweikert die um ihren Sohn. Ängste und Trauer blieben privat. Nach außen, ja selbst den eigenen Familienangehörigen gegenüber zeigte man Entschlossenheit und nationalen Opfergeist. Der Kontrast zwischen Innenleben und äußerer Fassade wird besonders in den Beschreibungen der Ausmärsche von Truppenteilen greifbar. Während in Presseberichten darüber nur von Begeisterung und Vaterlandsliebe aller Beteiligten die Rede ist, nehmen in Tagebüchern Abschiedsschmerz und Sorge um die Familienangehörigen unter den Soldaten wesentlich größeren Raum ein. Notizen von Adele Statz am 3. August bringen das Nebeneinander von privaten Ängsten und öffentlicher Opferbereitschaft bei Truppenausmärschen auf den Punkt: «Immer mehr Menschen ziehen aus, die Tränen fließen immer reichlicher. Aber man muss unser mutiges, deutsches Volk bewundern, mit welcher stillen Hingebung es seine Lieben hingibt; in dem Bewußtsein, das Vaterland ist in Gefahr, jeder muss helfen zum Sieg. – Es kommt ein verzweifelter Brief von Anna Hoffmann, in dem sie mir mitteilt, dass ihre beiden Söhne mitziehen.»29 Die äußerlich zur Schau gestellte Fassung bei der «Hingabe» der Liebsten, während innerlich Verzweiflung und Furcht herrschten, blieb nicht auf bürgerliche Kreise beschränkt. So beschrieb ein Druckergeselle aus dem Sauerland die Verabschiedung von einfachen Soldaten an die Westfront während der ersten Augusttage: «Mit klingendem Spiel gehts
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zum Bahnhof, den Abschiedsschmerz hinter einem fröhlichen, lachenden Gesicht versteckt.» Die «Feldgrauen» seien «alle fröhlich und guter Dinge» gewesen, «um ihren zurückbleibenden Angehörigen das Herz nicht noch schwerer zu machen». In einer niederrheinischen Schulchronik hieß es dagegen: «Hart mag manchem Weibe der Abschied ihres Gatten gewesen sein, jedoch lautes Weinen und Klagen ist nirgends bemerkt worden. Offensichtlich waren die Zurückbleibenden bestrebt, den Scheidenden den Trennungsschmerz zu erleichtern.» Andere Chroniken konstatierten sowohl «Aufgeregtheit, Ernst und Zuversicht» wie «Angst und Schrecken». Obwohl die Menschen weinten und klagten, zeigten sie doch «frohe Siegeshoffnung» und «Begeisterung für den uns frevelhaft aufgezwungenen Kampf». Aus den Gesichtern spreche «der tiefe Ernst der Lage» ebenso wie «unbedingte Zuversicht», ein Bewusstsein «großer Gefahr» ebenso wie nationale Opferbereitschaft. Auch in niederbayerischen Dörfern registrierten die Pfarrer ein Nebeneinander von «Bestürzung und Abschiedsschmerz und andererseits großer vaterländischer Begeisterung».30 Wurde bei Truppenabschieden auf den Straßen vor allem die tapfere Bereitschaft zur «Hingabe» öffentlich demonstriert, so waren besonders die Anfang August plötzlich überlaufenen Kirchen der Ort, wo die beim Ausmarsch der Soldaten zurückgehaltenen Tränen in Strömen flossen. Der 2. August, ein Sonntag, war überall in Deutschland der Tag der «Sacktüchleinpredigten», wie ein bayerischer Geistlicher in seinem Tagebuch formulierte: «Die Männer weinten, die Weiber schluchzten.» Adele Statz notierte über einen Gottesdienst für an die Front ziehende Soldaten und ihre Angehörigen in Düsseldorf: «Da bleibt kein Auge tränenleer. Alte Männer sieht man schluchzen. Ich habe niemals die Kirche so angefüllt gesehen.» Offensichtlich ließen beide Geschlechter und alle Generationen jeder Religionszugehörigkeit ihren Gefühlen freien Lauf.31 Dennoch sah zumindest die zeitgenössische Presse auch Unterschiede in der Reaktion von Männern und Frauen auf den Kriegsbeginn. So ordnete die liberale Freiburger Zeitung am 1. August dem männlichen Geschlecht stereotyp heroische Tatkraft, dem weiblichen dagegen fürsorgliche Emotionalität zu: «Finsterer Ernst eiserner Entschlossenheit gräbt sich in die Züge der Männer, und selbst die Jugend ist gebannt von dem gigantischen Schatten des drohenden Phantoms Weltkrieg. Frauen und Mädchen weinen und gedenken in heißer Sorge des Gatten, des
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Bruders, des Vaters, dem vielleicht bald der Ruf des Kriegsherrn gilt.» Weniger pathetisch, aber in der Sache ähnlich stellte das sozialdemokratische Lokalblatt einige Tage später den «verweinten Augen der Frauen, Mütter und so mancher Braut» die «besorgten Mienen der Männer» gegenüber. Das war, wie Charlotte Herders und andere Tagebücher offenbaren, so keine zutreffende Beschreibung der Realität. Es entsprach allerdings den Rollenklischees der Zeit und definierte durchaus wirkungsmächtige Normen darüber, wie Männer und Frauen ihre jeweilige «Hingabe» an die Nation im Krieg gestalten sollten. Tränen über den Auszug des Ehemannes oder Sohnes in den Krieg waren als Ausweis weiblicher Sorge und Liebe durchaus legitim, ja in gewissem Ausmaß sogar erwünscht. Diese Liebe durfte allerdings nicht so besitzergreifend sein, den Mann von seiner nationalen Aufgabe abzuhalten. Solche Normvorstellungen wurden außer in der Presse auch in Predigten, Liedern und Gedichten vermittelt. Oft verraten die Formulierungen die große Eile, in der sie Anfang August 1914 entstanden, wie diese Knüttelverse eines Freiburger Mädchenschullehrers: «Ich bleibe dein an jedem Ort Stell nun dein Weinen ein. Und dies sei unser letztes Wort: Für Deutschland muß es sein! Marschieren, marschieren, marschieren müssen wir.»
Die Pflicht der Männer bestand also darin, sich entschlossen und tatkräftig auf dem Schlachtfeld zu beweisen – was natürlich auch hieß, erst einmal dort hinzukommen, und wenn es zu Fuß sein musste. Im äußersten Fall hatten sie ihr Leben für die Nation zu opfern. Die den Frauen zugewiesene Rolle war die der selbstlosen Gefährtin, die dem Mann den Rücken zu stärken hatte. «Also, Schwestern, die Zähne zusammengebissen und mutig in die Zukunft sehen», ermahnte am 5. August in einem Lokalblatt die Freiburger Mutter eines wehrpflichtigen Sohnes ihre Geschlechtsgenossinnen. «Zeigt Euren Söhnen, Euren Männern beim Abschied ein mutig Gesicht. Stärkt sie, indem Ihr ihnen zeigt, daß Ihr Vertrauen habt, Zuversicht zu der Sache. Denn es ist etwas Hohes, Heiliges, für das sie kämpfen.»
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Die hier angedeutete Sakralisierung der nationalen Aufgabe klingt ebenfalls an im Wiederabdruck eines hundert Jahre alten, 1814 entstandenen badischen Liedes aus den «Befreiungskriegen»: «O treues Weib, was soll dein banges Klagen, Wenn mich die heilge Mannespflicht verlangt? Das deutsche Weib muß groß den Schmerz ertragen, In Schicksalsstürmen steht sie ungewankt.»32
Diese Rollenzuschreibung einer «Schmerzensmutter», die Söhne und Männer «hinzugeben» hatte, nutzte im katholischen Südbaden die Reaktivierung von Elementen des Marienkults zur Sinnstiftung des Krieges. Die Verbindung religiöser und nationaler Opfermotive war freilich im August 1914 insbesondere unter Frauen überall in Europa präsent. Denn nicht nur trieb die Suche nach Orientierung und Trost die Menschen zu Kriegsbeginn scharenweise in die Gotteshäuser. Bei Wiederbelebung und Wandel von Religiosität hatten Frauen auch seit Jahrzehnten eine zentrale Rolle gespielt. Der tiefreligiösen Charlotte Herder musste man solche Brücken deshalb nicht erst bauen. Sie hatte ihren «Ölbergmoment», die Akzeptanz des «Opfers» der Trennung von ihrem Mann und im schlimmsten Fall auch seines Kriegstodes, schon hinter sich. Am Morgen des 6. August erlebte Charlotte Herder den Auszug des Freiburger Regiments an die Westfront. «Es war nach sechs Uhr, ein feiner Regen nieselte herunter, hinter dem Münster stand ein fahles Morgenrot – war da wohl einer in dem langen Zuge, der nicht gedacht hätte: ‹Morgenrot, Morgenrot, leuchtest du mir zum frühen Tod?› Alle Soldaten waren mit Blumen geschmückt, aber sie zogen schweigend, ohne zu singen, dahin, und die Offiziere ritten stumm und ernst vor ihnen her. Hinter einer Kompanie führte ein Soldat ein lediges Pferd, das plötzlich heftig scheute und eine Stockung hervorbrachte, es drängte gegen einen radfahrenden Soldaten, daß er abspringen mußte, und traf einen anderen, daß ihm der Helm abfiel. Dieser Mann war so fassungslos erschrocken, als hielte er das für ein böses Omen, und daher wird mir der kleine Zwischenfall immer in Erinnerung bleiben, wenn ich auch wohl nie den Ausgang erfahren werde. Ich mußte immer denken: ‹Wenn Hermann in diesem Zuge wäre und so an uns vorbeiritte›, und meine Tränen tropften unaufhörlich heiß herunter. Hinter den Soldaten folgten die
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Bagagewagen, dann in endloser Reihe die Kanonen und Munitionswagen – alles glänzend und neu, die Pferde wohlgenährt, mit hellem Riemenzeug – ein prächtiger Anblick. Zuletzt kamen lustig, mit rauchendem Schornstein, die Feldküchen, ‹Gulaschkanonen› genannt, dann die Sanitätswagen mit Bahren und Verbandskisten und zum Schluß eine Abteilung Radfahrer. Dann war alles wie im Traum verschwunden, und schweren Herzens fragte sich wohl jeder, der da stand und schaute: ‹Wer von diesen allen kommt einst wieder zurück?›»33
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Charlotte Herder hatte Glück: Ihr Hermann überlebte den Krieg. Wegen einer Krankheit kommt der fünfzigjährige Reserveoffizier zunächst nicht an die Front, sondern auf einen Truppenübungsplatz. Erst im Mai 1915 wird er nach Frankreich in die Gegend von Reims versetzt, wo es lange relativ ruhig zugeht. Nach fünf Monaten, im Oktober, liegt sein Korps das erste Mal im Trommelfeuer feindlicher Artillerie. Der folgende Durchbruchsversuch französischer Truppen, für Angreifer wie Verteidiger gleichermaßen verlustreich, richtet sich gegen die Stellung der benachbarten deutschen Einheit. Direkt danach darf Hermann Herder zwei Wochen auf Heimaturlaub gehen, wie auch später mehrfach wieder. Im April 1917 kommen er und sein Korps bei der Schlacht in der Champagne in große Gefahr, können aber den alliierten Angriff zurückschlagen. Ein halbes Jahr später wird er Kommandeur eines im heimischen Donaueschingen stationierten Ersatzbataillons – «ein sehr angenehmer, vielbegehrter Posten», wie seine Frau aufatmend vermerkt. Dort verbringt er das letzte Kriegsjahr.34 Auch der Neffe von Adele Statz, der auf seiner Hochzeit Anfang August 1914 «sehr schwarz» in die Zukunft sieht, macht sich zumindest für seine eigene Person zu viel Sorgen. Anfangs wird er an der Westfront eingesetzt, zuerst in Belgien, dann in Frankreich. Später kommt er nach Russland, erlebt dort einen Vormarsch deutscher Truppen nach dem anderen und schließlich den Zusammenbruch des Zarenreiches. Im Herbst 1917 übernimmt er in der Heimat einen Verwaltungsposten. Währenddessen ist der einzige Sohn von Adele Statz, zu Kriegsbeginn noch min-
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derjährig, wehrpflichtig geworden und muss ebenfalls an die Westfront. Wie sein älterer Cousin überlebt auch er den Krieg. Johanna Schweikerts noch nicht ganz 18 Jahre zählender Sohn Fritz meldet sich Mitte August 1914 als Kriegsfreiwilliger. Seine Mutter hofft auf göttlichen Schutz für ihren Jungen, besorgt ihm eine besser sitzende Uniform und ist «ordentlich stolz, mit ihm durch die Straßen zu gehen». Als er im Oktober an die Westfront muss, weinen beide beim Abschied, und sie schreibt in ihr Tagebuch: «Mein Herz ist stolz auf meinen lieben strammen Jungen, aber es zittert beim Gedanken an die Zukunft.» Fast täglich packt sie ihm ein Päckchen mit Essbarem, wartet auf «ein Wunder, daß den Krieg endige», und auf Feldpost, die nur selten kommt. Am 29. Dezember 1914 erhält sie dann eine «Schreckensbotschaft»: Ihr Sohn ist bei Arras «gefallen» – einer von zwei Millionen deutschen Toten des Krieges, der weltweit insgesamt knapp zehn Millionen Soldaten das Leben kostet.35 Wie Fritz Schweikert und Hermann Herder ihre Kriegserlebnisse selbst subjektiv verarbeiteten, können wir genauso wenig sagen wie im Fall des Neffen und des Sohnes von Adele Statz. Denn die Feldpostbriefe, in denen diese Männer von ihren Fronterfahrungen berichteten, sind nicht überliefert. Erhalten haben solche Briefe sich dagegen im Fall von Stefan Schimmer, einem Bauern aus der Nähe von Würzburg. Sie geben anschaulich Auskunft über die Erwartungen an den Krieg, die Wahrnehmung von dessen Realität und den Umgang damit. Stefan Schimmer war verheiratet und hatte sechs Kinder. Zu Kriegsbeginn 38 Jahre alt, gehört er zu den älteren noch wehrpflichtigen Jahrgängen. Im August und September 1914 wird er in der Pfalz auf seinen Fronteinsatz mit einem bayerischen Infanterieregiment vorbereitet. Die Briefe, die er in diesen beiden Monaten an seine Frau schickt, atmen Optimismus. «Mit dem Krieg steht es für Deutschland gut», schreibt er ihr am 25. August. «Haben eine Unmasse Gefangene, über 150 Geschütze, sehr viele Maschinengewehre und eine Unmasse Gewehre und Munition erobert. Der Krieg wird auf deutscher Seite gewonnen und muß gewonnen werden. Die Franzosen haben noch nie die kleinste Schlacht gewonnen.» Der schnelle Vormarsch deutscher Truppen auf Paris, von Presse und Vorgesetzten im Militär hervorgehoben, nährt die Erwartung auf einen baldigen Sieg der eigenen Seite: «Mit dem Krieg, denke ich, dauert es nicht so lange, denn die Deutschen erobern alles.»36
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Anfang Oktober, der deutsche Vormarsch ist mittlerweile vor der französischen Hauptstadt zum Stehen gekommen, kommt Schimmers Einheit an die Front. An die Stelle ausgewählter Informationen aus zweiter Hand treten jetzt eigene Eindrücke – er hört, er sieht, er riecht: «Kanonendonner war natürlich das erste. Zerschossene Wagen sah man auch dort liegen. Die Luft riecht brenzlich von den zerschossenen Ortschaften. Man sieht bloß Himmel und Militär.» Zwei Wochen später hat er erste Erfahrungen im Kampf gemacht. Der optimistische Ton seiner ersten Briefe nach Hause ist verflogen. Die sichere Erwartung eines unmittelbar bevorstehenden deutschen Sieges ist zur ängstlichen Hoffnung geschrumpft: «Hörst du nicht, ob der Krieg bald ein Ende nimmt?» Wenige Tage darauf schildert er ausführlich seinen Frontalltag: «Wir haben fast Tag und Nacht Dienst. 2 Tage Schützengraben, 1 oder 2 Tage auf Wache. Wir müssen die Stellung fest halten. Wenn die Franzosen durchbrechen wollen, müssen wir sie zurückwerfen, was wir am Donnerstag, den 15. Oktober thun mußten. Wir hatten auch Artilleriefeuer, das war fürchterlich.» Erste Todesopfer und Verwundungen haben seine Landsturmabteilung bereits dezimiert. «Ich schlaf oft den ganzen Tag keine 2 Stunden vor Angst um mein Leben. Wenn ich nur nicht durch die Kugel fallen muß, nur wegen Dir und den Kindern.» Das Bild vom Krieg, mit dem Soldaten wie Stefan Schimmer an die Front ziehen, ist das eines kurzen Bewegungskrieges, geprägt von schnellen Vormärschen und schneidigen Kavallerieattacken, bei dem es reichlich Gelegenheit geben wird, sich Mann gegen Mann, Auge in Auge mit dem Gegner in heroischen Zweikämpfen zu bewähren. In den Generalstäben ahnt man zwar, dass diese Vorstellungen, geprägt vor allem durch den deutsch-französischen Krieg von 1870 / 71, den letzten militärischen Zusammenprall zwischen europäischen Großmächten, überholt sind. Doch in den Erzählungen der Veteranen und in den millionenfach verbreiteten Bilderbögen dominieren sie bis 1914 noch und prägen die Erwartungen. Als Stefan Schimmer im Oktober 1914 seinen ersten Kampfeinsatz erlebt, hat der Bewegungskrieg zumindest an der Westfront, wo bis zum Waffenstillstand auf beiden Seiten die meisten Soldaten eingesetzt werden, bereits überall aufgehört. Vorpreschende Kavallerieeinheiten sind von Maschinengewehrfeuer größtenteils niedergemäht worden. Die
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Artillerie dominiert das Kriegsgeschehen: Das Erste, was Schimmer davon hört, ist der Donner der Kanonen. Das Erste, was er vom Krieg sieht, sind zerschossene Ortschaften. Der Lärm des Geschützfeuers an seinem Frontabschnitt in den Vogesen ist so laut, dass Charlotte Herder es noch im mehr als fünfzig Kilometer entfernten Freiburg hört. Gegen das Feuer der gewaltigen Artilleriegeschütze graben die Kämpfenden sich wie Wühlmäuse in den Boden ein. Während der folgenden Monate und Jahre werden sie immer tiefer graben, ohne damit wirklich dem Schicksal entgehen zu können, von mehrere Kilometer entfernt abgefeuerten Granaten in Stücke gerissen zu werden. Um die Menschen herum verwandelt sich die Welt entlang der Frontlinien in eine kraterübersäte Mondlandschaft. An der Vogesenfront, wo Stefan Schimmer sich befindet, ist diese Entwicklung weiter fortgeschritten als anderswo. Hier herrscht schon seit August Stellungskrieg. Erschüttert schreibt er nach Hause: «Es ist der Greuel der Verwüstung.» In dieser Hölle auf Erden droht er bereits nach einem Monat den Boden unter den Füßen zu verlieren, während um ihn herum mehr und mehr «Kameraden» sterben oder grausam verwundet werden, von verirrten Gewehrkugeln getroffen oder von Granaten zerfetzt. Anfang November 1914 berichtet er von einem erneuten Sturmangriff der Franzosen: «Die Kugeln pfiffen, daß ich gar nicht wußte, was ich vor Angst anfangen sollte.» Zwei Wochen später erklärt er, es sei «bald nimmer zum Aushalten» im Schützengraben. «Wenn es so fort geht, verliere ich noch meinen Verstand vor Angst und Aufregung.» Im Dezember konstatiert er schließlich, «ganz kaputt» zu sein. «Kann gar nichts essen vor lauter Gram und Sorgen. Halte es keine 4 Monate mehr aus.» Doch vier Monate später, im April 1915, hält er es immer noch aus. Und nicht nur das: Seine Wahrnehmung des Krieges ist eine vollkommen andere geworden. Zwar geht das Sterben um ihn herum unverändert weiter. Auch an der Natur des Krieges hat sich nichts geändert. Immer noch belauern sich, in die Erde eingegraben, Freund und Feind, getrennt voneinander durch ein wüstenartiges Niemandsland voller Bombenkrater, Stacheldraht und vor sich hin faulender Menschenkadaver. Immer noch sind gelegentliche Sturmangriffe von der einen oder anderen Seite, deren Resultat meist nur die Vermehrung der modernden Kadaver zwischen den Schützengräben ist, die einzige Abwechslung. Immer noch
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bildet das Artilleriefeuer die ohrenzerfetzende Geräuschkulisse dieser apokalyptischen Landschaft. Aber all das, was Stefan Schimmer zu Beginn seines Fronteinsatzes an den Rand des Wahnsinns gebracht hat, vermag er mittlerweile zu ertragen: «Ich bin jetzt ganz an das Kriegsleben und an den Kriegslärm gewöhnt. Das Schießen und Schießenhören ist einem was Altes.» Dieser Abstumpfungsprozess, der sich bei Schimmer nach einigen Monaten an der Front vollzieht, ist ein typisches Phänomen. Wer während der ersten Zeit im Schützengraben nicht getötet wird oder durchdreht, der gewöhnt sich an das Leben an der Front. So furchtbar die Realität des Krieges auch ist – Millionen Soldaten gelingt doch das Arrangement mit ihr. Das Leben in Allgegenwart des Todes, inmitten von Dreck und Verwesung wird zum Alltag. Ohne diese Gewöhnung hätte der Krieg nicht mehr als vier Jahre lang dauern können. Wie kommt es dazu? Wie halten Millionen Männer wie Stefan Schimmer schließlich eine Situation teilweise jahrelang aus, die uns und anfänglich auch ihnen nicht auszuhalten scheint? Warum ertrugen sie das scheinbar Unerträgliche? Welche Faktoren, welche inneren Reserven, welche Einwirkungen von außen spielten dabei eine Rolle? Die Konfrontation mit der Realität des industrialisierten Krieges war für nahezu alle, die ihr als Soldaten und Offiziere direkt ausgesetzt wurden, zunächst schockierend. Nicht nur hatten die europäischen Großmächte seit mehr als vier Jahrzehnten keine Kriege mehr gegeneinander geführt. Keine Art der Ausbildung, kein Manöver, keine militärischen Simulationen und Sandkastenspiele konnten auch auf das vorbereiten, was den Ersten Weltkrieg von früher in Europa geführten Kriegen unterschied – die Dominanz der Artillerie, der durch sie erzwungene Graben- und Stellungskrieg, der alle bisherigen Erfahrungen schon bald übersteigende immense Blutzoll. Dennoch setzten nach Überwindung des ersten Schocks wie bereits in früheren Kriegen psychologische Anpassungsmechanismen unter den Soldaten ein. So nahmen viele Soldaten nach einer Übergangszeit offenbar Krieg und Schützengraben als eine Art neuen «Arbeitsplatz» an. Das Engagement, mit dem sie sich als Arbeiter, Angestellte, Beamte oder Selbständige bisher im zivilen Berufsleben durchgeschlagen hatten, zeigten sie nun auch in ihrer neuen militärischen Existenz. Das geschah wie im Zivilleben zwar meist eher notgedrungen, selten dagegen mit Begeis-
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terung. Aber wie sie zuvor in Fabrik, Behörde oder Unternehmen als ungerecht empfundene Zustände und Hierarchien widerwillig akzeptiert hatten, taten sie das nun auch im Militär. Am einfachsten gelang diese Anpassung an die Regeln und Realitäten des industriell geführten Ersten Weltkrieges Soldaten aus industriell weitentwickelten Gesellschaften. Jedenfalls kam es im Militär Großbritanniens und Deutschlands, den am stärksten industrialisierten unter den kriegführenden Nationen, nicht zu Meutereien – anders als in Frankreich, Italien und Österreich-Ungarn. Die von allen am Krieg beteiligten am wenigsten entwickelte Gesellschaft, die des russischen Zarenreichs, brach unter den Belastungen des Krieges als Erste vollständig zusammen.37 Viele Soldaten haben angesichts der extremen Herausforderungen, die Leben und Überleben in den Schützengräben an sie stellten, auch neue Kraftquellen gefunden und bisher ungeahnte persönliche Ressourcen mobilisiert. Für manche wurde die Selbstbehauptung im Krieg sogar zu einer Art Sport. Die Bewährung im Kampf ist besonders von Kriegsfreiwilligen wie Ernst Jünger, Adolf Hitler und Benito Mussolini als charakterbildende Erfahrung erlebt worden. Wie verbreitet diese Wahrnehmung war und ob sie mit einer Brutalisierung, ja mit einer Lust am Töten einherging, ist unter Historikern des Ersten Weltkriegs umstritten.38 Offensichtlich aber wuchsen viele Männer im Krieg über sich hinaus. In demselben Brief vom Dezember 1914, in dem Stefan Schimmer über vollständige Erschöpfung und Demoralisierung klagte, berichtete er auch davon, wie er schließlich tausend Ängste überwand und sich meldete, als noch ein Freiwilliger aus seinem Bataillon gesucht wurde, um die Leiche eines getöteten Kameraden aus dem Niemandsland zu holen: «Er lag sehr nahe an den Franzosen. War ein sehr gefährlicher Dienst. Ich dachte, es ist ein geistliches Werk der Barmherzigkeit.» Die individuelle Anpassung, das Mobilisieren persönlicher Ressourcen wurde ergänzt und verstärkt durch kollektive ideologische Sinngebungen für das auf den ersten Blick sinnlose massenhafte Sterben und Töten. In der Religion fand Schimmer während des Krieges wie Millionen andere Trost und eine neue Stütze. Bis er an die Front kam, scheint er nicht besonders religiös gewesen zu sein. Während der militärischen Ausbildung im August und September 1914 klagte er darüber, dass seine Einheit sonntags einen Gottesdienst besuchen musste. Erst unter dem Eindruck der Fronterfahrung begann er auf Gott zu vertrauen. Mitte
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Oktober schrieb er seiner Frau nach Hause: «Betet fleißig für mich. Halte auch die Kinder dazu an, daß ich wieder zurückkehren kann.» Er selbst «bete im Schützengraben und auf Wache». Ende des Monats betete er bereits «alle Tage 3–4 Rosenkränze. Vielleicht läßt es Gott nicht zu, daß ich falle.» Einige Tage darauf forderte er erneut die Familie dazu auf, sich im Himmel für ihn zu verwenden: «Wenn wir nur nicht ins Gefecht müßten. Betet fleißig. Ich bete fast Tag und Nacht.» Das bekräftigte er zwei Wochen später noch einmal und fügte hinzu: «Ich mein, unser Herrgott muß mich doch erhören.» Auch als er sich bis zum Frühjahr 1915 «an das Kriegsleben und den Kriegslärm gewöhnt» hatte, blieb sein neugefundenes Gottvertrauen erhalten. Es nahm nun allerdings fatalistische Züge an: «Will nur sehen, wie lang unser Herrgott noch zusieht, wie die Mannschaft behandelt und hingeschlachtet wird.» Dem Krieg schrieb Schimmer jetzt die Funktion einer religiösen Apokalypse zu: «Unser Herrgott wird schon ein Ende machen, wenn es lange genug ist.» Den Eintritt Italiens in den Krieg auf Seite der Gegner Deutschlands kommentierte er schicksalsergeben: «Dann wird die Sache vollends recht werden. Dann wird das Ende der Welt bald kommen.»39 Im Gegensatz zu religiösen finden sich nationale Sinngebungen des Krieges in Stefan Schimmers Feldpostbriefen nicht. Vom «Heldentod fürs Vaterland» sprach lediglich ein einziger Brief, den seine Frau während des Krieges erhielt. Diesen hatte freilich nicht ihr Mann geschrieben, sondern der seine Einheit anführende Unteroffizier, der ihr den Tod des Gatten meldete und hinzufügte, immerhin sei dieser «gestorben für eine gerechte Sache. Gott wird ihn dafür belohnen. Trösten Sie sich und halten Sie es als eine Fügung Gottes.» Was Schimmer selbst über den obersten Repräsentanten der Nation äußerte, lässt nicht auf allzu großes Vertrauen schließen. Schon im Oktober 1914 erklärte er kurz und knapp: «Was der Kaiser sagt, glaubt man bei uns nicht.» Die an die Soldaten gerichteten propagandistischen Appelle, im Interesse der deutschen Nation durchzustehen, zeigten bei ihm und seinen Kameraden offenbar auch keine allzu große Wirkung. «Die Mannschaft samt den Unteroffizieren haben es alle satt», schrieb er seiner Frau Ende November von der Front. «Ein jeder sagt, wenn nur einmal Frieden wäre.» In den oberen Gesellschaftsschichten, insbesondere bei Repräsentanten des gehobenen Bürgertums wie Charlotte und
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Hermann Herder, war die Verteidigung des Vaterlandes ein wichtiger Antrieb, die Strapazen des Krieges durchzuhalten. Wenn aber einfache Soldaten wie Stefan Schimmer überhaupt für ein übergeordnetes Ziel kämpften, dann eher für den Schutz der «Heimat»: Sie wollten ihren Angehörigen zu Hause die «Greuel der Verwüstung» ersparen, deren Zeuge Schimmer in Frankreich wurde.40 Soziale Disziplinierung in der Armee hatte bei der Mehrheit der Soldaten eine größere Bedeutung dafür, sie zum Durchhalten an der Front zu bewegen, als nationalistische Überzeugungen und Indoktrination. Dabei spielten Strafen, Druck und Zwang zweifellos eine wichtige Rolle. Aber noch wichtiger war wohl die Erfahrung von Solidarität mit den «Kameraden». Überleben konnte der Einzelne im Schützengraben letzten Endes nur, wenn er sich in seine Einheit einfügte. Das gemeinsame Überstehen von Gefahren schweißte die Kämpfenden zu einer Gemeinschaft von «Frontschweinen» zusammen. Diese Solidarität ging zum Teil über den Tod hinaus: Dass man getötete Männer der eigenen Einheit unter Lebensgefahr aus dem Niemandsland holte, um sie zu begraben, wie Stefan Schimmer es trotz größter Todesangst im Dezember 1914 tat, war häufige Praxis. Sicherlich gab es auch Verstimmungen und Konflikte. Vor allem zwischen Führungsoffizieren und Mannschaften war die Atmosphäre oft gespannt und gab Anlass zu vielfältigen Beschwerden. Ursache war meist, dass Befehlshaber für sich Privilegien beanspruchten – etwa «wenn junge Offiziere Mannschaften mit der Pistole in der Hand zum Vorgehen zwingen, und dann selbst in der Deckung bleiben». Öfter aber verließen die Offiziere bei Sturmangriffen auch als Erste den Schützengraben – das wird nur in den Quellen selten erwähnt, weil es die Norm war und von den einfachen Soldaten als selbstverständlich erwartet wurde. Zudem hielten die Unteroffiziere, die enge Beziehungen zu den Befehlshabern und zu den Mannschaften hatten, die militärischen Einheiten wie verbindender Kitt meist zusammen. Stefan Schimmer nutzte in seinen Feldpostbriefen durchgängig die erste Person Plural, wenn er Lageeinschätzungen oder Handlungen beschrieb, und dieses «wir» schloss zumindest die Unteroffiziere wiederholt ausdrücklich mit ein. Die gemeinsamen Kampferfahrungen verbanden letzten Endes in der Regel mehr, als Rangunterschiede zu trennen vermochten. Bezeichnenderweise begann die zur Revolution von 1918 führende Militärrevolte auf den Schlacht-
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schiffen der Flotte, wo diese Erfahrungen weitgehend fehlten, weil die Schiffe während des Krieges kaum eingesetzt worden waren. Zur Disziplinierung der Soldaten trugen neben äußerem Druck und dem Erlebnis von Solidarität mit den «Kameraden» an der Front auch die daheim an sie geknüpften Erwartungen bei. Unter Nachbarn und Arbeitskollegen, Freunden und Bekannten, Autoritätspersonen wie Pfarrern oder Lehrern und natürlich in der eigenen Familie hatten sie sonst einen Ruf zu verlieren. Insbesondere den Angehörigen wollte man keine «Schande» machen. Das verstärkte im Zweifelsfall die Neigung zu Konformität und weitgehender Einfügung in militärische Befehlsstrukturen noch einmal beträchtlich.41 Außer dem Vertrauen auf göttliche Hilfe, der Solidarität der «Kameraden» und der Bindung an die Familie in der Heimat ermöglichten es auch manche kleine Fluchten und Annehmlichkeiten, den Krieg zu ertragen. Das Leben eines Soldaten bestand nicht nur aus Fronteinsätzen und diese nicht allein aus unaufhörlichem Granatfeuer und Sturmangriffen. Die Ankunft von Fresspaketen und Feldpost aus der Heimat bildete in den Schützengräben eine heiß ersehnte Unterbrechung militärischer Routine. Viele Armeeangehörige bekamen wie Hermann Herder hin und wieder Heimaturlaub. Kampfeinheiten wurden gewöhnlich nur einige Tage an vorderster Front eingesetzt, um dann für ähnlich lange Zeit mit Einheiten aus dem Hinterland, der Etappe, die Stellung zu tauschen. In der Etappe war man nicht nur einigermaßen sicher davor, durch Kugeln oder Artilleriefeuer getötet zu werden. Die deutschen Soldaten befanden sich als Herren eines besetzten Gebiets auch in Machtpositionen, die kaum einer von ihnen daheim besessen hatte. Schikanierung bis hin zur Ausplünderung der einheimischen Bevölkerung und anderen Kriegsverbrechen blieb hier oft ungestraft. Stefan Schimmer hielt das in einem Brief an seine Frau nicht für verwerflich. Aber selbst davon abgesehen, konnte man neue Erfahrungen machen, die nicht immer unangenehm waren. Begeistert notierte zum Beispiel ein deutscher Rekrut, der mit seiner Einheit Mitte August 1914 das neutrale Luxemburg besetzte, über den Besuch eines Schwimmbads dort: «Großartige Badeanstalt. Habe in meinem Leben so schöne noch nicht gesehen.» Selbst an der Front gab es Phasen der Entspannung. Besonders im Osten waren «ruhige» Frontabschnitte häufig. Von den Soldaten, die sich dort in den Gräben gegenüberlagen, wurde stunden-, tage- oder
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sogar wochenlang kaum geschossen. Aber selbst an der Westfront wurden teilweise ähnliche Erfahrungen gemacht. «Ich bin jetzt schon 5 Monate im Graben, habe aber noch keinen Feind gesehen», berichtete ein in Frankreich stationierter deutscher Soldat Anfang 1916 in einem Feldpostbrief. «Ab und zu schießt die Artillerie, dann duckt man sich und geht in die Unterstände, mit der Zeit gewöhnt man sich an alles.» Ein anderer schrieb über seine Erfahrungen im Schützengraben nach Hause: «Am Tage ein paar Stunden Granat-Minen und Erdmörser-Feuer. Gewehrfeuer hört man nicht viel. Wenn wir nicht schießen, schießt der Gegner auch nicht und umgekehrt.» Neben solchen stillschweigenden Waffenruhen kam es vor allem dort, wo Freund und Feind sich in Rufweite voneinander befanden, auch zu ausdrücklich verabredeten Feuerpausen. In größte Unruhe versetzten die Militärführungen während der ersten Kriegsjahre Unterbrechungen der Kämpfe an den Weihnachtstagen, bei denen vereinzelt selbst Begegnungen zwischen feindlichen Truppenteilen stattfanden und es zum Austausch von Zigaretten oder Rationen als Geschenke kam.42 Mehr als vorübergehenden Charakter gewannen solche kleinen Fluchten aus dem Kriegsalltag freilich nicht. Grundsätzlich war es natürlich auch denkbar, sich dem staatlich organisierten Massenmord dauerhaft zu entziehen. Alle Möglichkeiten dazu hatten allerdings gemeinsam, ausgesprochen riskant zu sein. Eine Option war Fahnenflucht. Zum Feind überzulaufen, war im Schützengrabenkrieg allerdings schon rein praktisch ausgesprochen schwierig. Wer desertierte, riskierte zudem die Todesstrafe. Sich dagegen selbst einen «Heimatschuss» zu setzen, wie es im Jargon der Schützengräben hieß, also Selbstverstümmelung zu begehen, forderte große Überwindung. Stefan Schimmer dachte offenbar wenigstens darüber nach, als er seiner Frau im Oktober 1914 über Pläne schrieb, sich wegen Gicht oder einer Verwundung krankschreiben zu lassen, um nach Hause zurückkehren zu können: «Wenn mir nur bald ein Finger abgeschossen würde, wollte es gern ertragen.» Wer anders als Schimmer schließlich den Mut dazu aufbrachte, musste wie bei der Simulation einer psychischen Erkrankung damit rechnen, enttarnt zu werden. Selbst echte körperliche oder seelische Verletzungen boten im Übrigen keine Garantie, wirklich auf Dauer dem Kämpfen entkommen zu können. Wie viele Soldaten solche Auswege aus dem Krieg zu gehen versuchten, lässt sich kaum sicher abschätzen. Die Zahl der Verurteilungen durch
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Militärgerichte deswegen stieg zwar im Lauf des Krieges an. Bis zum Sommer 1918 betrafen sie im deutschen Heer aber nur einen winzigen Bruchteil der Millionen unter Waffen stehenden Männer. Das galt auch für offene Befehlsverweigerungen, die ebenso massive militärrechtliche Sanktionen bis hin zur standrechtlichen Erschießung zur Folge haben konnten. Zumindest in Deutschland blieben diese während der ersten vier Jahre des Krieges ausgesprochen selten. Erst ab dem Spätsommer 1918, als die deutsche Niederlage offensichtlich wurde und ein Weiterkämpfen deshalb zunehmend unsinnig erschien, entwickelten sich Befehlsverweigerung, unerlaubtes Entfernen von der Truppe und Fahnenflucht zu einem Massenphänomen.43 Bis dahin hatte nicht zuletzt auch die Hoffnung darauf, nach einem siegreichen Ende des Krieges wieder heil nach Hause zurückkehren zu können, zum Durchhaltewillen der Soldaten beigetragen. Stefan Schimmer kam seit dem Beginn seines Einsatzes an der Front immer wieder auf den Gedanken zurück, auf diese Art aus dem Schützengraben herauszukommen. Dem Herrgott, ließ er seine Frau im Oktober 1914 wissen, habe er «schon alles Gute versprochen, wenn ich wieder hinaus kann». Ein Foto von ihr mit den gemeinsamen sechs Kindern, das sie ihm schickte, brachte ihn zum Weinen, weil er «die Kinder so betrübt dastehen sehen muß wegen mir». Etwas später schrieb er: «Wenn ich nur dich und die schönen Kinder noch einmal sehen kann. Ich betrachte euch fast alle Tage.» Im Sommer 1915 kehrte Stefan Schimmer auf dem Weg nach Hause zurück, der von allen Wegen, die aus dem Krieg herausführten, bis zu dessen Ende der am häufigsten begangene war. Am 17. Juni hatte er seiner Frau in einem von stiller Resignation geprägten Brief mitgeteilt: «Die, wo gleich gefallen sind, sind am besten dran.» Fünf Tage später wurde er beim Sturmangriff auf eine französische Stellung tödlich getroffen.
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Wie Stefan Schimmers Frau Katharina mit ihren sechs Kindern den Krieg ohne Mann durchstand, wissen wir nicht. Der Erste Weltkrieg hat über die vielen erhaltenen Feldpostbriefe, die aus den Schützengräben in
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die Heimat geschickt wurden, der Nachwelt zwar einen seltenen Einblick in die Gedanken- und Gefühlswelt einfacher Männer wie Schimmer eröffnet. Von den Briefen, die deren Angehörige an die Front sandten, sind aber nur wenige überliefert. Auch sonst fließen die Quellen darüber, was einfache Leute während des Ersten Weltkriegs hinter den Fronten erlebten, vergleichsweise nicht allzu reichlich. Bäuerinnen wie Katharina Schimmer, die nach einem durchschnittlich 15-stündigen Arbeitstag erst um elf Uhr abends daran denken konnten, ihrem Mann noch zu schreiben, hatten keine Zeit, ein Tagebuch zu führen. Für die Rekonstruktion des Kriegserlebnisses von Zivilisten sind wir deshalb, abgesehen von wenigen Zufallsfunden meist fragmentarischen Charakters, angewiesen auf Aufzeichnungen aus den Oberschichten wie die von Charlotte Herder. In zumindest einer Hinsicht ist ihr Tagebuch immerhin repräsentativer als Berichte von Behörden, Pfarrern und Lehrern. Denn es spiegelt die Wahrnehmung des Krieges innerhalb Deutschlands aus der Sicht einer Frau. Und Frauen überwogen hier bei Weitem: Waren doch zwei Drittel aller erwachsenen Männer beim Militär und davon wiederum mehr als die Hälfte an der Front eingesetzt. Wie die Erfahrungen der Soldaten dort hatten die Erfahrungen der Zivilbevölkerung vieles, wenn auch nicht alles gemeinsam. Wie es Millionen individuelle Fronterfahrungen gab, so gab es auch viele Heimatfronten.44 Das Wort «Heimatfront» wurde ursprünglich von der amtlichen Kriegspropaganda geprägt. Es sollte die nationale Notwendigkeit umfassender Kriegsanstrengungen der gesamten Bevölkerung betonen. Außerdem wurde damit die Gleichwertigkeit dieser Anstrengungen vor und hinter den Kampflinien suggeriert. Trotz dieser propagandistischen Ursprünge hat der Begriff eine gewisse Berechtigung. Je länger der Krieg dauerte, desto mehr verwischten in mancher Hinsicht die Unterschiede zwischen Front und Heimat. Der erste industrielle Weltkrieg der Geschichte erforderte die totale Mobilmachung der kriegführenden Gesellschaften. Diese totale staatliche Mobilisierung von Politik, Kultur und vor allem Wirtschaft zu Kriegszwecken war ohne Vorbild. Insofern wurde die Heimat zunehmend der Front ähnlicher, ja zu einem Teil von ihr – zur «Heimatfront». In anderer Hinsicht galt das allerdings nicht – jedenfalls nicht so wie in späteren Kriegen des 20. Jahrhunderts. Denn die Gefahr für Zivilisten, durch direkte oder indirekte Kriegseinwirkung zu sterben, blieb im Ers-
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ten Weltkrieg noch relativ gering. Neun von zehn Opfern dieses Krieges waren an den Fronten getötete Soldaten. Nur etwa jeder zehnte Kriegstote war ein Zivilist. Im Zweiten Weltkrieg starben dagegen etwa ebenso viele Zivilisten wie Uniformierte. Besonders in Deutschland war die Zahl ziviler Kriegstoter zwischen 1914 und 1918 sehr niedrig. Das hatte vor allem zwei Gründe. Zum einen wurde der Krieg weitgehend außerhalb der deutschen Grenzen geführt. Zum anderen steckte die militärische Luftfahrt noch in den Kinderschuhen. Einen Bombenkrieg gegen die gegnerische Zivilbevölkerung zu führen, war deshalb beiden Seiten erst in Ansätzen möglich. Die Zahl der zivilen Luftkriegsopfer belief sich in ganz Deutschland bis 1918 auf nicht ganz 750 Menschen, die meisten davon in Grenznähe, vor allem in Baden. Als die ersten alliierten Bombenflugzeuge Anfang Dezember 1914 am Himmel über Freiburg erscheinen, ziehen sie zunächst eine große Schar von neugierigen Schaulustigen an, darunter Charlotte Herder. Trotz «zitternden Knien» überwiegt auch bei ihr, obwohl sie eher ängstlich veranlagt ist, anfänglich Neugier. Bei späteren Luftangriffen sucht sie dann «laut Vorschrift» Schutz in Gebäuden. Als sie danach einmal mit ihrer Tochter und einer Besucherin Hausmusik macht, erschreckt sie das Getöse einer vom Klavier fallenden Uhr allerdings wesentlich mehr als das Geräusch der Bombentreffer in der Stadt.45 Die Besetzung durch feindliche Truppen, vor der sie sich Anfang August 1914 fast zu Tode ängstigt, bleibt den Freiburgern wie den meisten Deutschen erspart. Teile Ostpreußens werden in den ersten Kriegsmonaten nur vorübergehend von russischen Truppen besetzt, und dauerhaft müssen bis 1918 lediglich einige Ortschaften im südlichen Elsass vor einer französischen Übermacht geräumt werden. Das Eintreffen der von dort evakuierten Flüchtlinge in Freiburg kommentiert Charlotte Herder mit dem Stoßgebet: «Gott gebe, daß man so etwas nicht auch erleben muß!» Ihr Wunsch geht in Erfüllung; die vorsorglich vorgenommene Inspektion des eigenen Kellers für den Fall einer Belagerung der Stadt erweist sich als überflüssig. Dankbar zieht sie am Silvesterabend 1914 Bilanz: «Wie wunderbar sind wir bis jetzt alle vor den Schrecknissen des Krieges bewahrt geblieben.» Auch in den folgenden Jahren erinnert außer den gelegentlichen Fliegerangriffen nur das dumpfe Wummern der Geschütze an der Vogesenfront, nachts manchmal begleitet vom matten Schein von Leuchtraketen, an die Nähe der Front.
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An den Krieg erinnert natürlich dennoch vieles. Besonders offensichtlich tun das zunächst die seit Mitte August 1914 eintreffenden und bald immer mehr werdenden Verwundeten. Auch gefangene Franzosen sind darunter, von denen zwei in einem improvisierten Lazarett auf dem Gelände des Herder-Verlags untergebracht werden. Als Charlotte Herder den ersten französischen Kriegsgefangenen auf der Straße sieht, «da erbebten mir die Knie, es ist eben doch ein Schreckensbegriff: ‹Der Feind!› Für unsere zwei Verwundeten fühle ich aber nur Mitleid». Je mehr Kontakt sie zu Franzosen bekommt, desto mehr verfliegen ihre zu Kriegsbeginn vorhandenen nationalistischen Vorurteile: Statt die Menschen aus dem Nachbarland wie damals als klischeehaft gezeichnete Rachsüchtige zu sehen, nimmt sie nach der gemeinsamen Feier eines katholischen Gottesdienstes in ihnen «unsere Feinde und doch unsere Brüder» wahr, die «sehr anständige, nette Leute von gutem Benehmen» seien. Wenn sie fortan französische oder auch russische Kriegsgefangene sieht, versetzt sie sich in diese hinein und muss an deutsche Kriegsgefangene «im fremden, fernen Land» denken. Als ihr Mann von den Härten für die Zivilbevölkerung im deutsch besetzten Frankreich berichtet, fühlt sie mit den Franzosen.46 Das ist freilich nicht überall und nicht bei allen so. Vielerorts beschenken deutsche Frauen ankommende französische Kriegsgefangene auf Bahnhöfen und in Gefangenenlagern ebenso freigebig mit Nahrungsmitteln, ja sogar mit Schokolade und Wein, wie sie die an die Front ziehenden deutschen Soldaten damit versorgen. Damit erregen sie allerdings die Empörung von Behörden und selbsternannten Patrioten. Im hessischen Griesheim werden die ersten Gefangenen aus Frankreich als «welsche Schweine» beschimpft. Charlotte Herders 14-jährige Tochter möchte 1915 den Schulunterricht in Französisch und Englisch am liebsten «jetzt abschaffen», weil es sich um die Sprachen der «Feinde» handelt. Währenddessen liest ihre Mutter weiter französische Bücher und wundert sich darüber, wenn Kinder sich gegenseitig als «Engländer» beschimpfen: «Wie haben wir zu unserer Zeit in vielem bewundernd zu den Engländern aufgeschaut, und nun wächst eine Generation heran, die für alles, was ihr verächtlich erscheint, das Wort ‹echt engländerisch› geprägt hat.» Auch im weiteren Verlauf des Krieges bleibt die Haltung zu Kriegsgefangenen uneinheitlich: Während es zwischen ihnen und deutschen Frauen zu Tausenden von Liebesbeziehungen kommt, provoziert
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dieser intime Umgang mit dem «Feind» in der Öffentlichkeit massive Kritik.47 Einerlei wie die Deutschen zu den gefangenen gegnerischen Soldaten und dem Umgang mit ihnen stehen – der stetige Strom von Kriegsgefangenen nährt allgemein die Hoffnung auf einen Sieg. Zusätzliches Futter erhält diese Hoffnung von der Presse. Während des anfänglichen deutschen Vormarsches im Westen jagt eine Siegesnachricht die nächste. Aber auch danach reißen die positiven Meldungen nicht ab. Wiederholt registriert Charlotte Herder während der ersten Kriegsmonate als Folge «Jubel auf den Straßen bis tief in die Nacht, süße, selige Hoffnung, dem Frieden nun um einen großen Schritt näher zu sein – ach unvergeßliche Stunden, wenn solch eine Siegesnachricht eintrifft!» Am Anfang noch skeptisch, diagnostiziert sie an sich selbst nach einem Vierteljahr Krieg eine solche Sucht nach Siegesmeldungen, dass sie auf der Suche danach bei jeder Gelegenheit «die Zeitungen verschlinge – was sind einem nicht die Zeitungen heutzutage!» Dass die Presse bereits kurz nach Kriegsbeginn massiv zensiert wird, realisiert Charlotte Herder wie die meisten Deutschen nicht. Nur vereinzelt wundert sie sich, wenn in den Zeitungen nichts steht über Kämpfe, deren intensiven Geschützdonner sie von der Front hören kann und von denen später Verwundete berichten. Denn noch häufiger als die Transporte mit französischen Kriegsgefangenen passieren bald solche mit deutschen Verwundeten Freiburg. Doch von irgendeiner Front gibt es immer einen Sieg zu berichten. Tatsächlich rücken die deutschen Truppen und ihre Verbündeten nach dem Herbst 1914 zwar nicht mehr im Westen, dafür aber im Osten weiter und weiter vor. Dennoch schwankt zumindest Charlotte Herder innerlich zwischen Hoffnung und Furcht: «Trotz aller Siegesnachrichten schnürt einem doch oft eine heimliche Angst das Herz zusammen, als müßten wir von dieser Übermacht erstickt, erwürgt, erdrosselt werden.»48 Schließlich kommen zu der schon beeindruckenden gegnerischen «Phalanx» aus Frankreich, Großbritannien, Russland, Serbien und Belgien schon 1914 noch Japan, 1915 Italien, 1916 Rumänien und 1917 schließlich die USA hinzu. Doch gibt es auch gute Nachrichten: Auf der Seite der Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn treten erst das Osmanische Reich und dann Bulgarien in den Krieg ein. Die anfänglich weitverbreitete Erwartung eines schnellen Kriegs-
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endes verflüchtigt sich zwar auf Raten. Die Hoffnung auf einen Sieg erhält aber immer wieder neue Nahrung. Charlotte Herder gehört dabei eher zu den pessimistischeren Beobachtern. Mitte September 1914, als die meisten Deutschen noch an einen Frieden vor Weihnachten glauben, fragt sie sich: «Wann wird der Krieg vorüber sein? – darf man hoffen: im Frühjahr?» Zwischenzeitig lässt sie sich gerne ein wenig vom Optimismus um sie herum anstecken. Doch am Ostersonntag 1915 zieht sie schonungslos Bilanz: «Weihnachten dachte man: Ostern ist natürlich längst Frieden. Und wer denkt jetzt an Frieden?» Danach verdunkeln sich ihre Ausblicke in die Zukunft immer weiter. Seit der zweiten Jahreshälfte 1915 sieht sie wiederholt «kein Ende ab, kein Ende» und fragt sich, ob «denn dieser Krieg niemals aufhören» werde. Dieser wachsende, auch von ihrem Mann geteilte Pessimismus führt beide allerdings nicht dazu, die Fortsetzung der für aussichtslos erkannten Kämpfe in Frage zu stellen. Die nagende «Angst um unser Vaterland» stärkt bei Hermann und Charlotte Herder wie bei der überwältigenden Mehrheit der Deutschen vielmehr den störrischen Willen zum «Durchhalten». Der tatsächlich subjektiv ganz verschieden erlebte, meist von Ängsten und Unsicherheit begleitete Anfang des Krieges wird dabei endgültig zu einem einigenden und heroischen «Augusterlebnis» verklärt, zu einem nationalen Aufbruch, hinter den man jetzt nicht mehr zurückgehen kann. Im August 1916 notiert Charlotte: «Ja – wie war man damals vor zwei Jahren noch auf der Höhe und trug die Last des Krieges auf starken Schultern voll baldiger Siegeshoffnung; jetzt sind unsere Schultern gebeugt, und das Ende des Krieges liegt in weiter dunkler Ferne, aber ein Gefühl ist noch gleich stark in uns wie damals: Wir halten durch!»49 Wie in den Schützengräben wird dieses «Durchhalten» auch dahinter, an der «Heimatfront», durch Gewöhnung erleichtert. Diese setzt schon 1915 ein. «Manchmal passiert es mir jetzt, daß ich auf Augenblicke den Krieg vergesse, in den ersten Wochen wäre das unmöglich gewesen, da drang der Krieg im Wachen und im Traume durch», bekennt Charlotte Herder bereits am Anfang dieses Jahres. Als in der zweiten Augusthälfte 1914 Japan das bedrohliche Lager der Feinde weiter verstärkt, ruft die Nachricht davon bei ihr und in ihrer Umgebung noch allgemeines Entsetzen hervor. Als im Mai 1915 auch Italien auf Seiten der Alliierten in den Krieg eintritt, wird das dagegen nur in einem Nebensatz beiläufig
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vermerkt – wieder eine Kriegserklärung. Und während das erste Bombardement Freiburgs aus der Luft noch großes Aufsehen in der Bevölkerung erregt, tun das die folgenden immer weniger. Im April 1915 lässt Charlotte Herder in ihrem Tagebuch die wachsende Zahl von Luftangriffen und deren Todesopfern Revue passieren, um dann festzustellen: «Und doch geht das Leben ganz ruhig seinen Gang weiter.»50 Mit der Mobilisierung aller Ressourcen für eine totale Kriegswirtschaft nehmen spätestens im folgenden Jahr die in kulturelle Kriegspropaganda gesteckten Geldmittel und Energien ab. Aber auch das Interesse der Bevölkerung in der Heimat am Kriegsgeschehen sinkt spürbar. Waffenschauen werden nicht nur seltener organisiert, die noch gezeigten werden auch weniger besucht. Statt den aktuellen Krieg zu thematisieren oder zumindest «patriotische» Akkorde anzuschlagen, bieten Theater und Kinos mit unpolitischen Komödien und Romanzen zunehmend Fluchten aus dem Alltag der «Heimatfront».51 Aus der Welt von Charlotte Herder erscheint schon Anfang 1916 der Krieg so weit wie möglich ausgeblendet: «Unser Leben fließt so ruhig und gleichmäßig dahin wie im tiefsten Frieden.» Die Koffer, die sie am 30. Juli 1914 nicht packen konnte, weil es ihr damals undenkbar erschien, angesichts der Nachrichten über Mobilmachung in das Sommerhaus der Familie im Schwarzwald zu fahren, packt sie nun regelmäßig wieder. Rund um das Sommerhaus geht sie wie vor dem Krieg wandern, pflückt mit ihrer Tochter wieder Brombeeren, macht Marmelade daraus. Den Frontnachrichten in den Zeitungen, die sie anfangs verschlungen hat, kann sie dagegen «nicht mehr folgen, ich kann sie nicht mehr fassen, und ich wende mich von ihnen ab». Im November 1916 notiert sie, «daß mir der Krieg abhanden gekommen ist». Und an Silvester schaut sie mit der Tochter zurück und wundert sich: «Mir ist es, als hätte ich kaum jemals auf ein so leichtes, gutes und glückliches Jahr zurückblicken können, und es ist doch Krieg und unser Vaterland von dunkeln, drohenden Wolken umgeben – wie kann man da eigentlich so sorglos glücklich den Augenblick genießen, wie wir es jetzt tun?»52 Sie ist nicht die Einzige, der es so geht. Entsprechend vielfältig sind die Erklärungen dafür. Wie die Soldaten an der Front nutzen auch die Menschen dahinter jede sich bietende Gelegenheit zu kleinen Fluchten aus der bedrückenden Realität des Krieges. Die Tage, die Hermann Herder auf Heimaturlaub mit seiner Frau verbringen kann, sind für beide
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Zeiten der «Seligkeit» und ein «unfaßbares Glück». Wie verwundete Soldaten beginnt Charlotte Herder vorher als bedrückend empfundene Krankheiten, die sie im Hospital auskuriert, als «Friedensinseln» zu schätzen. «Friedensinseln» erlebt sie auch bei Besuchen von Bekannten, die keine Angehörigen an der Front haben, auf Ausflügen, bei Spaziergängen im Grünen, der Arbeit im Gemüsegarten, mit ihrer Tochter. Wie Millionen andere lernt sie, den Krieg zu verdrängen, weil er ebenso wenig ertragen wie verstanden werden kann: «Wenn man den Krieg begreifen würde, könnte man ihn nicht überleben, aber man begreift ihn nicht von wegen der sieben Häute, die man meistens über der Seele hat.»53 Es gibt noch einen weiteren Grund, warum Charlotte Herder die Realität des Krieges relativ gut erträgt: Paradoxerweise bringt ihr gerade dessen grauenhafteste Begleiterscheinung berufliche Erfüllung. Zu Kriegsbeginn kann sie sich nicht dazu aufraffen, wie andere Damen aus dem gehobenen Bürgertum «Liebestätigkeit» zu organisieren. Am Bahnhof für die ausziehenden Soldaten Kaffee zu kochen und Käsebrote zu schmieren oder den «Helden im Felde» wärmende Socken zu stricken, liegt ihr nicht, auch wenn das von Frauen ihres Standes erwartet wird – was ihr einige schlaflose Stunden bereitet. Nicht zuletzt deshalb ist sie Feuer und Flamme, als ihr Mann dem Roten Kreuz anbietet, in einem infolge des Krieges stillgelegten Produktionsgebäude des Verlags ein Lazarett einzurichten. Mit großem Eifer macht sie das Lazarettprojekt zu ihrem eigenen. Ein Engagement in der Pflege von Verwundeten genießt ebenso gesellschaftliches Ansehen, wie es ihrem eigenen Rollenbild als Frau und ihren Neigungen entspricht. Vor der Heirat hat sie eine Ausbildung als Krankenpflegerin absolviert, danach aber nicht mehr in dem erlernten Beruf gearbeitet. Ende August 1914 wird das improvisierte Lazarett, dessen Mobiliar sie persönlich organisiert hat, eröffnet. Zwei Tage später vertraut sie ihrem Tagebuch über die Tätigkeit dort voller Euphorie an, es sei «so ein freudiges Schaffen und Einrichten, wie man es sich schöner nicht denken kann». Sie hilft den Ärzten bei Operationen, zwischen stöhnenden Verwundeten und Sterbenden desinfiziert und bandagiert sie fieberhaft faulende Wunden, halb abgerissene Füße, durch Granaten in Scherben zerschmetterte Oberschenkel, die in Eiter schwimmen – und schwimmt selbst «in einem Meer von Glückseligkeit». Als nach einigen Wochen ihr
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Charlotte Herder (dritte von rechts) in «ihrem» Lazarett
Mann in der Nähe zu tun hat und sie einen halben Tag mit ihm verbringen kann, hat sie danach «nur den einen Gedanken: ins Lazarett, ins Lazarett!» Und als sie endlich dort ist, jubelt sie: «O welch ein Glück, welch ein Glück, wieder da zu sein, wieder mitarbeiten zu können!» Der Tag, an dem Charlotte Herder ihrem Hermann schließlich das von ihr aufgebaute Lazarett zeigen kann, bildet für sie «einen der Höhepunkte meines Lebens». Offenbar ist es für sie selbst schwer zu sagen, was sie mehr in Hochstimmung versetzt – die Anerkennung des Ehegatten oder das Gefühl, endlich eine erfüllende Aufgabe gefunden zu haben: «Wo hätte ich mir in früheren Zeiten einmal träumen lassen, daß ich etwas schaffen und leisten würde, was dem Geliebtesten solche Freude bereiten könnte? Wie glücklich, wie selig, wie stolz war ich – wenn auch ‹Stolz› nicht gerade das richtige Wort für dieses Gefühl tiefer, demütiger Dankbarkeit ist, daß ich doch nicht so ganz unnütz und untüchtig bin, daß ich doch etwas im Leben habe tun können.» Im Februar 1915 blickt sie auf «ein halbes Jahr des Glückes und der Befriedigung» durch ihre neue Tätigkeit zurück. Die Arbeit im «geliebten Lazarett» beschert ihr auch im weiteren Verlauf des Krieges «täglich neues Vergnügen». Bei den Erholungspausen, die sie im Sommerhaus der Familie im Schwarzwald einlegt, ist ihr schon nach kurzer Zeit wie-
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der danach, zurückzukehren zu langen Schichten am Operationstisch, «ins Getriebe, das der Krieg für uns mit sich gebracht hatte». Immer wieder freut sie sich unbändig, wenn sie etwas Neues dazugelernt hat. Als sie dagegen zeitweilig im Lazarett kaum noch etwas zu tun hat, kommt sie sich überflüssig vor und fällt fast wieder in frühere depressive Stimmungen zurück. Nicht nur als «Vorsteherin» des von ihr begründeten Lazaretts wächst Charlotte Herder in neue Aufgaben hinein. Um die Versorgung ihres Haushalts mit Lebensmitteln sicherzustellen, baut sie den Wintergarten zu einem Stall für Hühner, Hasen und eine Ziege um. Später kommt noch ein Schwein dazu. Im Garten legt sie ein Gemüsebeet an. Weil ihr Mann zur Armee eingezogen wird, sieht sie sich zudem auch mit Entscheidungen über die Zukunft des Verlags konfrontiert. Schon Ende August 1914 nimmt sie bei einer Sitzung der Verlagsleitung zum ersten Mal seinen Platz ein und vertritt selbstbewusst gegen die Mehrheit der Prokuristen ihre eigene Meinung. Und sie ist nicht die einzige Frau im Unternehmen, der sich durch den Krieg neue Wirkungsfelder erschließen. Während ihre Tochter Elisabeth es sogar bedauert, nur Feldpostpakete packen und nicht als Soldat an die Front ziehen zu können, übernehmen überall in Deutschland Frauen Funktionen und Berufe, die bisher Männern vorbehalten waren.54 Viele sehen das freilich nicht so positiv wie Charlotte Herder. Für Stefan Schimmers Frau Katharina, eine Bäuerin, und Frauen aus der Industriearbeiterschaft bedeutet der kriegsbedingte Wegfall von Millionen männlicher Arbeitskräfte zunächst einmal noch mehr Plackerei – ob in Haushalt, Hof oder Fabrik. Bei den meisten der Verheirateten, deren Männer zur Armee müssen, werden die Lohnausfälle dadurch von den nur langsam und spärlich fließenden staatlichen Ersatzleistungen kaum ausgeglichen. Die Wirkungen des Krieges auf die in der Welt hinter den Schützengräben zahlenmäßig dominierenden Frauen unterscheiden sich stark. Ledige kämpfen oft an ganz anderen «Heimatfronten» als Verheiratete, Angehörige des gehobenen Bürgertums an anderen als die Unterschichten. Auch ältere Frauen erleben den Krieg vielfach anders als jüngere. Am wenigsten ändert sich tendenziell für ältere Ehefrauen aus wohlhabenden Verhältnissen, deren Männer nicht wehrpflichtig sind. Für jüngere verheiratete Frauen bringt der Krieg eher Belastungen als Chan-
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cen. Den Ledigen, der vor 1914 am häufigsten erwerbstätigen Frauengruppe, eröffnet er dagegen vielfach neue Perspektiven. Und dazwischen gibt es, wie das Beispiel von Charlotte Herder zeigt, viele weitere Varianten des weiblichen Kriegserlebnisses. Die Emanzipation der Frauen und insbesondere die Einführung des Frauenwahlrechts werden durch diese disparaten Erfahrungen weniger befördert als oft angenommen. Zwar erhalten Frauen am Ende des Weltkrieges in Deutschland wie auch in Großbritannien das Wahlrecht. In anderen am Krieg beteiligten Nationen wie Frankreich und Italien, die mehrheitlich katholisch sind, bleibt es ihnen freilich noch auf Jahrzehnte verwehrt. Das Tempo der Emanzipation hat mehr mit kulturellen Prägungen und gesellschaftlichen Entwicklungen vor 1914 zu tun als mit den Erschütterungen des Krieges.55 Die neuen Aufgaben, die vielen Frauen zwischen 1914 und 1918 zuwachsen, tragen aber auf die eine oder andere Weise dazu bei, die «Heimatfronten» zu stabilisieren – sei es, weil sie wie von Charlotte Herder als Bereicherung empfunden werden oder schlicht weil sie vom Nachdenken über den Sinn des Krieges ablenken. So verschieden die Erfahrungen auch sein mögen, bestärken sie wie das Ausbleiben feindlicher Besatzung, Siegeshoffnungen und Gewöhnungseffekte die große Mehrheit der Menschen lange in einer Mentalität des «Durchhaltens». Besonders die Oberschichten, aber auch manche einfache Bürger erleben die Ausnahmesituation des Krieges sogar als willkommene Abwechslung von einem fade gewordenen Alltag. Der Konsumroutine überdrüssig geworden, entdecken sie das Glück der Bescheidenheit: «Niemals hat einem das Essen so geschmeckt wie jetzt, wo man dunkel die große Teuerung und Hungersnot herannahen sieht und für sein täglich Brot so andachtsvoll dankbar ist wie nie zuvor.»56 Für die Unterschichten, die schon vorher vergleichsweise bescheiden gelebt haben, gilt das nicht – sie geraten jetzt zunehmend an den Rand des Existenzminimums. Seit Beginn des Krieges steigen die Preise für praktisch sämtliche Konsumgüter. Ab 1916 explodieren sie, und es mangelt an fast allem: an Kleidung, an Kohle oder Holz zum Heizen, an Seife und immer mehr auch an Grundnahrungsmitteln. Der Versorgungsmangel trifft zwar jeden, aber nicht gleichermaßen. Wohlhabende wie die Herders können sich auch die horrenden Schwarzmarktpreise für knappe Güter leisten, und die Landwirte sitzen an der Quelle, was Lebensmittel angeht. Die Lage von Unter- und
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Oberschichten, die Situation in den Städten und auf dem Land klafft weiter und weiter auseinander. Die uniforme «Heimatfront», von der offiziellen Kriegspropaganda beschworen, aber in der Realität nie existent, löst sich immer mehr in eine Vielzahl unterschiedlicher Heimatfronten auf. Dennoch bleiben die «Ideen von 1914», seit dem mittlerweile vollständig verklärten «Augusterlebnis» ausdauernd propagiert, weiterhin präsent und einflussreich: die Vorstellung vom Deutschland aufgezwungenen Verteidigungskrieg und der Glaube an die Überlegenheit der eigenen Sache, solange nur in nationaler Einheit die Strapazen an der Front und in der Heimat ertragen werden. Diese Überzeugungen verkleistern lange Zeit erfolgreich die wachsenden Risse in der gesellschaftlichen Fassade. Das gilt auch noch, als sich die Idee der nationalen «Volksgemeinschaft» während des Krieges zunehmend in zwei Varianten ausdifferenziert. Im konservativen Spektrum sieht man die «Volksgemeinschaft» als Instrument zur Festigung, ja zu einem Neuaufbau autoritärer Strukturen. Die totale Kontrolle der Gesellschaft nach militärischem Muster durch einen «Führer», wie Paul von Hindenburg sie als Chef der Obersten Heeresleitung seit 1916 anstrebt und in Ansätzen verwirklicht, wird dafür zum Modell. Bei SPD, Linksliberalen und der Mehrheit der Zentrumspartei gerät die «Volksgemeinschaft» dagegen zur Blaupause für eine demokratische Neuausrichtung deutscher Politik und Gesellschaft.57 Erst als sich ab dem Spätsommer 1918 die Kriegsniederlage unverkennbar abzeichnet, brechen nicht nur die Konflikte zwischen den Repräsentanten dieser beiden neuen Ordnungsmodelle offen aus, sondern auch Front wie Heimatfront schließlich zusammen.
MÜ N C H E N, 7 . N OV E M B ER 1918
Felix Fechenbach (in der Mitte im Mantel mit Pelzkragen, rechts von ihm Else und Kurt Eisner) bei einer Demonstration in München im Februar 1919
Felix Fechenbach macht eine Revolution München, 7. November 1918 Felix Fechenbach macht eine Revolution
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s ist ein guter Tag zum Demonstrieren. Die Sonne scheint. Für die Jahreszeit ist es ungewöhnlich warm. Am Nachmittag strömen die Münchner in Scharen auf die Theresienwiese. Gewöhnlich wird dort jedes Jahr das Oktoberfest gefeiert. Aber seit Beginn des Krieges im August 1914 hat es nicht mehr stattgefunden. Nun füllt sich die Theresienwiese fast so sehr wie in Friedenszeiten während des Festes. Bis zu 200 000 Menschen versammeln sich dort. Ein guter Tag zum Demonstrieren also. Manche der Organisatoren haben allerdings mehr vor als nur eine Demonstration. Am frühen Morgen des Tages haben sich die Initiatoren im Münchner Gewerkschaftshaus getroffen. Die meisten der Anwesenden sind Sozialdemokraten. Nur ein kleiner Teil gehört der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei an, die sich im Frühjahr 1917 von der SPD abgespalten hat. Das Wort führt Erhard Auer, der Vorsitzende der Mehrheits-Sozialdemokratie. Auer will mit der Demonstration den Reformprozess vorantreiben, der im Deutschen Reich und in den Einzelstaaten eingesetzt hat. Unter dem Eindruck der drohenden Kriegsniederlage wird in Berlin seit Oktober 1918 parlamentarisch regiert. Ende des Monats hat der Reichstag Gesetze verabschiedet, mit denen der Kaiser dem Kanzler und dieser dem Parlament verantwortlich gemacht worden ist. In Preußen ist das gleiche Wahlrecht eingeführt worden, das die Sozialdemokratie seit Jahrzehnten gefordert hatte. Auch in München sind Dinge in Bewegung gekommen. Seit Mitte Oktober hat die bayerische Kammer der Abgeordneten über ein Reformgesetz beraten. Anfang November wird es verabschiedet. In Zukunft darf der König die aus den Reihen der Abgeordneten gestellte Regierung nur noch formell bestätigen, sie aber nicht mehr entlassen. Das Wahlrecht soll demokratisiert und ein neues Ministerium gebildet werden, dem erstmals in der Geschichte Bayerns auch Sozialdemokraten angehören. Außerdem ist vorgesehen, die Zusammensetzung der konservativen zweiten Kammer der Reichsräte zu ändern und ihre Kompetenzen zu beschneiden.
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Freilich ist das einstweilen noch Zukunftsmusik. Denn die Zustimmung der Reichsrätekammer zu ihrer eigenen Entmachtung steht noch aus. Die Abstimmung in der Kammer soll erst am 8. November erfolgen – also am Tag nach der angesetzten Kundgebung. Nicht zuletzt deswegen ist Erhard Auer für die Demonstration: Er will Druck auf die widerspenstigen bayerischen Konservativen ausüben. Denn deren Zeitung, das Bayerische Vaterland, hat die anstehende Parlamentarisierung bereits als «ein bedenkliches Experiment» kritisiert.1 Auch sonst erscheint unklar, ob die alten konservativen Eliten wirklich bereit sind, die Macht im Reich und in den Einzelstaaten aus den Händen zu geben. Kaiser Wilhelm II., dessen Rücktritt landauf, landab nicht mehr nur hinter vorgehaltener Hand gefordert wird, hat sich der Diskussion darüber Ende Oktober durch eine fluchtartige Abreise aus Berlin entzogen. Gerüchteweise plant er im deutschen Hauptquartier in Spa, jenseits der Grenze zum besetzten Belgien, an der Spitze des Frontheeres auf die eigene Hauptstadt zu marschieren und dort seine Herrschaft wiederherzustellen. Die Admiräle der Seekriegsleitung haben ohne Abstimmung mit der neuen parlamentarischen Reichsregierung eigenmächtig Befehle zum Auslaufen der Flotte gegeben. Weil das angesichts der feindlichen Übermacht in der Nordsee glattem Selbstmord gleichkommt, hat ein Teil der Matrosen in Kiel dagegen revoltiert. Die Nachricht von der Revolte ist in München vor zwei Tagen, am 5. November, angekommen. Am gleichen Tag sind von Einheiten der bayerischen Armee das österreichische Salzburg und Vorposten in Tirol besetzt worden. Denn die Soldaten des deutschen Verbündeten Österreich-Ungarn haben aufgehört zu kämpfen. Das Reich der Habsburger befindet sich in Auflösung. Bayern, bisher in sicherer Entfernung von allen Fronten gelegen, droht damit plötzlich selbst zum Kriegsschauplatz zu werden, wenn Truppen der alliierten Kriegsgegner in den Alpen und auf dem Balkan durchbrechen sollten. Zwar hat die neue Reichsregierung in Berlin den Alliierten schon vor einem Monat einen Waffenstillstand angeboten. Aber die Verhandlungen darüber ziehen sich hin, und der Alldeutsche Verband, die Vaterlandspartei und andere konservative Gruppen wollen eine Fortsetzung des Krieges. Dass eine solche Politik der «nationalen Verteidigung» Harakiri wäre, ist allen klar, die am Morgen des 7. November im Münchner Gewerkschaftshaus versammelt sind. Der umsichtige Erhard Auer plädiert des-
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halb dafür, bei der Demonstration am Nachmittag über eine Resolution abstimmen zu lassen, die eine Ablehnung der konservativen Ideen und den Waffenstillstand fordert. Außerdem will er eine weitere Demokratisierung des Regierungssystems und der Bürokratie fordern lassen. Der Kaiser soll zurücktreten, das Heer auf die neue Verfassung vereidigt werden. Auer rennt mit diesen Vorschlägen bei den anwesenden Sozialdemokraten offene Türen ein. Auch die Unabhängigen sind einverstanden. Als Vorsitzender der Mehrheits-Sozialdemokratie verfolgt Auer die Strategie, das Kaiserreich auf evolutionärem Weg zu einer parlamentarischen Demokratie zu machen. Diesem Ziel ist er am 7. November schon recht nahe gekommen. Grundsätzlich formuliert hat er sein Konzept bereits zwei Wochen vorher. In einer Rede auf einer Wählerversammlung zur Reichstagsnachwahl im zweiten Münchner Wahlkreis erklärte er zwar, «das bisher herrschende System müsse von der Wurzel bis zum Gipfel vollständig beseitigt werden». Doch gleichzeitig erteilte er revolutionären Methoden eine klare Absage. Die SPD sei keine «Organisation von Illusionären, die glauben, mit Putschen, Gewalt und Gepolter von heute auf morgen aus dem Jammertal einen Himmel für alle machen zu können». Die «Überführung des Obrigkeitsstaates in den Volksstaat» müsse «gesetzlich und auf dem Verwaltungswege» geschehen, unter Einbindung aller reformbereiten gesellschaftlichen und politischen Gruppen. «Die Diktatur einer Klasse wäre verfehlt, sie würde sofort Widerstände der anderen Klasse auslösen und so zu andauernden Bürgerkriegen führen.»2 Das waren prophetische Worte. Sie richteten sich vor allem gegen das Programm von Erhard Auers Konkurrenten bei der Reichstagsnachwahl, dem Kandidaten der Unabhängigen Kurt Eisner. Während Auer sich aus einfachsten Verhältnissen zum Vorsitzenden der Sozialdemokraten in Bayern hochgearbeitet hat, stammt der Intellektuelle Eisner aus einer jüdischen Familie des Berliner Großbürgertums. Frühzeitig ein entschiedener Gegner des Krieges, hat er 1917 die Abspaltung der Unabhängigen von der Sozialdemokratie warm begrüßt. In München ist Eisner bald zum prominentesten Vertreter der USPD geworden. Die Wahlveranstaltungen der Unabhängigen, auf denen er spricht, «wurden zu PropagandaVersammlungen für die kommende Revolution», wie sein engster Mitarbeiter Felix Fechenbach sich später erinnert.3 Auch Kurt Eisner ist am frühen Morgen des 7. November im Ge-
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werkschaftshaus anwesend. Denn auf der Demonstration sollen Redner der Mehrheits-SPD und der Unabhängigen auftreten. Eisner wird einer davon sein. Auer und die anderen Mehrheits-Sozialdemokraten begegnen ihm mit Misstrauen. Sie fragen ihn, ob er und die Unabhängigen mehr planten als das, was zwischen beiden Parteien vereinbart worden ist: Ansprachen auf der Theresienwiese, Abstimmung über die von Auer entworfene Resolution, anschließend ein Marsch zur Statue des Friedens auf dem Prinzregent-Luitpold-Platz (dem heutigen Europaplatz) und dann die Auflösung der Demonstration. Kurt Eisner verneint die Frage. Aber er lügt. Denn in der vergangenen Woche hat Eisner sich wiederholt mit einem kleinen Kreis von Leuten getroffen, zu denen auch der seit Ende Oktober bei ihm wohnende Felix Fechenbach gehört, um den revolutionären Umsturz vorzubereiten. Am 3. November erklärt Eisner sogar auf einer von Fechenbach organisierten öffentlichen Kundgebung der Unabhängigen Sozialdemokraten, dass «die Tage und Stunden bis zum Revolutionsausbruch gezählt» seien. Anschließend erzwingt Fechenbach an der Spitze eines Demonstrationszuges zum Gefängnis in Stadelheim die Freilassung von drei Gleichgesinnten, die im Januar einen Streik von Münchner Munitionsarbeitern angeführt haben. Dann zieht die Menge zur Residenz, dem Wohnsitz des bayerischen Königs. Dort schwingt Fechenbach sich auf das Eisengitter vor dem Palast und kündigt an: «Volk von München! Entscheidungsvolle Tage liegen vor uns. Es gilt jetzt, bereit zu sein!» Währenddessen ist Eisner ins Umland der bayerischen Hauptstadt gefahren, um Gespräche mit Führern des Bayerischen Bauernbunds zu führen. In die Stadt zurückgekehrt, lässt er sich am Abend des 5. November vor mehreren Tausend Menschen auf einer Wahlversammlung zu der Äußerung hinreißen: «Nur noch kurze Zeit. Aber ich setze meinen Kopf zum Pfande, ehe 48 Stunden verstreichen, steht München auf!»4 Unter diesen Umständen kann es nicht ausbleiben, dass die Polizei von den konspirativen Vorbereitungen Wind bekommt. Am 6. November, als Fechenbach und die anderen Verschwörer in Kurt Eisners Wohnung noch einmal den Plan für den nächsten Tag durchgehen, berichtet die Münchner Polizeidirektion dem Innenminister, «sie habe auf Grund ihrer Überwachungsmaßnahmen nun mit Sicherheit feststellen können», dass die Unabhängige Sozialdemokratische Partei im Anschluss an die Demonstration auf der Theresienwiese «einen großen Schlag plane».
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Die Polizeikräfte sind aber zu schwach, um alle neuralgischen Punkte der Innenstadt – Post- und Telegraphenamt, Hauptbahnhof, Ministerien und Landtag – zu schützen. Der Innenminister einigt sich mit dem Kriegsminister deswegen auf eine Aufgabenteilung. Uniformierte Polizisten sollen sich vor dem Polizeipräsidium und der preußischen Gesandtschaft aufstellen. Alle anderen Polizeibeamten werden in Zivil die Stadt durchstreifen und alles Auffällige sofort berichten. Die in München stationierten Truppen des Ersatzheeres, zusammen etwa 1100 Soldaten, übernehmen den Schutz von Ministerien, Ämtern, Bahnhof und Parlamentsgebäude. Ganz wohl ist dem Innenminister aber offenbar trotzdem nicht. Später am Tag trifft er sich im Landtag mit den Politikern der Parteien, die eine neue Regierung bilden sollen, wenn die Reichsrätekammer endlich den Verfassungsreformen zustimmt. Auch Erhard Auer ist dabei. Der Innenminister fragt, ob man Kurt Eisner sicherheitshalber verhaften solle. Aber die Abgeordneten meinen, das werde die Unruhe in der Bevölkerung eher noch anstacheln, nicht dämpfen. Auer reagiert nach dem Bericht eines Zeitzeugen geradezu allergisch: «Reden Sie doch nicht immer von Eisner; Eisner ist erledigt. Sie dürfen sich darauf verlassen. Wir haben unsere Leute in der Hand. Ich gehe selbst mit dem Zuge. Es geschieht gar nichts.» Auf eine besorgte Anfrage nach der Loyalität der Soldaten in der Stadt antwortet der Kriegsminister: «Es gibt unruhige und unzuverlässige Elemente auch in der bayerischen Armee. Aber, meine Herren, Sie können ganz beruhigt sein. Die Armee als Ganzes ist noch fest in unserer Hand. Es wird nichts passieren.» Beruhigt gehen die Teilnehmer des Treffens auseinander.5 Am nächsten Morgen, es ist der 7. November, hängen in den Straßen Münchens neben den Aufrufen zur Kundgebung auf der Theresienwiese auch Bekanntmachungen des Innenministeriums. Der Minister warnt vor Unruhen, die nur den Abschluss des Waffenstillstandes und die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln gefährden würden. Vor Behörden und Ämtern ist Militär postiert, bewaffnet mit Maschinengewehren und Tränengas. Die in Zivil durch die Stadt streifenden Polizisten müssen allerdings feststellen, dass vielfach die Soldaten vorbeigehenden Arbeitern zurufen, keine Angst haben zu müssen: Sie würden in keinem Fall auf das Volk schießen. Die betreffenden Posten werden abgelöst. Aber die Truppen, die sie ersetzen, verhalten sich genauso.
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Gegen Mittag findet eine letzte Besprechung der Verschwörer statt. Um ein Uhr schließen die meisten Geschäfte und alle größeren Betriebe, damit die Beschäftigten an der Kundgebung teilnehmen können. Zwischen zwei und drei Uhr füllt sich die westlich des Stadtzentrums gelegene Theresienwiese. Zeitgenössische Schätzungen über die Zahl der Demonstranten schwanken zwischen 50 000 und 200 000. München hat zu diesem Zeitpunkt 600 000 Einwohner. Je nachdem ist also jeder Dritte bis Zwölfte davon anwesend. Auf alle Fälle ist die Masse der Teilnehmer viel zu groß, als dass ein Redner sie alle erreichen könnte. Elektrisch verstärkende Lautsprecher gibt es noch nicht – sonst wäre es an diesem Tag wahrscheinlich nicht zur Revolution gekommen. Denn, auf der Westseite der Wiese verteilt, stehen die zehn Redner in regelmäßigen Abständen, ohne mitzubekommen, was der Nachbar seinen Zuhörern sagt. In der Mitte, auf der Freitreppe vor der Bavaria-Statue, steht Erhard Auer. Kurz nach drei Uhr beginnt er zu sprechen, wie verabredet etwa eine Viertelstunde lang, und lässt danach über die von ihm formulierte Resolution abstimmen. Alle Hände heben sich zustimmend. Dann bewegen sich seine Zuhörer, gefolgt von denen der meisten anderen Redner, über die Wiese nach Osten, an der Spitze eine Musikkapelle. Sie ziehen durch die Innenstadt, kommen an der königlichen Residenz vorbei, wo sich ihnen ein Großteil der dort stationierten Wachsoldaten anschließt, und erreichen nach der Überquerung der Isar den goldenen «Friedensengel». Dort löst sich die Kundgebung auf – nach der kurzen Ansprache eines Reichstagsabgeordneten der Mehrheits-Sozialdemokratie, der zum Schluss alle auffordert, ruhig nach Hause zu gehen. Nicht so die Zuhörer Kurt Eisners. Der hat sich denkbar weit entfernt von Auer positioniert, am nordwestlichen Ende der Theresienwiese. Unter denen, die dort stehen, finden sich auffallend viele Militärs. Zwar hat die Münchner Ortskommandantur der Armee eine Ausgangssperre für die Truppen in den Kasernen verhängt. Aber sei es, weil dieser Befehl auf Bitten der Sozialdemokraten rückgängig gemacht wurde oder weil die Soldaten ihn ignorierten: Um Eisner herum sieht man viele Männer in feldgrauen Uniformen, und manche davon tragen rote Fahnen. Zudem sind seit einigen Tagen eintausend Matrosen in der Stadt. Von der Adria sollten sie eigentlich an die Nord- und Ostseehäfen verlegt werden. Aber angesichts der Revolte in Kiel erscheint das der Admiralität, die Ansteckungsgefahr fürchtet, nicht mehr als eine so gute Idee.
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Etwa eintausend Matrosen und Soldaten in Uniform befinden sich unter Eisners Zuhörern. Er spricht «kurz und bündig»: Denn schließlich sei schon «jahrelang geredet worden». Seine knappe Ansprache gipfelt in dem Aufruf, man müsse «jetzt handeln!» Einer seiner Zuhörer erinnert sich später, daraufhin zu seinem Nebenmann gesagt zu haben: «Hoffentlich gehen sie heut nicht wieder heim und tun nichts.» Ein dabeistehender Mann in Uniform antwortet: «Nana, heut gehn wir net hoam. Heut geht’s ganz woanders hin. Gleich werd’s losgehn.» Dann macht Eisner Platz für einen anderen Redner. Es ist der Bauer Ludwig Gandorfer aus Pfaffenberg, etwa hundert Kilometer nördlich von München. Gandorfer ist eine skurrile Gestalt. Als junger Mann in seinem Dorf wiederholt in Konflikten mit der Obrigkeit, hat er zahllose Gefängnisstrafen verbüßt. Danach wandert er vorübergehend nach DeutschOstafrika aus und zieht sich dort eine Krankheit zu, an der er erblindet. Nach Deutschland zurückgekehrt, heiratet Gandorfer, lässt sich bald wieder scheiden und wird Sozialdemokrat. Von seinem Vater erbt er einen großen Hof, wo er mit Eisner und anderen Verschwörern in den ersten Novembertagen die Einzelheiten der geplanten Revolution besprochen hat. Auf der Theresienwiese verspricht der blinde Bauer den Zuhörern jetzt, «daß das Landvolk die Arbeiter nicht im Stich lassen» werde. Auch die Landwirte hätten genug vom Krieg und von der Monarchie. Schließlich tritt, in Uniform und eine rote Fahne schwenkend, Felix Fechenbach vor. Gandorfer hat die Revolution mit vorbereitet, Eisner soll ihr Gesicht werden. Aber Felix Fechenbach wird sie machen. Der 24 Jahre alte Fechenbach ist Eisners engster Vertrauter. In Würzburg aufgewachsen, als Sohn eines jüdischen Bäckers, hat er nach einer kaufmännischen Ausbildung schon mit 16 Jahren begonnen, sich politisch zu engagieren. 1914 gründet er die Jugend-Sektion der Münchner Sozialdemokratie. Im nächsten Jahr wird er als Frontsoldat verwundet und ausgezeichnet. Seitdem arbeitet er als Schreibkraft beim Ersatzheer in der bayerischen Hauptstadt. Nebenbei besucht er Vorlesungen in Volkswirtschaft, erwirbt nach autodidaktischer Weiterbildung die Hochschulreife, organisiert einen politischen Gesprächskreis. Schon als Eisner im Januar des Jahres 1918 versucht, die Münchner Rüstungsarbeiter aufzuwiegeln, hat Fechenbach sich mit ihm dabei die Bälle zugespielt. Jetzt, bei der Kundgebung auf der Theresienwiese, gibt er das entscheidende Stichwort. Er spricht besonders die anderen anwesenden Uniformträger an:
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Viele Soldaten könnten nicht an der Kundgebung teilnehmen, weil sie in den Kasernen festgehalten würden. Und dann ruft er: «Soldaten! Auf in die Kasernen! Befreien wir unsere Kameraden! Es lebe die Revolution!» Die nächste Kaserne liegt im Münchner Westend, anderthalb Kilometer entfernt. Etwa 2000 Teilnehmer der Demonstration auf der Theresienwiese machen sich auf den Weg dorthin – unbemerkt von der großen Masse, die nach Osten Richtung Innenstadt abzieht. Unterwegs treffen sie auf weitere Soldaten, die sich ihnen anschließen. Felix Fechenbach mit der roten Fahne marschiert voran, hinter ihm folgen der blinde Ludwig Gandorfer und Kurt Eisner Arm in Arm. Eisner sieht blass aus. Wenn man den später niedergeschriebenen Erinnerungen eines Beobachters glauben darf, wirkt er «halb ängstlich und halb verstört», geradezu so, «als hätte ihn das jähe Ereignis selber überfallen». Seine Rolle ist jedenfalls vorerst ausgespielt. Bei den entscheidenden Ereignissen der nächsten fünf Stunden tritt er nicht mehr prominent in Erscheinung.6 Fechenbach leitet die Aktionen am ersten Ziel, der provisorisch als Kaserne genutzten Guldeinschule. Dort ist an die Besatzung scharfe Munition ausgegeben worden. Fechenbach schlägt ein Fenster ein, dringt ins Zimmer des Kommandanten vor und fordert diesen zur Übergabe auf. Der Offizier weigert sich. Die draußen Zurückgebliebenen sprengen das Tor. Die Besatzung der Kaserne läuft sofort zu den Revolutionären über, die sich mit Maschinengewehren und Munition eindecken. Fechenbach führt seine angeschwollene Truppe über die Eisenbahn in den Norden der Stadt, wo die übrigen Kasernen liegen. In der des ersten Infanterieregiments am Marsfeld sind die Soldaten schon mit Ausrüstung im Hof versammelt, um gegen die «Ordnungsstörer» eingesetzt zu werden. Doch als die anrücken, laufen die Mannschaften sofort zu ihnen über. So geht es weiter. In fast allen Kasernen spielt sich das Gleiche ab: Eine Abordnung mit Fechenbach an der Spitze betritt das Gebäude, verkündet unter Schwenken der roten Fahne die Revolution, erklärt den Krieg für beendet und wird von den Soldaten der Garnison begeistert gefeiert. Die wenigen Offiziere, die sich nicht durch den Hintereingang davongemacht haben, werden entwaffnet, Kokarden in den kaiserlichen Farben Schwarz-Weiß-Rot abgerissen. Nur die Hofwache in der sogenannten Türkenkaserne neben dem Palast der Wittelsbacher leistet teilweise Widerstand mit Tränengasgranaten, der aber bald gebrochen ist. Gegen fünf Uhr teilt das Armeekommando der Polizeidirektion tele-
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fonisch mit, dass eine allgemeine Meuterei der in München stationierten Truppen ausgebrochen ist. Der Stadtkommandant bittet um Hilfe, die der Polizeipräsident freilich ablehnt. Was könnten seine Leute gegen die wesentlich besser bewaffneten Soldaten schon ausrichten? Gleichzeitig berät im Landtagsgebäude ein desinformierter Ministerpräsident mit Innenminister und Kriegsminister die Lage, ohne zu einem Entschluss zu kommen. Nebenan im Plenarsaal debattieren währenddessen die Abgeordneten über die Kartoffelversorgung. Gegen sieben Uhr abends verlässt der Kriegsminister die Stadt, in der ihm kein einziger Truppenteil mehr zur Verfügung steht. In Landsberg am Lech versucht er eine dort stationierte preußische Division zu mobilisieren, um die Revolution in München niederzuschlagen. Als aber die preußischen Soldaten erfahren, worum es geht, meutern sie ebenfalls. König Ludwig III. hat derweil nichtsahnend seinen täglichen Nachmittagsspaziergang im Englischen Garten absolviert. Angeblich ruft ihm ein wohlmeinender Passant zu: «Majestät, gengan’s hoam, sonst is g’feit!» Der Monarch befolgt den Rat und begibt sich zurück zu seiner kranken Gattin in die Residenz. Dort hat sich die Wache mittlerweile bereits verlaufen. Auch von der königlichen Leibgarde mit ihren hellblauen Paradeuniformen, einer aus korpulenten älteren Unteroffizieren bestehenden Truppe, in der Stadt mehr für ihren Bierkonsum bekannt als für ihr Motto «Nur über unsere Leichen zum Thron», ist weit und breit nichts zu sehen. König und Königin harren in den gespenstisch leeren Räumen der Residenz aus, bis um acht Uhr der Ministerpräsident kommt und ihnen rät, die Stadt möglichst schnell zu verlassen. Die königliche Familie flüchtet überstürzt mit dem Auto erst in eines ihrer Schlösser am Chiemsee, dann über die Grenze nach Österreich. In der Eile vergisst Ludwig in der Residenz seine «Leibwäsche». Kurt Eisner erweist sich aber als großzügig genug, dem Monarchen die königlichen Unterhosen später nachsenden zu lassen.7 Während das Automobil der Königsfamilie München am Abend des 7. November verlässt, sitzt Eisner südlich der Isar in einem Bierkeller. Dorthin hat der 51-Jährige sich zurückgezogen, dem jungen Fechenbach und seinen bewaffneten Kameraden den Sturm auf die Kasernen überlassend. Gegen neun Uhr sind alle militärischen Stützpunkte in der Stadt und auch der Hauptbahnhof unter Kontrolle der Revolutionäre. Am zentral gelegenen Karlsplatz, dem «Stachus», tagt im oberen Saal des
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Mathäser-Brauhauses ein Soldatenrat. Im unteren Saal wird der dazugekommene Eisner durch Akklamation zum Vorsitzenden des Arbeiterrates gewählt. Fechenbach hat die Sitzungen vorbereitet und sogar Eintrittskarten dafür verteilt. Vom Brauhaus aus entsenden die beiden Räte Truppen zur Besetzung der öffentlichen Gebäude in der Stadt. Vor dem Haus herrscht ein hektisches Kommen und Gehen von bewaffneten Patrouillen. Schwer beladene Lastwagen rattern über das holprige Pflaster vom Hof auf die Straße. Telegraphenamt, Post und Zeitungsredaktionen werden von den Revolutionären übernommen. Danach marschieren die Mitglieder des Arbeiter- und Soldatenrats zum Landtagsgebäude, begleitet von Ludwig Gandorfer als designiertem Vorsitzenden eines Bauernrats. Um halb elf abends steht Eisner, mit wirrem Haar und offenem Hemd ganz dem Bild des Revolutionärs entsprechend, am Platz des Landtagspräsidenten und verkündet die Gründung der Republik. Sie sei «die einzige Möglichkeit, einen Frieden zu gewinnen, der zur Rettung Deutschlands führe». Auf eigenen Vorschlag wird er als provisorischer Ministerpräsident akklamiert. Während anschließend Fechenbach dem Plenum über den Verlauf der Revolution berichtet, entwirft Eisner einen Aufruf an die Münchner, der am nächsten Morgen in der Stadt plakatiert und in der Presse gedruckt wird. Dann legt er sich im Landtagsgebäude auf ein rotes Plüschsofa und schlummert ein paar Stunden. Der unermüdliche Felix Fechenbach dagegen leitet um ein Uhr morgens noch die Besetzung des Polizeipräsidiums durch die Revolutionäre. Auf dem Rückweg zum Mathäser-Brauhaus verhindert er dann eine Schießerei zwischen einem Trupp Soldaten und einigen Offizieren, die sich in einem Hotel verschanzt haben. Er bewegt die Offiziere zur Aufgabe und organisiert ihre Entwaffnung. Das Gefecht an der «Türkenkaserne» bleibt damit die einzige bewaffnete Auseinandersetzung der Revolution in München. Ebenfalls nach Mitternacht empfängt der Innenminister einen sichtlich verdatterten Erhard Auer. Der Führer der Mehrheits-Sozialdemokraten kann kaum glauben, was der Minister ihm offenbart. Entgegen allen seinen Erwartungen ist die alte Ordnung in wenigen Stunden sangund klanglos zusammengebrochen. Entgeistert soll Auer nachgefragt haben, ob denn wirklich nicht einmal 500 Mann zuverlässige Truppen vorhanden seien, um die Revolution noch in der Nacht niederzuschlagen.
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Wenn nicht, bleibe ihm selbst und der Mehrheits-SPD nichts anderes übrig, als sich mit den neuen Machthabern zu arrangieren.8 Genau ein solches Arrangement bietet Kurt Eisner am nächsten Morgen an. Und Erhard Auer, überzeugt davon, dass es mittlerweile zu spät ist, die Entwicklung noch umzukehren, akzeptiert das Angebot. Zu der Anfang November im Landtag verabredeten Bildung eines Koalitionskabinetts aus Mehrheits-Sozialdemokratie und bürgerlichen Parteien kommt es also nicht. Stattdessen bildet sich am 8. November eine Regierung, die aus vier Ministern der MSPD, drei der Unabhängigen und einem Parteilosen besteht. Ministerpräsident wird Eisner, Felix Fechenbach sein persönlicher Referent.
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Gut zwei Monate später, am 12. Januar 1919, finden die ersten Landtagswahlen im jetzt republikanischen «Freistaat» Bayern statt. Erstmals ist das Wahlrecht absolut gleich. Die Wahlbeteiligung erreicht nie gekannte Rekordhöhen. Und das Wahlergebnis zeigt, dass die Partei Fechenbachs und Eisners, die Unabhängigen Sozialdemokraten, nur einen sehr kleinen Bruchteil der Einwohner Bayerns und Münchens vertritt. Für die Unabhängigen stimmen im Landesdurchschnitt gerade einmal zweieinhalb Prozent aller Wähler. In der bayerischen Hauptstadt sind es fünf Prozent. Die Mehrheits-Sozialdemokratie kommt in München auf fast zehnmal so viel: Beinahe die Hälfte aller Bewohner der Hauptstadt stimmt für die Partei Erhard Auers. In ganz Bayern ist es ein Drittel, der Rest der Stimmen verteilt sich auf die bürgerlichen Parteien. Warum gelang die Revolution dennoch? Warum stieß das kleine Häuflein der Revolutionäre um Fechenbach auf praktisch keinerlei Gegenwehr? Warum stand niemand auf, um die Monarchie zu verteidigen – weder in München noch in Berlin oder irgendwo sonst in Deutschland? «Wir sind für die Republik nicht geschaffen. Das monarchische Gefühl sitzt uns im Blut seit vielen 700 Jahren», schrieb der Münchner Gymnasiallehrer Josef Hofmiller, ein aufmerksamer Chronist der Revolution in Bayern, noch eine Woche nach den Ereignissen vom 7. November ungläubig in sein Tagebuch. «Herrscherhaus und Volk sind bei uns seit
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700 Jahren zusammengewachsen; das kann nicht von heut auf morgen durch noch so ideal gemeinte Sprüche eines Literaten beseitigt werden.» Selbst Erhard Auer und die Mehrheit der Sozialdemokraten hatten einen Umsturz für unmöglich gehalten. Dennoch geschah er über Nacht. «München war als Hauptstadt des Königreichs Bayern zu Bett gegangen, um als Hauptstadt des bayerischen ‹Volksstaats› zu erwachen.»9 Der Machtzerfall der deutschen Monarchien war die Folge des Ersten Weltkriegs. Erst im Krieg, vor allem seit 1916, verlor die Herrschaft des Kaisers, des bayerischen Königs und der übrigen deutschen Fürsten rapide an Legitimität. Bis zum Herbst 1918 war das Ansehen der regierenden Aristokratie in Deutschland auf den Nullpunkt gesunken. Jegliche Autorität hatte sie verspielt. Die Herrschaft der alten Elite glich einer ausgehöhlten Fassade, hinter der Holzwürmer alles Gebälk weggenagt hatten. Unter diesen Umständen reichte schon ein kleiner Tritt, um die Fassade zum Einsturz zu bringen. Bei Kriegsausbruch hatte das noch ganz anders ausgesehen. Sicher, Wilhelm II. war vor dem Weltkrieg nicht eben ein überall beliebter Herrscher gewesen. König Ludwig III. nahmen manche Bayern übel, dass er sich bei der Thronfolge an seinem geisteskranken Vetter Otto vorbeigedrängelt hatte. Aber weder der Bayernkönig noch der Kaiser in Berlin waren 1914 bei all ihren Untertanen gänzlich unpopulär. Mit Beginn des Krieges gewannen sie als Symbole nationaler Einigkeit sogar vorübergehend wieder an Prestige. Wo immer König Ludwig sich Anfang August 1914 in München öffentlich zeigte, wurde er mit lauten Hochrufen gefeiert. Und Kaiser Wilhelm II. antwortete ein «langanhaltendes brausendes Bravo» von allen Seiten, als er die außerordentliche Sitzung des Reichstags in Berlin am 4. August 1914 mit den Worten eröffnete, die zuvor schon in einer Menschenmenge vor dem Stadtschloss ein begeistertes Echo hervorgerufen hatten: «Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche.» Zum ersten Mal stimmten dabei auch die Sozialdemokraten ein. Nie zuvor hatte die Nation so einig gewirkt – selbst 1871 nicht, als die sozialdemokratischen Abgeordneten August Bebel und Wilhelm Liebknecht die Reichsgründung ablehnten. Und nie zuvor hatte die parlamentarische Vertretung der Nation dem Monarchen so geschlossen zugejubelt.10 Nicht nur ausländischen Beobachtern erschien es zwar unzeitgemäß, dass nach wie vor eine aristokratische Elite aus Grundbesitzern das zum
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Industriestaat gewordene Deutsche Reich regierte. Auch mehr und mehr Menschen in Deutschland selbst sahen darin einen Anachronismus. Die Verweigerung eines demokratischen Wahlrechts sorgte besonders in Preußen schon vor 1914 für viel Unmut. Gegensätze zwischen Stadt und Land, klassengesellschaftliche Strukturen, die soziale Kluft zwischen Arm und Reich verschafften Protestbewegungen Zulauf, vor allem der Fundamentalopposition der SPD. Auf der anderen Seite hatte die materielle Lage aller Deutschen sich seit der Reichsgründung gewaltig verbessert. Im Gegensatz zu früheren Generationen kannten die nach den 1870er Jahren Geborenen bis zum Ersten Weltkrieg keine elementaren Hungererfahrungen mehr. Die Lebenserwartung war beträchtlich angestiegen. Der demokratisch gewählte Reichstag gab zumindest der erwachsenen männlichen Bevölkerung zum ersten Mal in der deutschen Geschichte das Gefühl, ihr eigenes Schicksal mitbestimmen zu können. In Bayern, den anderen süddeutschen Staaten und Sachsen war das Wahlrecht zu den Landtagen im Jahrzehnt vor 1914 demokratisiert worden. Und selbst in Preußen schien eine ähnliche Entwicklung zumindest denkbar, seit nicht mehr nur die Sozialdemokraten, sondern auch Liberale und Zentrum Wahlrechtsreformen im größten Bundesstaat forderten. In Russland, den USA und vielen anderen Staaten der Welt schoss das Militär ungestraft auf die Bürger. In Deutschland dagegen verursachte es schon einen Aufschrei der Empörung, wenn Soldaten wie 1913 im elsässischen Zabern einige Bürger über Nacht widerrechtlich einsperrten – und der deutsche Kaiser änderte danach das Militärstrafrecht, um die Wiederholung einer solchen Affäre auszuschließen. Sosehr die Deutschen im Kaiserreich auch über schnauzbärtige Schutzmänner und barsche Offiziere klagen mochten: Sie wussten es doch zu schätzen, dass anders als in vielen anderen europäischen Ländern Polizei und Militär im Zweifelsfall Pogrome und Ausschreitungen unterdrückten. Anders als in Frankreich, Italien, Österreich-Ungarn, Russland und den USA wurde in Deutschland während des halben Jahrhunderts vor dem Ersten Weltkrieg kein tödliches Attentat auf einen Monarchen oder hohen staatlichen Würdenträger verübt. Zwar schrumpfte bei Wahlen die Unterstützung der Konservativen immer weiter. Gleichzeitig wuchs die Zahl derjenigen, die der Fundamentalopposition SPD ihre Stimme gaben. Aber bis 1914 konnten die Sozialdemokraten reichsweit nicht
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mehr als ein Drittel der Deutschen, also keine Mehrheit, für sich gewinnen. In Bayern waren es noch einmal deutlich weniger. Die meisten Sozialdemokraten wollten zudem keine Revolution. Wie Erhard Auer waren sie für eine Politik des evolutionären Wandels, des Arrangements mit bürgerlichen Parteien und herrschenden Aristokraten. Im August 1914 gab es kaum entschiedene Opposition gegen die Entscheidung der regierenden Eliten für den Krieg. Die Bandbreite der Reaktion reichte von heller Begeisterung bei einigen bis hin zu stiller Fügung in das scheinbar Unvermeidliche bei den meisten Deutschen. Selbst unter den Sozialdemokraten war fundamentale Kritik seit der deutschen Mobilmachung so selten, dass die Handvoll Skeptiker in der SPD-Reichstagsfraktion sich deren Mehrheit unterwarfen und für die Kriegskredite stimmten. Auch Felix Fechenbach und Kurt Eisner glaubten bei Kriegsbeginn, Deutschland müsse sich gegen das zaristische Russland verteidigen. Am 27. Juli 1914 hatte Fechenbach es noch für eine «Selbstverständlichkeit» gehalten, sich an einer Kundgebung «gegen den drohenden Krieg» zu beteiligen. An der Spitze der Jugendsektion der Münchner SPD marschierte er in einer bald von der Polizei aufgelösten Demonstration mit. Doch während der folgenden Tage gelangte er wie fast alle Sozialdemokraten zu der Überzeugung, «daß der Zarismus uns überfallen habe». Eisner war schon Ende Juli von einer russischen Aggression ausgegangen, deren Ausufern zu einem europäischen Krieg allein Frankreich und Großbritannien noch verhindern könnten. Anfang August schrieb er: «Jetzt hat der Zarismus Deutschland angegriffen, jetzt haben wir keine Wahl, jetzt gibt es kein Zurückblicken. Jetzt hat das deutsche Proletariat den Erbfeind der europäischen Gesittung zu vernichten – als Deutsche, als Demokraten, als Sozialisten ergreifen wir die Waffen für eine gerechte Sache.»11 Angesichts von Informationen, die er über die Politik der deutschen Reichsleitung in der Julikrise erhielt, revidierte wenigstens Eisner diesen Standpunkt jedoch bald wieder. Seit dem Herbst 1914 überzeugt von einer deutschen Hauptschuld am Kriegsausbruch, machte er die Verbreitung dieser Überzeugung zu seiner Lebensaufgabe. Damit manövrierte er sich allerdings auf Jahre in eine fast völlige Isolation. Denn die meisten Deutschen einschließlich der großen Mehrheit von Eisners sozialdemokratischen Parteigenossen glaubten lange Zeit weiterhin an einen deutschen Verteidigungskrieg.
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Das galt auch für Felix Fechenbach. Anfang 1915 an die Westfront gekommen, engagierte er sich dort ebenso entschieden wie vorher im Zivilleben. In einem tollkühnen Himmelfahrtskommando, für das er mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet wurde, führte er eine Patrouille hinter die feindlichen Linien. Dass er bei der Aktion verwundet wurde, zunächst Monate im Lazarett liegen musste und deshalb auch später immer wieder wegen gesundheitlicher Probleme ausfiel, dämpfte seinen Enthusiasmus für die deutschen Kriegsanstrengungen nicht. Im Sommer 1915 kommentierte er euphorisch den Vormarsch der Truppen des Deutschen Reiches und Österreich-Ungarns an der Ostfront: Ein «Siegeszug der Zentralmächte» sei damit kaum noch aufzuhalten, «das ganze Unglück» des Krieges deshalb hoffentlich bald vorbei.12 Ein Jahr später, im Juli 1916, wurde Fechenbach zum Unteroffizier befördert. Sein Kompanieführer beim Münchner Ersatzheer bescheinigte ihm sehr gute Arbeit. Neben dem Bürojob bei der Armeeverwaltung blieb ihm dennoch genug Zeit, sich auf der Handelsschule beruflich weiterzubilden. Abends nutzte er oft die Gelegenheit, als Uniformträger kostenlos ins Theater zu gehen. In mancher Hinsicht arrangierte Fechenbach sich zunehmend mit dem Kriegsalltag. Wie in Friedenszeiten ging er mit Freunden am Wochenende auf lange Wanderungen. Auch seine Arbeit für die SPD nahm er wieder auf. Wie vor dem Krieg engagierte er sich erneut in der Jugendsektion der Partei. Dabei ergaben sich engere Kontakte zu Kurt Eisner. Aber auch zu Erhard Auer knüpfte Fechenbach Verbindungen. Auers Kurs, auf eine enge Zusammenarbeit der SPD mit der bayerischen Regierung zu setzen, war in der Partei populär. Denn seit Beginn des Krieges zeigte er Erfolge. Bis 1914 hatten Mitglieder von Gewerkschaften, die der Sozialdemokratie nahestanden, nicht im bayerischen Eisenbahndienst arbeiten dürfen. Vor dem Krieg waren Sozialdemokraten in Bayern auch nicht zu Gemeindeämtern zugelassen worden. Jetzt wurden diese Diskriminierungen schrittweise beseitigt. Bei Kriegsbeginn hatte die SPD nicht nur ihre Zustimmung zu den Kriegskrediten, sondern auch zum sogenannten Burgfrieden gegeben. Alle innenpolitischen Auseinandersetzungen sollten für die Dauer der Feindseligkeiten vertagt werden. Wahlen und Wahlkämpfe sollten nicht stattfinden. Die sozialistischen Gewerkschaften erklärten sich dazu bereit, auf Streiks zu verzichten, um die nationalen Kriegsanstrengungen
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nicht zu gefährden. Die Regierungen überall im Deutschen Reich honorierten das, indem sie Diskriminierungen der SPD aufhoben. Zumindest Liberale und Zentrum behandelten die Sozialdemokraten nun als gleichberechtigte Partner. Auf der Ebene parlamentarischer Politik hielt dieser im August 1914 geschlossene «Burgfrieden» zwei Jahre nach Kriegsbeginn immer noch weitgehend. An der Basis der Gesellschaft sah es zu diesem Zeitpunkt allerdings schon anders aus. Bereits seit dem Herbst 1915 gab es vor allem in norddeutschen Städten erste Unruhen und Demonstrationen. Stein des Anstoßes in der Bevölkerung war ein Mangel an Grundnahrungsmitteln. Im Juni 1916 demonstrierten auch auf dem Münchner Marienplatz Tausende Menschen, vor allem Hausfrauen, weil es für ihre Brotkarten nichts zu kaufen gab. Dabei gingen die Fensterscheiben einiger Läden zu Bruch, und schließlich kam es zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizei. Hauptursache des Mangels war die Seeblockade, die Großbritannien bei Kriegsbeginn über die deutschen Häfen verhängt hatte. Das Deutsche Reich war auf Lebensmittelimporte angewiesen; unter dem Strich hatten seine Bürger vor dem Krieg mehr Nahrung verbraucht als selbst erzeugt. Da trotz aller großspurigen Versprechungen von Admiral Tirpitz die eigene Hochseeflotte zu schwach war, um die Blockade zu brechen, lag Deutschlands einzige Hoffnung im U-Boot-Krieg. Die Seekriegsleitung spekulierte sogar darauf, mit U-Booten den Spieß umdrehen und das ebenfalls von Nahrungsimporten abhängige Großbritannien aushungern zu können. Voraussetzung dafür war allerdings, auch Schiffe neutraler Länder zu versenken, die britische Häfen ansteuerten. Einen solchen unbegrenzten U-Boot-Krieg hatte Deutschland 1915 bereits kurzfristig betrieben, aber nach Protesten der USA wieder eingestellt, um nicht deren Kriegseintritt auf Seiten der Gegner zu provozieren. So blieb einstweilen nur eine Verwaltung des Mangels. Bald überboten die Behörden von Reich, Einzelstaaten und Kommunen sich mit Gesetzen und Verordnungen. Sie führten Höchstpreise ein, kontrollierten Erzeuger und Händler, legten Vorräte an und rationierten mehr und mehr Produkte. Ein Wildwuchs von staatlichen und halbstaatlichen Organisationen entstand, die häufig weniger miteinander als gegeneinander arbeiten. Versuche, das Chaos zu ordnen, führten schließlich im Frühjahr 1916 zur Gründung eines Reichsernährungsamtes in Berlin. In Bayern
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wurde nach den Münchner Unruhen im Sommer ein Ernährungsbeirat gebildet, der die Regierung beraten sollte. Oft war der ernährungspolitische Aktionismus eine Reaktion auf Bitten, etwas gegen die Verteuerung der Lebensmittel zu unternehmen. Es könne «zuweilen schon vorkommen, daß man den Kindern nicht genug trockenes Brot geben kann», beklagte sich eine Frau in einer Eingabe an das bayerische Kriegsministerium bereits Anfang 1915 und regte wie viele andere deshalb an, «Abhilfe zu schaffen». Vor allem der «Lebensmittelwucher» des Handels, die «gewissenlose Spekulation», galt zunächst als Ursache des Mangels. Die Aktivitäten der Behörden weckten deshalb anfangs große Hoffnungen. «Überall und in jeder Weise sind Vorkehrungen getroffen, daß die Lebensmittel und andere Dinge noch lange ausreichen», äußerte ein Briefschreiber sich im Frühling des gleichen Jahres zuversichtlich. Doch spätestens 1916 wurden die Erwartungen an die Behörden enttäuscht. Die Spekulation war ja nur ein Symptom, das eigentliche Problem aber der elementare Mangel. Selbst wo die Ernährungsbürokratie effizient arbeitete, konnte sie diesen nur gleichmäßig verteilen. Optimismus machte in der Bevölkerung deshalb immer mehr Sarkasmus Platz. Es seien ja «die Vorkehrungen die getroffen werden wirklich beängstigend», mokierte sich eine städtische Hausfrau: «Was hat man nicht all für wichtige Staatspapiere mit sich herum zu tragen: Brotkarte, Butter- und Fettkarte nebst Nahrungsmittelkarte. Und kommt man in ein Geschäft so wird man kurz abgefertigt, daß alles ausverkauft sei.» Zunehmend schwand deshalb das Vertrauen in die staatlichen Institutionen.13 Der schleichende Legitimitätsverlust des monarchischen Staates fand nicht nur in den Städten, sondern auch auf den Dörfern statt. Während bei den Verbrauchern der Zorn über die Unfähigkeit der Behörden wuchs, sie ausreichend mit Nahrung zu versorgen, entfremdete die zum selben Zweck eingeführte staatliche Gängelung der Landwirte diese ebenfalls. Schon im Februar 1916 warnte der Vorsitzende des Bayerischen Bauernvereins die Regierung in München, «daß die Stimmung im Landvolk Tag für Tag ungünstiger ist, teilweise eine erbitterte ist». Die den Erzeugern von Lebensmitteln aufgezwungene «unmoralische Höchstpreispolitik» führte zu einer massiven Vertrauenskrise unter ihnen: «Die bäuerliche Bevölkerung sagt, die Behörden hätten sie angelogen, und das Vertrauen ist untergraben, die Glaubwürdigkeit der Behörden erschüttert.»
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Fühlten die Bauern sich vom Staat zugunsten der Städter ungerecht behandelt, so warfen diese den Behörden eine Begünstigung der Landwirte vor. Die soziale Sprengkraft des bereits vor 1914 bestehenden Gegensatzes zwischen Verbrauchern und Erzeugern von Agrarprodukten potenzierte sich in der Mangelsituation des Krieges. Und nicht nur das. Angesichts der im Krieg praktizierten Verwaltung des Mangels durch staatliche Ernährungsämter richtete sich die Erbitterung der Verbraucher nun immer mehr gegen den Staat und seine Repräsentanten. Die staatliche Kriegswirtschaft mit ihren Reglementierungen im Agrarsektor brachte aber auch die Landwirte auf. Monarchie und regierende Aristokratie verloren mit der Loyalität der Landbevölkerung so ihre stärkste politische Stütze in der Bevölkerung. Der Münchner Historiker Karl Alexander von Müller und Freunde von ihm, die im Juli und August 1916 die Wochenenden wie jeden Sommer in verschiedenen Dörfern des Voralpenlandes verbrachten, fanden unter den dort lebenden «bisher grundkonservativ und königstreu gesinnten Bauern» eine völlig veränderte Einstellung vor. «Im Gasthaus, auf der Straße, in der Bahn» hörten sie «überall und immer» unverhohlen «antimonarchische» Äußerungen. Diese richteten sich gleichermaßen gegen Kaiser Wilhelm II. wie gegen den bayerischen König. Der «ausnahmslos verbreitete» Antimonarchismus wurde durch die Verbindung mit traditionellen antipreußischen Ressentiments noch verstärkt. König Ludwig III. sei ein «halber Preuße», der den Bauern die Ernte beschlagnahme, um «unsere Lebensmittel an Preußen hinaufzuliefern». Im Sommer 1917 war die Stimmung «nur noch bitterer geworden». Zu revolutionären Bewegungen auf dem Land kam es zwar nicht. Die Landbevölkerung begrüßte aber im November 1918 wenigstens anfangs die Revolution in München. Soziale Umwälzungen, die von den Dörfern selbst ausgingen, blieben den dort politisch dominierenden Hofbesitzern während des Krieges und danach freilich zu riskant. Zudem war die Versorgung mit Nahrungsmitteln für die gesamte ländliche Bevölkerung vergleichsweise gut, weil seit 1916 nahezu alle Bauern die staatlichen Kontrollen unterliefen und den Großteil ihrer Ernte entweder selbst verbrauchten oder auf dem Schwarzmarkt verkauften.14 In den Städten dagegen spitzte sich die Versorgungslage seit der zweiten Jahreshälfte 1916 dramatisch zu. Das geschah in den meisten Teilen Deutschlands noch früher als im agrarisch geprägten Bayern. In Freiburg
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notierte Charlotte Herder im September: «Wenn ich denke, wie wir noch letztes Jahr sorglos in den Tag hineinlebten! Dieses Jahr ist es ganz anders.» Nun gab es «kaum mehr Milch, kaum etwas Butter, kaum ein paar Eier». Im Winter 1916 /17 kam bei Außentemperaturen unter minus zehn Grad eine «Kohlennot» dazu. «Zuerst wurden die Schulen geschlossen, dann andere öffentliche Gebäude, zuletzt kam’s an die Lazarette.» Spätestens nach dem Jahreswechsel machte der Mangel an allem und jedem sich aber auch in der bayerischen Hauptstadt fühlbar. Anfang Februar 1917 musste Felix Fechenbach seine Eltern im ländlichen Mergentheim bitten, ihm etwas Käse zu schicken, weil in ganz München «keiner aufzutreiben» war. Der Fleischverbrauch in der Stadt fiel auf weniger als ein Drittel des Vorkriegsstandes. Die Städter schwärmten aufs Land aus, um bei den Bauern Lebensmittel auf dem schwarzen Markt zu Wucherpreisen zu kaufen, gegen Familiensilber, Schmuck und Teppiche zu tauschen oder zu stehlen.15 In München wie in anderen Städten brach der monarchischen Herrschaft mit dem bürgerlichen Mittelstand deshalb zusehends die stärkste aller «staatserhaltenden Stützen» weg, wie ein Bericht des bayerischen Innenministeriums über die Volksstimmung im Sommer 1917 formulierte. Die «Einbuße an staatstreuer Gesinnung» sei im Bürgertum größer als irgendwo sonst. Während die ländliche Bevölkerung sich selbst versorgen konnte und die Löhne der Arbeiter in den kriegswichtigen Industrien noch einigermaßen an die galoppierenden Preise angepasst wurden, hinkten die Gehälter der festbesoldeten Beamten und Angestellten schon bald hoffnungslos hinter der Preisentwicklung her. Angesichts des Hungers äußerten zudem auch dem Handwerk oder dem Kleinhandel angehörende «Leute des Mittelstandes und sogar besser situierte Leute in immer größerer Zahl revolutionäre Ansichten», warnte ein Informant den Innenminister. «Gerade für Bayern mit seinem so zahlreichen Mittelstand», fürchtete der bayerische Kronprinz, drohten die Folgen «geradezu katastrophal» zu sein: «Die Angehörigen dieses Standes, die früher in ihrer überwiegenden Mehrheit konservativ gesinnt waren, sind augenblicklich fast antimonarchischer als die Sozialdemokraten, da sie der Regierung die Schuld an ihrem Unglück beimessen. Das ist nicht bloß in großen Städten der Fall, wie in München, wo einige Hitzköpfe bereits davon sprachen, vor die Residenz zu ziehen und eine Revolution zu machen, sondern auch in kleinen Orten, wie in Cham, wo
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Unterschriften gesammelt wurden, um den König zur Abdankung zu bestimmen.»16 Zu den Hitzköpfen, die zu diesem Zeitpunkt bereits von Revolution sprachen, gehörte auch Felix Fechenbach. Seit Dezember 1916 hatte der Sohn eines Bäckers und ausgebildete kaufmännische Angestellte im «Goldenen Anker», einer Münchner Kneipe, politische Diskussionsabende mit Kurt Eisner organisiert. «In dieser kleinen Gastwirtschaft», schrieb einer der Teilnehmer daran später, «begann buchstäblich die Bayrische Revolution. Dort saßen in einem Nebenzimmer alle rebellischen Elemente Münchens – und es waren ihrer so wenige! Kaum zwei bis drei Dutzend!» Frauen bildeten die größte Gruppe. Dazu kamen außer Fechenbach und Eisner noch eine Handvoll weitere, den Sinn von Krieg und «Burgfrieden» in Frage stellende Sozialdemokraten, einige junge Angestellte und Soldaten. Gelegentlich schaute noch der eine oder andere Intellektuelle vorbei: der Pazifist Ernst Toller, der Anarchist Erich Mühsam und «merkwürdige Menschen mit anthroposophischen Ideen». Selbst für bescheidene Ansprüche ließ das als revolutionäre Massenbasis freilich etwas zu wünschen übrig. Die Gründung einer Ortsgruppe der Unabhängigen Sozialdemokraten im April 1917 änderte daran wenig, wie Fechenbach feststellen musste: «Es war nur eine kleine Schar, die sich in München der neuen Partei anschloß.» An der trotz polizeilichen Verbots stattfindenden ersten öffentlichen Versammlung der USPD in der bayerischen Hauptstadt, bei der «revolutionäre Lieder gesungen» und Hochrufe auf die inhaftierten Kriegsgegner Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ausgebracht wurden, nahmen im August siebzig oder achtzig Personen teil. Die Zahl der Interessenten an den wöchentlichen Diskussionsveranstaltungen im «Goldenen Anker» stieg zwar langsam an. Aber die Unabhängigen Sozialdemokraten blieben «ein kleines Häuflein, ohne Geld, ohne Presse». Selbst zum Drucken von Flugblättern mussten Fechenbach und Eisner sich mühsam Geld leihen. So konnten sie kaum einen Massenanhang sammeln, zumal Polizei und «Regierungssozialisten» ihnen die politische Arbeit auf jede erdenkliche Art erschwerten.17 Entgegen ihren ursprünglichen Erwartungen gelang es den beiden auch nicht, unter Industriearbeitern nennenswerten Anhang zu gewinnen. Aus München, das vor 1914 vor allem Residenzstadt und Dienstleistungszentrum gewesen war, wurde zwar im Krieg eine Industriemetro-
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pole. Mit der Verlagerung bereits bestehender, kriegswichtiger Betriebe aus anderen Teilen Deutschlands kamen Zehntausende von Fabrikarbeitern aus dem Ruhrgebiet und aus Sachsen in die Stadt. Viele Zuwanderer aus dem Umland fanden zudem Jobs in neu aufgebauten Rüstungsindustrien. Als Felix Fechenbach aber Anfang Juli 1917 in einem dieser Betriebe zu einer Versammlung der USPD einlud, «kam niemand». Alle Beschäftigten waren dem Aufruf von Metallarbeitergewerkschaft und MSPD, die den Krieg weiterhin als einen Kampf «für Deutschlands Sicherheit und Freiheit» unterstützten, zum Boykott der Versammlung gefolgt.18 Im Januar 1918 sah es dann zeitweilig so aus, als ob eine Verbindung zu Industriebelegschaften gefunden werden könnte. Bei einer Feier zum Jubiläum der Kaiserproklamation 1871 wurde ein Redner der nationalistischen Vaterlandspartei von Arbeitern aus dem Publikum als «Kriegsverlängerer» beschimpft. Es kam zu einem Tumult. Ein Teil der Anwesenden begann «Deutschland, Deutschland über alles» zu singen. Andere antworteten mit der Marseillaise oder riefen «Hunger hab’n ma», «Wir wollen keinen Gewaltfrieden» und «Wir brauchen keinen König! Wir brauchen keinen Kaiser!»19 Stein des Anstoßes für die Arbeiter war die kompromisslose Haltung, die die deutsche Delegation bei den Verhandlungen über einen Separatfrieden mit der russischen Revolutionsregierung in Brest-Litowsk vertrat. Die an diese Verhandlungen geknüpften Hoffnungen auf ein baldiges Ende des Krieges wurden dadurch in Frage gestellt. In Wien und Berlin war es deshalb bereits zu Proteststreiks von Industriearbeitern gekommen. Das war Wasser auf die Mühlen von Eisner und Fechenbach. Vorher hatten sie «keine direkte organisatorische Fühlung mit den Betrieben» gehabt, «wenn auch vereinzelte Krupp-Arbeiter bisweilen Teilnehmer der Diskussionsabende waren». Nun aber wurden sie in Betriebsversammlungen eingeladen, um dort zu sprechen. In einem Fall kletterte Fechenbach in seiner Armeeuniform auch dreist auf das Podium und erteilte Eisner das Wort. Die Belegschaften mehrerer Münchner Rüstungsbetriebe beschlossen, am 31. Januar einen dreitägigen politischen Demonstrationsstreik zu beginnen. Kurt Eisner hoffte, daraus die Initialzündung für eine Revolution machen zu können. Doch noch am Abend des ersten Streiktages wurden er und andere Funktionäre der USPD verhaftet. Die nächsten
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achteinhalb Monate verbrachte Eisner im Gefängnis, abgeschnitten von jedem Kontakt zur Außenwelt. Nach drei Tagen Streik kehrten die Rüstungsarbeiter in die Fabriken zurück und nahmen ihre Arbeit wieder auf. Fechenbach wurde aus München in die Provinz zu einer Passauer Garnison strafversetzt, ein Prozess gegen ihn vorbereitet. Ohne ihre beiden Initiatoren ging das Interesse an den Diskussionsabenden im «Goldenen Anker» schnell zurück. Im April schliefen sie ganz ein. Der erste Anlauf zu einer revolutionären Beseitigung des bestehenden politischen Systems war gescheitert.20
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Je mehr die Behörden des Kaiserreichs bei dem Versuch versagten, die deutsche Bevölkerung im Ersten Weltkrieg gleichmäßig mit Nahrungsmitteln zu versorgen, desto mehr verloren Bauern und bürgerlicher Mittelstand das Vertrauen in die Monarchie. Ein großer Teil der Arbeiterschaft hatte dieses Vertrauen ohnehin nicht gehabt. Anders als in Russland, wo die Regierung des Zaren 1917 gestürzt wurde, führte der Legitimationsverlust des monarchischen Staates aber im Deutschen Reich zunächst nicht zur Revolution. Als die Nachricht von dem Umsturz in Sankt Petersburg kam, konnte man auf Münchner Straßen zwar sagen hören: «Schade, daß es nicht in Berlin ist.»21 Tatsächlich war in Bayern wie anderswo in Deutschland schon seit 1916 immer mehr von Revolution geredet worden. In dem Willen, sie zu machen, blieb das kleine Häuflein Unabhängiger Sozialdemokraten um Kurt Eisner und Felix Fechenbach in München freilich bis zum Herbst 1918 allein. Denn bis zu diesem Zeitpunkt schien der Krieg immer noch gut für Deutschland zu verlaufen – oder jedenfalls besser als für seine Gegner. In den zwei Jahren vor der russischen Revolution hatten die Armeen des Zarenreichs nahezu nichts als Niederlagen und Rückzüge erlebt. Die deutschen Truppen und ihre Verbündeten kämpften dagegen bis 1918 nicht nur im Osten, sondern auch an der Westfront und auf dem Balkan tief in Feindesland. Nur selten hatten sie sich vorübergehend zurückziehen müssen, um dann doch immer wieder weiter vorzurücken. «Wie ungeheuer wirkten die Ziffern von Hindenburgs Siegen in Masuren!»,
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erinnerte sich Josef Hofmiller in München 1918 an das prägende Ereignis des ersten Kriegsjahrs. «Im August 1915, der Siegeszug durch Polen, welch unglaubliche Ereignisse! Ein Jahr später Mackensens Eroberung von ganz Serbien und Rumänien! Und wieder ein Jahr später die glanzvollen Erfolge in Italien!»22 Der Schein trog jedoch. Der deutsche Generalstab sah schon 1916 keine Möglichkeit mehr, den Krieg in absehbarer Zeit mit einem Sieg zu beenden. Daran konnte auch die Übernahme der Obersten Heeresleitung durch Paul von Hindenburg, der durch seine Erfolge an der Ostfront zum Nationalhelden geworden war, und dessen Stabschef Erich Ludendorff im Sommer des Jahres nichts ändern. Zudem verliefen sämtliche Vorstöße zu einem Verhandlungsfrieden im Sand. Als im dritten Kriegswinter 1916 /17 die Versorgungslage und damit auch die Stimmung im Deutschen Reich sich gravierend verschlechterten, entschloss die militärische Führung sich schließlich zu einem Schritt der Verzweiflung: Hindenburg verlangte kategorisch die Wiederaufnahme des unbegrenzten U-BootKrieges. Der Kaiser, theoretisch der Obersten Heeresleitung übergeordnet, tatsächlich aber mehr und mehr ein Spielball anderer Akteure geworden, schloss sich an. Auch die Mehrheit der Parteien, die sich mit dem Hauptausschuss des Reichstages eine arbeitsfähige Vertretung geschaffen hatten, vertraute auf Hindenburgs militärischen Sachverstand. Der Einspruch von Reichskanzler Bethmann Hollweg verhallte wirkungslos. Ohne den Rückhalt einer Parlamentsmehrheit vermochte er den Militärs nicht Paroli zu bieten. Im Februar begann der unbegrenzte U-BootKrieg erneut. Die USA brachen daraufhin die diplomatischen Beziehungen zum Deutschen Reich ab. Im April 1917 traten sie in den Krieg ein, die bereits imposante Phalanx der Gegner entscheidend verstärkend. Währenddessen war in Russland die autokratische Herrschaft des Zaren hinweggefegt worden. Vor dem Hintergrund der Hungerunruhen in Deutschland befürchteten die Vertreter der Parteien ein Überspringen der revolutionären Bewegung. Um dem vorzubeugen, forderten Sozialdemokraten und Liberale mit teilweiser Unterstützung des Zentrums ein umfangreiches politisches Reformprogramm: stärkerer Einfluss des Parlaments auf die Reichsleitung, Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts in Preußen und Reform des Zuschnitts der Reichstagswahlkreise zugunsten der Städte, um den Unmut der Verbrauchermassen dort zumindest politisch abzufedern. Bethmann Hollweg versprach, sich dafür
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einzusetzen. Angesichts von konservativem Widerstand im Bundesrat, in Preußen und am Hof konnte er den Kaiser aber nur dazu bewegen, vage Versprechungen für die Zeit nach dem Krieg zu machen. Dann überstürzten sich die Ereignisse. Mitte April 1917 brach eine erste Welle von Streiks in Rüstungsbetrieben los, die sich gegen die Kürzung von Lebensmittelrationen richtete. Die Minderheit sozialdemokratischer Linksabweichler, die 1915 und 1916 die Verlängerung der Kriegskredite verweigert und die USPD gebildet hatte, erhielt Zulauf. Um den Abweichlern den Wind aus den Segeln zu nehmen, verlangte die Mehrheits-SPD jetzt sofortige innere Reformen. Sie verband diese Forderung mit der nach einem Verständigungsfrieden. Die Linksliberalen und auch das Zentrum schlossen sich an, nachdem der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger im Hauptausschuss des Reichstags nachgewiesen hatte, dass der U-Boot-Krieg weitgehend wirkungslos blieb, die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln sich also in absehbarer Zeit nicht bessern würde. Dieser Vorstoß zur Beendigung des Krieges durch einen Kompromissfrieden, bevor der Legitimitätsverlust des Kaiserreichs in der Bevölkerung einen kritischen Grad erreichte, überschnitt sich jedoch mit einer anderen Initiative. Entstanden in konservativen Kreisen um den Kronprinzen, zielte sie darauf ab, stattdessen Bethmann Hollweg zum Sündenbock zu stempeln. Hindenburg und Ludendorff unterstützten sofort den Vorschlag, die Entlassung des Reichskanzlers zu erzwingen. Auch Nationalliberale und Zentrum konnten dafür gewonnen werden. Die Motive der Beteiligten waren ausgesprochen widersprüchlich: Den Konservativen und der Obersten Heeresleitung ging Bethmann Hollwegs Bereitschaft zu inneren Reformen zu weit; den Nationalliberalen ging sie dagegen nicht weit genug; Erzberger und das Zentrum störte vor allem ein zu geringes Engagement des Kanzlers für die Friedensinitiative. Wilhelm II., der Bethmann Hollweg nicht entlassen wollte, fügte sich schließlich dem vereinten Druck von Reichstagsmehrheit und militärischer Führung. Im Juli 1917 musste der Kanzler gehen. Weil seine Gegner sich aber nicht darauf einigten, wer Bethmann ersetzen sollte, blieb es wie schon 1909 wieder dem Kaiser überlassen, den Nachfolger auszusuchen. Auch die Reichstagsmehrheit machte keine Vorschläge. Das war bezeichnend für die nach wie vor ambivalente Einstellung der meisten Parteien zum Parlamentarismus. Nationalliberale und Zentrum
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wollten zwar mehr Einfluss des Reichstags, aber keine Regierungsverantwortung tragen. Selbst die SPD, der die fundamentaloppositionelle Konkurrenz der Unabhängigen Sozialdemokraten im Nacken saß, scheute davor zurück. Sie war allenfalls bereit, ein Parteimitglied als Unterstaatssekretär ins Reichsernährungsamt zu entsenden. Politiker der Mittelparteien wurden Reichsstaatssekretäre und preußische Minister. Ihre Reichstagsmandate mussten sie dafür aber weiterhin niederlegen. Zum Kanzler ernannte Wilhelm II. den Bürokraten Georg Michaelis, der sich als Ernährungskommissar in Preußen auf dem zentralen Gebiet der Kriegswirtschaft einen guten Namen gemacht hatte. Wenige Monate später zeigte sich, dass mittlerweile gegen eine Reichstagsmehrheit zwar kein Kanzler mehr regieren konnte, die Mehrheit der Parteien aber immer noch nicht zu konstruktiver Mitarbeit bereit war. Weil Michaelis ganz im Sinn der Obersten Heeresleitung die vom Parlament verabschiedete Friedensresolution ignorierte, stellten die Sozialdemokraten im Oktober 1917 ein Misstrauensvotum gegen ihn. Alle anderen Parteien mit Ausnahme der Konservativen schlossen sich an. Doch diese jetzt in einem Interfraktionellen Ausschuss eng zusammenarbeitende Mehrheit war im Wesentlichen nur einig darüber, was sie nicht wollte. Als positives Ziel strebten die Nationalliberalen vor allem eine Wahlrechtsreform in Preußen an, das Zentrum eher Fortschritte in der Friedensfrage. Die Sozialdemokraten wollten beides. Nur die linksliberale Fortschrittliche Volkspartei trat ohne Wenn und Aber für das parlamentarische Regierungssystem ein. Oberste Heeresleitung und Konservative lehnten innere Reformen dagegen ebenso entschieden ab wie Friedensverhandlungen. Sie förderten die Gründung einer Deutschen Vaterlandspartei, die außerhalb des Parlaments seit Herbst 1917 für einen «Siegfrieden» agitierte und auch unter Nationalliberalen Anhänger fand. Politische Rechte und Militärs konnten nach dem Sturz von Michaelis freilich ebenso wenig dessen Nachfolger bestimmen, wie die Reichstagsmehrheit der Mitte und der Linken das wollte. Der Kaiser ernannte schließlich den Zentrumspolitiker Graf Georg von Hertling, dem auf Drängen des Interfraktionellen Ausschusses der Linksliberale Friedrich Payer als Vizekanzler zur Seite gestellt wurde. Weder diese halbparlamentarische Regierung noch die sie tragende Reichstagsmehrheit drängte während der nächsten Monate energisch auf
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Friedensverhandlungen oder innenpolitische Reformen. Denn zu der inneren Uneinigkeit kam jetzt eine veränderte äußere Konstellation hinzu, die den aus der Gesellschaft auf die Parteieliten ausgehenden Druck verminderte. Eine Woche nach Hertlings Amtsantritt als Reichskanzler übernahmen in Sankt Petersburg die Bolschewiki die Macht. Russland versank in einem Bürgerkrieg; das russische Heer löste sich auf. Die neuen Machthaber am ehemaligen Zarenhof erklärten sich zu einem Frieden bereit, dessen Bedingungen Deutschland und seine Verbündeten weitgehend diktieren konnten. Angesichts der im Osten militärisch kontrollierten riesigen Gebiete keimten Hoffnungen auf, die Versorgung mit Nahrungsmitteln von dort decken zu können. Und der Glaube an die Möglichkeit eines Sieges auch im Westen, der schon weitgehend verloren gegangen war, erhielt neuen Auftrieb. Der Separatfriede von Brest-Litowsk mit Russland, im März 1918 abgeschlossen, ermöglichte die Verlegung großer Truppenkontingente an die Westfront. Noch im gleichen Monat befahl die Oberste Heeresleitung eine großangelegte Offensive in Frankreich. Hindenburg und Ludendorff wollten eine Entscheidung im Westen erzwingen, ehe amerikanische Soldaten die Reihen der Gegner massiv verstärkten. Bis Juli 1918 rückten die deutschen Truppen auf breiter Front Dutzende von Kilometern vor. Dann starteten die Alliierten eine Gegenoffensive. Aus dem zähen deutschen Vormarsch wurde ein immer schnellerer Rückzug. Auch auf dem Balkan brachen in Griechenland gelandete britische Truppen durch die Stellungen der Mittelmächte. Mitte September machte Österreich-Ungarn daraufhin den Gegnern ein Friedensangebot. Ende des Monats schloss Bulgarien, das bisher auf Seiten der Mittelmächte gekämpft hatte, Waffenstillstand mit den Alliierten. Das Osmanische Reich begann zu zerfallen. In Deutschland wurde die große Mehrheit der Bevölkerung und der politischen Eliten fast über Nacht aus allen Blütenträumen unsanft geweckt. «Selbst einfache Leute sprechen es unumwunden aus, daß ihnen nun die ganze Hoffnung auf den Sieg geraubt ist», registrierte ein Stimmungsbericht aus Württemberg im Juli 1918. «Bislang haben allein die Siege und Erfolge der deutschen Waffen und das unbegrenzte Vertrauen auf die Oberste Heeresleitung das Volk aufrechterhalten», stellte einen Monat darauf ein Bericht aus Preußen über die öffentliche Stimmung fest. Doch damit sei es nun vorbei. Auch in Bayern wurde für August
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1918 «eine tiefe Stimmungskrise» in der «durch die Lasten und Leiden des Krieges» zermürbten Bevölkerung konstatiert, «deren Ausdehnung, Stärke und Nachhaltigkeit durch die militärischen Ereignisse an der Westfront ganz wesentlich beeinflußt wurde». Im Bericht über die «Volksstimmung» für September, dem letzten, der im Königreich Bayern noch erstellt wurde, hieß es schließlich, die nach allen Entbehrungen des Krieges nun abzusehende Niederlage habe den Glauben an die militärische wie zivile Führung zerstört. Der «Kern der Sache» sei «kurz gesagt Mangel an Vertrauen in den glücklichen Ausgang des Krieges».23 Alles war umsonst gewesen. Die Millionen Toten an der Front. Die weitgehende Machtübernahme des Militärs auch im Zivilleben. Der Verzicht auf Wahlen, auf eine freie Presse. Die Einschränkungen von Versammlungs- und Niederlassungsfreiheit. Der Verlust eines in vier Jahrzehnten des Friedens mühselig erarbeiteten Lebensstandards in nur vier Jahren des Krieges. Die Rückkehr des Hungers. Das Ertragen der Spanischen Grippe, die seit dem Frühsommer 1918 unter den entkräfteten Menschen zeitweilig mehr Todesopfer forderte als das fortgesetzte Abschlachten an den Fronten. Verglichen mit all dem, erschienen die für den Krieg gebrachten finanziellen Opfer geradezu banal. Bereitwillig hatten die Deutschen seit August 1914 fast neunzig Milliarden Mark für acht Kriegsanleihen gezeichnet. Als jedoch die neunte Anleihe im Herbst 1918 aufgelegt wurde, bezeichnete selbst der konservative Münchner Gymnasiallehrer Josef Hofmiller die in Bayern dafür werbenden «scheußlichen Plakate» verächtlich als «sinnlose Verschwendung von Papier». Und in Freiburg bemerkte Charlotte Herder: «Niemand rührte sich, die Kriegsanleihe zu zeichnen.» Sogar im gehobenen Bürgertum, das bisher das Rückgrat der Vaterlandspartei gebildet hatte, machte sich Fatalismus breit. Mitte August notierte Hofmiller über die Stimmung in diesem Kreis: «Keiner glaubt mehr, daß wir den Krieg gewinnen. Alle wissen, daß wir ihn verloren haben, und doch rückt keiner mit der Sprache heraus.» Einen Monat später vertraute er seinem Tagebuch an: «Alles ist seelisch erschüttert. Erschüttert ist 1. der Arbeiter, 2. die Bauern, 3. (eigentlich hätte ich sagen sollen 1.) das Militär, 4. die Frauen, 5. alle Angestellten, 6. alle Beamten, 7. die Presse. Die Demobilisierung hat bei den Gemütern begonnen. Das ist schlimm, sehr schlimm. Die Stimmung ist früher da als die Ereignisse.
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Keine Hemmungen, keine Dämme, die Stimmung im Land ist furchtbar. Wer glaubt denn noch an einen guten Ausgang?»24 Allein die Monarchen machten sich weiter Illusionen über die Lage. Kaiser Wilhelm II. baute darauf, den Durchhaltewillen der Bevölkerung mit «flammenden Reden» neu entzünden zu können. In der Öffentlichkeit tönte er, der Krieg könne noch Jahre dauern – und zerstörte damit den letzten Rest seines Prestiges. In Bayern äußerte König Ludwig III. sich anderthalb Wochen nach dem Beginn der alliierten Gegenoffensive an der Westfront zuversichtlich: «Kein Deutscher denkt an einen schimpflichen Frieden.» Er irrte sich fundamental. Selbst sein Ministerpräsident und der Kriegsminister waren vielmehr «der Meinung, daß es höchste Zeit sei, den Krieg zu beenden, um noch einen einigermaßen leidlichen Frieden zu erlangen», wie sie dem bayerischen Kronprinzen anvertrauten, der sie in dieser Ansicht nur bestätigen konnte. Um sich selbst aus der Schusslinie der immer lauter werdenden Kritik zu manövrieren, schoben die Minister dem König alle Verantwortung für die verfahrene Lage zu. Selbst die führenden Bürokraten, die Stützen des monarchischen Systems, stützten es nicht mehr.25 Erst die Sozialdemokraten, dann auch Linksliberale und Zentrum rangen sich deshalb jetzt zu der Forderung konsequenter Demokratisierung in Reich wie Einzelstaaten durch. Die Erosion des Vertrauens in das bestehende politische System des Kaiserreichs und dessen Repräsentanten war in der Bevölkerung so weit fortgeschritten, dass ein grundlegender Systemwechsel als unumgänglich erschien, wenn die innere Stabilität erhalten werden sollte. In München, in Berlin, in ganz Deutschland begann die Demontage fürstlicher Macht, die Parlamentarisierung des Regierungssystems. Gedrängt von seinen Ministern und seinem Sohn, kündigte der bayerische König im September Verfassungsreformen an. Zukünftig sollten alle Parteien einschließlich der Sozialdemokraten in der Regierung vertreten sein. Anfang Oktober wurde in Berlin eine neue Reichsleitung unter Prinz Max von Baden als Reichskanzler gebildet, mit führenden Politikern des Zentrums, der Linksliberalen und der SPD in verantwortlichen Positionen. Auch sonst drehte sich der Wind. Mitte Oktober entschied das Reichsgericht, dass Kurt Eisner aus der Haft zu entlassen sei. Sofort nahm er seine politische Tätigkeit wieder auf. In Passau erregte Felix Fechenbach Wirbel, als er in einer öffentlichen Versammlung, an der die
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Hälfte der Soldaten seiner Garnison teilnahm, die Parlamentarisierung als eine «Selbstverständlichkeit» bezeichnete, die «nur viel zu spät komme». Bald werde man sich «an noch viel weitergehende Selbstverständlichkeiten gewöhnen müssen. Die Umwandlung des Regierungssystems sei uns aus der Not der Zeit kampflos in den Schoß gefallen. Das Volk würde aber auf die Dauer kein Recht und keine Freiheit haben, die nicht erkämpft wären.» In der letzten Oktoberwoche musste er sich vor einem Kriegsgericht in München verantworten, wurde aber in fast allen Anklagepunkten freigesprochen. Nur wegen «unerlaubter Entfernung vom Heer» während des Streiks im Januar 1918 brummte ihm das Gericht fünf Tage Arrest auf. Doch statt sie in Passau abzusitzen, entfernte er sich erneut von der Truppe und schlüpfte in Eisners Münchner Wohnung unter.26 Währenddessen ging der Krieg weiter. Zwar hatte die neue Reichsregierung den Alliierten Anfang Oktober sofort ein Waffenstillstandsangebot gemacht. Überall sprachen die Menschen jetzt vom «Ende».27 Doch dieses Ende ließ auf sich warten. Die Verhandlungen über einen Waffenstillstand zogen sich hin. Das verschaffte Fechenbach und Eisner schließlich die revolutionäre Massenbasis, die sie bisher nicht gefunden hatten. In Mittelstand und Arbeiterschaft waren sie mit ihren Aufrufen zum Umsturz nicht erfolgreich gewesen. Ihre Partei, die USPD, zählte in München seit dem Debakel beim Januarstreik nur mehr 400 Mitglieder – vorher waren es immerhin noch 600 gewesen. Aber jetzt fanden sie unter den Soldaten, die den sinnlos gewordenen Krieg vollends satthatten, schlagkräftige Unterstützung. Schon im Frühsommer war es bei einzelnen Truppenteilen, die von Bayern aus an die Westfront verlegt werden sollten, zu Krawallen, Meutereien und verbalen wie handgreiflichen Attacken auf Offiziere oder Polizei gekommen. Seit August häuften sich an der Front die Befehlsverweigerungen. Hunderttausende Soldaten setzten sich auf eigene Faust von der Truppe ab. Ganze Einheiten meldeten sich geschlossen krank und waren auch unter Strafandrohung nicht mehr zum Kämpfen zu bewegen. In München pfiffen Soldaten des Ersatzheers Ende Oktober den König aus, als er an ihrer Kaserne vorbeikam. Der bayerische Kronprinz hatte den Eindruck, dass «die Gefahr der Revolution immer bedrohlicher emporwächst». In der Stadt raunten sarkastisch veranlagte Gemüter nur halb im Scherz, angesichts der «Mengen beschäftigungsloser Menschen
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in den Kasernen» seien «sehr ernste Sachen zu befürchten». Der Kriegsminister befürchtete, die in München stationierten Truppen würden im Fall eines gewaltsamen Umsturzes mit den Revolutionären «fraternisieren». Fechenbach frohlockte dagegen, «daß der politische Umschwung nur noch eine Frage von Tagen sein» könne. Die letzten Tropfen, die das Fass zum Überlaufen brachten, waren schließlich die Anfang November eingehenden Nachrichten und Gerüchte darüber, dass Kaiser, Heeres- und Seekriegsleitung den Krieg bis zum bitteren Ende fortsetzen wollten. Am 3. November meuterten in Kiel die Matrosen der Hochseeflotte. Am selben Tag schloss der letzte deutsche Verbündete Österreich-Ungarn mit den Alliierten Waffenstillstand. Tags darauf meinte der Münchner Stadtkommandant stark untertreibend, die Moral der ihm unterstellten Soldaten sei «nicht ganz einwandfrei». Während auch der Kriegsminister noch abwiegelte, schätzten zwei Lokaljournalisten die Lage in der Stadt bei einem Gespräch im Innenministerium am 5. November wesentlich realistischer ein: «Die schlimmsten Revolutionäre seien die Soldaten.» Wenn man sich auf das Militär verlasse, um innere Unruhen niederzuschlagen, werde man «schlechte Geschäfte machen und unangenehme Geschichten erleben». Ein Offizier des in München stationierten Armeekorps berichtete, dass Fechenbach und Eisner bereits erfolgreich Mitglieder für einen Arbeiter- und Soldatenrat anwarben und Mühe hatten, Militärangehörige vom sofortigen Losschlagen abzuhalten.28 Als die Revolution am 7. November dann kam, kam sie wie zuvor in Kiel und zwei Tage später in Berlin in Form eines Soldatenaufstands. Felix Fechenbach, der sie anführte, nutzte dabei seine Position und Verbindungen als Unteroffizier im Heimatheer. Die meisten ihrer Träger waren Soldaten oder Matrosen. Ihr entscheidender Antrieb war die Furcht vor einer Fortsetzung des Krieges. Diese Furcht war durchaus begründet, wie die Ereignisse in Kiel und auch in Spa zeigten, wo Hindenburg und Wilhelm II. sich nicht geschlagen geben wollten. Das Ziel der Revolution war der Frieden: Wenn die alten Eliten sich dem verweigerten, dann mussten sie eben weg. Die Revolution war ein Soldatenaufstand. Sie war kein Aufstand der Arbeiter und auch kein Volksaufstand. Freilich, die Revolution konnte nur gelingen, weil die große Masse der Bevölkerung sich nicht aktiv gegen sie stellte. Das war Fechenbachs und Eisners größte Sorge gewesen
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am Abend des 7. November, wie auch noch in der Nacht und am nächsten Morgen. Denn sie hatten mit gerade einmal 2000 bis 3000 Männern einen Umsturz gewagt, in einer Stadt mit 600 000 Einwohnern. Doch der befürchtete Gegenschlag, die Konterrevolution, kam nicht. Das Bürgertum, die Konservativen, die Liberalen, die katholische Bayerische Volkspartei und die ganz überwiegend zu Erhard Auer und der Mehrheits-SPD stehende Arbeiterschaft blieben passiv. Ein Grund dafür war die allgemeine Friedenssehnsucht auch unter den Zivilisten. Vor allem aber hatte die Masse der Bevölkerung ganz andere Sorgen. Am Morgen nach dem Umsturz hatten die Münchner kaum Augen für die knallroten Plakate, auf denen die Absetzung des Königs verkündet wurde. Selbst die mit Maschinengewehren vor der Hauptpost Wache schiebenden Soldaten, die entspannt Pfeife rauchten, aus Maßkrügen Bier tranken und «mit der Bevölkerung fraternisierten», erweckten nur milde Neugier. Von ihren roten Abzeichen nahm Josef Hofmiller kein einziges, von den zahlreichen roten Fahnen auf öffentlichen Gebäuden, Banken und Kaufhäusern lediglich eine auf der Frauenkirche bewusst wahr. Auch die Kuriosität, dass «unbeachtet ein schwarzer Pudel mit einer roten Krawatte» über die Straße lief, registrierte er nur nebenbei. Denn seine Aufmerksamkeit war wie die nahezu aller anderen Münchner auf etwas ganz anderes gerichtet. «Meine Hauptsorge», schrieb er an diesem 8. November in sein Tagebuch, «war, unseren Kartoffelbedarf für eine Woche zu sichern, was mir auch gelang: Ich brachte im Netz zweimal je 14 Pfund nach Hause, kaufte noch um 2 Mark Kohlrabi und um weitere 2 Mark Weißkraut.» Am nächsten Tag notierte er: «Was München braucht, sind Kartoffeln, keine Revolution.»29 Dass der bayerische Landtag am Nachmittag des 7. November, als Felix Fechenbach zum Sturm auf eine Kaserne nach der anderen ansetzte, über die Kartoffelversorgung debattierte, mag im Nachhinein wie eine lächerliche Fußnote der Geschichte dieses Tages erscheinen. Doch es war die Versorgung mit Kartoffeln, die die meisten Menschen in diesen Tagen mehr umtrieb als alles andere. Die Lage war in dieser Hinsicht schon schlimm genug. Widerstand gegen Fechenbachs Revolution hätte sie nur noch schlimmer gemacht. Außerdem hatte die bisherige Regierung ihre Unfähigkeit zur Versorgung der Bevölkerung hinreichend unter Beweis gestellt. Warum also sollte man nicht ihren entschiedensten Gegnern eine Chance geben?
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Natürlich konnten aber die Unabhängigen unter Eisner und Fechenbach die Probleme der Lebensmittelversorgung auch nicht auf einen Schlag beheben. Und dass die bayerische USPD zwei Monate später, im Januar 1919, an den Wahlurnen mit Pauken und Trompeten unterging, demonstriert anschaulich, wie wenig Sympathien die große Mehrheit der Bevölkerung für Fechenbachs Revolution hatte. Sie setzte dem Umsturz vom 7. November 1918 zwar aus ganz pragmatischen Gründen keinen direkten Widerstand entgegen. Aber durch ihr überwältigendes Votum für MSPD und bürgerliche Parteien machte sie bei nächster Gelegenheit klar, dass sie evolutionären Wandel bevorzugte. Das galt auch für die große Mehrheit der Arbeiterschaft, die wie schon auf der Theresienwiese einmal mehr Erhard Auer folgte. Deshalb war das Resultat der Revolution von 1918 auf Dauer keine sozialistische Räterepublik. Eine Chance zur Entwicklung dorthin gab es in Deutschland nirgends. Schon gar nicht bestand sie in München, das erst während des Weltkriegs begonnen hatte, sich etwas zu industrialisieren, aber weithin immer noch eine bürgerlich geprägte Residenzstadt in ländlichem Umfeld war. Der hier dominierende Mittelstand hatte zwar nichts gegen die Entmachtung der Aristokratie. Und der Monarchie, die «sich selbst furchtbar geschadet» habe, weinte er kaum eine Träne nach. «Wenn sich der König nicht so unbeliebt gemacht hätte, wäre es kaum so weit gekommen», zog Hofmiller wenige Tage nach dem 7. November eine im Bürgertum vielfach geteilte Bilanz. Räteregierung war für ihn und die meisten Münchner jedoch gleichbedeutend mit Chaos, Plünderungen, der Vorbereitung einer «Schreckensherrschaft». Unter seinen Mitbürgern bis hin zur Gemüsefrau hörte er «allgemein nur: Das gewalttätige Machen hat keinen Sinn». Auch auf industriellerem Pflaster wie in Berlin, wo Arbeiter einen größeren Anteil der Bevölkerung ausmachten, wurde diese Ansicht meist geteilt. Sogar die Mehrheit der Arbeiter- und Soldatenräte selbst verstand ihre Herrschaft als Provisorium.30 In gewisser Weise war die Revolution sogar überflüssig. Was nötig war, war die Befehlsverweigerung der Soldaten – die Meuterei der Kieler Matrosen, das Nein der Soldaten in Spa, als goldbetresste Admiräle und Generäle auf den aberwitzigen Gedanken kamen, im Namen «nationaler Verteidigung» ein letztes Aufgebot in den sicheren Tod zu schicken. Die simple Verweigerung dieser Zumutung, Harakiri zu begehen, hätte aus Sicht der kriegsmüden Bevölkerung ausgereicht. Die Monarchie hätte
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dann weiterexistiert – wenn auch nur wie in Großbritannien als dekorative Galionsfigur einer parlamentarischen Demokratie. Selbst die Vertreter der Mehrheits-SPD wie Erhard Auer waren dafür zu haben. Als Kurt Eisner in München schon sein Büro als frischgebackener Ministerpräsident bezog, bemühten sich in Berlin die Entscheidungsträger bis hin zu Friedrich Ebert noch darum, den unhaltbar gewordenen Kaiser zur Abdankung zu bewegen, um seinen Nachkommen den Thron zu erhalten. Das Kaiserreich hätte zumindest formal weiterbestehen, das Haus Hohenzollern immerhin Liebling der Regenbogenpresse bleiben können. Doch dessen oberster Repräsentant Wilhelm II. erwies sich einmal mehr als allzu beratungsresistent. Damit vermasselte er seiner Dynastie und den anderen deutschen Fürstenhäusern die berufliche Zukunft und besiegelte das Ende des deutschen Kaiserreichs.
Die Dolchstoßlegende und andere Hypotheken Die Dolchstoßlegende und andere Hypotheken
Am 21. Februar 1919 wurde der einen Monat vorher gewählte erste Landtag des republikanischen «Freistaates» Bayern eröffnet. Angesichts des miserablen Abschneidens der USPD bei den Wahlen hatte Ministerpräsident Kurt Eisner eine ausformulierte Rücktrittserklärung in der Aktentasche, als er am Morgen des Tages zum Landtagsgebäude ging. Felix Fechenbach, sein Bürosekretär und zwei Leibwächter begleiteten ihn. Als die Gruppe am Promenadeplatz um eine Ecke bog, trat hinter ihnen ein junger Mann im Regenmantel aus einem Hauseingang und schoss Eisner aus nächster Nähe zweimal in den Kopf. Der Attentäter wurde von Fechenbach am Arm gepackt und niedergeworfen, einer der Leibwächter gab mehrere Schüsse auf den am Boden Liegenden ab. Fechenbach hinderte erst Eisners Leibwächter und dann herbeieilende Zeugen daran, den Mann umzubringen. Dann ließ er einen Arzt rufen. Der konnte nur noch Eisners Tod feststellen. Der Todesschütze wurde identifiziert als Anton von Arco-Valley, ein ehemaliger Offizier und rechtsradikaler Wirrkopf. Als Erhard Auer eine Stunde später im Parlament den feigen Mord bekanntgab, drang ein weiterer Attentäter, diesmal ein Mitglied des linken Flügels der USPD, in den Plenarsaal ein. Er erschoss einen Abgeordneten, Auer und ein
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Ministerialrat wurden schwer verwundet. Danach riss die radikale Linke die Macht, die sie nach der verlorenen Wahl abzugeben im Begriff war, wieder an sich und verhängte den Belagerungszustand. Es kam zu Schießereien in der Stadt, eine Gewaltspirale begann sich zu drehen. Eine kommunistische Räterepublik wurde ausgerufen. Von Truppen der mehrheitssozialdemokratischen Regierung, die nach Bamberg ausgewichen war, und rechten Freikorps belagert, erschossen die Kommunisten zehn Geiseln. Nach der Rückeroberung der Stadt brachten die Freikorps im Gegenzug mehr als eintausend Menschen um. Auch in den nächsten Jahren kam Bayern, mittlerweile als rechte «Ordnungszelle des Reiches» bekannt, nicht mehr zur Ruhe. München wurde zur nationalsozialistischen «Hauptstadt der Bewegung», hier begann Adolf Hitlers Aufstieg. Der Eisner-Attentäter Arco-Valley, von dem diese Kaskade der Gewalt ausgelöst worden war, hatte vor seiner Tat eine Art Bekennerschreiben verfasst. Darin hieß es, Eisner sei «Bolschewist, ist Jude, ist kein Deutscher, fühlt nicht deutsch, untergräbt jedes vaterländische Denken und Fühlen, ist ein Landesverräter».31 Offenbar bezog Arco-Valley seine Inspiration aus einer bizarren Verschwörungstheorie, die bereits unmittelbar nach der Revolution entstanden war. Den Anhängern dieser Theorie galt der Umsturz als ein «Dolchstoß» in den Rücken des vermeintlich unbesiegten deutschen Heeres. Geglaubt wurde diese Dolchstoßlegende vor allem in solchen konservativen Kreisen, in denen antikommunistische, antidemokratische und antisemitische Einstellungen verbreitet waren. Die Revolution erschien aus dieser Sicht als Verrat am Vaterland. Die Dolchstoßlegende ist oft als schwere Hypothek der Weimarer Republik eingeschätzt worden. Wie sehr hat sie den Aufbruch in die erste deutsche Demokratie tatsächlich belastet? Das Resultat der Wahlen zur Weimarer Nationalversammlung im Januar 1919 erlaubt es, die Schwere dieser Belastung auf einer solideren Grundlage als der von impressionistischen Einzelbelegen abzuschätzen. Das Gerede vom «Dolchstoß» hatte vor allem in der Propaganda rechtsradikaler Parteien einen wichtigen Platz. Auch in der Wahlagitation der Deutschnationalen Volkspartei wurde sie bemüht, wenn auch weniger prominent und ausdauernd. Bei den Wahlen Anfang 1919 gewannen die rechtsradikalen Gruppen zusammengenommen weniger als ein Prozent der abgegebenen Stimmen. Bei den Deutschnationalen machte jeder zehnte Wähler sein Kreuz. Das
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deutet nicht eben auf eine große Attraktivität der Legende vom «Dolchstoß» in der Bevölkerung hin. Der Vorwurf des Vaterlandsverrats wurde von rechten Kreisen bald auch auf die Unterzeichnung des Versailler Vertrags ausgedehnt, die Ende Juni 1919 stattfand. Die Rechtsparteien agitierten sofort rabiat gegen das vermeintlichen «Schanddiktat» des Friedensvertrags. Sie geißelten dessen Unterzeichnung durch sozialdemokratische und Zentrumspolitiker als Verrat am «Volk». Allerdings zahlte sich auch das an den Wahlurnen nur sehr begrenzt aus. Bei den Wahlen zum ersten Reichstag der Weimarer Republik 1920 konnten die radikalen Rechtsparteien sich lediglich auf gut anderthalb Prozent, die Deutschnationale Volkspartei auf knapp 13 Prozent der Stimmen etwas verbessern. Der Stimmenanteil aller Parteien, deren Abgeordnete sich im Reichstag gegen die Unterzeichnung des Vertrags ausgesprochen hatten, stieg zusammengenommen gegenüber den Wahlen zur Nationalversammlung im Jahr davor um ganze drei Prozent. In absoluten Zahlen verloren diese Parteien insgesamt sogar Stimmen, weil die Wahlbeteiligung abnahm. Die Propaganda gegen den Versailler «Schandfrieden» mobilisierte also keine zusätzlichen Wähler. Die liberalen Parteien, die 1919 wie die Rechten gegen eine Unterzeichnung des Friedensvertrages gestimmt hatten, stützten früher oder später dennoch die demokratische Republik. Selbst die Deutsche Volkspartei, die Nachfolgeorganisation der Nationalliberalen des Kaiserreichs, tat das unter ihrem Vorsitzenden Gustav Stresemann schon seit 1920. Als deutscher Außenminister arbeitete Stresemann bis zu seinem Tod 1929 konstruktiv und kontinuierlich an einer friedlichen Revision des Vertrags. Sein Kurs des Ausgleichs besonders mit Frankreich wurde von der radikalen Rechten von Anfang an wüst als Verrat an deutschen Interessen bekämpft. An der Wahlurne zahlten sich diese radikalnationalistischen Tiraden allerdings nicht aus – obwohl die vorzeigbaren Erfolge von Stresemanns Politik sich in engen Grenzen hielten. Bevorzugte Zielscheibe der rechten Propaganda gegen die angebliche «Erfüllungspolitik» der Weimarer Demokratie wurden im Lauf der 1920er Jahre die Reparationen. Signifikante Erfolge ließen sich damit aber auch nicht verbuchen. Im August 1924 nahm der Reichstag den Dawes-Plan an, der die Reparationszahlungen neu regelte. Vier Monate später stattfindende Wahlen, von den Rechten zum Plebiszit über diese
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Entscheidung stilisiert, wurden für die rechtsradikalen Gruppen unter Einschluss der Nationalsozialisten zu einem Fiasko. Gegenüber dem Wahlergebnis vom Mai des Jahres, wo sie mit Propaganda gegen die Währungsreform Boden gewonnen hatten, halbierte sich ihr Stimmenanteil, während die Deutschnationalen kaum Wähler hinzugewannen. Bei den nächsten Reichstagswahlen 1928 schnitten Deutschnationale Volkspartei und NSDAP noch schlechter ab als vier Jahre zuvor. Im darauffolgenden Jahr entfachten sie gegen den Young-Plan, der den Zahlungsmodus für die Reparationen erneut veränderte, eine großangelegte Kampagne. Den demokratischen Regierungsparteien warfen sie dabei vor, das deutsche Volk durch Zustimmung zu dem Plan für die kommenden drei Generationen in Ketten zu legen. Volksbegehren und Volksentscheid gegen den Young-Plan mobilisierten 1929 freilich am Ende nicht einmal 14 Prozent der Wahlberechtigten dazu, die rechte Kampagne zu unterstützen. Das waren knapp sechs Millionen Stimmen – nur unwesentlich mehr, als die Initiatoren DNVP und NSDAP bei den Wahlen im Jahr zuvor erhalten hatten. So stark die gefühlte nationale Demütigung durch «Versailles» auch sein mochte: Den meisten Deutschen nahm sie bis 1929 doch noch nicht den Sinn für die politischen Realitäten.32 Ohnehin war die Haltung nationaler Empörung über Reparationsforderungen und andere Zumutungen des Friedensvertrags kein Monopol der Rechten. Von einer «Verstümmelung» des Landes durch die Bestimmungen des «Schandfriedens» von Versailles sprach man hierzulande seit 1919 quer durch alle politischen Parteien. Darüber konnten auch Liberale, Zentrumskatholiken, Sozialdemokraten und gelegentlich selbst Kommunisten sich entrüsten. Auch wenn das Erbe des verlorenen Ersten Weltkrieges für die Weimarer Demokratie zweifellos eine Belastung bedeutete: Ihr Ende ist damit offensichtlich nicht vorherbestimmt worden.33 Die gefühlte Demütigung der deutschen Nation durch den Versailler Vertrag war keine besonders effektive Waffe in den Händen der Feinde Weimars. Nicht nur konnten die demokratischen Parteien glaubhaft machen, dass sie selbst in dieser Hinsicht nicht weniger national dachten als ihre Kritiker im radikal rechten Lager. Sie haben für ihre realistische und konstruktive Außenpolitik gegenüber den Siegermächten des Krieges offenbar auch zumindest Verständnis bei der Mehrheit der Bevölkerung gefunden.
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Jedenfalls ließ diese Mehrheit sich bis in die späten 1920er Jahre nicht für die revanchistischen Parolen der rechten Scharfmacher gewinnen. Die danach eintretenden Wahlerfolge der Nationalsozialisten mit einem Erfolg der Propaganda gegen den «Schandfrieden» von Versailles und den «Dolchstoß» der Revolution zu erklären, nachdem diese Parolen ein Jahrzehnt lang kaum Wirkung gezeigt hatten, ist alles andere als plausibel. Offenbar war es vielmehr die Weltwirtschaftskrise, die den Rechtsradikalen in der Opposition seit 1929 plötzlichen Aufwind bescherte. Die politische Erfolglosigkeit der radikalen Rechten davor lässt sich auch daran erkennen, dass ihr in den ersten Jahren der Republik nichts anderes übrig blieb, als zur klassischen Waffe isolierter Minderheiten zu greifen: dem Terrorismus. Das Attentat auf Kurt Eisner, dem Anfang der 1920er Jahre die Morde an Matthias Erzberger und Walther Rathenau folgten, zeigte die Schwäche der Rechten, nicht ihre Stärke. Weil ihnen die Massenbasis für Wahlerfolge verwehrt blieb, vermochten sie die Demokratie von Weimar lange nur mit Anschlägen auf deren prominente Repräsentanten zu bekämpfen. Auch Felix Fechenbach wurde frühzeitig Opfer eines solchen Anschlags. Anders als bei seinem Mentor Kurt Eisner nutzten seine rechten Gegner dafür aber einstweilen keine Schusswaffen, sondern die Waffen der Justiz. Eisner hatte direkt nach der Revolution im November 1918 aus den bayerischen Ministerialarchiven Akten über die Julikrise 1914 veröffentlicht, weil er die Illusion hegte, durch ein Bekenntnis zur deutschen Mitschuld am Weltkrieg einen milderen Frieden erreichen zu können. Fechenbach erhielt ein Bündel dieser Akten später zur Verwahrung. Bei einer Durchsuchung seiner Wohnung wurde es gefunden und ihm ein erster Prozess gemacht. In diesem sprach das Gericht ihn 1920 aber vom Vorwurf des Hochverrats frei – unter anderem weil die betreffenden Akten nach Ansicht des zuständigen Staatsanwalts gar nichts Geheimes enthielten. Dennoch wurde 1922 der gleiche Vorwurf in anderem Gewand erneut erhoben. Dabei spielten ausgerechnet zwei deutsche Historiker als Gutachter eine ausgesprochen unrühmliche Rolle. Felix Fechenbach, so lautete nun die Anklage, habe im November 1918 die von Eisner publizierten Akten gefälscht. Damit sei die deutsche Verhandlungsposition in Versailles wesentlich verschlechtert worden. Das konservative Münchner Blatt Bayerisches Vaterland hetzte, «die Juden Eisner und Fechenbach»
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hätten «bezahlte Arbeit im Interesse des Feindbundes» geleistet und damit «ein ungeheures Verbrechen am deutschen Volk» begangen. In einem neuen Verfahren am ersten Münchner Landgericht, bei dem der Vorsitzende Richter, ein Mann mit dem treffenden Namen Hass, dem Staatsanwalt weitgehend die Arbeit abnahm, wurde der Angeklagte zu elf Jahren Zuchthaus verurteilt. Außerhalb Bayerns provozierte das Urteil massive Kritik. Liberale und sozialdemokratische Zeitungen sahen eine Verhöhnung jeder Gerechtigkeit und Travestie der Justiz. Selbst einige konservative Blätter sprachen von einem «Fehlurteil». Fechenbach musste im Zuchthaus, wo er anfangs in Einzelhaft einsaß, monoton Tüten kleben. In seiner freien Zeit hinter Gittern lernte er Portugiesisch und schrieb Fabeln. Später sollte er über die Haft ein Buch schreiben, in dem es charakteristischerweise hauptsächlich um seine Mitgefangenen und sehr wenig um ihn selbst ging. Nach gut zwei Jahren wurde er Ende 1924 vorzeitig freigelassen – am selben Tag wie Adolf Hitler, der wegen seines Münchner Putschversuchs gegen die Republik im November 1923 freilich nur halb so lange unter in vergleichsweise luxuriösen Umständen eingesessen hatte.34 Die Verfahren gegen Fechenbach und Hitler beleuchteten grell eine weitere Hypothek, die die Revolution der Weimarer Republik aufgebürdet hatte: Das juristische Personal des Kaiserreichs war 1918 praktisch vollständig übernommen worden. In der politischen Justiz kamen antidemokratische Traditionen und Einstellungen deshalb deutlich zum Ausdruck. Während gegen Vertreter der politischen Linken in der ersten deutschen Demokratie haarsträubend harte Urteile gefällt wurden, erwies Justitia sich auf dem rechten Auge als blind. Der skandalöse Prozess gegen die Initiatoren des Münchner Putschs von 1923 war dabei nur die Spitze des Eisbergs. Abgesehen von der lächerlich geringen Strafe für Hitler, beging das zuständige Gericht in mehrfacher Hinsicht Rechtsbeugung: Es ignorierte nicht nur Hitlers Vorstrafen, sondern verzichtete auch darauf, ihn nach der Haft als verurteilten Ausländer aus dem Deutschen Reich auszuweisen, was nach dem Gesetz zum Schutz der Republik eigentlich hätte geschehen müssen. Allerdings hatte dieses Urteil, wie vergleichbare andere auch, nur wenig konkrete Auswirkungen. Die frühe Entlassung ermöglichte Hitler es zwar, 1925 die NSDAP wieder zu reorganisieren, die während seiner einjährigen Haft in sich gegenseitig befehdende Grüppchen zerfallen
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war. Doch bis Ende der 1920er Jahre führte die Partei weiterhin nur eine kümmerliche Randexistenz im politischen Leben der Nation. Erst mit der Wende zu den 1930er Jahren schlug ihre Stunde. Selbst wenn Hitler nach dem missglückten Marsch auf die Münchner Feldherrnhalle dauerhaft aus Deutschland ausgewiesen worden und die NSDAP deshalb zerfallen wäre, hätte von der 1929 /30 einsetzenden Krise der Republik aller Wahrscheinlichkeit nach eine andere rechtsradikale Partei profitiert oder auch die sich damals immer weiter radikalen Positionen annähernde DNVP. Sosehr die Prozesse gegen Hitler und Fechenbach jeder für sich ein Justizskandal waren, so beeinflussten sie letzten Endes das Schicksal der Republik doch kaum. Der oft hervorgehobene «unvollendete» Charakter der Revolution von 1918, die in der Gerichtsbarkeit keine Zäsur darstellte, blieb in diesem Bereich politisch weitgehend folgenlos. Und was für die Juristen gilt, gilt mehr oder weniger auch für Verwaltungsbeamte und Offizierskorps. Die erste deutsche Demokratie übernahm in ihrer chaotischen Gründungsphase auch diese alten Eliten weitgehend aus dem autoritären Kaiserreich. Das ist zwar wie im Fall der Gerichtsbarkeit oft als ein fatales Versäumnis der Revolution und schwere Hypothek der Weimarer Republik gewertet worden. Sieht man genauer hin, trifft das für Militär und Verwaltung freilich ebenso wenig zu wie für die Justiz. Die Beamtenschaft der Verwaltung hat zum Ende der ersten deutschen Demokratie nicht entscheidend beigetragen. Im größten Einzelstaat des Deutschen Reiches, dem bis 1932 von den Parteien der Weimarer Koalition unter dem Sozialdemokraten Otto Braun als Ministerpräsidenten regierten Preußen, fand eine weitgehende Demokratisierung des Verwaltungsapparates statt. In anderen Staaten und auf Reichsebene geschah das zwar weniger. Und als nach 1930 ihre Gehälter empfindlich gekürzt wurden, dämpfte das offensichtlich die Treue der Beamten zur Republik. Allerdings galt das auch für solche, die vorher nicht politisch konservativ gewesen waren. Der Großteil der Bürokratie diente, darin ganz modern, ohnehin dem demokratischen System nicht weniger loyal als zuvor dem monarchischen – und später dem nationalsozialistischen.35 Wie die Mehrheit der Juristen stand auch die Mehrheit der Reichswehroffiziere dagegen den Deutschnationalen nahe. Nach der Revolution von 1918 /19 trauerte das größtenteils aus konservativen Aristokraten be-
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stehende Offizierskorps meist dem zusammengebrochenen Kaiserreich hinterher. Mit der Republik arrangierte es sich nur notgedrungen. Das galt auch für den ehemaligen Reichswehroffizier und konservativen Aristokraten Paul von Hindenburg. Wie seine früheren Waffenbrüder hätte Hindenburg, der 1925 zum Reichspräsidenten gewählt wurde, die erste deutsche Demokratie gerne in einen autoritären Staat verwandelt. Gelungen ist ihm das allerdings bis zum Ende der 1920er Jahre nicht. Selbst eine so mächtige Figur wie der Reichspräsident, selbst die einflussreichen konservativen Eliten hinter ihm konnten die demokratische Ordnung lange nicht wesentlich erschüttern. Erst ab 1930 verfiel diese.36 Die Auflösung der Demokratie am Ende der Weimarer Republik ist oft mit der Stabilität demokratischer Strukturen in Großbritannien, den USA und Frankreich zwischen den beiden Weltkriegen kontrastiert worden. Doch dieser Vergleich hinkt. Amerikaner, Briten und Franzosen hatten nicht nur den Ersten Weltkrieg gewonnen. Sie hatten vor allem auch viele Jahrzehnte Erfahrung mit parlamentarisch-demokratischer Regierungsweise sammeln können. Das deutsche Kaiserreich war dagegen weder parlamentarisch noch demokratisch regiert worden. Die politische Prägung und Vorgeschichte der Deutschen unterschied sich signifikant von der ihrer Nachbarn im Westen. Sie ähnelte vielmehr wesentlich mehr der anderer mittel- und osteuropäischer Nationen. Gemessen daran, konnte der Erfolg der ersten deutschen Demokratie sich durchaus sehen lassen. Während die demokratischen Experimente, die am Ende des Ersten Weltkriegs in den ost- und mitteleuropäischen Staaten unternommen wurden, dort mehrheitlich schon gescheitert waren, bevor der Orkan der Weltwirtschaftskrise Europa traf, hatte die Weimarer Republik das erste Jahrzehnt der stürmischen Nachkriegszeit weitgehend unbeschadet überstanden. Dieser Erfolg und die weitgehende Erfolglosigkeit der Gegner der Weimarer Demokratie während der 1920er Jahre sollten skeptisch machen gegenüber Erklärungsansätzen, die das Ende der ersten deutschen Demokratie schon durch ihren Anfang vorherbestimmt sehen. Die Republik kam nicht mit irgendwelchen Geburtsfehlern auf die Welt, die sie zu einem frühen Tod verdammte. Sie schleppte zwar einige Hypotheken mit sich herum, die sie vom Kaiserreich geerbt oder in ihrer Gründungsphase aufgenommen hatte. Aber soweit es ihr nicht gelungen war, diese Hypotheken abzubezahlen, erwiesen sie sich als klein genug, um tragbar zu sein.
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Wie das Kaiserreich selbst war auch dessen Erbe ungemein vielschichtig. Wenn man es überhaupt auf einen Nenner bringen kann, dann wohl den der Modernisierung. In dem knappen halben Jahrhundert zwischen 1871 und 1918 entstand das moderne Deutschland. Das haben Historiker lange anders gesehen. Vor allem den Vertretern der «historischen Sozialwissenschaft» galt das Kaiserreich als rückwärtsgewandt, als ein «spätfeudaler» und «halbabsolutistischer» Staat. Dieser Sicht zufolge konservierte die Reichsgründung 1871 anachronistische Traditionsüberhänge, die dann die weitere deutsche Geschichte noch ein ganzes Menschenalter prägten. Bismarck erscheint in ihr als Wegbereiter Hitlers, der Nationalsozialismus als im Kern konservativ, das Kaiserreich als der Beginn eines geraden Weges in den Abgrund, dessen Tiefpunkt 1945 erreicht wurde. Erst danach habe ein ebenso gradliniger Aufstieg zur Moderne begonnen. Die demokratische Revolution von 1918 wird in dieser Interpretation zu einer gescheiterten, die Weimarer Republik zu einer Totgeburt.37 In letzter Zeit wird das Kaiserreich hingegen oft positiver beurteilt – wenn auch nicht mehr wie noch während der 1950er Jahre als eine «gute alte Zeit». Vielmehr erscheint es nun manchmal als eine Vorgeschichte der Gegenwart. Letzten Endes werden dabei ähnlich lineare Kontinuitäten vom Kaiserreich zur Bundesrepublik von heute suggeriert wie in der Interpretation der «historischen Sozialwissenschaft» vom Kaiserreich zum Dritten Reich. Und während diese die Demokratie der Weimarer Republik kleingeredet hat, so läuft eine positiv wertende Sicht des Kaiserreichs als «Geburt der Moderne»38 bewusst oder unbewusst darauf hinaus, den Nationalsozialismus zum Betriebsunfall der deutschen Geschichte zu machen. Die Moderne ist freilich ebenso wenig etwas Positives, wie sie identisch mit der Gegenwart ist. Sie ist weder gut noch böse: Sie ist modern. Und sie hat vielfältige Potentiale, demokratische wie diktatorische. Aus dem modernen Deutschland, das zwischen 1871 und 1918 entstanden war, konnte im weiteren Verlauf der Geschichte sowohl eine «helle» wie eine «dunkle» Moderne werden. Im Jahr seiner Gründung war das Deutsche Reich ein Agrarstaat ge-
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wesen. 1871 hatten ungefähr zwei Drittel seiner Bevölkerung direkt oder indirekt von der Landwirtschaft gelebt, nur eine Minderheit dagegen vom verarbeitenden Gewerbe. Im Lauf der folgenden Jahrzehnte wurde aus Deutschland dann aber immer mehr eine moderne Industrienation. 1918 hatte sich das Verhältnis zwischen den Wirtschaftssektoren umgekehrt: Jetzt verdiente die große Mehrheit der Bevölkerung ihr Geld in der Industrie, nur noch eine Minderheit dagegen im Agrarsektor. Erst jetzt gewann auch der industrielle Klassengegensatz, gewannen die rivalisierenden Interessen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern im Gewerbe zentrale gesellschaftliche und politische Bedeutung. Während des Kaiserreichs prägte dagegen vor allem noch der Stadt-Land-Gegensatz Politik, Gesellschaft und Kultur. Die Konflikte zwischen Verbrauchern und Erzeugern von Agrarprodukten, von denen die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg geprägt war, entzündeten sich insbesondere an der wachsenden Verflechtung Deutschlands in globale Wirtschaftszusammenhänge. 1871 lebten die meisten Deutschen noch überwiegend von Nahrungsmitteln, die sie selbst angebaut hatten. Wer kein Selbstversorger war, deckte sich auf dem lokalen Markt ein. Lebensmittel machten den bei Weitem größten Posten im Familienbudget aus. Darüber hinausgehende Konsumansprüche waren gering und ließen sich ebenfalls meist vor Ort befriedigen. Von wenigen Gütern abgesehen, spielten Einfuhren aus anderen Regionen und Ländern für die Versorgung des Großteils der Bevölkerung keine große Rolle. Doch mit zunehmender Industrialisierung und Verstädterung änderte sich das während des Kaiserreichs. Der Einsatz von technischen Innovationen wie dem Dampfschiff öffnete Deutschland für den Import von Lebensmitteln und anderen Dingen aus aller Welt. Gleichzeitig schloss der flächendeckende Ausbau der Eisenbahnen auch das letzte Dorf an globale Marktstrukturen an. Mit der Globalisierung ging eine Technisierung und Verwissenschaftlichung fast aller Lebensbereiche einher. Der Anschluss bisher entlegenster Gegenden an das Eisenbahnnetz war nur der augenfälligste Ausdruck davon. Parallel zu den Eisenbahnschienen wurden Telegraphenlinien gespannt. Seit den 1890er Jahren setzte der Siegeszug von Elektrizität, Automobil und Telefon ein. Der im selben Jahrzehnt beginnende Aufbau einer Schlachtflotte erschien vielfach als Symbol für das neue, moderne Deutschland. Eine immer komplexer werdende technische Infrastruktur
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überzog das Land. Technische Hochschulen traten an die Seite der altehrwürdigen Universitäten. Das Deutsche Reich entwickelte sich zu einer der weltweit führenden Wissenschaftsnationen. Die allgemeine Schulpflicht wurde endgültig durchgesetzt, und das höhere Bildungswesen öffnete sich seit der Jahrhundertwende auch für Frauen. Emanzipation vollzog sich sowohl individuell wie kollektiv, wie etwa bei der Industriearbeiterschaft, bei Katholiken und bei Juden. Individualisierung und gesellschaftliche Organisation liefen parallel zueinander. Gewerkschaften, Verbände, Parteien gewannen Hunderttausende, teilweise sogar Millionen von Mitgliedern. Der Zusammenschluss in ihnen verschaffte einfachen Menschen wirtschaftlichen und politischen Einfluss wie nie zuvor in der deutschen Geschichte, setzte sie aber auch bisher unbekannten Formen der Sozialdisziplinierung aus. Massiver Ausbau und Diversifizierung der Presselandschaft ermöglichten dem Einzelnen individuelle Meinungsbildung, eröffneten aber auch mehr Möglichkeiten zu Manipulation und der politischen Instrumentalisierung sozialer Milieus. Ähnlich ambivalente Folgen hatten Ausbau und Ausdifferenzierung der öffentlichen Verwaltung während des Kaiserreichs, die sich sowohl auf der Ebene des Reiches wie der Einzelstaaten und der Kommunen vollzogen. Einerseits verminderte die Entstehung eines modernen Interventionsstaats nicht nur Lebensrisiken, sondern erweiterte auch gesellschaftliche Partizipationsmöglichkeiten. Denn die Mitbestimmungsorgane der seit den 1880er Jahren aufgebauten deutschen Sozialversicherung wie der kommunalen Daseinsvorsorge wurden Foren industrieller und sozialer Demokratisierung. Sie beförderten die gesellschaftliche Integration der Industriearbeiter und ihrer wichtigsten politischen Vertretung, der SPD. Andererseits schränkte die Bürokratisierung und Ausdifferenzierung von Sozialleistungen im Lauf der Zeit aber die Selbstverwaltung wieder ein: Je professioneller die Institutionen der Sozialversicherung arbeiteten, je moderner sie also wurden, desto geringer wurden auch ihre demokratischen Potentiale. Was für die deutsche Sozialversicherung galt, galt ebenso für den deutschen Nationalstaat als Ganzen. Für die Idee der modernen Nation ist die Ambivalenz einer Verheißung von Integration und Partizipation auf der einen Seite, der Drohung mit Ausgrenzung auf der anderen Seite fundamental. Die 1871 geschaffene äußere Hülle des Nationalstaats wurde danach durch die Vereinheitlichung von Recht, Währungen,
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Transport- und Postwesen, durch Wehrdienst und Schule, durch nationale Symbolpolitik und nicht zuletzt den Reichstag als nationalem Parlament im Innern gefüllt. Das Resultat war eine zunehmende Annäherung auch jener Milieus an den Nationalgedanken, die ihm zunächst noch ferngestanden hatten. Mit dem Einschwenken der Sozialdemokraten auf die Politik des nationalen «Burgfriedens» bei Beginn des Ersten Weltkriegs erreichte diese Entwicklung ihren vorläufigen Höhepunkt. Während des Weltkriegs spitzte sich jedoch auch der Gegensatz zwischen einem demokratischen und einem autoritären Nationenmodell weiter zu. Sozialdemokraten, insbesondere linke Liberale und die Mehrheit der Zentrumspartei wandten sich jetzt mehr als zuvor einem Modell zu, das auf staatsbürgerliche Partizipation und Integration setzte. Damit entstand die Koalition politischer Kräfte, die nach 1918 auf den Fundamenten des Kaiserreichs und erneut nach 1945 eine demokratische, «helle» Moderne aufbaute. Dagegen setzten die meisten Konservativen und manche rechtsstehende Liberale nun noch stärker als vorher auf eine autoritäre, hierarchische Ordnung der Nation nach militärischem Vorbild. Während des Krieges praktizierten Hindenburg und die Oberste Heeresleitung dieses Nationenmodell in Ansätzen bereits. Später radikalisierten Hitler und die Nationalsozialisten die Mobilisierung von Industrie, moderner Technik und Wissenschaft, Massenorganisationen und bürokratischem Interventionsstaat für eine solche «dunkle» Variante der Moderne noch. Schon Hindenburgs Quasi-Militärdiktatur im Ersten Weltkrieg wurde allerdings begleitet von einer Radikalisierung des Nationalismus und verschärfter Ausgrenzung von nationalen Minderheiten und Juden. Und sie konnte dabei zurückgreifen auf radikalnationalistische und antisemitische Strömungen der Vorkriegszeit. Dass auch diese zum Erbe des Kaiserreichs gehörten, ist eindeutig. Die Frage ist deshalb nicht, ob es in dieser Hinsicht Kontinuitäten zum Nationalsozialismus gegeben hat. Die Frage ist eher, wie ausgeprägt diese Kontinuitäten waren. Die 1890er Jahre gelten als Inkubationszeit des Radikalnationalismus in Deutschland. Wichtigstes Sammelbecken radikalnationalistischer Strömungen war der Alldeutsche Verband. Seine Führer träumten von einer Vereinigung aller Gebiete, in denen Deutschsprachige siedelten, oder sogar allen deutschen «Kulturbodens» in Europa. Auf dem Gebiet des Deutschen Reichs forderten die Alldeutschen eine kompromisslose
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Bekämpfung von «Reichsfeinden» wie den Sozialdemokraten und «fremdvölkischen» Minderheiten, insbesondere der Polen. Die in Preußen betriebene Enteignung polnischer Grundbesitzer und das Verbot der polnischen Sprache in Schulen und öffentlichen Versammlungen ging ihnen noch nicht weit genug. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg forderten sie stattdessen eine «ethnische Säuberung», was auf die Vertreibung der polnischen Minderheit hinauslief. Ihre Ideologie nahm in vielem die der Nationalsozialisten vorweg. Während allerdings die NSDAP eine Massenorganisation war, wurde der Alldeutsche Verband das nie. Selbst zu seinen besten Zeiten hatte er nur 23 000 Mitglieder. Antisemitismus und eine Politik «ethnischer Säuberung» blieben in seinen Reihen vor 1914 zudem umstritten. Erst recht gilt das für andere nationale Vereine. Der mitgliederstärkste unter ihnen, der Deutsche Flottenverein, vereinigte Anhänger aus verschiedensten Parteien. Abgesehen von Agitation für den Ausbau der Flotte, enthielt er sich deshalb jeder politischen Stellungnahme. Insgesamt zählten die nationalen Verbände, wenn man Doppelmitgliedschaften berücksichtigt, vor dem Ersten Weltkrieg gut eine halbe Million individuelle Mitglieder. Damit blieben ihre Mobilisierungserfolge zurück hinter denen von SPD, Gewerkschaften, Bauernvereinen und selbst konfessionellen Organisationen. Urteilt man nach den Ergebnissen der Reichstagswahlen, nahm die Attraktivität radikalnationalistischen Gedankenguts in der deutschen Bevölkerung während des Kaiserreichs sogar deutlich ab. Denn eine wachsende Mehrheit der Wähler entschied sich für Parteien wie die SPD, das Zentrum und die Linksliberalen. Diese waren zwar «national» oder wurden es, aber nicht radikalnationalistisch. Sie repräsentierten vielmehr, wie auch die millionenstarken Kriegervereine, gleichsam einen «Normal-Nationalismus». Die Existenz einer radikalnationalistischen Minderheit in der Gesellschaft war vor dem Ersten Weltkrieg kein typisch deutsches Phänomen. Den Alldeutschen ähnliche Gruppen gab es in allen Gesellschaften der europäischen Großmächte. Selbst unter gänzlich anderen politischen Bedingungen wie in der parlamentarischen Monarchie Großbritannien oder der französischen Republik existierte eine vergleichbare radikalnationalistische Rechte. Militarismus reichte weiter in die Mitte der Gesellschaft hinein, war aber im Deutschen Reich vor 1914 ebenfalls nicht stärker ausgeprägt als
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im übrigen Europa. In Frankreich wurde Uniformträgern kein geringeres Ansehen entgegengebracht, und Matrosenanzüge wurden von englischen Kindern eher noch häufiger getragen als von deutschen. Dass der Schuhmacher Wilhelm Voigt 1906 als «Hauptmann von Köpenick» in einer gekauften Offiziersuniform Soldaten von der Straße rekrutieren und mit ihrer Hilfe das Rathaus des Berliner Vororts besetzen konnte, um dort die Stadtkasse auszurauben, ist zwar vielfach als Beleg für «Kadavergehorsam» im Kaiserreich gesehen worden. Aber nicht nur widersprechen die tatsächlichen Abläufe im Köpenicker Rathaus dieser schon von vielen Zeitgenossen vertretenen Interpretation. Gerade deren zeitgenössische Attraktivität belegt auch die weite Verbreitung von Militarismuskritik im Kaiserreich. Die Existenz von beidem, von Militarismus und zeitgenössischer Kritik daran, wurde am Vorabend des Ersten Weltkriegs erneut durch die Zabern-Affäre illustriert. Auch Rassismus stellte in der Zeit des Kaiserreichs keine deutsche Spezialität dar – sei es in Form von Antisemitismus oder als Hintergrund kolonialer Grausamkeiten. Bekanntestes Beispiel für Letztere war die mörderische Brutalität, mit der deutsche Militärs Unruhen im «Schutzgebiet» Südwestafrika begegneten. Parallelen zwischen der Kriegführung der kaiserlichen Kolonialtruppen dort und des nationalsozialistischen «Rassenkriegs» in Osteuropa während des Zweiten Weltkriegs sind offensichtlich. Um Kontinuitäten im Sinn von kausalen Zusammenhängen handelt es sich allerdings nicht. Weder die mörderische Praxis noch die dahinterstehende rassistische Motivlage waren Spezifika deutscher kolonialer Kriegführung. Beides war vielmehr in Afrika und Asien charakteristisch für die meisten Kolonialmächte, darunter auch solche, deren Kriegführung sich im Zweiten Weltkrieg wesentlich von der deutschen in Osteuropa unterschied. Auch die Reaktionen im Kaiserreich auf die deutschen Gräueltaten in Afrika unterschieden sich von denen, die es während des Zweiten Weltkriegs im Dritten Reich auf die in Osteuropa verübten Massenverbrechen gab. An Letzteren waren Hunderttausende Deutsche als Täter oder Tathelfer beteiligt. Die übrige Bevölkerung sah meist bewusst weg und schwieg. In der Gesellschaft des Kaiserreichs erhob sich dagegen ein Sturm der Entrüstung, als das Verhalten der etwa 15 000 Mann Kolonialtruppen in «Deutsch-Südwest» bekannt wurde. Die öffentliche Kritik schlug so hohe Wellen, dass der Kaiser den verantwortlichen Komman-
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deur von seinem Posten enthob. Bei aller Parallelität der Tätermentalitäten: Differenzen hinsichtlich deren Verbreitung und gesellschaftlichen Akzeptanz sind nicht zu übersehen. Ähnliches kann für den Antisemitismus gelten. In den frühen 1930er Jahren stimmten mehr als ein Drittel aller Wahlberechtigten in Deutschland für die offen antisemitische NSDAP. Im Kaiserreich waren antisemitische Parteien dagegen nie mehr als politisch unbedeutende Splittergruppen gewesen. Zwar gab es in nahezu allen deutschen Sozialmilieus vor dem Ersten Weltkrieg Klischees über Juden. Solche sozialkulturell verankerten Vorurteile gingen bei Sozialdemokratie, Liberalen und Zentrum – und damit in Parteimilieus, die vor 1914 fast vier Fünftel der deutschen Gesellschaft repräsentierten – aber mit politischem Anti-Antisemitismus einher. Gewalt gegen Juden war im internationalen Vergleich vor dem Ersten Weltkrieg in Russland, Österreich-Ungarn oder Frankreich weiter verbreitet als in Deutschland, in Großbritannien und Italien weniger. Das Deutsche Reich lag von daher im europäischen Mittelfeld. Mit dem Ersten Weltkrieg änderte sich das merklich. Schon während des Krieges wurde den jüdischen Deutschen durch eine vom Armeekommando veranlasste «Judenzählung» unterstellt, sich vor dem Wehrdienst zu drücken. Seit 1918 nahmen Häufigkeit und Brutalität von Gewaltakten gegen Juden merklich zu. Mit dem «Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund» entstand in den ersten Nachkriegsjahren eine erklärt antisemitische politische Organisation, deren Mitgliederzahl weit höher war als die all ihrer Vorläufer. Bei den Reichstagswahlen vom Mai 1924 schnitt eine antisemitische Listenverbindung unter Einschluss der NSDAP bereits doppelt so gut ab, wie es den antisemitischen Parteien während des Kaiserreichs jemals gelungen war. 1918 war es um einiges wahrscheinlicher geworden, dass eine radikalnationalistische und antisemitische Partei wie die NSDAP in Deutschland einmal die politische Macht übernehmen könnte. Vor 1914 war das dagegen noch ausgesprochen unwahrscheinlich. Kontinuitäten zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus hat es mit Blick auf radikalen Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus zwar gegeben. Besonders ausgeprägt waren diese aber nicht. Der Eindruck von Diskontinuität überwiegt also. Anders verhält es sich im Bereich der politischen Mentalitäten. Das
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knappe halbe Jahrhundert zwischen der Reichsgründung 1871 und der Revolution von 1918 war die Zeit, in der die Deutschen politisch mündig wurden. Ein für die Verhältnisse der Zeit ausgesprochen demokratisches Wahlrecht zum nationalen Parlament ermöglichte zum ersten Mal allen erwachsenen Männern dauerhafte Teilnahme an Politik. Das Interesse daran nahm beständig zu. Die Beteiligung an Reichstagswahlen erreichte vor 1914 Höhen, die es in der Bundesrepublik Deutschland seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben hat. Reichstagsdebatten erfreuten sich im Kaiserreich denkbar großer öffentlicher Aufmerksamkeit. Die Kombination aus demokratischem Wahlrecht und undemokratischer Verfassungsstruktur begünstigte allerdings auch eine Praxis politischer Demagogie. Denn die Kompetenzen des demokratisch gewählten Parlaments blieben bis 1918 relativ gering. Die im Reichstag vertretenen Parteien gewannen zwar im Lauf der Zeit an Macht. Diese Macht war aber nicht mit der Übernahme von Regierungsverantwortung verbunden. Das war ein politisches Arrangement, das den Interessen von Liberalen und Zentrumspartei wie auch ihrer Klientel durchaus entgegenkam. Und selbst eine Mehrheit der Sozialdemokraten zeigte sich lange weniger an Parlamentarisierung und konstruktiven Reformen als daran interessiert, durch demonstrative Fundamentalopposition die eigene Organisation zu konsolidieren und zu stärken. 1918 veränderte sich die Situation dann gleichsam über Nacht. Der demokratisch gewählte Reichstag wurde jetzt zum politischen Machtzentrum, die Regierung ihm verantwortlich, das Wahlvolk zum Souverän. Doch weder die Parteien noch die Bürger waren darauf vorbereitet. Es gelang ihnen nicht, die in einem halben Jahrhundert angeeignete Mentalität der politischen Verantwortungslosigkeit in wenigen Jahren zu überwinden. Wer nach kausalen Zusammenhängen zwischen der Entwicklung des Kaiserreichs und dem weiteren Verlauf der deutschen Geschichte sucht, wird sie vor allem hier finden. Während der 1920er Jahre entwickelte sich zwar so etwas wie eine parlamentarische Kultur in Deutschland. Parlamentarier fanden zu einem kollegialen Miteinander und erlernten in Ausschüssen die Kunst des Kompromisses. Doch in ihrer Öffentlichkeitsarbeit fand diese neue Kompromisskultur kaum Ausdruck. Die Parteiführungen wagten es nach wie vor nur selten, ihren Wählern die Akzeptanz von unpopulären Entscheidungen zuzumuten. Eine Zivilgesellschaft, in der Bürger lernten,
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selbst Verantwortung zu übernehmen, blieb auch in der Weimarer Republik noch Utopie. Und obwohl die im Kaiserreich übliche Trennung von Reichstagsmandat und Regierungsamt in der Weimarer Republik aufgehoben wurde, blieb in den Köpfen der Parlamentarier das Bild eines Gegensatzes von Legislative und Exekutive doch stark. Das erwies sich als fatal, als die frische Brise der 1920er Jahre nach dem Aufziehen der Weltwirtschaftskrise von den rauen Stürmen der 1930er abgelöst wurde. Selbst eine so unbestreitbar demokratische Partei wie die SPD zog es nun vor, in der Opposition ihre Klientel beisammenzuhalten, statt sich in der Regierungsverantwortung zu exponieren. Die Kunst des Kompromisses geriet unter die Räder. Im März 1930 brach die letzte Weimarer Koalition deshalb auseinander. Die daraufhin angesetzten außerordentlichen Neuwahlen zum Reichstag brachten einen Erdrutschsieg der NSDAP. Die Demokraten selbst verrieten demokratische Tugenden, bevor ihre Gegner der Demokratie den Todesstoß versetzten. Felix Fechenbach, der nach der Ermordung seines politischen Mentors Kurt Eisner wieder zur Sozialdemokratie zurückgefunden hatte, stemmte sich vergeblich gegen diese Entwicklung. Schon 1919 hatte er «die Bildung einer arbeitsfähigen Regierung» als unverzichtbar für konstruktive demokratische Politik erklärt und sich deshalb für eine Zusammenarbeit der SPD mit bürgerlichen Parteien ausgesprochen. Während der 1920er Jahre rief Fechenbach wiederholt dazu auf, «die bürgerlichdemokratische Republik zu verteidigen». Er arbeitete als politischer Journalist und trat bei Wahlkampfveranstaltungen als Redner auf. Im Oktober 1929, als mit dem Zusammenbruch der New Yorker Börse die Weltwirtschaftskrise begann, nahm er eine Stelle als Redakteur der sozialdemokratischen Zeitung in Detmold an. Auch dort war ihm die enge Zusammenarbeit mit Liberalen und Zentrumspartei in der Pressearbeit, bei Kundgebungen und in republikanischen Organisationen wie dem Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold ein zentrales Anliegen. Dagegen begegnete er Nationalsozialisten wie Kommunisten gleichermaßen kompromisslos. Als Freunde ihm im Februar 1933 wegen seiner jüdischen Herkunft zur Emigration rieten, lehnte Fechenbach das ab. Kurz darauf, am Tag der Reichstagswahl Anfang März 1933, schlugen vier SA-Männer ihn zusammen. Eine knappe Woche später kam er in «Schutzhaft». Am 7. August 1933 wurde ihm mitgeteilt, er solle nach München oder ins Konzentrationslager Dachau überführt werden. Die Begleitmannschaft
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aus SA und SS ließ ihn jedoch in einem Waldstück zwischen Paderborn und Warburg aus dem Wagen aussteigen und erschoss ihn. Den zweiten Versuch, in Deutschland eine Demokratie aufzubauen, erlebte Felix Fechenbach anders als manche derjenigen, die ihm am 7. November bei der Revolution in München gefolgt waren, nicht mehr mit.39
ANHANG
L I T E R AT U RV E R Z E I C HNIS
Literaturverzeichnis Anhang
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ZU M W E I T E R L E S E N
Versailles, 18. Januar 1871 (Die Kaiserproklamation) Zum Weiterlesen
Der größere Teil von Anton von Werners Nachlass liegt im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin-Dahlem, darin sind vor allem die Briefe an seine Eltern interessant. Er hat auch zwei Memoirenbände geschrieben. Beide basierten auf Tagebüchern, die – bezeichnend für Werners Missachtung in dieser Zeit – während der 1960er Jahre bei einer Auktion verkauft wurden und seitdem verschollen sind. Erst als ein pluralistischeres, «postmodernes» Kunstverständnis das Diktat einer Bildungselite ablöste, die lange die Definition der künstlerischen «Moderne» bestimmt hatte, wurden er und seine Werke wiederentdeckt. Im Zuge dieser durchaus kritischen Werner-Renaissance entstanden die Bücher von Peter Paret, The Berlin Secession (1980); Werner Bartmann, Anton von Werner: Zur Kunst und Kunstpolitik im Kaiserreich (1984); Thomas W. Gaethgens, Anton von Werner (1990); Werner Bartmann (Hg.), Anton von Werner: Geschichte in Bildern (1993). Zur Kaiserproklamation und ihrer Vorgeschichte gibt es zahlreiche weitere Quellen von Zeitgenossen – siehe dazu die Fußnoten des Kapitels und das Literaturverzeichnis. Eine Auswahl bietet Ernst Deuerlein, Die Gründung des Deutschen Reiches 1870 / 71 in Augenzeugenberichten (1970). Die Erforschung der Erinnerung an die Reichsgründung ist eine historiographische Wachstumsindustrie. Besonders aufschlussreich fand ich Celia Applegate, A Nation of Provincials (1990); Alon Confino, The Nation as a local metaphor (1997); Siegfried Weichlein, Nation und Region (2004); Oliver Zimmer, Remaking the Rhythms of Life (2013).
Marpingen, 3. Juli 1876 («Kulturkampf», politischer Katholizismus und Religion) Die Grundlage dieses Kapitels ist die 1994 zuerst auf Englisch erschienene, faszinierende Fallstudie über Marpingen von David Blackbourn, Wenn ihr sie wieder seht, fragt wer sie sei (1997). In ihr sind alle Quellen erschöpfend verarbeitet, die es zu Margaretha Kunz, ihren Freundinnen und den Marienerscheinungen in Marpingen (wie auch anderswo) gibt. Auf Blackbourns ziemlich tiefen Spuren haben be-
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sonders Michael Gross, The War against Catholicism (2005), und Manuel Borutta, Antikatholizismus (2010), den Forschungsstand über den «Kulturkampf» in letzter Zeit erweitert. Erleuchtende internationale Perspektiven bietet der von Christopher Clark und Wolfram Kaiser herausgegebene Sammelband Culture Wars (2003). Die Literatur zur Geschichte des Zentrums lässt sich am leichtesten erschließen über Andreas Linsenmann / Markus Raasch (Hg.), Die Zentrumspartei im Kaiserreich (2015). Immer noch unverzichtbar für die Zeit ab den 1890er Jahren ist die meisterhafte Darstellung von Wilfried Loth, Katholiken im Kaiserreich (1984). Kluge Anregungen zum Verhältnis von Religion und Moderne gibt besonders George Williamson, A Religious Sonderweg? (2006). Anregend zum gleichen Thema sind auch Olaf Blaschke, Abschied von der Säkularisierungslegende (2006), und Anthony Steinhoff, Ein zweites konfessionelles Zeitalter? (2004).
Leipzig, 2. Juni 1878 (Sozialistengesetz und Sozialdemokratie) Julie Bebel hat bis heute noch keine Biographin oder einen Biographen gefunden. Das hat auch mit der Quellenlage zu tun: Die meisten ihrer Briefe sind nicht überliefert, im Gegensatz zu denen ihres Mannes August, von dem mit geradezu religiösem Eifer sogar die Wäschelisten gesammelt wurden, die er an seine Frau schickte. Teilweise Auswertungen des vorhandenen Materials bieten der Aufsatz von Ursula Herrmann über Julie Bebels Familie und die Einleitung der von ihr ebenfalls 1997 herausgegebenen Korrespondenz zwischen Julie und August. Als Quellen habe ich außerdem vor allem die vielbändige Ausgabe von August Bebels Reden und Schriften, die Editionen seiner Briefe (vor allem die mit Friedrich Engels) und natürlich seine Autobiographie «Aus meinem Leben» mit Gewinn herangezogen. Besonders die in der DDR erschienene Literatur zu den frühen Jahren der deutschen Sozialdemokratie und der Zeit des Sozialistengesetzes, aber keineswegs nur diese, ist voll von Horror- und Heldengeschichten. Nicht alle davon sind völliger Blödsinn. Etwas spröde zu lesen, aber eine Fundgrube für Informationen über sozialdemokratische Organisation während des Sozialistengesetzes und danach ist das Buch von Torsten Kupfer, Geheime Zirkel und Parteivereine (2003). Wer sich näher mit der Frühgeschichte der SPD beschäftigen möchte, kann nicht vorbeigehen an den voluminösen Werken von Thomas Welskopp, Das Banner der Brüderlichkeit (2000), und Jürgen Schmidt, Brüder, Bürger und Genossen (2018). Parteigeschichten der Sozialdemokratie gibt es wie Sand am Meer. Für die Zeit des Kaiserreichs nähert man sich dem Thema wahrscheinlich aber am besten über eine der vielen exzellenten Biographien von August Bebel. Die neueste hat Jürgen Schmidt 2013 veröffentlicht, aber auch die älteren von William Maehl, Brigitte Seebacher-Brandt und Helmut Hirsch sind lesenswert. Wer sich für das Verhältnis von SPD und Frauen vor 1918 interessiert, ist nach wie vor gut beraten mit Richard Evans, Sozialdemokratie und Frauenemanzipation im deutschen Kai-
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serreich (1979), oder Heinz Niggemann, Emanzipation zwischen Sozialismus und Feminismus (1981).
Berlin, 27. September 1883 (Die Sozialversicherung) Der Großteil von Theodor Lohmanns Nachlass liegt in der Abteilung des Bundesarchivs in Berlin-Lichterfelde. Die meisten seiner Briefe bis 1883 hat Lothar Machtan ediert (Mut zur Moral, 1995). Viele davon sind auch abgedruckt in der vielbändigen Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik – eine schier unerschöpfliche Fundgrube für jeden, der sich anhand von Originaldokumenten mit der Grundlegung der deutschen Sozialversicherung beschäftigen möchte. Die Einleitungen zu den Bänden der Quellensammlung enthalten meist vorzügliche Auswertungen und Analysen, die von den Autoren häufig in Aufsatzform an anderer Stelle noch einmal erweitert publiziert wurden. Hervorzuheben sind darunter besonders die Publikationen von Florian Tennstedt. Auch Lothar Machtan hat einen wichtigen Aufsatz zu Lohmann veröffentlicht. Von Renate Zitt gibt es eine 1997 erschienene Lohmann-Biographie. Die Literatur zur Sozialversicherung im Kaiserreich ist nahezu unüberschaubar. Einen kurzen Überblick über den älteren Forschungsstand bietet Gerhard A. Ritter, Sozialversicherung in Deutschland und England (1983). Die neuere, auch international vergleichende Forschung repräsentieren besonders zwei Bücher nichtdeutscher Historiker: E. P. Hennock, The Origin of the Welfare State in England and Germany (2007), und Sandrine Kott, Sozialstaat und Gesellschaft (2014).
Okahandja, 21. Oktober 1885 (Kolonien) Das Verhältnis zwischen deutschen Kolonisatoren und afrikanischen Kolonisierten wird häufig nur aus der einen oder anderen Perspektive beschrieben. Bezeichnend dafür ist die Berühmtheit von Hendrik Witbooi und dessen selektive Wahrnehmung als kompromisslosem Widerstandskämpfer gegen deutsche Kolonialherrschaft. Dabei sind Samuel Maharero und seine enge Interaktion mit den Deutschen in Südwestafrika viel typischer. Nahezu alles, was wir über Maharero wissen können, hat Gerhard Pool in einer 1991 erschienenen Biographie zusammengetragen. Auch das wie Pools Buch in deutscher Übersetzung vorliegende «Tagebuch» von Witbooi, tatsächlich eine Art Briefkopierbuch, gewährt tiefe Einblicke in die komplexen Zusammenhänge, in denen es zwischen Schwarz und Weiß in mehr als einer Hinsicht viele Grauzonen gab. Eine exzellente Darstellung der Geschichte der Herero vom Vorabend der deutschen Eroberung bis zu deren Nachwirkungen mit einem hoffentlich verkaufs-
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fördernden, wenn auch auf den ersten Blick irreführenden Titel gibt es von JanBart Gewald, Herero Heroes (1999). Vorzüglich zu den Herero bis in die 1890er Jahre ist auch Dag Henrichsen, Herrschaft und Alltag im vorkolonialen Zentralnamibia (2011). Einen angenehmen Kontrast zu den meisten anderen Veröffentlichungen zeitgenössischer deutscher Autoren, darunter auch denen der ersten deutschen «Landeshauptmänner» von François und Leutwein, bietet das mehrfach nachgedruckte Buch von Johann Jakob Irle, Die Herero (1906), der von 1869 bis 1903 als Missionar in Südwestafrika tätig war. Zur deutschen Kolonialpolitik dort vor 1904 ist die Fachliteratur immer noch erstaunlich übersichtlich. Die Standardwerke bleiben Horst Drechsler, Südwestafrika unter deutscher Kolonialherrschaft (1966), und Helmut Bley, Kolonialherrschaft und Sozialstruktur in Deutsch-Südwestafrika (1968). Der deutsche Vernichtungsfeldzug gegen die Herero 1904 brachte dagegen nicht nur Dutzende von Erinnerungsbüchern seiner Teilnehmer hervor, die alle wesentlich mehr über die Autoren aussagen als über das, was sie zu beschreiben vorgeben. Er hat auch eine in letzter Zeit immer mehr anschwellende Flut von Publikationen mit wissenschaftlichem Anspruch provoziert. Den besten Einstieg bietet der Sammelband von Jürgen Zimmerer / Joachim Zeller (Hg.), Völkermord in Deutsch-Südwestafrika (2003, in dritter Auflage mit bibliographischem Essay über die seitdem erschienene Literatur 2016).
Berlin, 15. März 1890 (Bismarcks Entlassung) Über Bismarck dürfte es mehr Biographien geben als von nahezu jeder anderen Figur der deutschen Geschichte; allein der Österreicher Hitler kann hier mit dem ersten deutschen Reichskanzler konkurrieren. Entsprechend durchwachsen ist die Qualität dieser Bücher. Es ist wohl wenig überraschend, wenn ich darunter neben denen von Lothar Gall (1980) und Otto Pflanze (1997 / 98) am aufschlussreichsten das von Christoph Nonn (2015) finde. Für besonders eilige Leser empfiehlt sich die allerdings sehr knappe Darstellung von Kolb (2014). Zu Wilhelm II. bietet Christopher Clark (2008) eine gute Zusammenfassung des Forschungsstandes mit eigener Akzentsetzung. Wer sich intensiver über den letzten deutschen Kaiser informieren will, kommt nicht vorbei an John Röhl (1993–2008); wer nur an den zentralen Thesen dieser voluminösen dreibändigen Darstellung interessiert ist, greift zu Röhl (2013). Die Umstände von Bismarcks Rücktritt oder Entlassung wurden in zahlreichen älteren Veröffentlichungen aufgearbeitet, die mittlerweile reichlich Patina angesetzt haben und deren Ergebnisse in die einschlägigen neueren Biographien eingeflossen sind. Für alle, die tiefer in die Vorgeschichte des 15. März 1890 einsteigen möchten, empfiehlt sich deshalb der Griff zu den Quellen, von denen die meisten gedruckt vorliegen. Besonders wertvoll sind dabei jene, die nicht nachträglich zur
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eigenen Rechtfertigung verfasst wurden, wie das unter anderem natürlich bei Bismarcks «Gedanken und Erinnerungen» der Fall war: Großherzog Friedrich I. von Baden und die Reichspolitik 1871–1907, Band 2 (1975); Norman Rich, Die geheimen Papiere Friedrich von Holsteins, Band 3 (1961); Rudolf Vierhaus, Am Hof der Hohenzollern: Aus dem Tagebuch der Baronin Spitzemberg (1965); Philipp Eulenburgs politische Korrespondenz (1976) und Adolf von Waldersees Tagebucheintragungen in seinen Denkwürdigkeiten (1922). Zu den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Umbrüchen, die im Hintergrund der Ablösung des alten Kanzlers standen, findet sich über die schon genannten Darstellungen hinaus aufschlussreiches Material etwa in Hohorst / Kocka / Ritter, Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch (1978); Ritter / Niehuss, Wahlgeschichtliches Arbeitsbuch (1978); Margaret Anderson, Lehrjahre der Demokratie (2009). Die weitere Geschichte Bismarcks, seines Nachfolgers Caprivi und die Experimente Wilhelms II. mit einem «persönlichen Regiment» während der 1890er Jahre werden besonders ausführlich behandelt in Manfred Hank, Kanzler ohne Amt (1977), und John Röhl, Deutschland ohne Bismarck (1969).
Kiel, 3. Januar 1896 (Flottenbau) Alfred Tirpitz ist vielfach Objekt von Biographen geworden. Seine eigenen Erinnerungen (1919) und die frühe Arbeit seines Schwiegersohns Ulrich von Hassell (1920) dienten vor allem dazu, die im Ersten Weltkrieg offensichtlich gewordenen Schwächen der Planungen des Admirals zu rechtfertigen. Gegen diesen Strich gelesen enthalten sie dennoch wertvolles Material. Unter den späteren Biographien sind als Kontrapunkte die beiden eigenwilligen Bücher von Michael Salewski (1979) und Baldur Kaulisch (1982) immer noch interessant, trotz oder vielleicht gerade wegen ihrer offensichtlichen Prägung durch die Situation des «Kalten Krieges». Den neuesten Forschungsstand zu Tirpitz’ Leben repräsentiert die ausgewogene Darstellung von Patrick Kelly (2011). Der umfangreiche Nachlass des Admirals im Freiburger Bundesarchiv / Militärarchiv und andere ungedruckte Quellen bildeten seit den 1970er Jahren die Grundlage für Studien, die bis heute Fundament jeder näheren Beschäftigung mit dem deutschen Flottenbau im Kaiserreich sind. Weitgehend den ehrwürdigen Traditionen der historischen Sozialwissenschaft, aber ebenso deren ideologischen Scheuklappen verpflichtet, brachten manche davon es freilich auch fertig, für zentrale Thesen jeden Quellenbeleg schuldig zu bleiben. Das trifft besonders zu für Volker Berghahn, Der Tirpitz-Plan (1971), und Wilhelm Deist, Flottenpolitik und Flottenpropaganda (1976). Beide Bücher sind deshalb nach wie vor eine gleichermaßen gründliche wie kritische Lektüre wert. Ähnliches gilt für ihre zentrale Inspirationsquelle, den Klassiker von Eckart Kehr, Schlachtflottenbau und Parteipolitik (1930). Der Zusammenarbeit von Berghahn / Deist (1988) verdanken wir auch eine Edition
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zentraler Dokumente. Die Arbeit von Michael Epkenhans, Die wilhelminische Flottenrüstung 1908–1914 (1991), erschließt Phasen und Aspekte des Themas, die lange stiefmütterlich behandelt wurden. Geoff Eley hat in einer Reihe von gründlich belegten Veröffentlichungen schon frühzeitig manche übers Ziel hinausgeschossene Thesen korrigiert und damit zahlreiche neue Wege gebahnt. Diese weitergegangen sind die Analyse der zeitgenössischen Schulen der Seekriegsführung von Christian Rödel, Krieger, Denker, Amateure (2003), und Rolf Hobson, Maritimer Imperialismus (2004), der Tirpitz und die deutsche Flottenrüstung während des Kaiserreichs umfassend und international vergleichend in ideologische und strategische Kontexte der Zeit einordnet. Ein ausgesprochen fruchtbares Beispiel der Verbindung von Kultur- und Sozialgeschichte stellt schließlich Jan Rügers Untersuchung des «Great Naval Game» in Großbritannien und Deutschland vor 1914 dar.
Konitz / Westpreußen, 11. März 1900 (Antisemitismus) Es gibt zwei Bücher über das, was 1900 in Konitz und Umgebung geschah (und mittlerweile auch den einen oder anderen davon abgekupferten Roman): Helmut Smith, Die Geschichte des Schlachters (2002), und Christoph Nonn, Eine Stadt sucht einen Mörder (2002). Das zweite Buch habe ich in diesem Kapitel teilweise recycelt. Der Großteil der Akten zu den Ereignissen ist verloren gegangen; erhalten haben sich Abschriften und Korrespondenz zwischen den lokalen Behörden und preußischen Ministerien im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin-Dahlem. Eine Fundgrube an Informationen über die Akteure sind gedruckte Protokolle: Der Prozeß gegen Masloff und Genossen (1900), Der Prozeß gegen Moritz Lewy (1901), Der Konitzer Blutmord vor dem Berliner Gericht (1902). Alles, was wir über Anna Roß und die meisten anderen Konitzer wissen, stammt aus diesen Quellen. Als Einstieg in die Literatur über den Parallelfall in Xanten 1891 eignet sich exzellent der Aufsatz von Bernd Kölling, Blutige Illusionen (1998). Eine knappe Einführung in die historische Forschung zum Antisemitismus im Kaiserreich bietet Christoph Nonn, Antisemitismus (2008), S. 50–74. Das Standardwerk zu den antisemitischen Parteien in Deutschland vor 1914 ist Richard Levy, The Downfall of the Antisemitic Political Parties in Imperial Germany (1975). Ältere Arbeiten wie Peter Pulzer, Entstehung des politischen Antisemitismus (1966), und Hans-Jürgen Puhle, Agrarische Interessenpolitik und preußischer Konservatismus (1966), gingen von einer weiten Diffusion antisemitischer Ideologie in die deutsche Gesellschaft während des Kaiserreichs aus. Spätere, detailliertere Studien haben dieser These häufig widersprochen oder sie differenziert. Manche Arbeiten versuchten dabei mit verschiedenen Quellenbeständen ganze Milieus zu erfassen – so Rosemarie Leuschen-Seppel, Sozialdemokratie und Antisemitismus (1978); Olaf Blaschke, Antisemitismus und Katholizismus (1997); Uwe Mazura, Zentrumspartei
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und Judenfrage (1994). Als noch fruchtbarer erwiesen sich oft regionale und lokale Forschungen wie die von Ulrich Baumann, Zerstörte Nachbarschaften (2000); Till van Rahden, Juden und andere Breslauer (2000); James Retallack, Conservatives and Antisemites in Baden and Saxony (1999); Smith, Alltag und politischer Antisemitismus (1993).
Köpenick, 16. Oktober 1906 (Militär und Gesellschaft) Die Autobiographie von Wilhelm Voigt, Wie ich Hauptmann von Köpenick wurde (1909), sagt wie die meisten Schriften dieses Typs mehr über die Eigenheiten und Eitelkeiten des Autors aus als über sein Leben. Das hat viele, einschließlich Carl Zuckmayer, der das öffentliche Bild Voigts wie kein anderer geprägt hat, nicht davon abgehalten, die Flunkereien des falschen Hauptmanns für bare Münze zu nehmen. Zuverlässigere Quellen zu dessen Leben und seinem Köpenicker Coup sind zusammengestellt in Wolfgang Heidelmeyer, Der Fall Köpenick (1968). Das öffentliche Echo darauf ist dokumentiert und teilweise auch analysiert worden von: Denkwürdigkeiten des Hauptmanns von Köpenick (1906); Philipp Müller, Auf der Suche nach dem Täter (2005); Benjamin Ziemann, Der «Hauptmann von Köpenick» (1999). Eine umfassende Darstellung der Wirkungsgeschichte von Voigts «Köpenickiade» fehlt bis heute allerdings. Umso häufiger dient ein knapper Verweis auf die Ereignisse des 16. Oktober 1906 in Überblicksdarstellungen zum Kaiserreich dazu, scheinbar zu belegen, wie durchdrungen dessen Gesellschaft vom Geist des Militarismus gewesen sei. Dieser Geist ist vielfach auch als Element eines deutschen Sonderwegs beschrieben worden. Das geschah entweder, ohne überhaupt zu vergleichen, wie bei Hartmut John (1981), Jost Dülffer (1986) und Wolfram Wette (2011), oder zumindest unter Verzicht auf den Vergleich mit anderen europäischen Ländern der Zeit wie bei Volker Berghahn, Militarismus (1975). Wenn einmal ausnahmsweise verglichen wurde, was in einigen der Beiträge in Wolfram Wette (1999), bei Christian Jansen (2004) und in der fundierten Studie von Jakob Vogel (1997) geschieht, ergibt sich dagegen weniger ein Bild deutscher Besonderheiten als vielmehr das europäischer «Nationen im Gleichschritt». Wie der internationale Vergleich hat bisher auch die weitverbreitete Kritik, die während des Kaiserreichs am Militarismus geübt worden ist, trotz der differenzierten Betrachtung von Ute Frevert (2001) zu wenig Beachtung gefunden. Diese Militarismuskritik wird überdies oft entweder mit entschiedenem Pazifismus gleichgesetzt und damit auf eine gesellschaftlich tatsächlich randständige Erscheinung reduziert. Oder sie wird als Beleg für das von ihr kritisierte Phänomen reklamiert, obwohl sie der Annahme einer allgemeinen Militärbegeisterung doch gerade widerspricht. Etwas besser sieht es im Bereich des «populären Militarismus» der Massenverbände aus, über die schon grundlegende Studien vorliegen wie Thomas Roh-
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krämer (1990) und Marilyn Coetzee (1990). Die Ablösung einer Militärpolitik von «oben», die traditionellen Militärkonzepten verpflichtet war, unter dem Druck verschiedener Strömungen von «unten» in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg wird nachgezeichnet bei Stig Förster (1985).
Norderney, 2. Oktober 1908 (Daily-Telegraph-Affäre, Öffentlichkeit und Parlamentarisierung) Die bisher erschöpfendste Biographie über Bernhard von Bülow hat Peter Winzen 2013 vorgelegt. Er knüpft dabei an das sehr kritische Urteil an, das Bülows nach dessen Tod 1930 erschienene «Denkwürdigkeiten» schon unter den Zeitgenossen fanden, und spitzt dieses in mancher Hinsicht noch zu. Zumindest zu Bülows Zeit als Reichskanzler hält die Studie von Katharine Lerman, The Chancellor as Courtier (1990), sich dagegen nicht nur mit Urteilen mehr zurück, sondern ist auch analytisch ergiebiger. Der Wirbel um die Veröffentlichung von Aussagen Wilhelms II. im Daily Telegraph hat unter Historikern des Kaiserreichs immer wieder Beachtung gefunden. Von Peter Winzen gibt es sowohl eine umfassende Edition der meisten relevanten Quellen dazu (Das Kaiserreich am Abgrund, 2002) als auch eine kürzere Darstellung in Buchform (Eine «verlorene Schlacht», 2018). Lange wurde über die DailyTelegraph-Affäre vor allem im Zusammenhang mit der Frage diskutiert, ob das Kaiserreich vor dem Ersten Weltkrieg dabei war, sich zu einer parlamentarischen Demokratie zu entwickeln. Diese kontroverse Diskussion ist zuletzt noch einmal grundsätzlich geführt worden zwischen Christoph Schoeneberger, Die überholte Parlamentarisierung (2001), und Marcus Kreuzer, Und sie parlamentarisierte sich doch (2003). In letzter Zeit hat dann die Rolle der Massenmedien in der Affäre verstärkt Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Studien wie die von Martin Kohlrausch, Der Monarch im Skandal (2005), und Frank Bösch, Öffentliche Geheimnisse (2009), haben damit nicht nur neue Perspektiven eröffnet, sondern auch neue Antworten auf manche alten Fragen gefunden.
Freiburg, 30. Juli 1914 (Erster Weltkrieg) Charlotte Herder überlebte entgegen ihren Erwartungen den Ersten wie auch den Zweiten Weltkrieg. Im Alter fand sie späte Erfüllung als Autorin: Sie veröffentlichte zwei autobiographische Bücher, eine Reihe von Familiengeschichten und ein Kinderbuch. Ihr Tagebuch aus den Jahren 1914–1919 zählt zu den eindrucksvollsten und farbigsten in dieser Zeit geschriebenen Texten. Einen Biographen hat sie noch nicht gefunden. Über den Beginn des Weltkrieges in Freiburg informiert gleichermaßen kompe-
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tent wie anschaulich Christian Geinitz, Kriegsfurcht und Kampfbereitschaft (1998). Sein Buch gehört mit denen von Benjamin Ziemann, Front und Heimat (1997), Jeffrey Verhey, Der «Geist von 1914» (2000), und Bernd Ulrich, Die Augenzeugen (1997), zu den Werken, die in den 1990er Jahren die Forschung revolutionierten. Denn sie untersuchten das Kriegserlebnis gewöhnlicher Menschen, statt sich auf wenige Intellektuelle zu konzentrieren, wie es zuvor meist der Fall war – und seit der Rückwendung zur Kulturgeschichte mittlerweile wieder ist. Roger Chickering, Freiburg im Ersten Weltkrieg (2009), führt Geinitz’ Studie bis 1918 fort. Um das Gedenkjahr 2014 herum erschien zum Thema noch einmal historische Literatur in gewaltigen Quantitäten und verschiedenster Qualität. Auch einige bisher unbekannte interessante Quellen wurden in der letzten Zeit gedruckt zugänglich. Welche ich davon mit besonderem Gewinn benutzt habe, dokumentieren die Anmerkungen. Wer in der Masse von Veröffentlichungen eine knappe Orientierungshilfe auf der Höhe des Forschungsstandes sucht, ist gut beraten mit Michael Epkenhans, Der erste Weltkrieg (2015). Wer aber vor Werken mit epischem Atem nicht zurückschreckt, greift am besten zu Jörn Leonhard, Die Büchse der Pandora (2014).
München, 7. November 1918 (Revolution und Ende des Kaiserreiches) Felix Fechenbachs Bedeutung für die Münchner Revolution wird meist unterschätzt. Das hat zum einen wohl damit zu tun, dass er politisch zu lernfähig war, um sich einer der politischen Richtungen der deutschen Linken mit Haut und Haar zu verschreiben, so dass er nirgendwo in der kollektiven Erinnerung eine Heimat gefunden hat. Zum anderen fehlte ihm jede Neigung, sich in den Vordergrund zu spielen oder gar am eigenen Denkmal zu arbeiten. In seinen Schriften, aus denen man seine persönliche Geschichte mühsam destillieren muss, geht es immer um andere Dinge als ihn selbst: um Kurt Eisner, die deutsche Justiz und Politik in der Weimarer Republik, den Nationalsozialismus. Einen nur fragmentarischen Nachlass von ihm beherbergt das Archiv der sozialen Demokratie in Bonn. Die archivalischen und gedruckten Quellen über ihn hat Hermann Schueler (1981) zusammengetragen; Veröffentlichungen zum fünfzigsten Todestag (Schicksal, 1983) und hundertsten Geburtstag (Felix Fechenbach, 1994) haben noch manches ergänzt. Der größte Teil seiner Schriften ist in einem allerdings seltenen Band abgedruckt (Felix-Fechenbach-Buch, 1936), eine knappe Auswahl davon leichter zugänglich (Felix Fechenbach Lesebuch, 2009). Auch seine Feldpostbriefe aus dem Ersten Weltkrieg liegen im Druck vor (Ruppert 2013). Die revolutionären Ereignisse in München sind dagegen vergleichsweise gut erforschtes Terrain, auch wenn die Quellenlage gerade für die Seite der Revolutionäre zu wünschen übrig lässt, wie es aus naheliegenden Gründen bei solchen Umstürzen üblich ist. Zeitgenössische Stimmen in Auswahl präsentiert die kommen-
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tierte Edition von Gerhard Schmolze (1969). Eine ausgesprochen anschauliche Quelle ist das Tagebuch von Josef Hofmiller (1938). Über die Vorgeschichte der Revolution informieren nach wie vor am besten die Bücher von Willy Albrecht (1968) und Ludwig Ay (1968). Ebenfalls noch nicht überholt ist die Darstellung von Allan Mitchell zu politischem Umsturz und Räterepublik in Bayern (1967). Eine biographisch verdichtete Darstellung bietet Bernhard Grau (2001). Neue sozialund kulturgeschichtliche Perspektiven hat vor allem Martin Geyer (1998) eingebracht. Die seit langem geführten Kontroversen um die Möglichkeiten, Grenzen und Konsequenzen der Revolution von 1918 sind im Umfeld der Erinnerung an sie einhundert Jahre später wieder aufgeflammt. Mark Jones (2017) wärmt parteipolitisch motivierte alte Klischees ein weiteres Mal auf. Dagegen zeichnet Robert Gerwarth (2018) auf Basis einer gründlichen Auswertung der neueren Forschung ein differenziertes Bild.
ANMERKUNGEN
Anmerkungen Anhang
Gebrauchsanweisung 1 Ullrich, Nervöse Großmacht; Mommsen, Ringen; Mommsen, Bürgerstolz. 2 Nipperdey, Deutsche Geschichte; Berghahn, Kaiserreich. 3 Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. III.
Versailles, 18. Januar 1871 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21
Werner, Erlebnisse, S. 30. Werner, Jugenderinnerungen, S. 14. Ebd., S. 9 und 7. Ebd., S. 36, 52 f. Ebd., S. 74, 62 f. Ebd., S. 142. 19. 5. 1866, Nachlass im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStAPK) Nr. 11 W Bd. 1. An die Eltern 8. 8. 1866, ebd. Teilweise geschönt dagegen Werner, Jugenderinnerungen, S. 140–144, 148. Werner, Erlebnisse, S. 4. Briefe vom 21. 7., 10. 8. und 9. 10. 1870 (Nachlass GStAPK Nr. 11 W Bd. 1). Werner, Erlebnisse, S. 8, 19–21. An den Vater 28. 10. 1870 (Nachlass GStAPK Nr. 11 W Bd. 1). An den Vater 20. 1. 1871, ebd., und Werner, Erlebnisse, S. 31. Kaiser Friedrich, S. 343. Ebd., S. 341, und Bronsart, Kriegstagebuch, S. 298. Toeche-Mittler, Kaiserproklamation, zitiert nach Deuerlein, Gründung, S. 288. Werner, Erlebnisse, S. 32. Kaiser Friedrich, S. 342 (mit Verweisen auf ähnliche Reaktionen anderer Teilnehmer in der Anmerkung dazu); Bronsart, Kriegstagebuch, S. 298. Toeche-Mittler zitiert nach Deuerlein, Gründung, S. 297. Werner, Erlebnisse, S. 33. Toeche-Mittler, Kaiserproklamation, zitiert nach Deuerlein, Gründung,
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Anhang S. 297 f.; Frankenberg, Kriegstagebücher, S. 261; Kaiser Friedrich, S. 342. Der badische Großherzog notierte diplomatisch, Bismarck habe «mit vernehmbarer, aber bewegter Stimme» gesprochen (Großherzog Friedrich 1854–1871, S. 324). Werner, Erlebnisse, S. 34. Kaiser Friedrich, S. 343; Toeche-Mittler nach Deuerlein, Gründung, S. 300 f. Werner, Erlebnisse, S. 34. 21. 1. 1871 (Bismarck, GW, XIV /2 S. 810); vgl. Werner, Erlebnisse, S. 292 f.; Bismarck, NFA, IV S. 288 f. Werner, Jugenderinnerungen, S. 154 und 151. Werner, Erlebnisse, S. 28. Bismarck an Wilhelm 14. 1. 1871 (Bismarck, GW, VIb S. 663). Kaiser Friedrich, S. 337 f.; ähnlich Bismarck, NFA, IV S. 287 f. An seine Frau Augusta 18. 1. 1871 (Briefe Kaiser Wilhelms, S. 254). Großherzog Friedrich 1854–1871, S. 321–325. Johann Georg Herzog zu Sachsen, S. 191. 2. 2. 1871 (Doeberl, Bayern, S. 174 f.). 18. 1. 1871 (Briefe Kaiser Wilhelms, S. 254). Kaiser Friedrich, S. 336 f.; vgl. auch Großherzog Friedrich 1854–1871, S. 286, 299, 305; Frankenberg, Kriegstagebücher, S. 259; Werner, Erlebnisse, S. 35. Großherzog Friedrich 1854–1871, S. 320. Bronsart, Kriegstagebuch, S. 296; Roon an seine Frau 17. 12. 1870 und 16. 1. 1871 (Roon, Denkwürdigkeiten, II S. 517, 538). Blumenthal, Tagebücher, S. 232 f. Vgl. Biefang, Macht, S. 7–9. Großherzog Friedrich 1854–1871, S. 240. Ebd., S. 258–260; Biefang, Macht, S. 9. Blumenthal, Tagebücher, S. 230 f. Roon an seine Frau 18. 1. 1871 (Roon, Denkwürdigkeiten, II S. 539); Bismarcks und Wilhelms Reden nach Deuerlein, Gründung, S. 297–299. Abeken, Leben, S. 495; Frankenberg, Kriegstagebücher, S. 261; Kaiser Friedrich, S. 339; Deuerlein, Gründung, S. 294. Großherzog Friedrich 1854–1871, S. 325; Kaiser Friedrich, S. 342; vgl. Bronsart, Kriegstagebuch, S. 298, und Deuerlein, Gründung, S. 290, 292. Großherzog Friedrich 1854–1871, S. 327 f. 14. 12. 1870 (Bismarck, GW, VIb S. 633–637). Großherzog Friedrich 1854–1871, S. 303, 327. Vgl. auch Roon, Denkwürdigkeiten, II S. 517. Großherzog Friedrich 1854–1871, S. 313–315. Bronsart, Kriegstagebuch, S. 296 f. Vgl. Kaiser Friedrich, S. 319; Großherzog Friedrich 1854–1871, S. 300 f.; Hull, Absolute Destruction. Werner, Erlebnisse, S. 35.
Anmerkungen
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20. 1. 1871 (Nachlass im GStAPK, Nr. 11 W Bd. 1). Werner, Lebenserinnerungen, S. 40; Kaiser Friedrich, S. 371. Werner, Lebenserinnerungen, S. 85. Becker, Bilder. Werner, Erlebnisse, S. 270, 273–275. Werner, Erlebnisse, S. 356. Werner, Erlebnisse, S. 48. Weichlein, Nation, S. 348. Vgl. zu den Sedanfeiern auch Confino, Nation; Zimmer, Rhythms. 60 Werner, Jugenderinnerungen, S. 150, 154. 61 Confino, Nation; Applegate, Nation.
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Blackbourn, Wenn, S. 556, 208 f., 212. Ebd., S. 17. Ebd., S. 204 f. Ebd., S. 225 f. Ebd., S. 219. Ebd., S. 17, und vgl. 253–259. Zitate nach: Der Spiegel 14. 12. 2005 (http: / / www.spiegel.de / panorama / saarland-kirche-erkennt-marienerscheinungen-nicht-an-a-390382.html, 19. 2. 2020). Blackbourn, Wenn, S. 555 f. Ebd., S. 212 f., 556. Ebd., S. 557, und vgl. S. 215–223, 234. Ebd., S. 212, 557. Ebd., S. 379. Ebd., S. 295 (und vgl. S. 292–303 zu kommerziellen Aspekten). Ebd., S. 377. Ebd., S. 391. Ebd., S. 378. Zitate ebd., S. 250, 268, 349. An Bernhard von Bülow Ende Juli 1874 (Bismarck, GW, XIV S. 861). Ebd., VIa S. 349. An Leopold von Gerlach 20. 1. 1854 (ebd., XIV S. 340). An den preußischen Gesandten im Vatikan 12. 4. 1868 (ebd., VIa S. 348) und 8. 12. 1866 (ebd., VI S. 185). Bismarck an die preußischen Gesandten in München 17. 4. 1871 und in St. Petersburg 28. 2. 1874 (Bismarck, NFA, III /1 S. 56, III /2 S. 122). Blackbourn, Wenn, S. 457 f.
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24 Clark / Kaiser, Culture Wars, S. 22. 25 Zum liberalen Antikatholizismus neben Blackbourn, Wenn, ausführlich Gross, War; Borutta, Antikatholizismus; Clark / Kaiser, Culture Wars. 26 31. 1. 1872 (zitiert nach Borutta, Antikatholizismus, S. 295). 27 Zu den Wahlergebnissen Ritter / Niehuss, Arbeitsbuch, und vgl. Sperber, Voters. 28 Blackbourn, Wenn, S. 443. 29 Stenographische Berichte des Hauses der Abgeordneten 16. 1. 1878, S. 1158 f. (Blackbourn, Wenn, S. 499). 30 Bismarck, GW, XI S. 270; Mittnacht, Erinnerungen, S. 13. 31 Blaschke, Zeitalter. 32 Smith, Continuities, S. 176; vgl. Zimmerman, Race, S. 360. 33 Blackbourn, Wenn, S. 586.
Leipzig, 2. Juni 1878 1 2 3 4 5
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An ihren Mann 5. 5. 1887 (Bebel, Briefe, S. 461). Bebel, Aus meinem Leben, S. 486. Bismarck an Bülow 11. und 14. 5. 1878 (Bismarck, NFA, III /3 S. 464). Zitiert nach Mühlnikel, Fürst, S. 61 f. (die umfangreichste und neueste Darstellung der Attentate). Bismarck zum Marquess of Lorne 10. 8. 1878 (Bismarck, GW, VIII S. 265), beim Tischgespräch am 13. 6. 1878 (Vierhaus, Hof, S. 78) und an Ludwig II. 12. 8. 1878 (Bismarck, NFA, III /3 S. 533). Bebel, Aus meinem Leben, S. 490. Bülow für Bismarck an Solms 19. 6. 1878 (Bismarck, NFA, III /3 S. 514). Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstags 4 / I, Bd. 1, S. 45 f. (16. 9. 1878). Bebel, Aus meinem Leben, S. 3, 139. Bebel, Briefe, S. 631, 464, 122. Herrmann, Julie Bebels Familie. Julie Bebel an Engels 10. 5. und 13. 2. 1892 (Bebel, Briefwechsel, S. 540, 507). Bebel, Aus meinem Leben, S. 60. Ebd., S. 142, 285. Ebd., S. 24. Ebd., S. 140 f. An Leopold Sonnemann 23. 6. 1865, zitiert ebd., S. 85 (vgl. zum Original Welskopp, Banner, S. 200). Bebel, Aus meinem Leben, S. 77 und 101. Vgl. Schmidt, August Bebel, S. 68 f. Bebel, Aus meinem Leben, S. 80–87. August Bebel 1840–1913, S. 25.
Anmerkungen
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21 August Bebel an unbekannten Empfänger (wahrscheinlich Leopold Sonnemann) 11. 9. 1867 (Bebel, Ausgewählte Reden und Schriften, I S. 550). 22 Welskopp, Banner, S. 222 (vgl. dort und Schmidt, Brüder, auch für das Folgende). 23 Bebel, Aus meinem Leben, S. 141. 24 Liebknecht an Johann Philipp Becker 3. 8. 1867 (Liebknecht, Briefwechsel, I S. 216); Bebel an Engels 8. 9. 1874 (Bebel, Briefwechsel, S. 23–25). 25 Julie Bebel an Friedrich Engels 19. 4. 1892 (Bebel, Briefwechsel, S. 536); Bebel, Aus meinem Leben, S. 355. 26 Neue Zeit XXIII (1905), S. 338. Die Wortprägung stammte ursprünglich aus der «lassalleanischen» Richtung. 27 August Bebel an Reinhold Schlingmann 31. 8. 1872 (Bebel, Ausgewählte Reden und Schriften, I S. 582); Herrmann, Julie Bebels Familie, S. 92. 28 Bebel, Aus meinem Leben, S. 139; vgl. Bebel, Briefe, S. 635. 29 Bebel an Johann Philipp Becker 9. 10. 1867 (Bebel, Ausgewählte Reden und Schriften, I S. 552). 30 Bismarck an den preußischen Gesandten in Wien 7. 6. 1871 (Bismarck, NFA, III /1 S. 118). 31 An Kameke 3. 9. 1878 (Bismarck, GW, VIc S. 119 f.). 32 www.documentarchiv.de/ksr/soz_ges.html (23. 4. 2020). 33 Bismarck an Tiedemann 15. 8. 1878 (ebd., S. 117). 34 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstags 4 / I, Bd. 1, S. 46. 35 Staude, S. 62. 36 Bebel, Aus meinem Leben, S. 507. 37 Ebd., S. 511, 635. 38 Ebd., S. 513, 588, 623–625; Bebel, Briefe, S. 301 f., 311, 388, 440, 627; Zitat: Bebel an Engels 4. 6. 1892 (Bebel, Briefwechsel, S. 542). 39 Julie an August Bebel 17. 4., 3. 1. und 15. 5. 1887 (Bebel, Briefe, S. 442, 300, 472). 40 Julie an August Bebel 20. 2. 1887, an Engels 13. 2. 1892, an August 7. 2. 1887 (ebd., S. 371, 618, 350). 41 An Natalie Liebknecht 12. 9. 1887 (ebd., S. 628). 42 Bebel, Aus meinem Leben, S. 139. 43 Julie Bebel an Friedrich Engels 6. 12. 1892 (Bebel, Briefwechsel, S. 637); Julie an August Bebel 18. 5. 1886, 9., 21., 28. 1. und 9. 3. 1887, August an Julie 18. 1. 1887 (Bebel, Briefe, S. 218 f., 310, 328–331, 339, 399). 44 Julie an August Bebel 18. 5. 1886, 9. 1., 7. 2. und 9. 3. 1887 (Bebel, Briefe, S. 219, 312, 350, 399). 45 Julie an August 5. und 6. 8. 1886, 9. 1. und 5. 5. 1887 (ebd., S. 236, 238, 312, 460). 46 Bebel, Aus meinem Leben, S. 297 f.; Bebel an Liebknecht 28. 12. 1883 (Liebknecht, Briefwechsel, II S. 810), an Engels 19. 6. 1885 (Bebel, Briefwechsel, S. 225), an Julie 16. 5. 1886 (Bebel, Briefe, S. 215 f.).
Anhang
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47 Bebel an Engels 11. 2. 1881, 24. 11. 1884, 7. 12. 1885 (Bebel, Briefwechsel, S. 103, 199, 249). 48 An Georg von Vollmar 12. 12. 1878 (zitiert nach Schmidt, August Bebel, S. 126). 49 Braun, Memoiren, II S. 159 f. 50 Zitate nach Welskopp, Banner, S. 82–85. 51 Ebd., S. 416 f. und vgl. S. 335–337. 52 Vgl. Evans, Sozialdemokratie, S. 220–225. 53 Evans, Kneipengespräche, S. 164 (dort S. 159–167 weitere Belege); Evans, Sozialdemokratie, S. 324 (1900); Protokolle über die Verhandlungen des Parteitages der SPD 1906, S. 407, und 1908, S. 517; zu weiteren Quellen und Literatur Nonn, Verbraucherprotest, S. 45. 54 Bebel, Frau, S. 52, 96 f. 55 Bebel, Aus meinem Leben, S. 287, 462 f., 633 f. 56 Evans, Sozialdemokratie, S. 324–326; Welskopp, Banner, S. 336 (erstes Zitat) und 736; Nonn, Verbraucherprotest, S. 43 (zweites Zitat), dort auch weitere Literaturhinweise. 57 Zitiert nach Nonn, Verbraucherprotest, S. 49. 58 Bebel an Engels 18. 6. 1891 (Bebel, Briefwechsel, S. 421), vgl. Sperber, Voters, S. 205, 208, 217. 59 Protokolle über die Verhandlungen des Parteitages der SPD 1900, S. 246, und 1898, S. 179. 60 Zitiert nach Nonn, Verbraucherprotest, S. 51. 61 Protokoll der Verhandlungen des Parteitages der SPD 1903, S. 313. 62 Vgl. Pracht, Parlamentarismus. 63 Bracher, S. 257–276; Breitman, S. 152–160; Schulze, S. 304–317.
Berlin, 27. September 1883 1 Lohmann an Ernst Wyneken 5. 10. und Bismarck nach Tagebuch Robert Bosse 4. 10. 1883 (Mut zur Moral, S. 639; mit geringfügig anderem Wortlaut: Quellensammlung, II /2 S. 377 und 382). 2 Kölnische Volkszeitung 28. 9. 1883 (Quellensammlung, II / 2 S. 373). 3 Lohmann an Wyneken 25. 12. 1873 (Mut zur Moral, S. 384 f.). 4 Mut zur Moral, S. 621, 577; Poschinger, Fürst Bismarck, I S. 186. 5 3. 1. 1879 (Mut zur Moral, S. 507). 6 Lohmann an Wyneken 25. 12. 1873 (Mut zur Moral, S. 384) und 22. 6. 1882 (Quellensammlung, II /2 S. 246). 7 Bismarcks Schwiegersohn Kuno zu Rantzau an Herbert von Bismarck 18. 8. 1883 (Mut zur Moral, S. 631 f.; vgl. auch schon Lohmann an seinen Sohn Ernst 8. 6. 1883, ebd., S. 626) und Lohmann an Wyneken 25. 6. und 22. 7. 1883 (Quellensammlung, II /2 S. 332 und 344).
Anmerkungen 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35
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An Wyneken 6. 1. 1875 (Mut zur Moral, S. 407). Lohmann an Wyneken 5. 10. 1883 (Quellensammlung, II /2 S. 380–382). Quellensammlung, II 2 /2 S. 391–395. Ebd., S. 380 und 377. Zitt, Mission, S. 70–77. Ebd., S. 107–109. Ebd., S. 110. Lohmann an den preußischen Kultusminister 14. 4. und der Oberpräsident von Hannover an den Kultusminister 8. 5. 1869 (Zitt, Mission, S. 140 f.). An Ernst Wyneken 31. 10. 1871 und 19. 5. 1872 (Mut zur Moral, S. 310 f. und 337). An Ernst Wyneken 23. 10. 1870 und 28. 5. 1871 (ebd., S. 259 und 292). Lohmann an Ernst Wyneken 28. 5., an Rudolf Friedrichs 8. 10. und 26. 12. 1871 (Mut zur Moral, S. 293, 304 f. und 325); vgl. Zitt, Mission, S. 146. An Familie Lohmann / Winkel 8. 1. 1876 (Mut zur Moral, S. 434). Bismarck an Itzenplitz 21. 10. und 17. 11. 1871 (Bismarck, NFA, III /1 S. 222 und 230). Lohmann an Ernst Wyneken 31. 10. 1871 und 20. 5. 1872 (Mut zur Moral, S. 310 und 342). An Rudolf Friedrichs 26. 10. und 12. 11. und an Wyneken 31. 10. 1871 (ebd., S. 325, 314 f., 310). Lohmann an Ernst Wyneken 31. 10. 1871 und 29. 7. 1873 (Mut zur Moral, S. 311, 376, und ebd. passim). Lohmann an Wyneken 6. 6. 1875 (ebd., S. 421, vgl. auch 320 und 504). An Familie Lohmann / Winkel 20. 3. 1874 und 26. 3. 1876, an Rudolf Friedrichs 26. 12. 1871 (Mut zur Moral, S. 391, 439, 324, vgl. auch 396 und 617). Hertling, Erinnerungen, I S. 328. An Familie Lohmann / Winkel 4. 9. 1878 (Mut zur Moral, S. 495, vgl. auch ebd., 510). Votum Stolberg-Wernigerode 11. 9. 1878 (Quellensammlung, I /3 S. 509). Bismarck an die preußischen Gesandten bei den deutschen Höfen 13. 3. 1879 (ebd., S. 567). An Familie Lohmann / Winkel 4. 9. 1878 und 18. 3. 1879 und an Ernst Wyneken 28. 10. 1877 (Mut zur Moral, S. 496, 513, 476). So der Saarindustrielle und freikonservative Reichstagsabgeordnete Karl Ferdinand von Stumm (zitiert in Quellensammlung, I /2 S. XXV). Quellensammlung, I /1 S. 571–575. Lohmann an Ernst Wyneken 9. 1. 1881 (Quellensammlung, I /2 S. 507) und Notizen Bismarcks Mitte Dezember 1880 (Bismarck, GW, VIc S. 230). Lohmann an Familie Lohmann / Winkel 25. 9. 1881 (Mut zur Moral, S. 582 f.). Allerhöchste Botschaft Kaiser Wilhelms I. zur Eröffnung des Reichstags vom 17. 11. 1881 (Quellensammlung, II /1 S. 64 f.).
Anhang
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36 An Familie Lohmann / Winkel 25. 9. 1881, an Ernst Wyneken 18. 9. 1881 und 15. 10. 1882 (Mut zur Moral, S. 582 f., 580, 610). 37 Lohmann an Ernst Wyneken 6. 7. 1883, und vgl. 5. 10. 1883 (Quellensammlung, II /2 S. 276 f., 380 f.). 38 Zitiert nach Zitt, Mission, S. 15 f. 39 Lohmann an Wyneken 1. 11. 1903 (Zitt, Mission, S. 378). 40 Lohmann an Ernst Wyneken 19. 5. und 24. 11. 1872, 2. 5. 1875, 15. 6. 1873 und an Rudolf Friedrichs 26. 12. 1871 (Mut zur Moral, S. 337, 352, 418, 369, 325, vgl. auch 330, 361, 458, 522). 41 An Wyneken 28. 2. 1878 und 16. 3. 1881, an die Familie 25. 9. 1881 (ebd., S. 484, 565, 582 f., vgl. 330, 337, 577). 42 An Wyneken 14. 4. 1878 und 29. 7. 1873 (ebd. S. 487 und 376, vgl. auch 337). 43 An Wyneken 25. 4. 1881, an Rudolf Friedrichs 6. 4. 1874 und an Wyneken 28. 12. 1875 (ebd., S. 569, 396 und 432, vgl. auch 402, 464). 44 Lohmann an Georg Bobertag 15. 1. 1881 und an Ernst Wyneken 6. 6. 1875 (ebd., S. 555 und 421, vgl. auch 320, 336 f., 376, 504). 45 An Ernst Wyneken 5. 10. und Ausarbeitung Lohmanns 10. 10. 1883 (Quellensammlung, II /2 S. 381 und 384).
Okahandja, 21. Oktober 1885 1 Hendrik Witbooi an Maharero 13. 10. 1885 (Witbooi, Afrika, S. 43). 2 Vedder, Südwestafrika, S. 638 f.; Witbooi, Afrika, S. 94 f. 3 Zu Vorgeschichte und Ablauf der Ereignisse am Swakop: Vedder, Südwestafrika, S. 634–639, danach S. 635 auch die Aussage von Witboois Sohn gegenüber einem Missionar zitiert; Hendrik Witbooi an Maharero 19. 10. 1885 in Witbooi, Afrika, S. 44; und vgl. ebd., S. 45, 80, 94 f. 4 August an Julie Bebel 4. 8. 1886 (Bebel, Briefe, S. 274). 5 An Rudolf Friedrichs 20. 5. 1872 (Zitt, Mission, S. 158). 6 Busch, Tagebuchblätter, II S. 157 (9. 2. 1871); Poschinger, Fürst Bismarck, III S. 54 (Frühjahr 1881). 7 Bismarck, GW, III / 6 S. 462 (25. 1. 1885). 8 So Hermann zu Hohenlohe-Langenburg, einer der Gründungsväter des Deutschen Kolonialvereins, an seinen freikonservativen Parteifreund Carl Ferdinand Stumm 29. 9. 1882, zitiert nach Engelberg, Bismarck, II S. 369. 9 Bismarck, GW, XII S. 562 (10. 1. 1885). 10 Zitiert nach Pflanze, Bismarck, II S. 378. 11 Bismarck, GW, III / 6 S. 203 f. (1. 6. 1884). 12 Zitiert nach Engelberg, Bismarck, II S. 376. 13 Tagebucheintragung Friedrich von Holsteins 14. 4. 1884 (Rich, Papiere, II S. 121 f.).
Anmerkungen
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14 Rich, Papiere, III S. 316. 15 Bismarck, GW, IV S. 395, bestätigt u. a. durch Rich, Papiere, II S. 235 (Tagebuch 11. 7. 1885); vgl. Riehl, Tanz; Baumgart, Bismarck. 16 Deutsche Kolonialzeitung 4 (1887), S. 533, zitiert nach Drechsler, Südwestafrika, S. 45. 17 Missionar Eich zitiert nach Vedder, Südwestafrika, S. 643; zweites Zitat: Drechsler, Südwestafrika, S. 331 Anm. 111, vgl. ebd., S. 47–50. 18 Missionar Eich an von Rohden 3. 11. 1888, vgl. Henrichsen, Herrschaft, S. 286–288, und Drechsler, Südwestafrika, S. 51–54. 19 Bismarck, Gesammelte Werke, VIII S. 646, und vgl. Pflanze, Bismarck, II S. 394. 20 Pool, Samuel Maharero, S. 68 f.; François, Deutsch-Südwest-Afrika, S. 49–55; Gewald, Herero, S. 34 f. 21 Göring an Witbooi 20. 5. 1890 (Witbooi, Afrika, S. 85); vgl. auch François, Deutsch-Südwest-Afrika, S. 59 f. und 69–71. 22 Witbooi an Maharero 30. 5. 1890 (Witbooi, Afrika, S. 90). 23 Leutwein, Elf Jahre, S. 23–27, 59–61; vgl. Gewald, Herero, S. 56–59; Pool, Samuel Maharero, S. 102–105. 24 François, Deutsch-Südwest-Afrika, S. 144–147, 149. 25 Von François an die Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes 12. 4. 1893 (Drechsler, Südwestafrika, S. 79–84, auch für das Folgende). 26 Witbooi, Afrika, S. 205–209. 27 Vgl. Vedder, Südwestafrika, S. 342–345, 497–500, 580–584. 28 Leutwein an Reichskanzler Hohenlohe-Schillingsfürst 13. 12. 1894 (Drechsler, Südwestafrika, S. 101); Maharero an den deutschen Verhandlungsführer Lindequist 22. 12. 1894 (Pool, Samuel Maharero, S. 118). 29 An Kayser 29. 8. 1895 (Drechsler, Südwestafrika, S. 103). 30 Vgl. Pool, Samuel Maharero, S. 42 f., 67 f., 91, 167–171, 192, 194. Auch Pool schreibt weitgehend das Klischee des «trunksüchtigen Schwarzen» fort. 31 Tagebuchnotizen des Ansiedlungskommissars Paul Rohrbach November 1903 und Rohrbach an Leutwein 28. 5. 1904 nach Drechsler, Südwestafrika, S. 147– 149 und 348, Anm. 226. 32 Instruktion Leutweins 1. 5. 1900 und Schlussbericht 1904 (Bley, Kolonialherrschaft, S. 116 f., 178–184). 33 Diehl an Leutwein 1904 (Drechsler, Südwestafrika, S. 145), vgl. Gewald, Herero, S. 147; Leutwein, Elf Jahre, S. 275–277. 34 Missionar Wandres in Windhuk an Rheinische Missionsgesellschaft in Wuppertal 29. 6. 1904 und Samuel Maharero an Theodor Leutwein 6. 3. 1904 (Gewald, Herero, S. 149 und 168). 35 Leutwein, Afrikanerschicksal, S. 96; Deutsch-Südwestafrikanische Zeitung 5. 1. 1904 (Häussler, Genozid, S. 41 und 55). 36 Maharero an Leutwein 6. 3. 1904 (Gewald, Herero, S. 168, vgl. ebd., 142– 161).
Anhang
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37 Bericht Elger 10. 2. 1904 (Zimmerer, Herrschaft, S. 35) und undatierter Bericht Hammann (Drechsler, Südwestafrika, S. 176). 38 Maharero an Leutwein 6. 3. 1904 (Gewald, Herero, S. 167 f.). 39 Leutwein, Afrikanerschicksal, S. 156. 40 Zitiert nach Drechsler, Südwestafrika, S. 354. 41 Zitiert ebd., S. 184. Zur Interpretation der deutschen Kriegführung unter von Trotha: Hull, Absolute Destruction. 42 Estorff, Wanderungen, S. 117. Zeitgenössische Belege für Estorffs Verhalten und seine Kritik an Trotha 1904: Gewald, Herero, S. 183–185 und 189; Pool, Samuel Maharero, S. 270; Drechsler, Südwestafrika, S. 193. 43 Bley, Kolonialherrschaft, S. 207. 44 Zimmerer, Von Windhuk nach Auschwitz; Zimmerer / Zeller. 45 Trotha an Generalstabschef Schlieffen 4. 10. und Schlieffen an Reichskanzler Bülow 23. 11. 1904 (Drechsler, Südwestafrika, S. 190 und 193). 46 Trotha an Leutwein 5. 11. 1904 (ebd., S. 180). 47 Zur Kritik an der Kontinuitätsthese Gerwarth / Malinowski, Holocaust, und Kundrus, Kontinuitäten; vgl. auch Klein / Schumacher, Kolonialkriege. 48 Zitate nach Bley, Kolonialherrschaft, S. 179, 102, 184, und Drechsler, Südwestafrika, S. 100. 49 Nach Drechsler, Südwestafrika, S. 104 f., und Bley, Kolonialherrschaft, S. 184, 105. 50 Nach Drechsler, Südwestafrika, S. 192, 173. 51 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags 11 / II, Bd. 5, S. 4057 (1. 12. 1906).
Berlin, 15. März 1890 1 Tagebuch 25. 1. 1890 (Großherzog Friedrich 1871–1907, S. 699). 2 Ebd. 5. 3. 1890, S. 745; Aus 50 Jahren, S. 242, 205, 290; Eulenburg an Holstein 3. 2. 1890 (Philipp Eulenburgs Korrespondenz, S. 434). 3 Tagebuch Waldersee 2. 1. 1890 (Denkwürdigkeiten, II S. 86); Holstein an Radolin 15. 10. 1889 (Rich, Papiere, III S. 283); Aus 50 Jahren, S. 225. 4 Tagebuch Waldersee 12. 1. 1890 (Denkwürdigkeiten, II S. 90); Tagebuch Marschall 17. 3. (Großherzog Friedrich 1871–1907, S. 750); Holstein an Pourtalés 5. 3. (Rich, Papiere, III S. 293). 5 Vierhaus, Hof, S. 122 f. (15. 1. und 26. 2. 1889). 6 Tagebuch Waldersee 13. 11. 1889, 18. 1. und 4. 3. 1890 (Denkwürdigkeiten, II S. 77, 95, 110 f.). 7 Ebd. 5. 3. 1890 und 5. 11. 1889, S. 111, 76, vgl. 73–75, 85, 99 f., 109 f. sowie Röhl, II S. 339 f. 8 24. 1. 1890 (Rich, Papiere, III S. 289).
Anmerkungen
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9 Vierhaus, Hof, S. 129–131 (21. und 25. 3. 1890). 10 Fürst Bismarcks Entlassung, S. 89 f.; vgl. Röhl, II S. 316 und 319; Denkwürdigkeiten Waldersee, II S. 111. 11 Marschall an Friedrich I. von Baden 18. 2. 1890 (Großherzog Friedrich 1871– 1907, S. 721); Tagebuch Waldersee 30. 1. und 4. 3. 1890 (Denkwürdigkeiten, II S. 98 f., 110). 12 Friedrich I. von Baden an Philipp Eulenburg 23. 11. 1889 und Tagebuch Marschall 7. 2. 1890 (Großherzog Friedrich 1871–1907, S. 683 f., 707); vgl. auch Waldersee am 18. 1. (Denkwürdigkeiten, II S. 95). 13 Eulenburg an Holstein 25. 1. 1890 (Philipp Eulenburgs Korrespondenz, S. 421). 14 Tagebuch Waldersee 12. 1. (Denkwürdigkeiten, II S. 89) und fast wortgleich nach Eulenburg an Bülow 29. 1. (Aus 50 Jahren, S. 289); Tagebuch Marschall 31. 1. 1890 (Großherzog Friedrich 1871–1907, S. 702). 15 Kayser an Holstein 28. 2. (Rich, Papiere, III S. 294) und Marschall an Friedrich I. von Baden 3. 3. 1890 (Großherzog Friedrich 1871–1907, S. 735 und 738). 16 Denkwürdigkeiten, II S. 114. 17 Herbert Graf von Bismarck: Erinnerungen und Aufzeichnungen, S. 188; zu dem die Bismarcks völlig überraschenden Charakter von Wilhelms Vorstoß August an Philipp zu Eulenburg 15. 3. 1890 (Philipp Eulenburgs Korrespondenz, S. 499). 18 So weit das Zeugnis bei Herbert Graf von Bismarck: Erinnerungen und Aufzeichnungen, S. 188. 19 Ebd. und Wilhelm nach Tagebuch Waldersee 15. 3. (Denkwürdigkeiten, II S. 114), zu Eulenburg am 17. 3. (Aus fünfzig Jahren, S. 235 f.; vgl. Philipp Eulenburgs Korrespondenz, S. 503), und zum englischen Botschafter nach Röhl, II S. 341 f. 20 Herbert Graf von Bismarck: Erinnerungen und Aufzeichnungen, S. 189; Tagebuch Spitzemberg 19. 3. (Vierhaus, Hof, S. 128); Aus fünfzig Jahren, S. 235. Vgl. auch Tagebuch Waldersee 15. 3. (Denkwürdigkeiten, II S. 115) und Marschall an Turban 18. 3. 1890 (Großherzog Friedrich 1871–1907, S. 752). 21 Herbert Graf von Bismarck, Erinnerungen und Aufzeichnungen, S. 158 f.; Bismarck, NFA, IV S. 452 f.; Denkwürdigkeiten Waldersee, S. 116. 22 Schweinitz, Denkwürdigkeiten, II S. 79 (27. 10. 1879). 23 Busch, Tagebuchblätter, III S. 88 f.; Lucius, Bismarck-Erinnerungen, S. 465; Vierhaus, Hof, S. 120 (28. 6. 1888, vgl. ebd. auch schon 11. 4. 1888). 24 Pourtalés an Holstein 23. 6. 1888 (Rich, Papiere, III S. 249). 25 Johanna an Wilhelm von Bismarck 15. 6. (Johanna von Bismarcks Briefe, S. 76), Otto von Bismarck an Adolf von Scholz 2. 8. 1888 (Bismarck, GW, XIV S. 987) und Herbert von Bismarck an Holstein 17. 10. 1888 (Rich, Papiere, III S. 269). 26 Frank, Hofprediger, S. 318. 27 Lucius, Bismarck-Erinnerungen, S. 413 (Dezember 1887); vgl. ebenfalls Tagebuch Holsteins 4. 2. 1888 (Rich, Papiere, II S. 408–410).
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Anhang
28 Vierhaus, Hof, S. 123 f. (5. 12. 1889). 29 Vierhaus, Hof, S. 125 (7. 12. 1889); Bismarck an Wilhelm II. 29. 12. 1889 (Bismarck, GW, III / 8 S. 601). 30 Aus fünfzig Jahren, S. 241. Vgl. ebd., 289 f.; Philipp Eulenburgs Korrespondenz, S. 406 f., 422; Großherzog Friedrich 1871–1907, S. 696; Fürst Bismarcks Entlassung, S. 157–165. 31 Fürst Bismarcks Entlassung, S. 84; Tagebuch Waldersee 26. 2. (Denkwürdigkeiten, II S. 107); Marschall an Turban 25. 2. (Großherzog Friedrich 1871–1907, S. 730) und an Eulenburg 12. 3. 1890 (Philipp Eulenburgs Korrespondenz, S. 495). Vgl. auch Aus fünfzig Jahren, S. 293; Großherzog Friedrich 1871–1907, S. 735, 749; Zechlin, Staatsstreichpläne, S. 32–49 und 178–182. 32 Eulenburg an Friedrich I. von Baden 25. 12. 1889 (Philipp Eulenburgs Korrespondenz, S. 391); Waldersees Tagebuch 2. 1. 1890 (Denkwürdigkeiten, II S. 85 f., vgl. 80 f.). 33 Waldersees Tagebuch 27. 10. 1889, 22. und 26. 2., 10. 3. 1890 (Denkwürdigkeiten, II S. 74, 106 f., 113); Rauchhaupt an Hammerstein 20. 2. 1890 (Leuss, Hammerstein, S. 83); Vierhaus, Hof, S. 127 (22. 2. 1890); Eulenburg an Wilhelm II. 22. 2. (Philipp Eulenburgs Korrespondenz, S. 455 und Fußnote 2), vgl. ebd., S. 458 sowie Marschall an Turban 25. 2. 1890 (Großherzog Friedrich 1871–1907, S. 730). 34 Tagebuch 22. 2. und 1. 3. 1890 (Denkwürdigkeiten, II S. 106 und 108). 35 Marschall an Friedrich I. von Baden 24. 2. 1890 (Großherzog Friedrich 1871– 1907, S. 728). 36 Philipp Eulenburgs Korrespondenz, S. 505 (19. 3. 1890). 37 Bismarck, NFA, III / 6 S. 433 (10. 1. 1885). 38 Vgl. Hohorst / Kocka / Ritter, Arbeitsbuch, S. 52, 66, 88 f. 39 Vgl. dazu zuletzt Anderson, Lehrjahre. 40 Poschinger, Neue Tischgespräche, S. 173. 41 Bismarck, GW, IX S. 85, 92; Hank, Kanzler, S. 623. 42 Bismarck, GW, IX S. 355. 43 Hank, Kanzler, S. 269, 266, 270. 44 Busch, Tagebuchblätter, III S. 330. 45 Miquel an Marquardsen 22. 3. 1890 (Herzfeld, Miquel, II S. 189). 46 Vierhaus, Hof, S. 134, 129 (30., 21. und 19. 3. 1890); Eulenburg an Wilhelm II. 7. 3. (Philipp Eulenburgs Korrespondenz, S. 479); Tagebuch Waldersee 18. 2. und ähnlich wieder 17. 3. (Denkwürdigkeiten, II S. 103, 118). 47 Vierhaus, Hof, S. 124 (5. 12. 1889). 48 Tagebuch Waldersee 2. 1. 1890 (Denkwürdigkeiten, II S. 85). 49 Puhle, Interessenpolitik, S. 33. 50 Tagebuch Waldersee 19. 6. 1888 (Denkwürdigkeiten, I S. 405). 51 22. 3. 1890 (Röhl, II S. 351).
Anmerkungen
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52 Franz Fischer an Eulenburg 19. 4. 1891 (Philipp Eulenburgs Korrespondenz, S. 670). 53 Röhl, II S. 47 f., 42. 54 Kaiserreden, S. 290 f. (17. 12. 1890). 55 Zum Folgenden vgl. König, Wilhelm II; Straub, Wilhelm II; Sombart, Wilhelm II. 56 Johannes von Miquels Reden, III S. 282 f. (Rede in Kaiserslautern 30. 3. 1890). 57 Clark, Wilhelm II., S. 211. 58 Tagebuch Waldersee 11. 8. 1890 (Denkwürdigkeiten, II S. 137 f.). 59 Franz Fischer an Eulenburg 19. 4. 1891 (Philipp Eulenburgs Korrespondenz, S. 670). 60 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages 10 / II, Bd. 8, S. 7486 f. (22. 1. 1903). 61 Vgl. Stalmann, Fürst; Zachau, Kanzlerschaft; Röhl, Deutschland (auch zum Folgenden).
Kiel, 3. Januar 1896 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17
Tirpitz, Erinnerungen, S. 8; Hassell, Tirpitz, S. 214 f.; Kelly, Tirpitz, S. 71 f. Memorandum vom 3. 1. 1896 (Berghahn / Deist, Rüstung, S. 196 f.). Tirpitz an von Stosch 21. 12. 1895 (ebd., S. 104 f.). Röhl, II S. 871–876; Hohenlohe-Schillingsfürst, Denkwürdigkeiten, S. 151, 613. Hohenlohe-Schillingsfürst, Denkwürdigkeiten, S. 199. Kelly, Tirpitz, S. 111. Berghahn, Tirpitz-Plan, S. 91. Wilhelm II. an Hohenlohe 8. 1. 1896 (Hohenlohe-Schillingsfürst, Denkwürdigkeiten, S. 154, vgl. ebd., S. 151–164). Tirpitz, Erinnerungen, S. 1 f.; Hassell, Tirpitz, S. 74; Kaulisch, Tirpitz, S. 18. Zitiert nach Kaulisch, Tirpitz, S. 22 f. (11. 9. 1871), vgl. Kelly, Tirpitz, S. 36 f. Tirpitz, Erinnerungen, S. 10, vgl. Duppler, Juniorpartner. Teilweise abgedruckt bei Berghahn / Deist, Rüstung, S. 82–99. Tirpitz’ Aufzeichnungen über Immediatvortrag beim Kaiser 28. 1. 1896 (Berghahn / Deist, Rüstung, S. 109–113). Senden an Tirpitz 31. 3. 1896 (Röhl, II S. 1134). Undatierte Denkschrift Senden (ebd., S. 1130); Prinz Heinrich an Tirpitz zitiert nach Kaulisch, Tirpitz, S. 50. Berghahn / Deist, Rüstung, S. 285 f. Tirpitz an Stosch 21. 12. 1895 (Berghahn / Deist, Rüstung, S. 103, vgl. ebd., S. 196 die Formulierung im Gutachten selbst: «das beste Mittel gegen gebildete und ungebildete Sozialdemokratie»).
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18 Capelle an Tirpitz 7. 8. 1897 über ein Gespräch mit Miquel (Eley, Sammlungspolitik, S. 107). 19 An Eulenburg 6. 2. 1895 (Philipp Eulenburgs Korrespondenz, S. 1482). 20 Tirpitz, Erinnerungen, S. 82; Deist, Flottenpolitik, S. 326–328. 21 Kerr, Berlin, S. 155 f., vgl. dazu und zum Folgenden Rüger, Game, S. 60–67. 22 Deist, Flottenpolitik, S. 32–38, 48 f. 23 Eley, Reshaping, S. 75 f. (auch zum Folgenden). 24 Rüger, Game, S. 94 und 108 f. 25 Evans, Kneipengespräche, S. 396 f. 26 Rüger, Game, S. 103–125 (Zitate: S. 121, 111–113, 118).
Konitz / Westpreußen, 11. März 1900 1 Prozeß gegen Masloff, S. 120 (Nachweise beschränken sich hier im Wesentlichen auf die für direkte Zitate, ausführlichere Quellen- und Literaturangaben bei Nonn, Stadt). 2 Mühlradt, Konitz, Bd. II S. 60 f. 3 Prozeß gegen Masloff, S. 137; Prozeß gegen Lewy, S. 161, 164. 4 Prozeß gegen Lewy, S. 38 f. und 136. 5 Ebd., S. 10 und 84 (Zitate), und vgl. 15–17, 28, 34, 74–77, 90 f., 103 f., 113, 223, 283 f. 6 Aussagen Richard Rückwald 2. und 6. 7. 1900, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStAPK) 84A /16775, Bl. 36 und 122. 7 Prozeß gegen Lewy, S. 283 f. 8 Prozeß gegen Masloff, S. 113–118, 123 f. 9 William Stern, Zur Psychologie der Aussage: Experimentelle Untersuchungen über Erinnerungstreue, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 22 (1902), S. 325 und 327; Sally Jaffa, Ein psychologisches Experiment im kriminalistischen Seminar der Universität Berlin, in: Beiträge zur Psychologie der Aussage, Band I, Berlin 1903, S. 94 f., beide zitiert nach Neubauer, Fama, S. 204 f. 10 Konitzer Blutmord, S. 27, und vgl. S. 9, 38. 11 Prozeß gegen Masloff, S. 910 f. 12 Ebd., S. 190–207, 911, 933–935. 13 Konitzer Blutmord, S. 9 und 38. 14 Prozeß gegen Masloff, S. 291, 326 f., und vgl. 118 f. 15 Konitzer Blutmord, S. 29. 16 Ebd., S. 38. 17 Ebd., S. 17. 18 Zitiert in: Mitteilungen des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus 10 (1900), S. 106. Am 31. März 1900 bemerkte auch der Konitzer Landrat in einem Be-
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richt an den preußischen Innenminister, Konitz sei zu einem Marktplatz geworden für «eine große, täglich sich vermehrende Anzahl aller möglichen Gerüchte»: GStAPK 77 /500 /50 /1, Bl. 9. Prozeß gegen Masloff, S. 510, 839, und vgl. S. 2, 178; Konitzer Blutmord, S. 10. Aussage Roß 28. 4. 1900, GStAPK 84A /16774, Bl. 167. Aussage auf Gefangenentransport 7. 3. 1901, GStAPK 84A /16776, Bl. 269 f. Frau Roß sagte das im informellen Gespräch mit zwei Polizisten, die es nachträglich aus dem Gedächtnis protokollierten. Es war die einzige Aussage, die sie nach der Verurteilung wegen Meineids machte, als sie nichts mehr zu verlieren hatte, und deshalb wesentlich glaubwürdiger als alles, was sie vor oder während des Prozesses gegen sie und Masloff von sich gab. Prozeß gegen Masloff, S. 922, 928, 909, 938. Prozeß gegen Masloff, S. 494 f. und 832 f. (Protokoll der ersten Aussage Masloffs vom 24. 3. 1900), vgl. ebd., S. 43, 825 f., 856–859. Protokolle der Aussagen vom 2.5. und 8. 6. 1900, GStAPK 84A /16774, Bl. 143– 161. Prozeß gegen Masloff, S. 462. Ebd., S. 850. Vernehmung Masloffs 12. 4. 1901, GStAPK 84A /16777, Bl. 65. Sutor, Prozesse, S. 35. Aussage 7. 3. 1901, GStAPK 84A /16777, Bl. 269 f. Aussage 28. 4. 1900, GStAPK 84A /16774, Bl. 169–173. Landrat an Innenminister 31. 3. 1900, GStAPK 77 /500 /50 /1, Bl. 9. Konitzer Blutmord, S. 10. Aufruf der Polizeidirektion im Konitzer Tageblatt 27. 3. 1900, in: GStAPK 77 /500 /50 /1, Bl. 12. Prozeß gegen Masloff, S. 216 f. Konitzer Blutmord, S. 28. Bericht Wehn 3. 7. 1900, GStAPK 84A /16774, Bl. 308. Ebd., Bl. 304. Prozeß gegen Masloff, S. 821. Sutor, Prozesse, S. 17; vgl. auch Aussage Richard Rückwald 2. 7. 1900, GStAPK 84A /16775, Bl. 122 (danach habe Welke gesagt: «dem soll das Lachen auf immer vergehen, wenn ich ihn allein treffe»), und Eingabe Schiller 19. 5. 1900, GStAPK 77 /500 /50 /2, Bl. 54–57. Konitzer Blutmord, S. 11. Ebd. Konferenz der Ermittlungsbeamten 20.-22. 5. 1900, GStAPK 77 /500 /50 /2, Bl. 137 f.; George, Enthüllungen, S. 45. Bericht Settegast 22. 4. 1900, GStAPK 84A /16774, Bl. 31–35. Zu Gerüchten Shibutani, News (daraus S. 14 das Zitat); Neubauer, Fama; Kapferer, Gerüchte; Allport / Postman, Psychology.
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Anhang
45 Kapferer, Gerüchte, S. 70. 46 Vgl. Kapferer, Gerüchte, S. 206–210, zu der großen Häufigkeit, mit der bei Kriminalfällen besonders in Kleinstädten von Gerüchten Honoratioren als Täter bezeichnet werden, und zu den Gründen dafür. 47 In ganz Westpreußen betrug ihr Anteil dagegen 1,3 Prozent, also nur wenig mehr als im Reichsdurchschnitt. Sehr detaillierte statistische Angaben zu einzelnen Kreisen und Ortschaften gibt Aschkewitz, Geschichte, S. 129–191. 48 Staatsbürger-Zeitung 15. 5. 1900, zitiert in: Prozeß gegen Lewy, S. 264. 49 Mühlradt, Besuch, S. 255. 50 Richarz, Leben, S. 374 f. 51 Heppner / Herzberg, Vergangenheit, S. 241. 52 Mühlradt, Besuch, S. 268; vgl. auch ders., Konitz, II S. 89. 53 Landrat an Innenminister 31. 3. 1900, GStAPK 77 /500 /50 /1, Bl. 8–11. 54 Landrat an Innenminister 15. 6. 1900, GStAPK 77 /500 /50 /2, Bl. 60. 55 Adolf Lubnow, Das Sattler- und Stellmachergewerbe in Konitz / Westpreußen, in: Untersuchungen, IX S. 534; GStAPK 84A /16775, Bl. 85–90 und 136–144. 56 Danziger Zeitung 23. 4. 1900; Landrat an Innenminister 30.5. und 11. 6. 1900, GStAPK 77 /500 /50 /1, Bl. 25, 110–112 und 77 /500 /50 /2, Bl. 1–6. 57 Zeitungsbericht Bezirk Marienwerder für Mai bis Juli 1900, GStAPK 84A / 5959, Bl. 358; Gizicki an Regierungspräsident 28. 4. 1900, GStAPK A 181 / 31591, Bl. 13–15. Zahlreiche Hinweise darauf auch in dem Bericht des Regierungspräsidenten in Marienwerder an den Innenminister vom 16. 10. 1900, der Klagen über das Verhalten der Juden zusammenfasst: GStAPK 77 /500 /50 /3, Bl. 249–256. 58 Bericht über Ausschreitungen in Mrotschen 18. /20. 6. 1900, GStAPK 77 /500 / 50 /2, Bl. 120–123. 59 Dazu ausführlich Nonn, Zwischenfall, S. 408–412. 60 Vgl. Hoffmann, Kultur; Kölling, Illusionen. 61 So Smith, Geschichte. 62 Siehe dazu Nonn, Ritualmordgerüchte. 63 Smith, Geschichte, S. 8 f. und 247 (widersprüchlich dazu ebd., S. 192); Hoffmann, Kultur. 64 Brenner, Gott, S. 175; vgl. auch Tal, Christians; Stoetzler, State. 65 Wenge, Integration, S. 10; Rahden, Juden. 66 Baumann, Nachbarschaften; Rahden, Juden. 67 Silberner, Sozialisten; Leuschen-Seppel, Sozialdemokratie; vgl. auch Fischer, Responses. 68 Erklärung vom 26. 7. 1834, in: Geldernsches Wochenblatt 2. 8. 1834. 69 Konitzer Blutmord, S. 12 und 52. 70 Im deutschen Reich: Zeitschrift des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 6 (1900), S. 335; Albert Eulenburg, «Retroaktive» Suggestion und Hallucination bei Zeugen, in: Mitteilungen des Vereins zur Abwehr
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des Antisemitismus 10 (1900), S. 340 (der Erstdruck dieses Aufsatzes erschien in der von dem linksliberalen Politiker Theodor Barth herausgegebenen Zeitschrift Nation). 71 Vgl. etwa Schoeps, Ritualmordbeschuldigung, S. 295, der sich in seiner Darstellung der Xantener Ritualmordbeschuldigung einer These des Zeitgenossen Paul Nathan anschließt, es habe dabei «wieder einmal die fortgeschrittene Kultur des deutschen Volkes mit den geistig und sittlich zurückgebliebenen Elementen der Nation» gekämpft. Auch Nathans Beitrag erschien in der von Barth herausgegebenen liberalen Nation. 72 Siehe Hellmut Schramm, Der jüdische Ritualmord: Eine historische Untersuchung, Berlin 1943; vgl. auch die umfangreichen Notizen zu einer offenbar geplanten Studie zu Konitz aus nationalsozialistischer Perspektive, die sich auf eingelegten Blättern in den relevanten Akten des GStAPK finden.
Köpenick, 16. Oktober 1906 1 Voigt, Hauptmann, S. 109; Prozessbericht (Heidelmeyer, Fall, S. 127). 2 Bekanntmachungen des Berliner Polizeipräsidenten 17. und 22. 10. 1906; Prozessbericht; Cöpenicker Dampfboot 17. 10. 1906 (Heidelmeyer, Fall, S. 98 f., 102 f., 124, 83). 3 Cöpenicker Dampfboot 17. 10. 1906; Prozessbericht; Polizeiliche Bekanntmachung 22.10. (Heidelmeyer, Fall, S. 82, 129 f., 101). 4 Berliner Lokal-Anzeiger 26. 10. 1906. 5 Voigt, Hauptmann, S. 7, 14. 6 Auszug aus dem Strafregister der Königlichen Staatsanwaltschaft zu Tilsit (Heidelmeyer, Fall, S. 48). 7 Voigt, Hauptmann, S. 31 und passim. 8 Prozessbericht (Heidelmeyer, Fall, S. 117, 127); Voigt, Hauptmann, S. 46–49. 9 Voigt, Hauptmann, S. 71; vgl. Prozessbericht (Heidelmeyer, Fall, S. 121, 135). 10 Berliner Lokal-Anzeiger 26. 10. 1906; Polizeiliche Ausweisungsverfügung (Heidelmeyer, Fall, S. 38 und 61). 11 Voigt, Hauptmann, S. 83 und 62; Prozessbericht; Berliner Lokal-Anzeiger 26. und 27. 10. 1906; Vermerk Wehn 7. 11. 1906 (ebd., S. 37 f., 115, 122). 12 Nach den ersten und ausführlichsten Presseberichten in Cöpenicker Dampfboot und Berliner Lokal-Anzeiger vom 17. Oktober 1906, die weitgehend übereinstimmen mit der knapperen polizeilichen Bekanntmachung vom 22. Oktober (Heidelmeyer, Fall, S. 75 f., 79 f., 102). Vgl. auch die späteren Darstellungen des falschen Hauptmanns und des Gefreiten im Prozessbericht (ebd., S. 124, 127 f.) und bei Voigt, Hauptmann, S. 86–88. 13 Berliner Lokal-Anzeiger 17. 10. 1906. 14 Diese und die folgenden Zitate nach den Aussagen der betroffenen Beamten
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Anhang im Prozessbericht (Heidelmeyer, Fall, S. 125 f. und 128–133). Vgl. die sich damit weitgehend deckende Version von Voigt, Hauptmann, S. 90–94, 97, 99– 101, und den Bericht des Berliner Lokal-Anzeigers vom 17. 10. 1906. Berliner Lokal-Anzeiger und Cöpenicker Dampfboot 17.10.; Berliner Tageblatt 18.10., Berliner Lokal-Anzeiger 26. 10. 1906 u. ö.; Denkwürdigkeiten des Hauptmanns von Köpenick, S. 95 und passim; vgl. auch Müller, Suche, S. 216–218, 225–227; Mews, Zuckmayer, S. 14 f.; Frizen, Zuckmayer, S. 12 f. Berliner Lokal-Anzeiger 17. und Daily Mail 18. 10. 1906 (nach Heidelmeyer, Fall, S. 87 f., und vgl. 104). Aufzeichnung Wehn 27. 10. 1906; ein Protokoll des Verhörs gibt es nicht, die vorhergehende Darstellung mit Zitaten nach dem Bericht des Berliner LokalAnzeigers vom 26. Oktober. Berliner Tageblatt 17. und 22.10., BZ am Mittag 17. 10. 1906; Hyan, Hauptmann, S. 18. Berliner Morgenpost 27. 10. 1906; Wilhelm Voigt an Bertha Menz o. D. (Heidelmeyer, Fall, S. 39 f.). Berliner Tageblatt 27. und 28.10., ähnlich die Berliner Morgenpost 27. 10. 1906. Berliner Morgenpost 27. und Berliner Tageblatt 28. 10. 1906. Berliner Tageblatt 27. 10. 1906. Prozessbericht und Urteilstext (Heidelmeyer, Fall, S. 123, 127, 137, 146–148). Berliner Illustrierte Zeitung 9.12. und Berliner Tageblatt 3. 12. 1906. Die Fackel, Heft 213 (Dezember 1906), S. 4. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten 20 / III /1, Sp. 980, 1012, 1018 (19. 2. 1907); Verhandlungen des Reichstags XII / I, Bd. 228 S. 972 (20. 4. 1907). Mews, Zuckmayer, S. 15; GStAPK 1. HA Rep. 84a Nr. 56 016 und Rep. 89, Nr. 18708 /1. Die Fackel, Heft 213 (Dezember 1906), S. 3; Vermerk in Voigts Polizeiakte vom 16. 8. 1908 (Heidelmeyer, Fall, S. 155). Welt am Montag 17.8. und Die Post 18. 8. 1908. Berliner Neueste Nachrichten 28. 9. 1908. Vorwärts 21. 8. 1908. Rosenau, Hauptmann, S. 285; Mews, Zuckmayer, S. 16 (eine Aussage Zuckmayers aus den frühen 1950er Jahren zitierend), unter der Überschrift «Der historische Hauptmann von Köpenick» werden ebd., S. 9–13, wie auch bei Frizen, Zuckmayer, S. 7–13, neben einer späteren Arbeit journalistischen Niveaus ebenfalls zeitgenössische Zeitungen und Wilhelm Voigts Memoiren verarbeitet. Vgl. auch Zuckmayer, Als wär’s, S. 440. Zuckmayer, Hauptmann, S. 116. Zuckmayer, Als wär’s, S. 440, vgl. auch S. 444 und Mews, Zuckmayer, S. 17 f. Berliner Lokal-Anzeiger 21. 10. 1906.
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Berliner Tageblatt und Berliner Morgenpost 17.10., Vossische Zeitung 19. 10. 1906. Germania 21. 10. 1906. Vorwärts 18. und 19. 10. 1906. Berliner Tageblatt 17. und 18. 10. 1906. Frizen, Zuckmayer, S. 10 und 7; Rosenau, Hauptmann, S. 286; Müller, Suche, S. 200; Wette, Militarismus, S. 78. Nipperdey, Geschichte, II S. 234; Ullrich, Großmacht, S. 397 f. Ritter (Hg.), Kaiserreich, S. 100 f.; Rohkrämer, Militarismus, S. 36. Berliner Lokal-Anzeiger 21. 10. 1906. Zitiert bei Frevert, Nation, S. 291. Siehe Conze / Geyer / Stumpf, Militarismus; Holl, Quidde, S. 126–142; Frevert, Nation, S. 271–301; Riesenberger in Wette (Hg.), Militarismus, S. 97–114; Loth, Katholizismus; Neff, Paradetruppe; Stargardt, Idea. An Georg Friedländer 3. 10. 1893 (Heidelmeyer, Fall, S. 11). Petit Parisien 19. 10. 1906: «Voila on conduit ce caporalisme à outrance, auquel l’Allemagne est soumise depuis tant d’années et qui a transformé en caserne la patrie de Goethe et de Schiller.» Vgl. allgemein die Zusammenstellung von Pressestimmen in: Denkwürdigkeiten des Hauptmanns von Köpenick. Abgedruckt in: Denkwürdigkeiten des Hauptmanns von Köpenick, S. 66, 58 f., 73, dort auch noch weitere Beispiele. Dresdner Rundschau und Leipziger Abendzeitung abgedruckt ebd., S. 34 und 50; Hyan, Hauptmann, S. 8 und 10. Vorwärts 18. 10. 1906. Beilage zu Königsberger Illustrierte Zeitung Nr. 43 /1906, abgedruckt in: Denkwürdigkeiten des Hauptmanns von Köpenick, S. 29. Deutsche Tageszeitung 18. 10. 1906, vgl. Das Bayerische Vaterland 25. 10. 1906 und Leipziger Volkszeitung o. D. (in: Denkwürdigkeiten des Hauptmanns von Köpenick, S. 87 und 68). Berliner Tageblatt 17. und Berliner Morgenpost 18. 10. 1906. Ziemann, Hauptmann, S. 258. Vgl. dazu John, Reserveoffizierskorps. Hyan, Hauptmann, S. 10 f.; Müller, Suche, S. 227, und vgl. ebd., 217, 252. Zitate nach Prozessbericht (Heidelmeyer, Fall, S. 129–131), inhaltlich weitgehend bestätigt durch Voigt, Hauptmann, S. 90–101. Voigt, Hauptmann, S. 96, 102; Berliner Tageblatt 17. 10. 1906. Prozessbericht (Heidelmeyer, Fall, S. 116); Neue Zeit 25 (1906), S. 81–84, und ähnlich Berliner Tageblatt 17. 10. 1906; Leipziger Volkszeitung o. D. (Denkwürdigkeiten des Hauptmanns von Köpenick, S. 68); Neue Preußische (Kreuz-) Zeitung 18. 10. 1906. Berliner Lokal-Anzeiger 21. 10. 1906 (Zitat) und siehe Heidelmeyer, Fall, S. 93– 96, 104–106; Müller, Suche, S. 197 f.; Ziemann, Hauptmann, S. 260; Denkwürdigkeiten des Hauptmanns von Köpenick.
Anhang
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61 Vogel, Nationen, S. 290 f.; vgl. Jansen (Hg.), Bürger; Best, Militarization; Ingenlath, Aufrüstung; Jahr in Wette (Hg.), Militarismus; Jaun und Strachan in Frevert (Hg.), Militär; und zusammenfassend Frevert, Nation, S. 290–297. 62 Vgl. Justus Perthes’ Taschen-Atlas, Gotha 43. Aufl. 1906, S. 22, 29, 34, 39, 46. 63 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstags 10 / I, Bd. 1, S. 219 f. (13. 1. 1899); ebd. 11 / I, Bd. 2, S. 1529 und 1676 f. (4. und 9. 3. 1904). 64 Kabinettsorder Wilhelms II. 29. 3. 1890 (Ritter, Kaiserreich, S. 95); Kaiserliches Militärkabinett an Goßler 15. 2. 1902 (Demeter, Offizierskorps, S. 23); Goßler an Schlieffen 8. 6. 1899, vgl. auch den folgenden Briefwechsel und die weiteren Quellen dazu bei Förster, Militarismus, S. 95 f., 111–113. 65 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstags 12 /2, Bd. 2, S. 898, und vgl. Förster, Militarismus, S. 170–175, 190–194 (auch zum Folgenden). 66 Zitat nach Förster, Militarismus, S. 222, vgl. auch 216–226 und 233–296. 67 Ebd., S. 296. 68 Reden, gehalten auf der Gründungsversammlung des Deutschen Wehrvereins am 28. Januar 1912, Berlin 1912, S. 14 f., 26; Aufruf zur Gründung des Deutschen Wehrvereins 15. 12. 1911 in: Keim, Erlebtes, S. 166 f. 69 Zitat nach Chickering, Germany, S. 159; vgl. ders., Voice; Uhlig, Interparlamentarische Union. 70 Protokolle der Budgetkommission des Reichstags 20. und 21. 5. 1913 nach Förster, Militarismus, S. 290 f.
Norderney, 2. Oktober 1908 1 2 3 4
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Allerdings an Maria von Bülow 2. 11. 1908 (Winzen, Kaiserreich, S. 151). Wilhelm II. an Stuart-Wortley und Jenisch an Bülow 30. 9. 1908 (ebd., S. 103). Jenisch an Bülow 30. 9. 1908 (ebd.). Bülow an Auswärtiges Amt 2. 10. 1908 (ebd., S. 104; die von Peter Winzen hier S. 34, 102 und 106 f. entwickelte gegenteilige Hypothese wird durch die zeitgenössischen Quellen keineswegs belegt, während die späteren Aussagen der Beteiligten, die sich gegenseitig den schwarzen Peter zuzuschieben versuchten, widersprüchlich sind). Rich, Papiere, I S. 171; Winzen, Kaiserreich, S. 105; Vierhaus, Hof, S. 240. Klehmet an Kiderlen-Wächter 30. 8. 1910 (Winzen, Kaiserreich, S. 104, vgl. 124), ähnlich in Große Politik, XXIV S. 183–185. Undatierte Aufzeichnung Schoens, wahrscheinlich vom Oktober 1909 (Winzen, Kaiserreich, S. 108); ähnlich Schoen, Erlebtes, S. 95. Jenisch an Wilhelm II. 15. 10. 1908 und Wilhelm an Wortley (Winzen, Kaiser-
Anmerkungen
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reich, S. 108–113, vgl. die Fußnoten und editorischen Bemerkungen ebd. und Schoen, Erlebtes, S. 95 f.). Christof Graf Vitzthum von Eckstädt an Wilhelm Graf von Hohenthal 3. 11. 1908 (Winzen, Kaiserreich, S. 155). Jenisch an Bülow 30. 9. 1908 (ebd., S. 103). Bülow an Eulenburg 28. 8. 1890 (Philipp Eulenburgs Korrespondenz, S. 561 f., und vgl. ebd., 258, 388, 468, 615 f., 636, 685, 843, 908, 1007, 1051 f., 1165, 1296, 1371, 1432, 1455, 1482, 1581, 1598). 25. 12. 1895 (ebd., S. 1621). Evans, Kneipengespräche, S. 340 (24. 11. 1900). Bülow, Denkwürdigkeiten, IV S. 7. Bülow an Eulenburg 6.2. und 5. 10. 1895 (Philipp Eulenburgs Korrespondenz, S. 1453 und 1566). Vgl. auch Winzen, Reichskanzler, S. 138–145; Lerman, Chancellor, S. 23–25. 14. 4. 1897 (Lerman, Chancellor, S. 27). Bülow an Wilhelm II. 2. 4. 1902, 31. 8. 1903, 2. 8. 1904 (Röhl, III S. 144). Tagebuch Waldersee Ende Dezember 1901 und 19. 10. 1902 (Denkwürdigkeiten, III S. 176 und 192). Tagebuch Waldersee 14. 9. 1899 (ebd., II S. 433, vgl. auch Röhl, III S. 146); Tagebuch Holstein 11. 1. 1902 und Ballin nach Holstein an Bülow 4. 8. 1901 (Rich, Papiere, IV S. 221 und 212); Hutten-Czapski, Sechzig Jahre, I S. 394; Valentini, Kaiser, S. 60. Eulenburg an Bülow 24. 6. 1901 (Philipp Eulenburgs Korrespondenz, S. 2025). Hammann, Vorgeschichte, S. 75 und vgl. passim; Monts an Tschirschky 17. 1. 1903 (Monts, Erinnerungen, S. 413); Hutten-Czapski, Sechzig Jahre, I S. 394; vgl. auch Lerman, Chancellor, S. 50, 85 f., 147 f. Tagebuch Spitzemberg 22.4. und 8. 10. 1906 (Vierhaus, Hof, S. 224, 226); vgl. Tschirschky an Monts 25. 9. 1906 (Monts, Erinnerungen, S. 445) und Lerman, Chancellor, S. 133–155. Rauh, Föderalismus. Notiz Carl Bachems 9. 2. 1906, Historisches Archiv der Stadt Köln, Nachlaß Bachem 233; Politisches Handbuch der Nationalliberalen Partei, Berlin 1907, S. 831; vgl. Kühne, Dreiklassenwahlrecht. Bülow an Wilhelm II. 25. 10. 1906 (Winzen, Reichskanzler, S. 441); Wilhelm II. an den preußischen Justizminister Maximilian Beseler Ende Mai 1906 (Bachem, Vorgeschichte, VI S. 380); vgl. Lerman, Chancellor, S. 149–160; Winzen, Reichskanzler, S. 439–441; Loth, Katholizismus, S. 111 f. Tagebuch Spitzemberg 14. und 17.10. (Vierhaus, Hof, S. 226 f.) und Harden an Holstein 27. 10. 1906 (Rich, Papiere, IV S. 402); vgl. Hohenlohe-Schillingsfürst, Denkwürdigkeiten; Reventlow, Kaiser; Holl, Ludwig Quidde, S. 93–100; Bösch, Geheimnisse, S. 393–406; Kohlrausch, Monarch, S. 118–243; Rebentisch, Gesichter; Röhl, III S. 689–700.
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Anhang Tagebuch Spitzemberg 9. und 15. 11. 1906 (Vierhaus, Hof, S. 227). Unser Kaiser, S. V, 3, 9 f., 25. Nationalzeitung 2. 11. 1906. Leipziger Tageblatt 4.11. und Wahlaufruf vom 25. 4. 1906, abgedruckt in Wippermanns deutscher Geschichtskalender 1906 /1, S. 95; vgl. Nonn, Verbraucherprotest, S. 160–163. Bülow, Denkwürdigkeiten, II S. 269. Hammann, Kaiser, S. 66; vgl. Winzen, Kaiserreich, S. 115 f. Stuart Wortley an Wilhelm II. und Alfred Rothschild an Hermann von Eckardstein 31. 10. 1908 (Winzen, Kaiserreich, S. 145 und 132). Bericht des niederländischen Gesandten 12. 11. 1908 (Clark, Wilhelm II., S. 234); Vierhaus, Hof, S. 235 (30. 10. 1908); Holstein an Bülow 18. und Adolf Stein an von der Goltz 7. 12. 1908 (Röhl, III S. 720); vgl. Winzen, Kaiserreich, S. 137; Kohlrausch, Monarch, S. 245–256. Berckheim an Bieberstein 2. 11. 1908 (Winzen, Kaiserreich, S. 148); Pressezitate nach Kohlrausch, Monarch, S. 249, 254 f.; und vgl. Siefert, Interview. Holstein an Bülow 29.10., Aufzeichnung Schoen o. D., Bülow an Wilhelm II. 30.10. und Bülows Überarbeitung der Erklärung vom 31. 10. 1908 (Winzen, Kaiserreich, S. 127, 140–142). Gesandtschaftsberichte Vitzthum und Flotow 3. sowie Berckheim 2. 11. 1908 (Winzen, Kaiserreich, S. 148 f. und 155 f.; Schüssler, Daily-Telegraph-Affäre, S. 11). Valentini, Kaiser, S. 99; Wilhelm am 31. 10. 1908 zu Schoen laut Bericht Berckheims (Winzen, Kaiserreich, S. 148 f., und vgl. 173). Tagebuch Theodor Schiemann 4. 11. 1908 (ebd., S. 168). Brief und Notizen Bassermanns 3. und 7.11.; Hertling an seinen Sohn 1. 11. 1908 (ebd., S. 159). Lerchenfeld an Podewils und Hohenthal an Vitzthum 4. 11. 1908 (ebd., S. 160– 165). Abgedruckt bei Winzen, Kaiserreich, S. 172 f. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstags 12 / I, Bd. 7, S. 5378 f., 5421, 5396; Bericht des niederländischen Gesandten 12. 11. 1908 (Clark, Wilhelm II., S. 230). Geheimes Ergebnisprotokoll der vertraulichen Besprechung des Königlichen Staatsministeriums 11.11. und vgl. Protokoll der Sitzung des Bundesratsausschusses für auswärtige Angelegenheiten 12. 11. 1908 (Winzen, Kaiserreich, S. 225 f. und 229–233). Valentini, Kaiser, S. 101–105; Wilhelm II., Ereignisse, S. 99; Winzen, Kaiserreich, S. 247, vgl. auch Bülow an Holstein 17. 11. 1908 (Rich, Papiere, IV S. 535) und Hammann, Kaiser, S. 73. Gegen den Kaiser III (21. 11. 1908), in: Die Zukunft 65 (1908 / 09), S. 296 und 304, vgl. Harden an Holstein 15.11. (Rich, Papiere, IV S. 531 f.).
Anmerkungen
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47 Bülow an Wilhelm II. 21. 11. 1908 (Winzen, Kaiserreich, S. 261). 48 An Eulenburg 9. 1. 1893 (Philipp Eulenburgs Korrespondenz, S. 1007). 49 Bösch, Geheimnisse, S. 36; vgl. Kohlrausch, Monarch, S. 48–66; Müller, Suche, S. 34–73. 50 Monts, Erinnerungen, S. 156. 51 «Graf Bülow in Norderney», in: Neue Freie Presse 21. 8. 1904; Weimarische Zeitung 3. 7. 1901; vgl. Bösch, Geheimnisse, S. 40; Winzen, Reichskanzler, S. 282 f.; Lerman, Chancellor, S. 115–126 (dort auch zum Folgenden). 52 Berliner Lokal-Anzeiger und ähnlich Berliner Tageblatt 6. 2. 1907 (Lindenberger, Straßenpolitik, S. 365). 53 Petzoldt, Kult. 54 Münchner Neueste Nachrichten 20. 11. 1906 und Ansprache in Münster 31. 8. 1907 (Johann, Reden, S. 118, 121); vgl. Kohlrausch, Monarch, S. 160–164, und das bunte Potpourri von Meinungen über den Kaiser in Hamburger Gastwirtschaften bei Evans, Kneipengespräche, S. 328–335. 55 Lamprecht, Kaiser, S. 75; vgl. Clark, Wilhelm II., S. 213 f.; Kohlrausch, Monarch, S. 78. 56 Eulenburg an Wilhelm II. 10. 3. 1892 (Philipp Eulenburgs Korrespondenz, S. 798, Hervorhebung im Original), Tagebuch Zedlitz 21. 11. 1904 (Zedlitz, Zwölf Jahre, S. 97); vgl. Clark, Wilhelm II., S. 211, 214–227, und Bösch, Geheimnisse, S. 401–406. 57 Tagebuch Zedlitz 30. 12. 1908 (Zedlitz, Zwölf Jahre, S. 204). 58 Valentini, Kaiser, S. 105. 59 Wilhelm an Bethmann Hollweg 28. 8. 1910 (Clark, Wilhelm II., S. 235, und vgl. ebd., 233–237). 60 Verhandlungen des Reichstags XII / I, Bd. 250 Anträge 1036, 1037, 1040, S. 5831–5833. 61 Nach Lerchenfeld an Podewils 19. 11. 1908 (Winzen, Kaiserreich, S. 254), und vgl. Tagebuch Zedlitz 14. 1. 1909 (Zwölf Jahre, S. 210). 62 So das konservative Kommissionsmitglied Westarp, Politik, I S. 204 und vgl. ebd., 102–105; Eschenburg, Kaiserreich, S. 158–175; Schlegelmilch, Stellung, S. 106–128 (auch zum Folgenden). 63 Payer an Wiemer 2. 6. 1909 (Nonn, Verbraucherprotest, S. 170). 64 Valentini, Kaiser, S. 106, und vgl. ebd., 102–108; Zedlitz, Zwölf Jahre, S. 223; Winzen, Kaiserreich, S. 317–319; ders., Reichskanzler, S. 460–470; Lerman, Chancellor, S. 228–235. 65 So Hildegard von Spitzemberg unter Berufung auf den Kammerherrn der Kaiserin in ihrem Tagebuch am 16. 4. 1909 (Vierhaus, Hof, S. 244). 66 Aufzeichnung Valentini Mitte 1909 (Röhl, III S. 794 f.) und Valentini, Kaiser, S. 121 f. 67 Westarp, Politik, I S. 207, vgl. ebd., 204–214; Schlegelmilch, Stellung, S. 114– 120; Rauh, Parlamentarisierung, S. 185–190.
Anhang
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68 Dazu Schoenbaum, Zabern; Wehler, Fall; zuletzt Bösch, Geheimnisse, S. 310– 322. 69 Rauh, Parlamentarisierung, S. 145. 70 Bülow an Holstein 20. 1. 1909 (Rich, Papiere, IV S. 553); Bethmann nach Spitzembergs Tagebuch vom 6. 12. 1908 (Vierhaus, Hof, S. 241). 71 Vgl. Grosser, Konstitutionalismus (auch für das Folgende) und Eschenburg, Kaiserreich, S. 159; Nonn, Verbraucherprotest, S. 158. 72 Haupt, Gewalt; Horne, Fall. 73 Andrews, Killing.
Freiburg, 30. Juli 1914 1 Herder, Kriegstagebuch, S. 3–5; zu den Zeitungen: Geinitz, Kriegsfurcht, S. 74 und 80. 2 Herder, Kriegstagebuch, Vorrede. 3 Ebd., S. 155, und vgl. die Andeutungen über frühere Anfälle von Menschenscheu und Depressionen S. 35, 143. 4 Ebd., S. 1–3. 5 Ebd., S. 3 (in der Quelle unter dem offensichtlich falschen Datum 28.7. – die russische Mobilmachung wurde erst am 29.7. verkündet). Zu Presseecho und der SPD-Versammlung vgl. Geinitz, Kriegsfurcht, S. 63 f. und 81 f. 6 Alle Zitate nach Geinitz, Kriegsfurcht, S. 86, 88–90, 93. 7 Herder, Kriegstagebuch, S. 4–6. 8 Matthäus 26, 37–46 (nach der Einheitsübersetzung 2016). 9 Herder, Kriegstagebuch, S. 5–8. 10 Meinecke, Straßburg, S. 135. 11 Wessel, Deutsche, S. 25; vgl. etwa Reinartz / Rudolph, Kriegstagebuch, S. 17 f.; Schweikert, Kriegstagebuch; Müller, Mars, S. 12; Geinitz, Kriegsfurcht, S. 68. 12 Herder, Kriegstagebuch, S. 164. 13 Tagebuch Clemens von Delbrück 23. 7. 1914 (Delbrück, Mobilmachung, S. 98) und Freiburger Zeitungen nach Geinitz, Kriegsfurcht, S. 51–53. 14 Herder, Kriegstagebuch, S. 33 f. und 50; zum Presseecho in Deutschland und Frankreich Raithel, Wunder, S. 147–157; Becker, 1914, S. 130–136; Geinitz, Kriegsfurcht, S. 53–57. 15 Bendikowski, Sommer, S. 134 und 154 f.; Geinitz, Kriegsfurcht, S. 134 f., vgl. ebd., 138; Leonhard, Büchse, S. 87 f.; Nierhaus, Kriegsbegeisterung, S. 29 f.; und die oben erwähnten Hoffnungen und Gerüchte in Charlotte Herders Tagebuch über eine Erhaltung des Friedens sogar noch bis zum 3. August. 16 Zitate: Wandruszka, Habsburgermonarchie, S. XI; Hötzendorf zum österreichischen Außenminister Berchtold 29. 6. 1914 (Hötzendorf, Dienstzeit, S. 34); Tagebuch Josef Redlich 24. 7. 1914 (Redlich, Schicksalsjahre, S. 615); vgl. Williamson, Austria-Hungary; Kronenbitter, Decision; Fellner, Austria-Hungary.
Anmerkungen
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17 7. 7. 1914 (Riezler, Tagebücher, S. 183). 18 Aufzeichnung Bethmann Hollwegs 5. 7. 1914 (Bethmann Hollweg, Betrachtungen, S. 135); vgl. Förster, Horses; Hamilton / Herwig, Decisions, S. 70–91; Krumeich, Juli; Mombauer, Julikrise. 19 Hamilton / Herwig, Decisions, S. 92–111; Neilson, Russia; McMeekin, Russlands Weg. 20 Tagebuch Poincarés und Paléologue an Bienvenu-Martin 25. 7. 1914 (McMeekin, Juli, S. 196 f.); vgl. Keiger, France; Krumeich, France’s Armaments; Schmidt, Frankreichs Außenpolitik. 21 Zitate nach Geinitz, Kriegsfurcht, S. 130, 136, 140 f.; und vgl. allgemein Verhey, Geist, S. 116–128; Raithel, Wunder, S. 264–272 (auch zu den ganz ähnlichen Reaktionen in Frankreich). 22 Nach Geinitz, Kriegsfurcht, S. 133. 23 Nach ebd., S. 66, 72, 63 f. 24 Ziemann, Front, S. 47–49; vgl. Rohkrämer, Militarismus, S. 147–150, 236–241, 246–262; Rehbein, Leben, S. 168. 25 Nach Geinitz, Kriegsfurcht, S. 64, 72, 81; Evans, Kneipengespräche, S. 415; und vgl. Kruse, Krieg, S. 29–52; Verhey, Geist, S. 94–105. 26 Nach Geinitz, Kriegsfurcht, S. 123 f. 27 Herder, Kriegstagebuch, S. 5 f.; Geinitz, Kriegsfurcht, S. 68; Wessel, Deutsche, S. 26–29; vgl. Jackson, Zwischen Kriegern, S. 269 f., und die Äußerungen über den «furchtbaren Weltkrieg», der selbst bei «gutem Ausgang» für Deutschland «eine schwere Heimsuchung» bedeuten werde, in von Lehrern und Pfarrern geschriebenen Schul- und Pfarrchroniken: Ziemann, Front, S. 44; Heute, S. 63. 28 Schweikert, Kriegstagebuch 28.7.-2. 8. 1914. 29 Wessel, Deutsche, S. 30; vgl. auch Schweikert, Kriegstagebuch 10., 11., 19. und 20. 10. 1914; Herder, Kriegstagebuch, S. 8 f.; Geinitz, Kriegsfurcht, S. 150 f. 30 Reinartz / Rudolph, Kriegstagebuch, S. 20; Heute, S. 54 f., 57, 60; Ziemann, Front, S. 40, 42; vgl. Jackson, Zwischen Kriegern, S. 86 f.; Geinitz, Kriegsfurcht, S. 158 f., 176. 31 Ziemann, Front, S. 50–52; Wessel, Deutsche, S. 29, 32; und vgl. Geinitz, Kriegsfurcht, S. 207–209; Jackson, Zwischen Kriegern, S. 84; Reinartz / Rudolph, Kriegstagebuch, S. 19; Heute, S. 65; Schweikert, Kriegstagebuch 2. und 9. 8. 1914. 32 Zitate nach Geinitz, Kriegsfurcht, S. 131, 153, 156–159; vgl. Fehlemann, Abschiede; Tramitz, Umgang. 33 Herder, Kriegstagebuch, S. 8 f. 34 Ebd., S. 173, und vgl. 12, 91–94, 149–151. 35 Schweikert, Kriegstagebuch 23.8., 10.10., 12.11., 29. 12. 1914. 36 Diese und alle folgenden nicht gesondert belegten Zitate aus den Briefen Stefan Schimmers nach Knoch, Menschen, S. 52–55.
Anhang
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37 Ashworth, Warfare; Cornwall, Undermining; Fuller, Troop Morale; Loez, 14– 18; Procacci, Rassegnazione; Smith, Mutiny; Wall / Winter. 38 Audoin-Rouzeau, Violence; Bourke, History; Jones, Psychology; Mosse, Soldiers; Prost, Limites. 39 Becker, War; Korff, Alliierte; Schlager, Kult; Ziemann, Front, S. 246–265. 40 Lipp, Meinungslenkung; Müller, Nation; Ulrich, Augenzeugen; Watson, Enduring; Ziemann, Front, S. 265–289. 41 Kriegstagebuch David Pfaff nach Ulrich, Augenzeugen, S. 184; vgl. ebd., 52– 78; Duménil, Soldat; Watson, Enduring; Ziemann, Front, S. 106–163. 42 Ulrich, Augenzeugen, S. 184 und 67; Jackson, Zwischen Kriegern, S. 219; Schimmer nach Ziemann, Front, S. 198, und vgl. ebd., 76–106; Ashworth, Warfare; Ferro, Frères; Jürgs, Frieden. 43 Bach, Fusillés; Deist, Militärstreik; Jahr, Soldaten; Ziemann, Front, S. 198–228 (dort S. 201 auch das Zitat von Schimmer). 44 Vgl. (auch für das Folgende) Chickering, Freiburg; Flemming / Ulrich, Heimatfront; Jackson, Zwischen Kriegern; Kellerhoff, Heimatfront; Proctor, Civilians. 45 Herder, Kriegstagebuch, S. 60–62, und vgl. 115, 153 f. 46 Ebd., S. 11, 50, 27, 31, 39, 64 f., 97. 47 Jackson, Zwischen Kriegern, S. 89; Herder, Kriegstagebuch, S. 81, 66; und vgl. Wessel, Deutsche, S. 37; Daniel, Arbeiterfrauen, S. 27, 145 f.; Ziemann, Front, S. 306 f. 48 Herder, Kriegstagebuch, S. 32, 35, 39, und vgl. 10 f., 14, 104. 49 Ebd., S. 27, 63, 77, 94, 112, 118. 50 Ebd., S. 55, 67, und vgl. 13, 72. 51 Baumeister, Kriegstheater; Goebel, Exhibitions; Krivanec, Kriegsbühnen. 52 Herder, Kriegstagebuch, S. 104, 131, 137. 53 Ebd., S. 24, 34 f., 40 f., 84, 129. 54 Ebd., S. 18, 20 f., 30, 32 f., 38, 44, 47, 57, 107. 55 Daniel, Arbeiterfrauen; Kundrus, Kriegerfrauen; Rouette, Frauenarbeit; Ziemann, Front, S. 290–308. 56 Herder, Kriegstagebuch, S. 36; vgl. etwa auch Jackson, Zwischen Kriegern, S. 230, 383. 57 Bruendel, Volksgemeinschaft; Verhey, Geist.
München, 7. November 1918 1 2 3 4 5
4. 11. 1918 (Mitchell, Revolution, S. 74). 25. 11. 1918 (Auer, Bayern, S. 19 und 26 f.). Fechenbach, Eisner, S. 33. Kritzer, Sozialdemokratie, S. 11 f.; Fechenbach, Eisner, S. 35–37. Kritzer, Sozialdemokratie, S. 19; Müller-Meiningen, Bayerns, S. 30 f.; vgl.
Anmerkungen
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Fechenbach, Eisner, S. 39, und den bei Albrecht, Landtag, S. 421 f., wiedergegebenen Bericht des Innenministers. Polizeilicher Überwachungsbericht nach Grau, Eisner, S. 338; Fechenbach, Eisner, S. 33 f., 40 f.; Münchener Zeitung und Bayerische Staatszeitung vom 9. 11. 1918 (auch zum Folgenden); Graf, Wir, S. 393 f.; vgl. Müller, Mars, S. 265; Huber, Gandorfer; Schueler, Flucht. Weckerlein, Freistaat, S. 28; Müller, Mars, S. 270; vgl. Albrecht, Landtag, S. 423–425; Schade, Eisner, S. 56–60. Fechenbach, Eisner, S. 42–46; vgl. Mitchell, Revolution, S. 85–87; Schade, Eisner, S. 60 f. Hofmiller, Revolutionstagebuch, S. 58, 33 (14. und 9. 11. 1918). Stenographische Berichte der Verhandlungen des Deutschen Reichstags 13 / II, Bd. 1, S. 2; zu München Albrecht, Landtag, S. 77; Müller, Mars, S. 12. Fechenbach, Eisner, S. 11; Dreyfus / Mayer, S. 22; Eisner, Schriften, I S. 15 f. An seine Eltern 4. 6. 1915: Ruppert, Fechenbach, S. 13. Zum Folgenden die weiteren Briefe ebd., S. 13–18; Schueler, Flucht, S. 33–38; Fechenbach, Eisner, S. 15 f. Ay, Entstehung, S. 98 f.; Leonhard, Büchse, S. 377; Jackson, Zwischen Kriegern, S. 161, 246; vgl. Albrecht, Landtag; Geyer, Verkehrte Welt. Georg Heim an das bayerische Kriegsministerium 16. 2. 1916 (Mitchell, Revolution, S. 20); Müller an Ministerpräsident Dandl 31. 8. 1916 (Müller, Mars, S. 137–139 und 163); der bayerische Vorsitzende des Volksvereins für das katholische Deutschland Meßmer an das Kriegsministerium 28. 6. 1917 (Ay, Entstehung, S. 121 f.); vgl. Ziemann, Front, S. 290–323, 329 f., und allgemein Kocka, Klassengesellschaft, S. 132 f. Herder, Kriegstagebuch, S. 119, 141; Ruppert, Fechenbach, S. 20; vgl. Ay, Entstehung, S. 160–168; Geyer, Verkehrte Welt. Bericht über die Volksstimmung für August 1917 und Götz an Innenminister Brettreich 30. 6. 1917 (Ay, Entstehung, S. 100 f.); Rupprecht, Kriegstagebuch, II S. 225 (14. 7. 1917); vgl. auch Mitchell, Revolution, S. 20 f., und allgemein Kocka, Klassengesellschaft, S. 132–135. Oskar Maria Graf nach Schmolze, Revolution, S. 40; Fechenbach, Eisner, S. 16–19, 24. Fechenbach an Sepp Breitenbacher 4. 7. 1917 (Ruppert, Fechenbach, S. 24); der Vorsitzende des Gewerkschaftsvereins München Johannes Timm im Beirat für Aufklärungsfragen des Innenministeriums 1917 (Ay, Entstehung, S. 131). Ay, Entstehung, S. 132; vgl. Müller, Mars, S. 221. Fechenbach, Eisner, S. 23, vgl. ebd., S. 19–29; Grau, Eisner, S. 332–342; Schade, Eisner, S. 45–50. Zitiert nach Daniel, Arbeiterfrauen, S. 233. Hofmiller, Revolutionstagebuch, S. 53.
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23 Höffler, Kriegserfahrungen, S. 77; Kocka, Klassengesellschaft, S. 133; Albrecht, Landtag, S. 348, 352. 24 Hofmiller, Revolutionstagebuch, S. 24, 12, 21; Herder, Kriegstagebuch, S. 198 und vgl. 195 f. 25 Röhl, III S. 1234 f.; Schade, Eisner, S. 49 (28. 7. 1918); Rupprecht, Kriegstagebuch II, S. 438 (15. 8. 1918); vgl. Hofmiller, Revolutionstagebuch, S. 57. 26 Fechenbach, Eisner, S. 30–32. 27 Ebd., S. 29; Hofmiller, Revolutionstagebuch, S. 23; Herder, Kriegstagebuch, S. 198. 28 Rupprecht, Kriegstagebuch, II S. 470 (31. 10. 1918); Hofmiller, Revolutionstagebuch, S. 26; Fechenbach, Eisner, S. 33; Kritzer, Sozialdemokratie, S. 16–19. 29 Hofmiller, Revolutionstagebuch, S. 29 f., 34–36; zur Präsenz roter Abzeichen und Fahnen vgl. Mitchell, Revolution, S. 89; Graf, Wir, S. 399 f.; Heimpel, Violine, S. 277 f.; Müller, Mars, S. 274 f. 30 Hofmiller, Revolutionstagebuch, S. 45, 47 f., 29; ähnlich aus bürgerlicher Perspektive auch Heimpel, Violine, S. 277–279; Müller, Mars, S. 272–275; und vgl. Kolb, Arbeiterräte. 31 Hitzer, Anton Graf Arco, S. 391. 32 Jung, Durchbruch. 33 Vgl. auch Mergel, System; Gerwarth, Revolution, S. 286–297. 34 Schueler, Flucht, S. 159, 190 und vgl. 126–209, sowie Fechenbach, Haus. Einer der beiden Historiker in der Affäre, die sich nicht eben mit Ruhm bekleckerten, war der schon erwähnte Karl Alexander von Müller, der andere Hans Delbrück. 35 Mommsen, Stellung; Runge, Politik; Schmahl, Disziplinarrecht; Schütz, Standesbewußtsein; Witt, Reichsfinanzministerium. 36 Geyer, Aufrüstung; Pyta, Hindenburg; Vogelsang, Reichswehr; Wohlfeil / Matuschka, Reichswehr. 37 Klassisch Wehler, Gesellschaftsgeschichte; zuletzt auch Herbert, Geschichte. 38 Kroll, Geburt. 39 Zitate nach Schueler, Flucht, S. 110, 178 und vgl. ebd., S. 209–248; zum «Fechenbach-Kreis» und dessen Rolle beim demokratischen Wiederaufbau nach 1945 siehe Felix Fechenbach 1894–1933, S. 58.
DA N K
Dank
Auch zu Büchern, die wie dieses hier nur von einem einzigen Menschen geschrieben wurden, haben andere beigetragen. Das macht sie für den Inhalt nicht verantwortlich. Aber Dank haben sie dafür schon verdient. Erstattet werden muss der zunächst einmal den lebenden wie den toten Autoren aller Texte über das deutsche Kaiserreich, die mich in den letzten vier Jahrzehnten angeregt oder zum Widerspruch herausgefordert haben. Es ist unmöglich, sie alle zu nennen. Viele haben es nicht einmal in das Literaturverzeichnis oder die Anmerkungen dieses Buches geschafft. Das hat entweder mit den von mir darin gesetzten Schwerpunkten oder meiner Vergesslichkeit zu tun, ist aber jedenfalls nicht böse gemeint. Sebastian Ullrich regte das Buch an, stutzte allzu unorthodoxe Ideen und war von Anfang bis Ende einmal mehr ein stets sympathischer Partner und zuverlässiger Organisator. Daniel Bussenius lektorierte ebenso engagiert wie umsichtig. Wie bei diesen beiden fühlte ich mich erneut auch bei Carola Samlowsky und den anderen Verlagsmitarbeitern in besten Händen. In Düsseldorf hat Anne Friedrich in vorlesungsfreien Zeiten mir wiederholt den Rücken freigehalten, damit ich mich aufs Schreiben konzentrieren konnte. Niels Dickhaut schleppte stets gutgelaunt Bücherkisten, überprüfte Zitate und las Korrektur. Die Heinrich-Heine-Universität genehmigte ein Forschungssemester, um das Buch fertigzustellen. Die Kollegen am Institut, besonders Guido Thiemeyer und Susanne Brandt, übernahmen währenddessen einen Teil der sonst von mir bestrittenen Lehre und vollbrachten dabei im historischen «Corona-Sommersemester» 2020 online wahre Heldentaten. Als wegen der Pandemie die Bibliotheken ihre Tore schlossen, während das Manuskript gerade auf die Zielgerade einbog, halfen Martin Geyer und Christoph Cluse großzügig und prompt mit Büchern aus.
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Einige Lücken vor allem im letzten Kapitel blieben dennoch. Ewald Frie sprach mir dagegen ganz am Anfang Mut zu, als mein Glaube an ungewöhnliche Zugänge zum Thema vorübergehend wankte. Universitäten sollten eigentlich der Erkenntnis dienen. Allzu oft stehen in ihrem Alltagsgeschäft freilich eher Politik und Postengeschacher, individuelle Geltungsbedürfnisse und Wichtigtuerei im Vordergrund. Dass es auch anders geht, wurde mir in den vergangenen vierzig Jahren unter anderen demonstriert von – in umgekehrter chronologischer Reihenfolge – Ernst Heinen, Irmtraud Olenhusen und Achim Landwehr, Wolfgang Schieder, Robin Lenman, Klaus Gerteis und Erich Kettenhofen. Eingeführt in die Geschichte des Kaiserreichs hat mich allerdings Armin Friedrichs. Dieses Buch hätte ein Geburtstagsgeschenk für ihn sein sollen. Stattdessen kann ich es nur noch seinem Andenken widmen. Leverkusen, im Mai 2020
B I L D N AC H W E I S
akg-images / Peter Weiss Archiv der Münchner Arbeiterbewegung, Foto: Franz Xaver Hartl bpk Bridgeman Deutsches Historisches Museum, Berlin, Foto: Otto Haeckel http: / / www.jüdische-gemeinden.de / Stiftung Marpinger Kulturbesitz SZ-Photo / Scherl wikimedia commons entnommen aus: Charlotte Herder, Kriegstagebuch 1914–1918 entnommen aus: Lothar Machtan (Hg.), Mut zur Moral
S. 207 S. 573 S. 50, 111, 261, 313 S. 13 S. 497 (Inv.-Nr.: BA 96 / 64.1) S. 357 S. 61 S. 44 S. 411, 465 S. 517, 569 S. 161
Zum Buch 1871 wurde der deutsche Nationalstaat begründet. In den darauf folgenden fünf Jahrzehnten entstand das moderne Deutschland. In seinem anschaulich geschriebenen Buch zeigt Christoph Nonn die Janusköpfigkeit des deutschen Kaiserreiches, das sowohl Wegbereiter des Dritten Reiches als auch unserer heutigen Demokratie war. Im Spiegelsaal des berühmten französischen Königsschlosses Versailles wird im Januar 1871 das deutsche Kaiserreich ausgerufen. Seine Entwicklung war geprägt von immenser wirtschaftlicher Dynamik bei weitgehendem politischem Stillstand, demokratischen Lernprozessen und autoritärer Verkrustung, bahnbrechenden Sozialreformen und heftigsten sozialen Konflikten. In zwölf Kapiteln, die jeweils von den Ereignissen eines bestimmten Tages ausgehen, beleuchtet Christoph Nonn diese faszinierend bunte Epoche und lässt die Menschen lebendig werden, die sie gestalteten und durchlebten. So etwa der Künstler Anton von Werner, der die Kaiserproklamation gleich mehrfach malte, Julie Bebel, die selbstbewusst in der Politik wie in der gemeinsamen Drechslerwerkstatt an die Stelle ihres Manns August trat, wenn der wieder einmal im Gefängnis saß, oder der Schuster Wilhelm Voigt, der als «Hauptmann von Köpenick» eine Stadt zum Narren hielt und damit eine Nation zum Lachen brachte.
Über den Autor Christoph Nonn ist Professor für Neueste Geschichte an der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf. Bei C.H.Beck sind von ihm erschienen: Bismarck (22015) sowie die C.H.Beck Wissen-Bände Geschichte Nordrhein-Westfalens (2009) und Das deutsche Kaiserreich (2017).