Menschliche Willensfreiheit und göttliche Vorsehung bei Augustinus, Proklos, Apuleius und John Milton: Band 1: Augustinus und Proklos. Band 2: Apuleius, Milton, Zusammenfassungen 9783110330434, 9783110330076

Das Buch behandelt das Thema Willensfreiheit und Vorsehung aus Sicht vier verschiedener Autoren. Zunächst werden die phi

197 117 3MB

German Pages 804 [427] Year 2009

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Vorwort
Verzeichnis häufig gebrauchter Abkürzungen der Primärtexte
I. Göttliche Vorsehung und menschliche Willensfreiheit beiAugustinus
1. Einleitung und Problemstellung (sol. I)
2. De quo imo altoque secreto evocatum est liberum arbitriummeum? Vorüberlegung: Der freie Wille – Faktum oder Potenzder Freiheit?
3. Hat der Mensch einen freien Willen?
3.1. Wer ist grundsätzlich für das Böse verantwortlich?
3.2. Ist schlecht und böse zu handeln etwas Lernbares?
3.3. Die verkehrte Begierde und die in Gott ruhende bona voluntas
3.4. Der freie Wille – ein Übel an sich oder ein Vehikel für göttlicheStrafen?
4. Augustins erkenntnistheoretisch-ontologischer Exkurs (lib.arb. II): Die Ableitung des Primats des Guten für das Seiendeund die Gutheit des freien Menschen in seiner Bezogenheitzum Guten
4.1. 'Vorspann Gebet': Die Suche nach Gott als die Suche mitGott. Glaube und Philosophie als wechselnde Perspektiven imaugustinischen Dialog
4.2. Si enim fallor, sum – eine theologische Erkenntnisgrundlegungcartesianischer Art?
4.3. Sinnliche Wahrnehmung als aktive Erkenntnisform in Beziehungzum potentiellen Gegenstand der Wahrnehmungserkenntnis
4.4. Ontologische Schlussfolgerungen aus der Erkenntnistheorie
4.5. Das allen zugängliche intelligible Licht als Perspektive aufGott
5. Die Gutheit des freien menschlichen Willens als Potenz unddas in Gott aktualisierte gute Wollen (lib. arb. II-III)
6. Woher rührt die Abkehr des Willens vom Gutem? Ist das'nichts' das malum principale? (lib. II-III und civ. XI-XIV)
7. Praevidentia Dei contra liberum arbitrium hominis?Determiniert Gottes Vorherwissen den menschlichen Willen?(lib. arb. III)
8. Der Begriff potestas: Die Möglichkeit des Wollens undHandelns und die koordinierende und integrierendeProvidenz (civ. V)
9. Allwissen statt Vorherwissen als Grundlage für AugustinsBegriff der Prädestination? oder: Weshalb das überzeitlicheBestimmtsein in Gottes Erkennen keinen geschichtlichenDeterminismus erzeugt (lib. arb. III; civ. XI; praed. sanct. 10)
10. Das Ende des freien Willens in der "Logik des Schreckens"?Ein Ausblick auf Augustins Prädestinationslehre oder:Warum der Wille trotzdem bleibt (Simpl. I, 2; conf. u.a.)
11. Der freie Wille des Menschen in der kooperativen Bezogenheitauf die vorausliegende Gnade Gottes als befreiter Wille undseine freiwillige Abkehr in die Unfreiheit (gr. et lib. arb.,corrept., praed. sanct., persev.). Zusammenfassung deraugustinischen Argumentationswege
II. Göttliche Vorsehung und menschliche Willensfreiheit beiProklos
1. Wieso Providenz? Der Primat des Einen vor dem Vielen
2. Vorbereitende Überlegungen zu 'Sein', Transzendenz und Immanenzam Beispiel 'Dreieck'
3. Das überseiende Eine und das Sein: Providenz über und imSein
3.1. Das Seiende als mikton aus Begrenztheit und Unbegrenztheit
3.2. Die Prinzipien Peras (Grenze), Apeiria (Nicht-Grenze) undSein
4. Vorsehung – das Vermitteln von Einheit aus dem Überseiendenan die seienden Eidê und das erkennende Erzeugen undBewahren des Veränderlich-Seienden durch die Eidê(Zusammenfassung)
5. Providenz im Kontext der Willensfreiheit bei Proklos
5.1. Problemstellungen und Vorüberlegungen
5.2. Proklos' Tria Opuscula circa Providentiam (nach Moerbeke)
5.2.1. Providenz als gut-böser Automatismus? oder: Wo ist dieWillensfreiheit?
5.2.2. Erkennt die Providenz Kontingentes im Voraus? Ist Kontingentesetwas Seiendes?
5.2.3. Exkurs zum Bestimmtsein des Kontingenten und seiner Relevanzfür Proklos' Theodizee – eine Auseinandersetzungmit der Interpretation von Opsomer und Steel
5.2.4. Spezielle Fragen zum Verhältnis Providenz – Willensfreiheit
6. Pronoia / Providenz bei Proklos. Zusammenfassung
Anhang: Ergänzende Exkurse zu den ersten beiden Hauptteilen
Zu Augustinus (Teil I)
Exkurs 1: Zu den Soliloquia als 'Selbstgesprächen'
Exkurs 2: Ist der Wille frei, wenn sein Wollen unbestimmt, 'vollkommenunabhängig' ist?
Exkurs 3: Zur angeblichen Beimischung des nihil und der Zugehörigkeitdes malum zur 'vollständigen Schöpfung' bei Augustinusnach Schäfer und zum Status der Potentialität des Bösen
Exkurs 4: Augustins angebliche Begriffstrennung voluntas –arbitrium (den Bok, Horn, Jaspers) und die stoische Synkatathesislehrevs. conf. VIII
Exkurs 5: Augustinus und die Theorie der Scientia Media
Exkurs 6: Augustins Auseinandersetzung mit Cicero über dasgöttliche Vorherwissen
Exkurs 7: Esaus Schicksal – gemäß Augustinus ohne Gunstberufen?
Zu Proklos (Teil II)
Exkurs 8: Proklos' Bestimmung des Authypostaton, des 'Sichselbst-Hypostasierenden'
Recommend Papers

Menschliche Willensfreiheit und göttliche Vorsehung bei Augustinus, Proklos, Apuleius und John Milton: Band 1: Augustinus und Proklos. Band 2: Apuleius, Milton, Zusammenfassungen
 9783110330434, 9783110330076

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Friedemann Drews Menschliche Willensfreiheit und göttliche Vorsehung bei Augustinus, Proklos, Apuleius und John Milton Band 1: Augustinus und Proklos

TOPICS IN ANCIENT PHILOSOPHY Themen der antiken Philosophie

Herausgegeben von / Edited by Ludger Jansen • Christoph Jedan • Christof Rapp Band 3 / Volume 3

Friedemann Drews

Menschliche Willensfreiheit und göttliche Vorsehung bei Augustinus, Proklos, Apuleius und John Milton Band 1 Augustinus und Proklos

Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available in the Internet at http://dnb.d-nb.de.

North and South America by Transaction Books Rutgers University Piscataway, NJ 08854-8042 [email protected] United Kingdom, Ire Iceland, Turkey, Malta, Portugal by Gazelle Books Services Limited White Cross Mills Hightown LANCASTER, LA1 4XS [email protected]

Livraison pour la France et la Belgique: Librairie Philosophique J.Vrin 6, place de la Sorbonne ; F-75005 PARIS Tel. +33 (0)1 43 54 03 47 ; Fax +33 (0)1 43 54 48 18 www.vrin.fr



2009 ontos verlag P. O. Box 15 41, D-63133 Heusenstamm nr. Frankfurt Tel. ++(49) 6104 66 57 33 Fax ++(49) 6104 66 57 34 www.ontosverlag.com ISBN 978-3-86838-037-8 2009 No part of this book may be reproduced, stored in retrieval systems or transmitted in any form or by any means, electronic, mechanical, photocopying, microfilming, recording or otherwise without written permission from the Publisher, with the exception of any material supplied specifically for the purpose of being entered and executed on a computer system, for exclusive use of the purchaser of the work

Printed on acid-free paper ISO-Norm 970-6 FSC-certified (Forest Stewardship Council) Printed in Germany by buch bücher dd ag

II

Haec est libertas nostra, cum isti subdimur veritati; et ipse est deus noster qui nos liberat a morte, id est a condicione peccati. Ipsa enim veritas etiam homo cum hominibus loquens ait credentibus sibi: 'Si manseritis in verbo meo, vere discipuli mei estis et cognoscetis veritatem et veritas liberabit vos.' (Augustinus, De libero arbitrio)

Pa=n to\ qeiÍon kaiì pronoeiÍ tw½n deute/rwn kaiì e)cv/rhtai tw½n pronooume/nwn, mh/te th=j pronoi¿aj xalw¯shj th\n aÃmikton au)tou= kaiì e(niai¿an u(peroxh\n mh/te th=j xwristh=j e(nw¯sewj th\n pro/noian a)fanizou/shj. me/nontej ga\r e)n t%½ e(niai¿% t%½ e(autw½n kaiì e)n tv= u(pa/rcei ta\ pa/nta peplhrw¯kasi th=j e(autw½n duna/mewj: kaiì pa=n to\ duna/menon au)tw½n metalagxa/nein a)polau/ei tw½n a)gaqw½n wÒn de/xesqai du/natai kata\ ta\ me/tra th=j oi¹kei¿aj u(posta/sewj, e)kei¿nwn au)t%½ t%½ eiånai, ma=llon de\ proeiÍnai, ta)gaqa\ toiÍj ouÅsin e)pilampo/ntwn. oÃntej ga\r ou)de\n aÃllo hÄ a)gaqo/thtej, au)t%½ t%½ eiånai toiÍj pa=sin a)fqo/nwj ta)gaqa\ xorhgou=sin.

(Proklos, Elementatio Theologica)

In tutelam iam receptus es Fortunae, sed videntis, quae suae lucis splendore ceteros etiam deos illuminat. ... videant inreligiosi, videant et errorem suum recognoscant: 'en ecce pristinis aerumnis absolutus Isidis magnae providentia gaudens Lucius de sua Fortuna triumphat.' quo tamen tutior sis atque munitior, da nomen sanctae huic militiae, cuius non olim sacramento etiam rogabaris, teque iam nunc obsequio religionis nostrae dedica et ministerii iugum subi voluntarium. nam cum coeperis deae servire, tunc magis senties fructum tuae libertatis. (Apuleius, Metamorphoses)

Not free, what proof could they have giv’n sincere / Of true allegiance, constant Faith or Love, / Where only what they needs must do, appear’d, / Not what they would? what praise could they receive? / What pleasure I from such obedience paid, / When Will and Reason (Reason also is choice) / Useless and vain, of freedom both despoil’d, / Made passive both, had serv’d necessity, / Not mee. (John Milton, Paradise Lost)

III

Band I Vorwort Verzeichnis häufig gebrauchter Abkürzungen der Primärtexte

IX XIII

I. Göttliche Vorsehung und menschliche Willensfreiheit bei Augustinus 1. Einleitung und Problemstellung 1 (sol. I, 1, conf. IV, 9, 14) 2. De quo imo altoque secreto evocatum est liberum arbitrium meum? Vorüberlegung: Der freie Wille – Faktum oder Potenz der Freiheit? 6 (conf. IX, 1, 1, lib. arb. I, 10-11) 3. Hat der Mensch einen freien Willen? 10 (lib. arb. I – II, 8) 3.1.Wer ist grundsätzlich für das Böse verantwortlich? 10 3.2.Ist schlecht und böse zu handeln etwas Lernbares? 14 3.3.Die verkehrte Begierde und die in Gott ruhende bona voluntas 16 3.4.Der freie Wille – ein Übel an sich oder ein Vehikel für göttliche Strafen? 24 4. Augustins erkenntnistheoretisch-ontologischer Exkurs: Die Ableitung des Primats des Guten für das Seiende und die Gutheit des freien Menschen in seiner Bezogenheit zum Guten 31 4.1.'Vorspann Gebet': Die Suche nach Gott als die Suche mit Gott. Glaube und Philosophie als wechselnde Perspektiven im augustinischen Dialog 31 (lib. arb. II, 18-19, conf. XI, 2, 4) 4.2.Si enim fallor, sum – eine Erkenntnisgrundlegung cartesianischer Art? 36 (lib. arb. II, 20, III, 238, civ. XI, 26) 4.3.Sinnliche Wahrnehmung als aktive Erkenntnisform in Beziehung zum potentiellen Gegenstand der Wahrnehmungserkenntnis 46 (lib. arb. II, 25-41, mus. VI, 5, 10, conf. VII, 17, 23, gn. litt. XII, 16) 4.4.Ontologische Schlussfolgerungen aus der Erkenntnistheorie 61 (civ. VIII, 7, lib. arb. II, 46-57, sol. I, 8, 15) 4.5.Das allen zugängliche intelligible Licht als Perspektive auf Gott 68 (lib. arb. II, 84-109, 141-3, conf. IV, 12, 18, VII, 4, 6, civ. XI, 10) 5. Die Gutheit des freien menschlichen Willens als Potenz und das in Gott aktualisierte gute Wollen 91 (lib. arb. II, 174-196, III, 154-6, conf. I, 10, 16) 6. Woher rührt die Abkehr des Willens vom Gutem? Ist das 'nichts' das malum principale? 105 (lib. II, 204-5, III, civ. XI-XIV, conf. XII, VII, 5, 7, gn. litt. V)

IV Exkurs: Augustinus und die stoische Auffassung vom Guten des Bösen (ord. I, 7, 18, lib. arb. III, 93-96, civ. XII, 6-7) 7. Praevidentia Dei contra liberum arbitrium hominis? Determiniert Gottes Vorherwissen den menschlichen Willen? (lib. arb. III, 14-28) 8. Der Begriff potestas: Die Möglichkeit des Wollens und Handelns und die koordinierende und integrierende Providenz (civ. V, 9-10) 9. Allwissen statt Vorherwissen als Grundlage für Augustins Begriff der Prädestination? oder: Weshalb das überzeitliche Bestimmtsein in Gottes Erkennen keinen geschichtlichen Determinismus erzeugt (lib. arb. III, 23-40, civ. XI, 21, conf. XI, 11, 13, praed. sanct. 10, trin. III) 10. Das Ende des freien Willens in der "Logik des Schreckens"? Ein Ausblick auf Augustins Prädestinationslehre oder: Warum der Wille trotzdem bleibt (Simpl. I, 2, conf. I, 10, 16 , lib. arb. II, 18, beata v. 4, 35, sol. I, 1) 11. Der freie Wille des Menschen in der kooperativen Bezogenheit auf die voraus-liegende Gnade Gottes als befreiter Wille und seine freiwillige Abkehr in die Unfreiheit. Zusammenfassung der augustinischen Argumentationswege (gr. et lib. arb., corrept., praed. sanct., persev.)

II. Göttliche Vorsehung und menschliche Willensfreiheit bei Proklos 1. Wieso Providenz? Der Primat des Einen vor dem Vielen (ETh 1, 13, in Parm. 620, 1100) 2. Vorbereitende Überlegungen zu 'Sein', Transzendenz und Immanenz am Beispiel 'Dreieck' (ETh 123, in Parm. 926, 930, 994, 859) 3. Das überseiende Eine und das Sein: Providenz über und im Sein 3.1.Das Seiende als mikton aus Begrenztheit und Unbegrenztheit (ETh 131, 84, in Parm. 904, 907) 3.2.Die Prinzipien Peras (Grenze), Apeiria (Nicht-Grenze) und Sein (ThP III, 8 und 24, in Parm. 1086, 620, 764, 932, 1189, 1242, 1180, ETh 24, 89, 90)

134

143

153

167

185

221

239

247 258 258 262

V 4.

Vorsehung – das Vermitteln von Einheit aus dem Überseienden an die seienden Eidê und das erkennende Erzeugen und Bewahren des Veränderlich-Seienden durch die Eidê (Zusammenfassung) (in Parm. 921, 1016, ETh 122, 134, in Tim. I, 215) 5. Providenz im Kontext der Willensfreiheit bei Proklos 5.1. Problemstellungen und Vorüberlegungen (De Prov. XI, 53, ETh 57, 142-4, Dec. Dub. III, 16, De mal. II, 18 und III, 41, ThP III, 2 und 6) 5.2. Proklos' Tria Opuscula circa Providentiam (nach Moerbeke) 5.2.1.Providenz als gut-böser Automatismus? oder: Wo ist die Willensfreiheit? (De Prov. III, 7, 11-14, IV, 44, XI, 54-59, VI, 34-36, XII, 66, De Mal. III, 31 und 46, II, 33, in Parm. 943) 5.2.2.Erkennt die Providenz Kontingentes im Voraus? Ist Kontingentes etwas Seiendes? (Dec. Dub. I, 4-5, II, 6-8, III, 13, ETh 124, in Parm. 957, 832-3, 968, De mal. III, 42) 5.2.3.Exkurs zum Bestimmtsein des Kontingenten und seiner Relevanz für Proklos' Theodizee – eine Auseinandersetzung mit der Interpretation von Opsomer / Steel (De mal. V, 61) 5.2.4.Spezielle Fragen zum Verhältnis Providenz – Willensfreiheit (Dec. Dub.) 6. Pronoia / Providenz bei Proklos. Zusammenfassung

Anhang: Ergänzende Exkurse zu den ersten beiden Hauptteilen Zu Augustinus (Teil I) E1: Zu den Soliloquia als 'Selbstgesprächen' (sol. II, 7, 14) E2: Ist der Wille frei, wenn sein Wollen unbestimmt, 'vollkommen unabhängig' ist? E3: Zur angeblichen Beimischung des nihil und der Zugehörigkeit des malum zur 'vollständigen Schöpfung' bei Augustinus nach Schäfer und zum Status der Potentialität des Bösen E4: Augustins angebliche Begriffstrennung voluntas – arbitrium (den Bok, Horn, Jaspers) und die stoische Synkatathesislehre vs. conf. VIII (civ. VIII, 5, 10-11, XIV, 11 und 24, conf. X, 27, 38, civ. XII, 3)

291 305 305

311 311

341

352 358 367

376

379

382 387

VI E5: Augustinus und die Theorie der Scientia Media E6: Augustins Auseinandersetzung mit Cicero über das göttliche Vorherwissen (civ. V, 9) E7: Esaus Schicksal – gemäß Augustinus ohne Gunst berufen? (Simpl. I, 2, De Esau) Zu Proklos (Teil II) E8: Proklos' Bestimmung des Authypostaton, des 'Sich-selbstHypostasierenden' (ETh 40)

402 405 407

409

Band 2 III. Göttliche Vorsehung und menschliche Willensfreiheit bei Apuleius Die Metamorphosen – Unterhaltungsroman oder / und Philosophie? 1. Einführung 411 (apol. 39, 27) 2. Laetaberis: Woran soll sich denn der Leser freuen? Vorüberlegungen 415 2.1. Zur Frage der Einheit und Intention des Werks 416 (apol. 56, DP 211) 2.2. Der zweigeteilte Prolog und das Ganze des Romans 425 (Met. I, 1, IV, 32 XI, 17 und 26, apol. 64) 3. Überleitung: Schelmenroman und Philosophie? 450 (Thomas Mann: Felix Krull, Joseph) 4. Lucius' Auffassung von Willensfreiheit und Vorsehung am Beispiel ausgewählter Passagen 453 (Met. I-X) 4.1. Lucius und das Fatum oder Apuleius' Spiel mit stoischem Gedankengut 453 4.1.1.Lucius' 'Theologie' zwischen Magie und vorherbestimmtem Schicksal 453 (Met. I) 4.1.2.Die Diana-Actaeon-Gruppe und Byrrhena: Unverstandene und verworfene Warnungen 458 (Met. II, 1-6, DDS 125, DP 236) 4.1.3.Lucius und Milo über die Möglichkeit göttlicher Weissagung (Diophanes) 475 (Met. II, 12)

VII 4.1.4.Thelyphrons Geschichte – Byrrhenas indirekte Warnung? 480 (Met. II, 20f.) 4.2. Das Fortuna-Motiv unter zwei verschiedenen Aspekten: 485 4.2.1.Die von Lucius angeklagte Fortuna als theologisches Abstraktum; Suizidgedanken eines Esels 485 (Met. IV, VI, VII, DP 253-4) 4.2.2.Die Fortuna einzelner Personen in den Binnengeschichten: Exempla charakterlicher Metamorphosen im Kontext der Willens- und Providenzthematik 495 (Met.VIII-X) 4.3. Das Ende des zehnten als Vorspiel zum elften Buch 519 (Met. X, 29f.) 5. Die Aufhebung der Fortuna und des Fatum in Isis' sehender Providenz 525 (Met. XI, DP 248, DDS 124) 5.1. Subito video 525 (Met. XI, 1, 1, DP 248, DDS 124, 166) 5.2. Lucius' Gebet und Isis' Erscheinung: Autosuggestion oder Kooperation? 538 (Met. XI, 2-5, DDS 144-5, 166, 132) 5.3. Isis und der Esel als theologische Symbole 558 (Met. XI, 6-11, Plutarch, De Iside passim) Exkurs zur Stellung der Isis als summa numinum und des Osiris als summum numen im Vergleich mit der theologischen Darstellung in Cupido und Psyche 567 5.4. Fortuna vs. Providentia, Fatum vs. Praedestinatio: Apuleius' philosophische Theorie 573 (Met. XI, 12-15, 19, DDS 174, DP 193-4, 205-7, 253 mund. 374) 5.5. Lucius' Initiationen: Das Ende des Isisbuchs als Ende der Willensfreiheit? 603 (Met. XI, 16-30, DDS 124) 6. Zusammenfassung der Interpretationsergebnisse mit einem Blick auf die werkzentrale Geschichte von Cupido und Psyche 621 (Met. IV-VI, apol. 27, 56) E9: Zu Odysseus und Athene in DDS als Beispiel für die Kooperation zwischen Gott und Mensch in Auseinandersetzung mit den Interpretationen von Sandy und Habermehl 641

VIII IV. Drei spätantike Autoren zur Providenz und menschlichen Willensfreiheit: Zusammenfassung der wichtigsten InterpretationsErgebnisse IV.1. Zusammenfassung des ersten Teils: Augustinus IV.2. Zusammenfassung des zweiten Teils: Proklos IV.3. Zusammenfassung des dritten Teils: Apuleius IV.4. Allgemeine Schlussfolgerungen und Vergleiche Ausblick in die Neuzeit: John Miltons philosophische Dichtung über Willensfreiheit und Providenz. Ein Epilog zu Paradise Lost 1. Einführung und inhaltliche Zusammenfassung zu Paradise Lost (PL I, 1-26, I-XII) 2. Der freie Wille der rationalen Geschöpfe: Our voluntary service he requires 2.1. Beobachtungen zu Miltons erzähltechnischer Didaktik in Paradise Lost (PL III, IV) 2.2. Der freie Wille als Grundlage der Lebendigkeit der Menschen und Engel (PL V, DDC I, 3 und 2) 3. Gottes Wille und Vorherwissen – Notwendigkeit und Schicksal: ... and what I will is Fate. (PL III, VII, X, DDC I, 3; Boethius, cons. IV-V) 4. Gott, die Zeit und Miltons Providenzbegriff: Immediate are the Acts of God (PL VII, X, XI, XII, DDC I, 2, 3, 8; L. Valla, De libero arbitrio, M. Luther, De servo arbitrio) 5. Milton und die Prädestination (PL III, DDC I, 4)

643 643 656 666 680

V.

VI. Bibliografie

697 697

709 709

722

731

744

764

779

IX

Vorwort Die vorliegende Untersuchung ist die leicht gekürzte Version meiner im Sommer 2007 am Heinrich Schliemann-Institut für Altertumswissenschaften der Universität Rostock verteidigten Dissertation. Sie nähert sich dem Thema Willensfreiheit und Vorsehung aus vier verschiedenen Perspektiven. Im Zentrum stehen drei spätantike1 Autoren: der Kirchenvater Augustinus (354-430), der Neuplatoniker Proklos (ca. 411-485) und der Mittelplatoniker Apuleius (geb. ca. 125). Im Epilog wird mit dem englischen Dichterphilosophen John Milton (1608-1674) ein Ausblick in die Neuzeit gegeben. Obgleich schon Friedrich August Wolf kritisch einwendet, Milton dürfe nicht unterschiedslos, ohne hermeneutische Abgrenzung wie ein antiker Epiker gelesen werden,2 orientiert sich die Auswahl der Autoren hier ausdrücklich nicht primär 1

Der Begriff 'Spätantike' ist hier mit P. Brown ([1971]. The World of Late Antiquity, AD 150-750. London. [Reprint 2002]) bewusst weit gefasst. Aus verschiedenen historischen Gründen ließe sich der Beginn der Spätantike später datieren, etwa in die zweite Hälfte des 3. Jhds. n. Chr. (ein prominentes Datum zur Markierung ist der Regierungsantritt Diokletians im Jahre 284). Aus geistesgeschichtlichen Gründen kann ferner die mit Plotin (geb. 205) beginnende Entwicklung des Neuplatonismus als Unterscheidungskriterium angesetzt werden. Da von den inhaltlich-systematischen Ergebnissen dieser Arbeit her gesehen der historisch frühere Apuleius den im 'engeren' Sinn 'spätantiken' Autoren Augustinus und Proklos jedoch näher steht, als etwa die Abgrenzung zwischen 'Mittel-' und 'Neuplatonismus' zunächst suggerieren mag (vgl. besonders Teil III, Kap. 6 sowie Teil IV zu Apuleius), erweist sich die von Brown vorgenomme Ausweitung des geschichtswissenschaftlichen Begriffs 'Spätantike' auch aus den in dieser Arbeit diskutierten philosophischsystematischen Gründen als durchaus plausibel. – Das allgemein Problematische der Vorordnung eines (abstrakten) Epochenbegriffs, mit welchem häufig bereits bestimmte inhaltliche Urteile über eine solche Epoche als gegeben vorausgesetzt werden, die nicht "Produkt einer Reflexion auf die Geschichtlichkeit als solche" sind (A. Schmitt [2003]. Die Moderne und Platon. Stuttgart, Weimar; 16), erläutert Schmitt (ibd., 7-69) anhand des Verhältnisses von 'Antike' und 'Moderne'. Vgl. auch: "Es ist die [sc. postulierte] Unvergleichbarkeit eines naiv-abhängigen mit einem vernünftig-selbständigen Leben, die verhindert, daß die geschichtlich verschiedenen Zeiten aneinander gemessen werden können, nicht die geschichtliche Verschiedenheit als solche" (ders., [2002]. "Querelle des Anciens et des Modernes", in: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 15/2; 607-622; 614615). 2 Wolf formuliert, dass die ratio derjenigen immer noch nicht vollständig "verworfen und ausgerottet" sei, die Milton wie Homer (mutatis mutandis also wie allgemein die antike Literatur) lesen zu können meinen, ohne die historisch-hermeneutischen Unterschiede zu beachten ("Nondum enim prorsus eiecta et explosa est eorum ratio, qui Homerum et Callimachum et Virgilium et Nonnum et Miltonum eodem animo legunt, nec, quid uniuscui-

X an historischen Gesichtspunkten, sondern an der theologisch-philosophischen Systematik: Dabei geht es neben dem inhaltlichen Vergleich der Argumentationen zugleich um eine Gegenüberstellung (a) zweier sich dem Thema Willensfreiheit und Vorsehung auf argumentativer Ebene widmenden Autoren (Augustinus, Proklos) und (b) zweier Autoren, die dasselbe Thema in unterschiedlicher, aber doch ähnlich-vergleichbarer Weise jeweils in einen erzählenden, literarischen Text umsetzen (Apuleius: Metamorphosen, John Milton: Paradise Lost). Ferner ist es Anliegen der Untersuchung, alle vier Autoren miteinander in interdisziplinäre(n)3 Dialog(e) treten zu lassen: den platonischen Kirchenvater mit dem heidnischen Neuplatoniker,4 den Neu- mit dem Mittelplatoniker (welcher ferner wiederum dem Kirchenvater bekannt war5), den mittelplatonischen Romanautor mit dem christlichen Epiker, den Puritaner mit dem Kirchenvater. Deshalb sind alle Teile der Arbeit durch viele Querverweise und sachliche Vergleiche miteinander verbunden (s. speziell Kap. IV.4), können aber auch einzeln für sich selbst gelesen werden, denn zunächst steht naturgemäß jeder Autor für sich. Ich versuche, jeden Denker aus sich selbst heraus – vor allem auf der Basis der jeweils zugrunde gelegten Erkenntnistheorie – zu verstehen. Daraus ergeben usque aetas ferat, expendere legendo et computare laborant", F.A. Wolf [21876]. Prolegomena ad Homerum. Berlin; Kap. 12; 26). 3 Dazu, dass bereits Augustinus (für sich genommen) nicht in moderne Fachgrenzen hineingezwängt werden dürfe, die seinem Werk systemfremd sind, vgl. die Bemerkungen von: J.M. Rist (1969). "Augustine on Free Will and Predestination", in: Journal of Theological Studies 20, 420-447; 420. S. ferner: T. Fuhrer (2002). "Augustin: Ein Autor im pluridisziplinären Focus. Zur Rolle der Klassischen Philologie im Dialog mit Philosophie und Theologie", in: 'Klassische Philologie inter disciplinas'. Aktuelle Konzepte zu Gegenstand und Methode eines Grundlagenfaches. Hrsg. J.P. Schwindt. Heidelberg, 169-185: "'Augustine is too important to be left out by the classicists'" (ibd., 170). 4 Während das Verhältnis der wirkungsgeschichtlichen Abhängigkeit Augustins vom Begründer des Neuplatonismus, Plotin, als gut untersucht gelten darf (vgl. z.B.: C. Parma [1971]. Pronoia und Providentia. Der Vorsehungsbegriff Plotins und Augustins, in: Studien zur Problemgeschichte der antiken und mittelalterlichen Philosophie VI, hrsg. von J. Hirschberger. Leiden), steht hier bewusst Proklos als Kontrapunkt zu Augustinus im Mittelpunkt. Historisch gesehen gehört Proklos als heidnischer Platoniker zugleich in die platonische Tradition 'nach Augustinus'; vgl.: "[...] thus to define precisely the character of that post-Nicene, post-Plotinian Augustinian Platonism and its historical significance is a monumental task. It is one in which a century of critical scholarship has hardly made a beginning" (R. Crouse [2002]. "Paucis Mutatis Verbis. St. Augustine's Platonism", in: Augustine and his Critics, 37-50; 43). 5 Augustinus, civ. XVIII, 18.

XI sich z.T. maßgebliche Unterschiede zu bisherigen Forschungsmeinungen: Augustins Willensbegriff erschließt sich nicht auf der Basis eines bewusstseinsphilosophischen Ansatzes, der Begriff des nihil muss von jeder Substantialisierung fern gehalten werden, um Augustins philosophische Theodizee von der Prämisse her, dass die mala für das 'große Ganze' eben nicht notwendig sind, sondern ihr Schlechtes gerade gereinigt werden muss, angemessen verstehen zu können. Dasselbe Argument gilt es für Proklos und seine Theodizee herauszuarbeiten: Aus seiner Prämisse, die kaka würden von den pronoetischen Mächten auf gute Weise in das Weltganze integriert, folgt nicht, dass diese kaka selbst etwas Gutes sind, da sie erst durch die 'gute Integration' der Vorsehung wieder zu etwas Gutem werden bzw. gemacht werden. Die konsequente Unterscheidung der verschiedenen Sach-Hinsichten erschließt sich auch hier nur vor dem Hintergrund der platonischen Erkenntnistheorie und Ontologie. Von einer solchen Ontologie her erhellt für Apuleius der Zusammenhang zwischen Sein und Gut-Sein, welchen er bei seinem Willensbegriff voraussetzt: Jeder Willensakt ist an dem orientiert, was dem Wollenden gut erscheint. Je nach dem Maß, inwieweit dieser das Gewollte hinsichtlich dessen Gutheit angemessen beurteilt, will er tatsächlich etwas Gutes oder eben nur scheinbar Gutes. Diese Willenstheorie steht in Apuleius' Roman im Hintergrund, wenn Lucius sich zunächst einem Scheingut nachjagend voller Lust "in den Abgrund stürzt" (Met. II, 6) und zum Esel wird, sich zuletzt jedoch der Göttin Isis im Gebet zuwendet, die ihn vom Leid des Eseldaseins erlöst. Einem pervertierten Gut verschreibt sich Miltons Figur des Satan ("Evil be thou my Good", PL IV, 110) und trägt damit – noch in pervertierter Verdunklung – dem platonischen Gutheitskriterium des Gewollten Rechnung. Dass das Gute selbst in Person in dem Allerhöchsten – in Gott, Isis (und Osiris), dem Einen – gefunden wird, verbindet die vier Autoren über das sie Unterscheidende hinweg. Mit dem höchsten Guten in Person ist nach Meinung dieser vier Denker verbunden, dass es in höchster Vollkommenheit über alle zeitliche Veränderung erhaben ist: So nennt Apuleius Isis "Mutter der Zeiten" und Milton thematisiert die zeitliche Enthobenheit Gottes in seinem zeitlich sich vollziehenden Epos. Bedenkt man Augustins Verständnis von Gottes Überzeitlichkeit konsequent, folgt auch aus der Prädestinationslehre des Kirchenvaters kein (zeitlicher) Determinismus. Sämtliche Übersetzungen stammen, soweit nicht anders gekennzeichnet, von mir; besonders bei den philosophischen Texten sind sie eng am Original orientiert, hingegen wird bei den Passagen aus Apuleius' Metamorphosen eine größere Flüssigkeit angestrebt; bei den Übersetzungen von Paradise Lost wird, soweit möglich, die inhaltlich häufig sehr ausschlaggebende Wortstellung der originalen

XII Verse auch in der Prosaübersetzung beibehalten. Die verwendeten Textausgaben sind in der Bibliografie unter 'Primärtexte' aufgeführt. Zitate aus Augustins Werken De vera religione und De libero arbitrio werden (zusammen mit der jeweiligen Buchzahl) nur nach der Numerierung der kleinsten Abschnitte in den Ausgaben von Daur bzw. Green dokumentiert.6 Auf die Erstellung eines Index locorum ist bewusst verzichtet worden: Die Struktur und Anlage der Untersuchung ließe sich darüber kaum erschließen; als Ersatz sind bei den Kapitelüberschriften im Inhaltsverzeichnis jeweils die wichtigsten in einem bestimmten Kapitel interpretierten bzw. übersetzten Werkpassagen mit angegeben. Dafür, dass es mir möglich war, dieses Buch zu schreiben, bin ich vor allem der Betreuerin der Arbeit, Frau Prof. Dr. Christiane Reitz, zu großem Dank verpflichtet: Ohne das durch ihre Initiative beantragte großzügige Promotionsstipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes hätte ich diese Arbeit in keiner Weise erstellen können. Danken möchte ich zugleich meinem Zweitbetreuer, Herrn Prof. Dr. Wolfgang Bernard, der das besagte Engagement von Frau Prof. Reitz immer mit Nachdruck unterstützt hat. Beiden Lehrern möchte ich ausdrücklich meinen persönlichen, herzlichen Dank aussprechen für so manches wichtige Gespräch – fachlich wie menschlich. Besonders danken möchte ich Frau Prof. Dr. Christine Schmitz für die Übernahme des dritten Dissertationsgutachtens. Nachdem sich die Publikation der Arbeit aus verschiedenen Gründen leider verzögert hat, möchte ich mich umso mehr bei Dr. Ludger Jansen, Prof. Dr. Christof Rapp und Dr. Christoph Jedan für die schnelle Aufnahme der Arbeit in die Reihe "Themen der antiken Philosophie" des ONTOS-Verlags bedanken. Für wertvolle Hinweise bei der Überarbeitung des Skripts danke ich den genannten Herausgebern sowie Dr. Rafael Hüntelmann und Herrn Prof. Dr. Hans-Jürgen Horn. Last, but not least, danke ich meinen Freunden Doreen Selent, Anja Behrendt, Anja Heilmann und Henning Schiele für die mit viel Enthusiasmus und Ausdauer geleistete Hilfe beim Korrekturlesen und Kürzen des Skripts. Rostock, im Februar 2009

6

Friedemann Drews

Dieselbe Zitierweise nimmt jetzt auch Brachtendorf (2006) vor; vgl. ibd., 71.

XIII

Verzeichnis häufig gebrauchter Abkürzungen der Primärtexte7 acad. apol. beata v. civ. conf. c. Iul. imp.

Augustinus, Contra Academicos / Gegen die Skeptiker Apuleius, Apologia / Verteidigungsrede (De Magia) Augustinus, De beata vita / Über das glückselige Leben Augustinus, De civitate Dei / Über den Gottesstaat Augustinus, Confessiones / Bekenntnisse Augustinus, Contra Iulianum opus imperfectum / Gegen Julian (unvollendet) corrept. Augustinus, De correptione et gratia / Über die Zurechtweisung und die Gnade DDC John Milton, De Doctrina Christiana / Über die christliche Lehre DDS Apuleius, De Deo Socratis / Über den Gott des Sokrates DP Apuleius, De Platone et eius dogmate / Platon und seine Lehre De mal. Proklos, De subsistentia malorum / Über die Hypostasis der Übel De Prov. Proklos, De providentia et de fato et eo quod in nobis ad Theodorum Mechanicum / Über die Providenz, das Schicksal und die Willensfreiheit an Theodorus den Ingenieur Dec. Dub. Proklos, De decem dubitationibus circa providentiam / Über zehn Streitfragen der Vorsehungsproblematik ench. Augustinus, Enchiridion (De fide, spe et cartiate) / Das Handbüchlein (über Glaube, Hoffnung und Liebe) ETh Proklos, Elementatio Theologica / Die Elemente der Theologie flor. Apuleius, Florida / Exzerpte aus Reden gn. litt. Augustinus, De Genesi ad Litteram / Über den Literalsinn der Genesis gr. et lib. arb. Augustinus, De gratia et libero arbitrio / Über die Gnade und den freien Willen imm. an. Augustinus, De immortalitate animae / Über die Unsterblichkeit der Seele in Eucl. Proklos, In Primum Euclidis Elementorum Librum Commentarii / Kommentar zum ersten Buch der Elemente des Euklid

7

Berücksichtigt sind nur die Werke der vier im Mittelpunkt der Dissertation stehenden Autoren; weitere Abkürzungen antiker Werke richten sich nach dem ThLL bzw. LAW; biblische Werke werden mit den in jeder Konkordanz auffindbaren Kürzeln bezeichnet (etwa Mt = Matthäusevangelium).

XIV in Parm.

Proklos, In Platonis Parmenidem Commentaria / Kommentar zu Platons Parmenides in Parm., Moerb. Proklos, die lateinische Übersetzung des Parmenideskommentars von Wilhelm von Moerbeke (betrifft besonders das nur auf Latein überlieferte Ende des siebten Buchs des Kommentars) in Tim. Proklos, In Platonis Timaeum Commentaria / Kommentar zu Platons Timaios lib. arb. Augustinus, De libero arbitrio / Über den freien Willen Met. Apuleius, Metamorphosen / Der Goldene Esel mor. Augustinus, De moribus ecclesiae Catholicae et de moribus Manichaeorum libri / Über die Sitten der katholischen Kirche und die der Manichäer mund. Apuleius, De mundo / Über den Kosmos mus. Augustinus, De musica / Über die Musik ord. Augustinus, De ordine / Über die Ordnung persev. Augustinus, De dono perseverantiae / Über die Gabe des Beharrens im Glauben PL John Milton, Paradise Lost / Das verlorene Paradies praed. sanct. Augustinus, De praedestinatione sanctorum / Über die Vorherbestimmung der Heiligen retr. Augustinus, Retractationes / Rückbesinnungen Simpl. Augustinus, Ad Simplicianum / An Simplician sol. Augustinus, Soliloquia / Selbstgespräche spir. et litt. Augustinus, De spiritu et littera / Geist und Buchstabe ThP Proklos, Theologia Platonica / Die platonische Theologie trin. Augustinus, De Trinitate / Über die Dreifaltigkeit vera rel. Augustinus, De vera religione / Über die wahre Religion

I. Göttliche Vorsehung und menschliche Willensfreiheit bei Augustinus 1. Einleitung und Problemstellung (sol. I) Die Soliloquia, eines der Frühwerke Augustins (386 verfasst1), beginnen damit, dass Augustinus erzählt, wie er lange Zeit gedankenschwer "mich selbst und mein Gut" suchte ("Volventi mihi multa ac [...] quaerenti memetipsum ac bonum meum", sol. I, 1, 1). Augustins Streben und Wollen geht nicht willkürlich auf irgendetwas, sondern auf das, was gut ist2; auch wenn er noch nicht erkennen kann, was dieses Gut ist, und noch auf der Suche danach ist. Was auch immer hingegen ein Übel und etwas Schlechtes ist, müsse, so weiß Augustinus, gemieden werden ("quidve malum evitandum esset", ibd.). Subito – dieses Wort wird im dritten Teil der Arbeit (Kap. III 5.1) bei Apuleius noch seine besondere theologische Tragweite erweisen –, plötzlich spricht zu ihm oder in ihm, vielleicht sogar als Teil seines Ichs, aber doch verschieden von dem grübelnden Teil seines Selbst ('außen' oder 'innen' ist hier kein zureichendes Unterscheidungskriterium), etwas anderes: die Ratio, das Denken in Person.3 Sie empfiehlt Augustinus, für das Gelingen seiner Suche zu beten. Aus diesem Gebet stammt der folgende Abschnitt: "[...] Gott, von dem sich abzuwenden 'fallen', zu dem sich zu bekehren 'auferstehen', in dem zu bleiben, 'Bestand haben' ist; [...] Gott, den niemand verliert außer aus Täuschung, den niemand sucht als nur aus Ermahnung, den niemand findet als nur der Gereinigte [...]: Dich flehe ich an [...]. Gott, durch den 1

Vgl. zur Chronologie der Werke: T. Fuhrer (2004). Augustinus. Klassische Philologie Kompakt. Hrsg. M. Hose. Darmstadt; 61-63; sowie ferner: Augustine through the Ages. An Encyclopedia. Ed. A.D. Fitzgerald et al. Michigan, 1999; xliii-il. Die im Folgenden genannten Datierungen der Werke Augustins richten sich (wenn nicht anders angegeben) nach der Übersicht bei Fuhrer. Bei den Stellenangaben aus den augustinischen Werken werden deren übliche lateinische Abkürzungen benutzt (s. Fuhrer [ibd., 177-9] sowie das Verzeichnis im Vorwort). 2 Anders dagegen: C. Horn (1996). "Augustinus und die Entstehung des philosophischen Willensbegriffs", in: ZPhF 50, 113-132; hier besonders 116, 119. 3 "[...] ait mihi subito sive ego ipse sive alius quis, extrinsecus sive intrinsecus, nescio; nam hoc ipsum est quod magnopere scire molior, ait ergo mihi Ratio [...]" (sol. I, 1, 1). Nach der Darstellung zu urteilen ist es zweifelhaft, ob man wirklich von Augustins eigener Vernunft (Fuhrer, 2004: 72) oder nicht eher von der göttlichen Vernunft sprechen sollte; vgl. dazu im Anhang: Exkurs 1 zu den Soliloquia als 'Selbstgesprächen'.

2 wir Übles fliehen und Gutes verfolgen; [...] Gott, durch den das Bessere an uns dem Geringeren nicht unterworfen ist4; Gott durch den der Tod verschlungen wird in den Sieg (1 Kor 15, 54; Jes 25, 8); Gott, der du uns bekehrst; [...] Gott, der du uns in alle Wahrheit führst; [...] durch dessen Gesetze der Entscheidungsraum der Seele frei ist und den Guten Belohnungen und den Schlechten Strafen mit festen, alles durchziehenden Notwendigkeiten zugeteilt sind. [...] Zu dir, fühle ich, muss ich zurückkehren; offen stehen möge mir, der ich anklopfe, deine Tür (Mt 7, 7); wie ich zu dir gelangen kann, lehre mich! Nichts anderes habe ich als den Willen; nichts anderes weiß ich, als dass das Zerfließende und Hinfällige zu verachten, das Feststehende und Ewige zu suchen ist. Dieses tue ich, Vater, weil ich dies allein weiß. Aber von woher man zu dir gelangt, weiß ich nicht. [...] Wenn durch Glauben dich finden, die zu dir ihre Zuflucht nehmen, gib Glauben, wenn durch Tugend, Tugend,5 wenn durch Wissen, Wissen. Mehre in mir Glaube, mehre Hoffnung, mehre Liebe (1 Kor 13, 13)! [...] Zu dir komme ich flehend, und wodurch man zu dir kommt, das bitte ich wiederum von dir! Denn wenn du fortgehst, geht man zugrunde. Aber du gehst nicht fort, weil du das höchste Gut bist, welches niemand auf rechte Weise gesucht und dann nicht gefunden hat. Jeder aber hat [sc. dich] auf rechte Weise gesucht, den du auf rechte Weise hast suchen lassen. Gib, Vater, dass auch ich dich suche!" "[...] Deus, a quo averti cadere, in quem converti resurgere, in quo manere consistere est. […] Deus, quem nemo amittit nisi deceptus, quem nemo quaerit nisi admonitus, quem nemo invenit nisi purgatus […], te deprecor. […] Deus, per quem mala fugimus et bona sequimur. […] Deus, per quem melius nostrum deteriori subiectum non est. Deus, per quem mors absorbetur in victoriam. Deus, qui nos convertis. […] Deus, qui nos in omnem veritatem inducis […], cuius legibus arbitrium animae liberum est bonisque praemia et malis poenae fixis per omnia necessitatibus distributae sunt. […] Ad te mihi redeundum esse sentio; pateat mihi pulsanti ianua tua; quomodo ad te perveniatur, doce me. Nihil aliud habeo quam voluntatem, nihil aliud scio nisi fluxa et caduca spernenda esse, certa et aeterna requirenda. Hoc facio, pater, quia hoc 4 Vgl.: "Hisce igitur animae motibus cum ratio dominatur, ordinatus homo dicendus est. Non enim ordo rectus aut ordo appellandus omnino est, ubi deterioribus meliora subiciuntur" (lib. arb. I, 64). 5 Virtus ist nach Augustinus nicht auf 'moralische Tugend' begrenzt, sondern bedeutet im platonischen Sinn allgemein 'Gutheit von etwas' und speziell das umfassende Erkennen von etwas: So bestimmt Augustinus in den Soliloquia das "rechte Schauen der Seele", die vollendete ratio (die Vollendung des diskursiven Denkens in der Kontemplation) als Tugend: "Aspectus animae ratio est. sed quia non sequitur ut omnis qui aspicit videat, aspectus rectus atque perfectus, id est quem visio sequitur, virtus vocatur; est enim virtus vel recta vel perfecta ratio" (sol. I, 6, 13).

3 solum novi; sed unde ad te perveniatur, ignoro. […] Si fide te inveniunt qui ad te refugiunt, fidem da, si virtute, virtutem, si scientia, scientiam. Auge in me fidem, auge spem, auge caritatem. […] Ad te ambio, et quibus rebus ad te ambiatur, a te rursum peto. Tu enim si deseris, peritur. Sed non deseris, quia tu es summum bonum, quod nemo recte quaesivit et minime invenit. Omnis autem recte quaesivit, quem tu recte quaerere fecisti. Fac et me, pater, quaerere te6 […]" (sol. I, 1, 3-6). Das Eingangsgebet der Soliloquia fasst gemäß der im Folgenden unternommenen Interpretation bereits die wichtigsten Säulen und Fragen des augustinischen Denkens zum Thema 'Providenz-Willensfreiheit' zusammen und nimmt sogar spätere Entwicklungen Augustins vorweg. Welches sind diese Säulen? 1. Alles Bestandhaben gründet in Gott, dieses wird durch Abkehr oder Zuwendung entweder zunehmend gefährdet oder gesichert. 2. Abkehr von Gott, dem Quell des Seins, geschieht aus Irrtum; Hinkehr zu ihm geschieht (und dies sind die Worte des jungen Augustins!) nicht allein aus eigener Kraft – es bedarf zuvor der Ermahnung. 3. Der Möglichkeitsraum von Abkehr und Hinkehr impliziert nach Augustinus willentliche Entscheidungsfreiheit (liberum arbitrium) sowie entsprechende göttliche Gerechtigkeit. 4. Das Bezogensein auf Gott führt zum Guten und weg vom Schlechten, vielmehr zur Wahrheit und zum geistigintelligiblen Licht ("intelligibilis lux", sol. I, 1, 3). Dadurch wird zugleich die seelische Ordnung im Menschen bewahrt, das Geringere dient dem Besseren,7 damit in der Herrschaft des (tatsächlichen, nicht eines vorgeblich) Besseren über das Geringere auch dem letzteren möglichst viel Anteil an Gutheit zuteil und nicht umgekehrt dieser Anteil gemindert wird. 5. Da Augustinus sich Gutes wünscht und danach strebt und wenn ferner alles Gute von Gott herrührt und er als Quell des Guten das unvergängliche Gute selbst ist, dann ist in der sachlichen Konsequenz gelingendes Wollen letztlich eine theologische Aufgabe, für dessen Gelingen als erstes die Perspektive vom Vergänglichen auf das Unvergängliche gerichtet werden muss. 6. Zwar sagt Augustinus, er habe bereits den Willen, trotzdem betont er in dem Gebet mehrfach, dass Gott derjenige ist, der bekehrt; eine Bekehrung aus eigenem menschlichen Entschluss scheint unmöglich. Was 6

Hier übernehme ich die in einigen Handschriften supra linia überlieferte Ergänzung quaerere te (Om2sl. Gm2sl.; s. den textkritischen Apparat bei Hörmann). Dem Sinn nach nimmt aber auch allein fac me schon das vorhergehende quem tu recte quaerere fecisti auf. Der Inhalt bleibt also identisch, mit oder ohne die Ergänzung quaerere te. 7 Vgl. den 'späten Augustinus': civ. XIX, 4; 14; 24.

4 immer zu Gott führt, erbittet Augustinus von ihm: Wer Gott auf rechte Weise suche, wird ihn finden – aber dieses richtige Suchen (recte quaerere) ist eine Gabe Gottes, der sie gewährt bzw. bewirkt (fecisti). 7. Aus diesem (scheinbaren) Paradox ergibt sich Augustins Bitte, Gott möge ihn (Augustinus) nach ihm (Gott) suchen lassen, damit die Suche erfolgreich sei und nicht auf unangemessene Weise – non recte – und erfolglos vonstatten gehe. Dieser Aspekt kommt von der gemeinten Sache her dem nahe, was unter dem für den späteren Augustinus so zentralen Begriff der Gnade gemeint ist. Ist diese Passage aber so zu verstehen, dass Augustinus mit seinem Imperativ "Gib, dass ich dich suche!" die Suche erst in Gang setzt (dies wäre gleichsam pelagianisch gedacht) oder ist genau dieses Bitten schon göttliches Geschenk? Ist dann das menschliche Wollen, das auf Gott ausgerichtet ist, noch frei? Gibt es nach Augustinus eine Möglichkeit, die Disjunktion 'menschliche oder göttliche Initiative' aufzulösen? 8. Augustins Suche und Gebet hat den Angelpunkt, dass Gott – weil er das höchste Gut und Quell alles Guten ist – nicht abwesend ist, sich niemandem versagt. Mit den Worten aus den Confessiones: Der Weg – auch die Abkehr von Gott – führt so oder so wieder zu ihm. "Dich [sc. Gott] verliert niemand außer dem, der dich wegschickt, und weil er dich wegschickt, wohin geht er oder wohin flieht er, wenn nicht von dir, der du gnädig bist, zu dir, der du erzürnt bist." "Te nemo amittit, nisi qui dimittit, et quia dimittit, quo it aut quo fugit nisi a te placido ad te iratum?" (conf. IV, 9, 14).8 8

In einer bestimmten Hinsicht kann sich der Mensch, obwohl er sich von Gott abwendet, laut Augustinus dennoch nicht von Gott entfernen bzw. hat auch in seiner Entfremdung vom Urquell kein Sein ohne eine (gleichwohl gestörte) Beziehung zu Gott: "Denn nicht, wie es z.B. Zeichen bestimmter Güte ist, auch Fremden Guttaten zu erweisen, verhält es sich so auch mit der Gerechtigkeit, dass sie Fremde straft. Von daher ist offenbar, dass wir zu ihm [sc. Gott] gehören [sc. und keine ihm Fremden sind], weil er nicht nur im Erweisen [sc. der Guttaten] am wohltätigsten, sondern auch im Strafen am gerechtesten ist" ("Non enim ut alicuius est bonitatis alienis praestare beneficia, ita iustitiae vindicare in alienos. Unde manifestum est, ad eum nos pertinere, quia non solum in nos benignissimus in praestando, sed etiam iustissimus in vindicando est", lib. arb. II, 3-4). Beachtet werden muss, dass Augustinus keinen zynischen Strafbegriff verfolgt, gemäß dem womöglich das Leid des Bestraften der Zweck von Strafe wäre. Vielmehr ist gemäß Augustinus Strafe im Sinn einer poena emendatoria (lib. arb. III, 95 und 264) und des wohlmeinenden Tadels gerechterweise (conf. VII, 3, 5) der Weg, auf dem erstens der Verlust einer verloren gegangenen Gutheit erkannt und sie zweitens wieder zurückerlangt wird: "Wenn man also einen Fehler tadelt, dann lobt man eben dieses, dessen fehlerlose Unversehrtheit man

5 Die Hauptthese, die daraus abgeleitet werden kann und auf die hin die folgende Untersuchung zu Augustinus orientiert ist, lautet: Das menschliche Willensstreben ist nicht als unabhängig von seelischen Erkenntnisleistungen zu betrachten, da der Wille auf das hin orientiert ist, was als jeweils gut und deshalb erstrebenswert eingeschätzt wurde. Hier besteht eine Irrtumsmöglichkeit im Erkennen und Wollen. Das Erkenntniselement im Willensstreben ist bei Augustinus kein Bewusstheitskriterium. Sofern der Wille der Sache nach (und nicht einem willkürlich gesetzten und unbegründeten Postulat gemäß) frei ist, ist er laut Augustinus auf Gott als den Quell des Guten hin orientiert und erfährt dadurch gerade keine Einschränkung in seinem Streben nach Freiheit und beatitudo, sondern die gelingende Aktualisierung der Freiheit und Befreiung, ohne dass die menschliche Selbstbestimmung aufgegeben würde. In einem noch genauer zu bestimmenden Sinn kann man bei (und mit) Augustinus von einer Kooperation9 zwischen Gott ersehnt. [...] Was man also als der Vollkommenheit des Wesens fehlend erkannt hat, dieses nennt man einen Fehler, wobei man durchaus bezeugt, dass man dieses Wesen gern hat, von welchem man wollte, dass es durch den Tadel seiner Unvollkommenheit vollkommen sei" ("Cum ergo vituperas vitium, id profecto laudas cuius integritatem desideras. [...] Quod ergo perfectioni naturae deesse perspexeris, id vocas vitium, satis tibi eam placere contestans, quam vituperatione imperfectionis eius velles esse perfectam", lib. arb. III, 143; s. ebenso civ. XII, 1). Augustins Strafbegriff entspricht dem platonischen, s. Platon, Gorg. 472e, 525b. Leid kann – auch dies ist nicht zynisch zu verstehen – sogar einen bestimmten Nutzen ("utilitatem calamitatis") haben als Möglichkeit zur Erkenntnis und Minderung von überheblicher Sünde, d.h. zur Buße (civ. I, 33) wie etwa bei Petrus (s. civ. XIV, 13). Nach Augustinus müssen nicht nur 'die Schlechten' wieder zu ihrer ursprünglich-eigentlichen Gutheit zurückgeführt werden, sondern auch 'die Guten' bedürfen einer vorbeugenden Züchtigung (etwa um Geduld zu lernen), damit sie ihre Gutheit nicht verlieren (civ. I, 8; civ. XVII, 2). Der bessernde Effekt einer Strafe steht für Augustinus nicht im Widerspruch dazu, dass alle Sünden "durch den einen Mittler, der nicht der Wiedergeburt bedarf" ("per unum mediatorem Dei et hominum hominem Christum Jesum, qui solus potuit ita nasci, ut ei non opus esset renasci", ench. 14, 48-50) vergeben werden ("cuncta [sc. peccata] simul abstulit", ibd.) und dass gerade die Verweigerung des Glaubens an die Sündenvergebung die – einzig unvergebbare – Sünde gegen den Heiligen Geist ist (Mt 12, 31; "Qui vero in Ecclesia remitti peccata non credens contemnit tantam divini muneris largitatem, [...], reus est illo irremissibili peccato in Spiritum sanctum, in quo Christus peccata dimittit", ench. 22, 83; vgl. dazu auch: J. Lössl [1997]. Intellectus Gratiae. Die erkenntnistheoretische und hermeneutische Dimension der Gnadenlehre Augustins von Hippo. Leiden, New York, Köln; 62). 9 "Et quis istam etsi parvam dare coeperat charitatem, nisi ille qui praeparat voluntatem, et cooperando perficit, quod operando incipit? Quoniam ipse ut velimus operatur incipiens, qui volentibus cooperatur perficiens" (gr. et lib. arb., 17, 33).

6 und Mensch bzw. von einer Synthese von Gnade und freiem Willen sprechen. Lässt sich diese These untermauern, dann mag die Willensthematik bei Augustinus, um mit den Bok zu sprechen, 'weiterer Behandlung bedürfen'.10

2. De quo imo altoque secreto evocatum est liberum arbitrium meum? Vorüberlegung: Der freie Wille – Faktum oder Potenz der Freiheit? In den Confessiones fragt sich Augustinus: "Aber wo war sie in dieser jahrelangen Zeit und aus welchem abgrundtiefen Geheimnis wurde in einem Moment herausgerufen meine Entscheidungsfreiheit, aus deren Entschluss ich meinen Nacken deinem sanften Joch und meine Schultern deiner leichten Last unterwarf, Christus Jesus, mein Helfer und mein Erlöser? Wie angenehm wurde es mir plötzlich, frei zu sein von den nichtigen Annehmlichkeiten, und welche ich zu verlieren gefürchtet hatte, diese alsbald fortzuschicken freute ich mich nun. Denn du warfest sie hinaus aus mir." "Sed ubi erat tam annoso tempore et de quo imo altoque secreto evocatum est in momento liberum arbitrium meum, quo subderem cervicem leni iugo tuo et umeros levi sarcinae tuae, Christe Jesu, adiutor meus et redemptor meus? Quam suave mihi subito factum est carere suavitatibus nugarum, et quas amittere metus fuerat, iam dimittere gaudium erat. Eiciebas enim eas a me" (conf. IX, 1, 1). Da die Confessiones zwischen 397 und 401 verfasst wurden – also nach dem angeblichen 'Wendejahr 397', das den 'Durchbruch' der augustinischen Gnadenlehre markiert11 –, erscheint es kaum verwunderlich, dass Augustinus davon 10 "Perhaps a new openness may be discovered for the Augustinian 'middle-course' which is extremely critical and asks for further exploration" (N.W. den Bok [1994]. "Freedom of Will. A systematic and biographical sounding of Augustine's thoughts on human willing", in: Augustiniana 44, 237-270; 238). Der "Mittelweg", den Augustinus nach den Bok vertritt, unterscheidet sich jedoch von dem "Mittelweg", den Augustinus nach hier vertretener Interpretation meint (vgl. im Anhang Exkurs 4: "Augustins angebliche Begriffstrennung..."). 11 Vgl. K. Flasch ([21995]. Logik des Schreckens. Augustinus von Hippo: De diversis quaestionibus ad Simplicianum I 2 – Die Gnadenlehre von 397. Excerpta Classica, Bd. 8. Mainz, 268): "Die Gnade siegte 397, der freie Wille unterlag. Die tatsächliche Entschei-

7 spricht, sein freier Wille bzw. sein freier Entschluss12 hätte erst aus der Tiefe herausgerufen und die "nichtigen Vergnügungen" durch seinen Erlöser hinausgeworfen werden müssen.13 Wie schon in dem eingangs zitierten Gebet aus den Soliloquia schreibt Augustinus jedoch auch im ersten Buch von De libero arbitrio (ebenfalls vor 397: um das Jahr 388): "In diesem Fall [sc. bei der Suche nach dem Woher des Bösen] war ich so in Anfechtung und haufenweise von großspurigen und eitlen Geschichten erdrückt, dass, wenn mir nicht die Liebe zur Wahrheitsfindung (amor inveniendi veri) göttliche Hilfe erlangt hätte, ich von dort nicht hätte auftauchen und hin zur ersten14 Freiheit des Suchens wieder hätte zu Atem kommen können. Und weil mit mir fürsorglich (sedulo) umgegangen wurde, auf dass ich von dieser Suche befreit würde (liberarer), möchte ich mit dir ebenso umgehen – gemäß der Argumentationskette (eo ordine), der folgend ich [sc. dieser Aporie] entronnen bin. Denn Gott wird uns beistehen und uns erkennen lassen, was wir im Glauben bereits erfasst haben." dung liegt nicht mehr beim Menschen. – Gleichzeitig hat Augustinus Freiheit umdefiniert, und zwar so, daß die Wahlfreiheit (liberum arbitrium) daraus verschwindet." Zur kritischen Auseinandersetzung mit dieser Interpretation s.u. Kap. 10. 12 Dass eine terminologische Begriffsdifferenzierung zwischen voluntas 'Wille' und arbitrium 'Zustimmung zu bereits gegebenen (bzw. von der göttlichen Gnade bewirkten) Zuständen, Strebungen etc.', wie sie den Bok (1994) und auch Horn (1996) vornehmen, für Augustinus kaum zutreffen kann, wird genauer erörtert im Anhang: Exkurs 4: Augustins angebliche Begriffstrennung... . 13 Zu Gottes Barmherzigkeit und Gnade in den conf. vgl.: V.H. Drecoll (1999). Die Entstehung der Gnadenlehre Augustins. Tübingen; 270-5. 14 In einer Anmerkung deutet W. Thimme ([1962]. De libero arbitrio / De vera religione. Text: W.M. Green, Übersetzung und Einleitung: W. Thimme. Zürich, Stuttgart; 34, Anm. 3) diese "erste Freiheit" in Abgrenzung zur praktischen Freiheit: "Eine weitere Freiheit wäre die des Handelns" (ibd.). Möglich scheint mir aber auch die Deutung, dass Augustinus mit der ersten die verlorene, ursprüngliche paradiesische Freiheit meint (vgl. die Charakterisierung des irdischen Menschseins durch die Beherrschung des Geistes von der Lust, die das Zeichen par excellence für das gefallene Menschsein ist: lib. arb. I, 77 und civ. XIV, 16). Im Paradies war der Mensch von dem göttlichen Beistand nicht getrennt, wie es nun durch den Sündenfall (vgl. lib. arb. I, 73-79) bedingt ist, so dass das Suchen sich dort nicht orientierungslos gestaltete (wie in Augustins eigener, 'diesseitiger' Erfahrung), sondern ein erfolgreiches, findendes Suchen ist. Laut seiner Darstellung konnte Augustinus ein solches Finden im Diesseits bei der drängenden Frage nach dem Woher des Bösen (besonders nach seinen gemäß seiner Einschätzung verhängnisvollen Erfahrungen bei den Manichäern) jedoch nur durch göttliche Hilfe zuteil werden.

8 "Quo casu ita sum adflictus et tantis obrutus acervis inanium fabularum, ut, nisi mihi amor inveniendi veri opem divinam impetravisset, emergere inde atque in ipsam primam quaerendi libertatem respirare non possem. Et quoniam mecum sedulo actum est, ut ista quaestione liberarer, eo tecum agam ordine, quem secutus evasi. Aderit enim deus et nos intellegere quod credidimus faciet" (lib. arb. I, 10-11). Die 'Rettung' aus Furcht und Unsicherheit – ebenfalls ein für das Wirken göttlicher Gnade charakteristischer Aspekt – verschafft sich Augustinus bereits aus der Perspektive des Jahres 388 nicht allein, sondern er schreibt sie maßgeblich der göttlichen Hilfe zu und verwendet entsprechende passive Verbformen, die das Befreitwerden zum Ausdruck bringen, aber nicht immer so interpretiert und übersetzt werden.15 Wenn wegen dieser eigenen Erfahrung des Befreitwerdens Augustinus sich im Dialog De libero arbitrio veranlasst sieht, auch seinen Freund Evodius von dessen Zweifeln befreien zu helfen, so steht dabei Augustins Abkehr bzw. 'Befreiung' vom manichäischen Denken als konkrete historische Erfahrung im Hintergrund. Es soll nicht insinuiert werden, man könne hier bereits die spätere Gnadenlehre mit 'lesenden Händen' greifen: Es geht darum, zunächst auf den auch im augustinischen Frühwerk belegbaren Aspekt der ausschlaggebenden Bezogenheit von menschlicher Denk- und Willensaktivität auf göttliche Hilfe aufmerksam zu machen.

15

Vgl. jetzt die Übersetzung der obigen Passage bei: J. Brachtendorf (2006). Augustinus: De libero arbitrio – Der freie Wille. Zweisprachige Ausgabe, eingeleitet, übersetzt und herausgegeben von J. Brachtendorf. Augustinus. Opera / Werke Bd. 9. Hrsgg. von J. Brachtendorf und V.H. Drecoll in Verbindung mit T. Fuhrer und C. Horn. Paderborn, München, Wien, Zürich; 79: "Und weil es mir ja unter Anstrengung gelungen ist, mich von dieser Frage zu befreien [= quoniam mecum sedulo actum est, ut ista quaestione liberarer], möchte ich sie mit dir in der gleichen Ordnung angehen, die auch ich damals befolgte, um ihr zu entkommen [= eo tecum agam ordine, quem secutus evasi]." Vgl. dieselbe Stelle auch bei Thimme (1962: 35-7): "Da es mir nun nach heißem Bemühen gelang, mit dieser Frage fertig zu werden [= quoniam ... liberarer], will ich in meinem Gespräch mit dir ebenso vorgehen, wie ich es damals erfolgreich tat." W. M. Neumann ([1986]. Die Stellung des Gottesbeweises in Augustins De libero arbitrio. Hildesheim; 48) interpretiert: "Wenn der amor inveniendi veri fehlt, so mangelt es offenbar am notwendigen Willen, nämlich am Vernunftwillen. Ist er aber da, so ist auch aus den Irrtümern herauszukommen." Nach Neumann geht das Bestehen oder Fehlen des amor inveniendi veri anscheinend auf die menschliche Initiative zurück. Denkbar wäre jedoch auch, dass dieser amor bereits ein göttliches Geschenk ist.

9 Ähnlich wie im Eingangsgebet der Soliloquia bleibt dabei zunächst offen, auf wessen Initiative ihm (Augustinus: mihi) der amor inveniendi veri, den Augustinus als Ursache für das Eintreten (weiterer?) göttlicher Hilfe nennt, entstanden ist oder ob es sich bereits bei diesem Punkt um eine solche Bezogenheit menschlicher und göttlicher Aktivität handelt. Für das Auftauchen und Atemschöpfen aus der philosophischen Aporie sieht sich Augustinus als den Befreiten (liberarer), der lediglich folgte (secutus evasi) – demnach aber nicht, ohne es zu wollen, nur gezogen wurde.16 Nun hat derselbe amor inveniendi veri seinen Freund Evodius ergriffen; Augustinus möchte, dass (vermittels seiner Hilfe) die göttliche Wahrheit auch Evodius von seinen Zweifeln befreie.17 Wenn Augustinus in De libero arbitrio die Frage, ob und warum der Mensch einen freien Willen hat, vor allem im Kontext der Frage nach dem Woher des Bösen behandelt, kann daraus nicht geschlossen werden, dass er den Aspekt göttlichen Beistandes im Kontext des guten Wollens des Menschen bestreiten wollte: Da das Böse laut Augustinus nicht Gott zugeschrieben werden kann, ist es nicht verwunderlich, wenn Augustinus seinen Fokus zunächst allein auf den Aspekt des menschlichen Wollens richtet. Das dritte Buch des Werks, das den Aspekt des göttlichen Beistandes stärker in den Blick nimmt, bildet insofern kaum "eine unerwartete, sehr bedeutsame Einschränkung der in den beiden ersten Büchern so triumphierend verkündeten Willensfreiheit", wie Thimme (1962: 12) gemeint hat. Vielmehr ist der freie Wille nach Augustinus nicht mit einer Freiheit gleichzusetzen, bei der es für den Menschen nur darum geht, in seinem Wollen uneingeschränkt walten zu können18: Ein solcher Freiheitsbegriff mag einem 16

Dies wäre die stoische Sichtweise: "Das Schicksal führt den Willigen, den Unwilligen reißt es dahin" ("Ducunt volentem fata, nolentem trahunt", Seneca, epist. mor. 107, 11). Vgl. dazu civ. V, 8. 17 "Donabit quidem deus, ut spero, ut tibi valeam respondere, vel potius ut ipse tibi, eadem quae summa omnium magistra est veritate intus docente, respondeas" (lib. arb. II, 9). 18 Vgl.: "[...] libertas, quae quidem nulla vera est nisi beatorum et legi aeternae adherentium, sed eam nunc libertatem commemoro qua se liberos putant qui dominos homines non habent" (lib. arb. I, 109). Auch wenn das menschliche Wollen in seiner Eigenständigkeit und –verantwortung sich von Augustinus her ex negativo besonders deutlich im Bereich der Sünde nachweisen lässt, ist daraus gerade nicht der Schluss zu ziehen, dass derjenige, der nicht sündigt, infolgedessen unfrei wäre. So sagt Augustinus über Jesus, dass er, der ohne Sünde war, im Gegenteil viel freier und befreiter war ("Numquid metuendum fuit, ne accedente aetate homo ille [sc. Iesus Christus] libero peccaret arbitrio? Aut ideo in illo non libera voluntas erat, ac non tanto magis erat, quanto magis peccato servire non poterat?", praed. sanct. 15, 30). Vgl. ferner: "Nec ideo liberum arbitrium non habebunt, quia

10 modernen und alltäglichen Verständnis entsprechen; nach Augustinus jedoch ist Freiheit kein derart gegebenes Faktum, kein schon sowieso irgendwie bestehender Zustand, sondern muss erst realisiert werden (vgl. Brachtendorf, 2006: 55). Wie noch genauer gezeigt werden soll, ist der freie Wille zwar seiner ursprünglichen Potenz nach, in seiner Ausrichtbarkeit auf Wollbares frei; dies impliziert aber nicht, dass er dabei schon Freiheit realisiert respektive auch in Freiheit wollend aktiv ist, da nach Augustinus tatsächliche Freiheit im Sinn der Überwindung von Unfreiheit immer nur dann aktualisiert und erreicht wird, wenn der Wille als Potential sich auf das hin orientiert, was diese Freiheit auch zu erzeugen und zu ermöglichen imstande ist. Deshalb kann Augustinus in conf. IX davon sprechen, dass sein liberum arbitrium, welches zwar als Potenz bestand ("aber wo war es?"), erst "aus der Tiefe herausgerufen" und befreit werden musste.19 Diese hier zwar noch nicht präzise abgeleitete, aber wenigstens andeutungsweise von den drei herangezogenen Passagen aus den Soliloquia, Confessiones und aus De libero arbitrio I her erkennbare Vorüberlegung erscheint notwendig, um den Rahmen abzustecken, der auch schon für das Denken des frühen Augustinus besteht, wenn er in De libero arbitrio die Frage nach dem Faktum und dem Warum des freien menschlichen Willens stellt.

3. Hat der Mensch einen freien Willen? (lib. arb. I – II, 8) 3.1. Wer ist grundsätzlich für das Böse verantwortlich? De libero arbitrio beginnt mit Evodius' Frage, ob Gott für das Übel verantwortlich sei. Augustinus verlangt zunächst eine Präzision der Frage, da es einen Unterschied gebe zwischen dem Tun und dem Erleiden eines Übels.20 Axiomatisch peccata eos delectare non poterunt. Magis quippe erit liberum a delectatione peccandi usque ad delectationem non peccandi indeclinabilem liberatum" (civ. XXII, 30); "Quid erit autem liberius libero arbitrio, quando non poterit servire peccato" (corrept. 11, 32). 19 "So sind gerade die Confessiones das Beispiel schlechthin für die Geschichte eines freien Willens, der sich vollkommen von Gott gegeben weiß, der das Böse einzig sich selbst und das Gute einzig Gott zuschreibt, ohne jedoch durch dieses Wirken der Gnade in der Freiheit beschränkt zu werden" (K. Ruhstorfer [1998]. "Confessiones 7: Die Platoniker und Paulus. Augustins neue Sicht auf das Denken, Wollen und Tun der Wahrheit", in: Die Confessiones des Augustinus von Hippo. Einführung und Interpretationen zu den dreizehn Büchern. Hrsg. von N. Fischer und C. Mayer, Freiburg, 283-340; 327). 20 "Evodius: 'Dic mihi, quaeso te, utrum deus non sit auctor mali.' – Augustinus: 'Dicam, si planum feceris, de quo malo quaeras. Duobus enim modis appellare malum solemus: uno,

11 – aber nicht ohne philosophischen Hintergrund, dessen Explikation später folgt – wird zugrunde gelegt, dass Gott nichts Übles tut. Da er gerecht sei, lasse er Gutem Belohnung, Bösem aber Strafe zukommen; wer Strafe erleide, würde sie allerdings zu Recht als etwas Übles empfinden.21 (Dabei ist zu beachten, dass Augustinus, wie sich z.B. aus lib. arb. III [143; 264] zeigen lässt, hier einen christlich-platonischen Strafbegriff meint, gemäß dem Strafen nicht aus Lust des Bestrafenden am Leid des Bestraften, sondern aus der wohlwollenden Intention erfolgen, dass jemand die Gutheit, die er bei einer schlechten Handlung eingebüßt hat, erstens erkennt und sich deshalb zweitens wieder auf den Rückweg – den Weg des Umdenkens, d.h. der Metanoia und insofern der Buße – begibt, um das ihm nunmehr fehlende, verlorene Gute wiederzuerlangen.22) Wenn daher niemand ungerechterweise Strafen leide und büße, dann gelte, dass "von jener ersten Gattung der Übel auf keine Weise, von dieser zweiten jedoch Gott der Urheber ist." "Quamobrem si nemo iniuste poenas luit, quod necesse est credamus, quandoquidem divina providentia hoc universum regi credimus, illius primi generis malorum nullo modo, huius autem secundi auctor est deus" (lib. arb. I, 2). Augustinus widerspricht sich mit der Aussage nicht selbst: Wenn Strafen als Teil einer tatsächlich gut eingerichteten, göttlichen Ordnung einem guten Ziel dienen und einer guten Intention entspringen, dann ist Gott als Urheber dieser Ordnung nicht Urheber von Üblem, da das erste Übel nicht von ihm zu verantworten ist, durch welches Strafen erst ihren sekundären Grund erhalten, der primär nach dieser Ordnung nicht existiert und in sich selbst deshalb nicht notwendig ist, sondern erst als Konsequenz auf der Basis einer konditional gebundenen Notwendigkeit notwendig wird. Das zweite Übel, das aus dem ersten folgt, wird cum male quemque fecisse dicimus, alio, cum mali aliquid esse perpessum'" (lib. arb. I, 1). 21 "At si deum bonum esse nosti vel credis – neque enim aliter fas est –, male non facit. Rursus, si deum iustum fatemur – nam et hoc negare sacrilegum est – ut bonis praemia, ita supplicia malis tribuit; quae utique supplicia patientibus mala sunt" (lib. arb. I, 1). Vgl. ebenso: "[…] de malis, quorum unum de nostra venit audacia, id est peccatum, alterum de iudicio Dei, id est supplicium […]" (civ. XXII, 24); "Et intendebam, ut cernerem quod audiebam, liberum voluntatis arbitrium causam esse, ut male faceremus et rectum iudicium tuum ut pateremur […]" (conf. VII, 3, 5). 22 S.o. Anm. 8.

12 demnach 'nur' deshalb auch als etwas Übles angesehen, weil der positive Aspekt der Strafe für den subjektiven Blickwinkel des sie Erleidenden verdeckt ist, zumindest verdeckt sein kann. Augustinus argumentiert demzufolge nicht in stoischer Weise, dass es allgemein aufgrund subjektiver Täuschung ein lediglich scheinbares Übel in der Welt gebe, während es der Sache nach gar kein Übel geben könne, da ja alles von einer die Welt bis ins Kleinste fatalistisch durchwaltenden Vorsehung gestaltet sei.23 Seine Argumentation ist identisch mit der Feststellung, die auch Proklos trifft, wie in Teil II genauer gezeigt werden soll: "Von den zwei Möglichkeiten kann also nur eine von beiden zutreffen: Entweder darf auch das Übel nicht als Übel bezeichnet werden, wenn es doch von Gott her ist; oder [sc. es verhält sich so, dass man sagen muss], dass es [sc. das Übel] sowohl ist, als auch, dass es nicht von Gott her ist." "Duorum igitur alterum: aut neque esse malum dicendum malum, si deitus, aut et esse et non deitus esse" (Proklos, De mali subsistentia III, 41; 84, 1113). Proklos verwirft ebenso die erste Möglichkeit, die der stoischen Position entspricht, und argumentiert für die zweite. Wie Proklos argumentiert Augustinus ferner, dass es nicht eine bestimmte Ursache des Übels gebe, sondern viele,24 da jeder Schlechte Urheber seiner schlechten Handlung sei und es kein böses Urprinzip gebe, wie die Manichäer meinten.25 Wenn Augustinus in den Confessiones schlussfolgert: "Was aber ist unschuldiger als du [sc. Gott], da ja ihre eigenen Werke den Bösen feind sind?" "Quid te [sc. deo] autem innocentius, quandoquidem opera sua malis inimica sunt?" (conf. II, 6, 13), 23

Vgl. so Seneca, De providentia 5-6. "Unam quidem utique secundum se malorum causam nullatenus ponendum. Si enim bonorum causa una, malorum multa et non unum" (Proklos, De mal. 47; 91, 3-5). 25 "[...] non enim unus aliquis est [sc. auctor mali], sed quisque malus sui malefacti auctor est" (lib. arb. I, 3); "sua cuique culpa fit malum" (vera rel. 119). Vgl. ferner im Spätwerk: "Malae autem voluntatis suae unusquisque auctor est" (c. Iul. imp. V, 42); "In originali peccato duo sunt" (civ. XXII, 24). Der alt gewordene Augustinus sagt ausdrücklich, dass De libero arbitrio gegen die manichäische Annahme eines gleichewigen, bösen Urprinzips konzipziert sei (vgl. retr. I, 8, 2, zitiert auch in persev. 11, 27). 24

13 dann liegen auch hier Vergleiche zur platonischen und zur biblischen Tradition nahe: "Gott ist schuldlos." qeo\j a)nai¿tioj (Platon, Politeia 617e4-5). "Das Unrechttun ist für den Unrecht Tuenden in jeder Weise sowohl schlecht als auch schändlich." oÀmwj to/ ge a)dikeiÍn t%½ a)dikou=nti kaiì kako\n kaiì ai¹sxro\n tugxa/nei oÄn pantiì tro/p% (Platon, Kriton 49b4-6).

"Denn wie die gutartige Wahl von sich selbst her ein Gewinn wird, so die schlechte von sich selbst her eine Strafe." w¨j ga\r h( a)gaqoeidh\j aiàresij e(auth=j gi¿gnetai karpo/j, ouÀtwj h( moxqhra\ e(auth=j poinh/ (Proklos, in Tim. I, 378, 18-20).

"Da goss ich über sie meinen Zorn aus; durch das Feuer meines Grolls habe ich sie vertilgt – ihre Wege habe ich auf ihre Köpfe gebracht, spricht Gott der Herr." hwhy ynda ~an yttn ~varb ~krd ~ytylk ytrb[ vab ym[z ~hyl[ $pvaw (Hesekiel 22, 31) Festzuhalten ist erstens, dass nach Augustinus das Übel nicht ursachenlos entsteht, jedoch eine solche Ursache nicht bei Gott zu suchen ist. (Später wird zu erklären sein, wieso Augustinus andernorts davon spricht, dass ein zwar schlechter Willensakt eine schlechte Handlung bewirkt, für den schlechten Willen aber nichts die Wirkursache ist26; s.u. Kap. 6) Zweitens ist die Basisprämisse über die Verantwortung für das Böse ex negativo auch ein Argument dafür, dass der Mensch nicht bloß scheinbar einen freien Willen hat: Andernfalls wäre die Selbstwahrnehmung als freies Wesen ja ein Trug; die Welt, ihre Ereignisse und die menschlichen Willensakte wären in Wahrheit schicksalhaft prädeterminiert und somit würde auch die Verantwortung für das Böse Gott zufallen und das Theodizeeproblem bliebe unlösbar bestehen. Dies kann aber nach Augustinus nicht sein; so verteidigt er noch in De civitate Dei auf gleiche Weise die Willensfreiheit27: 26

"Quid enim est quod facit voluntatem malam, cum ipsa faciat opus malum? Ac per hoc mala voluntas efficiens est operis mali, malae autem voluntatis efficiens nihil est" (civ. XII, 6); jedoch: "Cum enim duae sunt origines peccatorum, una spontanea cogitatione, alia persuasione alterius" (lib. arb. III, 104). 27 Das folgende Zitat aus civ. (Abfassungszeit 412-426) widerspricht Flaschs These, Augustinus habe nach 397 die Willensfreiheit uminterpretiert: "Die tatsächliche Entscheidung liegt nicht mehr beim Menschen" (1995: 268). Vgl. ferner: "Fecit itaque Deus, sicut

14

"Von daher ist auch jene Notwendigkeit nicht zu fürchten, die die Stoiker gefürchtet und deshalb daran herumgewerkelt haben, die Ursachenlehre (causas rerum) so zu teilen, dass sie einige Ursachen der Notwendigkeit entzogen, andere ihr unterschoben und in die Ursachen, von denen sie nicht wollten, dass sie der Notwendigkeit unterworfen wären, unsere Willensakte gelegt haben, damit sie nicht offensichtlich unfrei wären, wenn sie der Notwendigkeit unterworfen würden. Denn wenn unsere Notwendigkeit jenes ist, was nicht in unserer Macht steht, sie aber trotzdem erreicht, was sie vermag, wenn wir [sc. dieses Betreffende] nicht wollen, wie es sich mit der Notwendigkeit des Todes verhält: dann ist offenbar, dass unsere Willensakte, wodurch wir richtig und falsch leben, nicht einer solchen Notwendigkeit unterliegen. Denn vieles tun wir, was, wenn wir es nicht wollten, durchaus nicht täten." "Unde nec illa necessitas formidanda est, quam formidando Stoici laboraverunt causas rerum ita distinguere, ut quasdam subtraherent necessitati, quasdam subderent, atque in his, quas esse sub necessitate noluerunt, posuerunt etiam nostras voluntates, ne videlicet non essent liberae, si subderentur necessitati. Si enim necessitas nostra illa dicenda est, quae non est in nostra potestate, sed, etiamsi nolimus, efficit quod potest, sicut est necessitas mortis: manifestum est voluntates nostras, quibus recte vel perperam vivitur, sub tali necessitate non esse. Multa enim facimus, quae si nollemus, non utique faceremus" (civ. V, 10).

3.2. Ist schlecht und böse zu handeln etwas Lernbares? Auf Evodius' Anfrage, ob das Übeltun lernbar sei, führt Augustinus den Nachweis, dass dies nicht möglich sei, da die Lehre (disciplina) etwas Gutes sei und man das Schlechte und Üble höchstens als etwas Vermeidenswertes lernen könne, denn das Übelhandeln sei nichts anderes, als von der disciplina abzuweichen.28 Genau wie zu Beginn, als er scheinbar aus dem Nichts heraus argumentierte, Gott würde nichts Übles tun, deckt Augustinus auch an dieser Stelle des scriptum est, hominem rectum ac per hoc voluntatis bonae. Non enim rectus esset bonam non habens voluntatem. Bona igitur voluntas opus est Dei; cum ea quippe ab illo factus est homo" (civ. XIV, 11; ebenso XXII, 1). 28 "[...] quoniam disciplina bonum est et a discendo dicta est disciplina, mala disci omnino non posse. […] Aut si discuntur mala, vitanda, non facienda discuntur. Ex quo male facere nihil est nisi a disciplina deviare" (lib. arb. I, 5). Vgl.: G.R. Evans (1982). Augustine on Evil. Cambridge; 114.

15 Dialogs 'seine Karten' noch nicht auf29 – auch hier steht noch ohne Begründung der Gedanke im Hintergrund, dass das Gute primär ist und Schlechtes nur sein Mangel, seine Privation ist: Auch Lernbares muss etwas Bestimmtes sein, ein Mangel davon tendiert zum weniger Etwas-Sein, weniger Lernbares aber kann man weniger lernen, weil sein absoluter Grenzwert, auf den diese Mangeltendenz zielt, 'das' unbestimmte nichts wäre und – es handelt sich nicht um eine Tautologie – das, was nicht lernbar ist, von einem Schüler nicht gelernt werden kann. Da das Übel 'wesensmäßig' eine Tendenz zum Mangel an Wesen hat, ist auch eine Lehre des Mangelhaften nach Augustinus keine Lehre an sich, sondern bestenfalls eine Pseudo-Lehre, es sei denn, ihr Mangel wird erkannt und sie deshalb gemieden. Evodius argumentiert nun dualistisch, es könne doch zwei Arten von disciplina geben, eine gute und eine schlechte.30 Darauf erläutert Augustinus, dass man nicht auf schlechte Weise etwas erkennen kann, denn es (oder etwas an ihm) wird entweder erkannt oder nicht. Eine tatsächliche disciplina kann also qua disciplina nicht schlecht sein; analog gilt dasselbe für einen Lehrer, insofern er tatsächlich etwas lehrt: "A: 'Aber von der intellekthaften Erkenntnis glaubst du doch, dass sie nichts als gut ist?' E: 'Diese halte ich tatsächlich für so gut, dass ich nicht sehe, was an dem Menschen Vorzüglicheres sein könnte, und in keiner Weise würde ich sagen, dass irgendeine intellekthafte Erkenntnis schlecht sein könnte.' A: 'Nun, wenn man jemanden [sc. etwas] lehrt, kann er dir, sofern er [sc. dieses] nicht erfasst, dann etwa gelehrt erscheinen?' E: 'Keineswegs!' A: 'Wenn also jede Erkenntnis gut ist und überhaupt keiner, der nicht erkennt, lernt, dann handelt jeder, der [sc. tatsächlich etwas] erkennt, auch gut. Denn jeder, der [sc. etwas] lernt, erkennt und jeder, der erkennt, handelt gut. Wer immer also den Urheber sucht, durch den wir etwas lernen, sucht in der Tat denjenigen Urheber, durch den wir gut handeln. Deshalb lass nach, irgendeinem schlechten Lehrer auf die Spur kommen zu wollen. Wenn er nämlich schlecht ist, ist er kein Lehrer; wenn er aber Lehrer ist, ist er nicht schlecht.'" 29 Vgl. daher auch die abschließenden Worte des ersten Buchs, mit denen Augustinus Evodius darauf hinweist, dass die zukünftigen Untersuchungen einer größeren Konzentration bedürfen werden, während die Erörterungen der Diskussionen aus dem ersten Buch gleichsam nur an die "Tore zu den großen Geheimnissen geklopft haben" ("velim credas magnarum abditarumque rerum inquirendarum quasi fores esse pulsatas", lib. arb. I, 118). 30 "Prorsus ego duas esse disciplinas puto" (lib. arb. I, 7).

16 "A: 'Saltem intelligentiam non nisi bonum putas?' E: 'Istam plane ita bonum puto, ut non videam quid in homine possit esse praestantius, nec ullo modo dixerim aliquam intellegentiam malam esse posse.' A: 'Quid? Cum docetur quisque, si non intellegat, poteritne tibi doctus videri?' E: 'Omnino non poterit.' A: 'Si ergo omnis intellegentia bona est nec quisquam, qui non intelligit, discit, omnis qui discit bene facit. Omnis enim qui discit intellegit et omnis qui intellegit bene facit. Quisquis igitur quaerit auctorem, per quem aliquid discimus, auctorem profecto, per quem bene facimus quaerit. Quapropter desine velle investigare nescio quem malum doctorem. Si enim malus est, doctor non est; si doctor est, malus non est'" (lib. arb. I, 8-9). Schlechte Handlungen und das Übel sind nach Augustinus nicht lehrbar; warum es sie aber gibt, bleibt bis hierhin noch ungeklärt.

3.3. Die verkehrte Begierde und die in Gott ruhende bona voluntas In einem längeren Abschnitt des Dialoggesprächs kommen Augustinus und Evodius zu dem Ergebnis, dass schlechtes und böses Handeln immer von Begierde (libido, cupiditas) geleitet sind.31 Es wäre jedoch vorschnell interpretiert, wenn man daraus schließen wollte, dass von dem Kirchenvater Augustinus ja auch nichts anderes zu erwarten sei als eine Generalverurteilung der Begierde. Denn Augustinus macht Evodius darauf aufmerksam, dass nicht jede, sondern nur eine bestimmte, in einem schlechten Kontext stehende Begierde schlecht und sogar verbrecherisch ist: "Denn sicherlich begehrt der ein Gut, der ein von Furcht freies Leben begehrt, und deshalb ist diese Begierde auch nicht zu tadeln; sonst werden wir alle Liebhaber des Guten tadeln." "Certe enim bonum cupit, qui cupit vitam metu liberam, et idcirco ista cupiditas culpanda non est; alioqui omnes culpabimus amatores boni" (lib. arb. I, 24). 31

"Clarum est enim iam nihil aliud quam libidinem in toto malefaciendi genere dominari" (lib. arb. I, 21). Die Begriffe libido und concupiscentia sind bei Augustinus nicht auf die sexuelle Dimension beschränkt, vgl. G. Bonner (1993). "Augustine and Pelagianism", in: Augustinian Studies 24, 27-47; 33 und 40; ferner: C. Horn (1995). Augustinus. München, 37.

17 "Aber dies ist der Unterschied, dass die Guten dies [sc. das furchtlose Leben] erstreben, indem sie ihre Liebe von den Dingen, die man ohne die Gefahr ihres Verlustes nicht besitzen kann, abwenden; die Schlechten aber versuchen alle Hindernisse fortzuschaffen, um sich dem Genuss dieser Dinge in Sicherheit hinzugeben, und führen deshalb ein lasterhaftes und verbrecherisches Leben, das besser als 'Tod' bezeichnet wird." "verum hoc interest, quod id boni appetunt avertendo amorem ab his rebus, quae sine amittendi periculo nequeunt haberi; mali autem, ut his fruendis cum securitate incubent, removere impedimenta conantur et propterea facinorosam sceleratamque vitam, quae mors melius vocatur, gerunt" (lib. arb. I, 30). Es geht Augustinus also um die Verurteilung einer falschen Begierde (vgl. civ. XIV, 7-9), die irrtümlicherweise – aufgrund einer das Wollen bedingenden Erkenntnisvoraussetzung, die für Augustinus von der Forschung oft bestritten wird32 – zwar erstrebenswerte, jedoch vergängliche Güter (wie ein sicheres Le32 Zum abgeblichen Gegensatz zwischen Wille und Erkenntnis vgl. z.B.: "The direction of the will, however, is thought and spoken of as being independent of the cognition of the better and the worse" (A. Dihle [1982]. The Theory of Will in Classical Antiquity. Berkeley, London; 129). "It is characteristic of Augustine's thought that the realization of moral perfection is not conceived of in cognitive terms, but in those of will (amor, caritas, intentio, voluntas)" (G. O'Daly [1987]. Augustine's Philosophy of Mind. London, 6). "Im Unterschied zu Platons und Aristoteles' Behandlung der a)krasi¿a stellt Augustinus das Problem nicht länger als die Überwältigung eines guten, rationalen Moments durch ein schlechtes, irrationales dar" (Horn, 1996: 131-2). S. ferner: S. Peetz (1997). "Augustinus über menschliche Freiheit", in: Klassiker Auslegen: Augustinus. De civitate Dei. Hrsg. von C. Horn. Berlin, 1997; 63-86; 83. Vgl. dagegen jedoch: "What is sought is sought as good" (R. Williams [2002]. "Insubstantial evil", in: Augustine and his Critics. Essays in Honour of Gerald Bonner. Edited by R. Dodaro and G. Lawless. London, New York, 2002; 105-123; 113). S. ferner: E. Stump ([2001]. "Augustine on free will", in: The Cambridge Companion to Augustine. Ed. by E. Stump and N. Kretzmann. Cambridge; 124147; 132): "[...] intellect and will are picked out as the ultimate causes of acts for which agents are morally responsible. In addition, when Augustine explains his view of the way in which the will functions, he ties it closely to the mind." S. ferner M. Djuth ([1990]. "Stoicism and Augustine's Doctrine of Human Freedom after 396", in: Collectanea Augustiniana 1. Eds. J. Schnaubelt, O.S.A. and F. van Fleteren. New York, 387-401; 396, Anm. 3): "[...] it should be noted that Augustine's notion of free choice includes both rational and volitional elements." S. ferner K. Flasch ([2000]. Augustinus. Reihe: "Philosophie jetzt!", hrsg. von P. Sloterdijk. München; 33): "Die Seele sucht immer das, was ihr entspricht, also die convenientia. Sie sucht, was zu ihr paßt. Sie sucht es, auch wenn sie sich den Sinnen zuwendet. Auch ihre Fehlentscheidungen zehren noch von dem Bezug zu dem, was ihr entspricht [sc. zu dem, was sie für etwas Gutes hält]." Sogar der Teufel sucht

18 ben ohne jegliche Furcht) erstrebt und dabei für unvergängliche Güter hält. Aus diesem Irrtum erwächst dem naturgemäßen Streben nach Gutem laut Augustinus eine Fehlorientierung, die sogar eine verbrecherische Tendenz annimmt, wenn ohne das Wissen um tatsächlich Unvergängliches (auf das Augustinus in lib. arb. II genauer zu sprechen kommt, s. dazu Kap. 4), das Vergängliche verabsolutiert wird und so ein unangemessenes Streben entsteht, möglichst viel von den vergänglichen Gütern für sich selbst in maßloser Weise genießen zu wollen: Diese selbst verursachte Maßlosigkeit schadet nicht nur der eigenen Seele und bereitet ihr Schmerz, sondern führt zwangsläufig zu Überschneidungen, indem fremde Güter fälschlich und unrechtmäßig für den eigenen 'Lustverbrauch' erstrebt werden. Letztlich führt dies nach Augustinus sogar zum Tod, da ein Leben, das in solchen, aus unangemessenem Wollen entstehenden Verengungen befangen ist, sich nicht mehr frei entfalten kann und außerdem ohne die Beziehung zum "Quell des Lebens" und des Guten33 sich selbst verliert, also letztlich stirbt. 'Die Guten', die laut Augustinus diesem Erkenntnisfehler in ihrer Lebensweise nicht unterliegen, wenden sich dagegen in ihrer Liebe zum Unvergänglichen auch dem tatsächlich Unvergänglichen zu und somit ihre (erste) Liebe von denjenigen Dingen ab, die früher oder später dem Verlust zum Opfer fallen werden. Augustinus lehnt es deshalb ab, vergänglichen Gütern einen übermäßigen Stellenwert einzuräumen, der ihnen nicht zukommt, redet damit aber nicht ihrer Verachtung das Wort, weil sie z.B. für "manche guten Künste notwendig und deshalb höher einzuschätzen sind"34 und nur richtig – d.h. maßvoll – gebraucht laut Augustinus in seinem Wollen noch nach dem, was zu seinen bösen Intentionen passt und muss sich noch auf der pervertierten Ebene nach dem Kriterium richten, dass man nur das wollen kann, was einem gut erscheint (wenn aber ein scheinbares Gut mit einem tatsächlichen Gut verwechselt wird, wird zwar das Kriterium an sich als rational bestätigt, aber zugleich seine falsche Anwendung missbilligt): "superbus ille angelus [...] animal scilicet lubricum et tortuosis anfractibus mobile, operi suo congruum, per quem loqueretur, eligit" (civ. XIV, 11; meine Kursive). 33 Zum fons vitae s. civ. XIII, 24 und XVI, 6. Vgl. ferner: "quae bona […] de bonitatis eius quodam veluti fonte manare" (civ. XXII, 24). Zum "Quell des Lebens" vgl. auch: Ps 36, 10; Off 7, 17; 21, 6; 22, 1. 34 "[...] necessaria [sc. temporalia bona] bonis artibus et ideo pluris pensanda" (lib. arb. I, 109). Ebenso hat die Seele nach Augustinus zwar schon von ihrem Entstehen her einen höheren Rang als alles Körperliche, jedoch sind die Körper in ihrer Gattung für jeden, der dies rational beurteilt, nicht zu schmähen, sondern zu loben ("[...] cum eius [sc. animae] exordio perfectiones omnes corporum longe inferiores sint, quas tamen in suo genere laudabiles esse iudicat quisquis sanissime iudicat", lib. arb. III, 222).

19 werden müssen: So sei etwa Gold und Silber nicht etwas Schlechtes, bloß weil es habgierige Leute gebe, ebenso wenig der Wein wegen der Säufer und die weibliche Schönheit wegen der Hurer und Ehebrecher; vielmehr verwende z.B. der Arzt das Feuer auf gute und der Giftmischer das Brot auf schlechte Weise.35 Von den aufgezählten Dingen wird nichts rechtmäßig als etwas von sich selbst her Schlechtes beschuldigt, sondern nur der, der sie in einen schlechten Kontext stellt36: Trotz der Gefallenheit der Welt haben die vergänglichen Güter ihre eigene Schönheit (civ. XXII, 24) und man würde etwa die Niedlichkeit eines Babys und die Zuneigung eines Kindes sogar für die "höchste Schönheit" halten, wäre sie nicht vergänglich (vera rel. 210). Von den vergänglichen schönen Dingen soll sich der Mensch nicht beherrschen lassen, sondern sie selbst beherrschen und sie nicht mit dem unvergänglichen, göttlichen Guten und der Liebe zur unvergänglichen, rein intelligiblen Schönheit37 bzw. dem beständigen Fundament, das Christus selbst ist, verwechseln (civ. XXI, 26). Andernfalls ist eine Erfüllung des menschlichen Glückseligkeitsstrebens nicht möglich, weil das Verlangen nach vergänglichen Gütern immer auf die Überwindung dieses Bedürfnisses zielt und in sich selbst vergänglich und nicht anhaltend ist: Der Hunger zielt darauf, nicht zu hungern, das sexuelle Verlangen darauf, es nicht zu haben, bis es erneut entsteht (vera rel. 283), d.h. die Begierde nach Vergänglichem kommt nie zu einem umfassenden Zielpunkt, in dem das Erstrebte ohne Ende genossen, stattdessen

35

"[...] num aut argentum et aurum propter avaros accusandum putas aut cibos propter voraces aut vinum propter ebriosos aut muliebres formas propter scortatores et adulteros atque hoc modo cetera, cum praesertim videas et igne bene uti medicum et pane scelerate veneficum?" (lib. arb. I, 113); "aurum amatur ab avaris, nullo peccato auri, sed hominis" (civ. XV, 22). 36 "[...] manifestum non rem ullam, cum ea quisque male utitur, sed ipsum male utentem esse arguendum" (lib. arb. I, 114; vgl. ebenso civ. XI, 22). "[…] sed quem ad modum iniustitia male utitur non tantum malis, verum etiam bonis: ita iustitia bene non tantum bonis, sed etiam malis" (civ. XIII, 5). 37 Zum amor intelligibilis pulchritudinis vgl. civ. V, 13; zur rationabilis pulchritudo, civ. XXII, 30. Die sinnliche Schönheit kann nur durch den rationalen Geist beurteilt werden – dies ist ein Indiz dafür, dass die intelligible Schönheit im eigentlicheren Sinn schön ist ("Sensibilia dicimus, quae visu, tactuque corporis sentiri queunt; intellegibilia, quae conspectu mentis intellegi. Nulla est enim pulchritudo corporalis sive in statu corporis, sicut est figura, sive in motu, sicut est cantilena, de qua non animus iudicet. Quod profecto non posset, nisi melior in illo esset haec species, sine tumore molis, sine strepitu vocis, sine spatio vel loci vel temporis", civ. VIII, 6). S. ferner vera rel. 9 und 224; civ. IX, 22; X, 14; XXII, 24 und vgl. Drecoll (1999: 88).

20 aber auf Zeit überwunden wird. Auch die zeitlichen Güter solle man aber von Gott erbitten.38 Aus dem Gesagten können bereits drei wichtige Punkte der augustinischen Argumentation gewonnen werden: 1. Üble Handlungen und ihre 'Effekte' entstehen nicht aus einem metaphysischen Prinzip, sondern sind von willentlicher Begierde geleitet, die nicht einmal in sich selbst schlecht ist, sondern 'nur' in einem unangemessenen Kontext falsch und Ursache von Schlechtem wird. Bei der Beurteilung des guten Maßes einer Begierde handelt es sich um eine erkenntnistheoretische Prämisse, die nach Augustinus im engen Zusammenhang mit dem Wollen steht und deshalb mit zu bedenken ist, wenn Augustinus feststellt, dass "nur der eigene Wille und die freie Entscheidung den Geist zum Gefährten der Begierde macht."39 2. Wollen ist nach Augustinus eine Form des Strebens (appe38

"[…] quae temporaliter exoptat bona infima atque terrena vitae huic transitoriae necessaria et prae illius vitae sempiternis beneficiis contemnenda, non tamen nisi ab uno Deo expectare consuescit, ut ab illius cultu etiam in istorum desiderio non recedat" (civ. X, 14). Vgl. J.M. Rist ([1994]. Augustine. Ancient thought baptized. Cambridge; 187): "The Augustinian saint will not separate his lower sensible interests from his higher, but will blend his heart into a new but ordered unity by God's help." Dazu, dass laut Augustinus die Welt in ihrem zeichenhaften Verweisen auf Gottes Unsichtbarkeit (vgl. Rö 1, 20) zu gebrauchen, nicht aber um ihrer selbst willen zu genießen ist, vgl.: C.P. Mayer (2006). "Prinzipien der Hermeneutik Augustins und daraus sich ergebende Probleme", in: Schöpfung, Zeit und Ewigkeit. Augustinus: Confessiones 11-13. Hrsg. von N. Fischer und D. Hattrup. Paderborn, u.a., 65-80; 73. Zu dem Problem, dass ein Mensch den anderen laut Augustinus nur in Gott lieben bzw. genießen soll, aber nicht um seiner selbst willen ohne Gottesbezug, vgl.: J. Sirovátka (2006). "Der Primat des Praktischen. Der Vorrang des sensus moralis in der Schriftauslegung der beiden letzten Bücher der Confessiones", in: Schöpfung, Zeit und Ewigkeit, 141-153; 151-152: "Es heißt doch, dem Anderen das zukommen zu lassen, was ihm Gott zugedacht hat – eine unendliche Güte und Liebe. Es geht also nicht darum, den Anderen als Mittel zum Zweck der Liebe zu Gott zu benutzen oder den anderen Menschen an Stelle Gottes zu setzen, sondern selbst so zu handeln, wie Gott an uns handelt. [...] Der Mensch hat dementsprechend eine göttliche Aufgabe – zu lieben, wie er uns geliebt hat" (ibd., 152). Gerade der "Gebrauch" eines Freundes hat "das Glück des Anderen im Blick", während sich sein "Genuss" auf das Glück des Genießenden bezieht, vgl.: J. Brachtendorf (2005). Augustins 'Confessiones'. Darmstadt; 199-200. Zu den augustinischen Begriffen uti-frui vgl.: K. Pollmann (1996). Doctrina Christiana. Untersuchungen zu den Anfängen der christlichen Hermeneutik unter besonderer Berücksichtigung von Augustinus, De Doctrina Christiana. Fribourg; 128ff. 39 "[...] nulla res alia mentem cupiditatis comitem faciat quam propria voluntas et liberum arbitrium" (lib. arb. I, 76). Vgl. dazu: W.S. Babcock (1993). "Sin, Penalty, and the Responsibility of the Soul: A Problem in Augustine's De libero arbitrio III", in: StudPatr

21 titus, appetere) nach etwas, wie auch Horn (1996: 126) hervorhebt. 3. Im Gegensatz zu Horns Interpretation ist dieses Streben nach Augustinus immer ein Streben nach etwas gemäß subjektiver Beurteilung Gutem, wobei die Frage nach der Bewusstheit dieses Strebens nachrangig ist.40 Es kann hier zu einer Fehlbeurteilung kommen, indem etwas (in einem bestimmten Kontext) Nicht-Gutes mit dem der kontextbezogenen Sache nach tatsächlich Guten verwechselt wird: "Wer immer also nicht Erstrebenswertes erstrebt – obschon er es nicht erstreben würde, wenn es ihm nicht gut erschiene –, irrt trotzdem. [...] Inwiefern also alle Menschen das glückselige Leben anstreben, irren sie nicht; inwiefern aber jemand den Lebensweg, der zur Glückseligkeit führt, nicht hält, obwohl er bekennt und behauptet, nichts zu wollen als zur Glückseligkeit zu gelangen, insofern irrt er." "Quisquis ergo adpetit quod adpetendum non erat, tametsi id non adpeteret nisi ei videretur bonum, errat tamen. [...] In quantum igitur omnes homines adpetunt vitam beatam, non errant; in quantum autem quisque non eam tenet XXVII. Papers presented at the Eleventh International Conference on Patristic Studies held in Oxford 1991. Ed. by E.A. Livingstone, Leuven, 1993, 225-230; 226f. 40 Vgl. jedoch: "Die Willenskonzeption [...] unterstellt nicht einmal, jede Entscheidung müsse sich zumindest auf ein subjektives Gut richten; auch die schlechtestmögliche Handlungsoption ist bewußt wählbar" (Horn, 1996: 116); vgl. ebenso Horn (1995: 132-3). 'Die Willenskonzeption' sieht Horn bei Augustinus etabliert ("Die beiden Aussagen [sc. Augustins] entsprechen exakt unseren Kriterien für das Vorliegen des Willensbegriffs. Zum einen soll der Wille jeder determinierenden Größe entzogen sein, selbst einem Zugriff Gottes; der Wille kann sich frei zum Schlechteren wenden [Spontaneitätskriterium]. Zum anderen soll der Wille bewußt verfügbar sein; Wollen ist kein triebhaft-unbewußtes Begehren, sondern steht dem Wollenden unmittelbar zur Disposition [Bewußtheitskriterium]", ibd., 116-7). Jedoch ist die bewusste Wahl für Augustinus gar nicht das entscheidende Kriterium seiner Willenskonzeption (vgl. zur untergeordneten Relevanz von "awareness" z.B. Stump [2001: 141]). Horn legt seiner Augustinusinterpretation moderne Kriterien zugrunde, wie er selbst sagt. Denn auch von einer 'falschen Erkenntnis', die also der Sache nach gar keine ist, ist ein subjektives Bewusstsein möglich, vgl. Rist (1994: 87): "[...] self-awareness must also be distinguished from understanding of the self, for it is possible to be aware of oneself without understanding. […] It is possible to be aware that one is doing wrong, for example, without understanding the full circumstances of the act […]." S. ferner Rists (2001: 36) Parallelisierung von augustinischer voluntas und platonischem eros im Sinn des oben genannten Gutheitskriteriums: "while for the Stoics all forms of virtue are modes of right reason and intentionality, for Augustine they have become modes of love: rational, of course, but far more than that" (ibd., 36). Vgl. ferner C. Harrison ([1993]. "Delectatio Victrix: Grace and Freedom in Saint Augustine", in: StudPatr XXVII, 298-302; 301): "[…] for Augustine the will and love are synonymous."

22 vitae viam quae ducit ad beatitudinem, cum se fateatur et profiteatur nolle nisi ad beatitudinem pervenire, in tantum errat" (lib. arb. II, 100-1). Auch hier springt das Problem auf die Erkenntnistheorie und das Gutheitskriterium zurück – es liegt durchaus nahe, dass Augustinus im zweiten Buch von De libero arbitrio einen längeren Exkurs zu diesen beiden Voraussetzungen unternimmt, weil sie mit der Willensfreiheitsproblematik sachlich verknüpft sind (s. dazu Kap. 4). Vorerst aber steht nach dem Ergebnis, dass schlechtes Wollen und Handeln von unangemessener Begierde geleitet sind, für Augustinus die Feststellung im Vordergrund, dass allgemein der Wille immer nach dem ihm gut Scheinenden strebe, der gute Wille aber nach dem guten und gerechten Leben und nach der höchsten Weisheit41 (auch hier folgt die sachliche Begründung erst in dem besagten Exkurs des zweiten Buchs). Die Gabe des guten Willens – d.h. die spontane, subjektive Orientierung – steht nach Augustinus wie kein anderes Gut in der willentlichen Verfügung des Menschen und ist deshalb ein Grund zur Freude, weil der gute Wille – d.h. die Potenz des Strebens nach dem Guten – durch sich selbst als geistiges Gut besteht und nicht von äußerlichen Gegebenheiten abhängig ist. Analog ist der schlechte Wille auf genau diese Weise vermeidbar, dass man ihn nicht will (lib. arb. II, 204; III, 11). Widerspricht aber zum einen die Annahme, der gute Wille bestehe durch sich selbst, nicht der These, Gutes komme nur von Gott her? Und ist zum andern die Argumentation nicht paradox, die Entscheidung für die Gutheit des Willens liege bei dem Willen selbst, wenn doch der Wille sowieso nach Gutem strebt? Beide Einwände sind sachlich nicht gerechtfertigt: Erstens ist es Augustins philosophische Ansicht, dass alles Seiende, insofern es es selbst ist, auch gut ist, weil es vom Quell des Seienden und Guten, also von Gott her seine Teilhabe am Sein hat.42 Zweitens kann ein Mensch in seinem Wollen entscheiden, nach dem Guten überhaupt (d.h. allgemein: für sich und für andere) zu streben oder in egoistischer Weise nur nach dem Guten für sich selbst unter Ausschluss der Betrachtung dessen, was nach allgemeinen Kriterien das Gute wäre. Letztere Ent41 "E: 'Quid est bona voluntas?' – A: 'Voluntas, qua adpetimus recte honesteque vivere et ad summam sapientiam pervenire'" (lib. arb. I, 83). 42 Zum Quell des Seins und der Einheit vgl. Brachtendorf (2005: 160); ferner Rist (1994: 259). Vgl.: "Est itaque bonum solum simplex et ob hoc solum incommutabile, quod est Deus. Ab hoc bono creata sunt omnia bona, sed non simplicia et ob hoc mutabilia" (civ. XI, 10).

23 scheidung würde zwar der Begründung Recht geben, dass alles Wollen zumindest auf das subjektiv gut Erscheinende ausgehe43; sie wäre nach Augustins Betrachtung aber keine Entscheidung für den guten Willen, weil die bona voluntas nach dem Guten strebt, das allen Menschen allgemein zugänglich ist (etwa der Weisheit, dem Guten und Gerechten), und sie wäre außerdem auch für sich selbst, rein subjektiv, keine bona voluntas: Denn, wie oben gesehen (lib. arb. I, 30), ist das Wollen des Guten nur für sich selbst nach Augustinus eine verbrecherische Haltung, die sowohl anderen etwas Gutes streitig machen will als auch dem Fehler unterliegt, etwas nur partikulär Gutes für das höchste Gut zu halten, wo doch das partikuläre Gute immer nur vergänglicher Art sein kann und nicht das universal Gute ist, dem die amatores boni unter Abwendung von dem Vergänglichen anhangen (vgl. lib. arb. III, 73). Die erste Möglichkeit der Orientierung hin zu diesem universal Guten ist nach Augustinus tatsächlich der gute Wille, die Entscheidung und Bereitschaft zum Guten, weil dieser nicht zu den Dingen gehört, die man gegen seinen Willen verlieren kann.44 Vielmehr kann der erste Schritt auf diesem Weg unabhängig von noch nicht oder bereits schon erlangter Weisheit von jedem Willigen eingeschlagen werden (womit allerdings unmittelbar die Erkenntnis verbunden ist, dass der gute Wille ein erstrebenswertes Gut ist).45 Auch wenn der sich ja erst auf der Suche Befindende noch nicht in umfassender Weise das Gute erreicht hat, ist Gott dem So-Suchenden gleichermaßen wie dem, der schon gefunden hat, zugeneigt; in vergleichbarer Weise wird Lucius im Roman des Apuleius zwar plötzlich die Gunst der Isis gewinnen, aber trotzdem auch einen Weg mit Isis zu gehen haben.46

43

"Itaque cum dicimus voluntate homines miseros esse, non ideo dicimus quod esse miseri velint, sed quod in ea voluntate sunt, quam etiam his invitis miseria sequatur necesse est. Quare non repugnat superiori rationi, quod volunt omnes beati esse nec possunt; non enim omnes volunt recte vivere, cui uni voluntati vita beata debetur" (lib. arb. I, 102). 44 "Quisquis ergo habens bonam voluntatem, de cuius excellentia iam diu loquimur, hanc unam dilectione amplexetur qua interim melius nihil habet, hac sese oblectet, hac denique perfruatur et gaudeat, considerans eam et iudicans, quanta sit quamque invito illi eripi vel subripi nequeat" (lib. arb. I, 90). Vgl. Brachtendorf (2006: 11). 45 "Quid ergo causae est cur dubitandum putemus, etiamsi numquam antea sapientes fuimus, voluntate nos tamen laudabilem et beatam vitam, voluntate turpem ac miseram mereri ac degere?" (lib. arb. I, 96). 46 "Ista igitur, inquam, distributio erit, ut omnis, qui iam deum invenit, et propitium deum habeat et beatus sit, omnis autem qui deum quaerit, propitium deum habeat sed nondum sit beatus" (beata v. 3, 21). Zu Apuleius vgl. Teil III, Kap. 5.3.

24 Obwohl der gute Wille auf das unvergängliche Gute als etwas von ihm Verschiedenes orientiert ist, ruht er nach Augustinus gleichwohl in sich selbst. Die bona voluntas ist in nur scheinbar paradoxer Weise sowohl bezogen auf etwas weitaus Höher-Stehendes wie auch ganz bei sich selbst, gleichsam autark in der Bezogenheit auf ihren Schöpfer.47 Wer ganz bei sich ist, kann Gott nicht fern sein; Augustins Erfahrung ist vielmehr, dass Gott in seinem (sc. Augustins) Innern war, er selbst aber außen: "Et ecce intus eras et ego foris et ibi te quaerebam et in ista formosa, quae fecisti, deformis inruebam. Mecum eras, et tecum non eras" (conf. X, 27, 38).

3.4. Der freie Wille – ein Übel an sich oder ein Vehikel für göttliche Strafen? Wenn der Wille immer nach Gutem strebt, immer Gutes will, dann kommt er nur dort zum Ziel, wo er auch das tatsächlich Gute findet – dies aber ist für Augustinus nur im Einklang mit dem Willen zu einer guten Lebensführung zu erreichen. Die Argumentation des Dialogs zielt deshalb angesichts der Frage, warum dem Menschen der freie Wille gegeben sei, auf die Antwort, die Evodius ausspricht: "Aus meiner Voraussetzung, der du zugestimmt hast, dass alles Gute von Gott her ist, lässt sich auch erkennen, dass der Mensch von Gott her ist. Denn der Mensch, insofern er Mensch ist, ist selbst etwas Gutes, weil er auf rechte Weise zu leben – wenn er dies will – vermag." "Deinde ex eo, quod ego posui tuque concessisti, omne bonum ex deo esse, etiam hominem ex deo esse intellegi potest. Homo enim ipse in quantum homo est, aliquod bonum est, quia recte vivere cum vult potest" (lib. arb. II, 4). Im letzten Nebensatz zeigt (der Autor) Augustinus, wie er seine philosophische Position rhetorisch umsetzt: Die Bedingung "wenn er will" (cum vult), die für das "rechte Leben" (recte vivere) ausschlaggebend ist, folgt syntaktisch direkt dem 47

"Berücksichtigt man diese Zielrichtung der Ausführungen von lib. arb. I, läßt sich nicht uneingeschränkt sagen, daß Augustin in seiner Frühzeit Erlösung 'voluntaristisch' als menschliche Möglichkeit verstanden hat" (Drecoll, 1999: 81).

25 durch dieses Wollen Bedingten (recte vivere cum vult); das eigentliche Vermögen (das Prädikat potest) des vom Wollen bedingten recte vivere folgt syntaktisch erst auf die Bedingung cum vult, obwohl sich dieses Vermögen natürlich auf das recte vivere bezieht. Die syntaktische Verschränkung bildet die Abhängigkeit des menschlichen Vermögens zum "richtigen, guten Leben" vom Wollen rhetorisch ab. Die Gutheit des Menschen wird erkennbar in seinem guten, rechten Leben, das aber gerade nicht von Gott vorherprogrammiert, sondern eine Möglichkeit zu leben ist, die der Mensch selbst wählen kann; diese Wahl ist ihm empfohlen, auf dass es ihm gut gehe und er das glückselige Leben hier und nach dem irdischen Leben erlange ("[...] recta vita ducenda est, qua perveniendum sit ad beatam", civ. XIV, 9). Das Vermögen, das Gute zu tun, wenn man es will, begründet die wesensmäßig-prinzipielle Gutheit des Menschen sachlich schon vor dem Wie, d.h. der Art und Weise, wie der Mensch diese Willensfreiheit nutzt – auch wenn der von Gott her intendierte Zweck die Ausrichtung auf das Gute ist. Die Willensfreiheit ist grundlegende und unabdingbare Bedingung für die Gutheit des Wesens 'Mensch', denn sonst könnte er nicht im augustinischen Sinn gut handeln: "Denn niemand handelt gegen seinen Willen gut, wenn auch das, was er tut, gut ist." "Nemo enim invitus bene facit, etiamsi bonum est, quod facit" (conf. I, 12, 19). Genauso wie dem Menschen für seine körperliche Bewegungsfähigkeit (nicht für sein Mensch-Sein) etwas Gutes fehlt, wenn er nur ein Bein hat, so würde dem Menschen allgemein hinsichtlich des augustinischen Kriteriums des guten Mensch-Seins etwas Entscheidendes fehlen, wenn er nicht über die Freiheit des Willens verfügte. Es ist deshalb gemäß der hier vertretenen Augustinusinterpretation im Unterschied zu der Craigs nicht der Fall, dass erst das gesollte bzw. erwünschte Damit des Willens – "that they might choose the good",48 das gute Ziel, auf das sich der Mensch, wenn er in Übereinstimmung mit Gottes Willen han48

W.L. Craig (1988). The Problem of Divine Foreknowledge and Future Contingents from Aristotle to Suarez. Brill’s studies in intellectual history vol. 7. Leiden; 61. Es geht Augustinus streng genommen auch nicht darum, dass der Mensch erst frei ist, "wenn er uneingeschränkt wollen kann, was er wollen soll" (Brachtendorf, 2005: 175), sondern darum, dass er (im Kontext der späteren Gnadenlehre) das Gute wollen kann, was für ihn tatsächlich gut ist und ihn frei macht – dies steht aber nicht unter dem Vorzeichen eines 'pflichtgemäßen Sollens'.

26 delt, ausrichten möge – den freien Willen und den Menschen zu etwas Gutem macht. Vielmehr wäre der Mensch ohne freien Willen im augustinischen Sinn nicht einmal potentiell in sich selbst gut, weil er ohne ihn gar nicht das Vermögen besäße, (gut) zu handeln. Wenn diese Interpretation richtig ist, verliert die folgende Feststellung: "The fact that men misuse their freedom to choose for evil rather than good is not sufficient reason for God to have withheld this freedom from man" (Craig, ibd.), insofern ihre Brisanz, als sich die Option 'Menschsein ohne freien Willen' nach Augustinus sachlich gar nicht stellt.49 Gott beabsichtigt laut Augustinus zwar für die Menschen, dass sie das Gute wählen mögen – jedoch nicht im Sinn einer Pflichtenethik, sondern im Sinn eines guten Handelns, das für den Menschen in seinem eigenen Interesse gut und das beste Handeln ist, weil es ihn auf den Weg zu seiner beatitudo führt. Aber schon vor dem aktual-konkreten Wollen, das nach etwas (von sich selbst her) entweder Gutem oder Schlechtem strebt, ist auch der menschliche Wille in seiner Potentialität von sich selbst her etwas Gutes ("modo quodam proprio voluntas [...] in malo accipi non potest", civ. XIV, 8), weil er das konkrete und für sich selbst gute Vermögen hat, sich auf etwas Bestimmtes, ein aliquid, wollend auszurichten ("Qui enim vult, profecto aliquid vult", lib. arb. III, 259). Diese Gutheit müssen auch diejenigen zugeben, die das gute Willenspotential auf ungute Weise (miss-)brauchen wollen – wäre das in sich gute Strebepotential bereits durch Perversion korrumpiert, dann könnte auch nichts Schlechtes (als 'Pseudo-Gut') gewollt und erstrebt werden. In diesem Sinn handelt es sich bei der Wahl zwischen 'gut' und 'böse' nicht um "two commensurable alternatives",50 49

"Fecit itaque Deus, sicut scriptum est, hominem rectum ac per hoc voluntatis bonae. Non enim rectus esset [sc. homo] bonam non habens voluntatem" (civ. XIV, 11); "qui fecit hominem etiam ipsum rectum cum eodem libero arbitrio […] (quem similiter cum praevaricatione legis Dei per Dei desertionem peccaturum esse praesciret, nec illi ademit liberi arbitrii potestatem, simul praevidens, quid boni de malo eius esset ipse facturus)" (civ. XXII, 1). 50 R. Holte (1990). "St. Augustine on Free Will (De libero arbitrio, III)", in: 'De libero arbitrio' di Agostino d'Ippona. Lectio Augustini – Settimana Agostiniana Pavese VI. Collana diretta da L.F. Pizzolato e G. Scanavino. Palermo, 1990; 67-84; 82. Gemäß Augustins Willensbegriff müssen nicht schon für die Aktualisierung des Willens "mindestens zwei Optionen offen stehen", es muss nicht schon eine Alternative 'gut' vs. 'schlecht' als bereits bestehende Dualität vorausgesetzt werden (vgl. aber: A. Kreiner [2004]. "Willens-

27 sondern um eine Möglichkeit sowie ihre Privation. Erst aus der Privation (etwa aus der Berührung des verbotenen Baumes im Paradies) resultiert die Dualität der 'zwei Möglichkeiten', die Unterscheidung zwischen dem Guten und seinem privativen Gegenteil ("contingit ex illa arbore quae contra vetitum tacta est, dinoscientia boni et mali", vera rel. 103). Der von Craig als das augustinische Hauptargument bezeichnete Grund, der freie Wille sei dem Menschen verliehen, damit die praktizierte göttliche Gerechtigkeit im Sinn des Verteilens von Strafen und Belohnungen für menschliche Taten ihre Berechtigung habe,51 wird Augustins Argumentation nur scheinbar gerecht: Der Vollzug der Strafe wird ja nach Augustinus erst sekundär durch den Missbrauch des freien Willens nötig, ist aber nichts in sich selbst schon Notwendiges ohne den von sich selbst her ebenfalls nicht notwendigen Missbrauch (s.o. Kap. 3.1): "[...] Die Sünden selbst oder das Elend sind für die Vollkommenheit des Universums nicht notwendig, sondern die Seelen, insofern sie Seelen sind, die, wenn sie wollen, sündigen, und wenn sie gesündigt haben, elend werden [...]. Denn nicht sind 'Sünde' und 'Bestrafung der Sünde' bestimmte Wesen, sondern Affektionen der Wesen." "His respondetur non ipsa peccata vel ipsam miseriam perfectioni universitatis esse necessaria, sed animas in quantum animae sunt, quae si velint peccant, si peccaverint miserae fiunt. [...] Non enim peccatum et supplicium peccati naturae sunt quaedam, sed adfectiones naturarum […]" (lib. arb. III, 93-94). freiheit und das Problem der moralischen Übel", in: Der freie und der unfreie Wille..., 149-163; 151). Augustins Willensbegriff ist m.E. hinreichend erklärbar als 'Strebevermögen nach Gutem', während Kreiner 'Willensfreiheit' bereits als Voraussetzung für 'Sittlichkeit' betrachtet, für deren Verwirklichung (von einem idealistischen Verständnis aus gesehen) schon eine Polarität zwischen 'sittlich' und 'unsittlich' vorausgesetzt werden müsse (ibd., 160). 51 "His [sc. Augustine’s] fundamental argument [...] for the appropriateness of man’s freedom of will is that 'An action would be neither sinful nor righteous unless it were done voluntarily.' Neither just reward nor punishment, he contends, would be possible without free will. This provides sufficient grounds for God’s creating man with free will" (Craig, 1988: 61; meine Kursive). Zur Deutung, dass Augustinus den freien Willen als Instrument einsetze, um Gott zu entlasten, vgl. Kreiner (2004: 149). Augustinus stellt solche Argumentationen (besonders Craigs) bereits selbst infrage: "Woher also war mir das BöseWollen und das Nicht-gut-Wollen? Damit ein Grund sei, weshalb ich gerechterweise Strafen büßte?" ("Unde igitur mihi male velle et bene nolle? Ut esset, cur iuste poenas luerem?", conf. VII, 3, 5).

28

Insofern "zeugt sogar ein schlechter Wille von der guten Natur [sc. der in sich selbst guten Willensbegabung]" ("Quapropter etiam voluntas mala grande testimonium est naturae bonae", civ. XI, 17): "Denn man soll nicht deshalb, weil durch jenen [sc. den Willen] auch gesündigt wird, glauben, dass Gott ihn zu diesem Zweck gegeben habe. Genügend Grund, weshalb er [sc. dem Menschen] gegeben werden musste, ist also vorhanden, weil der Mensch ohne ihn nicht auf rechte Weise leben kann. Dass er aber dazu gegeben ist, kann man auch schon von daher erkennen, dass, wenn jemand ihn zum Sündigen gebraucht, göttlicherseits ein Strafgericht gegen ihn geführt wird. Dies würde ungerechterweise geschehen, wenn der freie Wille nicht nur zum Zweck des rechten Lebens, sondern auch des Sündigens gegeben wäre." "Non enim quia per illam etiam peccatur, ad hoc eam deum dedisse credendum est. Satis ergo causae est cur dari debuerit, quoniam sine illa homo recte non potest vivere. Ad hoc autem datam vel hinc intellegi potest, quia si quis est usus fuerit ad peccandum, divinitus in eum vindicatur. Quod iniuste fieret, si non solum ut recte viveretur, sed etiam ut peccaretur, libera esset voluntas data" (lib. arb. II, 5-6). Der sachliche Grund für den menschlichen Willen ist somit die Gutheit des Geschöpfs 'Mensch'. 'Gerechte Strafe' ist ein erst sekundäres Gut – und zwar gut insofern, als sie auf das göttliche bonum der Gerechtigkeit verweist.52 'Strafe' ist also eine (gleichwohl sekundäre) Wirkung von Gottes Gutheit, Gerechtigkeit und Liebe53 und bezieht sich auf ungerechtes Handeln, das im Widerspruch zu ihr steht, weil sonst – wenn das Gerechte und das Ungerechte ohne Unterschied behandelt würde – die Gerechtigkeit in sich selbst widersprüchlich und nicht mehr 'Gerechtigkeit', damit sogar Gott in sich uneins wäre.54 Trotzdem bedarf 'Gerechtigkeit' in ihrem Sein und ihrer Verwirklichung umgekehrt nicht notwendigerweise des Strafens, weil Gerechtigkeit primär im gerechten Denken und Handeln realisiert wird, das in einer Einheitsbeziehung zu ihr steht und Strafe 52

Vgl. Neumann (1986: 77-78). "Ergo et quando corripiuntur inquieti, non malum pro malo, sed potius bonum redditur. Haec autem omnia quae nisi charitas operatur?" (gr. et lib. arb. 17, 34) "Sogar Gottes strafende Gerechtigkeit ist Ausdruck der Milde (clementia)" (Lössl [1997: 47] zu vera rel. 78). 54 Vgl. N. Strand (2001). "Augustine on Predestination and Divine Simplicity: The Problem of Compatibility", in: StudPatr 38, 290-305; 292, 301). 53

29 überflüssig werden lässt. Solange kein Vergehen an der Gerechtigkeit verübt wird, besteht auch kein Anlass für ihre Schärfe, die sie in der Ächtung des Übels zeigt und zeigen muss, sondern ist sie im Einklang mit der göttlichen Liebe. "Denn wenn das Fehlerhafte geheilt ist, wird als das, was man lieben muss, das Ganze übrig bleiben, nichts aber, was man hassen darf." "Sanato enim vitio totum quod amare, nihil autem quod debeat odisse remanebit" (civ. XIV, 6). Ergebnis: Der Mensch hat als ein rational-seelisches Wesen nach Augustinus einen freien Willen. Dies ist zunächst ex negativo daraus zu schließen, dass Gott nicht Urheber des Bösen sein kann. Deshalb lehnt Augustinus eine stoischdeterministische Lösung ab, nach der das Schicksal für alle Dinge und Ereignisse in der Welt verantwortlich ist. Der Grund, warum der Mensch einen freien Willen hat, ist jedoch weder, dass die göttliche Gerechtigkeit im Verteilen von Belohnungen und Strafen funktioniere, noch die Entlastung Gottes von der Verantwortung für das Böse. Vielmehr ist, wie alles Seiende nach Augustinus primär etwas Gutes ist, insofern es überhaupt ist, auch der Mensch und sein Wille primär etwas Gutes, weil er gut leben und nach Gutem streben kann, wenn er will. Kann man nun eine willentliche Ausrichtung auf das Gute selbst zu Recht als etwas bezeichnen, das nur aus menschlicher Fähigkeit geleistet wird, oder handelt es sich wie bei dem amor inveniendi veri, der Liebe zur Wahrheitsfindung, in deren Folge dank göttlicher Hilfe Augustinus von der quälenden Frage nach dem Ursprung des Bösen befreit wurde (lib. arb. I, 10-11), so auch hier um eine Art Bezogenheit menschlicher und göttlicher Aktivität? Diese Frage soll durch die Diskussion der Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis, d.h. nach der erkenntnistheoretischen Beziehung zwischen Erkennendem und Erkanntem, zunächst vorbereitet (Kap. 4) und dann zu beantworten versucht werden (Kap. 5). Diesen erkenntnistheoretischen Exkurs, der nur auf den ersten Blick mit der Willensfreiheitsfrage scheinbar nichts zu tun hat, unternimmt Augustinus in De libero arbitrio, weil – obwohl die Frage nach dem Warum des menschlichen Willens eigentlich schon beantwortet ist – die Argumentation noch einmal in ihren Grundfesten erschüttert wird durch die Frage, die Evodius bereits am Ende

30 des ersten Buchs stellt und zu Anfang des zweiten Buchs in verschärfter Weise wiederholt: "Aber ich frage, ob eben dieser freie Wille, durch den wir nach unserer Überzeugung die Möglichkeit zu sündigen haben, uns von dem, der uns geschaffen hat, gegeben werden musste. Denn solche, die sündigen würden, wären wir anscheinend nicht gewesen, wenn wir seiner ledig wären, und man muss fürchten, dass Gott dadurch sogar als Urheber unserer Übeltaten angesehen wird." "Sed quaero utrum ipsum liberum arbitrium, quo peccandi facultatem habere convincimur, oportuerit nobis dari ab eo qui nos fecit. Videmur enim non fuisse peccaturi si isto careremus, et metuendum est, ne hoc modo deus etiam malefactorum nostrorum auctor existimetur" (lib. arb. I, 117). "Aber ich frage dich, scheint es dir nicht so zu sein, dass, wenn [sc. der Wille] zum rechten Handeln gegeben worden ist, er nicht hätte zum Sündigen verkehrt werden können dürfen, so wie die Gerechtigkeit, die dem Menschen zum guten Leben gegeben ist?" "Sed nonne tibi videtur, quaeso te, si ad recte faciendum data est, quod non debuerit ad peccandum posse converti, sic ut ipsa iustitia quae data est homini ad bene vivendum?" (lib. arb. II, 8). Augustinus weicht dieser kritischen Nachfrage nicht mit einer dogmatischen Antwort aus. Die Axiome über den Primat des Guten vor dem Bösen sowie 'Gott ist nur Ursache von Gutem' oder überhaupt der Satz 'Gott existiert', die zu Beginn von De libero arbitrio zwar gemäß dem Grundsatz credamus, ut intellegamus zunächst unbegründet geblieben sind, werden nicht "diskussionslos akzeptiert".55 Denn Augustinus fragt Evodius mit Nachdruck zweimal, wie er denn wissen könne, dass wir Menschen von Gott her seien.56 Die Frage, ob Gott ist, wird im Dialog von Augustinus selbst indirekt gestellt und gilt ebenso erst nach dem 55

So aber Fuhrer (2004: 90): "In Augustins scharfsinnig und auf höchstem intellektuellem Niveau geführten Argumentation werden diskussionslos folgende Sätze akzeptiert und nicht hinterfragt: 1. Gott existiert. [...]." Zum Verständnis von credamus, ut intellegamus s. die erhellenden Ausführungen von: J.M. Rist ([2001]. "Faith and reason", in: The Cambridge Companion to Augustine, 26-39) sowie ferner: F. de Capitani ([1990]. "Quomodo sit manifestum Deum esse': Lettura del libro II", in: 'De libero arbitrio' di Agostino d'Ippona', 35-57; 41-43). 56 "E: '[...] Ab ipso enim sumus et sive peccantes sive recte facientes ab illo poenam meremur aut praemium.' – A: 'Hoc quoque utrum liquido noveris an auctoritate commotus libenter etiam incognitum credas, cupio scire. [...] Sed quaero illud alterum, quomodo noveris nos ab ipso esse'" (lib. arb. II, 2-3).

31 erkenntnistheoretisch-ontologischen Exkurs, der direkt in einen 'Gottesbeweis' mündet, als geklärt: "A: 'Jenes wenigstens, dass Gott ist, ist für dich doch sicher.' – E: 'Auch daran halte ich nicht durch geistige Schau, sondern nur im Glauben unerschütterlich fest.'" "A: 'Illud saltim tibi certum est deum esse.' – E: 'Etiam hoc non contemplando, sed credendo inconcussum teneo'" (lib. arb. II, 12).

4.

Augustins erkenntnistheoretisch-ontologischer Exkurs (lib. arb. II): Die Ableitung des Primats des Guten57 für das Seiende und die Gutheit des freien Menschen in seiner Bezogenheit zum Guten 4.1. 'Vorspann Gebet': Die Suche nach Gott als die Suche mit Gott. Glaube und Philosophie als wechselnde Perspektiven im augustinischen Dialog Evodius' Zweifel treibt Augustinus nicht durch eine kurze Antwort aus, er hält diese Methode offensichtlich nicht für tauglich: Wie im ersten Buch von De libero arbitrio, als Augustinus von dem amor inveniendi veri sprach, der ihm göttliche Hilfe zukommen ließ (oben war offen gelassen worden, aus welcher Ursache Augustinus dieser amor zuteil wird), sagt Augustinus hier, dass "Gott es, wie ich hoffe, geben wird, dass ich dir zu antworten vermag" oder dass Evodius sich selbst unter der Leitung der höchsten Lehrmeisterin, der im Innern lehrenden Wahrheit, wird antworten können.58 Hier wird noch deutlicher als in der Stelle 57

Für den Primat des Guten bzw. Gottes Gutheit vgl. der Sache nach auch Platon, Politeia 379b1, 379c4-7, 380b6-7, 617e5. Vgl. in der Bibel: Ps 25, 8+10; Ps 33, 5; Gen 50, 20; 2 Ch 5, 13 und 6, 41; Mt 19, 17; Mk 10, 18 [= Lk 18, 19]); 1. Pt 2, 3; Jak 1, 17 (im Zusammenhang mit Gottes Unwandelbarkeit, vgl. dazu auch Mal 3, 6 und 1. Sm 15, 29). Neben Gottes Gutheit wird – auf sie zurückführend, trotzdem von ihr unterschieden – die Gutheit der Schöpfung hervorgehoben: Gen 1, 31; Ps 139, 14; 1. Ti 4, 4. 58 "Donabit quidem deus, ut spero, ut tibi valeam respondere, vel potius ut ipse tibi, eadem quae summa omnium magistra est veritate intus docente, respondeas" (lib. arb. II, 9). "Um Erkenntnis zu gewinnen, bedarf es also eines göttlichen Mitwirkens [...]" (Horn, 1995: 79); "Gott ist nicht der Erkenntnisgegenstand, sondern bildet eine verborgene Erkenntnisbedingung" (ibd., 81). S. ferner Drecoll (1999: 109-110) zum amor veritatis in vera rel.: Der Mensch erzeuge ihn "nicht eigenständig, sondern ipso duce; Gott bleibt also der Füh-

32 des ersten Buchs behauptet, dass die erfolgreiche Wahrheitssuche (= Erkenntnis) nicht etwas ist, was ein Mensch aus sich selbst heraus produzieren könnte, sondern dass er dabei auf die Hilfe der göttlichen Wahrheit angewiesen ist. Diese Einleitung des erkenntnistheoretischen Exkurses im zweiten Buch, die die Kooperation zwischen der menschlichen und der göttlichen Seite anspricht, ist nicht bloß wegen der Einbettung des Exkurses in die Willens- und Providenzthematik von Bedeutung, sondern auch für die von Augustinus explizierte Erkenntnistheorie. Nachdem Evodius noch einmal die Autorität der Heiligen Schriften ins Feld geführt hat, fragt Augustinus, wieso eine philosophische Untersuchung der Frage, ob Gott ist, dann noch nötig sei (lib. arb. II, 13-16). Evodius antwortet, dies sei notwendig, da wir, "was wir glauben, auch erkennen wollen": Der Weg vom (philosophisch unreflektierten) Glauben zur Erkenntnis wird von Augustinus mit dem Jesajazitat "Nisi credideritis, non intellegetis" (Jes 7, 9) befürwortet und ferner mit dem folgenden Argument untermauert: "Auch unser Herr selbst hat mit Worten und mit Werken zuerst zum Glauben ermahnt, die er zum Heil gerufen hat. Aber später, als er über das Geschenk sprach, das er den Glaubenden geben würde, spricht er nicht: 'Das ist das ewige Leben, dass sie glauben', sondern: 'Das ist das ewige Leben', spricht er, 'dass sie dich, den einzigen Gott und den, den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen' (Jh 17, 3)." "Ipse quoque dominus noster et dictis et factis ad credendum primo hortatus est quos ad salutem vocavit, sed postea cum de ipso dono loqueretur quod erat daturus credentibus non ait: 'Haec est autem vita aeterna ut credant', sed: 'Haec est', inquit, 'vita aeterna ut cognoscant te verum deum et quem misisti Iesum Christum'" (lib. arb. II, 18). Wie in den Gebeten der Soliloquia ("Gib, Vater, dass ich dich suche!") oder auch in den Confessiones: "Ich flehe bei unserem Herrn Jesus Christus, deinem Sohn, [...] durch den du uns gesucht hast, 'die wir dich nicht suchten' (Jes 65, 1; Rö 10, 20), gesucht aber hast du uns, auf dass wir dich suchten, dein Wort, 'durch das du alles geschaffen hast' (Jh 1, 3)."

rende. Daß diese Möglichkeit überhaupt besteht, ist ebenfalls auf die divina providentia zurückzuführen." Vgl. ebenso Rist (1994: 63).

33 "Obsecro per dominum nostrum Iesum Christum filium tuum, [...] per quem nos quaesisti 'non quaerentes' te, quaesisti autem, ut quaereremus te, verbum tuum, 'per quod fecisti omnia'" (conf. XI, 2, 4), spricht Augustinus auch jetzt von der 'erfolgreichen Suche' nach Gott, die seltsamerweise nicht ohne Gott und seine Ermahnung zur Suche erreicht wird. Trotzdem lässt sich Augustinus nicht auf den Autoritätsglauben seines Gesprächspartners Evodius ein, sondern will die Argumentation von Grund auf neu entwickeln ("quasi omnia incerta sint", lib. arb. II, 11): "Deshalb wollen wir, den Geboten des Herrn gehorsam, beharrlich suchen: Denn was wir, indem er uns ermahnt, suchen, werden wir, indem er es uns selbst zeigt, finden, insoweit es in diesem Leben und von uns, so wie wir sind, gefunden werden kann." "Quapropter domini praeceptis obtemperantes quaeramus instanter; quod enim hortante ipso quaerimus, eodem ipso demonstrante inveniemus, quantum in hac vita et a nobis talibus inveniri queunt" (lib. arb. II, 19). Es scheint sich um einen perfekten Zirkel zu handeln: Die Suche nach Gott setzt Gott schon voraus, die Aussage ist tautologisch und inhaltsleer. Bei näherem Hinsehen erweist sich dieser Vorwurf aber kaum als gerechtfertigt, wenn man Augustins Argumentation sowie die Beziehung zwischen Glaube und Erkenntnis genau beachtet und zwei Dinge bedenkt: Erstens könnte man 'aus moderner Sicht' für die sachliche Interpretation einfach den 'pietistischen Vorspann' fortlassen und würde feststellen, dass bei Augustins philosophischer Untersuchung in De libero arbitrio II Gottes 'Existenz' nicht unreflektiert einfach schon als sicher vorausgesetzt wird (quasi omnia incerta),59 wie in dem nächsten Kapitel gezeigt werden soll. 59

Die Forschung urteilt hier teilweise anders, etwa Fuhrer (2004: 90). Augustinus akzeptiert in dem erkenntnistheoretisch-ontologischen Exkurs jedoch nicht "diskussionslos" und ohne Hinterfragung bestimmte Sätze wie "Gott existiert" und "Es gibt Kausalität und Ordnung in der Welt" (Fuhrer, ibd.), sondern leitet diese aus der grundlegenden Einheitsbedingung der einzelnen Erkenntnisakte, zu denen die menschliche Seele fähig ist, philosophisch ab (s.u. Kap. 4.3). (Vgl. ferner in den conf. Augustins kritische Haltung gegenüber den Manichäern, die die Inhalte des Glaubens nicht hinterfragt und einfach als zu glauben vorgeschrieben hätten: "credere iubebar", conf. V, 3, 6.) Für lib. arb. II gilt jedenfalls nicht, dass Augustinus "simply has no project, as Descartes does, of providing, on its own foundations, a rational reconstruction of knowledge" (G.B. Matthews [1992]. Thought's Ego in Augustine and Descartes. Ithaca, London; 36; ebenso 61; 171). G. Ma-

34 Zweitens hatte Augustinus Evodius aus demselben Grund, auf dem der Vorwurf der argumentativen Inkonsistenz beruhen würde, gefragt, warum es denn noch nötig sei, eine philosophische Untersuchung über Gott zu unternehmen, wenn doch die Heiligen Schriften diese Dinge bereits (in geschichtlicher Hinsicht) offenbart hätten. Die Antwort war, dass das Geglaubte auch einer philosophischen Erkenntniskritik unterzogen werden sollte, soweit dies möglich sei: Da Augustinus – bevor er sie entfaltet – die Argumentation und die aus ihr folgenden Ergebnisse überschaut, weiß er bereits, dass die philosophische Perspektive der des Glaubens nicht widersprechen, sondern sie modifizieren, auf ein neues Fundament und Reflexionsniveau stellen wird.60 Vom Ergebnis her betrachtet sind dec ([1990]. "Unde malum? Le livre I du De libero arbitrio", in: 'De libero arbitrio' di Agostino d'Ippona', 13-34) stellt dagegen den argumentativen Charakter des Werkes klar heraus und sieht in dem Zurücktreten autoritativ-christlicher Anhaltspunkte (besonders in Buch I) die erklärte Absicht Augustins, die Frage nach dem Unde malum? auf philosophischem Wege – unabhängig von dem Geglaubten – zu ergründen: "Cependant dans le De libero arbitrio, Augustin n'a pas recours à la foi dans le démarche intellectuelle ellemême, et il refuse plusieurs fois de prendre appui sur de vérités connues par la foi, de peur, semble-t-il, de prendre un chemin trop court et d'en rester à cette foi sans accéder à l'intelligence. Cet ouvrage séparait donc strictement les domaines: on tient les vérités par la foi, mais on en fait abstraction dans le raisonment" (ibd., 29). Dies bedeute jedoch nicht, dass das Werk deshalb gleichsam weniger christlich wäre ("Augustin et Evodius, lors de leurs entretiens de Rome, n'etaient donc pas si ignorants ou indifférents à l'égard des Livres saints", ibd., 34). S. ebenso: ders., (1994). "Saint Augustin – Du libre arbitre à la liberté par la grâce de Dieu", in: Liberté chrétienne et libre arbitre. Texte de l'enseignement de troisième cycle des facultés romandes de théologie. Organisé par G. Bedouelle et O. Fatio. Fribourg, 31-45; 37. Zum Christlichen innerhalb der 'platonischen Frühwerke' vgl. ferner: J. Ries (2001). "Augustin d'Hippone: du manichéisme au néoplatonisme et au christianisme", in: Kh=poi. De la religion à la philosophie. Mélanges offerts à André Motte. Édités par É. Delruelle et V. Pirenne-Delforge. Clutre International d'Étude de la Religion Grecque Antique. Liège, 285-296; 293, 295, 287. Zum Verhältnis 'Neuplatonismus – Christentum' und den mit Augustins autobiografischer Bekehrungsdarstellung (conf.) übereinstimmenden Frühwerken vgl. ferner Brachtendorf (2005: 146-154; besonders 151). 60 Differenziert werden muss zwischen Augustins scheinbar widersprüchlichen Aussagen, dass einerseits der Glaube der Erkenntnis vorhergeht, andererseits aber kein echter Glaube ohne vorhergehende gedankliche Reflexion möglich ist ("Quis enim non videat, prius esse cogitare quam credere? Nullus quippe credit aliquid, nisi prius cogitaverit esse credendum. […] necesse est tamen, ut omnia quae creduntur, praeveniente cogitatione credantur. Quamquam et ipsum credere, nihil aliud est, quam cum assensione cogitare", praed. sanct. 2, 5; vgl. ebenso spir. et litt. 31, 54). Beide Aussagen stehen nicht miteinander im Widerspruch, wenn zwischen 'Glauben' im Sinn eines unreflektierten, sog. 'Kinderglaubens' und

35 Philosophie und Theologie für Augustinus zwei verschiedene Zugänge, die jedoch ineinander münden: Insofern kann er seinen erkenntnistheoretischontologischen Exkurs von der Ebene des Glaubens mit einem Gebet beginnen. Beide Aspekte – Augustins philosophische Ableitung, die nicht bei Gott beginnen wird, und sein Gebet um göttliche Leitung dieses Philosophierens – stehen deshalb miteinander nicht im Widerspruch, weil einerseits der philosophische Ansatz nach Augustinus eine theologische Hypothese 'Gott' nicht ohne Weiteres als Ausgangspunkt voraussetzen darf (im Unterschied zum Glauben), andererseits ein prinzipieller Atheismus gleichermaßen unphilosophisch, weil ebenso vorurteilsbelastet wäre. Deshalb kann der Ausgangspunkt der diesbezüglichen philosophischen Unsicherheit nur in einer Offenheit bestehen, die aufgrund der Unentschiedenheit der theologischen Frage mit einer Möglichkeit 'Gott' rechnen muss und so der Glaubensperspektive vorerst 'ihr Recht für sich' einräumt, obwohl genau ihre Inhalte es sind, die jetzt zur Disposition stehen. Sollte also wahr sein 'Gott ist', wie es der Glaube lehrt, dann spricht nichts dagegen, auch den philosophischen Diskurs mit einem Gebet zu beginnen; sollte sich dies als unwahr erweisen, müsste das Gebet nachträglich als unnötig disqualifiziert werden. In jedem Fall muss ernsthaftes Philosophieren für Augustinus vom Glauben an das Wahre (im Sinn des als wahr Erkannten) motiviert sein. Rist (2001: 37-38) hat gezeigt, dass der Glaube in diesem Sinn nicht als irrational gelten kann und eher als "Liebe zur Wahrheit" denn als das behauptende Fürwahr-halten-Wollen zu verstehen ist: "It is loving faith which prepares the mind for reason to be able fully to perform its proper and most important functions" (ibd., 38). Man kann mit Augustinus formulieren, dass auch eine tatsächliche, einem gedanklich durchdrungenen Glauben unterschieden wird ("Deinde iam credentibus dicit: 'Quaerite et invenietis' [Jh 17, 3]; nam neque inventum dici potest quod incognitum creditur neque quisquam inveniendo deo fit idoneus, nisi ante crediderit quod est postea cogniturus", lib. arb. II, 18; "non aliam esse philosophiam, id est sapientiae studium, et aliam religionem", vera rel. 26). Die Philosophie vermag einige der Glaubensinhalte rational als wahr zu erweisen und begründet für das, was das rationale Erkenntnisvermögen übersteigt, den Möglichkeitsraum des Glaubens ("omnia quae primo credidimus nihil nisi auctoritatem secuti, partim sic intelleguntur, ut videamus esse certissima, partim sic ut videamus fieri posse atque ita fieri oportuisse", vera rel. 42). In dieser Hinsicht hängen Philosophie und Theologie unmittelbar miteinander zusammen; vgl. dazu im Hinblick auf Augustins Hermeneutik: I. Bochet (2002). "Herméneutique, apologétique et philosophie. Recherches sur Augustin", in: Revue des Études Augustiniennes 48, 321-9; 323 und 326. Zur Autonomie der Vernunft sowie zu ihrer (von Augustinus maßgeblich mit entwickelten) Stützfunktion für den Glauben vgl. Brachtendorf (2005: 122-8, 150-2).

36 seiende, also wahre Erkenntnis nicht gegen die Ursache des (wahren) Seins61 gewonnen werden kann, sondern – sofern eine solche Ursache oder 'das Sein selbst, in Person' ist und erwiesen werden kann – nur mit ihr. Vor diesem Hintergrund besteht für Augustinus und Evodius die Möglichkeit zu beten, obwohl ein sicheres theologisches Wissen fehlt (zumindest Evodius). Bei der Interpretation muss also unterschieden werden zwischen der philosophischen Perspektive und der des Glaubens, aus der heraus die beiden Dialogpartner Evodius und Augustinus ihre Argumentation angehen und die trotz der philosophischen Unsicherheit vorerst für sich bestehen bleibt, solange sie nicht widerlegt ist: Deshalb wird während des Dialogs immer wieder gebetet und auch dann schon davon die Rede sein, dass auf ein bestimmtes Problem 'Gott die Antwort geschenkt' habe, obwohl Augustins Nachweis von Gottes Existenz noch nicht abgeschlossen, sondern zunächst bestenfalls in Aussicht gestellt ist (vgl. Kap. 4.4). Es gehört zur Authentizität des augustinischen Dialogs, dass die beiden Perspektiven miteinander wechseln (und insofern auf einer Metaebene ebenfalls einen Dialog führen); trotzdem wird das philosophische Argument in der Sache offen gehalten und sein Ausgang nicht vorherbestimmt.

4.2. Si enim fallor, sum – eine theologische Erkenntnisgrundlegung cartesianischer Art? Drei Fragen nimmt sich Augustinus für die nun beginnende Untersuchung vor: 1. Wie ist offenbar, dass Gott ist? 2. Ist von ihm her alles, insofern es gut ist? 3. Ist auch der freie Wille unter diese Güter zu rechnen?62 Die erkenntnistheoretische Argumentation startet ohne theologische Voraussetzungen und ohne ein Postulat 'Gott'63: 61

"[...] Deum, sine quo nulla natura subsistit, nulla doctrina instruit" (civ. VIII, 4); "Si ergo natura nostra esset a nobis, profecto et nostram nos genuissemus sapientiam nec eam doctrina, id est aliunde discendo, percipere curaremus; [...] nunc vero quia natura nostra, ut esset, Deum habet auctorem, procul dubio ut vera sapiamus ipsum debemus habere doctorem, ipsum etiam ut beati simus suavitatis intimae largitorem" (civ. XI, 25). 62 "Quaeramus autem hoc ordine, si placet: primum, quomodo manifestum est deum esse; deinde, utrum ab illo sint quaecumque in quantumcumque sunt bona; postremo, utrum in bonis numeranda sit voluntas libera" (lib. arb. II, 20). 63 Zumindest für De libero arbitrio gilt das Urteil, das Fuhrer (2002: 172) für Augustins De magistro fällt, m.E. nicht, "daß eine solche Erkenntnislehre [sc. wie die Augustins] deshalb, weil sie auf einer theologisch begründeten Prämisse beruht, naiv wirken muß.

37 "A: 'Deshalb erfrage ich von dir zuerst, auf dass wir von dem Offenbarsten den Anfang nehmen, ob du selbst bist. Oder fürchtest du vielleicht, dass du dich bei dieser Frage täuschst? Denn tatsächlich, wenn du nicht wärest, könntest du dich überhaupt nicht täuschen.' E: 'Geh lieber gleich zum nächsten Punkt über!'" "A: 'Quare prius abs te quaero, ut de manifestissimis capiamus exordium, utrum tu ipse sis. An fortasse tu metuis ne in hac interrogatione fallaris? Cum utique si non esses falli omnino non posses.' E: 'Perge potius ad cetera'" (lib. arb. II, 20). Bis hierhin ähnelt die Argumentation bekanntlich der späteren Descartes'64; zugleich tut sie dies aber auch nicht. Denn auch wenn man diskutieren könnte, ob die Verben fallaris und falli medial oder passivisch aufzufassen sind, ist doch offensichtlich, dass Augustinus (gemäß dem oben aufgezeigten Unterschied zwischen den Perspektiven des Glaubens und der Philosophie) an dieser Stelle im Unterschied zu Descartes überhaupt nicht theologisch argumentiert und deshalb weder einen "nicht-allgütigen Gott" noch einen allmächtigen Täuscher(-Gott) postuliert,65 dem diese Täuschung anzulasten wäre.66 Aber immerhin wurde ein solcher systematischer Zusammenhang zwischen wahrer Erkenntnis und der Voraussetzung eines Gottes noch bis in die frühe Neuzeit [sc. etwa bei Descartes] vorausgesetzt. Nach der Elimination Gottes aus der Erkenntnistheorie scheint konsequenterweise für den Menschen des 20. Jh. nur noch hypothetisches, nicht mehr wahres Wissen möglich." Vgl. im Sinn der hier vertretenen Interpretation jetzt Brachtendorf (2005: 127): Augustinus konzipiere "einen Gottesbeweis, der keinerlei Glaubensprämissen enthält, sondern rein auf der Basis der Vernunft geführt wird"; vgl. ferner ders., (2006: 9). 64 S. Horn (1996: 118) zu den "[b]ekanntlich [...] insgesamt sechs Stellen" des augustinischen Œuvres, an denen Augustins Argumentation "frappant an Descartes erinnert". Diese Stellenangaben (vgl. ibd., Anm. 9) lassen sich um die oben genannte Passage aus lib. arb. ergänzen sowie auch um die Folgende: "At nisi qui vivit, fallitur nemo" (imm. an. 11, 18). 65 Vgl. Descartes: "Supponam igitur non optimum Deum, fontem veritatis, sed genium aliquem malignum eundemque summe potentem et callidum, omnem suam industriam in eo posuisse, ut me falleret" (Meditationes de Prima Philosophia, I, 22). 66 Deshalb ist es falsch zu behaupten, Descartes' Philosophie wäre theologisch unbeeinflusst bzw. ohne eine vorhergehende theologische Prämisse: "[...] the [sc. Augustine's] passage above is preceded by a prayer to God. Nothing like that is to be found in Descartes, certainly not before the existence of God is even proved" (Matthews, 1992: 142). Matthews unterscheidet hier im Hinblick auf Augustinus nicht die Perspektiven des Glaubens und der Philosophie voneinander; zum cartesischen Zirkel, dass Gott (in philosophischer Hinsicht) vorausgesetzt wird, bevor seine Existenz bewiesen ist, s. Matthews (ibd.,

38 Während Descartes das Ich-Bewusstsein losgelöst von einer Erkenntnis als unabhängige Größe in einer subjektiven Setzung annimmt, für welches alle inhaltliche Bestimmtheit der Täuschung unterliegen soll bzw. kann, hebt er letztlich die Unterscheidbarkeit von Täuschung und Nichttäuschung auf, da er einerseits nichts für tatsächlich erkennbar halten will (und das Bewusstsein von der 'äußeren Welt' separiert), zugleich aber auf dem Wissen beharrt, dass er es sei, der getäuscht werde. Auch in der Täuschbarkeit ist also noch eine bestimmte Erkenntnismöglichkeit des Ich vorausgesetzt. Wie aber ist dieses Wissen möglich ohne einen sicheren, täuschungsimmunen Erkenntnisakt, der die Möglichkeit der Unterscheidbarkeit von Täuschung und Nichttäuschung implizieren würde?67

203). Ferner vergleicht Matthews die obige Passage aus lib. arb. mit Descartes' Rede von dem 'allmächtigen Täuscher', legt dabei aber für fallaris / falli keine mediale, sondern eine passivische Übersetzung zugrunde: "'Are you, perhaps, afraid that you are being deceived by my questioning? But if you did not exist, it would be impossible for you to be deceived.' The similarity to Descartes is obvious" (Matthews, 1992: 11). Die Annahme, Gott würde die Menschen willkürlich täuschen, ist für Augustinus theologisch unsinnig (vgl. z.B.: "Si volunt invenire quod omnipotens non potest, habent prorsus, ego dicam: mentiri non potest", civ. XXII, 25; "qui neminem fallit", civ. XIII, 20; "[...] Deus, qui non est utique auctor creatorque mendacii", civ. XIV, 4). Deshalb interpretiert er (auf der Basis von Ps 96, 5) auch die 'Götter der Heiden' als Dämonen, böse Geister, die die Römer fälschlicherweise als Götter verehrt hätten ("[...] deos falsos [...] eos esse inmundissimos spiritus et malignissimos ac fallacissimos daemones", civ. IV, 1). Deren Schlechtigkeit zeige sich z.B. darin, dass sie die Menschen zu täuschen, sie in falschen Meinungen zu verfangen beabsichtigten, um sie darauf desto mehr bestrafen zu können (vgl. civ. II, 10, 13 und 14 sowie IV, 32). 67 "Cogitare? Hîc invenio: cogitatio est; haec sola a me divelli non nequit. Ego sum, ego existo, certum est" (Descartes, Med. II, 27). Vgl. A. Schmitt ([1989]. "Zur Erkenntnistheorie bei Platon und Descartes", in: Antike und Abendland 35; 54-82; 73): "Descartes ist allerdings nur an dem interessiert, was ihm durch diese Evidenz zur Gewißheit geworden ist: am Sein des Denkens selbst und seiner Vorstellungen. Dadurch mußte sich auch der Begriff des Seins ändern: von der Selbstgewißheit des Denkens und seiner Vorstellungen her wird das Sein zu einem leeren Begriff, zur bloßen Behauptung (Position) des Daseins einer Vorstellung überhaupt." – Vgl. ferner auch M. Schmitz ([1996]. "Cogito, ergo sum? Elemente einer nachidealistischen Descartes-Kritik in Plautus' Amphitruo", in: Satura lanx: Festschrift für Werner A. Krenkel zum 70. Geburtstag, hrsg. von Claudia Klodt. [Spudasmata 62]; 179-201) zur "nachidealistischen Descartes-Kritik" bei Plautus. Schmitz zeigt, dass nach Plautus' Amphitruo "gegen einen bösartigen und schlauen Betrügergott das sich seiner selbst vergewissernde Denken seine Identität keineswegs behaupten kann" (ibd., 196). Gleiches gilt auch gemäß Augustinus ("Ubi habent absconditam vel obrutam intellegentiam suam, quando secundum suam voluntatem et anima eorum et corpore mali-

39 Der gemeinsame Bezugspunkt zwischen Descartes und Augustinus ist bestenfalls vorläufiger Art.68 Beide ziehen aus der Sicherheit des 'Wenn ich getäuscht werde, bin ich es, der getäuscht wird (respektive: sich täuscht)' ganz verschiedene Schlussfolgerungen (was auch bei Descartes die Möglichkeit einer nachvollziehbaren Rationalität nicht im Ich-Bewusstsein, sondern im schlussfolgernden Denken selbst impliziert): Nicht nur, dass in theologischer Hinsicht Augustinus keinen "allmächtigen Täuscher" postuliert, markiert einen Unterschied, sondern auch, dass er in philosophischer Hinsicht die Gewissheit des eigenen Ichs69 nicht als ein selbstevidentes und gegen alle täuschungsanfälligen Erkenntnisakte immunes Ich-Bewusstsein von der 'äußeren Welt' abtrennt: Augustinus meint nicht, dass bei der Feststellung 'Ich bin es, der sich täuscht' das Ich das unerschütterliche Fundament aller Erkenntnisbegründung ist, sondern schließt aus dem Satz 'Wenn ich mich täusche, bin ich es, der sich täuscht' vielmehr, dass 'ich' folglich dann Anteil nicht nur an Sein und Leben, sondern auch an Erkenntnis habe. Denn ohne Erkenntnisfähigkeit wäre kein 'Ich' zu dieser Reflexionsleistung in der Lage, welche ja selbst bei der Erkenntnis, sich getäuscht – d.h. etwas (noch) nicht erkannt – zu haben, vorliegt, da auch etwas nicht zu wissen schon der erste, wenn auch minimale Erkenntnisgewinn ist, indem die tatsächlich nicht-wissende Meinung, es gebe gar nichts, was zu erkennen wäre, überwunden70 und die Ungenügsamkeit der Nicht-Erkenntnis einer bestimmten Sache erkannt wird.71 gnus utitur spiritus? Et quis confidit hoc malum in hac vita evenire non posse sapienti?", civ. XIX, 4). 68 Vgl. Fuhrer (2004: 101); O'Daly (1987: 171). Dass Descartes sich selbst von Augustinus distanziert hat, erläutert: C. Horn (1997). "Welche Bedeutung hat das Augustinische Cogito?", in: Klassiker Auslegen: Augustinus. De civitate Dei. Hrsg. von C. Horn. Berlin, 1997; 109-129; 113. 69 Horn (1997: 116) betont zu Recht, dass es Augustinus nicht um die Gewissheit seines eigenen Ichs geht, während bei Descartes "das Cogito dagegen mit gutem Grund streng an die Selbstreflexion und ihre grammatische Form, die erste Person Singular, geknüpft" ist. "Das menschliche Ich als absolute Größe anzuerkennen, wäre Augustinus als vollständige Verkehrung seines Anliegens erschienen" (ders., 1995: 87). Vgl. auch Rist (1994: 88): "Now we can further see that Augustine would criticize Descartes for making illegitimate use of his argument. Augustine does not build any certain knowledge of God and of the external world on the certain know-ledge of self." 70 Vgl. Platon, symp. 204a zum "Schlechten an der Unwissenheit". 71 Die Reihe der Implikationen, die ein Zweifelnder bei allem Zweifel schon als unbezweifelbar voraussetzen muss, führt Augustinus an anderer Stelle weiter aus: Nicht nur die Anteilhabe an Sein, Leben und Erkennen, sondern auch die mit der Erkenntnis verbundene Gedächtnis-, Urteils- und willentliche Strebetätigkeit hinsichtlich des Bezweifelten bzw.

40 Augustinus fragt Evodius, ob er erkenne (intelligisne?), dass er sei und lebe, und erschließt aus Evodius' bejahender Antwort unmittelbar, dass Evodius demzufolge eben nicht bloß sei und lebe, sondern auch Erkenntnis und die Fähigkeit zu erkennen habe.72 Augustinus fragt also nicht ein von aller konkreten Erkenntnistätigkeit losgelöstes und der rationalen Überprüfbarkeit entzogenes Bewusstsein des Evodius, ob es der Meinung sei, dass es ist. Die Evidenz des auf eine konkrete Bestimmtheit (auf Augustins Frage: 'Bist du und lebst auch?') gerichtezu Erkennenden, auf das sich alle diese Akte im Verbund miteinander beziehen, liegen der Möglichkeit des Zweifels voraus und erweisen deshalb für Augustinus (in Abgrenzung gegen solche den Geist entweder mit Körperlichem – z.B. Luft oder Feuer – gleichsetzenden oder ihn als eine Qualität des menschlichen Körpers definierenden Philosophenmeinungen) die Evidenz einer geistigen, immateriellen Substanz im Unterschied zum Körper (trin. X, 10, 14-16). Vgl.: Simon Harrison (1999). "Do We Have a Will?", in: The Augustinian Tradition. Ed. by G.B. Matthews. Berkeley, London, 195-205; 202. – Die Selbstevidenz des Geistes ergibt sich Augustinus zufolge also nicht aus einer als identisch gesetzten Ich-Vorstellung, zu deren Gunsten die Differenzierung der verschiedenen Erkenntnisakte und ihrer Voraussetzungen aufgegeben wird (vgl. aber: "cùm videam, sive (quod jam non distinguo), cùm cogitem me videre", Descartes, Med. II, 33; "[...] satis est quòd possim unam rem absque alterâ clare et distincte intelligere, ut certus sim unam ab alterâ esse diversam, quia potest saltem a Deo seorsim poni; et non refert a quâ potentiâ id fiat, ut diversa existimetur", Med. VI, 78; meine Kursive), sondern aus dem Kriterium des Bestimmtseins, das die Voraussetzung von jeglicher Erkenntnis ist, selbst aber nicht material als aus Körperlichem entstehend erklärt werden kann: Wenn also 'Denken' Sein, Leben, Erinnern, Streben etc. impliziert, so erkennt Augustinus dies aufgrund der Fragestellung: 'Was ist Denken bzw. was ist voraussetzungsnotwendig, damit überhaupt gedacht werden kann?' und schlussfolgert, dass etwas Denkendes, insofern es denkt, Anteil an Sein, Leben, rationalem Unterscheidungs- sowie Erinnerungsvermögen etc. haben muss und sich als solches in seinem Denkakt seiner selbst gewiss ist. Dies ist es aber nicht deshalb, weil es bereits vor einem eigentlichen Denkakt bzw. unabhängig von jeglichen Erkenntnisvoraussetzungen und davon, ob etwas gesehen oder rational durchdacht oder imaginiert wird, die sichere Vorstellung einer Selbstidentität hätte (s. Büttner [2000: 5861] und Matthews [1992: 19] dazu, dass auch Descartes die Prämisse 'was denkt, ist' in dem berühmten cogito, ergo sum sachlich implizit vorordnen muss, und vgl. zur gleichsam 'rückwirkend eingeführten Vorordnung des Seins' auch bei Descartes seine Bestimmung Gottes als des höchsten Seienden ["quid ex se est apertius, quàm summum ens esse, sive Deum, ad cujus solius essentiam existentia pertinet, existere?", Med. V, 69; "cognosco me ab aliquo ente a me diverso pendere", Med. III, 49]). 72 "A: 'Ergo quoniam manifestum est esse te nec tibi aliter manifestum esset nisi viveres, id quoque manifestum est, vivere te. Intelligisne duo ista esse verissima?' – E: 'Prorsus intellego.' – A: 'Ergo etiam hoc tertium manifestum est, hoc est intellegere te'" (lib. arb. II, 21). Vgl. Brachtendorf (2006: 17).

41 ten Denkaktes und der sich im rationalen Diskurs entfaltenden Erkenntnistätigkeit bezeugt die Tatsache des intellegere – d.h. dass Evodius schlussfolgernd denkt – durch sich selbst, durch ihre eigenen unterscheidenden und schlussfolgernden Vermögen anhand eines überprüfbaren Erkenntnisgegenstands ('Evodius'). Augustinus lässt Evodius im Folgenden präzisieren, dass 'Sein' in seinem niedrigsten Grad (der bloßen, äußerlichen Existenz) dem Stein zukomme, dieser aber nicht lebe. Das Vieh z.B. habe aber nicht nur Anteil an Sein, sondern lebe (d.h. es kann Bestimmtes erstreben bzw. vermeiden und sich auch in seiner körperlichen Konstitution selbst bewegen, zeigt von daher seine Beseeltheit im Unterschied zum unbelebt Seienden73). Das, was lebe, habe auch Sein, nicht notwendigerweise aber auch intellekthafte Erkenntnis (bestimmte seelische Unterscheidungsfähigkeiten auf der Ebene der sinnlichen Wahrnehmung möglicherweise schon74). Was aber sei, habe nicht notwendigerweise die Fähigkeit zum Leben und zur Erkenntnis, da auch Leichen zwar seien, aber nicht leben würden. Was aber nicht lebe, könne auch nicht erkennen.75 Die ontologisch verbundene Drei-Gestuftheit 'Sein, Leben, Erkennen' zeigt, dass Augustinus keine übergangslose Separiertheit eines empirischen Bereichs von einem transzendentalen ansetzt, wie Horn nahezulegen scheint, sondern (im Falle des Menschen) die Bezogenheit von Körper, Seele und Geist betont.76 73

Zum Kriterium der Beseeltheit bei Augustinus vgl. lib. arb. II, 52 – 53. Vgl. lib. arb. II, 27-28 und civ. VIII, 7. 75 "Quia cum tria sint haec, esse vivere intellegere, et lapis est et pecus vivit, nec tamen lapidem puto vivere aut pecus intellegere; qui autem intellegit, eum et esse et vivere certissimum est. […] Nam quod vivit, utique et est, sed non sequitur ut etiam intellegat, qualem vitam esse pecoris arbitror. Quod autem est, non utique consequens est ut et vivat et intellegat, nam esse cadavera possum fateri, vivere autem nullus dixerit. Iam vero quod non vivit, multo minus intellegit" (lib. arb. II, 22). 76 Horns (1997: 120-4) scharfe Scheidung zwischen empirischem und transzendentalem Ich im Falle Augustins ("Auf der Basis einer transzendentalen Interpretation läßt sich, wie ich glaube, das Cogito bei Augustinus und Descartes als sachlich eng verwandt ansehen", ibd., 123; "denn der Akzent liegt nicht auf der aktuellen Selbstvergewisserung eines empirischen Sprechers, sondern auf der Dauerhaftigkeit und Invarianz eines nicht-empirischen, inneren Bereichs", ibd., 120; "Der zentrale Punkt des [sc. augustinischen] Arguments ist die Entdeckung des Unterschieds, der zwischen empirischen Entitäten und dem nichtempirischen Ich besteht", ibd., 121) erscheint kaum angemessen, weil Augustinus von den 'empirischen Wahrheiten' zum sog. 'transzendentalen Bereich' vordringt, dieser aber nicht ein von aller Erfahrung radikal getrenntes Ich ist. Deshalb kann sich Augustinus an Evodius in seiner empirischen, körperlichen Gegenwart richten und ihn fragen, ob er erkenne, 74

42 Evodius' durch die Frage, ob er sei und lebe, hervorgerufener Denkakt hat dagegen bereits gezeigt, dass intellektives Erkennen (intellegere), das Erfassen eines auf überprüfbarer Einheitlichkeit basierenden Sachunterschieds, auch Anteil an Sein hat, während genau diese Aussage über ein bloßes Bewusstsein, welches nicht mehr in Beziehung zum Akt der unterscheidenden Erkenntnis steht oder überhaupt zu etwas Seiendem, gemäß Augustinus in dieser Weise nicht dass er sei – dies muss Horn am Ende seiner Ausführungen selbst zugeben: "Augustinus unterstellt bei seinem Cogito augenscheinlich, daß auch der eigene Körper und überdies das Fremdpsychische irrtumsfrei erweisbar seien. Von Descartes her gesehen liegt hierin ein gravierender Mangel [...]" (ibd., 128-9). 'Fremdpsychisch' ist aber ein für Augustins Wirklichkeitsauffassung unzutreffender Begriff, denn für Augustinus ist die Bezogenheit des wahrnehmbaren mit dem rationalen Bereich durch die Seele, die in beiden erkennend tätig ist (vgl. mus. VI, 5, 10), von entscheidender Wichtigkeit und erst von diesem 'Mittelbereich' führt der Weg zum auf rein geistige Weise seienden "Haupt und Auge der Seele" und letztlich zu Gott. Für Augustinus gibt es also keinen radikalen Bruch zwischen sog. empirischer Realität und transzendentalem Sein, vielmehr gehört der Körper zur Natur des Menschen und wird ebenfalls erlöst ("Haec [sc. corpora] enim non ad ornamentum vel adiutorium, quod adhibetur extrinsecus, sed ad ipsam naturam hominis pertinent", civ. I, 13; "Nam et corpus nos habere manifestum est et vitam quandam qua ipsum corpus animatur atque vegetatur, quae duo etiam in bestiis agnoscimus, et tertium quiddam quasi animae nostrae caput aut oculum aut si quid congruentius de ratione atque intellegentia dici potest, quam non habet natura bestiarum", lib. arb. II, 53; vgl. auch beata v. 2, 7; zur Erlösung des Körpers vgl. civ. XIV, 10 sowie Drecoll [1999: 105]). Horn scheint die Bedeutung des Empirischen für Augustinus dagegen zu mindern ("Auch wenn [...] manche Augustinische Texte die Gewißheit von Leib und Leben behaupten [...]", ibd., 120). Augustins Seinsbegriff ist grundsätzlich nicht empiriefeindlich – auch ein Stein ist; im Unterschied zu ihm ist Evodius aber nicht nur, sondern lebt und erkennt auch, hat also eine höhere, über das Empirische hinausgehende Form von 'Sein' –, sondern geht von empirisch-wahrnehmbaren Bestimmtheiten als niedrigsten Formen von 'Sein' aus: "Mit dem Handgreiflichsten wird die Untersuchung begonnen: mit dem äußerlichen Sein des Menschen" (Neumann [1986: 114]; zur Verbundenheit der ontologischen Stufen bei Augustinus vgl. ferner: A. Schmitt [1990]. "Zahl und Schönheit in Augustins De Musica, VI", in: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft 16, 221-237; 224). Die Wahrnehmbarkeit eines beseelten Körpers lässt qua seiner Selbstbewegtheit gerade eine akzidentelle Erkenntnis etwa eines Menschen als eines seelischen Wesens durch seine Körperhaftigkeit zu, so dass Augustinus sagen kann, dass wir (akzidentell) durch die (bzw. mit Hilfe der) körperlichen Wahrnehmungen den Unterschied zwischen lebenden und unbelebten Körpern 'sehen' – genauer müsste man wohl sagen: durch die rationale Beurteilung des Gesehenen erkennen ("Nam unde viventia discernimus a non viventibus corpora, nisi corpora simul vitasque videamus, quas nisi per corpus videre non possumus?", civ. XXII, 29).

43 getroffen werden kann: Entweder es ist gar nicht oder es wäre ein nicht-seiendes Bewusstsein. Dies aber wäre unplausibel, da auch das Selbst-Bewusstsein ein Bewusstsein von etwas sein und auf bestimmte (und insofern nachvollziehbare) Weise zustande kommen muss, seine subjektiven Vorstellungen (auch die eigene Selbstgewissheit) sich ohne einen nachvollziehbaren Erkenntnisweg jedoch jeglicher erkenntnistheoretischen Begründbarkeit entziehen. Die Abgrenzung des Ich-Bewusstseins von der Welt, von den eigenen Erkenntnisakten und inhaltlichen Bestimmtheiten, deren es sich bewusst ist bzw. sein könnte, ist also genau der Punkt, an dem sich Augustins Weg von dem Descartes' sachlich trennt. Wie sich gleich (Kap. 4.3) noch genauer zeigen wird, ist das Erkenntniskriterium gemäß Augustins Erkenntnisgrundlegung nicht ein von den präzise bestimmbaren Erkenntnisakten ablösbares Bewusstsein, sondern es sind diese in sich jeweils als etwas Einheitliches unterscheidbaren Erkenntnisakte selber (die Descartes nicht für unterscheidensnotwendig hält angesichts des von ihm vorgeordneten Bewusstseins, des cogitare77). Wenn Augustinus aus der Prämisse 'Wenn ich mich täusche' schlussfolgert, dass 'ich' also bin, lebe und erkenne, so folgt für ihn daraus ebenso, dass 'ich' deshalb auch weiß, dass ich weiß, und dass es für das 'Ich' somit keinen Grund gibt, im (totalen) skeptischen Zweifel zu verharren. Vielmehr ist Erkenntnis grundsätzlich möglich, weil jeder Zweifel bereits die grundsätzliche Unterscheidbarkeit von Täuschung und NichtTäuschung voraussetzen muss (sonst könnte man nicht zweifeln, ob etwas wahr oder falsch ist). Ist aber dies unterscheidbar, kann man, so Augustinus nicht berechtigterweise daran zweifeln, ob Wahrheit ist; denn wäre sie nicht, könnten ja

77

Vgl. Descartes: "cùm videam, sive (quod jam non distinguo), cùm cogitem me videre" (Med., II, 33); "Idem denique ego sum qui sentio, sive qui res corporales tanquam per sensus animadverto: videlicet jam lucem video, strepitum audio, calorem sentio. Falsa haec sunt, dormio enim. At certe videre videor, audire, calescere. Hoc falsum esse non potest; hoc est proprie quod in me sentire appellatur; atque hoc praecise sic sumptum nihil aliud est quàm cogitare" (ibd., 29). Das Entscheidende ist also für Descartes, ob er gemäß seinem Bewusstsein der sicheren Meinung ist, dass er sieht, und nicht, ob er tatsächlich gerade sieht, denn es ändere sich nichts an der sicheren Vorstellung des Ich-Bewusstseins (in Wirklichkeit schlafe er schließlich). Dazu, dass bei Descartes "Wahrnehmen, Vorstellen, Wollen usw. [...] nur Zustände (modi) der denkenden Substanz, d.h. des dabei immer tätigen Bewußtseins" sind und keine erkenntnistheoretisch-sachlich differenzierten Erkenntnispotenzen bzw. – akte, vgl. Büttner (2000: 54-55).

44 auch Täuschung und Nichttäuschung (als reale Möglichkeiten) nicht unterschieden werden und man könnte nicht einmal zweifeln noch sich täuschen.78 "Weil ich also bin, wenn ich mich täusche – wie täusche ich mich darüber, dass ich bin, wo doch sicher ist, dass ich bin, wenn ich mich täusche? Weil ich es also wäre, der ich mich täuschte, täusche ich mich, wenn ich mich auch täuschte, zweifellos nicht darin, dass ich weiß, dass ich bin. Daraus folgt aber, dass ich mich auch darin, dass ich weiß, dass ich weiß, nicht täusche." "Quia ergo sum si fallor, quo modo esse me fallor, quando certum est me esse, si fallor? Quia igitur essem qui fallerer, etiamsi fallerer, procul dubio in eo, quod me novi esse, non fallor. Consequens est autem, ut etiam in eo, quod me novi nosse, non fallar" (civ. XI, 26). Der kurze Vergleich zwischen Descartes und Augustinus zeigt, dass Augustinus aus der Gewissheit 'Wenn ich mich auch täusche, so bin ich doch' nicht den Schluss für möglich hält, dass Ontologie und Erkenntnis grundsätzlich etwas Zweifelhaftes sein könnten; sondern mit dieser Gewissheit sieht Augustinus – in allgemeinster Hinsicht – die Möglichkeit der Erkenntnis in der Orientierung am einheitlichen Bestimmt-Sein von Etwas als erwiesen an: "Und für die rationalen Seelen gilt, dass jedes Streben der [sc. rationalintellektiven] Erkenntnis (appetitus cognitionis)79, an der sich jenes Wesen erfreut, jedes [sc. Einzelne], das es erfasst, sowohl auf Einheit zurückführt als auch bei einem Irrtum nichts anderes flieht als verwirrt zu werden durch unerfassbare Doppeldeutigkeit. Jedes Doppeldeutige aber – weshalb ist es lästig außer dadurch, dass es keine bestimmte Einheit hat?" "Inque ipsis rationalibus animis omnis appetitus cognitionis, qua illa natura laetatur, et ad unitatem refert omne quod percipit et in errore nil fugit aliud quam incomprehensibili ambiguitate confundi. Omne autem ambiguum unde molestum est, nisi quia certam non habet unitatem?" (lib. arb. III, 238)80 78

"Omnis ergo, qui utrum sit veritas dubitat, in se ipso habet verum, unde non dubitet, nec ullum verum nisi veritate verum est. Non itaque oportet eum de veritate dubitare, qui potuit undecumque dubitare" (vera rel. 206). 79 Der Zusammenhang der beiden Aspekte 'Erkennen' und 'Streben' bzw. 'Wille' wird durch diese Stelle noch einmal explizit für Augustinus belegt. Vgl. ferner: Simon Harrison (1999: 202-3). 80 Deshalb vertritt Augustinus trotzdem keine 'langweilige Ästhetik' (vgl. Schmitt, 1990: 230), die das kunstvoll gestaltete Doppeldeutige verwirft. Denn lediglich das unerfassbare Ambigue ist hier als "fliehenswert" charakterisiert, nicht aber dasjenige Vieldeutige, hinter bzw. in dem eine höhere Einheitlichkeit aufscheint (vgl. auch vera rel. 167). Dass dies

45

Welches sind nun nach Augustinus die einzelnen Erkenntnisvermögen, die sich an solchem einheitlich bestimmten und deshalb erkennbaren Sein orientieren?

keine unangemessene Augustinusinterpretation ist, zeigt z.B. Augustins tolerante Offenheit gegenüber verschiedenen Genesisauslegungen (conf. XII, 25, 35, s. dazu: C. Mayer [1998]. "Confessiones 12. 'Caelum caeli': Ziel und Bestimmung des Menschen nach der Auslegung von Genesis I,1 f.", in: Die Confessiones des Augustinus von Hippo. Einführung und Interpretationen zu den drei zehn Büchern. Hrsg. von N. Fischer und C. Mayer, Freiburg, 1998; 553-601; 576ff.; vgl. ferner: D. Hattrup [2006]. "'Die Fülle der sehr wahren Meinungen' – Zur Hermeneutik von Confessiones 12", in: Schöpfung, Zeit und Ewigkeit, 81-105; vgl. ferner Fuhrer [2002: 174-6]): Kein Interpret soll denken, ihm allein gehöre die Wahrheit, die vielmehr allen gehört, so dass nichts hindert, in der heiligen Mehrdeutigkeit des Textes – unabhängig von Moses' 'Autorenintention' – Verschiedenes zu erkennen, solange die Lesarten von der Sache her miteinander in Einklang stehen und einander nicht widersprechen, vgl.: K. Pollmann (1999). "Hermeneutical Presuppositions", in: Augustine through the Ages, 426,1 – 429,2; 428,1. In diesem Sinn spricht L. Schwienhorst-Schönberger ([2006]. "Augustin und die moderne Bibelwissenschaft", in: Schöpfung, Zeit und Ewigkeit, 169-184; 172) sogar davon, Augustinus nehme "den von Roland Barthes proklamierten Tod des Autors vorweg" und rechne mit der "Unmöglichkeit, die ursprüngliche Bedeutung (sprich: Autorintention) des Textes klar zu erfassen" (ibd., 179); vgl. auch Brachtendorf (2005: 274-7). Jeder Ausleger erkennt nach Augustinus seine Auslegung nirgendwo sonst als in dem einen Licht der Wahrheit (vgl. conf. XII, 18, 27 und 25, 35; s.u. Kap. 4.5). Relevant ist für Augustinus also, dass der in sich einheitliche, umfassende theologische Sinn und Inhalt gewahrt bleibt: "Er [sc. Augustin] ist also keineswegs der gestrenge Kirchenvater, der ex cathedra unumstößliche Lehren verkündet, sondern vielmehr – wenigstens in seinen sprachlichen Äußerungen – der Skeptiker, der seine Meinungen nur solange gelten läßt, bis sie falsifiziert werden können" (Fuhrer [2002: 185]; vgl.: "Quamvis neminem velim sic amplecti omnia mea, ut me sequatur, nisi in iis in quibus me non erasse perspexerit", persev. 21, 55; ferner vera rel. 50). Dass erst die spätere Tradition Augustinus eine unanfechtbare Autorität zuschrieb, hat bereits Erasmus gesehen, vgl. dazu: K. Pollmann ([2003]. St. Augustine the Algerian. Göttinger Forum für Altertumswissenschaften, Beihefte Bd. 12. Hrsgg. S. Döpp und J. Radicke. Göttingen; 30, Anm. 87).

46

4.3. Sinnliche Wahrnehmung als aktive Erkenntnisform in Beziehung zum potentiellen Gegenstand der Wahrnehmungserkenntnis Augustinus fragt Evodius, nachdem er mit der Antwort auf die Frage 'Bist du und lebst du?' seine grundsätzliche Fähigkeit zum schlussfolgernden Denken unter Beweis gestellt hat, ob er auch um die bekannten körperlichen Sinneswahrnehmungen wisse – Evodius bejaht.81 Während zunächst nur in allgemeinster Hinsicht die Frage, ob Evodius schlussfolgernd zu denken vermag, zur Disposition stand, geht Augustinus im Dialog einen Schritt weiter und will ergründen, was eigentlich Erkenntnis ist und beginnt folgendermaßen: "A: 'Was glaubst du, bezieht sich auf die Wahrnehmung des Sehens? D.h., was glaubst du, nehmen wir wahr durch das Sehen?' E: 'Alles mögliche Körperliche.' A: 'Nehmen wir etwa auch Hartes und Weiches durch das Sehen wahr?' E: 'Nein.' A: 'Was bezieht sich also eigentümlicherweise (proprie) auf die Augen, was nehmen wir vermittels ihrer (per eos) wahr?' E: 'Die Farbe.'" "A: 'Quid putas pertinere ad videndi sensum? Id est, quid putas nos videndo sentire?' E: 'Quaecumque corporalia.' A: 'Num etiam et dura et mollia videndo sentimus?' E: 'Non.' A: 'Quid ergo proprie ad oculos pertinet, quod per eos sentimus?' E: 'Color'" (lib. arb. II, 25). Evodius antwortet zuerst so, wie es dem alltäglichen Verständnis entspricht, man sehe alles Mögliche – jedoch schon mit dem nicht unwichtigen Zusatz: alles Körperliche, wodurch er unmerklich den Möglichkeitsraum eines auf bestimmte Weise unkörperlichen Seins offen lässt. Augustinus zwingt ihn zur Präzision: Man nehme eben nicht alles Körperliche wie 'Haus' und 'Tisch' durch das Sehen wahr, sondern eigentümlich – d.h. insofern nur das Sehen als Sehen gemeint ist – 81

"A: 'Dic mihi iam utrum illos vulgatissimos corporis sensus habere et noveris, videndi et audiendi et olfaciendi et gustandi et tangendi.' – E: 'Novi'" (lib. arb. II, 25). Vgl. trin. XI, 1, 1.

47 nur etwas Bestimmtes, nämlich Farbiges. Augustinus schließt in seiner Nachfrage zugleich jegliche materialistische Position aus, die Augen (also die materialen Organe) würden – autark ohne sie bewegende und belebende Ursache (Seele82) – das Vermögen des Sehens besitzen, indem er fragt, was wir vermittels der Augen, also der materialen Organe wahrnehmen, ohne die man nicht sehen kann. Hier findet sich bereits ein erster Hinweis darauf, dass die Wahrnehmungsorgane in ihrer materialen Ausprägung nicht einfach passiv affiziert werden, sondern dass ein aktives Subjekt (sentimus; vgl.: "sentientem per corpus animam", conf. VII, 17, 23), das vermittels der Organe wahrnimmt (per eos),83 erst in dieser Aktivität etwas Bestimmtes erkennt. Im Folgenden wird analog erörtert, dass der Hörsinn Tönendes, der Geruchssinn Riechbares, der Geschmackssinn Schmeckbares und der Tastsinn Weiches und Hartes, Glattes und Rauhes und Ähnliches jeweils auf eigentümliche Weise wahrnehmend erkennt, dass also jeder Sinn etwas bestimmtes Einheitliches wahrnehmend erkennt, während Riechbares dem Sehvermögen der Augen als Riechbares unzugänglich bleibt.84 Augustinus macht Evodius darauf aufmerksam, dass man körperhafte Formen hinsichtlich ihrer Größe oder Kleinheit, Viereckigkeit oder Rundheit usw. sowohl 82

"[...] corpus, quo inferiore tamquam famulo vel tamquam instrumento utitur anima" (civ. X, 6); "Sensus autem oculorum non ob aliud sensus corporis dicitur nisi quia et ipsi oculi membra sunt corporis, et quamvis non sentiat corpus exanime, anima tamen commixta corpori per instrumentum sentit corporeum et idem instrumentum sensus vocatur" (trin. XI, 2, 2). In De musica beschreibt Augustinus genauer, dass z.B. das Hörvermögen seine Voraussetzungen in der Seele und in dem körperlichen Hörorgan hat ("'Quid, sensum aurium animone an corpori an utrique concedis?' – 'Utrique'", mus. I, 4, 8); in lib. arb. II, 27 spricht er insofern verkürzt: "Ille enim sensus [sc. videndi] in oculis est, ille autem [sc. sensus interior] in ipsa intus est anima […]." 83 Vgl. der Sache nach Platon, Theait. 184c. 84 "A: 'Quid ad aures?' – E: 'Sonus.' – A: 'Quid ad olfactum?' – E: 'Odor.' – A: 'Quid ad gustatum?' – E: 'Sapor.' – A: 'Quid ad tactum?' E: 'Molle vel durum, lene vel asperum et multa talia'" (lib. arb. II, 25). Auch andernorts impliziert Augustinus, dass man nicht einfach 'Körper an sich' wahrnehmend erkennt, sondern eine bestimmte Form eines Körpers bzw. an einem Körper – wie beim Sehen (visio) exemplarisch der Sehsinn des Hinschauenden "diese Form des Körpers" (eam speciem corporis) wahrnehmend erkennt, aus der er seine inhaltliche Formung bzw. Bestimmtheit empfängt (ex qua sensus formatur) ("[...]; et quod est aspicientis visio ad eam speciem corporis ex qua sensus formatur, hoc est visio cogitantis ad imaginem corporis in memoria constitutam ex qua formatur acies animi", trin. XI, 4, 7). Vgl. O'Daly (1987: 95): "Like Aristotle, he argues that perception is the ability to receive forms without matter."

48 durch den Tastsinn als auch den Sehsinn wahrnehmend erkennt und diese insofern nicht auf eine nur einem Sinn eigentümliche Weise, sondern auf eine mehreren Sinnen gemeinsame Weise wahrgenommen werden.85 Es schließt sich hier also eine Unterscheidung zwischen einer jedem einzelnen Sinn nur als ihm selbst zukommenden Erkenntnisweise (proprium) und den den einzelnen Sinnen nicht spezifisch, sondern gemeinsam zukommenden Erkenntnissen an, die sie nicht eigentümlich, sondern akzidentell wahrnehmen86: Denn auch wenn Augustinus hier verkürzt spricht, steht doch dahinter, dass z.B. der Hörsinn zwar eigentümlich Tonartiges (im Sinn des klingenden Tons) wahrnehmend zu erkennen vermag, zugleich aber auch Bewegung, sofern nämlich etwas Tonartiges seinen Ort wechselt. Dabei wird nicht außer Acht gelassen, dass der Hörsinn eigentümlich nur das Tonartige als Ton erkennt, aber eben dadurch vermittelt auch das, was dem Tonartigen zukommt: z.B. die Ortsbestimmung und –bewegung. Womit aber unterscheidet man (diiudicare),87 welche Erkenntnis zu dem jeweiligen Sinn eigentümlich gehört und was alle oder wenigstens einige der Sinne gemeinsam erkennen? Dies ist nach Augustinus nicht durch einen der fünf Sinne zu unterscheiden, sondern durch einen bestimmten 'inneren Sinn'.88 Hinter diesen wiederum sehr kurz gefassten Worten verbirgt sich kein geringeres Problem als das, wie eigentlich die fünf Sinne zueinander bezogen sind, d.h. wodurch die einheitliche Verbundenheit der fünf Sinne miteinander gewährleistet wird: Denn 85

"A: 'Quid? Corporum formas, magnas breves quadras rotundas et si quid huiusmodi est, nonne et tangendo et videndo sentimus et ideo nec visui proprie nec tactui tribui possunt, sed utrique?' – E: 'Intellego.' – A: 'Intellegis ergo et quaedam singulos sensus habere propria de quibus renuntient, et quaedam quosdam habere communia?' – E: 'Et hoc intellego'" (lib. arb. II, 26). 86 Vgl. analog zu der wichtigen Unterscheidung zwischen der eigentümlichen und der allgemeinen Wahrnehmungsweise der Sinn bei Aristoteles, De anima II, 12 und III, 1: W. Bernard (1988). Rezeptivität und Spontaneität der Wahrnehmung bei Aristoteles. Versuch einer Bestimmung der spontanen Erkenntnisleistung der Wahrnehmung bei Aristoteles in Abgrenzung gegen die rezeptive Auslegung der Sinnlichkeit bei Descartes und Kant. Saecula Spiritalia, Bd. 19. Baden-Baden; 87-132. Vgl. dazu auch unten Anm. 106. 87 Diese Stelle (wie auch lib. arb. II, 33) belegt, dass im Dialog auch Augustinus und nicht bloß, wie Thimme (1962: 124, Anm. 1) meint, Evodius das Verb diiudicare gebraucht. Es liegt kaum nahe, mit Thimme hinter diiudicare und discernere einen begrifflichen Unterschied ausmachen zu wollen. 88 "A: 'Quid igitur ad quemque sensum pertineat et quid inter se vel omnes vel quidam eorum communiter habeant, num possumus ullo eorum sensu diiudicare?' – E: 'Nullo modo, sed quodam interiore ista diiudicantur'" (lib. arb. II, 26). Vgl. ebenso die interior vis in conf. VII, 17, 23.

49 wenn nur jeder Sinn separat für sich wahrnehmend erkennen würde, gäbe es nicht nur keine Beziehung zwischen ihnen (es wäre nicht möglich, dass man z.B. den Sänger nicht bloß hört, sondern akzidentell auch sehen kann, indem man vermittels des Sehsinns auf den beim Singen geöffneten Mund, die Gestik u.ä. achtet); es wäre auch eine Unterscheidung der den verschiedenen Sinnen gemeinsamen Wahrnehmungen nicht möglich: Woher könnte man sonst sagen, dass das Runde sowohl tastbar als auch sehbar, der Honig sowohl schmeckbar wie sehbar ist usw., wenn es keine Unterscheidungsinstanz gäbe, die das Schmeckbare und Sehbare trotz seiner Verschiedenheit als auf dasselbe bezogen erkennt? Es muss also ein übergeordnetes, in und zwischen den Einzelsinnen Einheit stiftendes Prinzip geben89: "A: 'Ist aber vielleicht dieses [sc. übergeordnete Prinzip, der innere Sinn] das rationale Denken, welches die Tiere nicht haben? Denn, wie ich meine, erfassen wir dieses [sc. was wir hier gerade unterscheiden] durch das rationale Denken und erkennen, dass es sich so verhält.' E: 'Eher glaube ich, dass wir durch das rationale Denken erfassen, dass es einen inneren Sinn gibt, zu dem von diesen fünf bekannten [sc. Sinnen] alles zurückgewendet wird. Denn es ist doch etwas Verschiedenes, womit das Tier sieht, und etwas Verschiedenes, womit es das, was es sehend wahrnimmt, entweder vermeidet oder erstrebt (appetit). Denn der eine Sinn ist in den Augen [sc. und geht vermittels der Augen auf Äußerliches], der andere aber ist im Innern der Seele, vermittels dessen die Tiere nicht nur das, was gesehen, sondern auch das, was gehört und alles, was von den übrigen körperlichen Sinnen erfasst wird, entweder erfreut erstreben und für sich ergreifen oder angewidert vermeiden und verschmähen. Dieser aber kann weder als Sehsinn noch Hörsinn noch Geruchssinn noch Geschmackssinn noch Tastsinn bezeichnet werden, sondern als irgendetwas anderes, das allen [sc. Sinnen] gemeinsam vorsteht. Was wir mit dem rationalen Denken erfassen, dieses Sel-

89

Vgl. zu demselben Problem die Erläuterung bei Aristoteles (De anima 427a6-16), dass es etwas Einheitliches und zugleich Zweifaches sein müsse, das die Einzelsinne einshaft durchdringt: So wie ein Punkt in seiner Teillosigkeit durch das Einanderschneiden zweier Geraden aktualisiert ist, dadurch aber auf beiden Geraden liegt, wird dasselbe übergeordnete, wahrnehmende Unterscheidungsvermögen auf zwei- bzw. mehrfache Weise in den Einzelsinnen gebraucht, ohne seine Einheitlichkeit zu verlieren – es ist dem Sein nach Eines und unteilbar, aber der Energeia nach mehrfach teilbar.

50 bige kann ich, wie ich sagte, gleichwohl nicht 'rationales Denken' nennen, weil auch die Tiere offenbar darüber verfügen.'"90 "A: 'Num forte ipsa est ratio, qua bestiae carent? Nam, ut opinor, ratione ista conprehendimus et ita se habere cognoscimus.' E: 'Magis arbitror nos ratione conprehendere esse interiorem quendam sensum ad quem ab istis quinque notissimis cuncta referantur. Namque aliud est quo videt bestia et aliud quo ea quae videndo sentit vel vitat vel appetit. Ille enim sensus in oculis est, ille autem in ipsa intus anima, quo non solum ea quae videntur, sed etiam ea quae audiuntur quaeque ceteris capiuntur corporis sensibus, vel adpetunt animalia delectata et adsumunt vel offensa devitant et respuunt. Hic autem nec visus nec auditus nec olfactus nec gustatus nec tactus dici potest, sed nescio quid aliud quod omnibus communiter praesidet. Quod cum ratione conprehendamus, ut dixi, hoc ipsum tamen rationem vocare non possum, quoniam et bestiis inesse manifestum est'" (lib. arb. II, 26-28). Diese Stelle bezeugt nochmals die für Augustinus von der Forschung oft bestrittene Verbindung zwischen willentlichem Streben (appetere, s.o. Kap. 3.3) und den Erkenntnisvermögen91 und spricht auch den Tieren auf der Ebene der Wahrnehmung Erkenntnis, Streben nach dem Angenehmen, Vermeiden des Unangenehmen und Gedächtnis zu,92 wenn auch nicht auf der Ebene des rationalen und intellektiven Denkens, die dem Menschen vorbehalten ist. 90

Dieselbe Begründung dafür, dass der innere Sinn bzw. Gemeinsinn nicht schon ein rational-intellektives Vermögen ist, weil auch die rational nicht begabten Tieren über ihn verfügen, findet sich bei Aristoteles, s. Bernard (1988: 161). Dabei geht es nicht um eine Geringschätzung der tierischen Erkenntnisvermögen, sondern um eine Abgrenzung zwischen rein begrifflicher und auf sinnliche Wahrnehmung eingeschränkter Erkenntnis, die aber zumindest akzidentell (also auf nicht eigentümlich rationale Weise) auch schon Begriffliches erkennen kann (angefangen etwa mit der Unterscheidung 'Herrchen' bei Hunden bis zum Spüren von Stimmungen ['Traurigkeit', 'Freude'] usw.). 91 S.o. Anm. 32. Zum Zusammenhang zwischen Sein, Erkennen und Wollen s. im Anhang: Exkurs 4: Augustins angebliche Begriffstrennung... und vgl.: "Dico autem haec tria: esse, nosse, velle. Sum enim et scio et volo: sum sciens et volens et scio esse me et velle et volo esse et scire" (conf. XIII, 11, 12). In De Trinitate XI ist der für Augustinus unmittelbare Zusammenhang zwischen Wollen und Erkenntnis in besonderer Weise greifbar, weil Augustinus die für alles Erkennen notwendige Aufmerksamkeit (intentio) bei dem jeweiligen Erkenntnisakt dem willentlichen Moment (voluntas) zuschreibt. 92 Obwohl sie kein rationales Unterscheidungsvermögen besitzen, wollen nach Augustinus in bestimmter Weise auch Tiere und haben insofern "willentliche Ursachen", haben aber im Unterschied zum Menschen keine zurechenbare Verantwortung (vgl. civ. V, 9; XII, 4). Tiere haben Gedächtnis: "[...] puto te negare non posse, bestias habere memoriam" (mus. I, 4, 8; vgl. ferner civ. XI, 27); s. dazu O'Daly (1987: 98-99).

51 Allgemein ist zu unterstreichen, dass Augustinus an keiner Stelle das Kriterium der Bewusstheit bei einer dieser Erkenntnisarten einführt, sondern zunächst die analytische Tätigkeit des jeweiligen Sinns beschreibt. Da, wie oben in Kap. 3.3 beschrieben wurde, auch ein Willensakt nach Augustinus gemäß der hier vertretenen Interpretation mit der Erkenntnistätigkeit verbunden und nicht unabhängig von ihr ist, muss man damit rechnen, dass ein Erkenntniskriterium in Zusammenhang mit dem Akt des willentlichen Strebens steht, welches nicht das Bewusstsein ist, und dass deshalb eine dichotomische Aufspaltung des augustinischen Willenskonzeptes in bewusstes und unbewusstes Wollen unwahrscheinlich ist.93 Augustinus unterstreicht im Folgendem, dass der innere Sinn noch nicht begriffliches Wissen ermöglicht, welches nur auf der Basis der diskursivschlussfolgernden Ratio errungen werden kann. Denken im eigentümlichen Sinn ist nach Augustinus somit mehr als nur das Auswerten von 'Sinnesdaten'; andererseits ist die menschliche Sinneswahrnehmung nicht unabhängig von dem sie leitenden Denken.94 Dass man aber den Unterschied erfassen kann zwischen Hören und Sehen, da z.B. Hörbares qua Hörbarem nicht von dem Sehsinn wahrgenommen wird (wenn man den Sänger sieht, sieht man bestimmte Farben in bestimmten Grenzen, durch die man akzidentell 'Mensch' erkennt und diesem akzidentell das Singen, die Ursache des Tönens zuordnet), ist eine Leistung des rational unterscheidenden Denkens (rationali animadversione et cogitatione discernimus).95 Die Verba intellegere (intellekthaft-begriffliches Denken) und sentire (sinnliches Wahrnehmen) bezeichnen hier terminologisch präzise einen bestimmten Sachunterschied zwischen verschiedenen Erkenntnisarten. Augustinus versucht nun den Akt sinnlicher Wahrnehmung noch präziser zu bestimmen und setzt damit zum schwierigsten Teil der Wahrnehmungslehre an:

93

S. dazu im Anhang: Exkurs 4: Augustins angebliche Begriffstrennung... . Vgl. Schmitt (1990: 227-9) zu der allem Bewusstsein vorausliegenden Erkenntnisaktivität der Seele bei Augustinus gemäß De musica. 94 Vgl. lib. arb. II, 35. 95 "Sed nisi istum [sc. interiorem sensum] transeat, quod ad nos referatur a sensibus corporis, pervenire ad scientiam non potest. Quicquid enim scimus, id ratione conprehensum tenemus. Scimus autem, ut de ceteris taceam, nec colores auditu nec voces visu posse sentiri. Et cum hoc scimus, nec oculis nec auribus scimus neque illo sensu interiore quo nec bestiae carent. Non enim credendum est eas nosse nec auribus sentiri lucem nec oculis vocem, quoniam ista non nisi rationali animadversione et cogitatione discernimus" (lib. arb. II, 29-30).

52 Wie nimmt der jeweilige Sinn wahr und wie nehmen wir wahr, dass wir wahrnehmen? "Bemühe dich, auch dieses zu unterscheiden (diiudicare): Denn ich glaube, dass du nicht bestreitest, dass die Farbe etwas Verschiedenes ist und die Farbe zu sehen etwas Verschiedenes ist und es ebenso etwas Verschiedenes ist, auch dann, wenn keine Farbe zugrunde liegt, den Sinn zu besitzen, mit dem gesehen werden könnte, wenn sie zugrunde liegen würde." "Enitere etiam ista diiudicare. Nam credo te non negare aliud colorem esse et aliud colorem videre et item aliud, etiam cum color non subest, habere sensum quo videri posset si subesset" (lib. arb. II, 33). Obgleich Augustinus die vielleicht wichtigsten Elemente seiner Wahrnehmungstheorie in aller Kürze – in nur einem Satz – durchgeht, lassen sich bei genauer Lektüre anhand des Beispiels des Sehens folgende allgemeine Schlussfolgerungen ziehen: Es besteht ein Unterschied zwischen dem, was von sich her etwas potentiell Wahrnehmbares ist (z.B. Farbe etwas Sichtbares), und dem aktualen Wahrnehmen (hier: dem Akt des Sehens). Denn das aktuale Wahrnehmen (Sehen) setzt etwas voraus, das die Möglichkeit zum Wahrnehmen (Potenz zum Sehen) hat, die unabhängig davon besteht, ob gerade etwas Wahrnehmbares (Sichtbares) existiert und für den Wahrnehmenden die Grundlage einer Wahrnehmungserkenntnis bietet. Es gibt daher für das tatsächliche Sehen zwei Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen: Erstens muss etwas potentiell fähig sein, wahrgenommen (gesehen) zu werden; zweitens muss etwas potentiell fähig sein, wahrzunehmen (zu sehen). Letzteres, also die Fähigkeit zu einer Wahrnehmungserkenntnis (Sehen), wird von Augustinus nicht als ein Automatismus beschrieben, als ein (modern gesprochen) 'rezeptiver Input' von Sinnesdaten, sondern als eine Möglichkeit, kraft der wahrgenommen bzw. gesehen werden kann (quo videri posset), wenn das entsprechende Substrat (Farbe) vorliegt. Diese Fähigkeit bzw. das Vermögen zur Wahrnehmungserkenntnis ist besonders hervorzuheben: Wenn sinnliches Wahrnehmen (Sehen) nach Augustinus nur ein passives, subjektives Rezipieren objektiv gegebener Daten wäre, wäre die Unterscheidung zwischen dem nur potentiell und dem aktual Wahrnehmenden, also zwischen dem, was zu sehen in der Lage ist, und dem, was tatsächlich sieht, nicht notwendig: Es wäre dann nur dichotomisch zwischen Wahrnehmbarem (Farbe) und dem, was Farbe aufnimmt, zu unterscheiden; immer dann, wenn Farbe auf einen entsprechenden Rezipienten träfe, würde bereits gesehen, d.h. würde bereits aktual die entsprechende Sinneswahrnehmung vollzogen. Sinnliche

53 Wahrnehmung wäre somit ein deterministischer Prozess mit zwei 'Phasen' des rein passiven Erleidens: Entweder es würde wahrgenommen oder nicht.96 Dies scheint Augustinus aber nicht zu meinen: Denn erstens nimmt er eine Dreierteilung ("horum trium", lib. arb. II, 34) vor und sagt ferner, dass das Wahrnehmungsvermögen (habere sensum) etwas ist, was wahrnehmen kann. D.h. es ist nicht notwendig immer schon realisiert, wenn es auf etwas Wahrnehmbares trifft, sondern bedarf eines aufmerksamen Erkennens (was nicht mit 'Bewusstheit' des Erkannten gleichzusetzen ist, wie z.B. ein Autofahrer unbewusst, aber aufmerksam eine Ampel beachten, aber zugleich bewusst an einer Unterhaltung teilnehmen kann). Wenn Augustinus ein Anhänger einer physiolo96

Einer solchen Position käme die stoische Lehre der aisthêsis katalêptikê nahe, gemäß der ein Objekt durch eine total erfassende Vorstellung (objektivistisch) erkannt wird; dieser Vorstellung stimmt das erkennende Subjekt (subjektivistisch) entweder zu oder nicht (vgl. dazu im Anhang: Exkurs 4: Augustins angebliche Begriffstrennung... .). Augustinus referiert selbst diese Lehre im Kontext von civ. IX, 4. Jedoch sieht die Forschung Augustinus mitunter in der Nähe zu dieser stoischen Lehre (s.u. zu den Bok: Exkurs 4); zu Augustins "interpretation of the Stoic theory of aiãsqhsij katalhptikh/" vgl.: C. Harrison (1999). "Sense Perception" in: Augustine through the Ages, 766 – 767; 767,1. Augustins Wahrnehmungslehre ist hingegen nicht stoischer Prägung (vgl. in diesem Sinn Schmitt [1990: 232]), da Augustinus die sinnlichen Vermögen als aktualisierbare Potenzen der Seele beschreibt, die nicht durch äußerlich körperliche Affektion 'ausgelöst' werden, sondern der aktiven Aktualsierung durch die wahrnehmende Seele bedürfen. In diesem Sinn spricht Augustinus sogar von einem "Streben des Sehens" ("videndi appetitus", trin. XI, 2, 2). Dem Gedanken des 'Strebens der Wahrnehmung' korrespondiert, dass nach Augustinus die Sinne von sich her zunächst reine Potenz sind: "Den Ohren eignet ihre Empfindungskraft auch ohne einen Schallreiz" (U. Wienbruch [1994]. "Auditus", in: Augustinus-Lexikon. Hrsg. von C. Mayer et al. Basel, Vol. I, 515-9; 515); "Hoc autem distamus [sc. a caecis] quod nobis inest et non videntibus quo videre possimus, qui sensus vocatur; illis vero non inest, nec aliunde nisi quod eo carent caeci appellantur" (trin. XI, 2, 2). Zur Abgrenzung der augustinischen Wahrnehmungslehre von objektivistischen Tendenzen vgl. auch Brachtendorf (2005: 106, Anm. 14). Auch bei der Konstitution der Zeit als Gegenwart des Vergangenen, des Gegenwärtigen und des Zukünftigen (conf. XI, 20, 26) besteht ein Zusammenhang zwischen einer zugrunde liegenden, äußeren 'objektiven' Veränderung und einer an dieser Veränderung die Aspekte des noch nicht Gewesenen, Gegenwärtigen und schon Vergangenen erkennenden und einheitlich zusammenordnenden Seele: Das der Erkenntnis Zugrunde-Liegende und das Erkennende kommen zusammen, erst dann wird die abstrakte Zeitlichkeit des bloßen Veränderungsflusses zu einer Einheit der drei konkreten Zeitphasen konstituiert, dies aber nicht rein subjektivistisch, sondern anhand erkennbaren Veränderungen (vgl. Brachtendorf, 2005: 244f.; "Anders als Husserl erhebt Augustinus daher nicht den Anspruch, die 'objektive' Zeit aus dem subjektiven Zeitbewusstsein heraus abgeleitet zu haben", ibd., 256).

54 gisch-deterministischen Wahrnehmungslehre ('Input') wäre, hätte er den letzten Satz der oben zitierten Passage vermutlich anders formuliert: '[...] auch dann, wenn keine Farbe zugrunde liegt, den Sehsinn zu besitzen, mit dem gesehen würde, wenn Farbe dem Sehsinn zugrunde läge.'97 Augustinus beschreibt das Wahrnehmungsvermögen jedoch nicht als deterministischen Mechanismus, sondern als lebendigen Erkenntnisakt, der eine Aktivität des Erkennenden auch schon auf der Ebene der sinnlichen Wahrnehmung (und nicht erst auf der des Verstandes) voraussetzt, so dass nicht notwendigerweise immer schon aktual gesehen wird, wenn ein zur Wahrnehmung Fähiges auf etwas Wahrnehmbares trifft, sondern es der Aktualisierung des Wahrnehmungsvermögens aufseiten des Wahrnehmenden bedarf unter der Voraussetzung der Existenz von etwas für dieses Vermögen Wahrnehmbarem. In gleicher Weise spricht der späte Augustinus davon, dass "man nicht glauben darf, dass ein Körper etwas im Geist (spiritus) bewirkt, als ob der Geist – in der Stellung einer [sc. zugrunde liegenden] Materie – für den bewirkenden Körper zum Substrat würde." "nec sane putandum est facere aliquid corpus in spiritu, tamquam spiritus corpori facienti materiae vice subdatur" (gn. litt. XII, 16).

97 Gegen eine Deutung der augustinischen Wahrnehmungslehre im Sinn rein physiologischer Prozesse wendet sich Schmitt (1990: 225): So ist z.B. Hören nicht bloß eine Affektion der Seele durch den Körper ("Diligenter considerandum est utrum revera nihil aliud sit quod dicitur audire, nisi aliquid a corpore in anima fieri", mus. VI, 5, 8). S. ferner Augustins Argument, dass das Wahrnehmungsvermögen in etwas Sichtbares "hineinläuft", also aktiv ist ("sensus autem qui iam erat in animante priusquam videret quod videre posset, cum in aliquid visibile incurreret [...]", trin. XI, 2, 2) und dass die Wahrnehmung (sensus) nicht aus dem wahrgenommenen Objekt, sondern aus dem Wahrnehmenden hervorgeht ("[...] cum sensus non procedat ex corpore illo quod videtur sed ex corpore sentientis animantis cui anima suo quodam miro modo contemperatur", trin. XI, 2, 3). Vgl. aber (im Kontext der Willensfreiheitsfrage) zur deterministischen Deutung der Wahrnehmung im Sinn einer "Wirkung von Reizen": U. Steinvorth [2004]. "In welchem Sinn hat der Mensch einen freien Willen?", in: Der freie und der unfreie Wille. Philosophische und theologische Perspektiven. Hrsgg. von F. Hermanni und P. Koslowski. München; 1-17; 7. Zur cartesischen Position: "Das Selbst betrachtet den sensorischen Input, überlegt, was zu tun ist, und drückt daraufhin die entsprechenden Knöpfe" s. ferner: A. Beckermann (2004). "Schließt biologische Determiniertheit Freiheit aus?", im selben Band, 19-32; 29.

55 Beide Potentiale – das potentiell Wahrnehmbare und das potentiell Wahrnehmende – müssen also erst zueinander in einen bestimmten Bezug treten, indem das sich aktualisierende Wahrnehmungsvermögen sich auf das für es eigentümlich (proprie) Wahrnehmbare hinwendet und gleichsam das nur potentiell Wahrnehmbare zu etwas auch aktual Wahrgenommenen werden lässt, so dass z.B. der Sehsinn Sichtbares (Farbe) auch tatsächlich sieht oder der Geschmackssinn Schmeckbares aktual schmeckt und somit die jeweils spezifisch (proprie) wahrnehmbare Bestimmtheit aus dem substrathaften 'Ding' durch den Wahrnehmungsakt einheitlich "herausgefasst"98 bzw. auf bestimmte Weise "berührt" wird, wie Augustinus formuliert.99 98 Entsprechend erörtert Augustinus in De musica am Beispiel des Hörsinns: "Jenes natürliche Unterscheidungsvermögen, das den Ohren zukommt, hört in der Stille nicht auf zu sein, und nicht trägt der klingende Ton es uns zu, sondern vielmehr wird [sc. der klingende Ton] von ihm [sc. dem Unterscheidungsvermögen], sei er [sc. der Ton] nun annehmbar oder zu missbilligen, herausgefasst" ("Naturalis vero illa vis quasi iudiciaria, quae auribus adest, non desinit esse in silentio, nec nobis eam sonus infert, sed ab ea potius, sive probandus, sive improbandus, excipietur", mus. VI, 2, 3). Excipietur scheint mir hier nicht bloß "wird belauscht" (so: F. Hentschel [2002]. Augustinus. De musica. Bücher I und VI. Eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von F. Hentschel. Hamburg, 2002; 75) zu meinen, sondern die Art des wahrnehmenden Erfassungsaktes präzise zu beschreiben. 99 Nach Augustinus 'berührt' nicht das körperliche Organ auf körperliche Weise das Wahrzunehmende und erkennt es, sondern das Wahrnehmungsvermögen (sensus) bedient sich der körperlichen Organe (Augen, Ohren etc.) und 'berührt' das Wahrzunehmende ("[...] quicquid vel oculorum vel alio quolibet corporis instrumento noster sensus attingit", lib. arb. II, 43). Dieses Berühren kann nur auf geistige, nicht aber auf haptische Weise gemeint sein, da ja die wahrgenommene Bestimmtheit nicht auf körperliche Weise von dem Sinn berührt wird. In De musica VI beschreibt Augustinus genauer, dass 'Wahrnehmung' allgemein der zahlhaft-bestimmte Akt der Seele ist, der der auf körperliche Weise in einem körperlichen Wahrnehmungsorgan bewirkten materialen Veränderung in einem von einer Seele beseelten Körper korrespondiert ("Hae sunt operationes, quas adhibet anima praecedentibus passionibus corporis, quae delectant eam associantem, offendunt resistentem [sc. animam]. Cum autem ab eisdem suis operationibus aliquid patitur, a seipsa patitur, non a corpore; sed plane cum se accommodat corpori, et ideo apud seipsam minus est, quia corpus semper minus quam ipsa est", mus. VI, 5, 12; meine Kursive. Vgl. dazu: G. Radke [2003]. Die Theorie der Zahl im Platonismus. Ein systematisches Lehrbuch. Tübingen; 492-6). In De libero arbitrio spricht Augustinus zwar in diesem Zusammenhang selten von der Seele; dies kann aber der Kürze geschuldet sein, da er ja die komplexe Wahrnehmungstheorie nur im 'Dienst eines höheren Zweckes', des Gottesbeweises, bemüht.

56 Daraus folgt nichts Geringeres, als dass Augustinus weder eine objektivistisch-deterministische Wahrnehmungslehre vertritt – denn die aktuale Wahrnehmungserkenntnis hängt entscheidend sowohl von dem bestehenden Vermögen als auch von der Realisierung desselben auf der Seite des Wahrnehmenden ab (quo videri posset). Noch vertritt Augustinus eine subjektivistisch-skeptische Erkenntnistheorie, gemäß der nicht entscheidbar wäre, ob der 'Wahrnehmende' etwas Bestimmtes wahrnimmt oder sich nur etwas einbildet, das zu einem realen Erkenntnisobjekt in gar keinem Bezug steht, denn Augustinus sagt, dass das wahrnehmende Subjekt – also dasjenige, was z.B. über einen Sehsinn verfügt, – nur dann wahrnimmt und sieht, wenn ein entsprechendes Substrat wie Farbe zugrunde liegt (si subesset).100 Diese Interpretation von De libero arbitrio lässt sich durch das zeitgleich entstandene Werk De musica stützen: "Mir scheint die Seele, wenn sie im Körper einen Wahrnehmungsakt vollzieht, nicht etwas von jenem [sc. Körper] zu erleiden, sondern in seinen [sc. 100

"Augustinus vertritt mit seiner Wahrnehmungslehre eine Mischposition" (Horn, 1995: 62). G. O'Daly ([2001]. "Anima, Error and falsum in Augustine", in: ders., Platonism Pagan and Christian. Studies in Plotinus and Augustine, VII, 1-7. Aldershot, Burlington; 4) sieht diese Misch- bzw. Mittelposition nicht, wenn er Augustinus die Prämisse unterstellt: "No X is verum unless it is what it appears to be" und fortfährt: "If nothing is 'verum per se' it follows that nothing exists per se: but this infringes assumption (A) [= "the world exists unperceived]." Unhaltbar erscheint in diesem Zusammenhang O'Dalys Voraussetzung: "'true' is not a relational term". Denn obwohl Augustinus ja der Meinung ist, dass es eine unabhängig von einer erkennenden Seele bestehende (intelligible) Wahrheit gibt (Gottes Wort, Zahlen etc.), so ist ja die Wahrheitserkenntnis nicht ohne Relation zum Erkennenden: Dies gilt schon auf der Ebene der sinnlichen Wahrnehmung, da nach Augustinus ja nichts wahrgenommen werden kann von einem Wahrnehmungsfähigen, wenn nichts Wahrnehmbares zugrunde liegt ("si subesset", lib. arb. II, 33): Also kann O'Dalys objektivistische Interpretation, die Welt existiere laut Augustinus – unabhängig von ihrem Erkanntwerden oder Nicht-Erkanntwerden – in gleicher Weise wahr, so nicht gelten: Denn von sich selbst her wahr sein im Sinn des Bestimmten-Etwas-Seins einer Vielheit setzt eine Identität als etwas Bestimmtes, das potentiell erkannt werden kann, voraus, nicht aber dass diese Vielheit vom Erkennenden auch 'objektivistisch total' erkannt wird, wenn etwas an ihr erkannt wird. Deshalb ist die Existenz von etwas Wahrem in seiner Potentialität unabhängig vom Erkennenden und relationslos; insofern es (bzw. etwas an ihm) aber erkannt wird, ist diese Erkenntnis nicht relationslos. Beide Aspekte müssen unterschieden werden: Die wahre Existenz von etwas potentiell Erkennbarem ist nicht an ihr Erkanntwerden gebunden; deshalb muss bei dem 'Wahr-Sein' ("true") unterschieden werden, ob es potentiell – ohne Relation – wahr ist oder in Relation zum Erkennenden, der etwas an ihm erkennt.

57 sich auf die material-körperlichen Wahrnehmungsorgane beziehenden] Erleidungen durchaus aufmerksam aktiv zu sein; und diese Akte [...] scheinen ihr nicht verborgen zu sein, und dieses Ganze ist seinem Wesen nach das, was 'Wahrnehmen' genannt wird. Aber dieses Wahrnehmungsvermögen, welches auch besteht, wenn wir nichts wahrnehmen, ist ein Werkzeug des Körpers, was von der Seele in dieser Maßhaftigkeit verwendet wird [...]. Diese Akte [sc. Sehen, Hören etc.] führt die Seele nach meinem Dafürhalten in Entsprechung mit den Erleidungen des Körpers aus (operationes exhibere passionibus), wenn die Seele wahrnimmt, dieselben [sc. körperlich-materialen] Erleidungen nimmt sie nicht auf." "[...] videtur mihi anima, cum sentit in corpore, non ab illo aliquid pati, sed in eius passionibus attentius agere, et has actiones […] non eam latere, et hoc totum est, quod sentire dicitur. Sed iste sensus, qui, etiam dum nihil sentimus, inest tamen, instrumentum est corporis, quod ea temperatione agitur ab anima […]. Has operationes passionibus corporis puto animam exhibere, cum sentit, non easdem passiones recipere" (mus. VI, 5, 10). Auch die Unterscheidung der oben genannten drei Erkenntnismomente in der Wahrnehmung birgt nach Augustinus nicht das Kriterium einer Bewusstheit der Erkenntnis in sich. Dass man sie alle drei unterscheiden kann ("discernere", lib. arb. II, 34), ist dagegen eine Erkenntnisleistung des rationalen Denkens, das sich schlussfolgernd den Bedingungen sinnlicher Erkenntnis zuwendet.101 Denn man nimmt nicht einen Sinn wahr, sondern das, was dem Sinn wahrnehmbarerweise zugänglich ist und so dem Wahrnehmungsakt zugrunde liegt.102 Trotzdem nimmt man nach Augustinus auch wahr, dass man wahrnimmt, ohne dass damit die angesprochenen rationalen Distinktionen gemeint wären. Dieses Problem berührt die Eigenschaft des inneren Sinns, der ebenfalls nicht mit einer subjektiv empfundenen Innerlichkeit im modernen Sinn zu verwechseln ist. Vielmehr ist der innere Sinn ein übergeordnetes, in und zwischen den Einzelsinnen Einheit stiftendes Prinzip, so dass auf der Ebene der Wahrnehmung das Gelbe (das Sichtbare, das nur der Sehsinn erkennt) und das Süße (das Schmeckbare, das nur der Geschmackssinn erkennt) zugleich als etwas Selbiges wahrgenommen werden kann, ohne dass diesem schon der Sachbegriff 'Honig' zugeordnet würde (eine Erkenntnisleistung hinsichtlich des Was, die nach dem rational schlussfolgernden Denken nur eine intellektive Erkenntnis abschließend voll101

"ipsa ratio quae ministros suos et ea quae suggerunt discernit" (lib. arb. II, 36). "[...] manifestum est quinque istos sensus nullo eorum sensu posse sentiri, quamvis eis corporalia quaeque sentiantur" (lib. arb. II, 37). 102

58 bringen könnte). Der innere Sinn, der die fünf Einzelsinne und das von ihnen separat Erkannte in einen einheitlichen Zusammenhang bringt, verfügt genau dadurch nach Augustinus aber – allein auf der Ebene der sinnlichen Wahrnehmung – auch noch über die Wahrnehmungserkenntnis, dass wahrgenommen wird: "Ich glaube, auch jenes ist offenbar, dass jener innere Sinn nicht nur das wahrnimmt, was er von den fünf Sinnen des Körpers [sc. körperlich, insofern diese mit Hilfe körperlicher Organe wahrnehmen] empfangen hat, sondern auch sie selbst von ihm wahrgenommen werden. Denn sonst würde sich das Tier nicht bewegen, indem es entweder etwas erstrebt oder flieht, wenn es nicht wahrnehmen würde, dass es wahrnimmt. Das [sc. reicht] nicht für ein Wissen, denn dies gehört zum rationalen Denken, sondern nur für das Bewegen, was aber ja keiner der fünf Einzelsinne wahrnimmt. Wenn das bis hierher noch unklar ist, so wird dir die Erleuchtung kommen, wenn du darauf achtest, was am Beispiel eines bestimmten Sinns hinreichend deutlich wird, etwa dem Sehsinn: Denn das Auge zu öffnen und zu bewegen, indem es [sc. das Tier] dorthin blickt, wo es zu sehen erstrebt (adpetit), wäre auf gar keine Weise möglich, wenn es nicht wahrnehmen würde, dass es mit geschlossenem bzw. nicht entsprechend bewegtem Auge dieses nicht wahrnehmen würde. Wenn es aber wahrnimmt, dass es nicht sieht, solange es nicht sieht, dann ist notwendig, dass es auch wahrnimmt, dass es sieht, wenn es sieht, weil es ja, insofern es nicht mit demselben Streben (adpetitu) das Auge bewegt beim Sehen wie beim Nicht-Sehen, auch zeigt, dass es beides wahrnimmt." "Arbitror etiam illud esse manifestum, sensum illum interiorem non ea tantum sentire quae accepit a quinque sensibus corporis, sed etiam ipsos ab eo sentiri. Non enim aliter bestia moveret se vel adpetendo aliquid vel fugiendo, nisi se sentire sentiret, non ad sciendum, nam hoc rationis est, sed tantum ad movendum, quod non utique aliquo illorum quinque sentit. Quod si adhuc obscurum est, elucescet, si animadvertas quod exempli gratia sat est in uno aliquo sensu, velut visu. Namque aperire oculum et movere aspiciendo ad id quod videre adpetit nullo modo posset, nisi oculo clauso vel non ita moto se id non videre sentiret. Si autem sentit se non videre, dum non videt, necesse est etiam sentiat se videre dum videt, quia, cum eo adpetitu non movet oculum videns, quo movet non videns, et indicat se utrumque sentire" (lib. arb. II, 38-39). An diesem konkreten Beispiel lässt sich erstens noch einmal erkennen, dass Augustinus sinnliches Wahrnehmen tatsächlich als etwas Aktives und nicht rein Passives versteht: Denn wenn Augustinus der Ansicht wäre, dass z.B. das Sehen

59 ein deterministisch sich selbst vollziehender Prozess, ein nur passives Erleiden von etwas Äußerem wäre, würde es sich um eine Tautologie handeln, wenn er davon spricht, dass man nicht sieht, solange man nicht sieht. Dies ist aber offensichtlich nicht gemeint, sondern: Sehen setzt einen erkennenden Wahrnehmungsakt voraus – solange man diesen nicht in aktiver Tätigkeit ausführt (durch die Ausrichtung der Aufmerksamkeit des Sehsinns und der Sinnesorgane auf das Wahrzunehmende), kann man auch nichts Sichtbares erkennen. Diese Stelle unterstreicht für die Augustinusinterpretation zweitens die enge Verknüpfung des Erkennens – hier des Sehens – mit dem Streben und Wollen (vgl. lib. arb. III, 238), da Augustinus hier eindeutig davon spricht, dass auch das Sehen schon eine Form des Strebens ist (quod videre adpetit): Dies ist innersystematisch unmittelbar logisch, da sowohl ein Erkenntnisvermögen bezogen ist auf Erkennbares (als Substrat von Erkenntnis) als auch ein willentliches Streben bezogen ist auf Erstrebbares. Das Streben nach etwas setzt unmittelbar voraus, dass auch irgendetwas an diesem Etwas – angemesseneroder unangemessenerweise – als erstrebenswert erkannt wurde. Vor allem aber zeigt Augustinus drittens, dass Wahrnehmen, dass man wahrnimmt, keine Leistung des Denkens, sondern tatsächlich eine Wahrnehmungserkenntnis ist,103 die er ja auch den Tieren zuspricht. Der innere Sinn wendet sich auf die Wahrnehmungen der partikulären Sinne zurück und stiftet die übergeordnete, notwendige Einheit zwischen den Einzelsinnen, damit diese nicht koordinationslos voneinander separiert etwas von ihrem nur im Zusammenspiel voll entfaltbaren Erkenntniswert einbüßen. Wie aber kann sich der innere Sinn auf die Einzelsinne zurückwenden, wenn er von den Einzelsinnen doch verschieden ist? Dies wäre ja unmöglich, da bei einer echten Zurückwendung auf etwas – die bei der Wahrnehmung, dass man wahrnimmt, vorausgesetzt werden muss – nur ein Selbiges sich auf sich selbst zurückwenden kann. Auch hier bleibt Augustinus die Antwort nicht schuldig, denn der innere Sinn ist zwar den Einzelsinnen in ihrer Partikularität übergeordnet und insofern von ihnen verschieden, ist aber selbst nichts anderes als die eine, eigentlich wahrnehmende Instanz in den Ein103

Vgl. ferner: "Deinde vitam quidem suam, qua nunc vivit in corpore et haec terrena membra vegetat facitque viventia, interiore sensu quisque, non per corporeos oculos novit" (civ. XXII, 29). Diese Passage stellt den Befund in Frage, "[t]he concept of internal sense is not found in Augustine's other accounts […], because [sc. in other extant works] its functions are adequatly described by the soul's intentio, or memoria, or visio spiritualis, or some combination of these" (G. O'Daly [1985]. "Sensus interior in St. Augustine, De libero arbitrio 2. 3. 25–6. 51", in: StudPatr 16, 528-32; 532).

60 zelsinnen; d.h. er ist ihnen nicht nur transzendent, sondern entfaltet und lenkt seine Potenz 'nach unten' in fünf verschiedenen Akten104 und waltet als übergeordnetes Einheitsprinzip, als moderator et iudex (lib. arb. II, 48), etwa über die für diese Akte erforderliche Aufmerksamkeit der Einzelsinne.105 Wie sonst könnte er Einheit stiften, wenn er nicht auch den einzelnen Sinneswahrnehmungen zu ihrer Einheit verhelfen würde, so dass jeder von ihnen eine bestimmte Wahrnehmungsqualität zu erfassen vermag? Augustinus spricht daher am Ende seiner Ausführungen über die sinnliche Wahrnehmung (innerhalb des Exkurses von lib. arb. II) explizit aus, dass genau genommen der innere Sinn vermittels der einzelnen Sinn das dem jeweiligen Einzelsinn eigentümlich (proprie) zugrunde liegende Substrat wahrnehmend erfasst.106 Dabei fasst Augustinus die Einzelsinne auch 104

Vgl. Augustins Formulierung, dass die eine körperliche Wahrnehmung sich gleichsam in fünf Bäche verzweigt ("[...] pertinet corporis sensus ad visa corporalia, qui per quinque quasi rivulos distanter valentes distribuitur", gn. litt. XII, 16). 105 "Item sicut ille interior de auditu nostro iudicat, utrum minus an sufficienter intentus sit, sic iudicat sensus auditus ipse de vocibus, quid earum leniter influat aut aspere perstrepat" (lib. arb. II, 49). Diese Textstelle belegt zugleich, dass nach Augustinus ein materiales Erleiden der materialen Wahrnehmungsorgane zwar Grundlage für einen Erkenntnisakt der sinnlichen Wahrnehmung ist, aber nicht mit dem Akt selbst verwechselt werden darf, der in der von Augustinus hier verwendeten Formulierung mit dem Verb iudicat bezeichnet wird (vgl. ebenso: "Naturalis vero illa vis quasi iudiciaria, quae auribus adest, non desinit in silentio", mus. VI, 2, 3). Iudicare ist dabei nicht nur als bewusstreflexives, sondern zunächst als unmittelbar zum wahrnehmenden Akt gehörendes Urteil zu verstehen (s.o. das Folgende) und deshalb nicht mit einer (sekundär erfolgenden) stoischen Synkatathesis vergleichbar (s. in dieser Weise zu den numeri iudiciales in mus. VI: Schmitt [1990: 232]). 106 Insofern ist es die Frage, ob Augustins Wahrnehmungslehre sich von der des Aristoteles wirklich der Sache nach unterscheidet, wie O'Daly ([1987: 102ff.], [1985: 529]) andeutet: "His [sc. Aristotle's] isolation of the functions of common sense is thus remarkably similar to Augustine's, even if his conclusions are radically different. For Aristotle, there is no sixth sense, but sense is a faculty which has generic and specific functions. Hence the 'common sensibles' are perceived by this faculty, which also discriminates between the objects of the different senses." Zu dem seltenen Begriff der koinh\ aiãsqhsij bei Aristoteles vgl. Bernard (1988: 160). Während Aristoteles eher die Einheit des Wahrnehmungsvermögens als solche betont, verwendet Augustinus dafür einen spezifischen Begriff. Dass Augustinus aber damit nicht den inneren Sinn von den Einzelsinnen separiert und insofern nichts anderes als Aristoteles meint, zeigt m.E. die folgende Textstelle im Haupttext. Unaristotelisch scheint mir hingegen eher die Parallelisierung (vgl. O'Daly [1987: 91]) zwischen der Wahrnehmung des Gemeinsamen (jeder einzelne Sinn nimmt an dem von ihm spezifisch Wahrgenommenen auch dessen Bewegung wahr, so dass allen Sinnen gemein ist, dass sie Bewegung wahrnehmen können) und der gemeinsamen Wahrneh-

61 unter einem einzelnen (Singular!) Begriff – sensus corporis, "körperliche Wahrnehmung" im Sinn der vermittels der körperlichen Organe möglichen Einzelwahrnehmungen107 – zusammen: "Denn es ist offenbar, dass mit körperlicher Wahrnehmung [sc. als Inbegriff der fünf Einzelsinne] das Körperliche wahrgenommen wird; diese Wahrnehmung [sc. die fünf Einzelsinne] aber kann nicht mit derselben Wahrnehmung wahrgenommen werden; durch den inneren Sinn aber wird sowohl das Körperliche vermittels der körperlichen Wahrnehmung [sc. der Einzelsinn] als auch die körperliche Wahrnehmung selbst [sc. die Einzelsinne] wahrgenommen. Mit dem rationalen Denken aber wird sowohl all jenes als auch die Ratio selbst [sc. indem sie dieses alles unterscheidet] erkannt, und in der Wissenserkenntnis wird es [sc. als Einheit] zusammengefasst." "Manifesta enim sunt: sensu corporis sentiri corporalia; eundem autem sensum hoc eodem sensu non posse sentiri; sensu autem interiore et corporalia per sensum corporis sentiri et ipsum corporis sensum; ratione vero et illa omnia et eandem ipsam notam fieri et scientia contineri" (lib. arb. II, 41).

4.4. Ontologische Schlussfolgerungen aus der Erkenntnistheorie Nach der Erörterung der komplexen Wahrnehmungslehre muss Augustinus im Dialog erst einmal selbst Evodius fragen, wieso sie eigentlich diesen beschwerlichen Weg in ihrer Untersuchung gegangen sind. Evodius entgegnet, dass es um die erste dreier Fragen (s.o. Kap. 4.2) ging, den Gottesbeweis.108 Sowohl in der

mung, die – in ihrer übergeordneten Instanz, aber noch auf der Ebene der Wahrnehmung – die Wahrnehmungen der einzelnen Sinn (Farbe, Ton, Tastbares) als etwas Verschiedenes zugleich wahrnimmt (vgl. dazu Bernard [1988: 160ff.] sowie Radke [2003: 211]). 107 Die wörtliche Übersetzung "Wahrnehmung des Körpers" vermeide ich an dieser Stelle, da sie – im Widerspruch zu dem bisher von Augustinus Ausgeführten – fälschlicherweise den Eindruck erwecken könnte, dass erstens ein Körper wahrgenommen würde (anstatt dass die Wahrnehmung vermittels des Körpers, d.h. seiner Organe, verstanden würde, um die es hier aber geht, wie der Kontext des folgenden Zitats zeigt) und zweitens ein Körper wahrgenommen würde, was ja nach Augustinus von einer Einzelwahrnehmung nicht zu leisten ist, wie er eingangs ausgeführt hat (lib. arb. II, 25). 108 "A: 'Age, nunc responde unde sit quaestio, ad cuius solutionem pervenire cupientes iam diu ista molimur via.' – E: 'Quantum memini, trium illarum quaestionum […] nunc prima

62 Wahrnehmungslehre (Kap. 4.3) wie auch schon in der allgemeinen Erkenntnisgrundlegung (Kap. 4.2) hatte Augustinus darauf verwiesen, dass Erkennen Sein voraussetzt bzw. sich auf Seiendes bezieht: Was erkennt, hat Anteil an Sein (und Leben); was als etwas Bestimmtes und mit sich selbst Identisches erkannt wird, ist Seiendes; Erkenntnis bezieht sich auf Seiendes und kann nur von etwas Seiendem auch Erkenntnis sein. Für den Argumentationsgang von De libero arbitrio ist neben der erwiesenen Einheitlichkeit, auf der die einzelnen Wahrnehmungsvermögen basieren, vor allem die platonische Differenzierung zwischen der Erkenntnis des Sinnlichen und der des Rational-Intelligiblen relevant. Das Rationale geht im Unterschied zu anderen Philosophenschulen gemäß den Platonikern und Augustinus gerade über das bloß sinnlich Erkennbare hinaus, wie Augustinus in De civitate Dei hervorhebt: "Was aber den Teil der Lehre betrifft, der von ihnen [sc. den Platonikern] Logik, d.h. rationalis [sc. philosophia] genannt wird: Fern sei es, dass sie uns denen vergleichbar scheinen, die das Kriterium, mit dem über die Wahrheit geurteilt wird, in die körperlichen Wahrnehmungen gelegt haben und meinten, alles Lernbare müsse nach ihren unzuverlässigen und täuschenden Regeln gemessen werden, wie die Epikureer und bestimmte andere solcher Leute; wie besonders sogar die Stoiker, die – wo sie doch die Kunst des Diskutierens leidenschaftlich liebten, die sie Dialektik nennen – glaubten, sie [sc. die Wahrheit] müsse von den körperlichen Wahrnehmungen gewonnen werden, und dabei ernstlich behaupteten, dass die Seele von dort [sc. den Sinneswahrnehmungen] her ihre Begriffe (notiones) [sc. passiv] empfange, die sie ennoiai nennen, d.h. [sc. Begriffe] derjenigen Dinge, die sie durch Definieren erklären. Von dieser Grundlage leitet sich [sc. ihre] ganze Theorie (ratio) des Lernens und Lehrens ab und steht in diesem Kontext. Wobei ich mich – da sie ja sagen, Schöne [sc. Menschen] seien nur die Weisen – sehr zu wundern pflege, mit welchen körperlichen Wahrnehmungen sie diese Schönheit gesehen, mit welchen fleischlichen Augen sie die Form und den Schmuck der Weisheit wohl erblickt haben! Diese aber [sc. die Platoniker], die wir zu Recht den übrigen vorziehen,109 haben das, was durch den Intellekt (mente)

versatur, id est quomodo manifestum fieri possit, quamvis tenacissime firmissimeque credendum sit, deum esse'" (lib. arb. II, 41-42). 109 Zu Augustins ambivalentem Verhältnis zu den Platonikern vgl.: T. Fuhrer (1997). "Die Platoniker und die civitas dei", in: Klassiker Auslegen: Augustinus – De civitate Dei, 87108; ferner: L. Karfíková (2004). "Augustins Polemik gegen Apuleius", in: Apuleius.

63 erblickt wird, von dem, was durch die Sinneswahrnehmungen berührt wird, unterschieden und weder den Sinnen ihre Fähigkeiten genommen noch etwas zugestanden, was sie nicht zu leisten vermögen.110 Das Licht aber der Intellekte für das Erlernen aller Sachen, haben sie gesagt, sei der nämliche Gott selbst, von dem alles geschaffen wurde." "Quod autem adtinet ad doctrinam, ubi versatur pars altera, quae ab eis logica, id est rationalis, vocatur: absit ut his comparandi videantur, qui posuerunt iudicium veritatis in sensibus corporis eorumque infidis et fallacibus regulis omnia, quae discuntur, metienda esse censuerunt, ut Epicurei et quicumque alii tales, ut etiam ipsi Stoici, qui cum vehementer amaverint sollertiam disputandi, quam dialecticam nominant, a corporis sensibus eam ducendam putarunt, hinc asseverantes animum concipere notiones, quas appellant e)nnoi¿aj, earum rerum scilicet quas definiendo explicant; hinc propagari atque conecti totam discendi docendique rationem. Ubi ego multum mirari soleo, cum pulchros dicant non esse nisi sapientes, quibus sensibus corporis istam pulchritudinem viderint, qualibus oculis carnis istam pulchritudinem viderint, qualibus oculis carnis formam sapientiae decusque conspexerint. Hi vero, quos merito ceteris anteponimus, discreverunt ea, quae mente conspiciuntur, ab his, quae sensibus adtinguntur, nec sensibus adimentes quod possunt, nec eis dantes ultram quam possunt. Lumen autem mentium esse dixerunt ad discenda omnia eundem ipsum Deum, a quo facta sunt omnia" (civ. VIII, 7). In De libero arbitrio kommt Augustinus nun auf die zu Anfang des erkenntnistheoretisch-ontologischen Exkurses vorgenommene Unterscheidung zwischen Sein, Leben und intellekthafter Denk-Erkenntnis zurück und ordnet die von der Wahrnehmungslehre gewonnenen Erkenntnisse gemäß ihrem ontologischen Rang: Dabei kommt dem Wahrnehmbaren – also dem, was von sich selbst her nur sichtbar oder nur hörbar, riechbar, schmeckbar oder tastbar ist – nur Sein ohne Leben oder gar Erkenntnis zu; dies entspricht dem Rang des Steins, der nur ist. Dem Wahrnehmend-Erkennenden kommt der Rang des Lebendigen zu,111 Über den Gott des Sokrates, 162-189; 189: "Augustins Polemik gegen Apuleius zeigt sich [...] als ein Streit um das Erbe Platons und seine legitime Weiterführung." 110 Vgl.: "Nam ipse aspectus oculorum renuntiare id potest, iudicare autem nullo modo" (vera rel. 146); "Sed ne ipsi quidem oculi fallunt. Non enim renuntiare animo possunt nisi affectionem suam. Quod si non solum ipsi, sed omnes corporis sensus ita nuntiant ut afficiuntur, quid ab eis amplius exigere debeamus ignoro" (ibd., 174). 111 "A: '[...] in quo rerum genere tibi ponendum videatur, quicquid vel oculorum vel alio quolibet corporis instrumento noster sensus attingit, utrum in eo, quod tantum est, an in eo, quod etiam vivit, an in eo, quod etiam intellegit.' – E: 'In eo quod tantum est.' – 'Quid?

64 welcher höher ist als das bloß Seiende, so dass das Wahrnehmende seinem ontologischen Rang nach über dem Wahrgenommenen steht: "omne sentiens melius esse quam id quod ab eo sentitur" (lib. arb. II, 46). Das menschliche rationale Denken hat seinen Rang über der sinnlichen Wahrnehmung, weil es inhaltliche Reflexionen wie die über die Frage 'Was ist sinnliche Wahrnehmung?' erst ermöglicht. Etwas Höheres als das "Haupt bzw. Auge der Seele", also das rationale (und intellektive) Denken,112 sei aber in der menschlichen Natur nicht zu finden.113 Die Weisheit, an der der Mensch durch intellekthafte Erkenntnis Anteil erlangen kann, ist dem Menschen – im Unterschied zum sinnlich Wahrgenommenen – jedoch rangmäßig nicht unter-, sondern übergeordnet: "[...] homo intellegit sapientiam et non est melior quam ipsa sapientia" (lib. arb. II, 47), weil die menschliche Ratio ihre Inhalte nicht selbst hervorbringt, sondern als etwas mit sich selbst identisches Geistiges auffindet.114 Von hier aus mündet die Argumentation in die Frage nach dem Sein Gottes: "A: 'Was, wenn wir etwas Bestimmtes werden finden können, von dem du [sc. gemäß dieser ontologischen Rangfolge] nicht nur nicht bezweifelst, dass es ist, sondern dass es auch erhabener ist als unser rationales Denken selbst? Wirst du zögern, jenes – was immer es ist – Gott zu nennen?'115 Ipsum sensum in quo genere trium horum esse censes?' – E: 'In eo quod vivit'" (lib. arb. II, 43). 112 "[...] animae nostrae caput aut oculum aut si quid congruentius de ratione atque intellegentia dici potest [...]" (lib. arb. II, 53). Zum wenig präzisen Gebrauch der Begriffe 'Seele' (anima) und 'Intellekt' (animus) bei Augustinus vgl.: "[...] rationalem animam, quod dicitur animus" (civ. VII, 30; ebenso civ. IX, 2), s. dazu O'Daly (1987: 8). (Vgl. allgemein Büttner [2000: 329] zum "Ratio und Intellekt umfassende[n] Denken (noêsis)" in Platons Politeia.) Eine ähnliche Doppeldeutigkeit bei Augustinus betrifft den Terminus 'sensus': Während er zumeist "Vermögen der sinnlichen Wahrnehmung" bedeutet, kann er auch für begriffliches "Denken" (Nous) stehen – besonders bei biblischen Zitaten ("[...] et deprimit terrena inhabitatio sensum multa cogitantem" [civ. XIV, 3] für: kaiì bri¿qei to\ gew½dej skh=noj nou=n polufro/ntida [Sapientia 9, 15]; s. dazu: F. van Fleteren [1993]. "Augustine's Exegesis of Wisdom 9.15", in: StudPatr XXVII, 408-416; ferner O'Daly [1987: 7-8]). 113 "[...] utrum aliquid invenire possis, quod sit in natura hominis ratione sublimius" (lib. arb. II, 53). 114 "[…] ea, quae invenimus, non alibi quam in animo nostro invenimus – neque id est invenire, quod facere aut gignere; alioquin aeterna gigneret animus inventione temporali" (imm. an. 4, 6). 115 Vgl. analog: "Quid ergo amo, cum deum meum amo? Quis est ille super caput animae meae?" (conf. X, 7, 11).

65 E: 'Nicht unmittelbar möchte ich, wenn ich etwas Besseres als das, was in meiner Natur das Beste ist, werde gefunden haben können, sagen, dass es Gott ist. Denn nicht behagt es mir, das Gott zu nennen, im Vergleich zu welchem mein rationales Denken geringer ist, sondern das, im Vergleich zu welchem niemand höher ist!' A: 'Ganz genau, denn er [sc. Gott] selbst hat diesem deinem rationalen Denken gegeben, so über ihn in frommer und wahrer Weise zu empfinden. Aber ich frage dich, wenn du finden solltest, dass auch nicht irgendetwas über unserem rationalen Denken ist außer dem, was ewig und unveränderlich ist – wirst du zögern dies Gott zu nennen? Denn du erkennst, dass die Körper veränderlich sind; und dass auch das Leben selbst, wodurch der Körper beseelt wird, nicht frei ist von Veränderlichkeit, ist durch seine verschiedentlichen Leiden offenbar. Und selbst das rationale Denken, da es sich bald bemüht zur Wahrheit vorzudringen, bald nicht bemüht, und sie manchmal erreicht, manchmal nicht erreicht, ist ja in der Tat erwiesenermaßen veränderlich. Wenn es – ohne ein Organ des Körpers zu bemühen116 – weder durch Tasten noch Schmecken noch Riechen noch durch die Ohren noch die Augen noch durch irgendeinen im Vergleich zu ihm geringeren Sinn [sc. den inneren Sinn], sondern durch sich selbst etwas Ewiges und Unvergängliches geistig unterscheidet (cernit), so mag es, wie es angemessen ist, zugleich bekennen, dass es sowohl geringer ist [sc. als das Ewige] und dass jenes sein Gott ist.' E: 'Dieses allerdings werde ich als Gott bekennen, bei dem es feststeht, dass im Vergleich zu ihm nichts Höheres ist.' A: 'So ist es recht. Denn mir wird es genug sein zu zeigen, dass etwas dieser Art ist, von dem du entweder bekennen wirst, dass es Gott ist, oder, wenn etwas über ihm ist, einräumst, dass dieses Gott selbst ist. Deshalb – ob nun darüber etwas ist oder nicht – wird offenbar sein, dass Gott ist, wenn ich, was ich versprochen habe, mit seiner Hilfe ein Sein (esse) über dem rationalen Denken gezeigt habe.'" "A: 'Quid si aliquid invenire potuerimus quod non solum esse non dubites, sed etiam ipsa nostra ratione praestantius? Dubitabisne illud quidquid est deum dicere?' E: 'Non continuo, si quid melius quam id quod in mea natura optimum est invenire potuero, deum esse dixerim. Non enim mihi placet deum appellare quo mea ratio est inferior, sed quo est nullus superior.' A: 'Ita plane, nam ipse huic tuae rationi dedit tam de se pie vereque sentire. Sed, quaeso te, si non inveneris esse aliquid supra nostram rationem nisi quod aeternum atque immutabile est, dubitabisne hunc deum dicere? Nam et corpora mutabilia esse cognoscis et ipsam vitam qua corpus animatur per adfectus 116

Vgl. ebenso Aristoteles (De anima 429a25-27): Der Intellekt hat kein Organ, sondern erkennt durch sich selbst intellektiv Einsehbares.

66 varios mutabilitate non carere manifestum est et ipsa ratio, cum modo ad verum pervenire nititur modo non nititur et aliquando pervenit aliquando non pervenit, mutabilis profecto esse convincitur. Quae si nullo adhibito corporis instrumento neque per tactum neque per gustatum neque per olfactum neque per aures neque per oculos neque per ullum sensum se inferiorem, sed per se ipsam cernit aeternum aliquid et incommutabile, simul et se ipsam inferiorem et illum oportet deum suum esse fateatur.' E: 'Hunc plane fatebor deum quo nihil superius esse constiterit.' A: 'Bene habet. Nam mihi satis erit ostendere esse aliquid huius modi quod aut fateberis deum esse, aut si aliquid supra est, eum ipsum deum esse concedes. Quare sive supra sit aliquid sive non sit, manifestum erit deum esse, cum ego, quod promisi, esse supra rationem eodem ipso adiuvante monstravero'" (lib. arb. II, 54-57). An dieser Stelle geht es Augustinus nicht primär darum zu zeigen, dass Gott mit einem bestimmten Erkenntnisvermögen erkennbar ist, sondern darum, dass Gott ist.117 Dies wird (s. dazu Kap. 5) Augustinus im Rahmen seiner Argumentation dadurch gelingen, dass er eine relationale, ontologische Rangfolge platonischer Prägung präsentiert, die mit dialektischer Notwendigkeit einem höchsten Prinzip entgegenläuft: Dies kann nichts anders als Gott selbst sein, der das wandelbare Sein der Körper und auch das nur bisweilen tätige menschliche Denken

117

Etwas anders dagegen Neumann (1986: 63): "Um es noch einmal zu betonen: nicht das ist das Entscheidende, daß Augustinus beweist: Gott i s t , sondern daß er beweist: w i e er ist." Neumann betont zu Recht, dass es in Augustins Gottesbeweis nicht um einen leeren Gottesbegriff geht, sondern um Gott als das Summum bonum und die Veritas. Trotzdem scheint mir Augustins überraschend lockere Eingrenzung, entweder müsse angenommen werden, dass Gott das Sein über dem rationalen Sein (im Sinn eines göttlichen Intellekts) oder sogar noch darüber hinaus sei (sofern denn ein Sein über dem Rationalen bewiesen werden kann), doch sehr stark die noch unbestimmt-allgemeine Frage nach dem 'Ist Gott?' zu stellen ("A: 'Illud saltem tibi certum est deum esse.' – E: 'Et hoc non contemplando, sed credendo inconcussum teneo'", lib. arb. II, 12). Vgl. Rist (1994: 256-7): "As with the God of all Platonists and Christians, there is a sense in which Augustine's God is unknowable […]. It is easier to assert that he is than what he is […]." Dem insofern 'bescheideneren' Skopos zu beweisen, dass Gott ist, entspricht m.E., dass Augustinus durchaus davor zurückschreckt, Gott in seiner Trinität zu einem x-beliebigen Erkenntnisobjekt bzw. -substrat herabzustufen, weil die Trinität nur als alles überragend 'gedacht' werden kann ("Intentioni animi subiacet – excepta incommutabilitate trinitatis, quae quidem non subiacet sed eminet potius – [...]", lib. arb. III, 269).

67 transzendiert in seinem 'Immer-Sein'.118 Hier treffen sich für Augustinus Philosophie und Glaube, wie seine Reaktion gegenüber Evodius' wenig philosophischen, aber 'frommen Zögern' zeigt. In einem Moment des Dialogs, wo es erneut darum geht, ein theologisches Problem – wie das von der Suche nach Gott oder der Frage nach der Ursache des Bösen (s.o. Kap. 1 und 2) – auszumachen, verweist Augustinus wiederum darauf, dass ein solcher Schritt schon von Gott begleitet und vorbereitet ist,119 ohne dass die Dialogpartner dies nach Augustins literarischer Darstellung bemerken würden: Das Thema der Bezogenheit des menschlichen Denkens auf das von seinem eigenen Wesen her immer schon (intellektiv) Erkennbare, der Bezogenheit des gelingenden menschlichen Strebens nach Gutem auf die vorausliegende universale Ursache des Guten schwingt auch hier für Augustinus mit und wird im Blick auf seine spätere Gnadenlehre noch zu berücksichtigen sein. Dass der junge Augustinus damit nicht 'überinterpretiert' wird, lässt sich anhand der Soliloquia zeigen, wo Augustinus folgende Worte an die personifizierte Ratio richtet: "Führe mich, ich flehe dich [sc. o Ratio] an, und reiße mich fort, wohin du willst!" "Duc, oro te, ac rape, quo vis" (sol. I, 15, 27).120 Das menschliche Denken wird in seiner Suche nach Gott und dessen Wahrheit gemäß Augustins Darstellung nur zum Ziel gelangen durch eine Vermittlung zwischen Mensch und Gott, die von göttlicher Seite initiiert ist. Diese Vermittlungsinstanz ist in den 'Selbstgesprächen' die gleichsam 'engelhafte Ratio', die im Diskurs mit sich selbst unter Gottes Hilfe die Wahrheit (bzw. damit zusammenfallend: die göttliche Weisheit, Sapientia [lib. arb. II, 102]) sucht und dadurch auch Augustinus als ihrem Dialogpartner Anteil an der Wahrheit zukommen lässt.121 Nochmals gilt: Tatsächliche Denk-Erkenntnis wird Augustinus zufolge 118

Augustinus argumentiert im Sinn des platonischen oÃntwj oÃn: "Nulla igitur recte dicuntur esse nisi immortalia" (sol. I, 15, 29). 119 Zur Vorbereitung des (guten) menschlichen Wollens und Denkens durch Gott in den Werken des späten Augustinus s.u. Kap. 11. 120 Vgl. zum 'Gezogenwerden' des Menschen durch Gott Jh 6, 44. 121 Zur Interpretation des Werktitels vgl. im Anhang: Exkurs 1 zu den Soliloquia als 'Selbstgesprächen'. Zum 'Weise-Sein' durch Anteilhabe an der göttlichen, in sich bleiben-

68 nicht durch den Menschen erst ins Sein gerufen, sondern ist bereits von Gott her geleitet und eine Beziehung zwischen Erkennendem und dem (der ontologischen Rangfolge nach über dem menschlichen Denken stehenden) Intelligiblen. "Es handelt sich um Dreierlei: dass Gott ist, dass er durch intellektives Denken erkannt wird, und dass er das Erkennen des Übrigen wirkt." "tria quaedam sunt: quod est [sc. deus], quod intelligitur, et quod cetera facit intellegi" (sol. I, 8, 15). 'Diese drei' sind miteinander vereint, wenn Augustinus in lib. arb. II, 55 (s.o.) zu Evodius sagt, Gott habe Evodius' Denken die Antwort (ein-)gegeben: Gottes Sein ist gewissermaßen 'eingekreist'122 als das, zu welchem nichts Höheres ist, und damit auf gewisse Weise bereits erkannt – dadurch, dass diese Erkenntnis den menschlichen Denkanstrengungen geschenkt wird. Damit ist zugleich ein literarischer Bogen zurück zum Beginn des zweiten Buchs von De libero arbitrio geschlagen (s.o. Kap. 4.1), wo Augustinus gebetet hatte: "Schenken wird freilich Gott, wie ich hoffe, dass ich dir zu antworten vermag oder eher noch du dir selbst antwortest, wenn nur eben die, welche die höchste Lehrmeisterin von allen ist, – die Wahrheit – von innen her [sc. dich] unterweist." "Donabit quidem deus, ut spero, ut tibi valeam respondere, vel potius ut ipse tibi, eadem quae summa omnium magistra est veritate intus docente, respondeas" (lib. arb. II, 9).

4.5. Das allen zugängliche intelligible Licht als Perspektive auf Gott Im Fortgang der Diskussion des zweiten Buchs von De libero arbitrio weist Augustinus auf der Basis der ontologischen Stufungen zwischen Wahrnehmbarund Intelligibel-Seiendem die zunehmende Einheitlichkeit in dieser Gestuftheit des Seienden nach. Jeder Mensch habe seine eigene körperliche Wahrnehmung mittels der unterschiedlich ausgeprägten Wahrnehmungsorgane und auch seinen eigenen inneren Sinn, durch den man auch wahrnimmt, dass man wahrnimmt – den Weisheit vgl.: "[...] quia participatione manentis in se sapientiae renovantur, ut sapientes sint" (conf. VII, 9, 14). 122 Zur theologischen Kreismetapher vgl. auch Kap. 10 und 11.

69 sonst wäre nicht erklärlich, wieso man etwas sehen kann, was jemand anders nicht sieht123; ebenso erlange man individuell in unterschiedlicher Weise rationale Erkenntnis.124 Die sinnliche Erkenntnis sei von den Bedingungen ihrer Möglichkeit weniger einshaft: Z.B. könne man zwar von demselben Honig schmecken, schmecke aber nicht denselben Teil der Speise; ferner könne man dasselbe sehen, sich aber auch in der Sicht behindern oder man könne denselben Teil eines Körpers betasten, aber nicht zur selben Zeit.125 Im Unterschied dazu stünden geistig-intelligible Sachverhalte in von sich selbst her größerer Einheitlichkeit dem rationalen Denken jedes einzelnen Menschen offen, da sie ohne Einschränkung von vielen Menschen zugleich erkannt werden könnten und keine Zerstörung erlitten, während dem Wahrnehmbaren dies widerfahre.126 Als Beispiel für das Intelligible führt Evodius das unverändliche, geistige Sein der Zahl an, das von jedem rationalen Wesen erfasst werden könne. Augustinus präzisiert, dass das Sein der Zahl nicht etwas nur von Körperlich-Dinghaftem Abstrahiertes oder nur Abbild (imago) der Realität, sondern "von sich selbst her eine bestimmte Natur" sei,127 und unterstreicht damit die unabhängig von der wahrnehmbaren Realität bestehende geistige Realität. Da das Wahrnehmbare nach Augustinus von höher stehenden, lebendigeren intelli-

123

"[...] manifestum est et tuum non nisi tuum et meum sensum [sc. corporis] non esse nisi meum. […] Nam et ille [sc. sensus interior] utique sensum meum sentit et tuum sentit tuus; nam ideo plerumque interrogor ab eo qui aliquid videt, utrum hoc etiam ego videam, quia ego me videre aut non videre sentio, non ille qui interrogat" (lib. arb. II, 59-60). 124 "Manifestum est etiam rationales mentes singulos quosque nostrum singulas habere" (lib. arb. II, 61). 125 "[...] etsi unum aerem naribus ambo trahimus aut unum cibum gustando capimus, non tamen eam partem aeris duco quam tu nec eandem partem cibi sumo quam tu, sed aliam ego aliam tu" (lib. arb. II, 67). "Sed in hoc video [sc. tangendi sensum] esse dissimilem, quod simul, id est uno tempore, et videre aliquid unum totum ambo possumus et audire, tangere autem possumus quidem totum aliquid ambo uno tempore, sed partibus singulis, eandem autem partem non nisi temporibus singulis" (lib. arb. II, 71). 126 "Age, nunc attende, et dic mihi utrum inveniatur aliquid quod omnes ratiocinantes sua quisque ratione atque mente communiter videant, cum illud quod videtur praesto sit omnibus nec in usum eorum quibus praesto est commutetur quasi cibus aut potio, sed incorruptum integrumque permaneat, sive illi videant sive non videant" (lib. arb. II, 79). 127 "Tamen, si tibi aliquis diceret numeros istos non ex aliqua sua natura, sed ex his rebus quas corporis sensu attingimus inpressos esse animo nostro quasi quasdam imagines quorumque visibilium, quid responderes?" (lib. arb. II, 81).

70 giblen Prinzipien128 abhängt und umgekehrt ein abbildhaftes Sein des Intelligiblen darstellt (mus. VI, 17, 56), möchte Augustinus speziell diesen Irrtum, das Geistige könne etwas bloß Sekundäres sein, unbedingt vermeiden und begründet das nicht-wahrnehmbare, unkörperliche, sondern rein intelligible Sein der Zahl (im Unterschied zu Gezähltem, dem zahlhaftes Sein nur akzidentell zukommt) zunächst mit einer simplen Überlegung: "Aber dass auch die Zahlen selbst nicht durch körperliche Wahrnehmungen eingeführt werden, wirst du leicht einsehen, wenn du daran denkst, dass jede beliebige Zahl nach ihrem bestimmten Wievielfachen von Eins benannt wird, z.B.: Wenn sie zweimal Eins hat, wird sie 'Zwei', wenn dreimal 'Drei' und wenn zehnmal 'Zehn' genannt. Und um welche Zahl auch immer es sich handelt: Wieviel mal sie Eins enthält, nach diesem Kriterium hat sie ihren Namen und wird nach dem Sovielfachen benannt. 'Eins' aber kann, – wie jeder, der dies wahrhaft bedenkt, finden wird – nicht von körperlichen Wahrnehmungen wahrgenommen werden. Was immer nämlich durch einen solchen Sinn berührt wird,129 ist nachweisbar schon nicht mehr Eins, sondern Vieles; denn es ist Körper und hat deshalb unzählbare Teile. [...] Woher also weiß ich, dass ein Körper nicht Eins ist? Denn wenn ich nicht Eins erkannt hätte, könnte ich an einem Körper nicht Vieles zählen. Woher auch immer ich aber Eins kenne, ich kenne es jedenfalls nicht durch körperliche Wahrnehmung, weil ich durch körperliche Wahrnehmung nichts als Körper kenne, von dem wir überzeugt sind, dass er wahrhaftiger- und reinerweise nicht Eins ist. Ferner gilt, wenn wir Eins nicht durch körperliche Wahrnehmung erfasst haben, haben wir keine Zahl durch diesen Sinn erfasst, wenigstens von den Zahlen, die wir mit der intellekthaften Erkenntnis unterscheiden."

128

So urteilt die rationale Seele mit ihren "lebendigeren Zahlen" über die Zahlen, die unter ihr sind und von der Seele, insofern sie sinnlich wahrnehmend tätig ist, bewegt werden, wenn sie durch eine mit der jeweiligen körperlichen Affektion korrespondierende zahlhafte seelische Bewegung Sinnliches erkennt ("recte etiam videri potest ratio [...] nullo modo sine quibusdam numeris vivacioribus de numeris, quos infra se habet, posse iudicare", mus. VI, 9, 24). 129 Zum nicht-haptischen Verständnis von attingit(ur), gemäß dem ein bestimmtes Wahrnehmungsvermögen (sensus) ein zugrunde liegendes Objekt (unter Gebrauch des jeweiligen körperlichen Organs) hinsichtlich der für diesen bestimmten sensus erkennbaren bzw. 'herausfassbaren' Qualität 'berührt', nicht aber ein Körper an einen anderen 'stößt', s.o. Anm. 99; sowie Anm. 98 zum Herausfassen (excipietur) einer wahrnehmbaren Bestimmtheit durch den entsprechenden Sinn.

71 "Sed ipsos quoque numeros non per corporis sensus adtractos esse facile videbis, si cogitaveris quemlibet numerum tot vocari quotiens unum habuerit; verbi gratia, si bis habuerit unum, duo vocantur, si ter tria, et si decies unum habent tunc vocantur decem, et quilibet omnino numerus quotiens habet unum hinc illi nomen est et tot appellatur. Unum vero quisquis verissime cogitat profecto invenit corporis sensibus non posse sentiri. Quidquid enim tali sensu attingitur, iam non unum sed multa esse convincitur; corpus est enim et ideo habet innumerabiles partes. [...] Ubi ergo novi quod non est corpus unum? Unum enim si non nossem, multa in corpore numerare non possem. Ubicumque autem unum noverim, non utique per corporis sensu novi, quia per corporis sensum non novi nisi corpus, quod vere pureque unum non esse convincimus. Porro si unum non percepimus corporis sensu, nullum numerum eo sensu percepimus, eorum dumtaxat numerorum quos intellegentia cernimus" (lib. arb. II, 84-87). In diesem Abschnitt macht Augustinus (in sachlicher Übereinstimmung zu Platon, vgl. Politeia 525a) darauf aufmerksam, dass alles, was körperlich ist (und sei es – modern gesprochen – auch mikrokosmisch winzig), qua Körper auch Teile hat und deshalb vielheitlicher Natur ist, dass aber für diese Erkenntnis des Vielen, dem als Ganzen sowie einem jeden seiner unbestimmbar vielen Teile immer schon eine bestimmte Einheitlichkeit zugesprochen wird, bereits die Voraussetzung von Einheit gemacht und angewendet worden ist. Die in einer Vielheit verwirklichte Einheit ist aber gerade nicht damit zu verwechseln, was 'Eines' von sich selbst her ist – dieses kann, wie man Augustinus entnehmen kann, selbst nicht Vieles sein, weil es sonst nicht mehr Eines wäre. Diese scheinbar simple, aber theologisch höchst bedeutsame Unterscheidung wird bereits immer dort vorausgesetzt, wo man verschiedenes Vieles erkennt wie etwa viele Teile, weil diese sonst gar nicht als etwas voneinander Unterscheidbares, Abgegrenztes und gemeinsam eine bestimmte Vielheit Bildendes erkennbar wären: Zur Unterscheidung einer bestimmten Vielheit bedarf es der Voraussetzung der in ihr als Ganzem und in ihren Teilen realisierten Einheit; diese Einheit in der Vielheit ist nicht von sich selbst her Eines, aber Eines muss als Bedingung der Möglichkeit für erkennbare und realisierbare Einheit sachlich früher bestehen und vorausgesetzt werden können – wie es das rein geistig einsehbare Sein der einheitlich bestimmten Zahlen in ihrer Rückführbarkeit auf das intelligible unum als universeller Ursache aller Einheitlichkeit überhaupt zeigt.130 130 Vgl. ferner Platon, Politeia 526a. Zur Prinzipienhaftigkeit des Einen, zum "unum principale" bei Augustinus s. vera rel. 232; 178-9. S. ferner mus. VI, 17, 56 und lib. arb.

72 Würde man ein bestimmtes Ein-Artiges erneut zerlegen, wäre Augustinus darin bestätigt, dass dieses Zerlegbare nicht wahrhaft Eines ist, sondern teilbar; in dem Zerteilten würde man wiederum das entstandene Viele nur nach dem vorausliegenden geistigen Kriterium des (unteilbaren) Einen ordnen. Auch die veränderlichen Zahlen, die als Materie den Rechenoperationen zugrunde liegen, sind insofern nur abbildhafte Zahlen, die in ihren Bestimmtheiten mit anderen fusionieren und wechseln können – dies aber nur deshalb, weil bestimmte transzendente, ontologisch höher stehende Zahlen in ihrer Bestimmtheit verharren und den veränderlichen auf diese Weise anteilmäßig zahlhafte Bestimmtheit zukommen lassen.131 Augustinus macht prägnant darauf aufmerksam, dass etwa die zahlhaften Bestimmtheiten eines natürlichen Körpers, sofern sie aus einem befruchtenden Samen entstehen, nicht selbst "körperlich aufgebläht" sein können wie der Same selbst, weil sonst "aus nicht-ganzen tierischen Samen keine ganzen und vollständigen Tiere entstehen würden."132 Auch die auf körperliche Weise übertragenen Zahlen sind selbst also unkörperlich, ohne Ausgedehntheit und 'Aufblähung'.

III, 236 und zur Verehrung des Einen s. vera rel. 309. Vgl. ferner Schmitt (1990: 234-5): "Augustinus entspricht [...] der von allen Mathematiktheoretikern der Spätantike [...] vertretenen Lehre, daß die Einheit duna/mei – lateinisch: vi et potentia – alle in der Arithmetik differenzierbaren Formen und Gesetze von Zahlen schon in sich enthält." 131 "[…] itaque quoniam de corporibus facile iudicamus tamquam de rebus quae infra nos ordinatae sunt, quibus inpressos numeros cernimus, putamus etiam ipsos numeros infra nos esse et eos propterea vilius habemus. Sed cum coeperimus tamquam sursum versus recurrere, invenimus eos etiam nostras mentes transcendere atque incommutabiles in ipsa manere veritate" (lib. arb. II, 125-6); "[…] ut numerum sempiternum videas: iam tibi sapientia de ipsa interiore sede fulgebit et de ipso secretario veritatis" (ibd., 167). "Sensi etiam numeros omnibus corporis sensibus, quos numeramus; sed illi alii sunt, quibus numeramus, nec imagines istorum sunt et ideo valde sunt" (conf. X, 12, 19). S. ferner: mus. VI, 9, 24; mus. VI, 17, 58. – Vgl. Radke (2003: 590; 517-9; 545-547) zu (1) den eidetischen Zahlen und dem an ihnen zu unterscheidenden demiurgischen Aspekt innerhalb des intelligibel-Seienden sowie zu (2) dem Auseinanderfallen der Form- und Wirkursächlichkeit(en) im Bereich des partikulär-vergänglich Seienden gemäß den Platonikern. S. ferner: M. Bettetini (1999). "Ai limiti della materia, tra neoplatonismo e cristianesimo. Per una lettura del De musica di Agostino d'Ippona", in: Zur Rezeption der hellenistischen Philosophie in der Spätantike. Hrsgg. T. Fuhrer und M. Erler mit K. Schlapbach. Philosophie der Antike Bd. 9. Stuttgart, 1999; 123-138. 132 "Si enim numeri seminum sicut ipsa semina tumerent, [...] neque de animalium seminibus etiam non totis animalia tota et integra gignerentur" (vera rel. 225).

73 Mittels dieses Beispiels, welches das von sich selbst her bestimmte Sein des Geistigen aufzeigen soll (im Unterschied zu etwas bloß subjektiv Konstruiertem, das keine allgemeine Seinsbestimmtheit besitzt), stellt Augustinus nun die Frage nach der Sapientia, der Weisheit selbst, und fragt Evodius, ob er meine, dass die Menschen jeweils ihre eigenen Weisheiten besäßen oder eine Weisheit allen gemeinsam in teilhabbarer Weise zugänglich sei.133 Evodius erwidert, die Menschen seien ja uneins darüber, was Weisheit und weise sei134 – einige jagten dem Kriegsglück nach, andere dem Geld, wieder andere der Wahrheit und Gott. Aus dieser Antwort kann Augustinus die generische Bestimmung ableiten, dass alle Menschen nach Gutem streben und dass Weisheit das Wissen um die Wahrheit sei, in der diese Suche nach Gutem auch zu ihrer wahren Erfüllung komme135:

"Glaubst du etwa, dass etwas anderes die Weisheit sei als die Wahrheit, in der das höchste Gut unterschieden und erfasst wird? Denn jene alle, die du aufgezählt hast, wie sie Verschiedenes verfolgen, erstreben Gutes und vermeiden Schlechtes; aber deshalb verfolgen sie Verschiedenes, weil Verschiedenen Verschiedenes gut erscheint. Wer immer also Nicht-Erstrebenswertes erstrebt – obschon er es nicht erstreben würde, wenn es ihm nicht gut erschiene –, irrt trotzdem. Irren aber kann weder der, der nichts erstrebt, noch der, der das erstrebt, was angemessenerweise erstrebt wird. Inwiefern also alle Menschen das glückselige Leben anstreben, irren sie nicht; inwiefern aber jemand den Lebensweg, der zur Glückseligkeit führt, nicht befolgt, obwohl er bekennt und behauptet, nichts zu wollen als zur Glückseligkeit zu gelangen, insofern irrt er." "Num aliam putas esse sapientiam nisi veritatem in qua cernitur et tenetur summum bonum? Nam illi omnes, quos commemorasti diversa sectantes, bonum adpetunt et malum fugiunt; sed propterea diversa sectantur quod aliud alii videtur bonum. Quisquis ergo adpetit quod adpetendum non erat, tametsi id non adpeteret nisi ei videretur bonum, errat tamen. Errare autem neque ille potest qui nihil adpetit neque ille qui hoc adpetit quod debet adpetere. In quantum igitur omnes homines adpetunt vitam beatam, non errant; in quantum autem quisque non eam tenet vitae viam quae ducit ad beatitudinem, cum 133

"Singulas quasque suas arbitraris singulos quosque homines habere sapientias? An vero una praesto est communiter omnibus, cuius quanto magis quisque fit particeps tanto est sapientior" (lib. arb. II, 96). 134 "Quam dicas sapientiam nondum scio, video quippe varie videri hominibus quid fiat dicaturve sapienter" (lib. arb. II, 97). 135 Vgl. Platon, Euthydemos 279a ff.

74 se fateatur et profiteatur nolle nisi ad beatitudinem pervenire, in tantum errat" (lib. arb. II, 100-101). Ohne diese Parallele ausdrücklich zu betonen, führt Augustinus analog zum unum als dem Prinzip der (unbegrenzt vielen) Zahlen auch das Streben nach Gutem auf eine einheitliche Ursache zurück, von der her dieses allen Menschen (und auch Tieren, lib. arb. II, 26-28) gemeinsame Streben als erstes motiviert ist und bei dem es auf einzig wahrhafte Weise auch zum Ziel, zum Erreichen des Guten gelangen kann. Die Voraussetzung der Einheit von Sein und Erkenntnis führt Augustinus also nur weiter fort: Schon auf der Ebene der sinnlichen Wahrnehmung wird ein vielheitlicher Körper nur auf dem Wege der Erkenntnis und Synthese einheitlicher Aspekte an ihm – mehr oder weniger – erkannt; auch die Frage 'Was ist Wahrnehmung?' als Beispiel für einen rationalen Erkenntnisgegenstand konnte oben nur auf der Voraussetzung erörtert werden, dass etwas bestimmtes Einheitliches auffindbar ist, was Wahrnehmung ist. Evodius drängt Augustinus, seine Gedanken noch prägnanter zu fassen, woraufhin dieser erwidert: "Ich wollte freilich, dass somit niemand über das höchste Gut zweifelte, genauso wie niemand daran zweifelt, dass – was auch immer jenes ist – der Mensch nicht glücklich werden kann als nur dadurch, das er jenes [sc. Gut] erlangt. Aber weil es eine große und wichtige Frage ist und vielleicht einer großen Ausführung bedarf, lass uns annehmen, dass es tatsächlich so viele höchste Güter gibt, wie es verschiedene Dinge gibt, die von verschiedenen [sc. Menschen] gleichsam als höchste Güter erstrebt werden. Folgt also etwa daraus, dass auch die Weisheit (sapientia) nicht eine einzige und allen gemeinsam sei, weil diese Güter, die die Menschen in ihr erkennen und auswählen, viele und verschiedene sind? Wenn du nämlich dieses glaubst, könntest du auch über das Licht der Sonne zweifeln, ob es eines ist, weil es viele und verschiedene Dinge sind, die wir in ihm sehen. Von diesen vielen wählt ein jeder nach seinem Willen das aus, woran er sich durch die Sinneswahrnehmung der Augen erfreut: Einer betrachtet gern die Höhe eines Berges und freut sich an diesem Anblick, ein anderer die Ebene eines Feldes, wieder ein anderer tiefe Täler, noch einer das Grün der Haine, der nächste die gleichmäßige Bewegung des Wassers, der übernächste alle diese Dinge, oder aber es trägt einiges von diesen Dingen, wenn sie zusammen und zugleich auftreten, noch mehr zur Freude des Betrachtens bei. Wie es also diese vielen und verschiedenen Dinge gibt, die die Menschen im Lichte der Sonne sehen und zu ihrer Freude auswählen, das Licht selbst jedoch eines (lux tamen ipsa una) ist, in dem man sieht und festhält, woran man sich bei einem jeden Anblick freut,

75 so ist es – auch wenn diese Güter viele und verschiedene sind, aus denen ein jeder sich auswählen möge, was er will, und dieses beim Ansehen und Festhalten zum Genuss des für ihn höchsten Gutes rechtmäßig und wahrhaftig bestimmen möge – so ist es dennoch möglich, dass dasselbe Licht der Weisheit (lux ipsa sapientiae), in dem diese Dinge geschaut und erfasst werden können, allen Verständigen ein einziges gemeinsames ist. [...] Halten wir einstweilen fest, dass Weisheit ist; aber ob sie allgemein und eine für alle ist oder ob die einzelnen Weisen ihre [sc. Weisheiten] haben wie auch ihre Seelen und Intellekte (mentes), dies erfassen wir noch nicht."136 "Vellem quidem, ut de summo bono ita nemo dubitaret, ut nemo dubitat, quicquid illud est, non nisi eo adepto posse fieri hominem beatum. Sed quoniam magna quaestio est et longum sermonem forte desiderat, putemus omnino tot summa bona esse quot sunt ipsae res diversae quae a diversis tamquam summa bona adpetuntur. Num ideo sequitur, ut etiam ipsa sapientia non sit una communis omnibus, quia ea bona quae in illa cernunt et eligunt homines multa et diversa sunt? Si enim hoc putas, potes et de luce solis dubitare quod una sit, quia multa et diversa sunt quae in ea cernimus. De quibus multis eligit quisque pro voluntate quo fruatur per oculorum sensum: et alius altitudinem montis alicuius libenter intuetur et eo gaudet aspectu, alius campi planitiem, alius convexa vallium, alius nemorum viriditatem, alius mobilem aequalitatem maris, alius haec omnia vel quaedam horum simul plura confert ad laeti136

Vgl. in diesem Zusammenhang auch Augustins Auffassung, dass es zu jeder Zeit (auch in nicht-jüdischen Völkern vor der Offenbarung Christi) Menschen von wahrhaftiger Religion gegeben habe, vgl. Horn (1995: 34) sowie: J.P. Burns (1994). "The Atmosphere of Election: Augustinianism as Common Sense", in: Journal of Early Christian Studies, 1994, Bd. 2; 325-339; 331). "Nam res ipsa, quae nunc Christiana religio nuncupatur, erat et apud antiquos nec defuit ab initio generis humani, quousque Christus veniret in carne, unde vera religio, quae iam erat, coepit appellari Christiana" (retr. I, 12, 3). Vgl. ferner civ. II, 1; X, 25 und 32; XVI, 2; XVIII, 47; praed. sanct. 10, 19. Gleichwohl gilt gemäß dem praeter hanc viam nemo (civ. X, 32), dass Augustinus nur einen Erlösungsweg – durch Christus – anerkennt und seine frühen Äußerungen in den sol. revidiert: "item quod dixi: 'Ad Sapientiae coniunctionem non una via perveniri' (sol. I, 13, 23) non bene sonat; quasi alia via sit praeter Christum, qui dixit: 'ego sum via' (Jh 14, 6)" (retr. I, 4, 3). So wissen ja z.B. die heidnischen Platoniker gemäß Augustinus zwar um die Schau Gottes, aber nicht um den Weg zu ihm, der nicht über die Erkenntnis, sondern die Demut (vgl. Augustins Selbstkritik über philosophische, in seinen Frühwerken dargestellte Gespräche in Hochmut, "superbiae schola", conf. IX, 4, 7) und das Empfangen des von Gott selbst in Christus bereiteten Wegs zu ihm führt ("Et aliud est de silvestri cacumine videre patriam pacis et iter ad eam non invenire [...], et aliud tenere viam illuc ducentem cura caelestis imperatoris munitam", conf. VII, 21, 27). Auch die Heiden, die "das Gesetz in ihrem Herzen geschrieben tragen" (Rö 2, 15), gehören schon dem Neuen Bund in Christus an (spir. et litt. 26, 44).

76 tiam videndi. Sicut ergo ista multa et diversa sunt quae in luce solis homines vident et eligunt ad fruendum, lux tamen ipsa una, in qua videt et tenet quo fruatur unius cuiusque intuentis aspectus, ita, etiam si multa sunt bona eaque diversa, e quibus eligat quisque quod volet idque videndo et tenendo ad fruendum summum sibi bonum recte vereque constituat, fieri tamen potest, ut lux ipsa sapientiae, in qua haec videri et teneri possunt, omnibus sapientibus sit una communis. [...] Tenemus interim esse sapientiam; sed utrum sit communis una omnibus an singuli sapientes suas habeant sicut animas vel mentes suas, hoc nondum tenemus" (lib. arb. II, 106-109). Wie schon zuvor (s. Kap. 4.4) argumentiert Augustinus auch jetzt behutsam: Es geht ihm darum zu zeigen, dass intelligibles Wissen und Weisheit ist – analog zu dem erstrangigen Beweisziel, dass Gott ist. Eine genauere Bestimmung ist zunächst noch nachrangig. Jedoch führt Augustinus sogleich weiter aus, dass die Einsicht, dass Weisheit ist und dass Menschen glückselig und weise sein wollen (zumindest das, was sie für gut halten, erkennen wollen), doch wohl eine für alle gleichermaßen einsehbare und keine subjektiv beschränkte Erkenntnis sei, die nur ein Mensch erreichen könne und ein weiterer nur durch verbale Mitteilung von ihm. Augustins Dialogpartner Evodius stimmt dem zu, so dass Augustinus konkludieren kann, dass das, "was wir beide mit unseren einzelnen Intellektbegabungen sehen, dennoch jedem von uns beiden gemeinsam" und deshalb ein von sich her Eines ist.137 Dahinter steht der Gedankengang, dass analog zum Licht der Sonne,138 das verschiedenes einzelnes Schönes erst sichtbar werden lässt, auch das Streben nach Gutem sowie nach dem Wissen um das, was das menschliche Streben nach Gutem zur Erfüllung führt, erst in der Quelle des Wissens und des Guten erlangt wird. Aus der gemäß Augustinus für alle Menschen gleichermaßen erkennbaren 137

"A: 'Quid? Hoc quod tenemus vel esse sapientiam vel sapientes et beatos esse omnes homines velle, ubi videmus? Nam hoc te videre et verum esse nullo modo utique dubitaverim. Hoc ergo verum sic vides ut cogitationem tuam, quam si mihi non enunties, ego prorsus ignoro? An ita, ut intellegas et a me videri posse hoc verum, tametsi mihi abs te non dicatur?' – E: 'Immo ut abs te quoque, etiam me invito, videri posse non dubitem.' – A: 'Quod ergo unum verum videmus ambo singulis mentibus, nonne utrique nostrum commune est?' – E: 'Manifestissime.' – […] A: 'Hoc item verum et unum esse et omnibus qui hoc sciunt ad videndum esse commune, quamvis unus quisque id nec mea nec tua nec cuiusquam alterius, sed sua mente conspiciat, cum id quod conspicitur omnibus conspicientibus communiter praesto sit, numquid negare poterimus?' – E: 'Nullo modo'" (lib. arb. II, 110-112). 138 Vgl. der Sache nach Platons Sonnengleichnis (Politeia, 508a – 509b).

77 Tatsache, dass alle immer nach dem streben, was sie für etwas Gutes halten und lieben, um Glück darin zu finden (s.o. Kap. 3.3),139 leitet Augustinus ab, dass alles Streben insofern eine übergeordnete identische Ursache hat.140 Von ihr her besitzen die Menschen einen bestimmten, wenn vielleicht auch nur dunklen Begriff von beatitudo.141 Augustinus argumentiert in einem überraschenden, weil nicht en detail erläuterten Sprung, dass die beiden Erkenntnisse (1) 'Allen Menschen ist gemeinsam, dass sie nach Gutem streben' und (2) 'Dass alle nach Gutem streben und deshalb Gutes erkennen wollen, ist eine für alle gemeinsam erkennbare Tatsache' auf eine für alle Menschen gemeinsame Quelle und Ermöglichungsursache des Guten und der Erkenntnis schließen lassen: In deren intelligiblem Licht haben die zusammengehörenden Erkenntnisse (1) und (2) erst ihre Ermöglichungsbedingung – so, wie auch das einzelne Sichtbare nur in dem Licht der Sonne (d.h. im Wirken des Prinzips der Wahrnehmungserkenntnis, das von der gemeinten Sache her nicht nur auf 'Sehen' beschränkt ist) gesehen werden kann. Deshalb werde bei aller menschlichen Differenz in der Meinung, was denn nun das beatitudo stiftende Gut sei, bereits diese Möglichkeit des Erkanntwerdens und somit des Seins einzelner Güter als ein und mit sich selbst identisches Gut implizit vorausgesetzt. Dies muss (analog zum Licht der Sonne) als sachlich übergeordnete und vorausliegende einheitliche Ursache Bestand haben und begründet erst die allgemeine Möglichkeit des Seins und des Erkanntwerdens partikulärer Güter und wohnt insofern gewissermaßen jedem tatsächlichen Erkenntnisakt als Ermöglichungsursache bei. Diese universelle Ursache des Seins und der Erkenntnis einzelner Güter ist das höchste Gut: Sie ist nach Augustinus die höchste seiende und intelligible Weisheit, die genauso wenig wie das intelligible Wesen der Zahl (s.o.) vom Menschen erst sekundär durch Abstraktion von etwas Wahrnehmbar-Dinglichem hervorgebracht wird, sondern von sich selbst her das höchste Intelligible ist – sie

139

"Omnium certa sententia est, qui ratione quoquo modo uti possunt, beatos esse omnes homines velle" (civ. X, 1); "[...]; nullus autem invenitur, qui se nolit esse felicem" (civ. IV, 29). Zum Zusammenhang von Liebenswertigkeit und Gutheit vgl. Rist (1994: 184): "Augustine certainly held that the more lovable is also the more intelligible, but if we are talking about human motivation, we need an object which is desirable as well as intelligible; Augustine knew that as well as Hume or Plato." 140 Vgl. Neumann (1986: 125-6). 141 lib. arb. II, 103.

78 ist das eine Licht der Sapientia divina.142 In ihr fallen die Einzelerkenntnisse der einzelnen Gutheiten und das Streben nach Gutem als ontologisch höchstem143 Grund zusammen; hier kommt das Streben nach Gutem zum Ende und Ziel, weil die Ursache, weshalb einzelne Güter in ihrer partikulären Weise erstrebenswert sind, das höchste Gut selbst ist und es deshalb um seiner selbst willen, d.h. in nicht mehr partikulärer, sondern vollkommen-universeller Weise erstrebenswert ist: "Denn niemand ist glückselig außer durch das höchste Gut, das in der Wahrheit, die wir Weisheit nennen, unterschieden und erfasst wird." "Nemo enim beatus est nisi summo bono, quod in ea veritate quam sapientiam vocamus cernitur et tenetur" (lib. arb. II, 102). "Jenes nämlich ist das Ziel des unserer Auffassung nach Guten: das, weshalb das Übrige erstrebenswert ist; es selbst aber ist um seiner selbst willen [sc. erstrebenswert]." "Illud enim est finis boni nostri, propter quod appetenda sunt cetera, ipsum autem propter se ipsum" (civ. XIX, 1). "Das Gute, was ihr liebt, ist von Jenem [sc. von Gott]. Aber insofern es auf Jenen [sc. bezogen] ist, ist es gut und süß – aber bitter wird es gerechterweise sein, weil ungerechterweise all das, was von Jenem sein Sein hat, geliebt wird, wo Jener verlassen worden ist." "Bonum quod amatis ab illo est: sed quantum est ad illum, bonum est et suave; sed amarum erit iuste, quia iniuste amatur deserto illo quidquid ab illo est" ( conf. IV, 12, 18). Damit ist nun nicht gemeint, Augustinus würde totalitär vorschreiben, was jeder Einzelne folglich als gut zu empfinden habe – er sagt ja gerade in dem Beispiel des oben übersetzten Abschnitts (lib. arb. II, 106-108), dass man zu Recht verschiedenes Schönes im Licht der Sonne erblicken kann, dabei aber immer schon das Licht der Sonne als einheitliches Prinzip der Sichtbarkeit vor142

"[...] sapientia non est ab illo qui inluminatur sed ab illo qui inluminat" (lib. arb. III, 247); "cum ad se ipsam veritas non utique ratiocinando perveniat, sed quod ratiocinantes appetunt, ipsa sit" (vera rel. 203); "Quae rursus omnia, quae de hac luce mentis nunc a me dicta sunt, nulla alia quam eadem luce manifesta sunt. Per hanc enim intellego vera esse, quae dicta sunt, et haec me intellegere per hanc rursus intellego" (vera rel. 271). 143 Da das geistige Sein im Unterschied zum wahrnehmbaren (vgl. lib. arb. III, 72-73) weder vergänglich noch von sich her immer nur partikulär ist, wie zu Beginn dieses Kapitels am Beispiel der Zahl erläutert wurde, gilt nach Augustinus das schon zuvor Ausgeführte: "homo intellegit sapientiam et non est melior quam ipsa sapientia" (lib. arb. II, 47).

79 aussetzt. Analog gilt dies für das intelligible Licht: Wenn auch niemand über das Licht der Wahrheit und Weisheit urteilt, "niemand urteilt ohne es gut [sc. und richtig]", sondern erreicht Erkenntnis und Urteile nur gemäß den inneren Regeln der Wahrheit.144 Dieses Licht ist Eines und in ihm werden die vielen 'intelligiblen Schätze' auf wahrhaftige Weise geschaut, weshalb es 'göttliche Weisheit' genannt wird und als Seinsgrund des Intelligiblen das höchste Sein ist, so dass die lux Sapientiae una mit der Wahrheit (Veritas) und dem Absoluten Guten (Summum Bonum) zur selben Sache konvergiert: "Denn es sind nicht viele, sondern es ist eine Weisheit, in der bestimmte unbegrenzte und für sie [sc. die Weisheit] begrenzte Schätze der intelligiblen Sachbestimmtheiten sind, in denen alle unsichtbaren und unveränderlichen rationalen Bestimmtheiten (rationes) auch der sichtbaren und veränderlichen Sachheiten sind, die durch sie [sc. die Weisheit] geschaffen sind." "Neque enim multae, sed una sapientia est, in qua sunt infiniti quidam eique finiti thensauri rerum intellegibilium, in quibus sunt omnes invisibiles atque incommutabiles rationes rerum etiam visibilium et mutabilium, quae per se ipsam factae sunt" (civ. XI, 10).145 144 "[...] nullus de illa iudicat nullus sine illa iudicat bene" (lib. arb. II, 152); "[...] iudicamus haec secundum illas interiores regulas veritatis quas communiter cernimus, de ipsis vero nullo modo quis iudicat" (lib. arb. II, 134); "Quapropter quoniam vera in tantum vera sunt, in quantum sunt, in tantum autem sunt, in quantum principalis unius similia sunt" (vera rel. 187). Das Wahrheitskriterium und somit auch die Wahrheit leitet sich also von dem Einen her (vgl. das Widerspruchsaxiom im platonisch-aristotelischen Sinn: etwas ist nicht zugleich und in selbiger Hinsicht es selbst und nicht es selbst); Augustinus deutet dies theologisch, dass die Wahrheit, der Sohn, vom Vater, dem "ersten und höchsten Prinzip", diese Urteilskraft gemäß der Einheit hat und dass auch in diesem Sinn "der Vater alles Gericht dem Sohn übergeben hat" ("Omnia enim, quae appetunt unitatem, hanc habent regulam vel formam vel exemplum vel si quo alio verbo dici sinit, quoniam sola eius similitudinem, a quo esse accepit, implevit. Si tamen 'accepit' non incongrue dicitur pro ea significatione, qua 'filius' appellatur, quia non de se ipso est, sed de primo summoque principio, qui 'pater' dicitur, 'ex quo omnis paternitas in caelo et in terra nominatur' [Eph. 3, 15]. 'Pater ergo non iudicat quemquam, sed omne iudicium dedit filio' [Jh 5, 22]. Et 'spiritalis homo iudicat omnia, ipse autem a nemine iudicatur' [1 Kor 2, 15], id est a nullo homine, sed a sola ipsa lege secundum quam iudicat omnia, quoniam et illud verissime dictum est: 'Oportet nos omnes exhiberi ante tribunal Christi' [2 Kor 5, 10]. Omnia ergo iudicat, quia super omnia est, quando cum deo est", vera rel. 161-2). 145 Den Nachweis der Einheitlichkeit der Sapientia divina (vgl. "Ipsa est lux, una est et unum omnes, qui vident et amant eam", conf. X, 34, 52) hätte Augustinus innerhalb seiner eigenen Argumentation in De libero arbitrio einfacher führen können, indem er gleich

80

Mit der Einsicht, dass, wenn Sapientia ist, sie auf gewisse Weise auch einshaft ist, verbindet Augustinus ethische Implikationen und Empfehlungen146: Das, was unwandelbar und unverderblich ist (wie die intelligiblen und "lebendigeren"147 Zahlen, lib. arb. II, 94), sei dem Vergänglichen, wie Augustinus schon im ersten Buch erklärt hatte, vorzuziehen, weil eine übermäßige Begierde nach vergänglichen Gütern irrtümlich dem Vergänglichen den Status eines PseudoUnvergänglichen übertrage und zu Unglück und Ungerechtigkeit führe (s.o. Kap. 3.3). Das Postulat des unvergänglichen Seins hat Augustinus nach dem langen Exkurs nun einer ersten allgemeinen Präzision entgegengeführt: Unvergängliches Sein ist intelligibles Sein wie das der (ontologisch) höchsten Zahlen, intelligibles Sein aber ist Wahrheit, da sie in unvergänglicher Weise ewig sie selbst ist,148 und die Weisheit ist die ewige Erkenntnis dieser Wahrheit, so dass unvergängliches Sein (Veritas) und geistig-intelligible Erkenntnis (Sapientia) dasselbe sind (lib. arb. II, 102). Das menschliche Streben nach echter Weisheit ist auf das in höchstem Maße Wahre und Unvergängliche sowie jedem Zugängliche und Unverlierbare orientiert.149 Das Unvergängliche ist seiender als das Vergängliche – welches man, wie Augustinus in lib. arb. I erklärt hat, gegen seinen Willen verlieren kann – und deshalb auch nicht pervertierbar, weil es selbst seine eigene, intelligible Gutheit ohne Verlust bewahrt.

zu Beginn von der Begründung der vorausliegenden, unveränderlich-einshaften Bestimmtheit der intelligiblen Zahl auf eine übergeordnete einshafte Quelle des Intelligiblen überhaupt – als die allen intelligiblen Bestimmtheiten vorausliegende Einheit – geschlossen hätte (vgl. mus. VI, 17, 56), wie er dies später auch tut ("[...] longe venerabilior mihi occurrit sapientia quam numerus", lib. arb. II, 121) und beide in gewisser Weise sogar miteinander identifiziert ("una quaedam eademque res est", ibd., 123). 146 "ut secundum eius [sc. legis] incommutabiles regulas, quid sit pro tempore iubendum vetandumque, discernat" (vera rel. 163). 147 So Augustinus über die intelligiblen Zahlen: "quibusdam numeris vivacioribus" (mus. VI, 9, 24). 148 "[…] veritatem eam dicimus, qua vera sunt omnia, in quantumcumque sunt; in tantum autem sunt, in quantum vera sunt" (imm. an. 12, 19). "Quapropter nullo modo negaveris esse incommutabilem veritatem, haec omnia quae incommutabiliter vera sunt continentem [...]" (lib. arb. II, 130). Vgl. auch conf. VII, 11, 17. 149 "Item a corruptione avertendum animum atque ad incorruptionem convertendum esse, id est non corruptionem sed incorruptionem diligendam esse quis negat? Aut quis, cum verum esse fateatur, non etiam incommutabile intellegat atque omnibus mentibus id valentibus intueri communiter praesto esse videat?" (lib. arb. II, 115).

81 Ein Leben, welches sich an dieser Sapientia und Veritas orientiert, befindet sich nach Augustinus in einer unangreifbaren Sicherheit vor Widrigkeiten innerhalb des veränderlichen Seinsbereiches und ist besser als das, welches sich von zeitlichen Unwägbarkeiten leicht zerbrechen lässt, weil die Liebe zur Wahrheit, wenn sie erstarkt ist, durch nichts Äußerliches behindert noch die Glückseligkeit in Gott weggenommen werden kann.150 Ein allgemeiner ethischer Grundsatz ist deshalb, den Gebrauch und Genuss der irdisch-vergänglichen Güter in Beziehung zu den ewigen Prinzipien auszurichten, so dass z.B. der durch übermäßigen Genuss eines einzelnen Guts (z.B. Speise) entstehende Schaden für den, der dies tut, wie auch für denjenigen, der deshalb möglicherweise Mangel leidet, vermieden und ein für andere und für sich selbst gerechtes Maß im Gebrauch und der Verteilung dieses vergänglichen Guts angestrebt wird, indem das Partikuläre – das immer zu einem Zuviel oder einem Zuwenig ausschlagen kann – möglichst in Übereinstimmung mit dem intelligiblen Universalen gebracht wird: ganz allgemein etwa dadurch, dass rationale Seelen – wie die Menschen – Gerechtigkeit zu praktizieren versuchen, indem sie eine am Intelligiblen orientierte (und insofern von diesem her seelisch vermittelte) Ausgewogenheit151 in der Verteilung irdischer Güter gemäß dem tatsächlichen Bedarf des Einzelnen und dem für ihn guten Maß anstreben. So ist z.B., wie Augustinus sagt, die Habsucht ja nicht ein Fehler des Goldes, sondern dessen, der das Gold in übermäßiger Weise liebt und dabei die Orientierung am Intelligiblen verloren hat, weil er gar nicht mehr an Gerechtigkeit denkt, die aber nach Augustinus von sich selbst her gerade ein viel höheres und schöneres Gut ist als das Gold, weil es unvergänglicher Natur ist.152 150

"Et ut nemo illi [sc. qui deum diligit] iustitiam et deum, sic nemo aufert beatitudinem" (vera rel. 258); "Quid? Eam vitam quae nullis adversitatibus de certa et honesta sententia demovetur, dubitavit aliquis esse meliorem quam eam quae facile incommodis temporalibus frangitur atque subvertitur?" (lib. arb. II, 115). 151 "Sed tunc est vera virtus, quando et omnia bona, quibus bene utitur, et quidquid in bono usu bonorum et malorum facit, et se ipsam ad eum finem refert, ubi nobis talis et tanta pax erit, qua melior et maior esse non possit" (civ. XIX, 10). 152 "Neque enim auri vitium est avaritia, sed hominis perverse amantis aurum iustitia derelicta, quae incomparabiliter auro debuit anteponi; nec luxuria vitium est pulchrorum suaviumque corporum, sed animae perverse amantis corporeas voluptates neglecta temperantia, qua rebus spiritaliter pulchrioribus et incorruptibiliter suavioribus coaptamur" (civ. XII, 8); "Sed anima rationalis deformiter vivit cum secundum trinitatem exterioris hominis vivit, id est cum ad ea quae forinsecus sensum corporis formant non laudabilem voluntatem qua haec ad utile aliquid referat, sed turpem cupiditatem qua his inhaerescit accommodat" (trin. XI, 2, 6).

82 Umgekehrt mag dagegen das Gold zu Recht geschätzt werden, aber nicht in einer ungesunden Weise, die die Seele und 'den Charakter' ruiniert, sondern im Sinn eines gerechten und angemessenen Gebrauchs des Goldes, bei dem der Gerechtigkeit als einem dem vergänglichen Gut 'Gold' übergeordneten Intelligiblen auch in der Praxis der höhere Stellenwert eingeräumt wird. Da die Weisheit und Wahrheit im Unterschied zu partikulären Gütern weder Übermaß noch Mangel hat und von sich selbst her nicht partikulär nur wenigen, sondern allen rationalen Wesen gleichermaßen universell zugedacht ist, zieht Augustinus sie, d.h. das Sein des Intelligiblen, dem Vergänglichen vor ("incommutabile praeferendum esse mutabili", conf. VII, 17, 23). Im Unterschied zu modernen (in kantianischer Tradition stehenden) Auffassungen wie beispielsweise der Peter Bieris gibt sich ein Mensch in seiner Lebens- und Willenswahl, wenn er sich (mittels seiner anteilmäßig-individuellen Rationalität) an der Sapientia zu orientieren versucht,153 nach Augustinus nicht ein in der Autarkie seines Bewusstseins selbst hervorgebrachtes, individuelles 'Gesetz', das sich jedoch dann zusammen mit dem sich im Leben verändernden Selbst ebenso ständig verändern soll.154 Für Augustinus ist der Mensch in seiner religiösen Orientierung auf die Sapientia divina bzw. auf Christus ausgerichtet auf ein dem ontologischen Rang nach von sich selbst her tatsächlich bestehendes, intelligibles und ewiges, personhaftes Wesen, weil es in seiner den Bereich des VereinzeltPartikulären transzendierenden Universalität Ursache des Seins ist und – universell – allen rationalen Wesen gemeinsam zugänglich und gegenwärtig ist.155 Das 153

"Si ergo natura nostra esset a nobis, profecto et nostram nos genuissemus sapientiam nec eam doctrina, id est aliunde discendo, percipere curaremus [...]; nunc vero quia natura nostra, ut esset, Deum habet auctorem, procul dubio ut vera sapiamus ipsum debemus habere doctorem" (civ. XI, 25). 154 "Wir möchten uns das Gesetz unseres Willens selber geben können. [...] Das Gesetz des eigenen Willens gilt nie für immer, denn es ist das Gesetz eines fließenden Selbst. Dazu gehört die Einsicht, daß ein solches Gesetz unmöglich ein ganzes Leben umspannen kann. [...] Ein Selbst, wie es sich aus dem inneren Abstand zu uns selbst entwickelt, ist ein vorübergehendes Gebilde auf schwankendem Grund, und es gehört zu den Voraussetzungen für Willensfreiheit, diese einfache und eigentlich offensichtliche Tatsache anzuerkennen" (P. Bieri [2001]. Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens. München; 423). 155 "omnibus incommutabilia vera cernentibus tamquam miris modis secretum et publicum lumen praesto esse ac se praebere communiter" (lib. arb. II, 130; meine Kursive); "non enim alicubi non est Christus, cum ipse sit sapientia dei adtingens ubique propter suam munditiam" (gn. litt. XII, 34).

83 bedeutet nicht, dass eine solche Lebensausrichtung nach Augustinus mit einer einmaligen Entscheidung schon ganz gewonnen werden könnte und nicht immer wieder neu errungen werden müsste (sofern ein Mensch sie denn anstrebt). Der Unterschied zu Bieris selbstbestimmtem Willen, der von vornherein immer nur zeitlich begrenzte Gültigkeit beanspruchen kann, somit in ständiger Veränderung von dem jetzt Gewollten zum nächsten gleichsam 'hin und her pendelt', ohne eine über das Partikuläre hinausgehende Orientierung zu besitzen, weil "ein solches Gesetz unmöglich ein ganzes Leben umspannen kann", ist aber deutlich: Das selbst gewählte 'Gesetz' entspringt der Auffassung von einer von sich selbst her und in toto sowieso nur zeitlich-begrenzten Wirklichkeit, in der der Mensch auf sich fixiert ist und sich selbst zum 'Maß der Dinge' erhebt, während Augustinus auf das intelligible Sein bestimmter überzeitlicher Wesenheiten wie Zahlen, Leben und Gerechtigkeit ("intellegibilis forma sicut vita, sicut iustitia", conf. XII, 5, 5), auf die Sapientia und Veritas verweist, in deren ontologischer Ableitung er eine über die Vergänglichkeit hinausreichende Lebensorientierung erblickt und darin den religiösen Offenbarungsglauben an den christlichen Gott auf philosophische Weise plausibilisiert sieht.156 Da Augustinus die göttliche Sapientia und Veritas als Inbegriff des Intelligiblen, als Wohnung der intelligiblen Zahlen ("cubile ac penetrale [...], habitaculum quoddam sedemque numerorum", lib. arb. II, 122) und der universalen Ursachen – gemäß denen eine Sachbestimmtheit als Prinzip all ihrer Instanzen jeweils genau sie selbst ist und nicht zugleich etwas von ihrer Sachbestimmtheit Verschiedenes157 – erweisen konnte, ist das mit Evodius vereinbarte Ziel erreicht: Wenn etwas der ontologischen Rangordnung nach über dem menschlichen Geist Seiendes aufgezeigt werden könne (oder etwas, was sogar noch darüber hinaus sei), müsse der Nachweis 'Gott ist' als erfolgreich durchgeführt gelten158: Dies ist 156

Vgl. dazu, dass die Philosophie gemäß Augustinus bestimmte Glaubensinhalte rational als wahr zu erweisen und für das, was das rationale Erkenntnisvermögen übersteigt, den Möglichkeitsraum des Glaubens zu begründen vermag, oben Anm. 60. 157 Vgl. in Teil II dieser Arbeit (Proklos) die sachlich hier relevanten Ausführungen zum Sein des Eidos (am Standardbeispiel 'Dreieck'), das in seiner inneren Bestimmtheit von sich selbst her sein eigenes, intelligibles Sein hat und nicht vom menschlichen Geist hervorgebracht wird. 158 "Tu autem concesseras, si quid supra mentes nostras esse monstrarem, deum te esse confessurum, si adhuc nihil esset superius. […] Est enim deus et vere summeque est. Quod iam non solum indubitatum, quantum arbitror, fide retinemus, sed etiam certa, quamvis adhuc tenuissima forma cognitionis adtingimus" (lib. arb. II, 153-5). Vgl. den Rückbezug zu lib. arb. II, 54-57 (s.o. Kap. 4.4). Rist deutet "tenuissima forma cognitionis"

84 der Fall, weil die intelligible Wahrheit des ewigen Zahlseins bezeugt, dass sie seiender ist als die Erkenntnisakte des menschlichen Geistes, die nur von Zeit zu Zeit aber nicht immer vollzogen werden.159 Die intelligible Wohnung der ewigen Zahlen, die Sapientia divina, aber hat zumindest denselben ontologischen Stellenwert wie diese Zahlen oder liegt noch darüber hinaus160 und steht aufgrund ihrer Allgegenwart in Beziehung zu den ihr zugewandten161 und benachbarten rationalen Seelen, indem sie diese durch ihr "intelligibles Feuer" zum Glühen bringt162 und als geistige Quelle der Erkenntnis und des Seins163 diesen Seelen durch ihr "singendes und beredtes Schweigen" Anteil am glückseligen Leben schenkt.164

(lib. arb.II, 155) skeptisch: "That seems to suggest that the argument, though sound, would not always be found compelling" (1994: 96). Mir scheint Augustinus dagegen eher sagen zu wollen, dass die zwar richtige, aber erst in groben Zügen skizzierte und insofern bloß ansatzweise erworbene Erkenntnis idealerweise noch durch weitere Reflexion an Stärke gewinnen müsste. 159 "Mentes enim nostrae aliquando eam minus aliquando eam plus vident et hoc fatentur se esse mutabiles, cum illa [sc. haec veritas] in se manens nec proficiat cum plus a nobis videtur nec deficiat cum minus" (lib. arb. II, 135). 160 lib. arb. II, 126-9. 161 Die Zuwendung und das Bemühen um eine Reinigung des Herzens durch Liebe und Demut ist dabei das Entscheidende, vgl.: E. Naab (1998). Augustinus. Über Schau und Gegenwart des unsichtbaren Gottes. Texte mit Einführung und Übersetzung von E. Naab. Reihe: Mystik in Geschichte und Gegenwart – Texte und Untersuchungen – Abteilung I: Christliche Mystik. Hrsg. von M. Schmidt und H. Riedlinger, Bd. 14, Stuttgart-Bad Cannstatt; 4, 12, 34, 61. Bei der Suche nach Gott kann es daher nicht um einen distanziertrationalistischen Erkenntnisakt gehen. Dieser Aspekt muss bei Augustins Rede von der 'Zuwendung des Intellekts zur Wahrheit' für lib. arb. vermutlich in ähnlicher Weise mitgedacht (oder besser: empfunden) werden: "Tantum autem mens debet intellegere quantum propius admoveri atque inherere potuerit incommutabili veritati" (lib. arb. II, 136). 162 "Sed quem ad modum in uno igne consubstantialis, ut ita dicam, sentitur fulgor et calor nec separari ab invicem possunt, calor tamen ad ea pervenit quae prope admoventur, fulgor vero etiam longius latiusque diffunditur, sic intellegentiae potentia quae inest sapientiae propinquiora fervescunt, sicuti sunt animae rationales, ea vero quae remotiora sunt sicuti corpora non adtingit calore sapiendi, sed perfundit lumine numerorum" (lib. arb. II, 128). 163 Vgl. die vorhergehenden Kapitel: Erkenntnis bezieht sich auf Seiendes und kann nur von etwas Seiendem auch Erkenntnis sein. 164 "[…] et nos cum mentibus nostris sine ullo strepitu, ut ita dicam, canorum et facundum quoddam silentium veritatis inlabitur, aliam beatam vitam quaerimus et tam certa et praesente non fruimur?" (lib. arb. II, 139).

85 Vor allem die Erkenntnis, dass diese Weisheit ist – unabhängig davon, wieviel ein Mensch konkret von ihr bereits erkannt und geschaut hat – lässt Augustinus geradezu vor Freude überschäumen: "Gleichsam das Morgenlicht beginnt zu leuchten im Geist der Schauenden" ("tamquam mane lucescit in mentibus contemplantium", civ. XI, 29), denn in der universalen Veritas und Sapientia werden nicht nur das einzelne Wahre und die einzelnen Güter als einzelne gleichsam vergessen, weil all dies in stärkerer Weise zugleich geschaut und genossen wird: Diese Wahrheit steht außerdem in direktem Zusammenhang mit der Freiheitsproblematik, weil es nach Augustinus die Wahrheit ist, die befreit, wodurch bereits deutlich wird, dass (auch für den frühen Augustinus) Freiheit nicht nur das Potential der Willensfreiheit erfordert und in diesem bereits realisiert ist: "Da ja vielmehr in der Wahrheit das höchste Gut erkannt und erfasst (tenetur) wird und diese Wahrheit Weisheit ist, lasst uns in ihr das höchste Gut umfassen (teneamusque)165 und es genießen! Denn glücklich ist der, der das höchste Gut genießt. Die Wahrheit nämlich zeigt alle Güter, die wahr sind, welche die Menschen mit ihrer Fassungskraft erkennen und sich entweder Einzelnes oder Mehreres zum Genuss auswählen. Aber wie jene, die im Lichte der Sonne166 auswählen, was sie gerne anschauen, und sich an diesem Anblick erfreuen – wenn unter ihnen vielleicht einige mit lebendigeren, gesunden und sehr scharfen Augen sind, dann betrachten sie nichts lieber als die Sonne selbst, die auch die übrigen Dinge erhellt, über die sich die schwächeren Augen freuen – , so wird auch die starke und lebendige Geistesschärfe, wenn sie das viele Wahre und Unveränderliche im sicheren Denken erblickt hat, sich auf die Wahrheit selbst richten, die alles zeigt; und, indem sie fest an ihr hängt, vergisst sie gleichsam das Übrige und genießt in jener [sc. Wahrheit] alles zugleich (simul omnibus). Was immer nämlich an den übrigen wahren Dingen erfreut, das erfreut nur in der Wahrheit selbst. Das ist unsere Freiheit, wenn dieser Wahrheit wir uns unterwerfen (subdimur).167 Und sie selbst ist unser 165

Die zwei Formen von tenere übersetze ich unterschiedlich, um die beiden nicht voneinander zu trennenden Aspekte, die Augustinus mit diesem Wort ausdrücken kann – das geistige Erfassen (als Erkenntnisakt) und das Halten, Umfassen des Geistigen (als Besitz des höchsten Guts) – wiederzugeben. 166 Zum zweiten Mal erinnern Augustins Worte (vgl. auch civ. XXII, 2) an Platons Sonnengleichnis. 167 Wie Thimme erscheint auch mir subdimur medial gemeint zu sein ('sich unterwerfen'), weil auch das Vorhergehende keine passiven Nuancen zeigt (die acies mentis richtet sich selbst [diriget] auf die Wahrheit hin aus) und hängt ihr an (auch obliviscitur und fruitur

86 Gott, der uns befreit vom Tode, d.h. von der Bedingung der Sünde. Denn die Wahrheit selbst redet sogar als Mensch mit den Menschen168 und spricht zu denen, die an sie glauben: 'Wenn ihr in meinem Wort bleibt, seid ihr wahrhaft meine Jünger und ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen' (Jh 8, 31-32)." "Immo vero quoniam in veritate cognoscitur et tenetur summum bonum eaque veritas sapientia est, cernamus in ea teneamusque summum bonum eoque perfruamur. Beatus est quippe qui fruitur summo bono. Haec autem veritas ostendit omnia bona quae vera sunt, quae sibi suo captu intellegentes homines vel singula vel plura eligunt quibus fruantur. Sed quem ad modum illi, qui in luce solis eligunt quod libenter aspiciant, et eo aspectu laetificantur – in quibus si qui forte fuerint vegetioribus sanisque et fortissimis oculis praediti, nihil libentius quam ipsum solem contuentur, qui etiam cetera quibus infirmiores oculi delectantur inlustrat –, sic fortis acies mentis et vegeta, cum multa vera et incommutabilia certa ratione conspexerit, diriget in ipsam veritatem, qua cuncta monstrantur, eique inherens tamquam obliviscitur cetera et in illa simul omnibus fruitur. Quidquid enim iocundum est in ceteris veris, ipsa utique veritate iocundum est. Haec est libertas nostra, cum isti subdimur veritati; et ipse est deus noster qui nos liberat a morte, id est a condicione peccati. Ipsa enim veritas etiam homo cum hominibus loquens ait credentibus sibi: 'Si manseritis in verbo meo, vere discipuli mei estis et cognoscetis veritatem et veritas liberabit vos'" (lib. arb. II, 141-3). Das Zitat aus dem Johannesevangelium stellt den direkten Zusammenhang zwischen Augustins erkenntnistheoretischen Überlegungen und der Offenbarungstheologie her und kann nach der hier vertretenen Interpretation in Abgrenzung zu Thimmes historisierender Textkritik kaum als "zweifellos späterer Ein-

legen als klassische Deponentien nichts Passivisches in den Inhalt). Dagegen fasst Neumann (1986: 60-61) subdimur passivisch auf, "[w]eil damit ganz präzise ausgesprochen ist, welchen Rang der Grund hat, der s i c h den Willen unterstellt, indem er selbst es ist, der ihn der Wahrheit unterwirft. Der Wille kann folglich gar nicht von sich aus – sozusagen eigenmächtig – sich dem Grund unterstellen" (Sperrung Neumann). Obwohl Neumanns Interpretation sachlich zutreffend ist, scheint mir hier doch die eigene menschliche Ausrichtung auf Gott gemeint zu sein (auch wenn diese in bestimmter Hinsicht bereits von Gott begleitet ist; s.u. Kap. 5): Augustinus nimmt hier den menschlichen Aspekt der Ausrichtung auf Gott in den Blick; trotzdem ist es, wie Neumann ausführt, zugleich Gott, der befreit, wie das Folgende klar zeigt. 168 "Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben" (Jh 14, 6).

87 schub" gelten, "der den Zusammenhang durchbricht und einen neuen Freiheitsbegriff einführt"169: In der Absicht, den Blick auf das Freiheitsverständnis auch des 'frühen Augustinus' möglichst (vorurteils-)frei zu halten, ist eingangs (Kap. 1) darauf hingewiesen worden, dass Augustinus die Suche nach Gott – scheinbar paradox (Kap. 4.1) – in bestimmter Hinsicht schon von Gott initiiert und begleitet sieht, ohne die philosophische Hypothese 'Gott' unhinterfragt zu lassen, denn Augustins philosophischer Gedankengang setzte bei der erkenntnistheoretisch-ontologischen Grundlegung gerade nicht mit einer theologischen Prämisse ein (s. Kap. 4.2). Wenn Augustinus im Dialog mit Evodius dennoch davon sprach, Gott möge ihm die Antwort auf seine Fragen schenken, so hat Augustinus damit zwar im Vorgriff auf das (ihm bereits bekannte) Ergebnis des philosophischen Diskurses 'Gott ins Spiel gebracht', nicht aber seine Argumentation der Sache nach durch eine Prämisse bereits festgelegt, die vielmehr angesichts Evodius' Zweifel (quasi omnia incerta sint) lediglich auf der Voraussetzung basierte, dass, sofern etwas über das menschliche Denken hinaus Seiendes bewiesen werden könne, auch angenommen werden müsse: 'Gott ist'. Rückblickend betrachtet Augustinus die Suche nach Gott als von Gott geleitet, sich selbst als durch den amor inveniendi veri gerettet (Kap. 2) und Evodius' Meinung über Gott als Gottes Geschenk ("ipse huic tuae rationi dedit tam de se pie vereque sentire", lib. arb. II, 55); in dem zeitgleich mit De libero arbitrio verfassten Werk De musica identifiziert Augustinus ferner – mit einem Verweis auf die Erlösungstat am Kreuz – die Sapientia divina als Christus170: All dies lässt erkennen, dass Augustinus beim Thema 'Freiheit' in besonderer Weise mit 169

Thimme (1962: 182, Anm. 2). "Quam plagam summa Dei sapientia mirabili et ineffabili sacramento dignata est assumere, cum hominem sine peccato, non sine peccatoris conditione, suscepit. Nam et nasci humaniter et pati et mori voluit, nihil horum merito, sed excellentissima bonitate, ut nos caveremus magis superbiam, qua dignissime in ista cecidimus, quam contumelias, quas indignus excepit; et animo aequo mortem debitam solveremus, si propter nos potuit etiam indebitam sustinere" (mus. VI, 4, 7). Zur peccatorum abolitio s. ferner vera rel. 43; zur Erlösungstat Christi als dem höchsten wahren Opfer civ. X, 20. S. ferner allgemein zur Bedeutung des Kreuzes bei Augustinus: F.G. Clancy (1997). "The Cross in Augustine's Tractatus in Iohannem", in: StudPatr XXXIII. Ed. E.Livingstone. Leuven, 55-62. Zum Zentrum und "intrinsischen Methode" der Christologie in Augustins Gedankenwelt vgl.: H.R. Drobner (2002). "Studying Augustine. An overview of recent research", in: Augustine and his Critics, 18-34; 22, 26, 28-29. Zur Bedeutung der Christologie vgl. ferner: Brachtendorf (2005: 23, 47, 125). 170

88 Gottes "befreiender Wahrheit" rechnet, die nicht nur als etwas Intelligibles eingesehen (wie bei den Platonikern), sondern mit Gottes Heilshandeln in Raum und Zeit soteriologisch zusammengedacht werden muss. Durch die von Thimme als Einschub betrachtete Passage werden diese Gedanken lediglich noch einmal bestätigt, nicht aber neu eingeführt. Erst in dieser Ausrichtung des freien Willens auf das ihn Befreiende ist analog zu der eingangs besprochenen Passage aus den Confessiones (IX, 1, 1; s. Kap. 2) aktuale Freiheit erreicht. Diese Ausrichtung gleicht nicht einer versklavenden Unterdrückung, sondern einer freiwilligbefreienden geistigen Unterwerfung (subdimur) unter die ontologisch höher stehende, weil ewige Veritas, die zugleich Sapientia und Summum bonum ist. Augustinus thematisiert den Zusammenhang zwischen Befreiung, Erlösung und göttlich-intelligibler Veritas-Sapientia nicht 'später' oder sogar erst nach der Abfassungszeit von De libero arbitrio (388-391), denn direkt nach dem Ende der Passage (lib. arb. II, 143-4), die Thimme als späteren Einschub auffasst, spricht Augustinus ganz komplementär zu der geistigen Unterwerfung des Menschen unter die Wahrheit davon, dass diese in keuscher, weil geistiger Weise "alle ihre neidlosen Liebhaber aufnimmt"171 (möglicherweise besteht hier ein inhaltlicher Bezug zu Matthäus 11172). Es ergibt sich also ein stringenter Zusammenhang von menschlicher Unterwerfung unter Gottes Wahrheit und der Aufnahme der sich ihr Unterwerfenden von Gottes Seite her. Theologisch wird mit der oben übersetzten Passage Gottes Wahrheit erstens als das Summum bonum identifiziert, das das willentliche Streben zur Erfüllung und zur Ruhe kommen lässt im Sinn der berühmten Worte aus den Confessiones: "[...] et inquietum est cor nostrum donec requiescat in te" (conf. I, 1,1). Zweitens besteht in der Wahrheit des Summum bonum – bzw. in dem Summum bonum der Wahrheit – die Befreiung von Leid und allem, was unter der "Bedingung der Sünde" ist. Diese beiden Aspekte ergeben sich aus Augustins philosophischer Argumentation und münden direkt in die geglaubte Wirklichkeit der christlichen Offenbarung. Beide Zugänge, der philosophische und der theologische (vgl. Kap. 171

"Omnes amatores suos nullo modo sibi invidos recipit et omnibus communis est et singulis casta est [sc. Veritas]" (lib. arb. II, 145). Das Wort Veritas muss aus dem vorhergehenden Abschnitt ergänzt werden, wodurch sich eine zusätzliche syntaktische Verbindung zwischen der angeblichen 'Einschubpassage' und ihrem Fortgang ergibt. 172 Die Verbindung zwischen Gottes Annahme der Menschen in Christus und dem Aspekt des menschlichen Lernens ist biblisch belegbar: "Kommt her zu mir alle Mühseligen und Beladenen, ich werde euch Ruhe geben. Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir [...]" (Mt 11, 28-29).

89 4.1), fusionieren an dieser Stelle und verweisen sowohl darauf, dass die befreiende göttliche Wahrheit für Augustinus in der Inkarnation Christi Mensch geworden und sich selbst in einer bestimmten, partikulären Zeitlichkeit offenbart hat, als auch darauf, dass diese Wahrheit von sich selbst her intelligibler Natur und in ihrer Universalität allen Menschen allgemein gegenwärtig ist.173 Niemand verliert sie gegen seinen Willen.174 Christus, die göttliche Wahrheit, ist also unter diesen beiden Aspekten einzigartig und doch auch mehr als nur singulär, auch wenn die menschliche Ratio gemäß Augustinus in ihrer verlustreichen Gefallenheit nur mit göttlicher Hilfe durch den Mensch gewordenen Gott und den Glauben an ihn175 unter großer Mühe die universal-ewige Sapientia Dei ausmachen

173

In diesem Zusammenhang steht nach Augustinus die theologische Bedeutung der Himmelfahrt Christi und des Noli me tangere (Jh 20, 17), weil Christus in seiner fleischlich-partikulären Offenbarung nur auf partikuläre Weise und nur von bestimmten Menschen erfahren und erkannt wird, nicht aber universal. Dies ist nur in seinem ewiggeistigen Sein qua Wort des Vaters bei dem Vater (Jh 1, 1) möglich (die Göttlichkeit des Sohnes bzw. Wortes bleibt nach Augustinus auch während der Inkarnation bestehen: "non infirmata Verbi divinitate", civ. IX, 15), zu dem die Menschen kraft ihres menschlichen Geistes (und in Kooperation mit dem göttlichen Heiligen Geist) sich ausrichten sollen, auf dass die Erkenntnis des Sohnes nicht mit einer bloß körperlichen Berührung zu früh, weil in zu geringer und oberflächlicher Weise beendet sei ("Oportebat ergo ut auferretur 'ab oculis eorum forma servi' quam intuentes hoc solum esse Christum putabant quod videbant. Inde est et illud quod ait: 'Si diligeritis me, gauderitis quoniam eo ad patrem, quia pater maior me est', id est propterea me oportet ire ad patrem quia dum me ita videtis, et ex hoc quod videtis aestimatis minor sum patre, atque ita circa creaturam susceptumque habitum occupati aequalitatem quam cum patre habeo non intellegitis. Inde est et illud: 'Noli me tangere; nondum enim ascendi ad patrem meum.' Tactus enim tamquam finem facit notionis. Ideoque nolebat in eo esse finem intenti cordis in se ut hoc quod videbatur tantummodo putaretur. Ascensio autem ad patrem erat ita videri sicut 'aequalis est patri' ut ibi esset finis visionis quae 'sufficit nobis'", trin. I, 9, 18; vgl. ferner trin. IV, 3, 6). Vgl.: "Within this christology, one of the functions of the incarnate and resurrected Christ is to lead our intelligence beyond an obsession with the material" (L. Ayres [2002]. "The Fundamental Grammar of Augustine's Trinitarian Theology", in: Augustine and his Critics, 51-76; 70). 174 "Veritatem autem atque sapientiam nemo amittit invitus" (lib. arb. II, 144). Zur allgemeinen und individuellen Liebe der Weisheit (Genitivus subiectivus) s.o. Anm. 155 ("secretum et publicum lumen"). 175 "cibus rationalis creaturae factus est visibilis, non commutatione naturae suae sed habitu nostrae, ut visibilia sectantes ad se invisibilem revocaret" (lib. arb. III, 109; s. ferner civ. XI, 2).

90 und Anteil an ihr gewinnen kann – deshalb Augustins häufige und wichtige Hinweise auf das göttliche Geschenk von erreichter Erkenntnis. Die Ewigkeit der göttlichen Wahrheit verweist auf Gottes Unwandelbarkeit,176 da er das "Höchste und Beste Gut" ist ("summum et optimum bonum", conf. VII, 4, 6): "Denn auf keinerlei Weise fügt Verderbnis unserm Gott Schaden zu: durch kein Wollen, keine Notwendigkeit, keinen unvorhergesehenen Zufall, denn er selbst ist Gott und was er seinem Wesen nach will, ist gut, und er selbst ist eben dieses Gut – Verderbnis erleiden ist jedoch nichts Gutes." "Nullo enim prorsus modo violat corruptio deum nostrum, nulla voluntate, nulla necessitate, nullo inproviso casu, quoniam ipse est deus et quod sibi vult, bonum est, et ipse est idem bonum – corrumpi autem non est bonum" (conf. VII, 4, 6). Im erkenntnistheoretisch-ontologischen Unterschied zu den ausschließlich partikulären Sinneswahrnehmungen, von denen am Anfang dieses Kapitels die Rede war, ist die göttliche Wahrheit nach Augustinus eine geistige, intelligible Speise, die in ihrer allgemeinen Selbstidentität alle Menschen zugleich 'essen und trinken' können, ohne dass sie jemals vergeht.177 Diesen Ausführungen liegt der Gedanke an die Feier des Heiligen Abendmahls nicht fern – Augustinus gebraucht sogar den Begriff communio.178

176

"[...] cum ipse apud se ipsum maneat idem qui fuit" (civ. XXII, 2). Hinsichtlich Gottes Unwandelbarkeit in weiterem Sinn sachlich vergleichbar ist Platon, Politeia 381c7-9; zum göttlichen Intellekt vgl. Aristoteles, Metaph. 1074b25-27. 177 "Cibus eius nulla ex parte discerpitur; nihil de ipsa bibis quod ego non possim. Non enim ab eius communione in privatum tuum mutas aliquid, sed quod tu de illa capis et mihi integrum manet. Quod te inspirat non exspecto, ut reddatur abs te et sic ego inspirer ex eo; non enim aliquid eius aliquando fit cuiusquam unius aut quorundam proprium, sed simul omnibus tota est communis" (lib. arb. II, 146). Vgl. auch innerhalb des christlichen Kontexts zur Nahrung der Seele Jes 55, 1-3; Joh 4, 14. 178 Vgl.: P. Jackson (1999). "Eucharist" in: Augustine through the Ages, 330-334; ferner: G. Bonner (1991). "The Doctrine of Sacrifice: Augustine and the Latin Patristic Tradition", in: Sacrifice and Redemption. Durham Essays in Theology, ed. S. Sykes. Cambridge, 101-117.

91

5.

Die Gutheit des freien menschlichen Willens als Potenz und das in Gott aktualisierte gute Wollen (lib. arb. II-III)

Der ontologisch-erkenntnistheoretische Exkurs (Kap. 4.1 – 4.5), den Augustinus trotz dessen Komplexität für die Argumentation innerhalb des Dialogs De libero arbitrio offenbar als eine unerlässliche philosophische Basis betrachet,179 ist für die bisherige Argumentation notwendig gewesen, um zu verstehen, warum Augustinus die platonische Prämisse teilt, dass Gott gut – genauer: das Gute selbst – und nur Ursache von Gutem ist.180 Dabei hat sich (auch im Zusammenhang mit anderen Passagen aus civ. und trin.) ergeben, dass das vergängliche Sein, d.h. das Werdende und Vergehende, von geistig-intelligiblen Prinzipien abhängig ist, die nicht der Vergänglichkeit unterliegen,181 sondern wie die Bestimmtheit der Zahlen ewig sein müssen und deshalb Wahrheit und Wissen von der Wahrheit, also Weisheit, sind. Diese philosophisch in aller Kürze aufgespürte182 universale und ewige Wahrheit und Weisheit (als Inbegriff und Prinzip des Intelligiblen, des Seins und Lebens überhaupt) ist für Augustinus die göttliche Wahrheit, theologisch gesprochen: Christus in seinem ewigen Sein als Wort des Vaters.183 179

Obwohl die "erkenntnistheoretische Dimension der Gnadenlehre" das Thema von Lössls (1997) großer Untersuchung ist, bleibt die Erkenntnistheorie aus lib. arb. II dort weitgehend außen vor – auch in diesem Kontext erscheint dieser frühe Text jedoch als grundlegend, s. das Folgende. 180 "Dicimus itaque inmutabile bonum non esse nisi unum verum beatum Deum; ea vero, quae fecit, bona quidem esse, quod ab illo, verum tamen mutabilia, quod non de illo, sed de nihilo facta sunt" (civ. XII, 1). Vgl. Platon, Politeia 379c2-8; 380c8-9. 181 Vgl. lib. arb. II, 171-2. 182 Augustinus sagt selbst, dass er über die Wahrheit viel, aber nichts ihrer Würdiges gesprochen habe, und bezeugt damit, dass der schnelle Durchgang in lib. arb. II eigentlich der Sache, um die es dort geht, überhaupt nicht angemessen ist ("[...] illa de qua multum locuti sumus et nihil digne diximus veritas", lib. arb. II, 196). 183 Das göttliche Wort in seinem ewig-intelligiblen Sein (Christus als Sohn des Vaters in der Einheit des Heiligen Geistes, der trinitarische eine Gott) beginnt weder zu sprechen noch hört es auf zu sprechen, sondern Gott 'spricht' ewig, d.h. ist überzeitlich mit sich selbst identisch und nicht körperlich bedingt – im Unterschied zum zeitlichen Wort der Propheten oder auch des Menschen Christus (vgl. civ. X, 15; conf. XI, 7, 9; gn. litt. VI, 8; civ. XVI, 6). Nach seinem mystischen Erlebnis in Ostia betont Augustinus in diesem Sinn, dass er und seine Mutter nach der Schau zurückkehren zu "dem Geräusch unseres Mundes, wo das Wort anfängt und endet", also nicht zeitlos ist ("et remeavimus ad strepitum oris nostri, ubi verbum et incipitur et finitur. Et quid simile verbo tuo, domino nostro, in se permanenti sine vetustate atque 'innovanti omnia' [Sap. 7: 27]", conf. IX, 10, 24).

92 Im Streben nach tatsächlicher Wahrheit und im Glauben an Christus liegt der Weg zur Erfüllung des menschlichen Strebens nach Gutem und Glück, das nur in Gott sein letztlich erfolgreiches Ziel findet: Denn da das vergängliche Sein alles Wahrnehmbaren von geistigen Prinzipien abhängt und vermittelt durch diese erst seine seinsspezifische Gutheit empfängt,184 ist es letztlich das universale Gute selbst, von dem die vielen einzelnen seienden Güter ontologisch abhängen. Die Fülle aller Gutheit ist nach Augustinus Gott selbst in der Einheit des Vaters mit seinem Sohn, der göttlichen Veritas und Sapientia, in der die Gesamtheit des Intelligiblen ihren Bestand hat und höchstes Leben – d.h. das Leben selbst – in ewiger Weise ist.185 Für Augustinus fällt also zweierlei zusammen: Der ontologische Primat des Guten in seiner Identität mit der ewigen Wahrheit und göttlichen Weisheit und das Ziel des seelischen Wollens, das immer nach Gutem trachtet (je nachdem, was es als gut erkennt bzw. zu erkennen meint). Der Primat des Guten hatte sich oben (Kap. 3.2) bereits an dem Beispiel gezeigt, dass nur Gutes lernbar ist: Nach Augustinus kann man nicht auf schlechte Weise etwas lernen, weil schlechtes Wissen tendentiell dem Nichtwissen gleichkommt, sondern man muss die Bestimmtheit des zu Erlernenden in ihrer spezifischen Gutheit erfassen, um echtes Wissen zu erlangen und nicht einem Mangel bzw. dem Nichtwissen zu erliegen. Die seinskonstituierende Gutheit einer Sache186 lässt sich anhand des folgenden Standardbeispiels einfach erläutern: Ein Messer ist deshalb ein Messer, weil es schneiden kann. Zur Fähigkeit des Schneidenkönnens gehört das Scharfsein. Ist ein Messer in geringer Weise scharf, ist es weniger Messer als eines, mit dem man sehr gut schneiden kann; ist es vollkommen stumpf, ist es genau gesprochen kein Messer mehr (es sieht nur aufgrund der wahrnehmbaren, aber für das Messersein nur akzidentellen Qualitäten, die die sinnliche Wahrnehmung ihm gemeinhin zuspricht, wie ein Ding aus, das man – nominalistisch – Messer nennt). Zur sachlichen Einheit des MesserSeins gehört deshalb die Gutheit des Scharfseins, sonst ist es graduell weniger 184

Dazu, dass die Engel aus Gottes ewigem Wort heraus Zeitliches bewirken, vgl. gn. litt. IX, 14 und civ. X, 12. 185 "[...] nam et creatoris ipsius vita dicitur et ea summa vita est" (lib. arb. II, 176); "[...] domine, cui esse et vivere non aliud atque aliud est, quia summe esse atque summe vivere id ipsum est" (conf. I, 6, 10). 186 "omnis natura in quantum natura est bona est" (lib. arb. III, 127); "Omnia tamen eo ipso quo sunt iure laudanda sunt, quia eo ipso quo sunt bona sunt" (lib. arb. III, 71); "Ipsum enim quantumcumque esse bonum est, quia summum bonum est summe esse" (vera rel. 94).

93 Messer bzw. ein schlechteres Messer oder gar kein Messer mehr. Gut-sein und Bestimmt-Sein, Mehr-Sein und Besser-Sein bedingen einander.187 Zum Gebrauch und zur Fertigung eines zum Schneiden verwendbaren Gegenstands 'Messer' ist das Denken, das diese sachliche Bestimmtheit in ihrer Gutheit als sie selbst erfassen und durch entsprechende, an dieser Sacherkenntnis orientierten Fertigungskunst material verwirklichen kann, notwendige Voraussetzung. Einem Ding 'Messer' kommt seine spezifische Seins-Form, die es zum 'Messer' macht (griechisch formuliert: das Eidos), also letztlich von dem sachunterscheidenden Denken her zu.188 Die Vermittlung des bestimmten guten Etwas-Seins von etwas Intelligiblem her entspricht ganz allgemein der Rückführung des Seins von etwas Zählbarem auf das unvergängliche Sein intelligibler Zahlen (ohne dass hiermit behauptet wäre, Augustinus würde das Messer-Sein dem Sein der Zahlen ontologisch gleichordnen). Ein allgemeiner Sachunterschied, der eine bestimmte, erkennbare Einheit in etwas Dinglichem als genau dieses Etwas auszeichnet, geht nach Augustinus zurück auf eine bestimmte Formursache: "[...] diese beiden Arten der Geschöpflichkeit also, Körper [= alles, was einen unbelebten Körper hat] und Leben [= alles, was Seele hat und deshalb belebt ist: z.B. Tiere und Menschen189], zeigen, weil sie, wie das oben Ausgeführte gelehrt hat, formbar sind und nach dem gänzlichen Verlust der Form in das 187

Vgl. zum Zusammenhang von 'Besser-' und 'Mehr-Sein': "ut melius magisque sit" (mor. II, 7, 9). Zur 'Natur' als dem bestimmten Etwas-Sein einer Sache vgl.: "Nam et ipsa natura nihil est aliud quam id quod intelligitur in suo genere aliquid esse" (mor. II, 2, 2). Zum Zusammenhang von "Existence and goodness" vgl. Williams (2002: 106-110) und Brachtendorf (2005: 138-141; 159ff.). 188 Wobei genauer hinterfragt werden müsste, durch welche mehr oder weniger material verwirklichten geometrischen Formen das 'Schneidenkönnen' realisiert wird und welcher Seinsstatus diesen Formen wiederum zukommt. Vermutlich würde Augustinus diesen geometrischen Formen allgemein einen den intelligiblen Zahlen vergleichbaren ontologischen Status zusprechen, der letztlich in der göttlichen Weisheit zu suchen ist. Vgl. etwa Augustinus zum spezifischen Sein der geometrischen Figur des Quadrats, das nur durch das begriffliche Denken des sachspezifischen Unterschieds und nicht durch Vorstellung, Wahnehmung oder Konstruktion erkennbar ist: "Tum enim alterius atque alterius magnitudinis quadratum sibi cogitatio depingit et quasi ante oculos praefert, sed mens interior, quae vult verum videre, ad illud se potius convertat, si potest, secundum quod iudicat illa omnia esse quadrata" (sol. II, 20, 35). S. ferner: mus. VI, 17, 56. 189 Das spezifische Sein der Seele ist wie bei Platon und Aristoteles auch nach Augustinus zu leben ("[...] cum anima nisi vivat esse non possit", civ. XIII, 24).

94 Nichts zurückfallen, hinreichend, dass sie aus jener Form subsistieren, die immer auf selbe Weise ist." "[...] istae igitur duae creaturae, corpus et vita, quoniam formabilia sunt, sicuti superius dicta docuerunt, amissaque omnino forma in nihilum recidunt, satis ostendunt ex illa forma subsistere quae semper eius modi est" (lib. arb. II, 176). Aus dieser Abhängigkeit des Vergänglichen von dem Ewigen ist für Augustinus ersichtlich, dass in bestimmter Weise "alles von der Providenz gelenkt wird", denn "durch die unveränderliche Form selbst subsistiert alles Veränderliche", indem es durch die Zahlen seiner Formen erfüllt wird; die ewige Form ist (als Quelle aller Seins-Formen) die Providenz des Vergänglichen und ist identisch mit der göttlichen Wahrheit.190 Wie steht es nun mit der Frage nach der Gutheit des Willens selbst, deren Erörterung Augustinus am Anfang des ontologisch-erkenntnistheoretischen Exkurses als drittes Ziel seiner Argumentation in Aussicht gestellt hatte?191 Die Gutheit des Willens war von Evodius deshalb bezweifelt worden, weil nur durch die Möglichkeit der Willensfreiheit auch gesündigt, also fehlerhaft, schlecht und böse gehandelt werde, während doch z.B. die Gerechtigkeit nicht zum Schlechthandeln gebraucht werden könne192 (vgl. Kap. 3.4). Erst durch diese tiefgehende Kritik war für Evodius auch die Sicherheit der Basisprämissen 'Alles Gute ist von Gott' und 'Gott ist' zusammengebrochen und der besagte, angesichts der gewich190

"Conficitur itaque, ut corpus et animus forma quadam incommutabili et semper manente formentur. Cui formae dictum est: 'Mutabis ea et mutabuntur; tu autem idem es et anni tui non deficient' [Ps 102, 126-7]. Annos sine defectu pro aeterniate posuit prophetica locutio. De hac item forma dictum est quod in se ipsa manens innovet omnia' [Sap 7, 27]. Hinc etiam conprehenditur omnia providentia gubernari. Si enim omnia, quae sunt, forma penitus subtracta nulla erunt, forma ipsa incommutabilis per quam mutabilia cuncta subsistunt, ut formarum suarum numeris impleantur et agantur, ipsa est eorum providentia. Non enim ista essent si illa non esset" (lib. arb. II, 173-4); "[…] cum omnem specimen formamque corporis a summa omnium rerum forma id est a veritate subsistere fatereris et bonum esse concederes" (ibd., 187). Vgl. ferner: vera rel. 9 und 60; civ. VIII, 6; X, 14; XII, 19. Vgl. zum Zusammenhang von Providenz, Form und Zahl: "Sed non est creator nisi qui principaliter ista format, nec quisquam hoc potest nisi ille penes quem primitus sunt omnium quae sunt mensurae, numeri et pondera" (trin. III, 8, 18). 191 Vgl. lib. arb. II, 178 mit dem programmatischen Rückbezug auf II, 20. 192 "Sed nonne tibi videtur, quaeso te, si ad recte faciendum data est, quod non debuerit ad peccandum posse converti, sic ut ipsa iustitia quae data est homini ad bene vivendum?" (lib. arb. II, 8).

95 tigen Fragen von Augustinus verhältnismäßig kurz gehaltene Exkurs notwendig geworden,193 um diese Glaubenswahrheiten einer philosophischen Prüfung zu unterziehen, die zu deren Bestätigung geführt hat. Dass der Wille schlecht gebraucht und durch ihn auch gesündigt werden kann, besagt nach Augustinus nicht, dass der Wille selbst deshalb etwas Schlechtes sei und infolge dessen dem Menschen nicht hätte von Gott verliehen werden dürfen; Gleiches gilt allgemein für die Seele, die dem Körper gegeben ist, um Gutes zu tun ("data est corpori [sc. anima], ut bona faceret", civ. X, 30). Genauso wie man mit dem Körper und körperlichen Gütern schlecht umgehen könne, sei dies auch mit seelischen Gütern möglich: Fehle einem Menschen z.B. eine Hand, so sei dies eine bedauernswerte Beeinträchtigung, obwohl die Hände sehr oft schlecht gebraucht würden; denn die Gutheit der Hände an sich sei nicht zu verkennen.194 Dasselbe Kriterium, dass nur der sachfremde und ungerechte Gebrauch eine zeitliche Sache schlecht macht (vgl. Kap. 3.3) – denn allem Vergänglichen kommt laut Augustinus schon deshalb, weil es vergänglich ist, eine bestimmte Gutheit zu, sonst wäre gar nichts, das vergehen könnte195 –, gilt auch für den freien Willen: Unter der Prämisse, alles Gute ist von Gott (d.h.: alles Seiende, insofern es gut ist, ist von Gott), ist auch der Wille an sich qua Strebevermögen als eine gute Gabe zu betrachten und kein dem Schöpfer unzugänglicher, vom Quell des Seienden abgetrennter Bereich.196 Evodius' Vergleich mit der Gerechtigkeit war hingegen sachlich unzulässig und deshalb kein stichhaltiges Argument, weil der Gerechtigkeit selbst als einer der höchsten, intelligiblen Gutheiten (virtutes) wie den intelligiblen Zahlen keine Grundlage der Veränderung, keine Potentialität zu einem Mehr oder Weniger an Gerechtigkeit etc. zukommt, weil das Intelligible die jeweilige Sache selbst ist und nicht durch Partizipation an ihr ihr Sein hat.

193

"Quae responsio tua in tantos circuitus disputationis nos ire conpulit" (lib. arb. II, 180). lib. arb. II, 182-3. 195 "Et manifestum est mihi, quoniam bona sunt, quae corrumpuntur, quae neque si summa bona essent, corrumpi possent, neque nisi bona essent, corrumpi possent, quia, si summa bona essent, incorruptibilia essent, si autem nulla bona essent, quid in eis corrumperetur, non esset" (conf. VII, 12, 18). 196 Vielmehr erschafft Gott den menschlichen Willen in seiner Gutheit: "Bona igitur voluntas opus est Dei; cum ea quippe ab illo factus est homo" (civ. XIV, 11); "Nos autem dicimus humanam voluntatem sic divinitus adiuvari ad faciendam iustitiam, ut praeter quod creatus est homo cum libero arbitrio praeterque doctrinam qua ei praecipitur quemadmodum vivere debeat accipiat spiritum sanctum [...]" (spir. et litt. 3, 5). 194

96 Die Möglichkeit des ontologischen Mehr oder Weniger ist gemäß Augustinus den partikuläreren Seinsformen eigentümlich, den mittleren – seelischen – Gütern (potentiae animi) und den geringsten – körperlichen – Gütern. Beide Gruppen von Gütern könne man gut oder schlecht gebrauchen197 (womit jedoch keine der Schöpfung bereits prinzipiell inhärente Potenz zum Schlechten begründet ist, s.u. Kap. 6). Die minima und media bona sind von intelligiblen Prinzipien abhängig, die ihrerseits als Teil der göttlichen Wahrheit diese Partikularität transzendieren: In ihnen "herrscht die Stärke der richtigen Ratio",198 von der sich der menschliche Wille abwenden kann, während sich die göttliche Weisheit nicht von sich selbst, von ihrer Wahrheit abwenden und das höchste Gut sich nicht selbst mit etwas anderem fehlerhafterweise verwechseln kann; denn das höchste Gut besteht ja nach Augustinus darin, dass es selbst das höchste Gut und nichts anderem vorzuziehen ist und sich selbst deshalb nichts anderem vorziehen will. Daraus, dass letztlich alle einzelnen Güter ontologisch von dem universalen Summum bonum abhängen, ergibt sich somit, dass der menschliche Wille (in seinen Strebeformen) das ihm gut und erstrebenswert Erscheinende weder autark erzeugen noch seine eigene, seinsspezifische Gutheit – die gute Potenz des Strebens nach etwas – unabhängig von dem universalen Guten, d.h. Gott dem Schöpfer, besitzen oder aktualisieren könnte. Wenn es aber darum geht, wie und woraufhin der Wille diese Potenz gemäß seiner ihm verliehenen Gutheit entfalten kann, so scheint es unter diesem Blickwinkel, als wäre der Wille autark tätig, denn ihm kommt ja gerade das Vermögen des eigenen und deshalb auch selbst zu verantwortenden Strebens wesensmäßig zu. In De libero arbitrio wird jedoch die Interpretation bestätigt, dass schon gemäß dem frühen Augustinus Gott das menschliche Streben nach der Wahrheit begleitet und zum Ziel führt, ja durch seine Ermahnung zur Suche nach der Wahrheit199 den Weg "vorbereitet", wie der späte Augustinus sagen wird.200 In 197

"Virtutes igitur quibus recte vivitur magna bona sunt; species autem quorumlibet corporum, sine quibus recte vivi potest, minima bona sunt; potentiae vero animi, sine quibus recte vivi non potest, media bona sunt. Virtutibus nemo male utitur; ceteris autem bonis, id est mediis et minimis, non solum bene sed etiam male quisque uti potest" (lib. arb. II, 191-2). 198 "[...] neque prudentia neque fortitudine neque temperantia male quis utitur; etiam in his enim omnibus, sicut in ipsa quam tu commemorasti iustitia, recta ratio viget, sine qua virtutes esse non possunt. Recta autem ratione male uti nemo potest" (lib. arb. II, 190). 199 Vgl. lib. arb. II, 19 und 55. 200 "Utrumque [sc. fides et opera] ergo nostrum est propter arbitrium voluntatis, et utrumque tamen datum est per Spiritum fidei et charitatis. […] et utrumque ipsius est, quia ipse

97 einem vergleichbaren Sinn spricht Augustinus bereits in De libero arbitrio davon, dass demjenigen, der sich wollend auf das Summum bonum bzw. auf die mit ihm identische Veritas und Sapientia orientiere, die göttliche Providenz bereits entgegenkomme und dass man umso eifriger den Weg zu ihr beschreite, je schöner der Weg von ihr geschmückt, also 'in vorausgehender Weise bereitet' sei201: "Wer immer also, indem er die ganze Schöpfung aufmerksam betrachtet und beobachtet, den Weg zur Weisheit beschreitet, nimmt wahr, dass sich ihm die Weisheit auf dem Wege freudig (hilariter) zeigt und ihm in all ihrer Providenz entgegenkommt. Und desto eifriger brennt er darauf, diesen Weg zu vollenden, inwieweit auch schon der Weg durch jene [sc. Providenz] schön ist, zu welcher zu gelangen er entflammt ist (Sap. 6, 16)." "Intuitus ergo et considerans universam creaturam quicumque iter agit ad sapientiam, sentit sapientiam in via se sibi ostendere hilariter et in omni providentia occurrere sibi. Et tanto alacrius ardescit viam istam peragere quanto et ipsa via per illam pulchra est ad quam exaestuat pervenire" (lib. arb. II, 174). Das hier beschriebene menschliche Bemühen ist also bereits für den frühen Augustinus (vor 397) in bestimmter Hinsicht von Gott als dem allem vorausliegenden und "entgegenkommenden" Allerhöchsten abhängig. Die Rückschau des späten Augustinus auf De libero arbitrio in den Retractationes erweist sich deshalb als sachlich berechtigt: Die Begleitung alles (guten) Wollens und Strebens durch die göttliche Gnade ist der Argumentation in De libero arbitrio nicht der praeparat voluntatem; et utrumque nostrum, quia non fit nisi volentibus nobis" (praed. sanct. 3, 7). 201 Die Schönheit des Intelligiblen (zur intelligibilis pulchritudinis s.o. Anm. 37) "ist derart beschaffen, daß sie auf diejenigen, die sie erblicken, nicht ohne Wirkung bleiben kann: cernentes se commutat omnes in melius [lib. arb. II, 152]" (Neumann, 1986: 38). Deshalb gilt für Augustinus umso mehr, dass der Mensch diese selig machende Wahrheit zu seinem eigenen Heil "umarmen" ("Ecce tibi est ipsa veritas: amplectere illam si potes et fruere illa et 'delectare in domino et dabit tibi petitiones cordis tui' [Ps 37, 4]", lib. arb. II, 137) und "die Stufen, die uns die göttliche Providenz gebaut hat", nutzen soll ("Utamur gradibus, quos nobis divina providentia fabricare dignata est", vera rel. 274; vgl. conf. VII, 21, 27). Zum Aspekt des Entgegenkommens vgl. Augustins Darstellung seines Bekehrungserlebnisses in Mailand: "Die letzte Strecke seines im achten Buch beschriebenen Weges geht er einzig deswegen, weil Gott ihn dazu auffordert, ihn gehen lässt" (A. van Hooff [1998]. "Confessiones 8: Die Dialektik der Umkehr", in: Die Confessiones des Augustinus von Hippo, 343-388; 377). Zur obigen Stelle lib. arb. II, 174 vgl. ferner Brachtendorf (2005: 47).

98 Sache nach fremd,202 auch wenn dies aufgrund der anliegenden Problematik weitaus weniger bzw. nicht thematisiert wird.203 Über das Verhältnis von menschlichem Willen und göttlicher Gnade bzw. dem providenten Wirken Gottes sollen unten noch genauere Ausführungen vorgenommen werden. Bereits jetzt lässt sich als Zwischenergebnis festhalten, dass die hier gewonnenen Ergebnisse inhaltlich dem eingangs (Kap. 1) kurz erörterten Gebet aus den Soliloquia entsprechen, wo Augustinus das rechte Suchen nach Gott bereits als Gabe Gottes beschreibt und – seltsamerweise – von ihm erbittet (dazu genauer Kap. 10). 202

"In diesen und dieser Art Worten von mir – weil die Gnade Gottes, um die es damals nicht ging, hier nicht erwähnt wird – glauben die Pelagianer oder können es glauben, ich hätte ihre Meinung vertreten. Aber ohne Grund glauben sie dies. Der Wille freilich ist es, durch den man sowohl sündigt als auch auf rechte Weise lebt, was wir in diesen Ausführungen durchgenommen haben. Wenn dieser Wille also nicht durch Gottes Gnade von der Knechtschaft befreit wird, in welcher er ein Sklave der Sünde geworden ist, und nicht, auf dass er Fehler überwinde, unterstützt wird, so ist es den Sterblichen nicht möglich, auf rechte und fromme Weise zu leben" ("In his atque huius modi verbis meis, quia gratia dei commemorata non est, de qua tunc non agebatur, putant Pelagiani vel putare possunt suam nos tenuisse sententiam. Sed frustra hoc putant. Voluntas quippe, qua et peccatur et recte vivitur, quod his verbis egimus, voluntas ergo ista nisi dei gratia liberetur a servitute, qua facta est serva peccati, et, ut vitia superet, adiuvetur, recte pieque vivi a mortalibus non potest", retr. I, 8, 4). Vgl. dazu Stump (2001: 131): "[...] he [sc. Augustine] claims in De libero arbitrio that anything good in a human person, including any goodness in the will, is a gift of God." S. ferner: "In der Tat ist die Position von De libero arbitrio nicht pelagianisch" (Brachtendorf, 2006: 38). Vgl. Djuth (1990: 394); dies., ([1993]. "The Hemeneutics of De libero arbitrio III: Are There Two Augustines?", in: StudPatr XXVII, 281289; 289); ebenso Holte (1990: 83). Vgl. ferner Drecoll (1999: 101; 143) zur Präfiguration der Gnadenlehre in der mit lib. arb. ungefähr zeitgleich entstandenen Schrift vera rel. (ebenso ibd., 109-110, zitiert oben Anm. 58). 203 Der Skopos von lib. arb. ist laut Augustins eigener Rückschau die Unde malum?Frage, und zwar im Hinblick auf die Manichäer, die meinen, das Böse komme nicht aus dem geschöpflichen Willen (bzw. der willentlichen Abkehr vom Guten, von Gott), sondern sei göttlichen Ursprungs, aus einem Gott (als dem Summum bonum) gleichewigen Prinzip des Bösen (retr. I, 8, 2). Vgl. Horn (1995: 32-33) zur Relevanz der vorausgehenden göttlichen Gnade bei Augustinus vor 397: "Freiheit und Gnade schließen einander für Augustinus keineswegs aus: die Freiheitstheorie von De libero arbitrio enthält den Gnadenbegriff ebenso wie die spätere Gnadenlehre die Freiheit. [...] Zuzugestehen ist, daß die Gnadenlehre seit der Schrift Ad Simplicianum nicht länger menschliche Verdienste als Gnadenbedingung ansieht. [...] Augustinus läßt dem Menschen aber auch später die Möglichkeit einer aktiven Mitwirkung; er sieht ihn als verantwortlich für seine Bereitschaft zu Glaube oder Unglaube an" (vgl. ferner Horn [ibd., 80]). Vgl. in ähnlicher Weise Neumann (1986: 11-14).

99 Ist der freie Wille als ein von der Providenz verliehenes, spezifisch menschliches Gut erwiesen, so hat das zu Beginn des zweiten Buchs von De libero arbitrio gewonnene Ergebnis nach der langen Widerlegung von Evodius' Zweifeln im Nachhinein seine Bestätigung erlangt: "Homo enim ipse in quantum homo est, aliquod bonum est, quia recte vivere cum vult potest" (lib. arb. II, 4; s.o. Kap. 3.4). Ist das Wollen von etwas Gutem auch als Akt bzw. Prozess des Strebens etwas Gutes, so gilt ferner, dass der individuelle Willensprozess, die Ausrichtung des Strebens nur dadurch etwas Gutes ist, dass er auch als Strebeprozess in bestimmter Weise ontologisch bezogen ist auf den Quell des Guten, und zwar so wie nach Augustinus auch der Weg hin zur Weisheit nur in einer bestimmten Beziehung zur Weisheit und durch ihre Unterstützung ohne Gefahr beschritten werden kann.204 Wie bereits oben (Kap. 3.3) angedeutet wurde, ist die bona voluntas in nur scheinbar paradoxer Weise sowohl bezogen auf etwas weitaus höher Stehendes als auch gerade durch diese Bezogenheit ganz bei sich selbst und insofern auch autark; der Wille vollzieht als freier Wille seinen wollenden Akt, indem er der befreienden Wahrheit, dem höchsten Gut anhaftet: "Wenn der Wille also, der ein mittleres Gut ist, dem unveränderlichen Gut anhaftet – das ja ein gemeinsames und nicht privates ist wie auch die Wahrheit, über die wir viel gesprochen und doch nichts ihrer Würdiges gesagt haben –, dann umfasst und erfasst205 der Mensch das glückselige Leben." "Voluntas ergo, quae medium bonum est, cum inheret incommutabili bono eique communi, non proprio, sicuti est illa de qua multum locuti sumus et nihil digne diximus veritas, tenet homo vitam beatam" (lib. arb. II, 196). Indem der Mensch kraft seines Willens Gott anhaftet (vom späten Augustinus her müsste man präziser formulieren: Gott nicht loslässt bzw. noch nicht losgelassen hat206), ist er durch Gott als das höchste Gut frei bzw. wird durch ihn befreit 204

"eodem ipso deo in tam periculoso itinere nobis opitulante" (lib. arb. II, 180). Zum Übersetzungsproblem vgl. oben Anm. 165. Ein deutsches Äquivalent für den so umfassenden Begriff tenere, wie ihn Augustinus verwendet, scheint zu fehlen: Sowohl das liebende Umfassen wie das intellektuelle Erfassen ist gemeint. Brachtendorf (2005: 192) markiert ferner das "Festhalten an Gott (tenere)" im Sinn "einer bleibenden Orientierung des Willens an Gott als höchstem Gut" im Unterschied zum bloß intellektuellen Erfassen. Damit ist vor allem gemeint, dass die Erkenntnis in eine dauerhafte Lebenseinstellung der Demut überführt wird (ibd., 193). 206 "Nec se ipso quippe homo divina voluntate contempta nisi perniciose uti potest atque ita discit, quid intersit, utrum inhaereat communi omnibus bono an proprio delectetur" 205

100 (Kap. 4.5) und gebraucht sich doch nur selbst durch sich selbst: Denn die empfangene Gabe des guten Willens – d.h. die subjektive Orientierung – steht nach Augustinus wie das Denken in der willentlichen Verfügung des Menschen, unabhängig von äußerlichen Gegebenheiten.207 Köhlers Interpretation, dass der "geschöpfliche Wille [...] nur frei" sei, "insofern er versagt und so zum Ursprung des Bösen wird", veranschlagt einen für Augustinus unzutreffenden Freiheitsbegriff, weil die Bezogenheit zum Summum bonum die tatsächliche Freiheit ist, in der das Wollen zu seinem Ziel kommt.208 Hingegen verfehlt das individualistische 'etwas nur für sich allein Wollen' in der Abgrenzung von Gott laut Augustinus gerade sein Ziel: Wenn es tatsächlich ein höchstes Gut gibt – was kann dem Wollen, sofern es nach Gutem und Schönem für sich selbst strebt, Besseres widerfahren, als wenn es dieses summum atque totum bonum empfängt und zu ihm gehört209 und mit ihm eines wird210? Dass Letzteres nicht für sich allein gewollt werden kann, dürfte zumindest eine nach(civ. XIII, 21); "Nunc vero, quae pacem felix cum Deo habere noluit, secum pugnat infelix" (civ. XXI, 15). 207 "Vides igitur iam, ut existimo, in voluntate nostra esse constitutum, ut hoc vel fruamur vel careamus tanto et vero bono. Quid enim tam in voluntate quam ipsa voluntas sita est?" (lib. arb. I, 86). "Noli ergo mirari, si ceteris per liberam voluntatem utimur, etiam ipsa libera voluntate per eam ipsam uti nos posse, ut quodam modo se ipsa utatur voluntas quae utitur ceteris, sicut se ipsam cognoscit ratio quae cognoscit et cetera" (lib. arb. II, 195). Der Vergleich des Willens, der sich durch sich selbst gebraucht, mit der ratio, die sich in ihrem Akt ebenso durch sich selbst gebraucht, spricht nochmals für eine Verbindung des erkennenden und wollenden Moments auch in Augustins Denken. 208 G. Köhler (1993). "Selbstbezug, Selbsttranszendenz und die Nichtigkeit der Freiheit. Zur augustinischen Theorie des Bösen in De civitate Dei XII", in: Die Philosophie und das Böse. Hrsg. von H. Hozhey und J.P. Leyraz. Studia Philosophica Vol. 52. Bern; 6779; 78. – Dazu, dass das Wollen immer auf etwas Bestimmtes bezogen ist und in dieser Hinsicht das freie Wollen nicht 'unabhängige Freiheit' im absoluten Sinn sein kann (auch wer in 'totaler Freiheit' nur sich selbst will, will immerhin sich selbst und muss sich selbst voraussetzen), vgl. im Anhang: Exkurs 2: Ist der Wille frei, wenn sein Wollen unbestimmt, 'vollkommen unabhängig' ist? 209 "[...] eumque [sc. Deum] habere atque ipsius esse summum ibi est atque totum bonum" (civ. XVII, 3). Stellen zu dem von Augustinus häufig gebrauchten cohaerere Deo, zum Verbundensein der Menschen, aber auch der Engel mit Gott sind z.B.: lib. arb. III, 116-9; vera rel. 255; civ. VIII, 10; X, 3; 5; 6 und 12; XVIII, 18. 210 Zu der Frage, inwiefern 'Einswerdung' nicht nur ein neuplatonisches, sondern auch christliches 'Konzept' ist, plane ich einen separaten Aufsatz zum 'geistlich-wörtlichen' Schriftverständnis bei Augustinus im Vergleich mit ausgewählten Passagen des JohannesEvangeliums.

101 rangige Frage sein; vielmehr wäre es ein seltsames universales Gut, wenn es nur exklusiv, 'für sich allein' und nicht zugleich von allen und vielen gewollt werden könnte.211 Augustins Kombination der beiden philosophischen Aussagen (die Autarkie des freien und guten Willens einerseits und seine Bezogenheit auf Gott andererseits) ist in dem Moment nicht mehr paradox, wenn man den Gedanken der Anteilhabe alles veränderlich Seienden – sowohl des körperlichen wie auch des seelischen Bereichs, zu welchem der Wille als seelisches Gut nach Augustinus zählt – am ewigen, geistig-intelligiblen Sein berücksichtigt212: Da sich die rationale Seele der (im Unterschied zu dem partikulären Sein alles VeränderlichWahrnehmbaren) universalen Sapientia Gottes (d.h. dem Intelligiblen als dem vollkommen Seienden) zuwenden und sich durch geistige Anteilgabe ganz von Gott bestimmen lassen kann, kann die Seele ihr eigenes (insofern: subjektives) Potential des Denkens und Wollens selbständig (insofern: autark) aktualisieren, indem sie sich auf die intelligiblen Inhalte der göttlichen Sapientia hin orientiert und von ihr leiten lässt sowie geistigen Anteil am Sein der Veritas und Sapientia als ihr eigenes Gut empfängt213 und sich dabei zugleich – als isoliertes Selbst – am besten vergisst, um in ihrem Gut und ihrer Befreitheit ganz geborgen zu sein.214 211

Insofern ist es eine Inkonsistenz im augustinischen Denken, wenn das Heil durch Christus gleichsam von vornherein nur wenigen vorbehalten sein soll. 212 Zum Problem der Anteilhabe vgl. vera rel. I, 31; 61; 308; mus. VI, 17, 56; lib. arb. II, 172-6; civ. V, 11; VIII, 1, 5, 6; X, 14. S. ferner auch Proklos (Teil II, Kap. 3.2). 213 Vgl. K. Jaspers ([1957]. Drei Gründer des Philosophierens: Plato, Augustinus, Kant. München; 139) zu Augustinus: "In der Freiheit zum Guten bin ich Gottes Werk. Meine Freiheit ist geschenkte Freiheit, nicht eigene. Ich kann mich meiner Freiheit nicht rühmen." Für die menschliche Gotteserkenntnis gilt analog: "Gottes Wirklichkeit ist selbst das Unterpfand unserer Kenntnis von ihr" (Naab, 1998: 108). Erst der in Gott gegründete Geist ist nach Augustinus die individuelle, menschliche Glückseligkeit: "eaque ipsa vita beata, id est animi adfectio inherentis incommutabili bono, proprium et primum est hominis bonum" (lib. arb. II, 196). 214 "Melior est autem cum obliviscitur sui prae caritate incommutabilis dei vel se ipsum penitus in illius comparatione contemnit. Si autem tamquam obvius sibi placet sibi ad perverse imitandum deum ut potestate sua frui velit, tanto fit minor quanto se cupit esse maiorem" (lib. arb. III, 262). "What is most remarkable about this vision [sc. of the immutable light that is at the source of his own existence (conf. VII, 10, 16ff.)] is that Augustine never sees himself in it, and yet he knows he belongs there, as his status as a creature of God is the one certainty he takes from the light. […] It is a frequent theme of the Hebrew Scriptures, and one well familiar to Augustine, that no one sees God and lives" (J. Wetzel

102 Wie nun oft betont worden ist, hat Gottes Sapientia nach Augustinus ihr eigenes, höheres Sein als die denkend-wollende Seele und ist deshalb sachlich früher als sie; in dieser Hinsicht ist der menschliche Wille in seinem gelingenden Streben nach beatitudo, nach dem Summum bonum, gleichsam 'in befreiender Weise von dem höchsten Gut abhängig' und hat sich doch nur selbst als Willen – also als seelisches Gut – gebraucht. Mit Worten aus den Confessiones: "Sieh dies in Erbarmen an, Herr, und befreie uns, die wir dich bereits anrufen, befreie auch diejenigen, die dich noch nicht anrufen, auf dass sie dich anrufen und du sie befreist." "Vide ista, domine, misericorditer et libera nos iam invocantes te, libera etiam eos qui nondum te invocant, ut invocent te et liberes eos" (conf. I, 10, 16). Ebenso beschreibt Augustinus in De libero arbitrio Gott als den Befreier, weshalb eine Bekehrung zu Gott auch schon für den Augustinus vor dem Jahr 397 (vor dem Verfassen von Ad Simplicianum I, 2; dazu Kap. 10) kein menschliches Verdienst sein kann215: "Gott aber schuldet niemandem etwas, weil er alles umsonst aus Gnade (gratuito) gewährt. Und wenn jemand sagt, dass von ihm [sc. Gott] etwas seinen [sc. menschlichen] Verdiensten geschuldet werde, so wurde ihm sicherlich nicht geschuldet, dass er ist.216 Denn er war nicht, dem [sc. etwas] hätte geschuldet werden können. Und abgesehen davon, welches Verdienst ist es, sich zu ihm zu bekehren, von dem du bist, auf dass du von ihm selbst sogar noch auf bessere Weise seist, von wem du es hast, dass du bist? [...] Da, wenn du dich nicht zu ihm bekehren wolltest, ihm nichts fehlen würde, dir aber er selbst, ohne den nichts wäre und von dem du auf solche Weise Etwas bist, dass du, wenn du nicht dadurch, dass du dich zu ihm bekehrst, ihm zurück-

[2002]. "Snares of truth: Augustine on free will and predestination", in: Augustine and his Critics, 124-141; 135-6). Vgl. zum 'Gehindertwerden' durch das eigene Bewusstsein grundsätzlich auch Plotin, enn. IV, 4, 2. 215 "In retract. 2, 1 meint er [sc. Augustinus] zwar, um die Zeit der Abfassung von lib. arb. und ad Simplicianum das initium fidei noch nicht genau als das initium gratiae bestimmt zu haben. Doch ebensowenig bestimmte er es als initium liberi arbitrii" (Lössl, 1997: 80). 216 D.h. Gottes freies Gewähren, das 'Umsonst', geht jeglicher Möglichkeit des Schuldens voraus und ist früher als sie. Vgl. in diesem Sinn auch 1 Kor 4, 7 und s. dazu persev. 17, 43.

103 gibst, was du von ihm bist,217 freilich nicht nichts, aber gleichwohl elend sein wirst. Alle also schulden ihm: zuerst das, was sie jeweils sind, insofern sie [sc. bestimmte] Wesen sind; dann, in welcher Hinsicht sie jeweils auf bessere Weise sein können, wenn sie wollen [sc. und] was sie jeweils empfangen haben, auf dass sie wollen; und das, was sie jeweils angemessenerweise sein sollen. [...] Denn wenn du gelobt wirst, weil du siehst, was du tun sollst, wobei du dieses nicht siehst außer in ihm, der die unveränderliche Wahrheit ist, um wieviel mehr [sc. wird] jener [gelobt], der sowohl das Wollen vorgeschrieben als auch das Können gewährt und nicht unbestraft das NichtWollen erlaubt hat." "Deus autem nulli debet aliquid, quia omnia gratuito praestat. Et si quisquam dicet aliquid ab illo deberi meritis suis, certe ut esset non ei debebatur; non enim erat cui deberetur. Et tamen, quod meritum est converit ad eum ex quo es, ut ex ipso etiam melior sis ex quo habes ut sis? [...] Quando si nolles ad eum converti nihil ei deesset, tibi autem ipse, sine quo nihil esses et ex quo ita es aliquid, ut, nisi convertendo te ad illum reddideris ei quod ab ipso es, non quidem nihil, sed miser tamen eris. Omnia ergo illi debent: primo quidquid sunt in quantum naturae sunt, deinde quidquid melius possunt esse si velint quaecumque acceperunt ut velint, et quidquid oportet eas esse. […] Si enim tu laudaris videndo quid facere debeas, cum id non videas nisi in illo qui est incommutabilis veritas, quanto magis ille qui et velle praecepit et posse praebuit et non inpune nolle permisit" (lib. arb. III, 154-156).218

217

Dieser Gedanke der conversio kommt dem der Epistrophê bei Proklos sehr nahe: Alles Seiende tritt aus dem in sich ruhenden (Monê) Quell des Seienden hervor (Prohodos) und kehrt zu ihm zurück (Epistrophê), denn nur durch den Rückbezug zu ihm kann es sein, was es ist. Dies lässt sich auch mit Paulus in Verbindung bringen: "Denn aus ihm und durch ihn und zu ihm ist alles" (oÀti e)c au)tou= kaiì di' au)tou= kaiì ei¹j au)to\n ta\ pa/nta, Rö 1, 36). Vgl. ferner: "Dona sua coronat Deus, non merita tua, si tibi a te ipso, non ab illo sunt merita tua. Haec enim si talia sunt, mala sunt; quae non coronat Deus: si autem bona sunt, Dei dona sunt" (gr. et lib. arb. 6, 15). 218 An einer späteren Stelle des dritten Buchs sagt Augustinus ferner, dass der Schöpfer sogar die "Kapazität der Seele zum Höchsten Guten begründet hat und ihr Fortschreiten unterstützt und vollendet" ("Creator vero eius ubique laudatur, vel quod ab exordiis ad summi boni capacitatem inchoaverit vel quod eius profectum adiuvet vel quod impleat proficientem atque perficiat", lib. arb. III, 221), so dass Augustinus auch zum Zeitpunkt der Abfassung des dritten Buchs von lib. arb. die Fähigkeit der Seele zum Guten bereits in Gott selbst sieht, während der Mensch auch sich selbst ausbleibt, wenn er Gott ausbleibt ("Donatus est itaque homo sibi, quia deseruit Deum placendo sibi, et non oboediens Deo non potuit oboedire nec sibi", civ. XIV, 24).

104 In seiner "Allgegenwärtigkeit" (be)ruft Gott ferner nicht erst gemäß Ad Simplicianum I, 2 auf verschiedene Weisen den von sich Abgewandten.219 Auch wenn Gott "den Glaubenden lehrt, den Hoffenden tröstet, den Liebenden ermahnt, den sich Bemühenden unterstützt und den Flehenden erhört", akzentuiert Augustinus bereits hier, dass es auf die Berufung Gottes ankommt und dass die Schuld, die dem Menschen zugerechnet wird, in der Ablehnung dessen besteht, der heilen will.220 Hier deutet sich bereits an, dass der Mensch entweder nur durch ein kraft seines freien Willens mögliches 'Nicht-Nein zu Gott' in eine Kooperation mit Gott eintreten kann – insofern der Impuls zu dieser Kooperation dabei von Gott ausgeht – oder aber sich durch ein 'Nein' dieser Kooperation mit Gott versagt. In diesem Sinn sieht auch Eleonore Stump (2001: 139-141) folgende zwei Möglichkeiten auf der Seite des Menschen: "refusing grace" (= Nein) vs. "ceasing to refuse grace" (= Nicht-Nein). Obwohl eine solche duale Interpretation etwas Richtiges zu treffen und auf den frühen Augustinus und De libero arbitrio anwendbar scheint, bleibt zu erklären, warum dieses Modell (in Abgrenzung zu Stump) im Hinblick auf die Spätwerke Augustins modifiziert werden muss. Denn wenn auch der (gefallene wie nicht gefallene) Mensch das Gute nur in Kooperation mit dem immer schon vorausliegenden Quell alles Guten, Gott selbst, erreicht, ist angesichts einer solchen menschlichen Möglichkeit, Gott abzulehnen, Gottes Gnade in ihrer Wirksamkeit dann von dem Menschen abhängig. Ist sie also widerstehlich? Dies ist für Augustinus, wenn er seinen theologischen Skopos erst einmal auf dieses Problem gelenkt haben wird, undenkbar. Gibt es aber auf der Basis des augustinischen Denkens einen Ausweg aus dem Dilemma, dass andernfalls – in einer "Logik des Schreckens" – Gott nur bestimmte Menschen zum Heil prädestiniert, und hat Augustinus ein solchen Ausweg selbst gesehen bzw. sehen wollen? Bevor am Ende auf diese schwierige Frage eingegangen werden soll (Kap. 10), sind noch einige Vorüberlegungen nötig. Als erstes soll die oben schon angesprochene Abkehr des Willens von Gott etwas genauer in den Blick genommen werden.

219

"Cum vero ubique sit praesens qui multis modis [...] aversum vocet" (lib. arb. III, 181). Zum Thema des göttlichen Rufens in Simpl. I, 2 s.u. Kap. 10. 220 "[…] qui […] doceat credentem consoletur sperantem diligentem adhortetur conantem adiuvet exaudiat deprecantem, […]. […], sed quod volentem sanare contemnis; ista tua propria peccata sunt" (lib. arb. III, 181).

105

6.

Woher rührt die Abkehr des Willens vom Gutem? Ist das 'nichts' das malum principale? (lib. II-III und civ. XI-XIV)

Grundsätzlich basiert die Abkehr des freien Willens gemäß Augustinus zunächst darauf, dass etwas Seiendes sich von dem Quell des Seins – d.h. von Gott, dem Summum bonum – in gewisser Weise abwenden will und etwas anderes (das nach Augustinus ja auch wiederum etwas Seiendes und insofern von demselben Quell ontologisch abhängig ist221) an die Stelle des höchsten Gutes stellt und für das höchste Gut hält. Der Sache nach basiert diese Vertauschung auf einer (für Augustinus von der Forschung bestrittenen222) erkenntnisbedingten Fehleinschätzung, die einem Willensakt zugrunde liegen kann oder mit ihm einhergeht, obwohl dieser bewusst vollzogen wird. Der Grund, weshalb Augustinus das Strebeverhalten des Willens häufig scheinbar ausschließlich im Verhältnis zu dem Summum bonum, also zu Gott, betrachtet, liegt gleichwohl nicht darin, dass es keine anderen Güter gäbe bzw. diese gar nichts Gutes wären (s.o. Kap. 3.3), sondern dass das willentliche Streben nach Gutem bzw. nach umfassender beatitudo nur in dem höchsten Gut 221

In universeller Weise ist eine Abkehr von Gott also unmöglich: "Dem natürlich, was ist, ist Nicht-Sein gegensätzlich [sc. Nicht-Sein aber ist nicht]. Und deshalb ist Gott, d.h. dem höchsten Wesen und dem Urheber aller wie auch immer beschaffenen Wesen, kein Wesen entgegengesetzt" ("Ei quippe, quod est, non esse contrarium est. Et propterea Deo, id est summae essentiae et auctori omnium qualiumcumque essentiarum, essentia nulla contraria est", civ. XII, 2). S. ferner: "Bonum quod amatis ab illo est [...]; sed amarum erit iuste, quia iniuste amatur deserto illo quidquid ab illo est" (conf. IV, 12, 18). Vgl. Proklos: "Denn nicht ist es das [sc. eine] Gute, dem das Böse entgegengesetzt ist, sondern ein [sc. bestimmtes Gutes, das] in etwas anderem und nicht auf abgetrennte Weise ist. Denn was wohl wird dem auf erste Weise Guten – nicht weil es schlecht, sondern [sc. vielleicht] auch irgendein anderes der Seienden ist – entgegengesetzt sein?" ("neque enim le bonum cui malum contrarium, sed in alio et non separatim. Et enim quid utique erit prime bono non quia malum, sed et aliud quodcumque entium, contrarium?", Proklos, De malorum subsistentia II, 37; 77, 16-20). 222 "Im Unterschied zu antiken Willenskonzepten – etwa dem des Aristoteles und dem der Stoa [...] – ist er [sc. der Wille bei Augustinus] nicht mit rationalem Streben identisch, sondern dadurch gekennzeichnet, daß er sowohl rationales als auch irrationales Streben sein und sich zu beidem zustimmend oder ablehnend verhalten kann" (Peetz, 1997: 83). S. ferner Dihle (1982: 125); Horn (1996: 116). Das von Peetz angesprochene irrationale Willensstreben ergibt sich m.E. auch für Augustinus aus dem Irrtum, dass einer Sache ein größeres Maß an Gutheit zugesprochen wird als ihr tatsächlich und angemessenerweise zukommt (s. das Folgende).

106 selbst zur absoluten Erfüllung kommen kann. Denn für Augustinus ist der Wille selbst ein "medium bonum" (lib. arb. II, 196)223 wegen der grundsätzlichen Möglichkeit, dass sich eine (rationale) Seele in ihrem Wollen entscheiden kann zwischen dem Weg hin zum höchsten Gut und einem Weg weg von dem höchsten Gut hin zum "eigenen, äußerlichen, niederen Gut": um sich entweder in der Illusion der Unabhängigkeit von Gott als dem Urquell allen Seins dem vermeintlich 'eigenen' Gut hinzugeben oder fremdes – äußeres – Gut zu erstreben (im Unterschied zur Sapientia, die allen gehört und gleichermaßen zugänglich ist, s.o. Kap. 4.5) oder das Körperliche dem (ontologisch höher stehenden) Geistigen vorzuziehen.224 Der Gebrauch und Besitz der geringeren Güter ist laut Augustinus in diesem Leben nicht grundsätzlich unangemessen oder tadelnswert; man kann von ihnen aber in einer das angemessene Maß überschreitenden Weise eingenommen sein – in Form der Begehrlichkeit, die Gutes seiner Gutheit beraubt und die wegführt von tatsächlicher beatitudo.225 Obwohl der Mensch auf solchen Wegen der Unangemessenheit nach unten hinabgleitet, steht auch ein solches Leben noch unter der "Herrschaft der Vorsehung".226 Dieser Aspekt wird später, im dritten Teil dieser Arbeit auch bei Apu223

Im Rahmen einer geistig-allegorischen Auslegung der Paradiesgeschichte deutet Augustinus "den Baum des Wissens um Gut und Böse" im prophetischen Sinn als den freien Willen ("[...] lignum scientiae boni et mali proprium voluntatis arbitrium", civ. XIII, 21). Auch hier erweist sich also die Stellung des freien Willens als medium bonum, wobei Augustinus damit tatsächlich ein mittleres Gut meint, nicht also bereits eine 'Mischung aus Gut und Böse'. Denn das Paradies und die Menschen in ihm sind ja ohne malum und werden weder durch Begehren des Verbotenen noch durch Furcht vor dem Verbotenen "verwirrt"; hier gilt noch nicht, dass das Ansehen des Verbotenen bereits eine Sünde wäre oder erzeugen würde, wie Jesus (im Kontext der gefallenen Welt) über denjenigen sagt, der bereits durch das begehrende Ansehen einer Frau Ehebruch begeht (civ. XIV, 10). 224 "Voluntas autem aversa ab incommutabili et communi bono et conversa ad proprium bonum aut ad exterius aut ad inferius, peccat. Ad proprium convertitur, cum suae potestatis vult esse, ad exterius, cum aliorum propria vel quaecumque ad se non pertinent cognoscere studet, ad inferius cum voluptatem corporis diligit" (lib. arb. II, 199); "Est autem peccatum hominis inordinatio atque perversitas, id est a praestantiore conditore aversio et ad condita inferiora conversio" (Simpl. I, 2, 18). 225 "Nam cum dixit apostolus: 'Qui volunt divites fieri, incidunt in temptationem' (1. Ti 6, 9) et cetera, profecto in divitiis cupiditatem reprehendit, non facultatem" (civ. I, 10); "[...] illa [sc. bona] quibus in hac vita non indebitis utitur, sed plus quam debuit delectatur" (civ. I, 9). 226 "[...] tamen regitur administratione divinae providentiae" (lib. arb. II, 200). Auch in einer gestörten menschlichen Beziehung zu Gott versagt sich dieser dem Menschen nicht;

107 leius begegnen: Denn dort ist die Fortuna, unter der Lucius in den Metamorphosen leidet, letztlich nichts anderes als die durch Lucius' eigene Abkehr von echter Religion geschmälerte Providenz der Isis – jedoch ohne dass deshalb Isis und Fortuna einfach gleichzusetzen wären (Kap. III. 5.4: Fortuna vs. Providentia...). Die willentlich-seelische Abkehr von Gott eröffnet also keinen Bereich, der außerhalb der Machtsphäre der Providenz liegt.227 Für Augustinus steht außer Evodius verweist darauf, dass sogar die göttlichen Strafen (s.o. Anm. 8), die einen Menschen wieder zu seiner ursprünglichen Gutheit zurückführen sollen, Beweis dafür sind, dass niemand von der göttlichen Vorsehung des Summum bonum ausgeschlossen ist (lib. arb. II, 3-4; "Ille igitur unus verus Deus, qui nec iudicio nec adiutorio deserit genus humanum", civ. V, 21; "qui eum peccantem nec inpunitum esse permisit nec sine misericordia dereliquit", civ. V, 11; "Nam neque ab illa creatura, quam praescivit deus non solum peccaturam, sed etiam in peccandi voluntate mansuram, abstinuit largitatem bonitatis suae, ut eam non conderet", lib. arb. III, 56). Ebenso versagt Gott niemandem in irgendeiner Situation den Schmuck seiner Vorsehung (mus. VI, 17, 56). Gottes Barmherzigkeit ist laut Augustinus nicht nur den Frommen vorbehalten: Auch wenn im Jenseits den Frommen bestimmte Güter bereitet sind, während den Unfrommen bestimmte Strafen bevorstehen, lädt im Diesseits Gottes Geduld die Schlechten zur Umkehr ein, wie seine Geißel die Guten zur Geduld erzieht, denn die göttliche Providenz wollte, dass "jene zeitlichen Güter und Übel beiden [sc. Schlechten und Guten] gemeinsam sei, damit weder die Güter, die, wie man sieht, auch die Schlechten besitzen, [sc. von den Guten] zu begierig erstrebt werden noch die Übel schändlicherweise [sc. von den Schlechten] vermieden werden, die auch den Guten gewöhnlich widerfahren" ("tamen patientia Dei ad paenitentiam invitat malos, sicut flagellum Dei ad patientiam erudit bonos; itemque misericordia Dei fovendos amplectitur bonos, sicut severitas Dei puniendos corripit malos. Placuit quippe divinae providentiae praeparare in posterum bona iustis, quibus non fruentur iniusti, et mala impiis, quibus non excruciabuntur boni; ista vero temporalia bona et mala utrisque voluit esse communia, ut nec bona cupidius adpetantur, quae mali quoque habere cernuntur; nec mala turpiter evitentur, quibus et boni plerumque adficiuntur", civ. I, 8; vgl. ebenso V, 21). Nicht nur 'die Schlechten' befinden sich also nach Augustinus in Gefahr; auch 'die Guten' können im Diesseits sehr schnell ihre Gutheit verlieren und bedürfen deshalb gleichsam eines vorbeugenden Schutzes durch eine Art 'Gegengift'. Deshalb können sowohl Schlechte wie auch Gute in ihrer Unterschiedlichkeit von denselben Leiden betroffen sein, ohne dass der Unterschied zwischen Fehler und Tugend eingeebnet würde ("Manet enim dissimilitudo passorum etiam in similitudine passionum, et licet sub eodem tormento non est idem virtus et vitium", civ. I, 8; ebenso XVII, 2 und XVIII, 54). 227 Auch die Zuteilung eines Handlungsspielraums an Seelen, die diesen zu Schlechtem missbrauchen, widerspricht für Augustinus nicht dem Gedanken der Allmacht Gottes (vgl. civ. XVIII, 18). Gott weiß, wie er das Böse, das er, insofern es böse ist, nicht will, dennoch zu etwas Gutem wendet: "Deus vero tam bonus est, ut malis quoque utatur bene, quae omnipotens esse non sineret, si eis bene uti summa sua bonitate non posset; et hinc

108 Frage, dass Gott, da er das Gute selbst ist und alles Seiende in seiner primären Gutheit erschafft, nicht Ursache der willentlichen Abkehr von ihm sein kann228 – Gott verleugnet sich nicht selbst, weil dies einem Mangel gleichkäme, den das Summum bonum als solches weder erleiden kann noch will.229 Bereits am Ende des zweiten Buchs von De libero arbitrio erklärt Augustinus gegenüber Evodius – auch wenn er über diese Antwort vielleicht traurig sei –, dass man nicht wissen könne, woher diese Abkehrbewegung komme, denn "was nichts ist, kann nicht gewusst gewerden."230 Diese Pseudo-Antwort, so unbefriedigend sie auf den ersten Blick erscheint, enthält beim näheren Hinsehen doch mehr von einer Antwort als ein bloßes Ausweichen aus Unkenntnis und ist sogar eine sehr angemessene Antwort für eine 'Sache', die auf einer Pseudo-Ursache beruht. Auf der Basis der bereits erörterten Erkenntnistheorie und Ontologie, die besagt, dass nur etwas Einheitliches erkannt werden kann231 – jeder Wahrnehmungssinn erkennt eine eigentümliche Qualität; den einzelnen Sinnen ist eine Einheitsinstanz, der innere Sinn, vorgeordnet; jede intelligible Bestimmtheit, jede Zahl basiert auf Einheit; es ist eine Universalursache des Intelligiblen: die eine Sapientia divina –, argumentiert Augustinus, dass tatsächlich keine Ursache für die Abkehr des Willens vom potius impotens appareret et minus bonus, non valendo bene uti etiam malo" (c. Iul. imp. V, 60); "[...], ut in eo ipso quod eum [sc. diabolum] finxit, licet per suam bonitatem bonum, iam per suam praescientiam praeparasse intellegatur quo modo illo uteretur et malo" (civ. XI, 17). Vgl. ferner civ. XI, 18; XIV, 11; lib. arb. III, 226. 228 "Si enim motus iste, id est aversio voluntatis a domino deo, sine dubitatione peccatum est, num possumus auctorem peccati deum dicere?" (lib. arb. II, 201); "Nam etsi quisque mali aliquid alterius inprobitate vel errore patiatur, peccat quidem homo, qui vel ignorantia vel iniustitia cuiquam mali aliquid facit; sed non peccat Deus, qui iusto, quamvis occulto, iudicio fieri sinit" (civ. XXI, 13; ebenso c. Iul. imp. V, 64). 229 "Ille vero qui non alio, sed se ipso bono beatus est, ideo miser non potest esse, quia non se potest amittere" (civ. XII, 1; ebenso conf. VII, 4, 6). 230 "Non erit ergo iste motus ex deo. Unde ergo erit? Ita quaerenti tibt si respondeam nescire me, fortasse eris tristior, sed tamen vera responderim. Sciri enim non potest quod nihil est" (lib. arb. II, 202; vgl. auch lib. arb. III, 11). "Ea quippe quae non in specie, sed in eius privatione sciuntur, si dici aut intellegi potest, quodam modo nesciendo sciuntur, ut sciendo nesciantur" (civ. XII, 7). Insofern ist schon von dieser Prämisse her Bonners (1963: 368) Kritik unangemessen, dass Augustinus "never gives a throroughly satisfactory explanation of the reason for Adam's disobedience." Gleiches gilt für das Fazit: "No doubt the problem of the primal sin is indissoluble, at least in this world, and no practical benefit can be derived from investigating it" (ibd., 369); s. dazu das Folgende. 231 Vgl. lib. arb. III, 238. Zur Stelle s.o. Kap. 4.2 (Schluss) sowie allgemein Kap. 4.3.

109 Guten gefunden werden kann, denn diese müsste als etwas Einheitliches erkennbar sein. Es lässt sich aber keine solche Einheitsursache für 'Abkehr von etwas' feststellen, da sich nur das Etwas, von dem eine Abkehr erfolgt, bestimmen lässt als ein einheitlicher Bezugspunkt. 'Abkehr an sich' ist unbestimmt und kein Etwas, solange sie nicht an etwas Bestimmtem Halt macht und insofern zu einer 'Hinkehr zu etwas Bestimmten' wird. Wenn 'Abkehr an sich' als 'etwas Unbestimmtes' zu verstehen ist, dann handelt es sich um ein Pseudo-Etwas,232 das weder erkannt werden kann noch etwas Gutes ist und deshalb auch nicht von Gott her sein kann. Insofern kann tatsächlich nicht gewusst werden, was nicht ist; dennoch kreist Augustinus das NichtWissbare indirekt ein in seiner 'Pseudo-Bestimmtheit': Obwohl nichts nicht ist, kann sich der Wille offenbar in eine solche defiziente Tendenz begeben oder besser gesagt: er (bzw. die jeweilige Seele) kann sie erzeugen.233 Insofern gibt es eine willentlich-seelische Ursache, die jedoch genau genommen keine Ursache, sondern 'nur' ein Defekt (defectivus motus) ist,234 weil ihr kein einheitliches Prinzip von intelligibler Bestimmtheit vorausgeht, dieser Defekt aber etwas Bestimmt-Einheitliches und Gutes (miss-)braucht, um davon abfallen bzw. um diese Gutheit entstellen zu können. Daraus gewinnt Augustinus zunächst den Trost, dass der schlechte, sich abkehrende Wille es ja in seiner Macht hat, ob er schlecht wird oder nicht: Wenn man sich vor ihm fürchte (was ratsam ist), brauche man diesen schlechten Willen 232

Vgl. in Teil II (Kap. 5.2.3) dieser Arbeit den Begriff der Parhypostasis bei Proklos. 'Abkehr' hat keine eigene Bestimmtheit und keinen Ort und ist gewissermaßen eine 'Abfallrichtung' (quo ceciderant) weg von dem Bestimmt-Sein des Guten (bonum) zum Mangel ("'Aperti sunt', inquit, 'oculi amoborum' [Gen 3, 7] [...] ad discernendum inter bonum quod amiserant et malum quo ceciderant", civ. XIV, 17). Da 'Abkehr' und 'Mangel' in sich ohne Bestimmtheit sind und kein eigenes Sein haben, wird auch die 'Augenöffnung' als Unterscheidung zwischen gut und böse erst nach dem Sündenfall notwendig (vgl. oben Anm. 223). 233 "[…] ea, quae dicitur a veritate atque sapientia separatio, perversa voluntas est, qua inferiora diliguntur. Nemo autem vult aliquid nolens" (lib. arb. II, 144). 234 "Ita detracto penitus omni bono non quidem nonnihil, sed nihil omnino remanebit. Omne autem bonum ex deo, nulla ergo natura est quae non sit ex deo. Motus ergo ille aversionis, quod fatemur esse peccatum, quoniam defectivus motus est, omnis autem defectus ex nihilo est, vide quo pertineat, et ad deum non pertinere non dubites. Qui tamen defectus quoniam est voluntarius in nostra est positus potestate" (lib. arb. II, 204); "Vita ergo voluntario defectu deficiens ab illo, qui eam fecit et cuius essentia fruebatur" (vera rel. 58).

110 nur nicht zu wollen, dann werde er nicht sein, rät er Evodius.235 Da aber dieser Idealzustand, in dem das Schlechte und Böse so leicht vermeidbar scheint, aufgrund von Adams Sündenfall eingebüßt worden ist, verweist Augustinus sich selbst und Evodius am Ende des zweiten Buchs von lib. arb. auf die dem Menschen "entgegengestreckte236 Hand Gottes", die in dem Erlöser Christus Mensch gewordene Sapientia divina: "Da der Mensch aber nicht so, wie er aus eigenem Wollen gefallen ist, allein wieder aufstehen kann, lass uns die uns von oben entgegengestreckte Rechte Gottes, das heißt unsern Herrn Jesus Christus, mit starkem Glauben festhalten." "Sed quoniam non sicut sponte homo cecidit ita etiam surgere potest, porrectam nobis desuper dexteram dei, id est dominum nostrum Iesum Christum, firma fide teneamus" (lib. arb. II, 205). Die göttliche Weisheit und Wahrheit lässt in ihrer Ursächlichkeit von seinskonstituierender Bestimmtheit und Gutheit, wie es oben abgeleitet wurde, nach Augustinus in sich selbst keine Unbestimmtheit zu und vermag deshalb, diesen aus der willentlichen Abkehr der Seele von Gott resultierenden Abfall vom Sein zum Tod zu überwinden: Wie das Intelligible keine Unbestimmheit hat und kennt, so überwindet Gottes ewige Weisheit in dem Mensch gewordenen Christus den Tod und die aus der Trennung von dem Seienden resultierende Sünde im vergänglichen Seinsbereich des Körperlichen.237 Ein seelsorgerlicher Aspekt klingt bei Augustinus hier an – die entgegengestreckte rechte Hand Gottes, die der Mensch willentlich ergreifen kann.238 An anderer Stelle heißt es, man solle danken für das, was man wollenderweise ist, auf dass einem dasjenige, was man gegen sei-

235

"Si enim times illum, oportet ut nolis; si autem nolis, non erit" (lib. arb. II, 204). Vgl.: "Itemque scio, in quo fit mala voluntas, id in eo fieri, quod si nollet, non fieret, et ideo non necessarios, sed voluntarios defectus iusta poena consequitur" (civ. XII, 8). 236 Wiederum wird in diesem Bild die immer schon entgegenkommende göttliche Unterstützung für eine Kooperation zwischen Mensch und Gott erkennbar wie schon zuvor in der Rede von der "entgegenkommenden Providenz" (lib. arb. II, 174; s. Kap. 5). 237 Vgl. mus. VI, 4, 7. 238 Zu Gottes entgegengestreckter (porrigere) Hilfe s. auch lib. arb. III, 108; conf. V, 10, 20 und X, 41, 66. Vgl. ferner Off 1, 17 und "porrecta dextera" (Apuleius, Met. XI, 13, 1 und 25, 2).

111 nen Willen ist, durch göttliche Hilfe abgenommen werde.239 Denn wollend habe ein Mensch Sein, gegen seinen Willen aber sei er elend.240 Wie in De libero arbitrio von dem defectivus motus spricht Augustinus auch in De civitate Dei von einer causa deficiens (civ. XII, 7) für den Abfall von Gott, wodurch der schlechte Wille entstehe – hier im Zusammenhang mit dem Fall der Engel, der dem Fall der Menschen vorausgeht, aber von Augustinus analog erklärt wird.241 Am Beispiel des Engelfalls soll im Folgenden die Frage nach der Ursächlichkeit des nihil für den Abfall von Gott erörtert werden: Kann man zu Recht davon sprechen, dass nach Augustinus eine causa deficiens "wie ein Vakuumsog, dem der Teufel als erster nicht standhielt [...], den freien und selbstverantwortlichen Willen auf das hin aktuiert, was der Wollende nicht ist und nicht sein kann, und sozusagen als ontologische Leerstelle eine 'Wirkung' ex negativo entfaltet",242 bzw. davon, dass die Engel als reine Intelligenzen "bei bester Einsicht das Schlechte wählen" (Horn, 1996: 119) und nur deshalb als schuldfähig gelten können, weil sie ohne Neigung oder Motiv wollen (ibd.)?

239

"Age igitur gratias ex eo quod es volens, ut quod invitus es auferatur" (lib. arb. III, 64). "Volens enim es et miser invitus es" (lib. arb. III, 64). Das Fliehen des Elends ist nach Augustinus kein Fliehen zum absoluten Nicht-Sein, sondern zum Frei-Sein von Elend, das deshalb z.B. nicht durch Suizid – durch Verneinung von Sein – erlangt werden kann (lib. arb. III, 75-76; s. ferner civ. XI, 27). So ist die ersehnte Abwesenheit von Elend eine Form der Ruhe; dieser aber komme Beständigkeit (constantia) und Sein (Est) zu und könne nur in falscher Meinung mit 'Nicht-Sein' verwechselt werden, weil ihr vielmehr ein höheres Sein zukomme ("Cum ergo quisque credens quod post mortem non erit intolerabilibus tamen molestiis ad totam cupiditatem mortis impellitur et decernit atque arripit mortem, in opinione habet errorem omnimodae defectionis, in sensu autem naturale desiderium quietis. Quod autem quietum est non est nihil, immo etiam magis est quam id quod inquietum est. Inquietudo enim variat adfectiones ut altera alteram perimat, quies autem habet constantiam in qua maxime intellegitur quod dicitur Est. Omnis itaque ille adpetitus in voluntate mortis non ut qui moritur non sit sed ut requiescat intenditur. Ita cum errore credat non se futurum, natura tamen quietus esse, hoc est, magis esse desiderat", lib. arb. 82-84). 241 Zur Vergleichbarkeit von Engel- und Menschenfall in der Sache s. civ. XIV, 27 und corrept. 11, 32. 242 C. Schäfer (2002). Unde Malum. Die Frage nach dem Woher des Bösen bei Plotin, Augustinus und Dionysius. Würzburg; 341. 240

112 Von den Engeln als den ersten Geschöpfen überhaupt243 sagt Augustinus zu Beginn des zwölften Buchs in civ., dass sie in einer so herausgehobenen Gutheit erschaffen seien, dass sie, obgleich sie veränderlicher Natur sind, durch ihr Hineingegründetsein in das unveränderliche Gut ("inhaerendo tamen incommutabili bono"), d.h. durch das Verbundensein mit Gott, ihre Seligkeit erreichen könnten; und nur durch das Seligsein sei ihre Bedürftigkeit erfüllt und zu dieser Erfüllung genüge nichts außer Gott selbst; das Nicht-Anhängen an Gott ("non illi adhaerere") allerdings sei Fehler bzw. (Ver-)Fehlen (vitium), weil wider die Natur.244 Das 'Nein' zu Gott ist also die Gefahr, die ein vitium erst ermöglicht. Es handelt sich nicht um eine 'Überinterpretation' zu sagen, dass sich die Engel nach Augustinus zunächst gar nicht mit einer Entscheidung 'für' oder 'gegen' Gott konfrontiert sehen. Vielmehr sind sie laut Augustinus gut erschaffen worden 243

Vgl. dazu Augustins Genesisauslegung, dass die Engel in ihrer Lichthaftigkeit in dem "Es werde Licht" als mit erschaffen bzw. als dieses Licht selbst verstanden werden müssen (vgl. civ. XI, 9; gn. litt. V, 4-5; conf. XII, 9, 9). Als erste Kreaturen begründen sie in ihrer rationalen (Denk-)Bewegung die Zeitlichkeit (nur die Seele als das sich zeitlich Bewegende und doch bei sich Verharrende kann Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges in einer Zuordnung aufeinander – als Zeit – konstituieren, weil die Seele in ihrer Selbstidentität das Zerteilt-Seiende in der Beziehung des Vorher und Nachher als etwas auf bestimmte Weise Einheitliches erkennen kann; vgl.: U. Schulte-Klöcker [2000]. Das Verhältnis von Ewigkeit und Zeit als Widerspiegelung der Beziehung zwischen Schöpfer und Schöpfung. Eine textbegleitende Interpretation der Bücher XI-XIII der 'Confessiones' des Augustinus. Hereditas – Studien zur Alten Kirchengeschichte. Hrsg. von E. Dassmann und H.-J. Vogt, Bd. 18. Bonn; 105f.; vgl. ferner [mit einer m.E. noch diskussionsbedürftigen Abgrenzung zwischen Augustinus und Aristoteles]: G. Lloyd [1999]. "Augustine and the 'Problem' of Time", in: The Augustinian Tradition, 39-60; 46-48, 55-56.) Diese Zeitlichkeit im Denken ist ohne räumliche Bewegung, nur ihnen unterworfene körperliche Naturen bewegen die Engel auch räumlich (vgl.: "[...] quibus [sc. angelis] potius convenit venire ad Deum motibus sanctis, hoc est cogitationibus piis, quibus ab eis consulitur incommutabilis Veritas", civ. XVI, 6; "Mutari autem animam posse, non quidem localiter sed tamen temporaliter", vera rel. 52; "angeli [...], qui iussione dei in ipsa eius, quam sempiterne intuentur, incommutabili veritate perspecta moventes se per tempus et corpora sibi subdita per tempus et locum", gn. litt. IX, 14; meine Kursive). 244 "[...] huic naturae [sc. angelicae], quae in tanta excellentia creata est, ut, licet sit ipsa mutabilis, inhaerendo tamen incommutabili bono, id est summo Deo, beatitudinem consequatur nec expleat indigentiam suam nisi utique beata sit eique explendae non sufficiat nisi Deus, profecto non illi adhaerere vitium est. Omne autem vitium naturae nocet ac per hoc contra naturam est" (civ. XII, 1; vgl. ebenso lib. arb. III, 133). Zur 'Natur' als dem bestimmten Etwas-Sein einer Sache vgl.: "Nam et ipsa natura nihil est aliud quam id quod intelligitur in suo genere aliquid esse" (mor. II, 2, 2).

113 und brauchten eigentlich 'nur' ihren freiheitlichen Erschaffungszustand der veränderlichen Selbstbeweglichkeit als solchen zu bewahren, indem sie ihrem Schöpfer, Gott selbst, verbunden bleiben in dem guten Willen und der Liebe zu dem Summum bonum, der und die ihnen von ihm gegeben wurde – gemäß derselben Bezogenheit des Geschöpfes auf seinen Schöpfer, die schon oben für De libero arbitrio im Hinblick auf das Wollen des Guten abgeleitet wurde.245 Allein der Abfall von Gott durch den schlechten Willen, dessen Schlechtigkeit in dem Abfall selbst besteht, trennt die gefallenen Engel von ihrem Schöpfer – und hier gilt dasselbe, was Augustinus Evodius sagt (lib. arb. II, 204): Hätten sie den schlechten Willen nicht gewollt, hätten sie ihn nicht gehabt und wären nicht von dem guten Willen abgefallen, denn niemanden zwingt seine Natur zum Sündigen.246 Man kann deshalb formulieren, die Engel müssen gar nicht erst ein 'Ja' zu Gott 'herausbringen', um gut zu sein und ihre Seligkeit zu erlangen, sondern das Bewahren des Erschaffungszustandes gleicht der Sache nach einem schlichten, kooperativen 'Nicht-Nein'247 – solange (und hier gibt es göttlicherseits weder eine zeitliche Begrenzung noch irgendeinen anderen limitierenden Zwang248) sie nicht 245

Die Engel sind zwar immer gewesen, aber im zeitlichen Sinn; ihrer Natur nach sind sie veränderlich und deshalb nicht gleichewig mit Gott, bei dem keine Zeit ist (s. dazu civ. XI, 6; civ. XII, 16; conf. XII, 11, 12-13; 12, 15; 15, 22; 17, 25). Vgl. Mayer (1998: 569-570); U. Schulte-Klöcker ([2006]. "Die Frage nach Zeit und Ewigkeit – eine verbindende Perspektive der letzten drei Bücher der Confessiones", in: Schöpfung, Zeit und Ewigkeit, 928; 18); Hattrup (2006: 97); Brachtendorf (2005: 268-9). 246 "Cum ergo ipsi [sc. angeli] facti sint, quo modo illa [sc. voluntas] non esse facta dicetur? Porro quia facta est, utrum cum ipsis facta est, an sine illa fuerunt prius? Sed si cum ipsis, non dubium quod ab illo facta sit, a quo et ipsi; simulque ut facti sunt, ei, a quo facti sunt, amore, cum quo facti sunt, adhaeserunt; eoque sunt isti ab illorum societate discreti, quod illi in eadem bona voluntate manserunt, isti ab ea deficiendo mutati sunt, mala scilicet voluntate hoc ipso quod a bona defecerunt; a qua non defecissent, si utique noluissent" (civ. XII, 9). "[…] neminem natura sua cogit ut peccet" (lib. arb. III, 157). Wie bei Proklos (Teil II, Kap. 5.2.1, Anm. 190) beginnt das malum auch gemäß Augustinus bei den "veränderlichen Geistern"; vgl. auch John Milton dazu, dass die Sünde bei der Seele beginnt ("peccatum enim omne ab anima primo esse profectum", De Doctrina Christiana I, 7, 46). 247 Die Engel können sich zwar von ihrem Schöpfer in ihrem Wollen abwenden; ohne diese Abwendung gilt aber, dass Gott ihnen seine Unterstützung gibt ("simul eis et condens naturam et largiens gratiam", civ. XII, 9), so dass sie an ihm teilhaben können. Gott schenkt das ursprüngliche Verlangen nach dem Guten – also nach ihm selbst – sowie die Erfüllung dieses Verlangens (civ. XII, 9). 248 Es gilt gemäß Augustinus allgemein, dass nicht Gott eine Seele verlässt, sondern eine Seele sich von Gott abwendet, auf dass sie von ihm verlassen werde ("non enim deserta

114 die keinesfalls notwendige Möglichkeit des non illi adhaerere vorziehen, wodurch ihre von sich selbst her gute Natur verderbt würde. Eine solche Verderbnis bzw. Verschlechterung ist nach Augustinus nur möglich in Naturen, die, obgleich von sich selbst her gut, im Unterschied zu Gott nicht unveränderlich sind. Dabei schadet eine Abkehr von dem Schöpfer nie dem Schöpfer selbst, sondern der eigenen ursprünglichen Gutheit der sich abwendenden Wesen.249 "Freilich fügt nichts Schlechtes Gott Schaden zu, sondern den veränderlichen und verderbbaren Naturen, die gleichwohl gut sind, wie nicht zuletzt ihre eigenen Fehler bezeugen.250 Wenn sie nämlich nicht gut wären [sc. von Natur aus], könnten ihnen ihre Fehler nicht schaden. Denn was sonst tun sie ihnen [sc. den Naturen] an durch ihre schädigende Wirkung (nocendo), als dass sie ihnen ihre Unversehrtheit, Schönheit, Gesundheit, Gutheit wegnehmen und was immer von dem Guten einer Natur durch Fehlerhaftigkeit weggezogen oder doch verringert zu werden pflegt? Wenn dieses [sc. Gute] komplett fehlt, schadet [sc. der potentielle Fehler] nicht, weil er nichts Gutes wegnimmt, und ist deshalb auch kein Fehler. Denn Fehler zu sein und nicht Schaden zuzufügen ist nicht möglich. Von daher ergibt sich, dass, obwohl kein Fehler dem unveränderlichen Guten einen Schaden zufügen kann, er trotzdem nur etwas Gutem Schaden zufügen kann, weil er nicht an etwas sein kann außer dort, wo er schadet. Dies kann man auch so formulieren: Das Fehler-Sein ist zwar nicht an dem höchsten Gut möglich, aber auch nicht außer an einem bestimm-

est [sc. anima] ut desereret, sed ut desereretur deseruit", civ. XIII, 15); Gott ist von seiner Seite aus nicht fern denen, die ihn verlassen haben ("quia non, sicut ipsi deseruerunt creatorem suum, deseruisti creaturam tuam […]", conf. V, 2, 2). So werden die Engel durch ihre Abkehr von Gott unrein ("a quo [sc. deus] si avertitur angelus, fit inmundus", civ. XI, 9; "Omnis autem [sc. natura rationalis cum libero voluntatis arbitrio condita] quae non in eo [sc. fruendo summo et incommutabili bono] manet et non vult agere ut maneat, in quantum ibi non est et in quantum non id agit, ut ibi sit, vituperanda est", lib. arb. III, 129); analog verursacht die Trennung des Menschen von Gott die Gottverlassenheit der Seele, d.h. ihren seelischen Tod ("mortem [...] animae, quae facta est illo deserente", civ. XIII, 23; ebenso XIII, 24). 249 "Dicuntur autem in scripturis inmici Dei, qui non natura, sed vitiis adversantur eius imperio, nihil ei valentes nocere, sed sibi" (civ. XII, 3; ebenso XIV, 11). 250 Wessen Schlechtigkeit getadelt wird, dessen eigentlich-primäre Gutheit wird gleichzeitig gelobt ("Cum enim propterea vituperamus hanc, quoniam summo et incommutabili bono id est creatore suo frui non vult, illum sine ulla dubitatione laudamus. […] vituperatio peccatorum nostrorum nulla est nisi ille laudetur", lib. arb. III, 130ff.; civ. XII, 1).

115 ten [sc. einzelnen] Gut (in aliquo bono). Folglich kann nur Gutes irgendwo für sich allein sein, Schlechtes für sich allein aber nirgendwo." "Nulla quippe mala Deo noxia, sed mutabilibus corruptibilibusque naturis, bonis tamen ipsorum quoque testimonio vitiorum. Si enim bonae non essent, eis vitia nocere non possent. Nam quid eis nocendo faciunt, nisi adimunt integritatem pulchritudinem, salutem virtutem et quidquid boni naturae per vitium detrahi sive minui consuevit? Quod si omnino desit, nihil boni adimendo non nocet ac per hoc nec vitium est. Nam esse vitium et non nocere non potest. Unde colligitur, quamvis non possit vitium nocere incommutabili bono, non tamen posse nocere nisi bono, quia non inest, nisi ubi nocet. Hoc etiam isto modo dici potest, vitium esse nec in summo posse bono nec nisi in aliquo bono. Sola ergo bona alicubi esse possunt, sola mala nusquam" (civ. XII, 3).

Vier Schlussfolgerungen lassen sich festhalten: 1. Schaden nehmen kann nur etwas, was von sich selbst her gut ist, weil 'Schaden nehmen' bedeutet: von seiner Gutheit einzubüßen. 2. Alles Gute hat sein Sein letztlich von Gott her; das dem Guten Konträre, der Schaden bringende Fehler, ist nicht von Gott, sondern steht auf bestimmte Weise im Gegensatz zu ihm, kann ihm als dem universalen Guten in Person aber nichts anhaben, weil Gott über die Möglichkeit des Erleidens und der Veränderung hinaus ist, sonst könnte er nicht das höchste Gut sein, weil jegliche Veränderung einer Einbuße dieser Gutheit gleichkäme. (Dass aber ein höchstes Gut angenommen werden muss, ergibt sich aus den ontologischen Überlegungen, wonach nichts Bestimmtes ohne eine ihm seine sachspezifische Gutheit verleihende Form sein kann, s.o. Kap. 4 und 5). 3. Verderbnis ist deshalb nur in partikulären Gutheiten ("in aliquo bono") möglich, deren Gutheit als materiale Grundlage von jeglichem Schlecht-Handeln und -Wollen immer schon vorausgesetzt werden muss: Somit befindet sich das Schlechte im Widerspruch mit sich selbst, denn es bedarf, um schlecht sein – genauer: werden – zu können, etwas, was in sich selbst nicht schlecht, sondern primär gut ist. Das Schlechte und Böse ist eine Beraubung des Guten, eine privatio boni.251 4. Deshalb wiederum steht auf bestimmte Weise nichts im Gegensatz zu Gott, sondern 'nur' zu sich selbst, weil auch das schlechteste Wollen und Handeln von einer Gutheit zehren muss, die nicht ohne Gott als Summum bonum und Schöpfer alles Guten bestehen würde.252 251

Vgl. lib. arb. III, 126-8. Vgl. civ. XII, 2, zitiert oben Anm. 221. In sachlicher Übereinstimmung mit Platon sagt Augustinus, dass das Böse und Ungerechte für sich selbst das Gute und Gerechte benötigt, 252

116 Wie kann es dann aber möglich sein, dass ein "Vakuumsog, dem der Teufel als erster nicht standhielt (non stetit)", den freien Willen zum Schlechten "aktuiert" (Schäfer, 2002: 341)? Auffallend ist zunächst, dass in civ. XI, 13 (worauf Schäfer sich hier bezieht) weder direkt noch metaphorisch von einem "Vakuumsog" die Rede ist, dem der Teufel nicht standgehalten hätte; vielmehr habe der Teufel seinen Stand in der Wahrheit nicht bewahrt, wie Augustinus Johannes 8, 44 zitiert: "In veritate non stetit [sc. diabolus]." Würde es sich dagegen tatsächlich um einen "Vakuumsog" handeln, müsste dieser doch in seiner herabziehenden Wirkung schon vor der Depravation des Teufels in irgendeiner Weise bestehen, wenn dieser Sog sogar seinen Willen bestimmen kann (was den Teufel zu einem nicht unerheblichen Teil entlasten würde). Dies aber stünde mit der christlichen Lehre grundsätzlich im Widerspruch, wonach der Teufel als erster schlecht ist – genauer: schlecht wird – und erst danach in gänzlich sekundärer Weise als ein 'Pseudo-Prinzip des Bösen, der Sünde und Lüge'253 seine defektiven Wirkungen 'entfaltet', obgleich er selbst gut erschaffen ist und in diesem Zustand hätte verharren können, wie Augustinus gegen die manichäische Lehre von einem bösen Prinzip vehement unterstreicht: Der Teufel "sündigt von Anfang an" (1 Jh 3, 8) nicht in dem Sinn, dass er schlecht erschaffen worden wäre, sondern weil er seit (ex quo) seiner Erschaffung gesündigt und der Gerechtigkeit

um überhaupt in irgendeiner Weise böse und ungerecht werden zu können: So müssen die Mitglieder einer Räuberbande untereinander Frieden halten und einen "Friedensschatten" mit den übrigen Mitgliedern der Gesellschaft halten, um deren Frieden überhaupt stören zu können ("Proinde latrones ipsi, ut vehementius et tutius infesti sint paci ceterorum, pacem volunt habere sociorum. Sed etsi unus sit tam praepollens viribus et conscios ita cavens, ut nulli socio se committat solusque insidians [...], cum eis certe, quos occidere non potest et quos vult latere quod facit, qualemcumque umbram pacis tenet", civ. XIX, 12). D.h. Friede ist eine natürliche Voraussetzung für das Bestimmtsein einer Natur ("Non amare tamen qualemcumque pacem nullo modo potest. Nullius quippe vitium ita contra naturam est, ut naturae deleat etiam extrema vestigia", ibd.) und die Räuber können insofern 'nur' auf halbschlechte Weise wirklich 'Räuber' sein (h(mimo/xqhroi, Platon, Politeia 352c7), stehen deshalb aber von vornherein mit sich selbst im Widerspruch und sind gerade deshalb gefährlich – als 'vollkommen Schlechte' würde ihre Schlechtigkeit sie sofort gänzlich ihres Seins berauben. 253 Vgl.: "[...] vitia, quae tenent in diabolo principatum"; "[sc. diabolus], qui non solum mendax, verum etiam mendacii pater est" (civ. XIV, 3); "Unde non frustra dici potest omne peccatum esse mendacium" (civ. XIV, 4); "[...] diabolum, quoniam mortis est auctor infernarumque poenarum" (civ. XX, 15).

117 entsagt habe.254 Das Problem, woher das Böse komme – woher dieser "Vakuumsog"? – wäre also nur verschoben. Dies kann Augustinus kaum meinen, denn sonst wäre (1) die Ursache für das Böse nicht 'nichts' (wie Augustinus schon in lib. arb. argumentiert hatte) und (2) der Teufel nicht das / der erste Böse255 und (3) könnte nicht mehr gelten, dass ein malum sich als erstes bei den ersten Geschöpfen, den Engeln, zeigt: Obwohl alle Engel von derselben lichthaften Natur sind, zerfällt die Engelschar in zwei Gruppen aufgrund ihres guten oder schlechten Willens256 (nicht aufgrund eines davon unabhängigen 'Sogs'). In Abgrenzung zu der u.a. von Schäfer vertretenen Interpretation scheint es deshalb zweifelhaft, ob man Augustins Rede von der causa deficiens bzw. vom defectivus motus zu Recht im Sinn eines "'Vakuumsogs" oder einer vom Nichts

254

"Nisi forte quis dicat id, quod Dominus ait de diabolo in evangelio: 'Ille homicida erat ab initio et in veritate non stetit' (Jh 8, 44), sic esse accipiendum, ut non solum homicida fuerit ab initio [...], verum etiam ab initio suae conditionis in veritate non steterit et ideo numquam beatus cum sanctis angelis fuerit [...], ut sic intellegatur etiam quod beatus Iohannes apostolus ait: 'Ab initio diabolus peccat' (1. Jh 3, 8), hoc est, ex quo creatus est, iustitiam recusavit, quam nisi pia Deoque subdita voluntas habere non posset. Huic sententiae quisquis adquiescit, non cum illi haereticis sapit, id est Manichaeis, et si quae aliae pestes ita sentiunt, quod suam quandam propriam tamquam ex adverso quodam principio diabolus habeat naturam mali; qui tanta vanitate desipiunt, ut, cum verba ista evangelica in auctoritate nobiscum habeant, non adtendant non dixisse Dominum: A veritate alienus fuit, sed: 'In veritate non stetit', ubi a veritate lapsum intellegi voluit, in qua utique si stetisset, eius particeps factus beatus cum sanctis angelis permaneret" (civ. XI, 13). Zum guten Geschaffensein des Teufels qua Geschöpf vgl. civ. XIX, 13; XXII, 24. 255 Vgl. civ. XII, 6 zum "primus defectus". 256 "[...] duas societates angelicas inter se dispares atque contrarias, unam et natura bonam et voluntatem rectam, aliam vero natura bonam, sed voluntatem perversam […]" (civ. XI, 33). Augustinus diskutiert die Möglichkeiten, ob die nicht-fallenden Engel mehr an göttlicher Gnade empfangen haben und deshalb sich ihrer Seligkeit schon immer sicher waren oder ob sie nach dem Fall des Teufels und seiner Anhänger und in ihrer Standhaftigkeit das Wissen um ihre beständige Seligkeit erlangt haben durch zusätzliche göttliche Unterstützung. Sofern sie jedoch ihrer Erschaffung nach von derselben Natur sind, kann nur die letzte Möglichkeit in Betracht kommen, vorausgesetzt, dass die frommen Engel nicht im Zweifel über ihre Seligkeit sind und es weder einen neuen Teufel noch eine Erlösung des 'alten' Teufels gibt (civ. XI, 13; XII, 9; corrept. 11, 32). Vgl. Schulte-Klöcker (2000: 159ff.) und Mayer (1998: 569-570) dazu, dass die (potentiell) veränderlich geschaffene Geistkreatur insofern (aktual) doch unveränderlich ist, wenn sie auf ihren Schöpfer hingewendet ist.

118 ausgehenden Anziehungskraft257 verstehen sollte – jedes Geschöpf sei schließlich aus dem Nichts erschaffen und habe "seine 'Portion Nichts'" (Schäfer, 2002: 335) bzw. partizipiere am Nichtsein (Köhler)258 oder einer inhärenten "metaphysical weakness endemic in all creatures" (Rist, 1969: 433).259 Natürlich trifft das 'Ausnichts-erschaffen-Sein' laut Augustinus unstrittig auf alle Geschöpfe zu – auch 257

Schäfer rückt seine Interpretation selbst in die Nähe derjenigen von M. Bettetini ([1997]. "Die Wahl der Engel. Übel, Materie und Willensfreiheit", in: Klassiker Auslegen: Augustinus – De civitate Dei, 131-155): "Ähnlich stellt M. Bettetini [...] fest, was aus nichts gemacht sei, werde auch vom Nichts angezogen" (Schäfer, 2002: 341, Anm. 394). Bettetini selbst formuliert: "[...] der böse Wille entsteht, weil 'der Mensch aus Nichts erschaffen worden ist'. Daher werde er [sc. laut Augustinus] vom Nichts angezogen" (1997: 149); "Gott nahm hin, daß das Nichts imstande ist, das Sein zu korrumpieren" (ibd., 154). Vgl. ferner D.R. Creswell ([1997]. St. Augustine's Dilemma. Grace and Eternal Law in the Major Works of Augustine of Hippo. Studies in Church History Vol. 5. New York; 128): "And if anyone wills evil, it is because human beings are made out of nothing, and are drawn by the nothing into evil." 258 "Der 'böse Wille' ist, wie er ist – verdreht, selbstbezogen und verblendet –, weil er (obschon an sich gut geschaffen) doch stets anders werden kann. Denn als endlich wandelbare Natur ist er eo ipso unvollkommen, d.h. partizipierend am Nichtsein und an der Möglichkeit der Defizienz" (Köhler, 1993: 74). Entgegen Köhlers Interpretation ist für Augustinus (1) weder Wandelbarsein gleichbedeutend mit Unvollkommenheit (s.u. zu den bona minora) noch (2) Nichts etwas Partizipierbares, noch (3) die "Möglichkeit der Defizienz" etwas an sich Bestimmtes, an der Anteilhabe möglich wäre. 259 Vgl. ferner: "He [sc. unfallen man] is free from moral evil, though necessarily possessed of the ontological weakness that is the lot of all that is both free and created" (J.M. Rist [1969]. "Augustine on Free Will and Predestination", in: Journal of Theological Studies 20, 420-447; 434); "It is the consistent view of Augustine that the souls of all created beings, both men and angels, have an inherent weakness. This weakness is superbia. Pride, arising from the non-existence from which souls are called by God, consists in deserting God and pleasing oneself" (ibd., 440-1). Gemäß Rists Interpretation hätte das nichts bereits den Hochmut inhärent in sich, so dass die Geschöpfe von ihrer Anlage gar keine Möglichkeit hätten, der superbia zu entrinnen. Adam hätte also gar keine reale Wahl, wie Rist (1969: 442) selbst sagt: "As Augustine saw it, even Adam had no real choice; the elements of nothingness in his nature made his fall an inexplicable and (for him and all others who would fall similarly) irresistible phenomenon" (meine Kursive). Diese fatalistische Interpretation wird Augustinus m.E. nicht gerecht. Das Argument der "ontological weakness", "endemic weakness", "[sc. being] liable to sin" übernimmt (allerdings ohne Hinweis auf Rist): G. O'Daly (1989) "Predestination and freedom in Augustine's ethics", in: The Philosophy of Christianity. Royal Institute of Philosophy Lecture Series 25. Ed. G. Vesey. Cambridge, 85-97; 87) Es findet sich in ähnlicher Weise als "radical weakness of a being created out of nothing" bereits bei Bonner (1963: 369).

119 auf die Engel. Die Frage ist aber, inwieweit man berechtigt ist, von einer 'Portionabilität' des Nichts oder einer Teilhabe an ihm zu sprechen, ohne dieses Nichts – was nach Augustinus nur dann nichts sein kann, wenn es nicht bereits etwas ist260 – dadurch zu hypostasieren und seines Nicht-Seins zu 'berauben' und so unterschwellig einen (manichäischen) Dualismus 'Gott vs. (das böse) Nichts' zu erzeugen, den Augustinus ja vehement bekämpft: "Oder woher hat er sie [sc. die guten Dinge] geschaffen – war eine bestimmte, schlechte Materie und hat er sie geformt und geordnet, aber etwas in jener zurückgelassen, was er nicht in Gutes verwandeln würde? Warum aber dies? Oder war er machtlos, sie ganz zu wenden und zu verändern, dass nichts Böses zurückbleiben würde, wo er doch allmächtig ist?" "An unde fecit ea [sc. bona], materies aliqua mala erat, et formavit atque ordinavit eam, sed reliquit aliquid in illa, quod in bonum non converteret? Cur et hoc? An inpotens erat totam vertere et conmutare, ut nihil mali remaneret, cum sit omnipotens?" (conf. VII, 5, 7) Von Augustins Systematik her ergibt sich, dass er die Schöpfung nicht dualistisch zwischen zwei Pole – Gott und nichts – gestellt versteht.261 Zwar ist alles aus nichts durch Gott erschaffen worden, jedoch ist die allgemeinste Grundlage der Schöpfung, das am wenigsten Bestimmte, nicht nichts (denn dies kann überhaupt nicht sein), sondern die Materie, die Gott als Grundlage für seine Schöpfung und als Bedingung der Möglichkeit von Zeit262 als erstes erschafft. Die Tatsache, dass Augustinus sogar die absolute Materie von 'nichts schlechthin'

260

Noch zuletzt in Contra Iulianum opus imperfectum führt Augustinus explizit aus, dass dem nichts keinerlei Macht zuzuschreiben sei, weil es sonst nicht nichts, sondern etwas Bestimmtes, ein aliquid wäre ("Non quia nihil habet aliquem vim; si enim haberet, non nihil, sed aliquid esset", c. Iul. imp. V, 42). 261 Vgl. jedoch: "Augustinus sieht die gesamte Schöpfung somit gewissermaßen zwischen Sein (Gott) und nichts gestellt" (Schäfer, 2002: 339). Ähnlich unterschwellig auch Drecoll (1999: 116): "[...] die ontologische Grundlage der augustinischen Konzeption (Gott als höchstes Sein, [...], das Nichts als Gegensatz dazu, dazwischen alle Dinge mit mehr oder weniger Sein) [...]." Zu Recht schreibt Williams (2002: 118): "It could well be said that the practical dualisms of Christian history arise not from too faithful but too careless a reading of Augustine." 262 Vgl. Schulte-Klöcker (2006: 20).

120 unterscheidet, widerspricht jeglicher Hypostasierung und noch so geringfügigen 'Pseudo-Substantialisierung' des Nichts bei Augustinus263: "Denn du, o Herr, hast die Welt aus der unförmigen Materie geschaffen, welche du geschaffen hast aus einer Nicht-Sache als eine Beinahe nichtSache [sc. das, was als erste Materie nichts Bestimmtes ist außer dem potentiell Formbaren], woraus du Großes machen solltest, was wir Menschenkinder bewundern." "Tu enim, domine, fecisti mundum de materia informi, quam fecisti de nulla re paene nullam rem, unde faceres magna, quae miramur filii hominum" (conf. XII, 8, 8). "Nicht also der zeitlichen, sondern der ursächlichen Ordnung nach früher geschaffen ist die unförmige und formbare Materie, sowohl die geistige wie auch die körperliche, aus der entstehen sollte, was geschaffen werden sollte, obwohl auch sie selbst, bevor sie begründet wurde, nicht gewesen war; und nicht ist sie begründet worden außer von jenem unbedingt höchsten und wahren Gott, von dem her alles ist." "Non itaque temporali, sed causali ordine prius facta est informis formabilisque materies, et spiritalis et corporalis, de qua fieret, quod faciendum esset, cum et ipsa, priusquam instituta est, non fuisset; nec instituta est nisi ab illo utique summo deo et vero, ex quo sunt omnia" (gn. litt. V, 5). Nicht zuletzt auf der Basis der dem Prinzip der Einheitlichkeit beruhenden augustinischen Erkenntnistheorie (Kap. 4.3) ist das Pseudo-Wesen der besagten causa deficiens für den (Ab-)Fall der Engel und für das erste Übel kein einheitliches Etwas, dem in irgendeiner Weise eine eigenständige, erkennbare Hypostasis zugesprochen werden könnte und dürfte. Eine äußere, d.h. unabhängig für sich selbst bestehende Ursache für den Effekt besteht nicht, sonst wäre Augustins auch rhetorisch prägnante Begriffsbildung causa deficiens im Unterschied zu einer causa efficiens unsinnig. Gemeint sein muss vielmehr eine causa deficiens, die nicht schon den Willen auf das hin "aktuiert", wodurch dieser Wille dann schlecht gemacht wird, sondern die selbst zu einer causa deficiens erst sekundär wird, und zwar deshalb, weil der Wille etwas Bestimmtes – nicht 'das Nichts', denn dieses ist qua nichts nach Augustinus ja nicht wissbar und auch nicht erstrebbar – wollend erstrebt und diesem Bestimmten und von sich selbst her 263

"Vielmehr geht es Augustinus [sc. bei der Materie] um eine Größe, die 'nach' dem Nichts und 'vor' den geschaffenen Entitäten zu plazieren ist" (Bettetini, 1997: 139); "Hence for Augustine whatever exists, down to the level of matter itself which has a minimum capacity to be formed, is good in so far as it exists" (Rist, 1994: 259).

121 Guten einen gänzlich unangemessenen und falschen Stellenwert zumisst. Letzteres aber geschieht grundlos (insofern unerklärbarerweise), ohne eine äußerlich noch dazukommende oder auf eine solche Fehlbeurteilung hinwirkende Ursache und in diesem Sinn 'aus nichts'. 'Falsch' kann diese Beurteilung nur dann zu Recht genannt werden, wenn im Unterschied zu Horns (1996) Interpretation die Verbindung im Wollen und Erkennen (auch der Engel) für Augustinus nicht grundsätzlich bestritten, sondern gerade davon ausgegangen wird, wie Augustinus betont, dass alles Wollen auf etwas zumindest subjektiv als gut Erscheinendes ausgeht.264 Wenn man dies mit Horn und Dihle bestreitet, muss es eigentlich merkwürdig erscheinen, dass die Menschen laut Augustinus bona – Gutes / Güter – wollen, also selbst dann, wenn sie verschiedene Güter erstreben oder auch unterschiedlicher Meinung sind darüber, was gut ist, doch in ihrem Wollen ein Gutheits-Kriterium mehr oder weniger rational anwenden. Insofern ist das Wollen aber laut Augustinus von Motiven bestimmt, an denen es sich orientiert, ohne widersprüchlich "bei bester [= gelingender] Einsicht das Schlechte" zu wählen.265 Diese Motive können dann falsch sein, wenn das willentlich Erstrebte in ungenügender oder sogar gänzlich falscher Weise 'erkannt' (d.h.: nicht bzw. zu wenig erkannt) worden ist. Vor diesem Hintergrund kann Augustinus begründet sagen, dass es keine Ursache des Bösen und Schlechten gibt, die folglich auch nicht wissbar ist. Das Schlechte, Böse und Üble ist gemäß Augustinus nach meinem Verständnis insofern nicht 'das Nichts', von dem der Mensch oder die Engel "angezogen" (Bette264

Vgl. jedoch Horn (1996: 116): "Die Willenskonzeption [...] unterstellt nicht einmal, jede Entscheidung müsse sich zumindest auf ein subjektives Gut richten; auch die schlechtestmögliche Handlungsoption ist bewußt wählbar" (s. Schäfer [2002: 274, Anm. 225], der sich dieser Stelle bei Horn anschließt); "[...] eine Herleitung der Willensentscheidung [...] würde den Begriff eines freien Willens [sc. bei Augustinus] gerade nicht ernstnehmen" (Horn, 1996: 117). "Im Unterschied zu Platons und Aristoteles' Behandlung der a)krasi¿a stellt Augustinus das Problem nicht länger als die Überwältigung eines guten, rationalen Moments durch ein schlechtes, irrationales dar" (ibd., 131-2). Jedoch sagt Augustinus: "Wer immer also Nicht-Erstrebenswertes erstrebt – obschon er es nicht erstreben würde, wenn es ihm nicht gut erschiene –, irrt trotzdem" ("Quisquis ergo adpetit quod adpetendum non erat, tametsi id non adpeteret nisi ei videretur bonum, errat tamen", lib. arb. II, 100). 265 Vgl. dagegen Horn (1996: 119): "'Engel' gelten bei Augustinus als Intelligenzen mit einem nur spirituellen Leib: Wenden sie sich von Gott ab, so kann dies nicht auf einer – vom Leib verursachten – Erkenntnistrübung beruhen, sondern allein darauf, daß sie bei bester Einsicht das Schlechte wählen."

122 tini, 1997: 149) und herabgezogen werden, sondern immer eine Tendenz zum nichts im Sinn des Nicht- bzw. Weniger-Seins.266 Diese 'Tendenz zum WenigerSein' ist von sich selbst her ebenso wenig wie ein böses Prinzip oder eine "notwendige Neigung"267 schon 'irgendwie da', sondern ergibt sich jeweils aus einem verkehrten Willensstreben bzw. einer unangemessenen Taxierung einer gewollten Sache, bei der die Gutheit und der Wert, nach dem etwas als erstrebenswert beurteilt wird, aufgrund eines Fehlers im Erkennen und Wollen zu hoch oder zu niedrig, jedoch nicht sachgemäß eingestuft wird. Der erste Fehler, die erste Sünde, dass bestimmte Engel wie Gott sein wollen, gehört durchaus in dieses Erklärungsmuster.268 Dabei stehen Wollen und Erkennen in unmittelbarer Verbindung269: Denn auch eine mutwillige Entscheidung 266

Zum Annähern an das nichts im Sinn des Weniger-Seins, ohne jemals das nichts schlechthin dabei zu erreichen, vgl. die folgenden Stellen: "nihilo propinquare" (civ. XIV, 13); "cum ab ea [sc. veritate] est aversus [sc. animus], id ipsum esse minus habet, quod est deficere" (imm. an. 7, 12); "[...] Quibus verbis insinuatur informitas, ut gradatim excipiantur, qui omnimodam specie privationem nec tamen ad nihil perventionem cogitare non possunt" (conf. XII, 12, 15; meine Kursive). 267 Vgl. aber: "A genuinely free will necessarily carries with it the liability to sin. But without having freedom of choice, with its built-in liability, humans would lack the capacity to choose to live rightly" (W.E. Mann [2001]. "Augustine on evil and original sin", in: The Cambridge Companion to Augustine, 40-48; 46). 268 So auch Schäfer (2002: 269; meine Kursive): "Das 'sich an Stelle Gottes denken' [...] ist der Anfang und das Grundmuster jeder Loslösung von Gott und aus dem guten göttlichen Ordnungsgefüge der Schöpfung. Es ist die pervertierte Selbständigkeitsauffassung des Geschaffenen, eine übermütige Fehleinschätzung des eigenen 'ontologischen Standorts' [...]." 269 Zum grundsätzlichen Zusammenhang von Wollen und Erkennen s. ferner in De Trinitate XI Augustins Diskussion der Frage, ob die willentliche Aufmerksamkeit (animi intentio, voluntas animi oder auch nur voluntas) Mutter des Sehens oder ihr Kind sei. Keines von beidem sei der Fall. Vielmehr könne man angemessenerweise sagen, dass das Sehen das Ziel des Willens (finis: d.h. der Beweggrund der willentlichen Absicht des Sehens) und seine Ruhe (requies: d.h. das erreichte, aktualisierte Sehen) in einem sei, "denn auch nicht deshalb würde [sc. der Wille] nichts anderes wollen, weil er etwas sieht, was er wollte" ("Ideoque nec quasi prolem visionis possumus dicere voluntatem quia erat ante visionem, nec quasi parentem quia non ex voluntate sed ex viso corpore formata et expressa est [sc. voluntas]. Finem fortasse voluntatis et requiem possumus recte dicere visionem ad hoc dumtaxat unum; neque enim propterea nihil aliud volet quia videt aliquid quod volebat", trin. XI, 5, 9-10): D.h., das Sehen ist zwar von der willentlichen Intention des Sehens begleitet, diese ist aber nicht unabhängig vom Erkenntnisakt des Sehens: Etwa könne es sein, dass man ein Fenster nur um seiner selbst willen oder aber auch lediglich deshalb sehen wolle, um die vorübergehenden Passanten aus dem Fenster heraus sehen zu

123 des Willens wie 'Ich will unter Verwendung von x etwas tun, obwohl ich weiß, dass x nicht dafür gedacht ist und folglich nicht in dieser schlechten Weise eingesetzt werden sollte', setzt erstens (positiv) einen bestimmten Grad an Erkenntnis von x voraus und muss zweitens gerade deshalb, weil die Entscheidung scheinbar gegen besseres Wissen ausfällt, (negativ-privativ) zugleich einen Erkenntnismangel aufweisen,270 weil die schlechten Folgen eines solchen Entschlusses nicht bedacht werden (möglicherweise eine Gefährdung anderer Wesen oder auch des Wollenden selbst durch Leichtsinnigkeit oder aber die eigene seelische Verschlechterung durch eine Fehlhandlung usw.). Es ergibt sich also auch in einem solchen Fall eine Verbindung von Wollen und Erkennen, wobei beides eine Privation zeigt. Augustinus warnt im Zusammenhang des sich verkehrenden Willens, dass man sich vor Täuschung hüten solle ("caveat ne fallatur", lib. arb. III, 171), und benennt damit den Zusammenhang von schlechtem Wollen und falscher Erkenntnis bzw. Selbsttäuschung: Denn vor Selbsttäuschung solle man sich hüten, weil es gemäß Augustinus analog zum Problem der causa deficiens keine erste, von sich selbst her immer schon Täuschung bewirkende Ursache geben kann (in Abgrenzung zu einem cartesischen Täuschergott; Kap. 4.2). Der Teufel 'fällt' durch seine eigene Selbsttäuschung wie auch der Mensch laut Augustinus

können – im letzteren Fall läge die Möglichkeit vor, dass der Wille bzw. die Intention des Sehens zwar sehe, was sie wolle, aber deshalb trotzdem etwas anderes sehen wolle, nämlich die Passanten; dabei ist aber das Wollen des 'Aus-dem-Fenster-Schauens' nicht unabhängig vom Sehen des Fensters möglich ("Si autem [sc. voluntas] referat ad aliud, vult utique aliud nec iam videndi voluntas erit, aut si videndi, non hoc videndi, [...] si velit videre fenestram ut per fenestram videat transeuntes [...]", trin. XI, 6, 10). Auch von dem Zusammenhang in De Trinitate her zeigt sich somit der direkte, innere Zusammenhang von Erkenntnisakt und willentlichem Streben bei Augustinus, wonach Erkenntnis zwar nicht ohne einen willentlichen (bzw. Aufmerksamkeits-) Aspekt ist, aber auch kein Wollen ohne Erkenntnis des zu Wollenden bzw. dann: des Gewollten. 270 Vgl. Williams (2002: 111, 113) und Rist (1994: 87-88). S. ferner: "Der Schütze kann absichtlich daneben schießen, um jemanden außerhalb des Schussfeldes zu treffen. Er kann sich das Schlechte und Böse zum Ziel setzen, auch wenn dies in der Weltordnung nicht vorgesehen ist" (P. Koslowski [2004]. "Der freie und der unfreie Wille und der Ursprung des Bösen", in: Der freie und der unfreie Wille..., 131-148; 131). Gemäß hier der hier vertretenen Augustinusinterpretation erkennt der Schütze in dem Beispiel nicht das eigentlich Gute bzw. nicht das Schlechte daran, in die Menge zu schießen. Diese Absicht geht in ihrer Freiwilligkeit einher mit einem bestimmten Erkenntnismangel, zugleich aber auch mit einem Mangel im Wollen, sofern sich dieses – entgegen seinem (nach Augustinus) naturgemäßen Streben nach Gutem – auf ein Pseudo-Gut orientiert.

124 nicht ohne einen eigenen Fehler Schaden nehmen kann durch den Fehler einer anderen Natur.271 Das Pseudo-Wesen der causa deficiens in ihrer 'seinsmindernden, defektiven Ursächlichkeit' darf, wenn man Augustins Begriffsbildung konsequent versteht, also keinesfalls zu einem tatsächlichen Wesen hypostasiert werden, dem eine Art Substanz oder – um mit Heidegger zu sprechen – eine 'nichtende' Wirkung ('Sog zum Nichts') oder Qualitäten wie 'anziehend' zugesprochen werden könnten. Wie kann dann aber die Tatsache, aus nichts geschaffen zu sein, bedeuten, dass alle Geschöpfe eine "Portion Nichts" haben (Schäfer, 2002: 333-8)? An einer Stelle, die auch Schäfer (ibd., 340) heranzieht (bei der es jedoch um den Fall des Menschen geht272), heißt es: "Aber durch einen [sc. willentlichen273] Fehler könnte eine Natur nicht verdorben werden, außer sie ist aus nichts geschaffen. Und unter dem Aspekt (per hoc), dass sie eine Natur ist, [sc. gilt]: daher hat sie es, weil sie von Gott geschaffen ist; dass sie aber von dem, was sie ist [sc. von ihrer eigenen Natur] abfällt, daher, weil sie aus nichts geschaffen ist. Aber nicht so ist der Mensch gefallen, dass er gänzlich nichts wäre, sondern dass er, zu sich selbst hingeneigt, weniger wäre, als er war, da er in ihn, der auf höchste Weise ist, hineingegründet war (inhaerebat). Gott verlassen zu haben und daher in sich selbst zu sein, d.h. sich selbst zu gefallen, ist nicht bereits 'nichts sein', sondern das Annähern an nichts." "Sed vitio depravari nisi ex nihilo facta natura non posset. Ac per hoc ut natura sit, ex eo habet quod a Deo facta est; ut autem ab eo quod est deficiat, ex 271

"adiuncto vitio suo" (lib. arb. III, 135; ebenso civ. XIV, 13); "Aut operatur igitur [sc. falsitatem] anima aut cooperatur falsitati" (sol. II, 3, 3). Den Dativ Singular falsitati ziehe ich aufgrund des auch sonst an dieser Stelle immer in Singularformen gebrauchten falsitas gegenüber falsitates (so der Text nach Hörmann) vor. Vgl. der Sache nach dieselbe Argumentation und Erklärung einer mala voluntas sowie den Zusammenhang zwischen Wollen und Erkennen in Miltons Paradise Lost IX, 349-356 (s. dazu den Epilog: Kap. 2.1). 272 Der Unterschied zwischen Engel- und Menschenfall wird dadurch nicht verwischt (vgl. Schäfer, 2002: 324). Augustinus sagt selbst, dass auch der Mensch nicht vom Teufel hätte gefangen werden können, wenn der Mensch nicht zuvor selbst schon schlecht geworden wäre durch seine Selbstgefälligkeit: "Manifesto ergo apertoque peccato, ubi factum est quod Deus fieri prohibuerat, diabolus hominem non cepisset, nisi iam ille sibi ipsi placere coepisset" (civ. XIV, 13). 273 Der vorhergehende Satz deutet darauf hin, dass dieser Fehler als willentlich zu verstehen ist: "Ut autem esset arbor mala, contra naturam factum est, quia nisi vitio voluntatis, quod contra naturam est, non utique fieret" (civ. XIV, 13).

125 hoc quod de nihilo facta est. Nec sic defecit homo, ut omnino nihil esset, sed ut inclinatus ad se ipsum minus esset, quam erat, cum ei qui summe est inhaerebat. Relicto itaque Deo esse in semet ipso, hoc est sibi placere, non iam nihil esse est, sed nihilo propinquare" (civ. XIV, 13). So plausibel Schäfers differenzierte Augustinusinterpretation zunächst erscheint, Augustins Begründung deutet, wenn man 'nichts' prägnant versteht (diese Prägnanz ist natürlich gerade das Gegenteil von 'inhaltsträchtig'), m.E. nicht auf eine Portionabilität 'des Nichts', sondern auf eine Tendenz des Mangels, die der Schöpfung – obwohl Gott sie 'aus nichts' hervorbringt – von ihrer Erschaffungsweise her nicht zugehört. Relevant ist diese vielleicht 'spitzfindig' wirkende Beobachtung deshalb, weil nur unter der Bedingung, dass man eine wie auch immer zu verstehende 'Portion Nichts' zulässt (unterschieden noch von der beinah-nicht-seienden Materie, aus der Gott nach Augustinus alle Geschöpfe geschaffen hat, s.o.), einem nichts tatsächlich so etwas wie eine 'Anziehungskraft zum Nicht-Sein' oder eine Potenz, Böses und Schlechtes zu 'aktuieren', zugeschrieben werden könnte. Soweit ich sehe, hat Augustinus dies nicht gemeint: Denn 'nichts' ist im absoluten Sinn nichts,274 ist also überhaupt nicht und existiert auch nicht,275 deshalb: nichts (auch ein Prädikat muss hier von der gemeinten Sache her fehlen). 'Nichts' ist schlicht in dem Sinn 'Ursache' des ersten Bösen, 274

Der 'prägnante' Begriff 'nichts' im Sinn von 'kein bestimmtes Etwas-Sein' (deshalb auch die im Vorwort bereits erwähnte konsequente Kleinschreibung des Begriffs in dieser Untersuchung) findet sich bei Augustinus m.E. sehr deutlich, wenn er die Irrationalität des Suizids erörtert: "Denn sieh, auf welch absurde und unangemessene Weise man sagt: 'Ich wollte lieber nicht sein als elend sein.' Wer nämlich sagt: 'Ich wollte lieber dieses als jenes', wählt etwas Bestimmtes (aliquid) aus. Nicht-Sein aber ist nicht etwas Bestimmtes, sondern nichts und man kann es deshalb auf keine Weise wirklich auswählen, weil was man wählt, nicht ist" ("Nam illud vide quam absurde atque inconvenienter dicatur: 'Mallem non esse quam miser esse.' Qui enim dicit: 'Mallem hoc quam illud', eligit aliquid. Non esse autem non est aliquid sed nihil et ideo nullo pacto potes recte eligere, quando quod eligas non est", lib. arb. III, 76). Es geht Augustinus dabei um das Bestimmtheitskriterium des Seins, nicht um die Frage des Vorhanden-Seins (so aber z.B. die Übersetzung der Stelle bei Thimme [1962: 261-3] im Sinn der Existenz). Daraus ergibt sich, dass 'nichts' nichts ist, also nicht Etwas ist, deshalb nicht (als es selbst) erwählbar ist, und man darf wohl fortsetzen: nicht existiert, nicht portionabel ist und auch keine eigene Wirkung auf etwas Seiendes haben kann etc. (vgl. c. Iul. imp. V, 42). 275 Vgl. aber: "Das Nichts soll keineswegs ein unsinniger Begriff sein; es müsse existieren, weil die kosmische Ordnung 'vom Höchsten bis zum Untersten in angemessenen Stufen absteigt'" (Horn, 1995: 51; meine Kursive).

126 des bösen Willens, weil es keine sachliche Ursache für ihn bzw. ein 'Böses an sich' gibt.276 Augustins Begründung, dass jedes Geschöpf sein wesensgemäßes Sein von Gott her habe, dass das defektive Abweichen von dem, was es ist, – d.h. die voluntas mala – aber "von daher zu sein beginnt, weil die Natur aus nichts geschaffen ist",277 weist ferner auf Folgendes hin: In dem Geschaffen-Sein der Geschöpfe aus nichts wird die nur in Gott geeint bestehende Seinsfülle gemäß einer bestimmten Ordnung nach den Unterschieden bestimmter, partikulärer Wesen und Geschöpfe offenbart, so dass ein bestimmtes Geschöpf als es selbst nicht zugleich auch ein anderes ist. Die Nuance 'etwas Bestimmtes zu sein und deshalb etwas anderes nicht zu sein' hat folgende Relevanz: Die ordnungsgemäße Gestuftheit des Seienden und der Geschöpfe gemäß den Unterschieden, die sich aus dem bestimmten Etwas-Sein und dem damit einhergehenden Verschieden-Sein von anderem ergibt, ist für rationale Wesen zunächst einmal (potentiell) erkennbar; sie können ihr Erkenntnis- und Willensvermögen frei entfalten. Es kann jedoch aufgrund eines erkennend-willentlichen Fehlers zu einer Fehlbeurteilung des geschöpflichen Status kommen, weil die ontologisch bedingte Rangfolge der Geschöpfe, die auf dem bestimmten Etwas-Sein und dem 'Bestimmtes-nichtSein' beruht, sachlich unangemessen beurteilt respektive gewollt wird: Dies geschieht bei dem Engelfall, wenn der Teufel seinen Seinsstatus als EngelGeschöpf Gottes nicht mehr als ordnungsgemäß innerhalb der ontologischen Rangfolge (an-)erkennen,278 sondern wie Gott sein will bzw. wenn der Mensch nicht mehr Gottes Weisung folgt, sondern sich über sie hinwegsetzt und lieber der Einflüsterung der Schlange folgt, um selbst (wie) Gott zu werden. Hier zeigt

276

"[…] propriam igitur in uno eorum voluntatem malam res quae fecerit scire volentibus, si bene intueantur, nihil occurrit" (civ. XII, 6). "omnis autem defectus ex nihilo est" (lib. arb. II, 204). 277 "[…] voluntatem malam non ex eo esse incipere quod natura est, sed ex eo quod de nihilo facta natura est" (civ. XII, 6). 278 "Denn das Abfallen [sc. vom Guten] ist nicht zum Schlechten, sondern ist auf schlechte Weise, d.h. nicht zu schlechten Naturen, sondern deshalb auf schlechte Weise, weil es gegen die Ordnung der [sc. von sich selbst her guten] Naturen von dem, was auf höchste Weise ist, zu dem, was weniger ist [sc. abfällt]" ("Deficitur enim non ad mala, sed male, id est non ad malas naturas, sed ideo male, quia contra ordinem naturarum ab eo quod summe est ad id quod minus est", civ. XII, 8; meine Kursive).

127 sich beide Male die Ursünde, die Augustinus superbia nennt und die in ihrem Anfang kein Fremd-, sondern immer ein Selbstverschulden ist.279 Diese hochmütige Fehleinschätzung in ihrem Doppelgesicht des falschen bzw. törichten Wollens und Erkennens280 basiert nicht auf einem der göttlichen Seins- und Schöpfungsordnung bereits inhärenten Defekt. Sondern sie ist möglich in dem falschen Streben zu etwas zwar geringer, jedoch von sich selbst her ebenfalls und ohne Abstriche gut Seiendem. Nur dann erzeugt sich ein Streben etwas von sich selbst her Gutes zu etwas Schlechtem (und wird dabei selbst zu einem schlechten Streben), wenn das Geringere als etwas Höheres angesehen wird, als es ist (so im Falle der hochmütigen Selbstüberschätzung des Teufels, die in einer übertriebenen Selbstbezogenheit wurzelt: der Teufel vermindert 279

"Der Selbstgenuß des endlichen Geistes führt zur 'superbia'" (Ruhstorfer, 1998: 292). "Porro malae voluntatis initium quae potuit esse nisi superbia?" (civ. XIV, 13); "Unde autem haec aversio nisi dum ille cui bonum est deus, sibi ipse vult esse bonum suum, sicuti sibi est deus? Itaque 'Ad me ipsum', inquit, 'conturbata est anima mea' (Ps 42, 7); et: 'Gustate et eritis sicut deus' (Gen. 3, 5)" (lib. arb. III, 250). Zum Selbstverschulden der Sünde: "Porro natura quae non vitiatur caret vitio, cuius autem vitio alia natura corrumpitur habet utique vitium. Prior ergo vitiosa est et prior corrumpitur vitio suo, cuius vitio alia quoque corrumpi potest. […] Si enim natura quae accedit cum vitio suo ad aliam corrumpendam non in ea corruptibile aliquid invenit, non eam corrumpit; si autem invenit, adiuncto eius vitio corruptionem eius operatur" (lib. arb. III, 134-5; vgl. civ. XXI, 15). 280 Auch das 'Wie-Gott-sein-Wollen' ist zugleich ein Erkenntnismangel, weil dieses Streben schlechterdings unmöglich und nicht gut ist, da die Möglichkeit zu wollen selbst nur von Gott als dem Seinsgrund geschenkt ist (s.o. Kap. 5): Von Augustinus besteht eine Verbindung zwischen Hochmut und Dummheit ("Superbia enim avertit a sapientia, aversionem autem stultitia consequitur. Stultitia quippe caecitas quaedam est", lib. arb. III, 249). Denn während alle Menschen 'Wahrheit' lieben in dem Sinn, dass sie von dem, was sie lieben, wollen, dass es die Wahrheit sei, ist diese Ursehnsucht nach der Wahrheit doch in sich verkehrt, weil sie die Wahrheit in der Selbstbespiegelung und Selbstverliebtheit sucht und deshalb nicht bereit ist, sich widerlegen zu lassen, und so Hass und Feindschaft gebiert ("Cur autem veritas parit odium et inimicus eis factus est homo tuus verum praedicans, cum ametur beata vita, quae non est nisi gaudium de veritate, nisi quia sic amatur veritas, ut, quicumque aliud amant, hoc quod amant, velint esse veritatem, et quia falli nollent, nolunt convinci, quod falsi sint? Itaque propter eam rem oderunt veritatem, quam pro veritate amant. Amant eam lucentem, oderunt eam redarguentem", conf. X, 23, 34; vgl. Brachtendorf [2005: 214]). Obgleich diese Ursehnsucht zwar richtig und gut ist, täuscht sie sich doch über ihr Ziel und konzediert nicht, dass Wahrheit keine subjektive Setzung sein kann, sondern dem Kriterium der außerhalb des Subjektiven liegenden, für sich selbst seienden Widerspruchsfreiheit genügen muss, um tatsächlich 'Wahrheit' zu sein.

128 durch Überschätzung seiner selbst somit seine eigene Gutheit zum Bösen hin) oder etwas Höheres als etwas Geringeres eingestuft wird (auch dies trifft auf den Diabolus zu, der Gott, von dem er als Engel sein Sein hat, herabstufen will, indem er sich selbst erhöht und dadurch von seinem eigenen Engel-Sein sowie von seinem eigenen Bezug zu seinem Seinsgrund abfällt in einen Seins-Mangel).281 Die Möglichkeit der Sünde einer solchen Fehleinschätzung – denn für intellektbegabte Engelseelen kann eine Fehlbeurteilung kein bloß versehentlicher Irrtum wie im Dasein des gefallenen Menschen sein282 – ist gemäß Augustinus weder gottgegeben noch hat sie einen Grund in einem bereits bestehenden Sog, weil dem Defizitären, insofern es nur es selbst (= 'Mangel schlechthin') sein wollte, ja jegliche Seinsgrundlage abhanden käme. Deshalb ist sie nicht von Gott her, sondern ursachenlos und aus nichts.283 Vielmehr täuscht sich der Teufel nach Augustinus in seinem Denken und Wollen selbst, denn er kann nicht zugleich sein und den Seinsgrund verleugnen wollen; durch dieses Ansinnen 'entkoppelt' er sich von der Wahrheit des Seins, die er nicht aus sich selbst hat (weil nur Gott selbst die Wahrheit ist, Kap. 4.5), so dass er ohne Bezug zu ihr nur noch über

281

"Denn sie [sc. die gefallenen Engel] wollten also ihre Stärke nicht zu jenem [sc. Gott] hin bewahren, und, obwohl sie mehr Sein hätten, wenn sie ihm, der auf höchste Weise ist, anhängen würden, haben sie sich selbst jenem vorgezogen durch das Vorziehen dessen, was weniger ist" ("Noluerunt ergo ad illum custodire fortitudinem suam, et qui magis essent, si ei qui summe est adhaererent, se illi praeferendo id quod minus est praetulerunt", civ. XII, 6). Vgl. ferner lib. arb. III, 262; trin. XII, 9, 14; vera rel. 71. Zum fehlerhaften 'Für sich-selbst-leben-Wollen' s. civ. XIV, 3 und 13. – "The motive behind sin is, ironically, the desire to have God's love" (Wetzel, 2002: 133). Vgl. auch die Worte des standhaften Engels Abdiel gegenüber Satan bei John Milton: "all honour to him [sc. God] done / Returns our own" (Paradise Lost V, 844-5). 282 Der gefallene, durch Erbsünde belastete Mensch wird in Unwissenheit geboren (lib. arb. III, 218). Dies wird ihm nicht als Schuld angerechnet (denn er kann nichts für diesen Zustand), sondern das Verharren(-Wollen) in der Unwissenheit und das Nicht-Fragen nach dem Unbekannten (vgl. analog Platon, symp. 204a) sowie das Verachten des Arztes, der heilen will, d.h. Christus. Das Sündigen aus Unwissenheit zieht nur dann und deshalb Strafe auf sich, insofern es aus einer frei gewollten Sünde resultiert (lib. arb. III, 181-3; ebenso ibd., 199, 219, 243; gr. et lib. arb. 3, 5). Zum Unterschied zwischen Erbübel und Erbschuld vgl. Brachtendorf (2006: 28ff.). 283 "Hoc scio, naturam Dei numquam, nusquam, nulla ex parte posse deficere, et ea posse deficere, quae ex nihilo facta sunt. Quae tamen quanto magis sunt et bona faciunt (tunc enim aliquid faciunt), causas habent efficientes; in quantum autem deficiunt et ex hoc mala faciunt (quid enim tunc faciunt nisi vana?), causas habent deficientes" (civ. XII, 8).

129 sich sprechen und lügen kann.284 Der sich selbst zugefügte Schade aus einer solchen Fehlbeurteilung zeigt die Irrationalität und den Mangel dieses pervertierten Wollens und Erkennens.285 Die Tatsache, dass es größere und kleinere Güter gibt, ist nicht schon eine Vorform oder gar Ursache des Schlechten, denn 'weniger gut' ist nach Augustinus nicht gleichzusetzen mit 'schlecht' ("Omnis natura quae minus bona fieri potest bona est", lib. arb. III, 126).286 Wollte man bei jedem geringeren Gut nur die Defizite zu einem höheren feststellen und es deshalb vorziehen, dass die geringeren nicht existierten, dann würde man laut Augustinus schließlich nicht 284

"Perversa enim est celsitudo deserto eo, cui debet animus inhaerere, principio sibi quodam modo fieri atque esse principium. Hoc fit cum sibi nimis placet" (civ. XIV, 13); "[…] quia et ille secundum se ipsum vivere voluit, quando in veritate non stetit, ut non de Dei, sed de suo mendacium loqueretur" (civ. XIV, 3); "[…] quia nec angelo secundum angelum, sed secundum Deum vivendum fuit, ut staret in veritate et veritatem de illius, non de suo mendacium loqueretur" (civ. XIV, 4). 285 "Hic primus defectus [...] eius naturae, quae ita creata est, ut nec summe esset, et tamen ad beatitudinem habendam eo, qui summe est, frui posset, a quo aversa non quidem nulla, sed tamen minus esset atque ob hoc misera fieret" (civ. XII, 6). Vgl. Satans Selbstanklage über seinen selbstverschuldeten Fall in Miltons Paradise Lost IV, 37-75 (zitiert im Epilog, Kap. 2.1). 286 Diesen Unterschied nivelliert Flasch, wenn er 'Sünde' und 'Mond' (im Unterschied zur helleren Sonne) unterschiedslos als Mängelformen parallelisiert ("Was uns schlecht erscheint, sind Mängel der niedersten Stufe, von denen wir nicht über das Ganze urteilen dürfen. Der Mond hat kein Recht, sich darüber zu beklagen, daß er nicht die Zentralstelle der Sonne erhalten hat. Dazu paßt, daß die Sünde ein Nichtsein ist, ein Mangel, eine Beraubung [privatio] des Guten", Flasch, 1995: 88); ähnlich Ruhstorfer (1998: 290), wenn er über conf. VII, 13, 19 ausführt: "Die Summe der gestuften Substanzen sind in ihrer Totalität sehr gut, so daß es für Gott, der diese 'Ordnung' verfügt hat, keinerlei Mangel des 'malum' gibt. 'Sub specie aeternitatis' sind 'malum' und 'bonum' zusammen besser als das 'bonum' für sich." Augustinus meint eindeutig nicht mala, wenn er sagt, es sei besser, dass das geringer und das höher Seiende (inferiora et maiora) beieinander seien ("et meliora quidem superiora quam inferiora, sed meliora omnia quam sola superiora iudicio saniore pendebam", conf. VII, 13, 19). An dieser Stelle ist überhaupt nicht von mala die Rede, die der Schöpfungsordnung entgegenstehen, sondern von Geschöpfen mit einer individuell entweder höheren oder geringeren Gutheit (Feuer, Hagel, Schnee, wilde und zahme Tiere, Sonne, Mond, Sterne), die also aufgrund der Schöpfungsordnung einen verschiedenen Rang haben (etwa die Sonne und der Mond), aber als solche gerade in ihrer unterschiedlichen Rangordnung von sich selbst her so gut sind (etwa der Mond, obwohl er weniger hell ist als die Sonne) und nicht mit der bedauernswerten privatio boni der mala verwechselt werden dürfen. Richtig gesehen ist diese Unterscheidung bei Drecoll (1999: 235) und Williams (2002: 114).

130 einmal mehr von dem Schönsten wollen, dass es existiere (lib. arb. III, 47) – rückläufig würde, wenn jeweils das Geringste einer Ordnung nicht mehr sein sollte, sich alles nacheinander auflösen und auch das Beste und Schönste sich als angeblich ungenügender Mangel erweisen.287 Deshalb muss von Augustinus her differenziert werden zwischen einem von sich selbst her geringeren Maß an Gutheit einer Sache und einem wirklichen Mangel, einer Privation an ursprünglich bestehender Gutheit ("Quidquid autem minus est quam erat, non in quantum est, sed in quantum minus est, malum est", vera rel. 72), die das sachgemäße Maß an Gutheit von Etwas pervertiert und verringert. Im prägnanten Sinn ist 287

Wenn es sich so verhielte, würde in der Konsequenz gerade das Unvermögen, das Gute in den jeweiligen Stufungen zu erkennen, zur Auflösung des Guten überhaupt führen. Auch wenn z.B. der Mond im Vergleich mit der Sonne ein viel geringeres Licht ausstrahlt (bzw. reflektiert), unterstreicht Augustinus doch seine Schönheit und Zweckmäßigkeit in der Nacht. Wollte man jedoch, dass der Mond so hell wie eine zweite Sonne schiene, dann würde man letztlich auch die Sonne selbst nicht mehr als schön empfinden können, denn wenn es zwei Sonnen (oder nur eine und keinen Mond) gäbe, es also nie Nacht würde, empfände man auch die Schönheit des Sonnenlichts schließlich als defizient gegenüber der Gutheit der Nacht als Ruhezeit mit dem schönen und für diese Ruhezeit angemessensten matten Mondlicht (lib. arb. III, 87-88; ebenso: "Quo enim merito sol factus est sol? Aut quid offendit luna, ut tanto illo inferior? […] Sed haec omnia bona creata sunt, quaeque in genere suo. Non enim diceret deus: solem dilexi, lunam autem odio habui", Simpl. I, 2, 8). Vielmehr gilt: "Die Vollkommenheit des Weltalls wird dir nur dort begegnen, wo die größeren Dinge so vorhanden sind, dass die geringeren nicht fehlen" ("[...] nec tibi occurrit perfecta universitas, nisi ubi maiora sic praesto sunt ut minora non desint, [...]", lib. arb. III, 91). Die minora, die geringeren Dinge, sind also wegen ihres Geringerseins nicht mit etwas Schlechtem gleichzusetzen, sondern vielmehr in ihrem Wesen genauso gut erschaffen wie die höheren Güter, obwohl sie geringer sind als jene. Denn "sowohl die größeren als auch die geringeren guten Dinge haben kein Sein außer von Gott" ("et maiora et minora bona non esse nisi ex deo", lib. arb. II, 180). Augustinus weist immer wieder darauf hin, dass nicht nur die besten, sondern auch die geringeren Güter sowohl gut als auch von Gott sind ("quia maxima et minima bona ab illo sunt, a quo est omne bonum", lib. arb. II, 188). "Gott ist auf solche Weise der große Schöpfer im Großen, dass er geringer nicht ist im Geringen; das Geringe ist nicht nach seiner Größe (denn es hat keine), sondern nach der Weisheit des Schöpfers zu messen" ("[...] Deus autem ita est artifex magnus in magnis, ut minor non sit in parvis; quae parva non sua granditate (nam nulla est), sed artificis sapientia metienda sunt", civ. XI, 22). Vgl. ferner schon Paulus: "Einen anderen Glanz hat die Sonne und einen anderen Glanz der Mond und einen anderen die Sterne" (aÃllh do/ca h(li¿ou, kaiì aÃllh do/ca selh/nhj, kaiì aÃllh do/ca a)ste/rwn, 1 Kor 15, 41); ebenso: "Einem jeden aber von uns ist die Gnade gegeben nach dem Maß der Gabe Christi" ( ¸Eniì de\ e(ka/st% h(mw½n e)do/qh h( xa/rij kata\ to\ me/tron th=j dwrea=j tou= Xristou=, Eph 4, 7).

131 nach Augustinus kein 'Böse-Sein' möglich, es gibt also primär nichts 'Schlechtes an sich', sondern nur Gutes: "Das größere freilich und höchste Gut hat geringere Güter geschaffen, aber dennoch sind sowohl der Schaffende als auch das Geschaffene gut – allesamt." "Maius quidem et summum bonum minora fecit bona, sed tamen et creans et creata bona sunt omnia" (conf. VII, 5, 7). Das malum in der Schöpfung kann also für Augustinus nicht auf die Tatsache zurückgehen, dass es höhere und geringere bona (geschöpfliche Gutheiten) in der Schöpfung gibt: Ein geringeres Gut ist nicht 'sowieso schon in gewisser Weise schlecht', noch inhäriert der Schöpfung von Anfang an bereits eine gottgegebene Potenz zum Bösen, noch ist der Schöpfung doch irgendwie ein Nichts – als Gegenpol zum höchsten Sein Gottes – "'beigemischt'".288 Die Tendenz eines Abfalls von Gott zielt hingegen insofern auf 'das' nichts, als der von Gott Abfallende sich eine von dem guten Erschaffungszustand des 'Etwas-und-zugleich-etwasBestimmtes-nicht-Seins' zu unterscheidende 'Qualität des Nicht-Seins' erst erzeugt (sibi ipsa facit): die des Mangels an Sein im Unterschied zum guten Sein sowohl der geringeren als auch der höheren bona.289 In diesem Sinn spricht Augustinus von dem mangelhaft Unbestimmten (ne-quidquam) im Sinn einer tödlichen 'Nicht-irgendetwas-heit' als Schlechtigkeit (nequitia) im Unterschied zum guten 'Etwas Bestimmtes-Sein'.290 Ist aber jedes malum letztlich ein nicht not-

288

Vgl. aber diesbezüglich Schäfers Interpretation und jetzt auch Brachtendorf (2005: 137, 241) zum 'beigemischten Nicht-Sein'. Zu einer ausführlicheren Auseinandersetzung mit Schäfer vgl. im Anhang: Exkurs 3: Zur angeblichen Beimischung des nihil und der Zugehörigkeit des malum zur 'vollständigen Schöpfung' bei Augustinus nach Schäfer und zum Status der Potentialiät des Bösen. 289 "[sc. mala,] quae omnino nulla essent, nisi natura mutabilis, quamvis bona et a summo Deo atque incommutabili bono, qui bona omnia condidit, instituta, peccando ea [sc. mala] sibi ipsa fecisset; quo etiam peccato suo teste convincitur bonam conditam se esse naturam" (civ. XXII, 1; meine Kursive); "Qui ergo dicit eum, qui consensit temptanti atque suadenti, [...] ipsum sibi fecisse voluntatem malam, qui utique bonus ante voluntatem malam fuerit: quaerat cur eam fecerit, utrum quia natura est, an quia ex nihilo facta est, et inveniet voluntatem malam non ex eo esse incipere quod natura est, sed ex eo quod de nihilo facta natura est" (civ. XII, 6). 290 "Mors autem vitae non est nisi nequitia, quae ab eo quod ne quidquam sit dicta est. [...] ex qua [sc. veritate] est omne quidquid est, in quantum est, quia in quantum est quidquid

132 wendiges Selbsterzeugnis eines an sich guten Geschöpfs, dann ist die Frage, wie es möglich war zu sündigen, und auch die Theodizeefrage in ihrer philosophischen Dimension für Augustinus nicht ungeklärt.291 Als es selbst trägt das wesensmäßig Geringere qua seiner geschöpflichen Gutheit zur Vollkommenheit des Kosmos laut Augustinus nicht weniger bei als das Höhere in seiner Gutheit; für ein 'Bemängeln' besteht kein (bzw.: nichts an) Grund.292 Das Geringere des Mangels entsteht erst aus einer von der guten Schöpfungsordnung abgewandten, hochmütigen Sichtweise: Sie erkennt das bestimmte Gut-Sein eines Etwas nicht mehr bzw. will es nicht erkennen (denn wird etwas erkannt, wird es auch an-erkannt; will man etwas eigentlich schon Erkanntes jedoch nicht anerkennen, so hat man es auch nicht wirklich erkannt293) und sieht nur noch das, was ein Geschöpf qua seiner natürlichen, guten Bestimmtheit zugleich nicht ist. Stattdessen will sie das, was Etwas als ein bestimmtes Gut naturgemäß dadurch unterscheidet, dass es andere Bestimmtheiten als es selbst zugleich nicht ist, als einen Mangel erkennen und lässt es so zu einem Mangel werden.294 Mit einem solchen Erkenntnisdefekt aber verkennt eine denest, bonum est" (vera rel. 58-60). Zu Augustins etymologischer Erklärung ne quidquam – nequitia vgl. auch Rist (1994: 259, Anm. 10). 291 Vgl. aber Lössl (1997: 90): "Keine Antwort auf die Frage, wie es im Urstand für den Menschen überhaupt möglich gewesen sein soll, zu sündigen. Keine Antwort auf die Theodizeefrage." 292 "Namque a terra feracissima et amoenissima usque ad salsissimam et infecundissimam ita gradatim per medias pervenitur ut nullam reprehendere audeas nisi in conparatione melioris atque ita per omnes gradus laudis ascendas ut quod summum genus terrae inveneris solum tamen esse nolis" (lib. arb. III, 47; ebenso 85). 293 Obwohl Brachtendorf (2006: 25) vom sowohl "intellektuellen als auch [...] voluntativen Defekt" spricht, zergliedert er beide Aspekte: "Das Böse erklärt sich letztlich nicht aus einem Irrtum über die Rangordnung der Güter, sondern aus Hochmut gegenüber dem Schöpfer" (2005: 301); trotzdem setze "auch nach Augustinus jedes Wollen ein Wissen voraus" (ibd.). Zur kognitiven und voluntativen Ausrichtung auf Gott als höchstes Gut vgl. Brachtendorf (2005: 149, 192, 220, 251). Zur allgemeinen Problematik "Anerkennen" wäre jetzt (was für diese Arbeit nicht mehr geleistet werden konnte) zu berücksichtigen: P. Ricœur (2006). Wege der Anerkennung (Suhrkamp). 294 Insofern kann nicht gelten, dass bei Augustinus (im Unterschied zu Plotin) "die Kluft zwischen Schöpfer und Geschöpf bereits so tief [sc. ist], daß die Engel sich selbst in einem Gegensatz zu Gott denken können, wodurch eine Wahlmöglichkeit eröffnet und eine Aktivierung des bösen Willens ermöglicht wird" (C. Tornau [2004]. Zwischen Rhetorik und Philosophie. Augustins Argumentationstechnik in De civitate Dei und ihr bildungsgeschichtlicher Hintergrund. Habil-Schrift. Jena; 246). Erstens bezeugen Tornaus Worte, dass das Wollen hier einen Erkenntnisakt (Denken) voraussetzt (vgl. aber ibd., 242).

133 kende Seele die Gutheit des bestimmten Etwas und beraubt sich auch ihres eigenen, ebenfalls guten Erkenntnispotentials. Denn sowohl das Geringere als auch das Höhere sollen als es selbst qua ihrer jeweiligen Gutheit geliebt werden: Das Höhere mehr, das Geringere weniger, aber geliebt werden soll beides ("Et haec est perfecta iustitia, qua potius potiora et minus minora diligimus", vera rel. 262).

Zweitens ist es die Frage, ob eine solche Kluft bzw. ontologische Abstufung bereits eine aktualisierbare Möglichkeit impliziert, dass sich ein Geschöpf im Gegensatz zu seinem Schöpfer denkt, oder ob es sich diesen Gegensatz aus einer an sich guten Ordnung erst erzeugt, wie hier vorgeschlagen. – Der Einwand der "Kluft zwischen Schöpfer und Geschöpf" findet sich der Sache nach auch immer wieder in dem Gedanken von der 'Verdopplung der Welt' in dem Sinn, dass die Welt nur vollkommen und gut sein könne, wenn sie mit der aboluten Gutheit Gottes identisch wäre, was aber nicht möglich sei, weil Gott sich nicht verdoppeln könne, also auch nicht tatsächlich allmächtig sei, somit der Schöpfung ein 'notwendiges Übel der Unvollkommenheit' inhäriere usw. (vgl. z.B. im Zusammenhang mit William King [1650-1729]: H.J. Real [2004]. "Conversations with a Theodicist: William King's Essay on the Origin of Evil, with Some Sidelights on Hobbes, Milton, and Pope", in: "But Vindicate the Ways of God to Man", 85-111: "In a sense, the Divine essence was victimized by its own will to creativity; not even omnipotence could 'create its own double'. [...] The creation, then, is initially marred by a defect, 'the evil of imperfection'" [ibd., 98]; "if [...] God was 'compelled, by the necessary imperfections of created beings, either to abstain from creating them at all, or to bear with the evils consequent upon them' [EOE, 140], evils became as necessary as they were ineluctable" [ibd., 100; ebenso 110]. Dies führt in die stoische Aporie, dass das einzelne Üble angeblich notwendig sei für das 'höhere Gute des Ganzen' [ibd., 101].). Aus (christlich)neuplatonischer Sicht wäre hier jedoch einzuwenden, dass hier ein abstrakter, formallogischer Allmachtsbegriff angewendet wird – 'die Allmacht' ist in diesem Verständnis nicht mehr inhaltlich bestimmt, wie aber z.B. Augustinus sie versteht, nämlich von dem Gutheitskriterium des Seins und der Gutheit Gottes her ("quoniam omnipotens et bonus est", conf. XII, 7, 7). D.h., für Augustinus stellt sich nie die Frage einer 'guten Schöpfung als Verdopplung Gottes', denn alles, was in sich eine seinsspezifische Gutheit hat und offenbart, ist ein gutes Geschöpf und verweist auf Gott als das Summum bonum und Quell des Guten; dabei ist es für die Gutheit des einzelnen Geschöpfes als Wesen unerheblich, ob es über diesem Geschöpf noch 'höhere' oder 'geringere' Güter gibt, es zählt die geschöpfliche Gutheit an sich ohne den 'neidvollen Blick' auf Höheres. Diese Potenz, Gutes zu erschaffen und zu offenbaren, ist Zeichen der inhaltlich konkret bestimmten Allmacht Gottes – nicht die logische Abstraktionsübung, ob er sich in seiner Gutheit zu verdoppeln vermag oder nicht. Wenn Gott das Summum bonum ist, kann er weder eine Erhöhung noch eine Verminderung seiner selbst wollen, sonst wäre er nicht das höchste Gut, wie schon Platon im zweiten Buch der Politeia darlegt und wie es der Sache nach auch von Augustinus in der Theologie des Summum bonum impliziert ist (s. Kap. 4).

134 Wenn selbst ein solches Übel noch zu etwas Gutem geführt wird, so verdankt sich dieser Umstand dem Wirken der göttlichen Providenz: "Wenn niemand in dieser Welt gesündigt hätte, wäre die Welt nur mit guten Wesen geschmückt und ihrer voll. Und da gesündigt wurde, ist deshalb nicht alles voller Sünde, weil die bei weitem größere Zahl der guten [sc. Wesen] die Ordnung ihrer Natur unter den Himmlischen bewahrt. Aber nicht entflieht ein schlechter Wille, weil er die Ordnung der Natur nicht bewahren wollte, deshalb den Gesetzen des gerechten Gottes, der alles auf gute Weise ordnet; denn wie ein Bild mit schwarzer Farbe, wenn sie am angemessenen Ort gesetzt wird, so ist das Gesamt der Dinge, wenn es jemand anschauen könnte, sogar mit den Sündern schön, obwohl ihre Verunstaltung die Sünder, wenn man sie für sich betrachtet, entstellt." "Ubi si nemo peccasset, tantummodo naturis bonis esset mundus ornatus et plenus; et quia peccatum est, non ideo cuncta sunt impleta peccatis, cum bonorum longe maior numerus in caelestibus suae naturae ordinem servet; nec mala voluntas, quia naturae ordinem servare noluit, ideo iusti Dei leges omnia bene ordinantis effugit; quoniam sicut pictura cum colore nigro loco suo posito, ita universitas rerum, si quis possit intueri, etiam cum peccatoribus pulchra est, quamvis per se ipsos consideratos sua deformitas turpet" (civ. XI, 23). Erklärt Augustinus mit diesen Worten die mala aber nicht nachträglich zu etwas Gutem?

Exkurs: Augustinus und die stoische Auffassung vom Guten des Bösen295 Da die Stoa von einem strikten Determinismus ausgeht, der den gesamten Kosmos – also Gutes und Böses gleichermaßen – durchwaltet, ist sie letztlich gezwungen, in irgendeiner Weise auch das Böse zu etwas Gutem zu erklären (sofern die theologische These von der guten Providenz aufrecht erhalten werden soll), also die Unterscheidung zwischen bonum und malum aufzuheben. Augustinus akzeptiert eine solche 'Lösung' für das Böse nicht296 und wendet sich im 19. Buch von De civitate Dei sogar explizit gegen sie.297 Trotzdem wird 295

Dass die Forschung in ähnlicher Weise wie bei Augustinus auch für Proklos häufig eine stoisierende Interpretation der Unde malum?- und Theodizeefrage vertritt (die ebenso wenig Proklos gerecht wird), wird in Teil II (Kap. 5.2.3) erörtert.

135 eine solche stoisierende Interpretation für Augustinus immer wieder und auch in der jüngsten Forschung vertreten: "Eine solche harmonisierende Weltsicht reduziert das malum zu einem bloßen Kontrast in einer – abgesehen davon – fraglosen 'Ordnung'. Das Schlechte bildet gleichsam nur den Hintergrund, der der Verdeutlichung der Schönheit des Intelligiblen dient. Die bloße Rechtfertigung der Welt als eines ästhetischen Phänomens nimmt die Faktizität von Leid, Scheitern und Unglück – die Wirklichkeit des malum – nicht ernst" (Kreuzer, 2005: 26-27). "[...] echoes of the simplistic and unscrutinized Stoic notion that the existence of evils, even of moral evils, contributes to the beauty of the whole, persist into Augustine's later writings; they are like the dark colours which show up the beauty of a portrait" (Rist [1994: 261] mit Bezug auf die oben übersetzte Stelle civ. XI, 23). "Wie kann sich das Übel aber in einen geordneten und guten Kosmos einfügen? Augustins Antwort stimmt hier mit der stoischen und plotinischen Lösung überein: das Übel bildet keine Negation des Guten, sondern eine bloße Antithese zu ihm, welche die Ordnung und Schönheit der Welt insgesamt erhöht" (Horn, 1995: 52; meine Kursive). Bereits in dem Frühwerk De ordine wird die These, das Böse sei von Gott,298 widerlegt:

296

"Es ist also keineswegs so, daß das Böse daraus erklärt werden kann, daß Gott etwa zur Gesamtkonstitution der Welt das Böse nötig habe" (Schäfer, 2002: 293). Vgl. Schäfers (ibd., 300, Anm. 293) Anmerkung, dass Augustinus gerade nicht "wie Leibniz (Theodizee I, 19) die Übel angesichts der (zeitlichen und räumlichen) Unermeßlichkeit des Universums – zumindest tendentiell – als zu vernachlässigende Größe" abtun kann. Augustinus kann ferner mit der oben übersetzten Passage (civ. XI, 23) nicht meinen, dass die Schönheit durch die Sünder noch vergrößert würde (so die Übersetzung von Dyson: "For just as a picture is enhanced by the proper placing within it of dark colours, so, to those able to discern it, the beauty of the universe is enhanced even by sinners, though considered in themselves, theirs is a sorry deformity" [R. W. Dyson (1998). Augustinus. The City of God against the Pagans. Ed. and transl. by R.W. Dyson. Cambridge Texts in the History of Political Thought; 513; meine Kursive]). 297 "Quae mala Stoici philosophi miror qua fronte mala non esse contendant, quibus fatentur, si tanta fuerint, ut ea sapiens vel non possit vel non debeat sustinere, cogi eum mortem sibimet inferre atque ex hac vita emigrare" (civ. XIX, 4). 298 "Ex quo sequitur, ut et mala sint a summo deo et mala deus diligat" (ord. I, 7, 17). Vgl. auch den Beginn von lib. arb. (s.o. Kap. 3.1).

136 "Denn dieses ist die Ordnung des Bösen, dass es nicht geliebt wird von Gott." "Nam iste ipse est malorum ordo, ut non diligantur a deo" (ord. I, 7, 18).299 Das 'Ordnungsgemäße des Bösen' ist also, dass es ordnungswidrig ist; es ist in diesem Sinn eine "Negation des Guten". Das bedeutet für Augustinus m.E. weder, dass es in sich noch im Sinn eines höheren Guten notwendig ist300 noch dass es einem universalen göttlichen Schicksal im stoischen Sinn zugeschrieben werden dürfte, das nur auf das Gute des Gesamten achtet (wofür gewisse Kollateralschäden eben unvermeidlich sind). Wenn es trotzdem als Gegensatz zur Ordnung noch zu etwas Schmückendem umgeformt und in die Ordnung integriert wird, dann zeigt sich vielmehr die ordnende Providenz dahingehend, dass sie das Schlechte wieder in etwas Gutes verwandeln möchte, denn "Gott liebt dieses: die Seinsordnung zu lieben und das Böse nicht zu lieben",301 so dass per oppositum – ohne dass das Böse mit dem Guten konfundiert würde – auch das Böse, soweit dies möglich ist, durch eine "unbegreifliche Medizinkunst" noch zu etwas Gutem innerhalb des Ordnungsganzen des vergänglichen (!) Kosmos verwandelt wird.302

299

"An parvus rerum ordo tibi videtur, ut et bona deus diligat et non diligat mala? Nam ipse est malorum ordo, ut non diligantur a deo" (ord. I, 7, 18). Vgl. ebenso: "verum tamen quia merito iusteque sunt miseri, in ea quoque ipsa miseria sua praeter ordinem esse non possunt; non quidem coniuncti beatis, sed ab eis tamen ordinis lege seiuncti" (civ. XIX, 13); "[...], odit [sc. Deus] in eis impietatem, quam ipse non fecit. [...], non odit quod facit, id est opus ordinationis suae in poena debita pereuntibus [...]" (Simpl. I, 2, 18). 300 Auch ohne den Sündenfall hätte der paradiesische Adam laut Augustinus einen geistigen, nicht mehr irdischen Leib erhalten, wie er nun den Christen mit der Auferstehung des Fleisches verheißen ist – unter der Voraussetzung, dass Adam den Gehorsam gegenüber Gott bewahrt hätte (civ. XIV, 10). Vgl. auch Williams (2002: 120) zur geschichtlichen Kontingenz von Sünde und des "Tragischen" innerhalb einer nicht notwendigen Geschichte. 301 "Ita nec praeter ordinem sunt mala, quae non diligit deus, et ipsum tamen ordinem diligit; hoc ipsum enim diligit, diligere bona et non diligere mala, quod est magni ordinis et divinae dispositionis. [...] Ita quasi ex antithetis quodam modo, quod nobis etiam in oratione iucundum est, ex contrariis, omnium simul rerum pulchritudo figuratur" (ord. I, 7, 18). Die Rede von der Antithese (vgl. Horn [1995: 52], s.o.) ist also erstens nur metaphorisch gemeint (quasi, quodam modo) und impliziert zweitens schon die Umgestaltung des malum zu etwas in die Ordnung passendem Guten, erklärt also nicht etwas Schlechtes an sich als etwas Gutes; vgl. Williams (2002: 115) zu "God's healing and rectifying action". 302 "[...] nec sub illo creatore ac dispositore perversa inordinatio delinquentium rectum perverteret ordinem rerum" (civ. XIV, 26). Zur "ars ineffabilis medicinae" s. vera rel. 142.

137 Das Böse kann deshalb der Ordnung nicht entkommen, weil es als Gegensatz zur Ordnung nur in einem bestimmten Verhältnis zu ihr stehen kann und insofern auch qua Bösem noch von ihr abhängig ist (vgl. civ. XII, 2) und deshalb in dem 'Der-Ordnung-Entgegenstehen' letztlich auf bestimmte Weise sogar etwas Ordnungsgemäßes wird – nicht weil es als etwas Vorherbestimmtes gut zu sein hat und zu etwas Gutem erklärt werden muss, sondern weil es qua Bösem gehasst wird. Sünde und Elend sind laut Augustinus von sich selbst her nie notwendig für das Ganze noch an sich gottgewollt; notwendig sind nur die Seelen an sich, "insofern sie Seelen sind, die, wenn sie wollen, sündigen, und wenn sie gesündigt haben, elend werden. Denn wenn nach der Tilgung der Sünden ihr Elend bestehen bleibt oder es den Sünden vorhergehen sollte, dann sagt man zu Recht, die Ordnung und Lenkung des Universums sei entstellt durch die Abwesenheit seinsbegründender Form (deformari). [...] Da aber die Seelen selbst nicht fehlen, denen entweder, wenn sie sündigen, Elend, oder, wenn sie recht handeln, Glückseligkeit folgt, ist das Universum immer gefüllt mit allen und vollkommen durch alle Wesen. Denn nicht sind 'Sünde' und 'Sühnung der Sünde' bestimmte Wesen, sondern Affektionen der Wesen: Jene [sc. Sünde] ist willentlich, diese von der Strafe her. Aber die willentliche, die bei der Sünde entsteht, ist eine schändliche Affektion. Dieser wird deshalb von der Strafe her eine Affektion zugeführt, auf dass sie [sc. die Affektion der Strafe] sie [sc. die Affektion der Sünde] in die Ordnung integriert, wo ein soartiges Sein nicht hässlich ist, und es so zusammenbringt, dass es übereinstimmt mit dem Schmuck des Universums, damit die Strafe der Sünde die Schande der Sünde behebt." "His respondetur non ipsa peccata vel ipsam miseriam perfectioni universitatis esse necessaria, sed animas in quantum animae sunt, quae si velint peccant, si peccaverint miserae fiunt. Si enim peccatis earum detractis miseria perseverat aut etiam peccata praecedat, recte deformari dicitur ordo atque administratio universitatis. [...] Quod autem ipsae non desunt animae quas vel peccantes sequitur miseria vel recte facientes beatitudo, semper naturis omnibus universitas plena atque perfecta est. Non enim peccatum et supplicium peccati naturae sunt quaedam, sed adfectiones naturarum, illa voluntaria, ista poenalis. Sed voluntaria quae in peccato fit turpis adfectio est. Cui propterea poenalis adhibetur ut ordinet eam ubi talem esse non turpe sit, et decori uni-

Zum selben Sachproblem bei Proklos in Abgrenzung zu bestimmten Forschungsmeinungen s. auch Teil II, Kap. 5.2.3.

138 versitatis congruere cogat, ut peccati dedecus emendet poena peccati" (lib. arb. III, 93-95). Ist aber das malum für Augustinus nicht an sich ein Teil des ordo rectus und wird es erst durch den Prozess seiner Besserung von der Providenz wieder integriert, dann handelt es sich kaum um eine, wie Thimme zur Stelle bemerkt hat und auch in der jüngsten Forschung (Kreuzer) allgemein erneut behauptet wird, "rein ästhetische Betrachtungsweise [sc. des malum]. Der Leser muß entscheiden, ob sein Gefühl und sittliches Bewußtsein sich dabei beruhigen können."303 In der sehr freien Übersetzung des letzen Satzes der gerade zitierten Passage spiegelt sich Thimmes Deutung wider, die Augustinus nach hier vertretener Interpretation nicht gerecht wird: "So wird mit ihr [sc. der Sünde] das Strafverhängnis verknüpft, um sie dort einzuordnen, wo sie hingehört [= "ut ordinet eam ubi talem esse non turpe sit"] und die Zier des Weltalls nicht beeinträchtigt [= "et decori universitatis congruere cogat"]. So bewirkt die Sündenstrafe, daß diese Zier erhalten bleibt" [= "ut peccati dedecus emendet poena peccati"] (Thimme, ibd., 271; meine Kursive). Thimmes Übersetzung erweckt den Eindruck, als ob Sünde und Strafe für Augustinus einfach so zur 'Erhaltung der Zier des Kosmos' dazugehörten (dies entspricht der stoischen Position) – gemäß einer "rein ästhetische[n] Betrachtungs-

303

Thimme (1962: 270, Anm. 1; ähnlich ibd., 450, Anm. 1). In derselben Weise vgl. jetzt wieder: J. Kreuzer ([2005]. Augustinus zur Einführung. Hamburg; passim): "An die Stelle der Frage nach einem Grund oder dem Woher des Übels trat [sc. bei Augustinus, in seiner Abkehr vom Manichäismus] seine ästhetisierende Relativierung und Rechtfertigung. Es [sc. das malum] ist in der ästhetisierenden Harmonie einer alles leitenden Ordnung aufgehoben" (ibd., 30-31). S. ferner zum "platonisierende[n] Panästhetismus" bei Augustinus (ibd., 23) sowie zu Augustins "gnostische[r] Verdammung der Welt, die von der Überreaktion eines enttäuschten Ästheten zeugt" (ibd., 139); das malum sei "eine Kategorie der Betrachtungsweise des eigenen Tuns" (ibd., 24). Dass eine solche 'ästhetische Sichtweise' der mala und eine angebliche Verallgemeinerung einer solchen 'göttlichen', aber eben auch nur 'subjektiven Betrachtung' Augustinus in keiner Weise gerecht wird, belegt Williams (2002: 106ff.). Gegen eine "oberflächliche Betrachtung", gemäß welcher Augustinus angeblich mit der These, die mala haben kein eigenes Sein, das Böse verharmlose, vgl. Brachtendorf (2005: 139).

139 weise."304 Das lateinische Original zeigt dagegen, dass die Sünde behoben und ausgebessert werden muss und nur zu diesem Zweck – nicht um einer simplen Einordnung des Bausteins 'Sünde' in das große Ganze, der dann so bleiben kann, wie er ist – die göttliche Providenz auch die Sünde noch in die Ordnung einpasst, damit ihre Schande und Hässlichkeit nicht bestehen bleibe.305 Die Strafen der Sünden und der Schmuck des Universums werden gemäß Augustinus auf relationale Weise miteinander in Einklang gebracht: "Von daher geschieht es, dass eine höhere Kreatur, die sündigt, durch niedere Wesen bestraft wird, weil jene so niedrigen Ranges sind, dass sie sogar durch hässliche Seelen geschmückt werden können und so mit dem Schmuck des Universums übereinstimmen." "Hinc fit ut peccans creatura superior creaturis inferioribus puniatur, quia illae tam sunt infimae ut ornari etiam a turpibus animis possint atque ita decori universitatis congruere" (lib. arb. III, 96). Allerdings hätte die niedere Natur auch ohne die Sünde der höheren einen durchaus angemessenen Schmuck gefunden.306 Ende des Exkurses Zusammenfassend lässt sich gemäß der hier vorgeschlagenen Interpretation für die Unde malum?-Problematik bei Augustinus sagen, dass erst durch einen selbst zu verantwortenden Missbrauch in der Erkenntnis- und Willensausrichtung eines Geschöpfs 'nichts' – weil etwas Bestimmtes zu sein auf gute Weise impliziert, anderes zugleich nicht zu sein, – zu einer causa deficiens, zu einer seinsmindernden, defektiven Pseudo-Ursache wird, so dass der Sache nach ein bestimmtes von sich selbst her Gutes erst durch Fehleinschätzung und Missbrauch sekundär zu etwas Schlechtem pervertiert wird, wie auch Schäfer in seiner Au-

304

Dass dabei ein Schönheitskriterium – rein ästhetischer Art – vorausgesetzt wird, das dem Augustins (Schönheit wird erkannt durch die ratio, jedenfalls nicht durch den autark agierenden sensus, der in der sinnlichen Wahrnehmung schon die 'wahre Schönheit' erblickt) kaum entsprechen dürfte, dokumentieren civ. VIII, 6 und 7 sowie Schmitt (1990: 230). 305 "Naturas igitur omnes deus fecit [...] etiam peccaturas, non ut peccarent sed ut essent ornaturae universum, sive peccare sive non peccare voluissent" (lib. arb. III, 113). 306 "Unde colligitur non defuturum fuisse ornatum congruentissimum infimae corporeae creaturae, etiam si ista peccare noluisset" (lib. arb. III, 120).

140 gustinusinterpretation zunächst ausführt.307 Man kann formulieren, dass nach Augustinus das gut angelegte 'etwas-Bestimmtes-nicht-Sein' in ein mangelhaftschlechtes Nichts verdreht, pervertiert wird – dann nämlich, wenn eine erkennend-wollende Seele (eines Engels oder Menschen) sich grundlos in sachfremder Weise auf dieses 'etwas-Bestimmtes-nicht-Sein' fixiert und dabei das primäre Etwas- bzw. Gut-Sein eines Geschöpfes nicht mehr sieht respektive sehen will, damit aber die Gott-Bezogenheit aufgibt, der ja laut Augustinus die Ursache alles Guten ist: "Denn wenn sich ein Wille – unter Verlassen des Höheren [sc. vor allem Gottes] – zum Niederen hinwendet, wird seine Schlechtigkeit bewirkt (efficitur mala [sc. voluntas]), nicht weil schlecht ist, wohin er sich wendet, sondern weil die Hinwendung selbst verkehrt ist [sc. wenn das höhere Gut-Sein dabei verlassen wird]. Deshalb hat nicht eine niedere Sache den Willen schlecht gemacht, sondern die geringere Sache hat er auf verkehrte und ordnungsfremde Weise erstrebt, weil er selbst [sc. schlecht] geworden ist." "Cum enim se voluntas relicto superiore ad inferiora convertit, efficitur mala, non quia malum est, quo se convertit, sed quia perversa est ipsa conversio. Idcirco non res inferior voluntatem malam fecit, sed rem inferiorem prave atque inordinate, ipsa quia facta est, adpetivit" (civ. XII, 6). Wenn Augustinus formuliert, dass "der schlechte Wille das Bewirkende der schlechten Handlung ist, das Bewirkende des schlechten Willens aber sei

307

Auch Schäfer (2002: 337) teilt diese Interpretation zunächst: "Der Wille wird durch die Ausrichtung auf das jeweilige nihil der Dinge zum bösen. So wird der Wille, wie Augustinus betont, nicht durch den Bezug auf Böses (ad mala) böse, sondern durch eine falsche, schlechte Ausrichtung (male) auf die Dinge. [...]; diese Dinge sind zwar (partikuläre) bona, nur eben bleiben sie als Kreaturen durch ihre Portion an nichts hinter der Fülle des Seins des summum bonum zurück." Im letzten Satz spricht Schäfer – vielleicht zunächst nur im metaphorischen Sinn – von der besagten 'Portionabilität des Nichts'. Die Begründung: "denn die jeweilige 'Portion Nichts' unterscheidet ja das Einzelwesen von Gott" (Schäfer, 2002: 338) scheint – entgegen dem von Augustinus Gemeinten – die Interpretation vorzubereiten, dass dem Nichts eine Sogwirkung zugeschrieben wird (ibd., 341). Eine 'Portion nichts' kann jedoch für sich selbst nur nichts sein; vielmehr kann ja erst die Voraussetzung des Etwas-Seins die Unterscheidbarkeit des aspektualen Etwas-Bestimmtesnicht-Seins begründen. So geringfügig diese Nuance erscheinen mag – hier liegt, soweit ich sehe, die grundlegende Verschiebung von Schäfers zwar richtigem Ansatz seiner Augustinusinterpretation zu etwas von Augustinus nicht mehr Gemeintem.

141 nichts",308 so wird damit nicht 'nichts' zu einer Ursache erhoben, sondern vielmehr die Ursachenlosigkeit der schlechten Handlung, ihre Irrationalität und Irrtümlichkeit im falschen Wollen beschrieben: "Niemand soll eine Wirkursache des schlechten Willens suchen; denn sie ist kein Effekt, sondern ein Defekt, weil auch jener [sc. schlechte Wille] selbst kein Effekt [sc. das Wirken von etwas Bestimmtem und insofern Gutem], sondern ein Defekt [sc. eine Minderung von Bestimmtem und Gutem] ist. Denn das Abgleiten (deficere) von dem, der auf höchste Weise ist, zu dem, was weniger ist, dieses ist: beginnen einen schlechten Willen zu haben." "Nemo igitur quaerat efficientem causam malae voluntatis; non enim est efficiens, sed deficiens, quia nec illa effectio sed defectio. Deficere namque ab eo, quod summe est, ad id, quod minus est, hoc est incipere habere voluntatem malam" (civ. XII, 7). Das verkehrte Wollen bewirkt eine Veränderung der Natur; eine solche Veränderung ist nach Augustinus nur möglich bei wesensmäßig veränderlichen Wesen; sie alle sind Geschöpfe Gottes und im Unterschied zu ihm nicht das überzeitliche, unveränderlich in sich ruhende Summum bonum, sondern aus nichts von ihm geschaffen.309 Die Veränderlichkeit und Zeitlichkeit – nichts anderes bedeutet 'aus nichts geschaffen' zu sein310 – ist in sich selbst nichts Schlechtes und bedingt nicht schon notwendigerweise einen defectivus motus; andernfalls müssten auch die Elemente der Welt oder allgemein die 'unbelebte Natur' an sich immer schon

308

"Huius porro malae voluntatis causa efficiens si quaeratur, nihil invenitur. […] […] mala voluntas efficiens est operis mali, malae autem voluntatis efficiens nihil est" (civ. XII, 6). 309 Vgl.: "Non igitur ideo peccavit, sed ideo peccare potuit, quia de nihilo factus est. Inter peccavit et peccare potuit plurimum distat; illa culpa est, ista natura" (c. Iul. imp., V, 60). Zur geschaffenen Natur gehört also bei allen veränderlichen Wesen die Veränderlichkeit; ob letztere zu einem Missbrauch von etwas Gutem und dem Bewirken von mala 'gebraucht' wird, ist die schuldfähige, kontingente Eigenverantwortung rationaler (Menschenund Engel-)Seelen: "Mala igitur omnia, quae nihil sunt aliud quam privationes bonorum, ex bonis orta sunt, sed mutabilibus; et angelum quippe et hominem, ex quibus orta sunt mala – quae tamen et non oriri potuissent, si illi peccare noluissent, quia et nolle potuerunt –, naturas bonas recte, immutabiles autem non recte possumus dicere" (ibd.). 310 "quia non de ipsa substantia dei, sed ex nihilo cuncta facta sunt, quia non sunt id ipsum quod deus, et inest quaedam mutabilitas omnibus" (conf. XII, 17, 25).

142 sündig sein bzw. sündigen können, was Augustinus gegenüber Julianus bestreitet.311 Augustinus unterscheidet explizit zwischen dem Ursprung der Veränderlichkeit – aus dem der Wille sich auch die Möglichkeit zum Sündigen erzeugen kann – und der Ursache des sündigenden bzw. bösen Willens in sich selbst.312 Grundsätzlich können rationale Seelen in der Veränderlichkeit nichtsdestoweniger auf das höchste intelligible Gut – Gott selbst – orientiert bleiben, also ohne Schlechtigkeit veränderlich sein ("non propterea malum quia transit", vera rel. 114), können sich aber auch die Möglichkeit der Abwendung von ihm erzeugen durch einen auf rational-willentlicher Ebene selbst verursachten (Erst-)Irrtum. Da das 'Aus-sich-selbst-bestehen-Wollen' eine selbstverschuldete Trennung vom Quell 311

c. Iul. imp. V, 39. Damit ist jedoch nicht gesagt, dass die Natur bzw. die Welt insgesamt nach dem Sündenfall des Menschen nicht auch auf bestimmte Weise von diesem Fall mit betroffen wäre: Hier schließt sich die schwierige Frage an, auf welche Ursache(n) z.B. Naturkatastrophen zurückzuführen sind. Allgemein ist hierzu aus Augustins Perspektive zu sagen, dass auch mit dem Wirken der bösen, weil abgefallenen Engel zu rechnen ist, die wie alles Böse zwar das vorgängig geschaffene Gut voraussetzen müssen und insofern nicht selbst Schöpfer von Etwas sind – das in sich selbst ja nur gut sein könnte –, aber gut Geschaffenes auf bestimmte Weise verändern und naturwidrig vermischen und so Unnatürliches erzeugen können (vgl. dazu trin. III, 8, 13 – 14; civ. XVIII, 18). 312 Diesen Unterschied macht Köhler (1993: 75) nicht, wenn er in der "Nichthaftigkeit der geschaffenen Wesen" nicht die Veränderlichkeit, die zwar die conditio sine qua non auch für den pervertierten Willen darstellt, sieht, sondern schon die "Ursache des 'bösen Willens'". In ähnlicher Weise unterscheidet Schäfer (2002: 347) nicht zwischen "Bedingungsmöglichkeit für die Verderbnisfähigkeit" einerseits und "Anreiz" bzw. "Veranlassung für die Aktuierung des (bösen) Willens", sondern hält beides für "ex nihilo 'erklärbar'" (ibd.). Auch Tornau (2004: 245) differenziert nicht zwischen dem Geschaffensein aus nichts, mit dem die geschöpfliche Veränderlichkeit einhergeht, und der aus der Veränderlichkeit nicht notwendigerweise resultierenden Verderblichkeit: "[...] das ontologische Nichts, das mit dem Status des Wollenden als eines Geschaffenen gegeben ist und seine corruptibilitas bewirkt." Augustinus unterscheidet aber das Geschaffensein aus nichts – was Veränderlichsein bedeutet – als den Ursprung der Möglichkeit, die sich der schlechte Wille zu Nutze macht, und den Ursprung des schlechten Willens ("cum quaeritur quare possit homo habere voluntatem malam, quamvis ut habeat non sit necesse, non origo quaeritur voluntatis, sed origo ipsius possibilitatis", c. Iul. imp. V, 42). Entsprechend ist die Ursache des bösen Willens für Augustinus nicht "die Verbindung des geschöpflichen Willens mit der Nichtigkeit" (Köhler, ibd., 79), der Köhler als Kontrast die moderne Sichtweise entgegensetzt, dass allein die menschliche Subjektivität Ursache des Willens sei. Eine solche Subjektivität findet sich bereits bei Augustinus selbst: "Malae autem voluntatis suae unusquisque auctor est" (c. Iul. imp. V, 42); "quisque malus sui malefacti auctor est" (lib. arb. I, 3).

143 des Seins impliziert, bedeutet das Erschaffensein der Geschöpfe aus nichts im Umkehrschluss, dass sie bei einer willentlichen Trennung von ihrem Schöpfer nicht(s) mehr sind.313

7.

Praevidentia Dei contra liberum arbitrium hominis? Determiniert Gottes Vorherwissen den menschlichen Willen? (lib. arb. III)

Die Frage, ob das Abfallen von Gott bzw. die Sünde der Engel und Menschen durch einen Sog zum Bösen bedingt ist und ob dieser defectivus motus deshalb notwendig war, verneint Augustinus stets. Bereits im dritten Buch von De libero arbitrio scheint im Kontext der Problematik, dass (1) der freie menschliche Wille als etwas Gutes zu begreifen ist und (2) keine Ursache für den defectivus motus eines pervertierten, schlecht gewordenen Willens besteht, die menschliche Willensfreiheit jedoch erneut gefährdet zu sein und damit zugleich auch die menschliche Verantwortungsfähigkeit. So sagt Evodius: "Wenn sich dies [sc. gemäß der bisherigen Argumentation] so verhält, dann bewegt mich auf unaussprechliche Weise, wie es geschehen kann, dass sowohl Gott alle zukünftigen Dinge vorherweiß, als auch dass wir ohne irgendeine Notwendigkeit sündigen. Denn jeder, der sagt, auf andere Weise könne sich etwas ereignen, als Gott es zuvor vorhergewusst hat, der ist dabei, Gottes Vorherwissen mit unvernünftiger Gottlosigkeit einzureißen." "Quae cum ita sint ineffabiliter me movet quo modo fieri possit ut et deus sit praescius omnium futurorum et nos nulla necessitate peccemus. Quisquis enim dixerit aliter evenire aliquid posse quam deus ante praescivit, praescientiam dei destruere insanissima impietate molitur" (lib. arb. III, 14). Innerhalb der Gespräche über den freien Willen bedeutet dies erneut einen Rückschlag: Wie schon zu Beginn von Buch II Evodius' Zweifel an der Gutheit des freien Willens das allgemeine Fundament des Glaubens, dass das Gute das Primäre und Gott das höchste Gut selbst ist, aufs Heftigste erschüttert hatte (s.o. Kap. 3.4), so steht die Willensfreiheit der Geschöpfe jetzt erneut auf dem Spiel – vor allem aber auch Gottes Schuldlosigkeit an dem Bösen, die Augustinus doch 313

"[…] omnia bona ex ipso sunt, quae per se ipsa possunt vitiari, quia per se ipsa nihil sunt" (vera rel. 100).

144 ganz zu Beginn der Diskussionen mit Evodius gleichsam axiomatisch zugrunde gelegt hatte: "[sc. Deus] male non facit" (lib. arb. I, 1). Zwar schreckt Evodius davor zurück zu behaupten, Gott hätte den Menschen lieber gar nicht erschaffen sollen. Aber weil Gott "immer schon vorherwusste", dass der Mensch sündigen werde, – Evodius scheint Gott innerhalb der Zeit zu denken (Imperfekt: praesciebat) –, sei dies doch mit unumgänglicher Notwendigkeit geschehen.314 "Wie ist also der Wille frei, wo sich doch eine so unvermeidbare Notwendigkeit zeigt?" "Quomodo est igitur voluntas libera ubi tam inevitabilis apparet necessitas?" (lib. arb. III, 15). In derselben Weise, die schon des Öfteren beobachtet wurde (s.o. Kap. 4.1), antwortet Augustinus auch jetzt: Gottes Barmherzigkeit, an der Evodius heftig gerüttelt habe, möge ihm beistehen und "den [sc. an ihrer Tür] Rüttelnden öffnen."315 Die Antwort auf Evodius' existentielle Frage soll ihm auch jetzt wieder von Gott her zuteil werden; bei einer schwierigen (Denk-)Situation führt Augustinus erneut die Bezogenheit des menschlichen Lebens auf Gott hin vor Augen: "fecisti nos ad te" (conf. I, 1, 1). Zugleich bezichtigt Augustinus den Duktus von Evodius' Argumentation des Motivs der "unfrommen Selbstentschuldigung": Die Menschen seien (also schon damals, nicht erst in der Moderne) schnell damit bei der Hand, dem 'lieben Gott' die Verantwortung für alles, besonders für das Böse und Schlechte, zuzuschieben, nicht jedoch zum Bekenntnis eigener Schuld bereit.316 "Denn entweder favorisieren sie die Meinung (libenter opinantur), dass überhaupt keine göttliche Providenz den menschlichen Angelegenheiten vorsteht und überlassen somit ihre Körper und Seelen den blinden Zufälligkeiten, ge314

"Quapropter, si praescivit deus peccaturum esse bonum hominem [...], si ergo ita est, [...] non itaque dico, non eum faceret, sed hoc dico, quoniam peccaturum esse praesciverat, necesse erat id fieri quod futurum esse praesciebat deus" (lib. arb. III, 15). 315 "Pulsasti vehementer misericordiam dei. Adsit aperiatque pulsantibus" (lib. arb. III, 16). Vgl.: "Klopfet an, und es wird euch aufgetan werden" (Mt 7, 7). 316 "Verumtamen maximam partem hominum ista quaestione torqueri non ob aliud crediderim nisi quia non pie quaerunt velocioresque sunt ad excusationem quam ad confessionem peccatorum suorum" (lib. arb. III, 16). Wie in den sol. klingt auch hier das Thema der frommen Suche an: "Omnis autem recte quaesivit, quem tu recte quaerere fecisti" (sol. I, 1, 6).

145 ben sich selbst gegenüber den Begierden geschlagen und lassen sich von ihnen zerfleischen, während sie die göttliche Gerichtsbarkeit leugnen und die menschliche täuschen, und glauben, dass sie ihre Ankläger [sc. vor Gericht] mit Fortuna als Verteidigerin317 abwehren, die sie sich gewöhnlich trotzdem als blind erdichten und ausmalen, so dass sie im Vergleich zu ihr [sc. Fortuna], von der sie sich doch beherrscht glauben, entweder überlegener sind oder bekennen, dass auch sie mit derselben Blindheit [sc. wie Fortuna] solches meinen und sagen." "Aut enim nullam divinam providentiam praeesse rebus humanis libenter opinantur, dumque fortuitis committunt casibus et animos et corpora sua, tradunt se feriendos et dilaniandos libidinibus, divinia iudicia negantes, humana fallentes, eos a quibus accusantur fortunae patrocinio propulsare se putant, quam tamen caecam effingere ac pingere consuerunt, ut aut meliores ea sint a qua se regi arbitrantur, aut se quoque cum eadem caecitate et sentire ista fateantur et dicere" (lib. arb. III, 17). In dieser Passage spielt Augustinus in rhetorischer Raffinesse mit einem doppelten Blindheitsmotiv: Fortuna soll angeblich selbst blind agieren. Das bedeutet aber, dass die Menschen, die sich mit einer scheinbar rationalen und 'sehenden' Argumentation, gemäß der die Welt vom Zufall gelenkt sei, aus der eigenen Verantwortung stehlen wollen, über ein höheres Erkenntnisvermögen – die Ratio – verfügen als Fortuna. Damit entlarven sie ihre eigene, umso größere Blindheit: Denn wie können sie sich scheinbar kleinlaut auf eine 'höhere Macht' berufen, wenn sie dieser selbst überlegen sind? Die Argumentation von der 'blinden Fortuna' zeigt für Augustin eine zweite und insofern verdoppelte Blindheit bei denen, die von der Prämisse eines universal-irrationalen Zufalls aus überhaupt noch argumentieren wollen.318 Thematisch und motivisch zeigt sich von dieser Stelle 317

Mit dem Verweis auf Fortuna als dem angeblich universell regierenden Prinzip, durch das alles rein zufällig geschehe, wollen sich die Leute, die Augustinus hier im Auge hat, aller Eigenverantwortung entbinden. Ob der pure Zufall regiert oder die absolute Vorherbestimmung – diese beiden Extremfälle sind der Sache nach nicht mehr zu unterscheiden und scheinen die menschliche Willensfreiheit und Eigenverantwortlichkeit aufzuheben. Augustinus parallelisiert selbst in diesem Sinn Zufall und Schicksal, wenn er gegen die Verleugnung der menschlichen Willensfreiheit und -verantwortlichkeit sowohl wegen eines angeblichen allmächtigen Zufalls als auch wegen einer ebenso angeblichen schicksalhaften Vorherbestimmtheit gleichermaßen argumentiert (s.o. das Folgende). 318 Diese paradoxe Sichtweise hat an ihrer Aktualität nichts eingebüßt, sondern zeigt sich in ganz verschiedenen modernen Kontexten: Etwa bei der Annahme der zufälligen Weltentstehung bzw. -entwicklung, die aus Zufall Ordnung hervorbringt; ferner im künstlerischen Bereich, wenn etwa im Film die pure Zufälligkeit des Lebens dargestellt wird wie

146 aus eine große Nähe zu Apuleius' Metamorphosen: Lucius beschwert sich dort des Öfteren über die Blindheit der Fortuna, von der er sich beherrscht glaubt und nicht einsieht, dass er sich selbst in seiner ungebändigten Neugierde und unter Vernachlässigung vieler Warnungen in eine solche Wirklichkeit gebracht hat (s.u. Teil III, Kap. 4). Es ist nicht auszuschließen, dass Augustinus sogar selbst den ihm bekannten Roman des Apuleius in diesem Zusammenhang assoziiert hat.319 Wie reagiert Augustinus nun auf das von Evodius skizzierte Dilemma, dass entweder Vorherwissen oder Willensfreiheit aufgegeben werden müsse, aber nicht beides miteinander vereinbar sei? Bevor die eigentliche Argumentation beginnt, weist Augustinus darauf hin, dass Gott sowohl vorherwisse, was die Menschen am morgigen Tage wollen werden (sei es Gutes oder Schlechtes) als auch, wie er darauf reagieren werde – auch in diesem Kontext ist Gott "innerer als das Innerste" des Menschen.320 Auf Augustins Frage, ob Gottes Wollen dann nicht vielleicht der Notwendigkeit unterliege, wenn man behaupte, dass alles, was er vorherweiß, durch Notwendigkeit geschehe, antwortet Evodius, dass er die Rede von der Notwendigkeit nicht auf Gott selbst, sondern nur auf sein Wirken in der Welt bezogen habe; denn Gott sei ja ewig und unterliege nicht dem Werden.321 Damit ist eine noch über Gott stehende Notwendigkeit im stoischen bei Woody Allen, Match Point sowie ders. Melinda and Melinda (beide USA, 2005 und 2004). Zum davon zu unterscheidenden Gebrauch des Wortes 'Zufall', wenn die Ursache eines Ereignisses dem Menschen verborgen ist, damit aber nicht grundsätzlich eine bloße Zufälligkeit und Beliebigkeit der 'Welt' gemeint ist, vgl. Augustinus: "Etenim fortasse quae vulgo fortuna nominatur occulto quodam ordine regitur nihilque aliud in rebus casum vocamus, nisi cuius ratio et causa secreta est" (acad. I, 1, 1). 319 Vgl. civ. XVIII, 18. Dazu, dass wie bei Apuleius (Teil III, Kap. 5.4) auch für Augustinus Gott und seine Providenz nicht mit der unbeständigen Fortuna verwechselt werden dürfen, s. civ. IV, 33. 320 "Si ergo voluntatem tuam crastinam novit et omnium hominum, sive qui sunt sive qui futuri sunt, et futuras praevidet voluntates, multo magis praevidet quid de iustis impiisque facturus sit" (lib. arb. III, 23). Dazu, dass Gott die Willen der Menschen kennt, weil er ihnen näher als sie sich selbst ist, vgl.: "Tu autem eras interior intimo meo et superior summo meo" (conf. III, 6, 11; ebenso VIII, 7, 16); "Noli foras ire, in te ipsum redi; in interiore homine habitat veritas" (vera rel. 201); vgl. ebenso "ibam foras" (conf. I, 18, 28). 321 "A: 'Nonne igitur caves ne tibi dicatur etiam ipsum quaecumque facturus est non voluntate sed necessitate facturum, si omnia quorum praescius deus est necessitate fiunt, non voluntate?' – E: 'Ego cum dicerem necessitate universa fieri quae deus futura praescivit, ea sola intuebar quae in creatura eius fiunt, non autem quae in ipso. Non enim fiunt, sed sunt sempiterna'" (lib. arb. III, 24).

147 Sinn ausgeschlossen.322 Zugleich wird implizit ein platonischer Notwendigkeitsbegriff eingeführt, dem gemäß die Ananke im Kosmos einen limitierenden, partikularisierenden Effekt hat, der im Intelligiblen, im Bereich des göttlichen Nous, nicht ist, so dass auch von Platon her Gott nicht einer restriktiven Notwendigkeit unterliegen kann.323 (Dieselbe Sichtweise wird sich in den späteren Teilen dieser Arbeit zu Proklos, Apuleius und auch John Milton nachweisen lassen.) Gott mag also keiner Notwendigkeit unterliegen – was aber ist mit dem angeblich frei wollenden Menschen? Da Evodius von der Prämisse ausgegangen war, dass Gottes Vorherwissen all dieses Vorhergewusste notwendig macht, setzt Augustinus genau hier an und argumentiert wie in lib. arb. II (s.o. Kap. 4.2) zunächst ausschließlich vom Menschen, nicht theologisch 'von oben', von Gott her: 322

Vgl.: "Unde nec illa necessitas formidanda est, quam formidando Stoici laboraverunt causas rerum ita distinguere, ut quasdam subtraherent necessitati, quasdam subderent [...] Neque enim et vitam Dei et praescientiam Dei sub necessitate ponimus, si dicamus necesse esse Deum semper vivere et cuncta praescire" (civ. V, 10). Augustinus denkt hier wahrscheinlich vor allem an Chrysipp, vgl. Djuth (1990: 391). S. ferner gegen die Manichäer, die Gott unter einen Notwendigkeitszwang stellen, vera rel. 48. Im ewigen Sabbat wird es keine Notwendigkeit mehr geben ("tunc non erit necessitas", civ. XXII, 30). 323 Nach Platon ist das Werden des Kosmos aus der Verbindung von Notwendigkeit und Intellekt entstanden, wobei der Intellekt über die Notwendigkeit herrscht, indem er sie überzeugt, das Meiste von dem Werdenden zum Besseren zu führen, und dadurch den Bereich der einschränkenden Notwendigkeit durch weise Überzeugungskunst verringert (Tim. 47e5-48a5). Ein vergleichbarer Gedanke über das alle limitierende Notwendigkeit transzendierende Intelligible, welches auch das dem Bereich des Notwendigen Unterstellte in die bestmögliche Ordnung bringen und es insofern 'zum Besseren führen' will, findet sich m.E. in Augustins Deutung der Geschichte von Maria und Martha: Martha geht zwar dem Nützlichen des Notwendigen nach (ministerium indigentiae), dies ist aber von vorübergehender Natur und soll den Menschen – obwohl es ein Gut ist! – nicht von dem Betrachten des ewig Guten und Nützlichen abhalten, wenn dafür die geeignete Zeit gekommen ist wie der Besuch Jesu innerhalb der Geschichte; denn auch der Lohn des vorübergehenden Guts ist die andauernde Ruhe, die jenseits des Limitiert-Notwendigen ist (trin. I, 10, 20). Analog bringt Augustinus das Restriktive der Notwendigkeit, wodurch das Gute in privativer Weise eingeschränkt und aufgrund einer solchen Privation Ursache von Elend werden kann, in Verbindung mit dem Vers des Psalms 25, 17 ("Quanto consideratius et homine dignius agnoscit in ista necessitate miseriam eamque odit in se et, si pie sapit, clamat ad Deum: 'De necessitatibus meis erue me!'", civ. XIX, 6). Zum Notwendigkeitsbegriff bei Augustinus vgl. Peetz (1997: 78ff) und: A.A. Pang (1994). "Augustine on divine foreknowledge and human free will", in: Revue des Études Augustiniennes 40, 417431; 427.

148

"A: 'Nicht also durch dein Wollen, sondern durch Notwendigkeit entsteht in dir deine Glückseligkeit, dadurch dass Gott sie bewirkt.' E: 'Sein Wille ist mir Notwendigkeit.' A: 'So wirst du also gegen deinen Willen glücklich.' E: 'Wenn ich die Möglichkeit hätte, [sc. aus eigenem Vermögen] glückselig zu sein, dann wäre ich es bereits! Denn ich möchte es auch jetzt und bin es doch nicht, weil nicht ich, sondern jener mich glückselig macht.'" "A: 'Non ergo voluntate, sed necessitate in te fiet beatitudo tua deo faciente.' E: 'Voluntas illius mihi est necessitas.' A: 'Tu itaque invitus beatus eris.' E: 'Mihi si esset potestas ut essem beatus, iam profecto essem. Volo enim etiam nunc et non sum, quia non ego sed ille me beatum facit'" (lib. arb. III, 26). Hatte Evodius früher sogar selbst Augustins Beweisziel vorweggenommen (bevor aufgrund der scharfen Kritik der ontologische Exkurs und der Gottesbeweis nötig wurde), dass der Mensch nur dann gut ist, wenn er gut handeln könne, sofern er es wollte (lib. arb. II, 4), so ist dieser anthropologische Optimismus momentan dem Konzept einer ausschließlich waltenden göttlichen Notwendigkeit im stoischen Sinn gewichen: Zwar besteht für Evodius ein menschliches Wollen im Sinn eines inneren, subjektiven Wunsches, einer Befürwortung oder Ablehnung bestimmter objektiv-äußerer Inhalte, jedoch seien diese nicht in dem Sinn wollbar, als dass ihre Umsetzung in irgendeiner Weise dem Menschen frei und möglich wäre. Trotzdem ist Evodius gezwungen, zumindest einen Freiraum für ein subjektiv-inneres Wollen zu konzedieren: Man wird nicht gegen seinen Willen glücklich, denn jeder Mensch strebt aus eigenem Wollen nach beatitudo (Kap. 3.3). Evodius hat laut Augustinus bereits richtig erkannt, dass nicht etwas anderes in der menschlichen Verfügungsgewalt (potestas) stehe als das, "was wir, wenn wir es wollen, tun", und dass deshalb nichts so sehr wie der Wille selbst in der eigenen Verfügungsgewalt stehe.324 Andernfalls könnte Evodius nicht zu Recht sagen, dass er bereits glückselig wäre, wenn es in seiner potestas stünde: Er impliziert damit (1) ein eigenes menschliches Wollen, dessen potestas (2) auf be324

"Non enim posses aliud sentire esse in potestate nostra, nisi quod cum volumus facimus. Quapropter nihil tam in nostra potestate quam ipsa voluntas est" (lib. arb. III, 27). Dieses Resultat hatte bereits die Untersuchung des ersten Buchs gezeigt (Kap. 3.3).

149 stimmte Weise begrenzt ist. Daraus ergibt sich aber, dass, auch wenn Gott alle Dinge vorherweiß, dieses Vorherwissen dem Wollen keine Notwendigkeit, Vorherbestimmtheit und Unfreiheit auferlegen kann, wie sie in Bezug auf Altern und Sterben unvermeidlicher besteht325: "Deshalb: obwohl Gott unsere künftigen Willensakte vorherweiß, folgt daraus dennoch nicht, dass wir nicht durch den Willen etwas wollen." "Quam ob rem, quamvis praesciat deus nostras voluntates futuras, non ex eo tamen conficitur, ut non voluntate aliquid velimus" (lib. arb. III, 28). Denn es wäre geradezu absurd zu behaupten, man würde gegen seinen Willen, aber aufgrund göttlichen Vorherwissens glücklich,326 weil ohne das eigene Wollen und Zulassen des Glücks dieses nicht zustande kommen kann – wer sich gegen das Glücklich-Sein sträubt, wird es auch bei gegebenem Anlass und unter entsprechenden äußeren, d.h. nicht innnerhalb der eigenen potestas liegenden Umständen, nicht sein können. Wenn gilt, was Evodius sagt: dass ein Mensch letztlich nur in bzw. durch Gott glückselig werden kann, so bedeutet 'Wollen' hier nicht nur, einfach einen eigenen Entschluss zu fassen ('Ich will ab jetzt glücklich sein'), sondern sich dem göttlichen Wirken nicht durch ein abgewandtes Wollen zu entziehen. Auch an diesem Punkt der Argumentation steht wiederum eine Bezogenheit von göttlichem Geben und menschlichem Wollen bzw. Handeln im Hintergrund: Das Thema der göttlichen Gnade liegt in Reichweite.327 Wie das göttliche Vorherwissen also nicht den freien Willen zur beatitudo beseitigt, so ist auch ein schuldhaftes Wollen nicht dadurch kein eigenes, sondern fremddirigiertes Wollen, wenn Gott es vorhergewusst haben sollte.328 Gott kann nach Augustinus nicht wegen seines Vorherwissens für das eigenverantwortliche menschliche Wollen, d.h. für den menschlichen Gebrauch der von Gott gegebenen Willensfreiheit verantwortlich gemacht werden, als ob er (Gott) das mensch325

lib. arb. III, 27. "Cum igitur praescius sit deus futurae beatitudinis tuae – nec aliter aliquid fieri possit quam ille praescivit, alioquin nulla praescientia est –, non tamen ex eo cogimur sentire, quod absurdissimum est et longe a veritate seclusum, non te volentem beatum futurum" (lib. arb. III, 28). 327 Vgl. Pang (1994: 424). 328 "Sicut autem voluntatem beatitudinis, cum esse coeperis beatus, non tibi aufert praescientia dei, quae hodieque de tua futura beatitudine certa est, sic etiam voluntas cupabilis, si qua in te futura est, non propterea voluntas non erit, quoniam deus eam futuram esse praescivit" (lib. arb. III, 29). 326

150 liche Wollen 'hinter den Kulissen' ja bereits determiniert hätte. Anders als z.B. Cicero329 impliziert Augustinus keine Abhängigkeit des menschlichen Wollens und Handelns vom göttlichen Vorherwissen, sondern umgekehrt eine sachliche Abhängigkeit des Vorherwissens menschlichen Wollens und Handelns von nichts anderem als von diesem selbst. Es wäre hingegen ein Selbstwiderspruch zu behaupten, man wolle wegen der Vorhergewusstheit notwendigerweise dieses oder jenes, weil es eben durch das Vorherwissen so vorherbestimmt sei. Für Augustinus liegt der Aussage 'Es ist notwendig, dass ich so will' ein unreflektierter Pseudo-Willensbegriff zugrunde, denn unter der Voraussetzung einer strikten Notwendigkeit, die die Welt und damit auch die Menschen bis ins Kleinste determiniert, ist es genauso sinnlos, noch von einem Wollen zu sprechen wie die eigene Verantwortlichkeit deshalb leugnen zu wollen, weil man sich von der Allmacht des Zufalls (Fortuna, s.o. zu lib. arb. III, 17) beherrscht glaubt: Ein Wollen, das der Wille nicht selbst will, ist nun einmal kein Wollen.330 Evodius' Worte, dass er bereits glücklich wäre, wenn es nur in seiner eigenen Macht und Möglichkeit (potestas) stünde, bezeugen für Augustinus die Tatsache der Freiheit des Willens, weil nur dann eine eingeschränkte Umsetzbarkeit des Gewollten erfahrbar ist, wenn man tatsächlich auch etwas Bestimmtes will, auf das hin sich der Wille orientiert; sofern aber beim Wollen der Wille selbst fehlte, würde man nach Augustinus auch nicht wollen.331 Gerade dort, wo das Gewollte für den Willen nicht unmittelbar erreichbar ist, sondern außerhalb seiner potestas liegt, zeigt sich die Realität des freien Willens sowie der potestas: Das Strebeverhalten, der Wille selbst als seelisches Gut, hat sich selbst in seiner Ausrichtbarkeit unmittelbar als freie Möglichkeit332 und ist in sich nicht durch Äußerliches begrenzt im Unterschied zu ihm gegenüber außen liegenden, materiellen Gütern, die kein seelisch-geistiges Sein haben, welches für

329

S. dazu im Anhang: Exkurs 6: Augustins Auseinandersetzung mit Cicero über das göttliche Vorherwissen. 330 "Omitto illud aeque monstrosum quod paulo ante dixi eundem hominem dicere: 'necesse est ut ita velim', qui necessitate supposita auferre nititur voluntatem. Si enim necesse est ut velit, unde volet cum voluntas non erit?" (lib. arb. III, 31). 331 "Respondisti enim, quod iam esses beatus si potestas esset, velle enim te, sed nondum posse dixisti. Ubi ego subieci de te clamasse veritatem. Non enim negare possumus habere nos potestatem, nisi dum nobis non adest quod volumus; dum autem volumus, si voluntas ipsa deest nobis, non utique volumus" (lib. arb. III, 32). Vgl. zur Stelle Pang (1994: 421). 332 "Voluntas igitur nostra nec voluntas esset nisi esset in nostra potestate. Porro, quia est in potestate, libera est nobis" (lib. arb. III, 33).

151 alle 'essbar' ist, wie Augustinus im Buch II im Dialog mit Evodius gesagt hatte.333 Laut Augustinus gilt deshalb nicht, dass ein Mensch nicht wollen kann, was er will.334 In diesem Zusammenhang muss Augustins potestas-Begriff genauer in den Blick genommen werden. 333

lib. arb. II, 146; s. Kap. 4.5. Dies kann er laut Augustinus durchaus und genau diese eigene Willensausrichtung steht wie nichts anderes in seiner Macht, vgl. Pang (1994: 426): "That one fails to will x (in an awkward sense), even though one wills to will x, simply means that one finally chooses to will non-x." Auch wenn eine solche Aussage im Kontext der Gnadenlehre Augustins gewagt erscheint (vgl. etwa Brachtendorf [2006: 15]), muss doch daran erinnert werden, dass – auch auf der Prämisse, dass man Gutes nur durch Gottes vorausliegende Gnade denken und tun kann – die Bekehrung und das Gebet zu Gott ja etwas Mögliches sind; sonst würde Augustinus nicht dazu ermahnen (s.u. Kap. 10 und 11). D.h., auch wenn es (speziell für den gefallenen Menschen) der Sache nach falsch ist zu meinen, Gutes aus eigener Kraft vollbringen zu können, so wäre es praktisch von Augustinus her verkehrt, gewissermaßen darauf zu warten, ob man, selbst in sturer Passivität verharrend, durch Gott bewegt wird: Der Mensch soll versuchen, Gutes zu tun, und dies in der Ausrichtung auf Gott hin tun und nicht dadurch verderben, dass er sich dieses Gute als autark bewirkte Leistung selbst zuschreibt. In diesem Sinn kann der Mensch in Gott sein Wollen wollen. Ein Mensch kann hingegen bei Weitem nicht immer in Handlung umsetzen, was er will, weil er mit dem Strebeverhalten anderer Menschen und mit den Einschränkungen innerhalb der materiellen Welt im wahrsten Sinn des Wortes konfrontiert ist, also in seiner potestas eingeschränkt und begrenzt ist. Damit fällt für Augustinus aber gerade nicht die Feststellung: 'Der Mensch kann nichts so sehr wollen wie seinen Willen, d.h. die Ausrichtung seines eigenen willentlichen Strebens', weil, wie oben gezeigt wurde (Kap. 4.5), z.B. ein erfolgreiches Willensstreben – d.h. ein Wollen, welches etwas allgemein Erstrebenswertes (weil von sich selbst her Gutes), das nicht vergeht, erstrebt – sich immer auf ein ewiges Gut orientieren und "Gottes rechte Hand " (Christus) ergreifen kann (lib. arb. II, 205). Wenn Jaspers (1957: 138) gleichwohl schreibt: "In der Freiheit unseres Handelns ist die Grunderfahrung: Ich will, aber ich kann nicht mein Wollen wollen", dann liegt die Fähigkeit des gelingenden Wollens von etwas Gutem nach Jaspers' Interpretation nicht autark im Bereich des menschlichen Vollbringens, kann vom Menschen allein ohne Gnade nicht geleistet werden. Dieser Interpretationsbefund widerspricht jedoch gar nicht dem gerade Gesagten, dass nichts so sehr in der Möglichkeit des Willens stehe wie er selbst (vgl. Brachtendorf, 2005: 166-170), insofern dabei dieses Wollen auf Gott hin ausgerichtet ist und sich von ihm leiten und helfen lässt, der sich niemandem versagt (sol. I, 1, 6): Der Wille ruht laut Augustinus in diesem Sinn in sich selbst, dass er bei Gott und erst in dieser Bezogenheit auf seinen Schöpfer auch autark ist (s.o. Kap. 3.3 und 5). Als geistiges Gut hat der Wille in der Bezogenheit zu Gott uneingeschränkt sich selbst, weil Gott in noch höherem Maße als schon das einzelne Intelligible jedem ungeteilt zugänglich ist (s.o. Kap. 4.5; lib. arb. II, 79). Jaspers Interpretation stützt die These von der Kooperation zwischen Gott und Mensch beim gelingenden Wollen des Guten: Dass Augustinus die Schwachheit 334

152

des menschlichen Willens kennt (conf. VIII, 5, 11), bezeugt erstens, dass er um sein 'eigentliches Wollen im Innersten seines Herzens', den "großen Willen der Seele" ("voluntatem suam magnam", conf. VIII, 8, 20), in Unterscheidung zu anderen, aber ebenfalls zu seinem Ich gehörenden Willen (Plural!) weiß: Wenn ein Mensch Schlechtes, welches er eigentlich nicht will, trotzdem will, so ist er es, der will – dadurch, dass der Wille als Wille sich selbst gebraucht, auch dann, wenn er in sich uneins ist. Zweitens zeigt es, wie sehr der menschliche Wille seiner Meinung nach des göttlichen Beistands bedarf: "Ich aber weiß nicht, welchen Versuchungen ich zu widerstehen vermag und welchen ich es nicht vermag. Und Hoffnung besteht, weil du [sc. Gott] treu bist, 'der du uns nicht über das hinaus, was wir tragen können, versucht werden lässt, sondern mit der Versuchung auch einen Ausweg' eröffnest, 'so dass wir standhalten können' [1 Kor 10, 13]" ("Ego vero quibus temptationibus resistere valeam quibusve non valeam nescio. Et spes est, quia fidelis es, 'qui nos non sinis temptari supra quam possumus ferre, sed' facis 'cum temptatione etiam exitum, ut possimus sustinere'", conf. X, 5, 7).

153

8.

Der Begriff potestas: Die Möglichkeit des Wollens und Handelns und die koordinierende und integrierende Providenz (civ. V)

Potestas wird in der Augustinusforschung unterschiedlich übersetzt. So spricht Parma335 von den von Gott kommenden "Fähigkeiten (potestates)". Peetz (1997) übersetzt "Macht" (75f.), schreibt aber andererseits auch von der "Differenz von Wollen und Können" (76-77), also von voluntas und potestas. Der Bedeutungsrahmen von 'Macht' (im Sinn von 'Herrschaft' und 'Gewalt') und 'Können' (im Sinn von: 'Möglichkeit zu etwas haben') scheint semantisch kaum in einem deutschen Wort fassbar zu sein, zumal auch der Begriff 'Vermögen' nicht unbedingt die Begrenztheit einer potestas durch äußerliche Faktoren nahe legt, die aber in dem anliegenden Kontext mit verstanden werden muss. Die Übersetzungen 'Möglichkeit' und 'Spielraum des Wollens respektive Handelns' mögen im Folgenden nicht in jedem Fall konnotativ befriedigend sein. Dennoch scheint mir weder 'Fähigkeit' die gemeinte Sache präzise zu treffen, wenn z.B. davon die Rede ist, dass der Mensch innerhalb bestimmter Grenzen die potestas hat, Gutes zu wollen oder auch vom Guten abzuweichen und dann Böses hervorzubringen, weil solches Tun im augustinischen Sinn nicht mehr als spezifische 'Fähigkeit' zu bezeichnen wäre; noch scheint 'Macht' dann passend, wenn es um die Entscheidungsmöglichkeit des freien Willens geht. Ebenso ist es fraglich, ob Augustinus meint, dass Gott 'Macht' zum schlechten und bösen Tun verleiht, wenn doch Gott nur gut und Ursache von Gutem ist – dies würde erneut Schwierigkeiten aufwerfen, die oben bereits diskutiert worden sind.336 Ferner zeigt das göttliche Zulassen eines pervertierten Wollens – für dessen Schlechtigkeit Gott nicht verantwortlich ist – bei Augustinus eher Züge einer göttlichen Duldung, die der geschöpflichen Gutheit der in ihrem Wollen und Erkennen freien Seelen gewährt wird. Vor diesem Hintergrund könnte der Begriff vom göttlichen "Machtverteilungskalkül" (Peetz, 1997, 77) möglicherweise Assoziationen an ein stoisches Fatum wecken, von dem aus Gutes und Böses nicht – bzw. nur irrtümlich – un-

335

C. Parma (1971). Pronoia und Providentia. Der Vorsehungsbegriff Plotins und Augustins, in: Studien zur Problemgeschichte der antiken und mittelalterlichen Philosophie VI, hrsg. von J. Hirschberger. Leiden; 39. 336 Vgl. Kap. 6 und im Anhang: Exkurs 3.

154 terscheidbar sind337: Augustinus wäre missverstanden, würde ein solches "Machtverteilungskalkül" als Summe der Macht aufgefasst, die Gott gegenüber dem Guten und dem Bösen gleichermaßen aktiv und intentional gemäß dem von ihm vorherbestimmten Schicksalsplan aufteilen und dadurch auch dem Bösen 'sein Recht und Potential' verleihen würde. Denn Gott will, wie oben (Kap. 6) gesehen, das Böse nicht an sich und absolut, sondern – wenn man überhaupt davon sprechen kann, dass er es will – nur insofern, als es zu seiner ursprünglichen Gutheit zurückgeführt werden soll.338 In der Schöpfungsanlage aller Wesen gibt es laut Augustinus kein Urböses, auch nicht als Möglichkeit, die es nur noch zu aktualisieren gelte: Des Bösen – da es letztlich immer eine seelisch verschuldete Verfallsform des Guten ist – bedarf Gott überhaupt nicht,339 auch nicht für seine "göttliche Ökonomie".340 337

Augustinus wendet sich gegen die stoische Sichtweise, die die mala nicht als etwas Übles gelten lässt: "Quae mala Stoici philosophi miror qua fronte mala non esse contendant" (civ. XIX, 4). 338 "Sed dei bonitas [...] omnia deficientia sic ordinat, ut ibi sint ubi congruentissime possint esse, donec ordinatis motibus ad id recurrant unde defecerunt" (mor. II, 7, 9). 339 "[...] bona tamen sine malis esse possint, sicut Deus ipse verus et summus" (civ. XIV, 11). S. im Anhang: Exkurs 3. 340 Vgl. aber Peetz (1997: 77; meine Kursive): "Gott kann vielmehr den geschaffenen Intelligenzen volle Willensfreiheit gerade deswegen einräumen, weil er die Folgen möglichen Handelns voraussieht und daher auch die Konsequenzen bösen Handelns in seinen Machtverteilungskalkül so einberechnen kann, daß sie der göttlichen Ökonomie nicht nur nicht zu schaden, sondern sie sogar zu stützen vermögen." Das Problematische an Peetz' Formulierung und Argumentation wird erst vom Ende seines Artikels her deutlich, da er bei Augustinus "die durch die Duplizität des Willens bedingte Stärkung des Selbst [sc. im Sinn eines Willens, der der Sache nach auf das zu den passiv empfangenen Inhalten spontan zustimmende oder ablehnende arbitrium reduziert ist] mit einer Schwächung seiner Macht gekoppelt" sieht; durch die "Abkoppelung von der Macht" sei "zugleich ihre Kompatibilität mit dem göttlichen Willen und Vorauswissen gesichert" (ibd., 85): "Dieses Konzept eines Willens ohne Macht bedeutet, was seine Verlustseite betrifft, eine Minimierung menschlicher Handlungsfreiheit zugunsten von deren Einschreibung in den Wirkbereich göttlicher Gnade" (ibd.). Der Sache nach verbirgt sich also hinter Peetz' Rede von dem "Machtverteilungskalkül" und "der göttlichen Ökonomie" eine Augustinusinterpretation, gemäß der alle konsiderablen Handlungsimpulse – bzw. die Macht schlechthin – mit einem universalen, d.h. für Gutes und Böses gleichermaßen verantwortlichen "Machtverteilungskalkül" allein bei Gott bzw. seiner allwirkenden Gnade zu liegen scheinen und die menschliche Willensfreiheit – der stoischen Konzeption gleichend – aufgrund Augustins angeblichen dualistischen Willenskonzepts auf eine bloße Stellungnahme zu dem jeweils von Gott Gewirkten reduziert wird: "Der Wille ist frei, aber er hat aus sich keinen Hand-

155 Anstelle eines allem Guten und Bösen potestas zuteilenden "Machtverteilungskalküls" lässt sich das von Augustinus Gemeinte deshalb vielleicht eindeutiger fassen als ein 'Gewähren von Möglichkeit für Wollen und Handeln': Eine bestimmte (und insofern immer schon partikuläre) Freiheit der seelischen Erkenntnis- und Willensausrichtung und eines bestimmten Handlungsspielraums ist für die Gutheit der seelischen, d.h. vor allem der rational begabten Geschöpfe laut Augustinus seinskonstituierend (Kap. 4.5); dieses Wollen und Handeln wird von Gott, dem Schöpfer, durch seine Providenz geordnet. Der Sache nach sekundär muss auch das pervertierte Gute, also Böse, in diesen Kosmos integriert werden, weil bestimmte Engel und Menschen sich dieses Böse zuvor, aber ebenfalls sekundär, selbst erzeugt haben (vgl. Kap. 6). Das bedeutet aber, dass potestas als lungsspielraum, genauer: nur denjenigen Handlungsspielraum, der ihm von der göttlichen Allmacht eingeräumt wird. Daß Augustin die Handlungsfreiheit des Menschen tendenziell aufhebt, wurde daran erkennbar, daß er sie strikt auf den Bereich der Bestimmung des Willens beschränkt und dementsprechend Kategorien der Handlungsfreiheit nur für den Bereich der Willensfreiheit gebraucht" (Peetz, ibd., 85; meine Kursive). Die kursiv hervorgehobene Formulierung deutet darauf hin, dass Peetz 'Willensfreiheit' bei Augustinus im Sinn des von der äußeren Welt abgekoppelten Bewusstseins versteht – sonst wäre "nur für den Bereich der Willensfreiheit" nicht zu verstehen; durch die Gleichsetzung dieses Willenskonzepts mit 'Handlungsfreiheit' entsteht die Interpretation vom "Willen ohne Macht" (Peetz, ibd., 83ff.). Zur Problematik dieses Willensbegriffs vgl. im Anhang: Exkurs 4: Augustins angebliche Begriffstrennung... . Zumindest Augustins konsequente Herleitung des Bösen aus dem geschöpflichen – nicht aus göttlichem – Willen, lässt die Interpretation des in Form seines liberum arbitrium bloß noch Stellung beziehenden Willens zweifelhaft erscheinen (speziell auch auf der Textbasis der civ., auf die sich Peetz konzentriert). In gleicher Weise wie und im Anschluss an Peetz vgl. aber auch Tornau (2004: 236): "Da die Realisierung einer Willensentscheidung in Form einer Handlung nicht in der Macht des Menschen steht, sondern von dem Willen Gottes abhängt und da jede Handlung, insofern sie den Willen Gottes verwirklicht, gut sein muß (dies ist ja der Gedanke des 'Ordnens' von Willensentscheidungen im vorhin zitierten Text), bleibt als Gegenstand freier menschlicher Verantwortung und ethischer Beurteilung nach Gut und Böse einzig der Wille des Menschen übrig. Mit anderen Worten: Augustins Unterscheidung von Willens- und Handlungsfreiheit führt dazu, daß die Freiheit des Handelns aufgehoben ist und lediglich die Freiheit des Wollens bleibt." Das Ordnen bedeutet gleichwohl nicht, dass dem Menschen die ethisch-moralische Verantwortung in praktischer Hinsicht genommen wird und nur der innerliche Wille diese Systemstelle ausfüllt: Sonst dürfte es nach Augustinus nur willentliche, aber keine 'faktisch-geschichtlichen' Sünden geben. Es muss deshalb nicht jede Handlung in der Welt gut sein, weil Gott sie ordnet, sondern auch das Üble wird gemäß dieser Position durch Gottes Ordnen wieder zu etwas Gutem.

156 tatsächlich gewährter Spielraum nicht nur für das Wollen, sondern auch für das Handeln verstanden werden muss.341 Diese Sichtweise bestätigt Augustinus, wenn er sagt, es sei "offenbar, dass unsere Willensakte, wodurch wir richtig und falsch leben, nicht einer solchen Notwendigkeit unterliegen. Denn vieles tun wir, was, wenn wir es nicht wollten, durchaus nicht täten." "manifestum est voluntates nostras, quibus recte vel perperam vivitur, sub tali necessitate non esse. Multa enim facimus, quae si nollemus, non utique faceremus" (civ. V, 10). Auch im Spätwerk reduziert Augustinus die Willensfreiheit also nicht auf eine bloße, von den äußeren Handlungen getrennte Innerlichkeit des zustimmenden oder ablehnenden Bewusstseins, sondern die Möglichkeit zum freiwilligen Handeln muss auf bestimmte Weise bestehen, wenn es denn zum Gutsein des Menschen gehören soll, "auf rechte Weise leben zu können, sofern man will" (lib. arb. II, 4).342 Lässt sich die Interpretation, Gott sei als Geber der potestas, des Möglichkeitsraums für das Wollen und Handeln seelischer Wesen, nicht im Sinn eines universellen Machtverteilungskalküls für Gutes ebenso wie für Böses verantwortlich, angesichts des folgenden Textes tatsächlich aufrecht erhalten? "Es gibt also unsere Willen, und sie selbst tun, was immer wir wollend tun, was nicht geschehen würde, wenn wir es nicht wollten. Was immer jedoch 341

Im Unterschied zu der Interpretation von Peetz und Tornau (s. die vorhergehende Anm.). Als Belegstellen lassen sich neben civ. V, 10 anführen: "[...] quando quidem hanc dicimus potestatem, ubi voluntati adiacet facultas faciendi" (spir. et litt. 31, 53); "Sed Deus sicut naturarum bonarum optimus creator est, ita malarum voluntatum iustissimus ordinator; ut, cum illae male utuntur naturis bonis, ipse bene utatur etiam voluntatibus malis" (civ. XI, 17); "Nec dubitavit apostolus addere ac dicere: 'Ideo mittet illis Deus operationem erroris ut credant mendacio' [2. Th 2, 11]. Deus enim mittet, quia Deus diabolum facere ista permittet, iusto ipse iudicio, quamvis faciat ille iniquo malignoque consilio" (civ. XX, 19). 342 Dass Augustinus diesen Satz in der Rückschau nur im Hinblick auf den prälapsarischen Menschen verstehen will, mindert nicht die Relevanz der Aussage, insofern ein Mensch nach dem Sündenfall Gutes nur durch Gottes Gnade tun kann, denn auch dann noch bleibt er ja laut Augustinus allein verantwortlich für sein schlechtes Handeln, trägt also mindestens eine indirekte Verantwortung dafür, ob er (durch und in Gott) Gutes tut oder nicht (s. genauer Kap. 10).

157 ein jeder unwillig aufgrund des Willens der anderen Menschen erleidet – der Wille hat trotzdem seinen Geltungsbereich (valet), wenn auch nicht sein eigener Wille, so doch der Wille eines Menschen; aber die Möglichkeit ist von Gott. (Denn wenn der Wille nur wäre und nicht könnte, was er wollte, würde er durch einen mächtigeren Willen gehindert; aber so wäre der Wille dennoch nichts als Wille und nicht wäre er eines anderen, sondern dessen, der wollte, wenn er auch nicht umsetzen könnte, was er wollte.) Von daher darf der Mensch, was immer er gegen seinen Willen erleidet, es weder den Willen der Menschen noch denen der Engel noch dem irgendeines geschaffenen Geistes zuweisen, sondern eher noch dessen Willen, der den Wollenden die Möglichkeit gibt." "Sunt igitur nostrae voluntates et ipsae faciunt, quidquid volendo facimus, quod non fieret, si nollemus. Quidquid autem aliorum hominum voluntate nolens quisquis patitur, etiam sic voluntas valet, etsi non illius, tamen hominis voluntas; sed potestas Dei. (Nam si voluntas tantum esset nec posset quod vellet, potentiore voluntate impediretur; nec sic tamen voluntas nisi voluntas esset, nec alterius, sed eius esset qui vellet, etsi non posset implere quod vellet.) Unde quidquid praeter suam voluntatem patitur homo, non debet tribuere humanis vel angelicis vel cuiusquam creati spiritus voluntatibus, sed eius potius, qui dat potestatem volentibus" (civ. V, 10). Die Passage erscheint heikel, da sie Augustins Bemühen, Gott nur als Ursache von Gutem zu denken, zuwiderzulaufen droht: Was man gegen seinen Willen erleidet, solle man eher dem anlasten, der jedem einzelnen Wesen den Handlungsspielraum seines Strebens zuweist, also Gott selbst. Widersprüchlicher könnten diese Aussagen für einen unvoreingenommenen modernen Leser kaum beieinander stehen. Aus dem Kontext des bisher Gesagten scheint sich jedoch ein anderer, in sich nicht widersprüchlicher Sinn zu ergeben: Bereits bei früheren Fragen, ob der freie Wille nicht etwas Schlechtes sei, weil er doch zum Sündigen gebraucht würde (Kap. 3.4), und ob nicht die Möglichkeit zu sündigen bereits von Gott in (dem ursprünglichen Zustand) der Welt mit angelegt worden sei,343 konnte von der augustinischen Textgrundlage her erwiesen werden, dass das Schlechte und Böse weder etwas Ursprüngliches noch für das Ganze der Schöpfung etwas Notwendiges ist.344 Augustinus lässt das Böse nur dadurch "Teil der göttlichen Ord-

343

S. Anhang, Exkurs 3. Lössls (1997: 90) Erwägung gilt deshalb nicht: "Die Dynamik des Voranschreitens vom Schlechten zum Guten wird als gnadengewirkte als quasi natürlich (naturnotwendig) 344

158 nung" sein, indem es dieser Ordnung konträr ist: Gott liebt seine Schöpfungsordnung und dazu gehört, dass er das 'Gehasstwerden des Bösen' liebt.345 Wenn auch das privative Pseudo-Sein des Bösen für Gottes Schöpfungsordnung in keiner Weise notwendig ist, zerstört es sie auch nicht, weil Gott sogar dieses von ihm selbst so nicht Intendierte noch – prägnant verstanden – einzuordnen weiß in seiner gütigen Allmacht.346 Ohne dass hier ein Zwang mitverstanden werden darf, kann Gott – weil er als das Summum bonum mit sich selbst eins ist und weder uneins mit sich noch ein malus sein will – nach Augustins Verständnis gar nicht anders, als auch das Böse, das er nicht will, gut zu gebrauchen: "[...] he cannot want to do wrong, since he cannot love to do wrong – indeed he cannot love to do wrong" (Rist, 2001: 36). An dieser Stelle wird nun die obige, so widersprüchlich wirkende Passage relevant. Wenn Gott auch das Böse noch gut in die Schöpfungsordnung zu integrieren und insofern z.B. den Teufel trotz seines von ihm selbst und nicht von Gott ver-

und als solche als heilswirksam aufgefaßt, beinahe als ob das Gute das Schlechte bräuchte, um zum Besseren voranschreiten zu können." 345 ord. I, 7, 18; vera rel. 177. Derjenige, der von Gott willentlich abfällt und sich seiner Gutheit zu entziehen versucht, terminiert jedoch an Gottes Gerechtigkeit (corrept. 10, 27). 346 "Non ergo fieri aliquid nisi omnipotens fieri velit, vel sinendo ut fiat, vel ipse faciendo" (ench. 24, 95; ebenso persev. 6, 12). Augustins Allmachtsbegriff ist nicht unbestimmt, sondern nur im Kontext von Gottes Güte und Gutheit denkbar ("quoniam omnipotens et bonus est", conf. XII, 7, 7; "suam omnipotentissimam bonitatem", corrept. 10, 27). Auch für 'ein höheres Gut' ist kein Böses notwendig, weil es in sich und für sich selbst weder notwendig noch rational ist. Es wird also von Gott auch nicht für einen höheren Zweck 'in Kauf genommen', denn dieser wäre auch ohne das Böse erreichbar: Sonst würde die in sich letztlich widersprüchliche Merkwürdigkeit entstehen, dass gleichsam ein Mangel an Sein, das Privative einer Form für die höhere Realisierung von Etwas benötigt würde. Dies ist im theologischen Kontext für Augustinus nicht denkbar, weil Gott – obwohl er allmächtig ist – niemanden zum Bösen und zur Sünde zwingen kann ("Quare ne ista quidem, tametsi habeat potestatem [sc. natura Dei], coget mentem servire libidini", lib. arb. I, 75). Obwohl kein malum in sich selbst notwendig ist für Gott, kann aus etwas Bösem ein noch höheres Gut als das ursprüngliche entstehen, wobei dieses auch auf anderem Wege, ohne dass ein Übel dazwischen getreten wäre, erreichbar gewesen wäre. So führt Augustinus z.B. über die Auferstehungsleiber aus, dass sie sogar eine höhere Qualität als die paradiesischen vor dem Sündenfall haben werden (civ. XIII, 20), dennoch wäre auch ohne Sündenfall diese noch größere Seligkeit in den Geistkörpern erreicht worden (civ. XIV, 10; vgl. Evans [1982: 123]). Auch das Böse kann Gottes 'höheren Plan' nicht durchkreuzen: "God judged it better to bring good out of evil than to wipe out evil and his flawed creation with it" (Evans, 1982: 167).

159 schuldeten Böse-Seins gut zu gebrauchen vermag,347 dann gilt für Augustinus, dass Gott den dem Bösen zugestandenen Spielraum des Wollens und Handelns so zum Guten gebraucht, dass erstens das 'böse Wollen und Handeln' in sich von Gottes Gutheit nur gehasst werden kann, aber zu etwas Gutem zurückgeführt wird und dass zweitens der Effekt des Übels weder zur Ungerechtigkeit noch zum Schaden gereicht, sondern dem Betroffenen zum Guten dient – obwohl Augustinus selbst zugibt, dass dieses Gute im Einzelnen nicht zu ergründen ist.348 347

"[...], ut in eo ipso quod eum [sc. diabolum] finxit, licet per suam bonitatem bonum, iam per suam praescientiam praeparasse intellegatur quo modo illo uteretur et malo" (civ. XI, 17); "Neque enim Deus ullum, non dico angelorum, sed vel hominum crearet, quem malum futurum esse praescisset, nisi pariter nosset quibus eos bonorum usibus commodaret" (civ. XI, 18). Vgl. auch bei John Milton den Hymnus der Engel: "Who seeks / To lessen thee [sc. o God], against his purpose serves / To manifest the more thy might: his evil / Thou usest, and from thence creat'st more good" (PL VII, 613-6). S. ferner zum guten Gebrauch des Schlechten bei Augustinus mus. VI, 11, 30; lib. arb. III, 43-44; praed. sanct. 16, 33; civ. XVI, 2; XVIII, 49 und 51; XIX, 9; XX, 19; XXI, 13; XXII, 1. 348 An dieser Stelle ist die Grenze philosophischer Theologie und ihrer Rede erreicht; sie beginnt zu 'stammeln'. Damit ist von Augustinus her jedoch nicht ihre Vergeblichkeit erwiesen, denn es muss unterschieden werden zwischen einer rational begründeten Theologie einerseits, gemäß der es unsinnig ist, das Gute – Gott – zu bestreiten, weil das Gute zwar ohne das Böse sein kann, das Böse aber immer schon das Gute ontologisch und sachlich früher voraussetzen muss ("Sola ergo bona alicubi esse possunt, sola mala nusquam", civ. XII, 3), und einer Anwendung dieser Theologie andererseits auf einzelne Leiderfahrungen im Sinn der prätentiösen Bestrebung, von menschlichen Leiderfahrungen auf eine konkrete, ihnen vorausliegende Schuld schließen zu wollen. Letzteres ist schon vom neutestamentlichen Befund her abzulehnen (Jh 9, 3; Rö 14, 10; 1 Kor 4, 3-5) und wäre ferner eine falsche und bloß scheinbare Rationalität: Erstens würde es sich sachlich um eine erkenntnistheoretische Überforderung und Überhöhung des Einzelnen handeln (vgl. T. Fuhrer [(1999). "Zum erkenntnistheoretischen Hintergrund von Augustins Glaubensbegriff", in: Zur Rezeption der hellenistischen Philosophie in der Spätantike, 191-21; 195] zu divers. quaest. 48: "alia sunt quae semper creduntur et numquam intelleguntur: sicut est omnis historia, temporalia et humana gesta percurrens"; vgl. ferner Pollmann [1999: 428,1] zur Relevanz der "historical relativity" sowie Rist [1994: 73] und Brachtendorf [2005: 114, 277]), als ob eine Erfahrung von Leid als geschichtliches Ereignis in sich so einheitlich und total erkennbar wäre, dass ihre Ursache(n) eindeutig erschlossen werden könnte(n) und dürfte(n). Viel wichtiger aber ist, dass zweitens die Anmaßung, aus dem immer schon partikulären menschlichen Blickwinkel eine bestimmte Ursache für eine konkrete Leiderfahrung ermitteln zu wollen, vor allem dem angemessenen Mitleid allen Menschen gegenüber zuwiderlaufen würde (deshalb ist im Hier und Jetzt gemäß Augustinus auch der Ort der Fürbitte). Bei der quälenden Frage, was denn an dem Tod unschuldiger Kinder noch das Gute sein könne, spricht Augustinus daher auch nur allgemein von

160 So problematisch diese Argumentation aus moderner Sicht und besonders vor dem Hintergrund der Historie erscheint, steht sie doch von ihrer Systematik her im Einklang mit den Eingangsworten aus der Frühschrift lib. arb. I: Dort hatte Augustinus Evodius ja sogleich erklärt, Gott sei keinesfalls die Quelle des Bösen, aber Ursache der poena emendatoria (Kap. 3.1), sofern diese auf wiederum sekundäre Weise, d.h. durch vorhergehende Sünde, notwendig werde (Kap. 3.4). Bestätigt wird diese Interpretation ferner dadurch, dass Augustinus z.B. davon spricht, dass der Teufel als erster, der von Gottes Ordnung abgefallen ist, zwar den Menschen verführt hat, letzterer aber dennoch nicht schuldlos fällt, weil er durch eigene, menschliche Schuld bereits begonnen hatte, sich in Abwendung von Gott selbst zu gefallen (superbia), und insofern schon selbst in gewisser Hinsicht gefallen und Ursache seines eigenen Übels geworden war (lib. arb. I, 3), so dass er von dem Teufel verführt werden konnte349 (denn diese Möglichkeit ist an sich nicht in der Schöpfung, also auch nicht in dem Geschaffensein des Menschen angelegt350). Nimmt man nun beides, den Engel- und den Menschenfall, zusammen, so ereignet sich jeweils eine von Gott ungewollte geschöpfliche Abwendung von ihm. Gleichwohl kann man hinter der Zuordnung von Engel- und Menschenfall – der Engel fällt, wird zum Verführer und verführt deshalb den Menschen, der sich aber selbst schon für diese Verführung empfänglich zeigt – eine gewisse gerechte Übereinstimmung erblicken, ohne dass dadurch die Ereignisse des Sündenfalls an sich gut wären oder der zweite Fall (der Menschen) nötig wäre, um für den

einzelnen denkbaren Möglichkeiten, die nicht endgültig ergründet werden können ("[...] quis ergo novit quid ipsis parvulis in secreto iudiciorum suorum bonae conpensationis reservet deus, quoniam, quamquam nihil recte fecerint, tamen nec peccantes aliquid ista perpessi sunt?", lib. arb. III, 231; vgl. auch: G. Bonner [32002]. St. Augustine of Hippo. Norwich; 10). Ebenso brisant ist Augustins Erörterung der Frage, warum Gott zulässt, dass keusche Frauen vergewaltigt werden (civ. I, 28). 349 "Manifesto ergo apertoque peccato, ubi factum est quod Deus fieri prohibuerat, diabolus hominem non cepisset, nisi iam ille sibi ipsi placere coepisset" (civ. XIV, 13); "Porro natura quae non vitiatur caret vitio, cuius autem vitio alia natura corrumpitur habet utique vitium. Prior ergo vitiosa est et prior corrumpitur vitio suo, cuius vitio alia quoque corrumpi potest. […] Si enim natura quae accedit cum vitio suo ad aliam corrumpendam non in ea corruptibile aliquid invenit, non eam corrumpit; si autem invenit, adiuncto eius vitio corruptionem eius operatur" (lib. arb. III, 134-5). 350 S. Anhang: Exkurs 3.

161 ersten 'Verwendung zu finden'.351 Gemeint ist gemäß der hier vertretenen Augustinusinterpretation, dass Gott in seiner Providenz die Freiheit seiner Geschöpfe 351

Der Sündenfall ist – wie alles Übel – in Augustins Philosophie tatsächlich kein für den 'Lauf der Welt' notwendig-schicksalhaftes Ereignis (corrept. 10,28-11,32); vgl. Brachtendorf (2006: 23). Die Frage 'Was wäre, wenn es keinen Sündenfall des Menschen gegeben hätte?' beantwortet Augustinus so, dass die paradiesische Glückseligkeit des Menschen angedauert hätte, bis die Zahl der (in Gottes überzeitlichem Wissen) vorherbestimmten Heiligen erfüllt gewesen wäre; dann wäre allen Heiligen eine größere Glückseligkeit gegeben worden, die auch den glückseligen Engeln geschenkt ist. So hätte kein Mensch gesündigt und den Tod erfahren, sondern es wäre auf diesem Weg der Zustand erreicht worden, der nun nach der Auferstehung der Leiber in Unverweslichkeit sein wird (civ. XIV, 10; ebenso retr. I, 12, 8; vgl. ferner: J. Wetzel [2001]. "Predestination, Pelagianism, and foreknowledge", in: The Cambridge Companion to Augustine, 49-58; 54) bzw. der noch nicht weise, aber als rationales Wesen geschaffene Mensch hätte die Weisheit erlangt, wie der frühe Augustinus sagt (lib. arb. III, 244-5). Zwar wäre es ein höheres Gut, gar nicht erst sündigen und elend sein zu können – wie es den Menschen, wären sie gehorsam gewesen, nach der Vollendung der Heiligenzahl, geschenkt worden wäre –, aber ein "nicht Geringes" ist auch der Erschaffungszustand des Menschen im Paradies, dass er, wenn er wollte, das Elend-Sein hätte vermeiden können ("[...] magnum est ita beatam esse naturam, ut misera esse non possit. Quod etsi maius est, nec illud parvum est, in ea beatitudine conditam hominis esse naturam, ut si vellet, posset esse non misera", c. Iul. imp. V, 60; s. ferner retr. I, 12, 4). Gottes Plan wird in diesem Sinn also nicht von den freien Geschöpfen durchkreuzt ("Neque enim homo peccato suo divinum potuit perturbare consilium, quasi Deum quod statuerat mutare conpulerit; cum Deus praesciendo utrumque praevenerit, id est, et homo, quem bonum ipse creavit, quam malus esset futurus, et quid boni etiam sic de illo esset ipse facturus", civ. XIV, 11), sondern lediglich modifiziert, so dass umgekehrt den Geschöpfen eine tatsächliche und nicht bloß scheinbare Freiheit zukommt: Ob der Sündenfall passiert oder nicht, macht mit den ihm folgenden mala einen erheblichen Unterschied, den sie selbst zu verantworten haben ("quod cum fit, infideles quidem contra voluntatem dei faciunt, cum eius evangelio non credunt, nec ideo tamen eam vincunt, verum se ipsos fraudant magno et summo bono malisque poenalibus implicant experturi in suppliciis potestatem eius, cuius in donis misericordiam contempserunt. Ita voluntas dei semper invicta est", spir. et litt. 33, 58; "Sic ergo factus est homo rectus, ut et manere in ea rectitudine posset non sine adiutorio divino, et suo fieri perversus arbitrio. Utrumlibet horum elegisset, Dei voluntas fieret, aut etiam ab illo, aut certe de illo. Proinde quia suam maluit facere quam Dei, de illo facta est voluntas Dei [...]", ench. 28, 107; "Etiam de his enim qui faciunt quae non vult, facit ipse quae vult", corrept. 14, 43). Dies bedeutet aber m.E. nicht, dass die zuerst erschaffene Welt nur die "beste mögliche Welt" war so, wie es eben "zu jener Zeit möglich" war, dass aber die 'eigentlich' beste Welt erst nach (bzw. mit) dem Sündenfall von Gott erschaffen wurde (so aber Rist [1994: 278; meine Unterstreichung]: "Why did God create what seems to be a less than perfect Adam? [...] Augustine's answer seems to be that God originally created the best of all

162 aufeinander zuordnet (insofern ist die 'doppelte Erzählung' des Sündenfalls theologisch sinnvoll) – auch in dem Moment, wo diese sich der Schöpfungsordnung entgegenstellen wollen: Dies gelingt ihnen jedoch nicht, weil letztlich kein Seiendes zum Quell des Seins in absoluter, sondern immer nur in partikulärer Opposition stehen kann (civ. XII, 2) und das Übel (obwohl es seinsfeindlich ist) gerade dadurch, dass es wegen seiner Abwendung vom Quell des Seins von Gott "gehasst" und verwandelt wird, der Schöpfungsordnung nicht zu entrinnen vermag. In diesem Sinn besteht für die vom Teufel verführten Menschen die göttliche Verwandlung des Bösen in der Erlösung von den Folgen des Sündenfalls durch Christus (lib. arb. III, 110-112), auch wenn der Teufel selbst, weil er "von Anfang an gesündigt hat und nicht in der Wahrheit bleiben wollte" (Kap. 6), in Augustins Theologie keine Erlösung finden kann.352 In civ. V, 10 kann Augustinus daher sagen, dass derjenige, der etwas gegen seinen Willen erleidet, es lieber Gott zuweisen soll als dem Geschöpf, das ihm dieses Leid zufügen will und auch tatsächlich zufügt – in dem Sinn, dass Gott nicht ungerechterweise jemanden leiden lässt, dem dies vielmehr nur zu seinem Gut und gerechterweise widerfahren kann,353 wobei nachdrücklich zu betonen ist, dass Augustinus hier theologisch, 'von oben her' argumentiert! Der Mensch dagegen kann aus seiner Erkenntnisperspektive 'von unten her' solches Leid selbstverständlich nur als Übel empfinden – selbst wenn es ihn als eine poena emendatoria trifft –, ohne dass diese Empfindung verkehrt oder nur scheinbar richtig wäre: Im Unterschied zu der stoischen Position, dass die mala 'in Wirklichkeit' possible worlds at that time, but that Adam's fall gave him the opportunity to create something even better – thus characteristically bringing good out of evil. That solution carries with it the implication that the 'new' world – the world after the fall – is superior, indeed again the best possible."): Vielmehr hatte Gott gemäß Augustinus tatsächlich das Paradies als 'optimale Welt' erschaffen inklusive der Möglichkeit, dass der Mensch auch ohne Sündenfall die höhere felicitas erreicht hätte. 352 Vgl. in diesem Zusammenhang die Zurückweisung von Origines in civ. XXI, 17 und 23; zu der mit Augustins identischen Erlösungslehre bei Milton (Paradise Lost, III, 130-2) s. Epilog, Kap. 1. Wichtig ist hier zu beachten, dass der Teufel gemäß dieser Lehre konsequent nicht in der Wahrheit sein will, insofern aber auch nicht erlöst werden kann. Im Zusammenhang mit Milton interpretiert Lewis (1960: 105) folgendermaßen: "They [sc. Satan and his followers] know they will not repent. That door ouf of Hell is firmly locked, by the devils themselves, on the inside; whether it is also locked on the outside need not, therefore, be considered." 353 Vgl.: "Iam nunc considerandum est, hanc ipsam miseriam generis humani, in qua laudatur iustitia punientis, qualibus et quam multis impleverit bonis eiusdem bonitatis cuncta quae creavit administrantis" (civ. XXII, 24).

163 eben doch bona seien, weil göttlicherseits so und nicht anders vorherbestimmt, ist dieses Empfinden des Leids als etwas Vermeidenswerten und Unangenehmen gemäß Augustinus sogar genau 'richtig' und einzig angemessen.354 Es ist falsch, Augustinus zu unterstellen, dass die "Faktizität des Unglücks [...] in dieser dissonanzlosen Harmonie keinen Platz mehr" habe (Kreuzer, 2005: 22). Derjenige, der eine Tat ausführt, die einem anderen (wenn auch gerechterweise) zur konkreten leidvollen Affektion wird, kann laut Augustinus nichtsdestotrotz mit dieser Tat eine tadelnswerte Sünde begehen, ohne dass Gott, der Ursache und Wirkung in gerechter Weise zusammenordnet, selbst in irgendeiner Weise sündigen würde.355 An dieser Stelle der Argumentation wird das Widerspruchsaxiom mit aller Schärfe angewendet: Was in der einen Hinsicht für die Person x eine gerechte Strafe ist, braucht deshalb als Tat von y noch lange nicht selbst etwas Gerechtes zu sein, weil dies in einer von x zu unterscheidenden und kausal unabhängigen Hinsicht zu beurteilen ist. Das Wirken der Providenz verhindert nach Augustinus, dass das von sich selbst her Ungerechte auch in seinem Effekt noch ungerecht ist und bringt so das Schlechte zurück zum Guten; nur insofern ist Gott in seiner 'Allwirksamkeit' auch an dem Bösen beteiligt, indem er es bereits wieder zu etwas Gutem macht.356 Das Privative, auf das jedes Übel zurückgeht, darf aber laut Augustinus bzw. allgemein gemäß neuplatonischer Theologie nicht Gott angelastet werden357 – im Unterschied zur Theologie eines 354

"quae utique supplicia patientibus mala sunt" (lib. arb. I, 1). Augustinus bagatellisiert weder das Böse noch das Leiden, vgl. Williams (2002: 111). 355 "Nam etsi quisque mali aliquid alterius inprobitate vel errore patiatur, peccat quidem homo, qui vel ignorantia vel iniustitia cuiquam mali aliquid facit; sed non peccat Deus, qui iusto, quamvis occulto, iudicio fieri sinit" (civ. XXI, 13); "Nam invenimus aliqua peccata etiam poenas esse aliorum peccatorum" (gr. et lib. arb. 20, 41). Für den schlecht Handelnden ist der eigene schlechte Wille schon selbst eine Strafe: "unde intellegimus malos accipere potestatem ad damnationem malae voluntatis suae" (spir. et litt. 31, 54). 356 "Itaque etiam animas rationales, in quibus potentissimum est liberum arbitrium, deficientes a se in inferioribus creaturae gradibus ordinat, ubi esse tales decet. [...] Ex quo illud optime dictum est, quod insectari maxime soletis: 'Ego facio bona et creo mala' (Jes 45, 7). Creare namque dicitur condere et ordinare. Itaque in plerisque exemplaribus sic scriptum est: 'Ego facio bona et condo mala.' Facere enim est, omnino quod non erat; condere autem, ordinare quod utcumque iam erat, ut melius magisque sit. Ea namque condit deus, id est ordinat, cum dicit: 'condo mala' quae deficiunt, id est ad non esse tendunt, non ea quae ad id quo tendunt, pervenerunt. Dictum est enim: nihil per divinam providentiam ad id ut non sit pervenire permittitur" (mor. II, 7, 9). 357 Vgl. Proklos: "[sc. Platon nennt den König von allem] 'die Ursache von allem Guten' und nicht einfach 'von allem', nämlich nicht des Schlechten und Bösen; sondern [die Pro-

164 durchdeterminierten Fatums nach stoischem Verständnis oder einer 'Alleinwirksamkeit Gottes'. In Augustins Sichtweise wird das Übel in seiner Schlechtigkeit somit nicht bestritten und zu etwas an sich in Wirklichkeit doch Gutem und von Gott so Gewolltem erklärt. Der Glaube, dass die göttliche Vorsehung das Universum gerecht verwaltet,358 hat seine philosophische Begründung für Augustinus darin, dass 'Gerechtigkeit' eine der höchsten virtutes ist, die geistig einsehbar und Teil der "intelligiblen Schätze der göttlichen Sapientia" (civ. XI, 10) sind, deshalb aber selbst qua 'Gerechtigkeit' nicht missbraucht werden kann,359 sondern zu Gottes Sein, also zu dem Guten in Person, gehört. Anders gesagt: Da der Quell des Seins und Lebens für Augustinus der "Quell des Guten" ist360 und das Gute als erstes Prinzip konstituierend für alles Seiende erwiesen werden konnte (Kap. 4.5 und 5), kann der Kosmos von seinem Seinsgrund her nicht auf Schlechtigkeit, also auch nicht auf Ungerechtigkeit angelegt sein, sofern denn Gerechtigkeit eine virtus, eine Gutheit der göttlichen Weisheit ist. Augustins Wort, man solle, was man gegen seinen Willen erleidet, eher dem anlasten, der den willensbegabten Wesen ihren Willens- und Handlungsspielraum zumisst, kann also entgegen dem zunächst so naheliegenden Verständnis nicht bedeuten, dass Gott in seinem universalen

videnz] ist gerade für dieses nicht ursächlich, wo sie doch Ursache alles Seienden ist: denn auch von diesem quasi-Seienden [sc. ist] ein jedes, insofern es gut ist. [...] Deshalb wirken sogar die Götter Schlechtes, aber als Quasi-Gutes [sc. denn ohne bestimmte Partizipation an Gutem, das von den Göttern her ist, ist nichts]" ("similiter bonorum omnium causam illud appellare et non semel omnium: neque enim malorum; sed et horum incausativum, et omnis entis causam: et enim horum tanquam entium et qua bonum unumquodque. [...] Quare et faciunt dii malum, sed tanquam bonum", De mal. V, 61; 109,17 – 110,24). Vgl. Augustinus: "[…] quomodo concluserit Deus omnes in infidelitate, ut omnium misereatur' (Rö 11, 32), quasi faciens mala ut venirent bona" (gr. et lib. arb. 22, 44); "Neque enim damnando aut totum abstulit quod dederat, alioquin nec esset omnino; aut eam [sc. naturam hominis] removit a sua potestate, etiam cum diabolo poenaliter subdidit, cum nec ipsum diabolum a suo alienarit imperio; quando quidem, ut ipsius quoque diaboli natura subsistat, ille facit qui summe est et facit esse quidquid aliquo modo est" (civ. XXII, 24). 358 "[…] nullo modo [sc. Deus] est credendus regna hominum eorumque dominationes et servitutes a suae providentiae legibus alienas esse voluisse" (civ. V, 11). Vgl. zum Gedanken der Providenz in der Welt ebenso lib. arb. I, 2; civ. X, 15; XVII, 23; XVIII, 2. 359 "[…] quod non debuerit ad peccandum posse converti, sicut ipsa iustitia […]" (lib. arb. II, 8). 360 "quae diximus bona […] de bonitatis eius quodam veluti fonte manare" (civ. XXII, 24). Zum fons vitae s. ferner vera rel. 58; conf. XIII, 4, 5; civ. XIII, 24.

165 Machtverteilungskalkül eben doch wie ein stoisches Fatum für Gutes und Böses in gleicher, undifferenzierter Weise verantwortlich sei. Wie in dem Exkurs zu Augustins Willensbegriff361 wahrscheinlich gemacht wird, dass Augustinus keinen bewusstseinsphilosophischen Willensbegriff im Sinn eines inneren 'Zustimmungsorgans' gegenüber der davon radikal geschiedenen äußeren Welt annimmt, zeigt sich hier ebenso wenig ein stoisierender Dualismus zwischen voluntas und potestas: Für Augustinus ist weder die voluntas eine auf die 'Möglichkeit der freien innerlichen Stellungnahme zum äußerlichen Weltgeschehen' reduzierte Willensform ohne eigene Handlungsfreiheit, noch versteht Augustinus unter potestas die alles wirkende Macht Gottes. Vielmehr ist voluntas echte Willensfreiheit in dem Sinn, dass eine (rationale) Seele sich selbst aktiv wollend auf Bestimmtes orientieren kann und nicht bloß das ihr Gegebene äußerlich passiv kraft des inneren Zustimmungsorgans innerlich annehmen oder ablehnen muss; sowohl dieses Wollen als auch seine praktische Umsetzung erfahren einen auf bestimmte Weise begrenzten Möglichkeitsraum, der jedoch eine echte potestas des Wollens und Handelns ist. Im Unterschied zu Peetz' (1997: 85) Interpretation362 sollte für Augustinus aus der Tatsache, dass Gott, der Schöpfer, ebenso als Geber sowohl des Willens wie auch des Spielraums des Wollens und Handelns gedacht werden muss, nicht gefolgert werden, dass die Ereignisse in der Welt allein der allwirkenden Gnade anzulasten wären und es keine echte Handlungsfreiheit, keine potestas, sondern nur voluntas gäbe. Für Augustinus gehören voluntas und potestas – Wille und Möglichkeit zu wollen und in einem bestimmten Spielraum entsprechend zu handeln – zusammen und können nicht voneinander separiert werden, wie in vergleichbarer Weise Boethius formuliert.363 Dass Gott den Seelen ihre potestas zuteilt, bedeutet nicht, dass er sie ihnen nimmt und für sich behält, sondern ihnen einen realen Freiraum des Wollens und Handelns einräumt, der nicht einer äuße361

S. Anhang: Exkurs 4. S.o. Anm. 340. 363 "Duo sunt, quibus omnis humanorum actuum constat effectus, voluntas scilicet ac potestas: quorum si alterutrum desit, nihil est quod explicari queat. Deficiente etenim voluntate ne aggreditur quidem quisque quod non vult, at si potestas absit voluntas frustra sit" (Boethius, cons. IV, 2p, 5-6). Vgl. ferner Parma (1971: 42): "Die absolute Freiheit [...] führt zur Ziellosigkeit und damit Abhängigkeit von dem, was gerade kommt. Die absolut monistische Bestimmtheit durch das Schicksal führt andererseits zur Sinnlosigkeit von Determination überhaupt. Was sie determinierend 'in seine Schranken verweisen' soll, muß doch vom Determinierenden verschieden sein. Ohne ein von ihr Verschiedenes ist auch Determination selbst nicht als solche notwendig oder erkennbar." 362

166 ren Notwendigkeit unterliegt.364 Diese potestas ist wie die voluntas und ihr liberum arbitrium an sich etwas Gutes, weil von dem Summum bonum Geschaffenes, und ist nicht ohne die Bezogenheit zu Gott ("Er selbst ist unsere potestas"365); insofern ist sie auch zu Gutem intendiert und unterstützt die guten Willen: "Der Geist des Lebens also, der alles lebendig macht und der Schöpfer ist jedes Körpers und jedes geschaffenen Geistes, ist Gott selbst, der absolut ungeschaffene Geist. In seinem Willen ist die größte potestas, die die guten Willen der geschaffenen Geister unterstützt, die üblen richtet, alle in die Weltordnung integriert (ordinat) und bestimmten [sc. Geistern] potestates gewährt, bestimmten nicht gewährt. Wie er nämlich der Schöpfer aller Naturen ist, so ist er der Geber aller potestates, nicht der Willen. Die schlechten Willen sind freilich nicht von ihm, weil sie der Natur widerstreben, die von ihm ist." "Spiritus ergo vitae, qui vivificat omnia creatorque est omnis corporis et omnis creati spiritus, ipse est Deus, spiritus utique non creatus. In eius voluntate summa potestas est, quae creatorum spirituum bonas voluntates adiuvat, malas iudicat, omnes ordinat et quibusdam tribuit potestates, quibusdam non tribuit. Sicut enim omnium naturarum creator est, ita omnium potestatum dator, non voluntatum. Malae quippe voluntates ab illo non sunt, quoniam contra naturam sunt, quae ab illo est" (civ. V, 9). Mit der Akzentuierung im letzten Satz des Zitats, kein schlechter Wille könne von Gott her sein, zeigt Augustinus noch einmal, dass der geschöpfliche Wille eine reale und eigenverantwortliche Instanz ist. Dies versteht sich aber im Grunde von selbst. Wieso also dieser merkwürdige Zusatz? Gemäß der hier vorgeschlagenen Interpretation lässt Augustinus einen Hinweis erkennen, dass alles Gute – somit auch das gute Wollen von Gutem – auf den Schöpfer zurückgeht und in Beziehung zu ihm steht, so dass man bei Augustinus von einem Kooperationsgedanken zwischen Seele und Gott im Wollen des Guten sprechen darf, 364

Gegen den stoischen Fatumsgedanken argumentiert Augustinus in civ. V, 10. In diesem Zusammenhang ist ferner erwähnenswert, dass auch Augustins Annahme der Erbsünde für ihn keinen Schicksalszwang bedeutet (lib. arb. III, 180ff.): "Quamquam enim in ignorantia et difficultate nata sit, non tamen ad permanendum in eo quod nata est aliqua necessitate conprimitur" (lib. arb. III, 192). 365 Vgl. die Stelle vom Anfang des zweiten Buchs der Soliloquia: "Augustinus: 'Wir wollen glauben, dass Gott uns beistehen wird.' – Ratio: 'Wir wollen es gewiss glauben, wenn auch dies in unserer Möglichkeit steht.' – A: 'Unsere Möglichkeit ist er selbst'" ("A: 'Credamus Deum adfuturum.' – Ratio: 'Credamus sane, si vel hoc in potestate est.' – A: 'Potestas nostra ipse est'", sol. II, 1, 1).

167 ohne dass damit die Eigenverantwortung dafür, ob sie Gutes oder Schlechtes bzw. auf gute oder schlechte Weise etwas Bestimmtes will, aufgehoben wäre, wie noch genauer zu betrachten sein wird (s. Kap. 11).

9.

Allwissen statt Vorherwissen als Grundlage für Augustins Begriff der Prädestination? oder: Weshalb das überzeitliche Bestimmtsein in Gottes Erkennen keinen geschichtlichen Determinismus erzeugt (lib. arb. III; civ. XI; praed. sanct. 10)

Bisher konnte dargelegt werden, dass Gottes Vorherwissen gemäß Augustinus nicht menschliche Handlungen schicksalhaft prädeterminiert, sondern er selbst der Geber eines echten Möglichkeitsraums für das geschöpfliche Wollen und Handeln ist, so dass freies Wollen und Handeln mit der Annahme des göttlichen Vorherwissens für Augustinus nicht im Widerspruch steht.366 Während Augustinus bisher vor allem 'von unten', von der menschlichen Seite aus gegen eine Gleichsetzung von 'Vorherwissen' mit 'Vorbestimmung' argumentiert hat, stellt sich nunmehr aus theologischer Perspektive, 'von oben her' gedacht, die Frage, wie ein Vorauswissen von noch nicht Geschehenem möglich ist. Für Augustinus ist das göttliche Vorherwissen zu Recht ein Vorher-Wissen, weil es sich nicht nur auf von Gott bestimmtes, sondern speziell auch auf menschliches Wollen, Denken und Handeln bezieht. Weder ein Vorherwissen, das sich nur auf das Wollen des Wissenden reflexiv beschränken würde, verdient den Terminus der praescientia bzw. praevidentia; noch könnte einem andere Wesen in ihrem Wollen und Handeln vorherbestimmenden Wissen angemessenerweise die Bezeichnung praescientia zukommen, weil es sich so nicht mehr um eine scientia (Wissen), sondern um eine 'Bestimmung von etwas aufgrund des 366

Obwohl Peetz (1997: 83) den überzeitlichen Erkenntnismodus von Gottes Vorherwissen beschreibt, schließt er seinen Artikel gemäß seiner These, es gebe für den menschlichen Willen keinen echten Handlungsspielraum, mit der Interpretation ab, die menschliche Willensfreiheit sei "um den Preis ihrer Abkoppelung von der Macht erkauft, durch welche zugleich ihre Kompatibilität mit dem göttlichen Willen und Vorauswissen gesichert" (Peetz, ibd., 85) werde. Weder ist für Augustinus jedoch der geschöpfliche Handlungsspielraum nur scheinbarer Natur, noch ist die Möglichkeit des göttlichen Vorherwissens von einer solchen angeblichen Einschränkung des geschöpflichen Willens und Handelns abhängig, da Gott ja nicht nur die faktischen Ereignisse, sondern auch die subjektiven Willensregungen und das Strebeverhalten der Menschen und Engel im Voraus erkennt.

168 Wissens', also um eine praedeterminatio handeln würde. Wie aber Augustinus von seinen erkenntnistheoretischen Überlegungen her allgemein gezeigt hat (Kap. 4.3), geben zwar sowohl das sinnlich Wahrnehmende, das ontologisch höher steht als das von ihm Wahrgenommene,367 als auch das rationalintellektive Denken, dem eine ontologisch geringere Position als dem von ihm erkannten Intelligiblen zukommt368 (4.4.), der erreichten (bzw. erreichbaren) Erkenntnis auf gewisse Weise ein Maß, d.h. eine Begrenzung, determinieren aber nicht subjektivistisch-konstruktivistisch den Sachgehalt des Erkannten total369: Menschliche Erkenntnis ist nach Augustinus weder nur objektivistisch (vom Erkannten her) noch rein subjektivistisch (vom Erkennenden her) determiniert, sondern ist die gemäß einer bestimmten Einheitlichkeit vollzogene Beziehung zwischen einem bestimmten Erkennbaren und einem bestimmten Erkennenden. Der innere Zusammenhang zwischen Erkenntnistheorie und Theologie erweist sich – wie schon in lib. arb. II bei Augustins Gottesbeweis – an dieser Stelle erneut: Praescientia kann nicht als praedeterminatio verstanden werden, ohne dass der augustinische Erkenntnis- bzw. Wissensbegriff (scientia) aufgegeben würde. Wenn Gott unseren freien Willen vorherweiß, so Augustinus, dann ist vielmehr im Gegenteil die Freiheit des Willens umso sicherer: "Der Wille wird also sein, weil [sc. Gott] den Willen vorherweiß. Nicht aber könnte der Wille sein, wenn er nicht innerhalb seiner [sc. eigenen] Möglichkeit (potestas) sein wird. Also weiß [sc. Gott] auch die Möglichkeit voraus. Nicht also wird mir durch sein Vorherwissen die Möglichkeit [sc. des freien Wollens] genommen, die mir deshalb umso gewisser zur Verfügung stehen

367

"omne sentiens melius esse quam id quod ab eo sentitur" (lib. arb. II, 46). "[...] homo intellegit sapientiam et non est melior quam ipsa sapientia" (lib. arb. II, 47). "Itaque cum se anima sentiat nec corporum speciem motumque iudicare secundum se ipsam, simul oportet agnoscat praestare suam naturam ei naturae de qua iudicat, praestare autem sibi eam naturam, secundum quam iudicat et de qua iudicare nullo modo potest" (vera rel. 158). 369 Vgl. aber z.B. P. Watzlawick ([2001]. Anleitung zum Unglücklichsein / Vom Schlechten des Guten oder Hekates Lösungen. München, Zürich): "Kein >>Das