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German Pages 821 [822] Year 2014
Daniela Demko PD Dr. iur. LL.M.Eur.
«Menschenrecht auf Verteidigung» und Fairness des Strafverfahrens auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene Dargestellt anhand eines Strafrechtsvergleichs zum Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen und unter Zugrundelegung von Erkenntnissen aus Philosophie und Psychologie
Duncker & Humblot • Berlin
y
Stämpfli Verlag
Daniela Demko «Menschenrecht auf Verteidigung» und Fairness des Strafverfahrens auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene
Daniela Demko PD Dr. iur., LL.M.Eur.
«Menschenrecht auf Verteidigung» und Fairness des Strafverfahrens auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene Dargestellt anhand eines Strafrechtsvergleichs zum Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen und unter Zugrundelegung von Erkenntnissen aus Philosophie und Psychologie
Duncker & Humblot • Berlin
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Stämpfli Verlag
Habilitationsschrift der Universität Zürich.
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Gesamtherstellung: Stämpfli Publikationen AG, Bern Printed in Switzerland © Stämpfli Verlag AG Bern · 2014 Dieses Werk ist in unserem Buchshop unter www.staempfliverlag.com erhältlich. ISBN Print 978-3-7272-3119-3 (Stämpfli) ISBN Judocu 978-3-0354-1118-8 (Stämpfli) ISBN Print 978-3-428-14392-4 (Duncker & Humblot) ISBN E-Book 978-3-428-54392-2 (Duncker & Humblot) ISBN Print & E-Book 978-3-428-84392-3 (Duncker & Humblot)
Vorwort Die vorliegende Arbeit ist im Frühjahrssemester 2012 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich als Habilitationsschrift angenommen worden. Das Manuskript war im Oktober 2011 abgeschlossen. Rechtsprechung und Literatur sind bis zu diesem Zeitpunkt berücksichtigt, in Einzelfällen darüber hinaus. Einen sehr herzlichen Dank möchte ich an erster Stelle Herrn Prof. Dr. iur. Andreas Donatsch, Universität Zürich, widmen. Er hat die vorliegende Untersuchung angeregt, über Jahre mit grosser Anteilnahme, Geduld und wertvollen Ratschlägen begleitet, sie als Erstgutachter vor der Fakultät vertreten und war stets für meine Fragen und Anliegen – sowohl in Bezug auf die Habilitation als auch darüber hinaus – da. Danke, lieber Andreas, für diese grossartige Begleitung! Danken möchte ich zudem Herrn Prof. Dr. iur. Franz Riklin für die Erstellung des Zweitgutachtens und Herrn Prof. Dr. iur. Marcel Senn für die Erstellung der die Rechtsphilosophie betreffenden Stellungnahme. Ein grosser Dank gilt meinen Luzerner Strafrechtskollegen, Herrn Prof. Dr. iur. Jürg-Beat Ackermann, Herrn Prof. Dr. iur. Felix Bommer und Herrn Prof. Dr. iur. Andreas Eicker, welche mir nicht nur ein sehr gutes wissenschaftliches Arbeitsumfeld gegeben, sondern mich auch darüber hinausgehend in vielfältiger Weise gefördert haben und als wertvolle Gesprächspartner stets unterstützend an meiner Seite standen. Ein herzliches Dankeschön, lieber Jürg, Felix und Andreas, für die schöne und bereichernde Zeit bei Euch in Luzern! Ein lieber Dank für die wissenschaftliche Inspiration, für die konstruktiven Gespräche zur Habilitation und zu vielfältigen anderen Themenbereichen sowie für das gemeinsame Betrachten des Rechts aus internationaler, menschenrechtlicher und interdisziplinärer Perspektive gebührt weiterhin Herrn Prof. em. Dr. iur. Dr. h.c. Stefan Trechsel, früherer Präsident der Europäischen Menschenrechtskommission und früherer Richter ad litem am Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY), Den Haag, Herrn Prof. Dr. rer. nat. Günter Köhnken, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, sowie Herrn RiLG Prof. Dr. iur. Dr. h.c. Kai Ambos, GeorgAugust-Universität Göttingen, dessen Lehrstuhl und Bibliothek mir bei meinen Göttinger Aufenthalten in den Jahren 2009 und 2010 beste Arbeitsbedingungen geboten haben. Ein herzliches Dankeschön ist zudem Herrn Prof. Dr. iur. Dr. h.c. Kurt Seelmann, Universität Basel, gewidmet, welcher mich durch stetigen vertrauensvollen Zuspruch und vielzählige Gespräche zur Habilitation und zu anderen wissenschaftlichen, vor allem rechtsphilosophischen Themenkreisen inspirierte, förderte und unterstützte.
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Vorwort
Ein sich in Worten nicht hinreichend ausdrücken lassender Dank gilt von Herzen meinen Eltern und meinen Freunden – und hier vor allem Dietke, Kurt und Martin – für ihre endlose Geduld mit meiner viel zu oft zu wenigen Zeit während der Fertigstellung der Habilitationsschrift und für ihr Freude schenkendes, unschätzbar wertvolles Dasein als Wegbegleiter. Euch ist diese Arbeit in tiefster Dankbarkeit gewidmet. Zürich, im März 2014
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Daniela Demko
Inhaltsübersicht Vorwort......................................................................................................
V
Inhaltsverzeichnis ......................................................................................
IX
Literaturverzeichnis ................................................................................... XIX Materialienverzeichnis.........................................................................
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Abkürzungsverzeichnis ....................................................................... LXXVII Kapitel 1
Gegenstand und Gang der Untersuchung ...............................
1
Kapitel 2
Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung» im Kontext des Strafverfahrens und strafprozessualen Beweisverfahrens ...................................................................
7
Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht ................................................................
99
Kapitel 3 Kapitel 4
«Menschenrecht auf Verteidigung» als Kernmoment des Menschenrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren ......................................................................... 307
Kapitel 5
Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen als konkretisierte Ausformung des «Menschenrechts auf Verteidigung» ...................................... 363
Kapitel 6
Ergebnisse und Gesamtzusammenfassung ............................. 721
Sachregister ............................................................................................... 733
VII
Inhaltsverzeichnis Vorwort ....................................................................................................
V
Inhaltsübersicht ....................................................................................... VII Literaturverzeichnis ................................................................................ XIX Materialienverzeichnis ...................................................................
LXXV
Abkürzungsverzeichnis .................................................................. LXXVII Kapitel 1 Gegenstand und Gang der Untersuchung ..........................
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Kapitel 2 Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung» im Kontext des Strafverfahrens und strafprozessualen Beweisverfahrens..................................................................
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A. Strafgerechtigkeit und Strafverfahren ....................................................... I. «Dienende Funktion» und «eigenständige Werthaftigkeit» als die zwei Wesenszüge des Strafverfahrensrechts ..................................... II. Die Zusammenführung von materieller und prozeduraler Gerechtigkeitskomponente ............................................................... III. Zusammenfassung ............................................................................ B. Das Straf- und Beweisverfahren als «wahrheitsgerichtetes Erkenntnisverfahren»................................................................................................. I. Das Straf- und Beweisverfahren im Kontext der Erkenntnistheorie und der Wahrheitstheorien der Philosophie ...................................... 1. Das Strafverfahren als Erkenntnisverfahren ................................ 2. Die den verschiedenen Erkenntniselementen zugeordneten philosophischen Wahrheitstheorien in deren Bedeutung für Ziel und Weg des strafverfahrensrechlichen «wahrheitsgerichteten Erkenntnisverfahrens» ................................................................. 3. Der Begriffsgegensatz von materieller und formeller Wahrheit: Übereinstimmendes und Unterschiedliches im Wahrheitsverständnis der instruktorischen, adversatorischen sowie der «gemischten» internationalen Strafverfahren .............................. a) Wahrheit als «universal» anzustrebendes Ziel eines jeden Strafverfahrens ...................................................................... b) Unterschiedlichkeit bezüglich der Art und Weise der Wahrheitsermittlungswege .................................................... 4. Zusammenfassung ....................................................................... II. Ausgewählte Elemente und Kennzeichen des strafverfahrensrechtlichen Erkenntnisverfahrens als Wahrheitsermittlungsweg ......
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31
42 42 49 60 61
IX
Inhaltsverzeichnis
1. Das Strafverfahren als ein dynamisches, finales und gesteuertes Erkenntnisverfahren .................................................................... 2. Die Verbindung und Inbezugnahme von objektivem und subjektivem Moment des strafverfahrensrechtlichen Erkenntnisverfahrens ................................................................... 3. Das Moment des Zweifelbehafteten und das Erfordernis zu wahrender Offenheit des strafverfahrensrechtlichen Erkenntnisverfahrens .................................................................................... 4. Der dialektische Charakter des strafverfahrensrechtlichen Erkenntnisverfahrens und dessen Erfordernis von im Strafverfahren zu wahrender These und Antithese ...................... 5. Das strafverfahrensrechtliche Erkenntnisverfahren als – dialektische – Kommunikation und Interaktion ........................... 6. Zusammenfassung .......................................................................
Kapitel 3 Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht................................................. A. Fairness des Strafverfahrens als das an das Strafverfahren als «Gesamtheit» angelegte Verfahrensprinzip auf höchster Ebene .............. I. Fairness des Strafverfahrens als Ganzheitsbegriff ............................ II. Fairness des Strafverfahrens als normativer Wert(ungs)begriff und auf Optimierung und Ausgleich ausgerichteter Lösungsbegriff........ III. Fairness des Strafverfahrens als der die materielle und prozedurale Gerechtigkeitskomponente zusammenführende Begriff der «Strafgerechtigkeit» .......................................................................... 1. Fairness des Strafverfahrens in deren Bedeutung als «Strafgerechtigkeit» .............................................................................. 2. Der aus dem Fairnessbegriff als «Strafgerechtigkeit» folgende vertikale und horizontale Ausgleich und das Spannungsverhältnis zwischen den verschiedenen Fairnesselementen ........ B. Fairness des Strafverfahrens als Menschenrecht ...................................... I. Fairness des Strafverfahrens als Menschenrecht des Angeklagten.... II. Begründungslinien für ein Menschenrecht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren ......................................................................... 1. Philosophische Begründungslinien für ein Menschenrecht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren ................................... a) Kant ....................................................................................... b) Hegel ..................................................................................... c) Rawls ..................................................................................... d) Luhmann ................................................................................ e) Die Diskurstheorien von Apel, Habermas, Alexy und Tammelo ................................................................................ aa) Der ideale Diskurs und dessen Diskursbedingungen .....
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62 64 68 77 86 94
99 99 99 102 112 112 116 120 120 127 127 127 141 145 150 160 160
Inhaltsverzeichnis
bb) Der ideale Diskurs als Leit- und Rechtfertigungsmassstab für den «realen Diskurs: Strafverfahren» ....... cc) Das nach Gerechtigkeit strebende und menschenrechtsschützende Strafverfahren in dessen Einordnung als Diskurs und in dessen Annäherungsanspruch auf Verwirklichung der idealen Diskursbedingungen.......... 2. Psychologische Begründungslinien für ein Menschenrecht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren ................................... III. Verankerung des Menschenrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren in menschenrechtlichen und strafverfahrensrechtlichen Rechtsinstrumenten ........................................................ 1. Verankerung des Menschenrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren in internationalen und regionalen Menschenrechtsinstrumenten ...................................................... a) Internationale Menschenrechtsinstrumente: Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und der Internationale Pakt über Bürgerliche und Politische Rechte . b) Regionale Menschenrechtsinstrumente ................................. aa) Amerikanische Menschenrechtsinstrumente.................. bb) Afrikanische und Arabische Menschenrechtsinstrumente .................................................................... cc) Europäische Menschenrechtsinstrumente: Die europäische Menschenrechtskonvention............................... (1) Fair Trial – Fair Hearing ........................................ (2) Die menschenrechtsschützende Blickrichtung der EMRK und des EGMR auf ein faires Strafverfahren ................................................................ (3) Das Menschenrecht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren nach Art. 6 EMRK und dessen spezifischen Einzelgarantien in Art. 6 I, II und III EMRK ........................................................ (4) Die spezifischen benannten und unbenannten Verteidigungsrechte des Angeklagten und dessen «Recht auf wirksame Verteidigung» als essentielle Elemente des Menschenrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren ............. (4.1) Die benannten spezifischen Verteidigungsrechte in ihrer Verbindung zur wirksamen Verteidigung des Angeklagten und zu dessen Recht auf ein faires Strafverfahren in der Rechtsprechung des EGMR............... (4.2) Die unbenannten spezifischen Verteidigungsrechte in ihrer Verbindung zur wirksamen Verteidigung des Angeklagten und zu dessen Recht auf ein faires
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XI
Inhaltsverzeichnis
Strafverfahren in der Rechtsprechung des EGMR.......................................................... (5) Menschenwürde und Autonomie als Grundlage des Menschenrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren und des Rechts auf wirksame Verteidigung ................................................. 2. Verankerung des Menschenrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren in strafverfahrensrechtlichen Rechtsinstrumenten auf nationaler und internationaler Ebene ............... a) Verankerung in Strafverfahrensordnungen auf nationaler Ebene ..................................................................................... aa) Das adversatorische Strafverfahren des common law und der Angeklagte als unverzichtbarer Grundgarant der parteizentrierten Wahrheitsermittlung ..................... bb) Das instruktorische Strafverfahren des civil law............ (1) Das instruktorische Strafverfahren und der Angeklagte als unverzichtbarer Zusatzgarant der behördenzentrierten Wahrheitsermittlung.............. (2) Das die Menschenwürde des Angeklagten wahrende faire Strafverfahren in der schweizerischen Strafverfahrensordnung ............................. b) Verankerung in Strafverfahrensordnungen auf internationaler Ebene .................................................................... aa) Einleitende Bemerkungen .............................................. bb) Das internationale Strafverfahren vor dem Internationalen Militärgerichtshof von Nürnberg.................. cc) Die Entwicklung der internationalen Strafverfahren beim ICTY und beim ICC ............................................. C. Zusammenfassung ....................................................................................
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256 262 262 262 270 270 277 283 283 285 292 302
Kapitel 4 «Menschenrecht auf Verteidigung» als Kernmoment des Menschenrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren ...................................................................... 307 A. Die EMRK als Referenzsystem für ein menschenrechtsschützendes Straf- und strafprozessuales Beweisverfahren .......................................... I. Die menschenrechtlichen Vorgaben der EMRK für das strafprozessuale Beweisverfahren(srecht) ......................................... II. Die Bedeutung der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR für die nationalen und internationalen Strafverfahren ............................ B. Inhalt und Ausübungsstrukturen des Menschenrechts auf Verteidigung im Straf- und strafprozessualen Beweisverfahren .................................... I. Das Menschenrecht auf Verteidigung und dessen Inhaltsebene ....... II. Das Menschenrecht auf Verteidigung und dessen Ausübungsebene
XII
309 309 322 331 332 339
Inhaltsverzeichnis
1. Das Wechselverhältnis zwischen Inhaltsebene und Ausübungsebene des Menschenrechts auf Verteidigung............. 2. Ausübungserfordernisse in der Beweiserhebungs- und Beweiswürdigungsphase des Strafverfahrens ............................. III. Die «Kernausübungselemente» des Menschenrechts des Angeklagten auf Verteidigung im Strafverfahren ............................. 1. Das Recht des Angeklagten auf rechtliches Gehör ..................... 2. Das Rechtsprinzip der Waffengleichheit ..................................... C. Zusammenfassung ....................................................................................
339 342 347 347 356 359
Kapitel 5 Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen als konkretisierte Ausformung des «Menschenrechts auf Verteidigung» .................................. 363 A. Der Wesensgehalt des Konfrontationsrechts des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen ..................................................................................... I. Begründung, Natur und Wesensgehalt des Konfrontationsrechts des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen nach Art. 6 III d EMRK ............................................................................................... 1. Wesensgehalt und Natur des Konfrontationsrechts ..................... 2. Begründungszusammenhang des Konfrontationsrechts in Differenzierung zwischen Inhalts- und Ausübungsebene ........... II. Die Aussagepsychologie als interdisziplinäre Begründungslinie zur Bestimmung von Wesens- und Ausübungsgehalt des Konfrontationsrechts des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen .............. 1. Zum Begriff der «Glaubwürdigkeit» des belastenden Zeugenbeweises ...................................................................................... 2. Die hypothesengeleitete Glaubwürdigkeitsbeurteilung und deren Bedeutung für das Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen ...................................................... 3. Die Glaubwürdigkeitskriterien in deren Bedeutung für das Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen ......................................................................................... a) Die sich auf den Inhalt und die Entstehung der Zeugenaussage beziehenden Glaubwürdigkeitskriterien in deren Bedeutung für das Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen ................................................. b) Die sich auf die Zeugenperson beziehenden Glaubwürdigkeitskriterien in deren Bedeutung für das Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen ............ c) Zusammenfassung der Erkenntnisse zu der Bedeutung der sich auf den Inhalt und die Entstehung der Zeugenaussage sowie der sich auf die Zeugenperson beziehenden Glaubwürdigkeitskriterien für das Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen ...........................
363 363 363 379 382 382 387 389
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401
XIII
Inhaltsverzeichnis
4. Die Glaubwürdigkeitsbeurteilung als nicht quantitäts-, sondern qualitätsgeleiteter Gesamtbeurteilungsprozess und dessen Bedeutung für das Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen ...................................................... 5. Die aussagepsychologischen Erkenntnisse zum «konfirmatorischen Hypothesentesten» und deren Bedeutung für das Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen ......................................................................................... III. Zusammenfassung ............................................................................ B. Menschenrechtliche Garantien zum Ausübungsgehalt des Konfrontationsrechts des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen nach Art. 6 III d EMRK und der Rechtsprechung des EGMR .................................... I. Menschenrechtliche Vorgaben in Bezug auf den Schutzbereich des Konfrontationsrechts ......................................................................... 1. Aktiver und passiver persönlicher Schutzbereich des Konfrontationsrechts ................................................................... a) Der aktive persönliche Schutzbereich des Konfrontationsrechts: «Die Verteidigung» als «Einheit von Angeklagtem und Verteidiger» .................................................................... b) Der passive persönliche Schutzbereich des Konfrontationsrechts: Der Begriff des «Belastungszeugen» im Sinne des Art. 6 III d EMRK ................................................................. aa) Die autonome und zweckorientierte Auslegung des Begriffs des Belastungszeugen ...................................... bb) Zwei Grundaspekte des Begriffs des Belastungszeugen (1) Der erste Grundaspekt des objektiven Gegebenseins einer den Angeklagten belastenden Aussage eines anderen Menschen ........................................ (2) Der zweite Grundaspekt des tatsächlichen Vorliegens der belastenden Aussage vor Gericht .. 2. Zeitlicher Schutzbereich des Konfrontationsrechts ..................... a) Die unter Anknüpfung an das Gesamtverfahren an den zeitlichen Schutzbereich anzulegende weite und materielle Sichtweise .............................................................................. b) Das Protokollierungserfordernis in dessen Bedeutung für das Konfrontationsrecht ......................................................... 3. Sachlicher Schutzbereich des Konfrontationsrechts ................... a) Das Konfrontationsrecht und dessen Teilrechte auf der Ausübungsebene in der Rechtsprechung des EGMR ............ b) Die mit den Ausübungsrechten des Konfrontationsrechts verbundenen Momente des Wissens, des Wahrnehmens und des sprachlichen Handelns in Gestalt des Fragens ................ II. Menschenrechtliche Vorgaben in Bezug auf die Einschränkungsvoraussetzungen für eine konventionsgemässe Einschränkung des Konfrontationsrechts .........................................................................
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404 408 410 410 410 410 413 413 417 419 423 430 430 442 445 445 449 457
Inhaltsverzeichnis
1. Einschränkungsvoraussetzungen auf der Beweiserhebungsebene ........................................................................................... a) Das Erfordernis des Gegebenseins «sachlich gerechtfertigter Gründe» ................................................................... b) Die mit der «Wahrung der Verteidigungsrechte» verbundenen Erfordernisse .................................................... aa) Der Verhältnismässigkeitsgrundsatz, das Ausgleichserfordernis und die Rückbegrenzung durch den Wesensgehalt des Konfrontationsrechts ........................ bb) Die unter der Beachtung des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes möglichen stufenweisen Einschränkungen des Konfrontationsrechts und die (eingeschränkten) Einflussnahmemöglichkeiten des Angeklagten auf die Entstehung und/oder Bewertung der Zeugenaussage..... cc) Die Einschränkungsvoraussetzung des Ausgleichserfordernisses ................................................................ (1) Das Ausgleichserfordernis als von dem Verhältnismässigkeitsgrundsatz zu unterscheidende zusätzliche Einschränkungsvoraussetzung ............. (2) Der für das Ausgleichserfordernis in Betracht kommende Verfahrensabschnitt............................. 2. Einschränkungsvoraussetzungen auf der Beweiswürdigungsebene ........................................................................................... a) Das Erfordernis der die Verurteilung des Angeklagten «weder allein noch im entscheidenden Aussmass» stützenden belastenden Zeugenaussage als vom EGMR ausgeformte «dritte Prüfungsstufe» für eine konventionsgemässe Einschränkung des Konfrontationsrechts ................ b) Kritikpunkte an dem Prüfungskriterium der «Entscheidungserheblichkeit» ............................................................... c) Grundzüge eines eigenen Lösungsvorschlages für die Bedeutung der «dritten Prüfungsstufe» unter Beachtung der Trennung zwischen Beweiserhebung, Beweisverwertung und Beweiswürdigung sowie zwischen konventionsgemässer und konventionswidriger Beweiserhebung ............ aa) Fallkonstellation der konventionswidrigen Beweiserhebung im Zusammenhang mit dem Belastungszeugenbeweis nach Art. 6 III d EMRK ........ bb) Fallkonstellation der konventionsgemässen Beweiserhebung im Zusammenhang mit dem Belastungszeugenbeweis nach Art. 6 III d EMRK ........ III. Zusammenfassung ............................................................................ C. Bedeutungen der menschenrechtlichen Vorgaben für das Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen mit Blick auf dessen Ausübung in nationalen und internationalen Strafverfahren ........
457 457 465 465
470 473 473 483 485
485 488
495 498 508 517 520
XV
Inhaltsverzeichnis
I.
II.
XVI
Das Einstellen des Konfrontationsrechts in die durch das nationale und internationale Strafverfahrensrecht vorgegebene Form des Beweisverfahrens und der Zeugenbeweiserhebung .......................... 1. Charakter und Gestaltung der Zeugenbeweiserhebung sowie Verteilung der Verfahrens- und Vernehmungsherrschaft im internationalen Strafverfahren vor dem ICTY ............................. 2. Charakter und Gestaltung der Zeugenbeweiserhebung sowie Verteilung der Verfahrens- und Vernehmungsherrschaft im nationalen Strafverfahren der Schweiz ....................................... Die Ausgestaltung des Konfrontationsrechts in nationalen und internationalen Strafverfahren im Einzelnen .................................... 1. Bedeutung der menschenrechtlichen Vorgaben in Bezug auf Grundlinien und Wesensgehalt des Konfrontationsrechts ........... a) Grundlinien und Wesensgehalt des Konfrontationsrechts im internationalen Strafverfahren vor dem ICTY ....................... aa) Grundlinien des Konfrontationsrechts ........................... bb) Wesensgehalt des Konfrontationsrechts ........................ b) Grundlinien und Wesensgehalt des Konfrontationsrechts im nationalen Strafverfahren der Schweiz .................................. aa) Grundlinien des Konfrontationsrechts ........................... bb) Wesensgehalt des Konfrontationsrechts ........................ 2. Bedeutung der menschenrechtlichen Vorgaben in Bezug auf den Schutzbereich des Konfrontationsrechts ............................... a) Ausgestaltung des persönlichen, zeitlichen und sachlichen Schutzbereichs des Konfrontationsrechts im internationalen Strafverfahren vor dem ICTY................................................ aa) Persönlicher Schutzbereich: Der Begriff des Belastungszeugen ............................................................... bb) Zeitlicher Schutzbereich ................................................ cc) Sachlicher Schutzbereich............................................... b) Ausgestaltung des persönlichen, zeitlichen und sachlichen Schutzbereichs des Konfrontationsrechts im nationalen Strafverfahren der Schweiz ................................................... aa) Persönlicher Schutzbereich: Der Begriff des Belastungszeugen ............................................................... bb) Zeitlicher Schutzbereich ................................................ cc) Sachlicher Schutzbereich............................................... 3. Bedeutung der menschenrechtlichen Vorgaben in Bezug auf Einschränkbarkeit und Einschränkungsvoraussetzungen des Konfrontationsrechts ................................................................... a) Einschränkbarkeit und Einschränkungsvoraussetzungen im internationalen Strafverfahren vor dem ICTY ....................... aa) Die Bedeutung des Erfordernisses «sachlich gerechtfertigter Gründe» ...............................................
520 520 526 539 539 539 539 550 558 558 565 577 577 577 582 585 593 593 596 602 613 613 613
Inhaltsverzeichnis
bb) Die für zulässig gehaltenen Einschränkungsformen und das Verhältnismässigkeits- und Ausgleichserfordernis ..................................................................... (1) Das Verhältnismässigkeits- und Ausgleichserfordernis .............................................................. (2) Ausgewählte Einschränkungsformen und deren Regelungen im internationalen Strafverfahrensrecht des ICTY ....................................................... (2.1) Einschränkungen in Bezug auf die Kenntnis der Zeugenperson ................................... (2.2) Einschränkungen in Bezug auf – mündliche – Zeugenbefragungen .................................. cc) Die auf der Beweiswürdigungsebene angelegten Anforderungen ............................................................... b) Einschränkbarkeit und Einschränkungsvoraussetzungen im nationalen Strafverfahren der Schweiz .................................. aa) Die Bedeutung des Erfordernisses «sachlich gerechtfertigter Gründe» ............................................... bb) Die für zulässig gehaltenen Einschränkungsformen und das Verhältnismässigkeits- und Ausgleichserfordernis ..................................................................... (1) Mit dem Verhältnismässigkeits- und Ausgleichserfordernis verbundene Anforderungen ................. (1.1) Die Beachtung des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes .................................................. (1.2) Die Beachtung des Ausgleichserfordernisses............................................................ (2) Ausgewählte Einschränkungsformen und deren Regelungen im schweizerischen Strafverfahrensrecht ....................................................................... (2.1) «Vermittelte» Zeugenbefragungen .............. (2.2) Einschränkungen in Bezug auf – mündliche – Zeugenbefragungen .................................. (2.3) Einschränkungen in Bezug auf Wahrnehmung und Kenntnis der Zeugenperson .. cc) Die auf der Beweiswürdigungsebene angelegten Anforderungen ............................................................... III. Zusammenfassung ............................................................................
625 625 626 628 637 660 668 668 685 685 685 690 699 699 701 706 709 717
Kapitel 6 Ergebnisse und Gesamtzusammenfassung .......................... 721 Sachregister .............................................................................................. 733
XVII
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LXXV
Abkürzungsverzeichnis
Abs.
Absatz
AEMR
Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte
AJP
Aktuelle Juristische Praxis
AMRK
Amerikanische Menschenrechtskonvention
AöR
Archiv des öffentlichen Rechts
ARSP
Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie
Art.
Artikel
AS
Amtliche Sammlung des Bundesrechts
AZP
Allgemeine Zeitschrift für Philosophie
BBl
Bundesblatt
Bd.
Band
BG
Schweizerisches Bundesgericht
BGBl.
Bundesgesetzblatt
BGE
Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
BGH
Bundesgerichtshof
BSK StPO
Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, Jugendstrafprozessordnung
BV
Schweizerische Bundesverfassung
BVerfG
Bundesverfassungsgericht
BVerfGE
Amtliche Sammlung des Bundesverfassungsgerichts
bzw.
beziehungsweise
ColJTL
Columbia Journal of Transnational Law
ders.
derselbe
d.h.
das heisst
dt.
deutsch
EGMR
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
Einf.
Einführung
EKMR
Europäische Kommission für Menschenrechte
EMRK
Europäische Menschenrechtskonvention LXXVII
Abkürzungsverzeichnis
EStPO et al. EuGH EuGRZ f. ff. FN ForensPsychiatr PsycholKriminol GA gem. GG ggf. HRLR HRRS Hrsg. IAGMR ICC ICC-Statut ICLR ICTR ICTY
ICTY-Regel(n) i.e.S. IMG insbes. IntKommEMRK IPbpR
LXXVIII
Schweizerische Strafprozessordnung (Entwurf) et alii = und andere Europäischer Gerichtshof Europäische Grundrechte-Zeitschrift folgende (eine/r) folgende (mehrere) Fussnote Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie Goltdammer’s Archiv für Strafrecht gemäss (deutsches) Grundgesetz gegebenenfalls Human Rights Law Review Online-Zeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung im Strafrecht (www.hrr-strafrecht.de) Herausgeber/in Inter-Amerikanischer Gerichtshof für Menschenrechte International Criminal Court (Internationaler Strafgerichtshof IStGH) Römisches Statut des ICC International Criminal Law Review International Criminal Tribunal for Rwanda (Internationaler Strafgerichtshof für Ruanda) International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia (Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien) Verfahrens- und Beweisregel(n) des ICTY im engeren Sinn Internationaler Militärgerichtshof (Nürnberg) insbesondere Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte
Abkürzungsverzeichnis
i.S.
im Sinne
IsLR
Israel Law Review
i.V.m.
in Verbindung mit
JA
Juristische Arbeitsblätter
JBl
Juristische Blätter
JR
Juristische Rundschau
JURA
Juristische Ausbildung
JuS
Juristische Schulung
JZ
Juristenzeitung
Kap.
Kapitel
KassG
Kassationsgericht
KJ
Kritische Justiz
KritV
Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft
Lit.
litera
m.E.
meines Erachtens
MRA
Menschenrechtsausschuss
MRK
Europäische Menschenrechtskonvention
MschrKrim
Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform
N
(Rand-)Nummer
NJW
Neue Juristische Wochenschrift
No.
number
Nr.
Nummer
NStZ
Neue Zeitschrift für Strafrecht
o.O.
ohne Ortsangabe
öStPO
österreichische Strafprozessordnung
para(s).
paragraph(s) (Paragraph(en))
RPE
Rules of Procedure and Evidence (Verfahrens- und Beweisregeln)
S.
Seite
SJZ
Schweizerische Juristenzeitung
SR
Systematische Sammlung des Bundesrechts
StGB
Strafgesetzbuch LXXIX
Abkürzungsverzeichnis
StPO
Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007, BBl 2007, 6977, in Kraft getreten am 1. Januar 2011, AS 2010, 1881 (SR 312.0)
StraFo
Strafverteidigerforum
StV
Strafverteidiger
TIL
The International Lawyer
u.a.
unter anderem/anderen; und andere
UN
United Nations (Vereinte Nationen)
Urt.
Urteil
U.S.
U.S. Supreme Court
usw.
und so weiter
v.
versus/vom (nach dem Kontext zu unterscheiden)
vgl.
vergleiche
VEStPO
Vorentwurf zu einer Schweizerischen Strafprozessordnung
Vol.
Volume
VVDStRL
Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer
z.B.
zum Beispiel
ZBJV
Zeitschrift des Bernischen Juristenvereins
ZfRSoz
Zeitschrift für Rechtssoziologie
ZfRV
Zeitschrift für Rechtsvergleichung, Internationales Privatrecht und Europarecht
ZH StPO
(frühere) Strafprozessordnung des Kantons Zürich
ZIS
Zeitschrift für Internationale (www.zis-online.com)
ZR
Blätter für Zürcherische Rechtsprechung
ZRP
Zeitschrift für Rechtspolitik
ZRph
Zeitschrift für Rechtsphilosophie
ZSR
Zeitschrift für Schweizerisches Recht
ZStrR
Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht
ZStW
Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft
z.T.
zum Teil
ZZP
Zeitschrift für Zivilprozess
LXXX
Strafrechtsdogmatik
Kapitel 1 Gegenstand und Gang der Untersuchung Nach Bedeutung und Inhalt der Fairness des Strafverfahrens und eines dem Angeklagten einzuräumenden Menschenrechts auf Verteidigung im Strafverfahren zu fragen sowie dies für die nationale, europäische und internationale Ebene zu untersuchen, verlangt zunächst, den «Rahmen» selbst, d.h. das Strafverfahren als Gesamtheit, in den Blick zu nehmen, wobei als Schwerpunktsetzung dieser Abhandlung die Konzentration auf das strafprozessuale Beweisverfahren gelegt ist. Eingestellt in ein das Menschenrecht auf Verteidigung umgebendes Grösseres in Gestalt des Straf- und Beweisverfahrens ist es dieser «Verwirklichungsrahmen», in dem dem Angeklagten sein Menschenrecht auf Verteidigung zu gewähren ist und als Teil, als Element dieses Rahmens können die Rahmenvorgaben des Grösseren Wichtiges an Inhalt auch für die zu ihm gehörenden Teile mitaussprechen. Betrachtet werden soll jener Verwirklichungsrahmen für das Menschenrecht des Angeklagten auf Verteidigung zunächst daraufhin, welche Ziele und Qualitäten mit einem Strafverfahren verknüpft sind.1 Die hier gewonnenen Erkenntnisse zu der materiellen und prozeduralen Gerechtigkeit eines Strafverfahrens werden erneut aufgegriffen, wenn es in der anschliessenden Untersuchung um die Frage der Bedeutung der Fairness des Strafverfahrens geht.2 Da die vorliegende Abhandlung die Konzentration vor allem auf das strafprozessuale Beweisverfahren richtet und damit auf den Abschnitt des Strafverfahrens, welcher die Tatsachenfeststellung, die Wahrheitsermittlung betrifft, wird sodann jenes Beweisverfahren und mit diesem mithin der Verwirklichungsrahmen als ein spezieller «Erkenntnisrahmen» näher untersucht.3 Gefragt wird danach, was an wichtigen Momenten sich aus einer Einordnung des strafprozessualen Beweisverfahrens in die Elemente eines menschlichen Erkenntnisverfahrens ableiten lässt, wobei auf erkenntnistheoretisches Wissen Rückgriff zu nehmen ist.4 Untrennbar damit verbunden bleibt die Frage nach «der Wahrheit» zu beantworten, um die es sowohl in menschlichen Erkenntnisverfahren als auch im strafprozessualen Beweisverfahren geht: Die Einordnung des strafprozessualen Beweisverfahrens in die philosophischen Erkenntnis- und Wahrheitstheorien5 bringt dabei nicht nur Verknüpfungen mit den materiellen und prozeduralen Gerechtigkeitskomponenten eines Strafverfahrens ans Licht, 1 2 3 4 5
Siehe dazu Kap. 2 A. Siehe dazu Kap. 3 A. III. Siehe dazu Kap. 2 B. Siehe dazu Kap. 2 B. I. 1., 2. Siehe dazu Kap. 2 B. I.
1
1
Kapitel 1: Gegenstand und Gang der Untersuchung
sondern eröffnet zudem den Weg zu einer Antwort auf die Frage, ob es trotz der Vielfalt an unterschiedlich gestalteten Strafverfahrensordnungen auf nationaler und internationaler Ebene und trotz der bis heute geführten Diskussion über eine in diesen verfolgte sog. «materielle» oder «formelle» Wahrheit nicht doch tatsächlich «um dieselbe Wahrheit» geht, die in allen Straf- und Beweisverfahren gesucht wird.6 Lässt sich ein solches universal geltendes Verständnis für das Wahrheits«ziel» ermitteln, das trotz beispielsweise instruktorisch, adversatorisch oder gemischt gestalteter Strafverfahren in allen diesen Strafverfahren zu erkennen ist, ist eine wichtige Ausgangsfrage für das Menschenrecht auf Verteidigung im Straf- und Beweisverfahren beantwortet, an welche sich anschliessend die Untersuchung knüpft, ob und inwiefern sich auch mit dem Wahrheitsermittlungs«weg» Übereinstimmendes oder Unterschiedliches in den verschiedenen Strafverfahren instruktorischer, adversatorischer und gemischter Natur verbinden lässt.7 2
Jenen Wahrheitsermittlungsweg, wie es das Straf- und Beweisverfahren einer ist, selbst näher in den Blick nehmend, schliessen sich vertiefende Ausführungen zu einzelnen Grundkennzeichen und Elementen jenes strafprozessualen Erkenntnisverfahrens an, wobei insbesondere die Natur der Dialektik und mit dieser das Thesen- und Antithesenhafte eines jeden menschlichen und auch des strafprozessualen Erkenntnisverfahrens herausgehoben werden sollen,8 finden sich mit dieser dialektischen Natur des Straf- und Beweisverfahrens doch ganz entscheidende Vorgaben und (Teil-)Antworten gerade auch für das inhaltliche Verständnis sowie die Ausübung des dem Angeklagten im Strafverfahren einzuräumenden Menschenrechts auf Verteidigung.9 Eng mit den Untersuchungen zum Strafverfahren als «Erkenntnisrahmen» sind die Untersuchungen zum Strafverfahren als «Kommunikations- und Interaktionsrahmen» verbunden und es ist hier der Frage nachzugehen, ob und wie sich der strafprozessuale Wahrheitsermittlungsweg «in menschlichem und durch menschliches Handeln und Miteinander-Handeln» sowie gerade auch – als eine spezielle Form des Handelns – «in und durch Sprache», genauer «in einem und durch ein Sprechen und Miteinander-Sprechen» der am Strafverfahren Beteiligten vollzieht.10 Jene aus der Betrachtung des Strafverfahrens als «Kommunikations- und Interaktionsrahmen» gewonnenen Erkenntnisse werden sich als ebenso relevant für das Menschenrecht auf Verteidigung erweisen und gerade auch in ihrer wichtigen Bedeutung für eine spezielle Ausformung des Menschenrechts auf Verteidigung in Gestalt des Konfrontationsrechts des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen sichtbar werden, 6 7 8 9 10
2
Siehe dazu Kap. 2 B. I. 3. a). Siehe dazu Kap. 2 B I. 3. b). Siehe dazu Kap. 2 B. II. und insbesondere 4. und 5. Siehe dazu Kap. 3 B. und Kap. 4. Siehe dazu Kap. 2 B. II. 5.
Kapitel 1: Gegenstand und Gang der Untersuchung
geht es doch insbesondere bei Wahrheitsermittlungen mittels persönlicher Beweismittel um durch Menschen zur Sprache gebrachte Wahrheit(en) und es ist die Frage zu beantworten, ob und in welcher Weise der Angeklagte an diesem sich «in und durch Sprache» vollziehenden Wahrheitsermittlungsprozess zu beteiligen ist.11 Sind mit der Betrachtung des Strafverfahrens und speziell des strafprozessualen Beweisverfahrens als Erkenntnisrahmen sowie Kommunikations- und Interaktionsrahmen für die Verwirklichung des dem Angeklagten einzuräumenden Menschenrechts auf Verteidigung wichtige Erkenntnisse und erste Teilantworten auf die Frage sichtbar gemacht, was für den Inhalt und die Ausübung des Menschenrechts auf Verteidigung bedeutend ist, so gilt es im Folgenden, den Blick von dem rahmengebenden Grösseren auf eines seiner Teile und hier nunmehr auf das «Menschenrecht auf Verteidigung» selbst zu richten. Das Menschenrecht auf Verteidigung als eines der Menschenrechte im Strafverfahren ist dabei eingestellt in die übergeordnete Frage nach der an ein Straf- und Beweisverfahren normativ anzulegenden Gesamtqualität der Fairness des Straf- und Beweisverfahrens zu untersuchen.12 In einer bewusst gezogenen Trennung und Unterscheidung zwischen der Fairness als Verfahrensprinzip auf höchster Ebene13 und als Menschenrecht, und hier speziell als Menschenrecht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren,14 wird jenes normative Qualitätsmoment der Fairness zunächst betrachtet in dessen Anlegung bzw. Anknüpfung an das Strafverfahren als Gesamtheit.15 Anschliessend wird der Blick von der Ganzheits-Ebene auf eines ihrer Elemente, nämlich auf die individualschützende, genauer die individual-menschenrechtsschützende Sicht des Angeklagten auf das Strafverfahren gelenkt und danach gefragt, was sich an spezifischen Inhalten und Bedeutungsaspekten gerade mit dem Menschenrecht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren verbindet.16 Unter Auseinandersetzung mit Fragen nach Menschenwürde, Autonomie und (Prozess-)Subjektivität des Angeklagten wird das normative Qualitätsmerkmal der Fairness des Strafverfahrens hier nun mit einer Menschenrechtsperspektive des Angeklagten verknüpft, wobei philosophische17 und psychologische Begründungslinien18 für ein Menschenrecht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren ebenso ausführlich untersucht werden wie die 11
12 13 14 15 16 17 18
Siehe zum Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen im Einzelnen unter Kap. 5. Siehe dazu Kap. 3. Siehe dazu Kap. 3 A. I. Siehe dazu Kap. 3 A. II. Siehe dazu unter Kap. 3 A. Siehe dazu Kap. 3 B. Siehe dazu Kap. 3 B. II. 1. Siehe dazu Kap. 3 B. II. 2.
3
3
Kapitel 1: Gegenstand und Gang der Untersuchung
normative Verankerung des Menschenrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren in internationalen und regionalen Menschenrechtsinstrumenten19 sowie in strafverfahrensrechtlichen Rechtsinstrumenten auf nationaler und internationaler Ebene.20 4
Die dabei gewonnenen Erkenntnisse zum Menschenrecht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren lassen sich in einem sich anschliessenden Untersuchungsschritt zu sichtbar gewordenen spezifischen Grundmomenten des Menschenrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren verdichten und erlauben es, das Menschenrecht auf Verteidigung als das spezifische Kernmoment des Menschenrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren herauszuarbeiten sowie in dessen Inhalts- und Ausübungsebene näher zu entfalten.21 Unter Anlegung eines menschenrechtsschützenden Massstabes, und zwar unter Zugrundelegung der Europäischen Konvention für Menschenrechte (EMRK),22 wird nach dem – die Inhaltsebene ansprechenden – Wesensgehalt des Menschenrechts des Angeklagten auf Verteidigung im Strafund Beweisverfahren sowie nach den zur Verwirklichung dieses Wesensgehaltes notwendigen Ausübungserfordernissen im Straf- und Beweisverfahren gefragt.23 Zusammengeführt werden hierbei Erkenntnisse einerseits aus dem ersten Teil der Arbeit, d.h. zu dem Straf- und Beweisverfahren als Erkenntnis- und Kommunikationsrahmen und hierbei insbesondere zu der Natur der Dialektik, des «Thetischen und Antithetischen» des Straf- und Beweisverfahrens,24 und andererseits Erkenntnisse aus dem zweiten Teil der Arbeit zu einem menschenwürde- und prozesssubjektwahrenden Straf- und Beweisverfahren.25 Gerade jene Zusammenführung der Erkenntnisse aus dem ersten und zweiten Teil der Arbeit wirft die Frage nach einem Menschenrecht des Angeklagten auf Verteidigung im Straf- und Beweisverfahren verstanden als ein prozesssubjektwahrendes «Menschenrecht auf Antithese» auf, welches sodann in Bezug auf dessen Inhalts- sowie Ausübungsebene näher zu untersuchen ist.26 Verbunden damit wird zudem der Frage nach dem rechtlichen Gehör und der Waffengleichheit als den Kernausübungselementen des Menschenrechts auf Verteidigung im Strafverfahren nachzugehen sein.27
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Die dialektische Natur des Straf- und Beweisverfahrens auf der einen Seite und die menschenwürde- und mit dieser die prozesssubjektwahrende Natur 19 20 21 22 23 24 25 26 27
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Siehe dazu Kap. 3 B. III. 1. Siehe dazu Kap. 3 B. III. 2. Siehe dazu Kap. 4. Siehe dazu Kap. 4 A. Siehe dazu Kap. 4 B. Siehe dazu Kap. 2. Siehe dazu Kap. 3. Siehe dazu Kap. 4 B. I. und II. Siehe dazu Kap. 4 B. III.
Kapitel 1: Gegenstand und Gang der Untersuchung
eines als fair bewerteten Straf- und Beweisverfahrens auf der anderen Seite zusammenführend, wird die Frage einer Verdichtung des dem Angeklagten zuzusprechenden Menschenrechts auf Verteidigung zu einem prozesssubjektwahrenden «Menschenrecht auf Antithese» im Straf- und Beweisverfahren sodann im Folgenden mit Blick auf eine konkretisierte Ausformung des Menschenrechts auf Verteidigung in Gestalt des Konfrontationsrechts des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen im Einzelnen untersucht.28 Ging es bisher um den Wahrheitsermittlungsprozess als Ganzen, der das gesamte Strafund Beweisverfahren erfasst, so ist der Blick in den sich anschliessenden Untersuchungen nun konzentriert auf ein bestimmtes Teilstück dieses gesamten Wahrheitsermittlungsprozesses, nämlich auf die Wahrheitsermittlung speziell im Zusammenhang mit Belastungszeugen und deren den Angeklagten belastenden Zeugenaussagen. Auch hier geht es um die stets zusammenzudenkenden – bzw. in dieser Arbeit zusammenzuführenden – dialektischen und aus der Menschenwürde fliessenden prozesssubjektwahrenden Momente, die in die Untersuchungen des die Inhaltsebene ansprechenden Wesensgehaltes und der Ausübungsebene des Menschenrechts des Angeklagten auf Zeugenkonfrontation einfliessen.29 Zwei Schwerpunkte werden hierbei gelegt: Zum Ersten wird – wie schon zuvor bei dem Menschenrecht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren und dem Menschenrecht auf Verteidigung – eine menschenrechtsschützende Perspektive eingenommen und es werden die menschenrechtlichen Vorgaben untersucht, die für das Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen – mit Blick auf dessen Wesensgehalt,30 Schutzbereich31 und Einschränkungsvoraussetzungen32 – gerade durch Art. 6 III d EMRK aufgestellt und durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) näher ausdifferenziert sind, wobei zur Bestimmung des Wesens- und Ausübungsgehaltes des Konfrontationsrechts ebenfalls aussagepsychologische Erkenntnisse Eingang in die Untersuchungen finden.33 Anschliessend wird zum Zweiten gefragt, welche Bedeutungen jenen menschenrechtlichen Vorgaben für das Konfrontationsrecht des Angeklagten in zwei Strafverfahren auf nationaler und internationaler Ebene, nämlich im schweizerischen Strafverfahren und im Strafverfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) zukommen.34 Nach einer Untersuchung der durch das nationale und internationale Strafverfahrensrecht vorgegebenen 28 29 30 31 32 33 34
Siehe dazu Kap. 5. Siehe dazu Kap. 5 A. und B. Siehe dazu Kap. 5 A. Siehe dazu Kap. 5 B. I. Siehe dazu Kap. 5 B. II. Siehe dazu Kap. 5 A. II. Siehe dazu Kap. 5 C.
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Kapitel 1: Gegenstand und Gang der Untersuchung
Form des Beweisverfahrens und der Zeugenbeweiserhebung, in die das Konfrontationsrecht im Strafverfahren der Schweiz und des ICTY jeweils eingestellt ist,35 wird das Konfrontationsrecht in dessen Ausgestaltung im Einzelnen im schweizerischen und internationalen Strafverfahren vor dem ICTY untersucht.36 Nachzugehen ist dabei der Bedeutung der menschenrechtlichen Vorgaben und der Frage, in welcher Weise diese im nationalen Strafverfahren der Schweiz und im internationalen Strafverfahren vor dem ICTY Verwirklichung finden – oder auch nicht finden – sowohl in Bezug auf die Grundlinien und den Wesensgehalt des Konfrontationsrechts37 als auch in Bezug auf den Schutzbereich des Konfrontationsrechts,38 dessen Einschränkbarkeit und hier eröffnete (ausgewählte) Einschränkungsformen und die zu achtenden Einschränkungsvoraussetzungen.39 Durch die Darstellungen der menschenrechtlichen Vorgaben der EMRK und des EGMR für ein konventionskonform gewährtes Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen und ihrer – mit diesen übereinstimmenden und/oder nicht übereinstimmenden – Verwirklichung und Umsetzung im schweizerischen Strafverfahren und im Strafverfahren vor dem ICTY und nicht zuletzt auch durch kritische Auseinandersetzungen mit bisher ungeklärten Fragestellungen werden für die Zeugenkonfrontation wichtige Inhalts- und Ausübungselemente sichtbar gemacht, die es für ein sich hier konkretisierendes Menschenrecht auf Verteidigung als erforderlich zu beachten gilt.
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Siehe dazu Kap. 5 C. I. Siehe dazu Kap. 5 C. II. Siehe dazu Kap. 5 C. II. 1. Siehe dazu Kap. 5 C. II. 2. Siehe dazu Kap. 5 C. II. 3.
Kapitel 2 Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung» im Kontext des Strafverfahrens und strafprozessualen Beweisverfahrens A.
Strafgerechtigkeit und Strafverfahren
Auf der Suche nach der Bedeutung von Fairness und dem Inhalt eines «Menschenrechts auf Verteidigung» im Strafverfahren gilt es zunächst, den «Rahmen» selbst, d.h. das Strafverfahren und die an dieses sich richtenden Anliegen näher zu betrachten, um aus hierbei gewonnenen Erkenntnissen zu Rahmenvorgaben und -kennzeichen wichtige Erkenntnisse auch für die «Fairness» als eine an das Strafverfahren angelegte Qualität und für ein sich im Rahmen, im Kontext des Strafverfahrens entfaltendes «Menschenrecht auf Verteidigung» schlussfolgern und weiter ausdifferenzieren zu können.
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Nach Zielen einerseits und Qualitäten andererseits zu fragen, die sich mit einem Strafverfahren verknüpfen, gilt es, die Begriffe «Strafgerechtigkeit» und «Strafverfahren» in einen direkten Zusammenhang zu bringen, was Fragen danach aufwirft, ob sich Strafgerechtigkeit, betrachtet als Ziel des Strafverfahrens, als etwas vom Strafverfahren selbst Unabhängiges ausweist, oder ob sich Strafgerechtigkeit umgekehrt gar nur oder doch zumindest auch auf das Strafverfahren an sich erstreckt. Berührt sind Fragen danach, ob Strafgerechtigkeit allein etwas ist, das es durch das Strafverfahren zu erreichen gilt, ohne sich dabei jedoch auf das Strafverfahren selbst zu beziehen, oder ob Strafgerechtigkeit nicht vielmehr ohne einen Bezug zum Strafverfahren selbst nicht zu denken ist, sei dies, dass Strafgerechtigkeit entweder allein aus der Betrachtung des Strafverfahrens an sich zu beurteilen oder dass für die Suche nach Strafgerechtigkeit das Strafverfahren als solches zumindest auch neben dem zu beachten ist, was es durch das Strafverfahren zu erreichen gilt. Die damit angesprochene Diskussion um die materiellen und prozeduralen Gerechtigkeitskomponenten eines Strafverfahrens sind mit Fragen nach Zielen und Qualitäten des Strafverfahrens auf das Engste verbunden. Ausgehend von einer Betrachtung des Verhältnisses zwischen (materiellem) Strafrecht im engen Sinne und Strafverfahrensrecht, welche sich beide unter den Oberbegriff des Strafrechts im weiten Sinne einordnen lassen, und von einer Einordnung des Strafverfahrensrechts in das Strafrecht im weiten Sinne sowie darüber hinausgehend auf der Grundlage eines Einstellens des Strafverfahrensrechts in «das Recht» überhaupt, ist den Fragen nach den sich von einander unterscheidenden Zielen einerseits und Qualitäten des Strafverfahrens ande-
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Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
rerseits im Folgenden nachzugehen. Diese Einordnung des Strafverfahrensrechts in das Strafrecht im weiten Sinne und das Recht überhaupt erlaubt nicht nur wichtige Schlüsse (erstens) zum Verhältnis von (materiellem) Strafrecht im engen Sinne und Strafverfahrensrecht, an welche sich wiederum Schlussfolgerungen für die materielle Gerechtigkeitskomponente knüpfen, sondern (zweitens) aufgrund der Teilhabe des Strafverfahrensrechts an der «Natur», selbst Recht zu sein, zudem wichtige Schlüsse für das Verfahrensgerechte des Strafverfahrens selbst und damit die prozedurale Gerechtigkeitskomponente. Wichtige Erkenntnisse lassen sich aus jener Einordnung des Strafverfahrensrechts nicht zuletzt (drittens) dazu gewinnen, in welcher Weise sich die materielle und die prozedurale Gerechtigkeitskomponente des Strafverfahrens zu einem von diesen beiden Gerechtigkeitskomponenten in ihrem Zusammenspiel zu erfüllenden insgesamt Strafgerechten verbinden.
I. 9
«Dienende Funktion» und «eigenständige Werthaftigkeit» als die zwei Wesenszüge des Strafverfahrensrechts
An Zielen des Strafverfahrens werden, dem Komplexen Rechnung tragend, das das Strafverfahren zu leisten hat,40 eine Vielzahl unterschiedlicher Gesichtspunkte genannt und jene vorgetragenen Prozessziele nicht selten schlicht nebeneinander gestellt, ohne näher zu berücksichtigen, dass und in welcher Weise diese Ziele – eben nicht schlicht nebeneinander, sondern – in einem bestimmten mehrebigen Verhältnis zueinander stehen.41 Mehr noch werden mit dem Strafverfahren verbundene Aspekte als Ziele desselben benannt, die bei genauerer Betrachtung nicht als Ziele, sondern als Qualitäten des Strafverfahrens zu begreifen sind.42 Eine materiell richtige Entscheidung und die Herbeiführung von Wahrheit und Gerechtigkeit,43 die Wahrung der 40 41
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Dazu auch MURMANN, GA 2004, S. 67: „Komplexität der Leistungen des Prozesses“. Darauf ebenso hinweisend MURMANN, GA 2004, S. 67: „liegen ersichtlich auf unterschiedlichen Ebenen“. MURMANN, GA 2004, S. 67: „lassen sich teilweise als eigenständige Zielvorgaben nicht begreifen“, siehe dort auch die zutreffende Kritik daran, das prozessordnungsgemässe Zustandekommen einer Entscheidung als Ziel des Strafverfahrens verstehen zu wollen, S. 67; dazu ebenso mit Recht kritisch NEUMANN, ZStW 1989, S. 61. Siehe WEIGEND, ZStW 2001, S. 271: „Streben nach Wahrheit und Gerechtigkeit“; HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, S. 241 f. N 1 ff.; DONATSCH/SCHWARZENEGGER/ WOHLERS, S. 3 f.; SCHMID, S. 3 N 8; NEUMANN, ZStW 1989, S. 52 f., 60, insbesondere zum asymmetrischen Verhältnis von Wahrheit und Gerechtigkeit und dazu, dass Wahrheit die „Voraussetzung“ (S. 52) der Gerechtigkeit ist, siehe S. 52 FN 1; HÖRNLE, Rechtstheorie 2004, S. 177; näher auch WESSLAU, S. 19 ff. insbesondere zur Wahrheit als Ziel des Prozesses; DEMKO, Festschrift Riklin, S. 352: materielle Wahrheit als „Zwischenschritt“ zur materiellen Gerechtigkeit; MURMANN, GA 2004, S. 65;
Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
Justizförmigkeit des Verfahrens und das prozessordnungsgemässe Zustandekommen der Entscheidung44 und/oder das Herstellen von Rechtsfrieden45 sind als Ziele des Strafverfahrens im Schrifttum häufig – einmal nur einzelne davon, das andere Mal alle zusammen – genannt, was aber allein nicht genügt, um das Zusammenwirken von materieller und prozeduraler Gerechtigkeit sowie die Einbettung des Strafverfahrens in das Spannungsverhältnis jener Gerechtigkeitskomponenten hinreichend zu erklären. Erst die Einordnung des Strafverfahrensrechts in das Strafrecht im weiten Sinne sowie in das Recht an sich erlaubt es, nicht nur die Ziele des Strafrechts im weiten Sinne und des Rechts überhaupt herauszuarbeiten, in die wiederum das Strafverfahrensrecht als dessen Teil eingestellt ist, sondern ebenso die gerade speziellen Ziele des Strafverfahrens(rechts) selbst aufzuzeigen, die nur diesem, nicht jedoch auch dessen übergeordneten Ebenen des Strafrechts im weiten Sinne und des Rechts an sich zuzuordnen sind.46 Für das friedliche Zusammenleben der Menschen – sei dies auf der Ebene der Familie oder eines Staates oder weltweit, um nur einige Sozialordnungen zu nennen, in denen Menschen mitei-
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ESER, Strafjustiz, S. 435 f. zur Verbindung von Wahrheit, Gerechtigkeit und Rechtsfrieden; PERRON, Beweisantragsrecht, S. 38; SEELMANN, Wahrheit und Strafverfahren, S. 363; HETZER, S. 19 ff.; SCHAPER, S. 111 f. sowie zu den weiteren Prozesszweckbestimmungen näher S. 107 ff. Siehe zur Nennung des prozessordnungsgemässen Zustandekommens einer Entscheidung als eines der Ziele des Strafverfahrens etwa ROXIN/SCHÜNEMANN, S. 2 N 3: „Ziel des Strafverfahrens ist … die (1) materiell richtige, (2) prozessordnungsmäßig zustande kommende, (3) Rechtsfrieden schaffende Entscheidung über die Strafbarkeit des Beschuldigten“ (kursive, im Original fettgedruckte Hervorhebung Roxin/ Schünemann); HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, S. 242 N 3: „Justizförmigkeit des Verfahrens“; DONATSCH/SCHWARZENEGGER/WOHLERS, S. 4; TRÜG, S. 64; SEELMANN, Wahrheit und Strafverfahren, S. 363; HETZER, S. 25; kritisch zur Justizförmigkeit als Ziel des Verfahrens zu recht NEUMANN, ZStW 1989, S. 60 f., siehe dazu auch näher im folgenden Haupttext. DONATSCH/SCHWARZENEGGER/WOHLERS, S. 4; PIETH, S. 2; ROXIN/SCHÜNEMANN, S. 2 N 3; SCHMIDHÄUSER, Festschrift Schmidt, S. 516; WEIGEND, S. 213 ff.; MURMANN, GA 2004, S. 69 f.; NEUMANN, ZStW 1989, S. 64 f.; siehe zudem zutreffend DUTTGE, ZStW 2003, S. 543 f., der den Rechtsfrieden nicht als überflüssigen oder nur Nebenzweck, sondern als den „zentrale(n) Fokus aller materiell- wie formell-strafrechtlichen Regelungen“ (S. 543) ausweist und dessen Teilhabe an der „fundamentalen Rechtsfriedensfunktion der gesamten staatlichen Rechtsordnung“ (S. 543, Hervorhebung Demko) betont; ARZT, Festschrift Schmid, S. 634; MÜLLER-DIETZ, ZStW 1981, S. 1205; SEELMANN, Wahrheit und Strafverfahren, S. 363; JESCHECK, S. 12; TRÜG, S. 65 f.; SCHAPER, S. 112 ff. Zur Differenzierung zwischen Zielen allen Rechts und speziellen Zielen gerade des Strafverfahrens siehe auch MURMANN, GA 2004, S. 69 f., siehe zudem S. 76 zu der Entwicklung des Strafverfahrenszwecks aus dem Zweck des Strafrechts und dessen Ableitung aus dem Recht überhaupt.
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Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
nander leben – an das Postulat des Gerechten anknüpfend und Recht in seiner friedensschützenden Funktion als Mittel zur Herstellung und Wahrung eines gerechten Miteinanderlebens von Menschen verstehend,47 um auf diese Weise die Grundlage für ein auch friedliches Zusammenleben von Menschen zu legen,48 nimmt Recht zur Erreichung seines (Fern-)Ziels «Rechtsfrieden» solche ursprünglich ausserhalb des Ordnungssystems Recht stehenden Werte in sich auf,49 die es – und zwar gerade mit dem Mittel des Rechts – als schutzbedürftig und -würdig anerkennt.50 Recht als Werteordnung zu begreifen, verweist auf das (Nah-)Ziel von Recht in Gestalt des Schutzes von Werten,51 genauer von solchen Werten, bezüglich derer das Recht die Entscheidung trifft, diese in sein Ordnungssystem zu integrieren und auf diese Weise ursprünglich vor- bzw. ausserrechtliche Werte zu Rechtswerten zu machen:52 47
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Siehe dazu auch RADBRUCH, S. 256 ff.: „Die Idee des Rechts kann nun keine andere sein als die Gerechtigkeit“ (S. 256) und Gerechtigkeit als „das spezifische Rechtsprinzip, dasjenige, das für die Begriffsbestimmung des Rechts maβgeblich ist: Recht ist die Wirklichkeit, die den Sinn hat, der Gerechtigkeit zu dienen“ (S. 259); RÜTHERS/ FISCHER, S. 228 N 347: „Gerechtigkeit schafft Frieden“. Siehe auch DUTTGE, ZStW 2003, S. 543 f. zur Verbindung von Recht und Frieden; WEIGEND, S. 213 ff. zum Ziel des Strafverfahrens als „Wiederherstellung des Rechtsfriedens durch Klärung des Tatverdachts“ (S. 215); siehe dazu zudem MURMANN, GA 2004, S. 69; zum Friedensbeitrag speziell des Völkerstrafverfahrens(rechts) in Auseinandersetzung mit Kants Friedensschrift und deren sechsten Präliminarartikel siehe DEMKO, Festgabe Juristentag, S. 129 ff. Dazu auch näher RÜTHERS/FISCHER, S. 268 N 405, wonach Rechts- und Moralnormen „eine gemeinsame Grundlage in den fundamentalen Wertvorstellungen über das menschliche Zusammenleben (haben), die Grundwerte genannt werden“ (Hervorhebung Demko). Siehe dazu mit Bezug auf das Strafrecht JESCHECK, S. 12, wonach der „Zweck des Strafrechts … in erster Linie die Erhaltung von Rechtsfrieden und Rechtssicherheit durch den Schutz der Grundwerte des Zusammenlebens in der Gemeinschaft …“ (Hervorhebung Demko) ist; RADBRUCH, S. 255: Recht als ein „Begriff von einer wertbezogenen Wirklichkeit, einer Wirklichkeit, die den Sinn hat, einem Werte zu dienen …“ (Hervorhebung Demko). Näher dazu auch RÜTHERS/FISCHER, S. 268 N 405; STEINER, S. 161, 163, 179; SEELMANN, Rechtsphilosophie, S. 102 f. zu „Wertentscheidungen“ (S. 102 und ebenso S. 103) des Gesetzgebers; siehe bezogen auf das Strafrecht auch instruktiv die Ausführungen von JESCHECK, S. 5 f., wonach das Strafrecht „nicht überall eingreifen (kann), wo Störungen des Gemeinschaftslebens auftreten, sondern … auf den Schutz der Grundwerte der Sozialordnung beschränkt bleiben (muss)“ (S. 5, Hervorhebung Demko) und allen Strafrechtsnormen „positive Werturteile über Lebensgüter zugrunde(liegen), die für das Zusammenleben der Menschen in der Gemeinschaft unentbehrlich sind“ (S. 6, Hervorhebung Demko). Instruktiv dazu im Zusammenhang mit dem strafrechtlichen Rechtsgüterschutz JESCHEK, S. 6, 12: „Durch die Aufnahme dieser Werte in den Schutzbereich der Rechts-
Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
Rechtswerte, gemeint in dem Sinne, dass es nunmehr Werte sind, die in den «Schutz durch Recht» aufgenommen sind und welche in ihrem Zusammenwirken Recht als eine (Rechts-)Werteordnung erkennbar machen.53 Zielt Recht im Allgemeinen und auch Strafrecht (im weiten Sinne) – und hier speziell mit dem strafrechtlichen Rechtsgüterschutz das (materielle) Strafrecht im engen Sinne – im Besonderen auf den Schutz von Werten, bezüglich derer die Entscheidung getroffen ist, diese in das Ordnungssystem (Straf)Recht zu überführen, so werden jene Rechtswerte im Folgenden vom Recht nicht «irgendwie» geschützt, sondern mit jenem angestrebten Werteschutz verbindet sich der Anspruch des Rechts, jene Werte «gerecht» zu schützen:54 Recht als Normenkategorie stellt eine verbindliche Sollensordnung55 dafür auf, in welcher Weise welche der vielzähligen und vielfältigen Werte dergestalt durch Recht zu schützen sind, dass jener angestrebte Werteschutz als ein auch «gerechter» Werteschutz zu erkennen ist. Mit dem «Gerechten» des Werteschutzes ist damit eine Qualität angesprochen, die an den Ausgleich, die
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ordnung werden sie zu Rechtsgütern“ (S. 6, Hervorhebung Demko), „Schutz der Grundwerte des Zusammenlebens in der Gemeinschaft“ (S. 12, Hervorhebung Demko); RADBRUCH, S. 255: „dem Rechtswerte“ (Hervorhebung Radbruch); siehe zur Verbindung von Wert und Rechtsgut auch bereits VON HIPPEL, S. 10 ff.: Kennzeichnung des „im „Gute“ liegenden Wertbegriff(s)“ (S. 13); KAUFMANN, Bindings Normentheorie, S. 69 ff.; SCHMIDHÄUSER, S. 84 f. N 25 ff., wonach der Rechtsgutsbegriff „nur unter Rückgriff auf den der allgemeinen Wertlehre zugehörenden Begriff des Gutes zu bestimmen“ (S. 84 N 25) und unter Gut das zu verstehen sei, das für jemanden, etwa für ein Individuum oder die Gesellschaft „wertvoll“ (S. 84 N 25, ebenso S. 85 N 28) ist; AMELUNG, S. 4 ff. RÜTHERS/FISCHER, S. 268 N 405 zu dem Beruhen auf gemeinsamen materiellen „Wertüberzeugungen“ bzw. „Wertvorstellungen“: „Jede Rechtsordnung beruht auf einer moralischen Wertordnung“ (Hervorhebung Demko); STEINER, S. 161, 163 zu der in den Grundrechten zum Ausdruck kommenden Werteordnung; siehe auch RADBRUCH, S. 255: „… Recht ist die Wirklichkeit, die den Sinn hat, dem Rechtswerte, der Rechtsidee zu dienen …“ (Hervorhebung Radbruch). Zur Verknüpfung von Recht und Gerechtigkeit bei der Begriffsbestimmung von Recht schon bei dem Juristen Celsus und der Übernahme des «Jus est ars boni et aequi» in die Digesten des Kaisers Justinian (438-565) sowie zur Begriffsbestimmung von Recht durch Thomas von Aquin als „Kunst, zu erkennen, was gerecht sei“ (S. 25 N 3, Hervorhebung Demko), siehe SEELMANN, Rechtsphilosophie, S. 25 N 3; RADBRUCH, S. 256 ff. zum Sinn des Rechts, der „Gerechtigkeit zu dienen“ (S. 259) und der Gerechtigkeit als „das spezifische Rechtsprinzip, dasjenige, das für die Begriffsbestimmung des Rechts maβgeblich“ (S. 259) ist; zum Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit ebenso näher RÜTHERS/FISCHER, S. 222 ff.: Gerechtigkeit als „Prüfungsmaβstab des staatlichen („positiven“) Rechts“ (S. 229 N 348). Zu dem Aspekt des Normativen und der Sollensanweisung(en) (S. 43 N 49) sowie des „… „Gesolltsein(s)“ des Norminhalts“ (S. 42 N 46) siehe näher SEELMANN, Rechtsphilosophie, S. 41 ff., 48.
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Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
Ausbalancierung und Verteilung von Werten in deren Verhältnis zu- und miteinander anknüpft.56 Das Recht in dessen normativen Natur trifft die Entscheidung, welche der ursprünglich ausserhalb des Rechts stehenden Werte in dieses zu überführen sind und hat sodann in dieser seiner Sollensnatur zu beurteilen und abzuwägen, in welcher Weise und mit welchem Gewicht die unterschiedlichen (Rechts-)Werte im Verhältnis zu- und miteinander geschützt werden sollen.57 Jener «gerechte Werteschutz» gilt ebenso für das Strafrecht im weiten Sinne, wobei hier – und dies ist zu betonen – jedoch speziell einem seiner beiden Teile, nämlich gerade dem (materiellen) Strafrecht im engen Sinne mit Bezug auf dessen verbindliche Sollensnatur die Aufgabe zukommt, zum einen aus den ausserrechtlichen Werten diejenigen zu wählen, die durch das ultima ratio-Mittel des Strafrechts geschützt werden sollen, sowie sodann zum anderen zu entscheiden, in welchem Vor-, Gleichoder Nachrangverhältnis die verschiedenen nunmehr Strafrechtswerte strafrechtlich geschützt werden sollen. Es ist dieser Schutz der Strafrechtswerte – und zwar nicht nur bezüglich der Entscheidung über das Ob des Schutzes jedes einzelnen der vom (materiellen) Strafrecht im engen Sinne auserwählten Werte, sondern auch in Bezug auf die ebenso vom (materiellen) Strafrecht im engen Sinne getroffene Entscheidung über das auszubalancierende und zu verteilende Miteinander jener Strafrechtswerte, unter Umständen gar in Verbindung mit der Entwicklung einer Hierarchie von Strafrechtswerten58 –, der das spezielle (Nah-)Ziel des (materiellen) Strafrechts im engen Sinne bestimmt. 11
Sich in dieser verbindlichen Sollensanweisung ernst nehmen zu lassen und sich nicht auf blosse papierene Symbolik zu reduzieren, bedeutet und verlangt nun, dass dieser vom (materiellen) Strafrecht im engen Sinne angestrebte gerechte Strafrechtswerteschutz ein in der Praxis auch wirksamer, durchsetzbarer Schutz ist. Für dieses (Folge-)Moment des auch praktisch Wirksamseins schafft sich Recht, auch das Strafrecht im weiten Sinne, eine Durchset-
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Siehe dazu im Zusammenhang mit der Fairness des Strafverfahrens, die Steiner als „Optimierungsgebot“ (S. 187) versteht und mit vorzunehmenden Abwägungen verbindet, näher STEINER, S. 179 ff., 187 ff.; siehe auch HÖRNLE, Rechtstheorie 2004, S. 194, wonach das Fairnessprinzip der Vermittlung zwischen konträren Interessen und der Ausbalancierung widerstreitender Interessen dient; zur austeilenden und ausgleichenden Gerechtigkeit siehe etwa RÜTHERS/FISCHER, S. 231 ff. Zu der das Strafverfahrensrecht prägenden Notwendigkeit der Abwägung der verschiedenen „im Spannungsfeld“ (S. 4, Überschrift vor N 11) stehenden Kräfte und (Kollektiv- wie Individual-)Interessen siehe SCHMID, S. 4 f. N 11 ff.; HÖRNLE, Rechtstheorie 2004, S. 194; HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, S. 2 f. N 1 ff. Zur Interessensabwägung und zu einer möglichweise zu errichtenden „Hierarchie von Werten“ (S. 103 N 3) siehe auch SEELMANN, Rechtsphilosophie, S. 103 N 3.
Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
zungsebene,59 heisst die durch das (materielle) Strafrecht im engen Sinne gegebene Sollensanweisung eines bestimmten strafrechtlichen Schutzes doch nicht gleichsam automatisch, dass diese Strafrechtswerte auch tatsächlich geschützt und umgesetzt werden.60 Jene Durchsetzungsebene erfüllt im Strafrecht im weiten Sinne dessen zweiter Teil in Gestalt des Strafverfahrensrechts, dessen Aufgabe und (Nah-)Ziel aus der notwendigen Anknüpfung des Strafverfahrensrechts an die vorgängige Ebene des (materiellen) Strafrechts im engen Sinne folgt: Gibt letzteres vor, was es an Strafrechtswerten in welchem Verhältnis zueinander zu schützen gilt, ist es – an diese Ausgangsentscheidung und bezüglich jener Strafrechtswerte als inhaltliche Grundentscheidung anknüpfend – nunmehr spezielles (Nah-)Ziel des Strafverfahrensrechts, für eine praktisch wirksame Durchsetzung jener Grundentscheidung des (materiellen) Strafrechts im engen Sinne zu sorgen.61 Beide, das (materielle) Strafrecht im engen Sinne und das Strafverfahrensrecht, stehen in einer untrennbaren Verbindung zueinander und ergänzen sich mit ihren jeweils speziellen (Nah-)Zielen,62 um den immer auch als wirksam verstandenen, gerechten (Strafrechts-)Werteschutz als das zu erreichen, was durch Recht und Strafrecht im weiten Sinne angestrebt wird.63 Eingestellt in dieses übergeordnete und sie einende Streben nach wirksamem gerechten (Strafrechts)Werteschutz sind die speziellen Nahziele und die damit verbundenen speziellen «Aufgaben» zwischen (materiellem) Strafrecht im engen Sinne und Strafverfahrensrecht unterschiedlich verteilt und in ein „Verhältnis der notwendigen Ergänzung“64 gestellt: Dies insofern, als – und dies kennzeichnet entsprechend die unterschiedlichen speziellen Nahziele – das (materielle) Strafrecht im engen Sinne die Grundentscheidung zur Auswahl der durch Strafrecht zu schützenden Werte sowie zu Abwägungsfragen im Verhältnis jener Werte 59
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Die hier verwendeten Begriffe der «Durchsetzungsebene» bzw. «Durchsetzung» werden in einem weiten Sinne verstanden und sprechen nicht nur die Strafvollstreckung als eigentliche Durchsetzung im engen Sinne an, sondern das gesamte Strafverfahren unter Einschluss der Tatsachenfeststellung im strafprozessualen Beweisverfahren. Siehe auch JESCHECK, S. 13: „zur Durchsetzung“ und „dient der Verwirklichung des materiellen Strafrechts“ (Hervorhebung Demko); HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, S. 5 N 4: „durchgesetzt würde“. Siehe dazu auch PERRON, Beweisantragsrecht, S. 38, wonach das Strafverfahrensrecht „die Umsetzung der allgemeinen Regeln des materiellen Strafrechts in die Wirklichkeit zu leisten hat“. Dazu auch PERRON, Beweisantragsrecht, S. 39 f. Siehe ähnlich auch MURMANN, GA 2004, S. 71: „auf den einen Zweck der Rechtsverwirklichung hingeordnet“. MURMANN, GA 2004, S. 71 (Hervorhebung Demko); siehe auch PERRON, Beweisantragsrecht, S. 39: „… gleichberechtigte Partner zur Herstellung einer Wirkungseinheit “Staatliches Strafen” …“
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Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
zueinander trifft, während es dem Strafverfahrensrecht anknüpfend an jene vorgängige Grundentscheidung speziell um die Durch- und Umsetzung dieser zu gehen bestimmt ist. Beide bedingen und benötigen einander, soll das übergeordnete Ziel eines wirksamen gerechten Werteschutzes nicht an sich in Frage gestellt werden. Denn das (materielle) Strafrecht im engen Sinne ist ohne das Strafverfahrensrecht «leer» im Sinne von bar seiner nötigen Durchsetzungskomponente und verlangt mithin nach dem Strafverfahrensrecht, um ein nicht nur auf dem Papier, sondern auch praktisch lebendiges (materielles) Strafrecht im engen Sinne zu sein,65 während das Strafverfahrensrecht ohne (materielles) Strafrecht im engen Sinne «blind» ist, weil nicht sehend, was es überhaupt durchsetzen soll,66 nicht erkennend, um die Sicherung welcher (Strafrechts-)Werte willen es als Durchsetzungsebene geschaffen wurde.67 12
Aus dem engen und untrennbaren Miteinander-im-Zusammenhang-Stehen von (materiellem) Strafrecht im engen Sinne und Strafverfahrensrecht sowie aus der speziellen Aufgabenverteilung zwischen beiden, nach der das (materielle) Strafrecht im engen Sinne der sich diesem anschliessenden Durchsetzungsebene notwendig vorangeht,68 folgt das, was als dienende Funktion des Strafverfahrensrechts bezeichnet wird:69 «Dienend» ist dabei nicht in einem abwertenden, degradierenden, dem Strafverfahrensrecht selbst jede Werthaf65
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Im Einzelnen dazu MURMANN, GA 2004, S. 72 ff.; HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, S. 5 N 4 zur Wirkungslosigkeit des materiellen Rechts ohne Durchsetzung durch das Prozessrecht; DUTTGE, ZStW 2003, S. 543: „die „Durchsetzungsfunktion“ des Strafverfahrens“. Siehe auch PERRON, Beweisantragsrecht, S. 39 zur Bindung des Strafverfahrensrechts an das materielle Strafrecht und dessen Zwecke; zutreffend auch deutlich MURMANN, GA 2004, S. 70, wonach das Strafverfahren nicht Selbstzweck sei, sondern „nur um der Verfolgung eines Zwecks willen legitimierbar“ sei; HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, S. 5 N 4: „nicht zum Selbstzweck werden“; DEMKO, Festschrift Riklin, S. 358: „nicht um seiner selbst willen durchzuführen“; NEUMANN, ZStW 1989, S. 70; siehe auch DUTTGE, ZStW 2003, S. 542, 543: „Denn nur derjenige, der weiβ: wozu, kann ermessen, welche Mittel dafür unverzichtbar sind“ (S. 542, Hervorhebung Duttge); THEILE, S. 320. Zur Verwendung der Begriffe blind und leer im Zusammenhang mit der strafprozessualen Wahrheitsermittlung siehe näher unter Kap. 2 B. I. 2. Siehe HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, S. 5 N 4 zur „beherrschende(n) Stellung“ des materiellen Rechts; siehe auch NEUMANN, ZStW 1989, S. 53 ff. zur „klaren Dominanz des materiellen Strafrechts“ (S. 53), aber auch zu den zutreffenden Ausführungen gegen die Anerkennung einer nur dienenden Funktion des Strafverfahrensrechts; WEIGEND, ZStW 2001, S. 278 f., wonach der Klärung des Tatverdachts „die bestimmende Rolle einzuräumen“ ist. Siehe zur dienenden Funktion des Strafverfahrensrechts etwa SCHMID, S. 2 N 6: „Strafprozessrecht ist … Diener des materiellen Strafrechtes“ (im Original fettgedruckte Hervorhebung Schmid); HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, S. 5 N 4.
Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
tigkeit nehmenden Sinne zu verstehen.70 Vielmehr ergibt sich die Bedeutung jenes Dienens eben aus der speziellen Aufgabenverteilung zwischen dem (materiellen) Strafrecht im engen Sinne und dem Strafverfahrensrecht und ist damit in einem funktionalen Sinne zu verstehen, indem es Aufgabe, Funktion – und zwar eine notwendige und werthafte Funktion – des Strafverfahrensrechts ist, der Sicherung der Durchsetzung des (materiellen) Strafrechts im engen Sinne zu dienen. Steht dieses, das spezielle Nahziel des Strafverfahrensrechts, mit seiner dienenden Funktion in Verknüpfung und folgt beides aus dem Verhältnis, in welchem das (materielle) Strafrecht im engen Sinne und das Strafverfahrensrecht (im Rahmen des Strafrechts im weiten Sinne) in einem funktionalen Sinne zueinanderstehen und welches dem Strafverfahrensrecht die funktionale Nachfolge zuweist, so sind die zu recht betonte Ablehnung einer rein oder nur dienenden Funktion des Strafverfahrens71 und die Hervorhebung einer auch eigenständigen72 Werthaftigkeit des Strafverfahrens nun mit dem anderen, ebenso bereits aufgeführten Moment verknüpft,73 dass das Strafverfahrensrecht selbst Teil des Rechts bzw. (genauer) selbst Recht ist: Das Strafverfahrensrecht als Recht nimmt damit auch an den das Recht bestimmenden Wesenselementen teil, eine «gerechte Werteordnung» zu sein.74 Erneut, nur eben nun auf einer anderen Ebene, genauer auf der – wenn auch unter funktionaler Betrachtung dem (materiellen) Strafrecht im engen Sinne nachrangigen, weil sich funktional anschliessenden – Durchsetzungsebene trifft das Recht in Gestalt des Strafverfahrensrechts eine Entscheidung über Auswahl von Werten, die für die Durchsetzungsebene selbst, das Strafverfahren an sich geschützt werden sollen und nimmt zudem auch hier Abwägungen und Entscheidungen vor, in welcher Weise im Strafverfahren zusammentreffende unterschiedliche Strafverfahrenswerte in einen Ausgleich miteinander zu 70 71
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Siehe dazu auch bereits DEMKO, Festschrift Riklin, S. 353, 358 f. Siehe zur zutreffenden Ablehnung einer rein, einer nur dienenden Funktion etwa NEUMANN, ZStW 1989, S. 53 ff.; MURMANN, GA 2004, S. 66, 67; siehe dazu auch HÖRNLE, Rechtstheorie 2004, S. 185. Zur Eigenständigkeit des Strafverfahren(srecht)s siehe etwa NEUMANN, ZStW 1989, S. 62: „seine eigenen Wertungen“, „(d)ie „schützenden Formen“ des Verfahrensrechts sind ebenso Bestandteil der Strafrechtspflege“; DEMKO, Festschrift Riklin, S. 358 f.; JOSITSCH, plädoyer 2001, S. 41; TRECHSEL, ZStrR 2000, S. 18: „der Verfahrensgerechtigkeit ein eigener, sogar ein sehr hoher Wert innenwohnt“; siehe zu der „«Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege versus schützende Formen»“ (S. 203) auch näher JUNG, GA 2003, S. 191 ff.; TRÜG, S. 64: „selbstbewuβte Teilautonomie“. Dazu bereits DEMKO, Festschrift Riklin, S. 358, wonach mit der dienenden Funktion und der Eigenständigkeit des Verfahrens „verschiedene, das Verfahren aber jeweils in einer spezifischen Weise ausmachende Momente angesprochen werden“. Siehe in diesem Sinne auch NEUMANN, ZStW 1989, S. 62 zur Strafprozessordnung als „rechtliche Verfahrensordnung“ (Hervorhebung Demko).
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Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
bringen sind.75 Die mit dem Recht einhergehenden Wesenselemente der Herausbildung einer gerechten Werteordnung verwirklichen sich in Bezug auf die beiden Teile des Strafrechts im weiten Sinne, mithin auf eine zweifache Weise, indem das (materielle) Strafrecht im engen Sinne die Werteordnung für die durch das Strafrecht zu schützenden Strafrechtswerte, hingegen das Strafverfahrensrecht die Werteordnung für die Strafverfahrenswerte schafft und schützt. Beide Teile des Strafrechts im weiten Sinne, das (materielle) Strafrecht im engen Sinne und das Strafverfahrensrecht, prägen, da beide Recht sind, (Rechts-)Werteordnungen, und zwar gleichberechtigte und gleichermassen werthafte (Rechts-)Werteordnungen auf einer jeweils eigenen horizontalen Ebene aus.76 14
Jene zwei gleichwertigen horizontalen (Rechts-)Werteordnungen stehen in Folge des funktionalen Zusammenhangs zwischen (materiellem) Strafrecht im engen Sinne und Strafverfahrensrecht nicht völlig losgelöst nebeneinander, sondern sind zugleich in einem vertikalen Sinne miteinander verknüpft. Denn das Strafverfahrensrecht mit seinen für die Strafverfahrensebene horizontal zu treffenden Wertentscheidungen ist aufgrund seiner funktionalen Nachrangigkeit – die aber nicht auch eine geringere Werthaftigkeit des Strafverfahrensrechts im Vergleich zum (materiellen) Strafrecht im engen Sinne bedeutet (!) – und seiner dienenden Funktion notwendig in das ihm funktional vorangehende, durch das (materielle) Strafrecht im engen Sinne vorgegebene Ziel des Strafrechtswerteschutzes eingestellt, für dessen Verwirklichung im Sinne von wirksamer Durchsetzung das Strafverfahrensrecht zu sorgen hat. Es ist zum einen dieser vertikale Blick, den das Strafverfahrensrecht aufgrund seiner dienenden Funktion «nach oben» zum funktional zuerst zum Zuge kommenden (materiellen) Strafrecht im engen Sinne zu richten hat. Es ist zum anderen die aus der Natur des Strafverfahrensrechts als «Recht» fliessende eigenständige Werthaftigkeit, mit der das Strafverfahrensrecht auf seiner horizontalen Ebene, nämlich für die Gestaltung des Strafverfahrens selbst, eine neue, sich nun eigens auf Strafverfahrenswerte beziehende Werteebene eröffnet. Beide Aspekte in ihrem Zusammenwirken führen zudem dazu, dass im Strafverfahren vertikal und horizontal bedingte Wert- und Abwägungsentscheidungen zu treffen und auch miteinander in Einklang zu bringen sind. Angesprochen sind damit zugleich die im und vom Strafverfahren notwendig zu leistende Verwirklichung von sowohl materieller als auch prozeduraler
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Siehe auch HÖRNLE, Rechtstheorie 2004, S. 194 zur Vermittlung zwischen konträren Interessen und der Kennzeichnung des Fairnessprinzips als „ein dienendes Prinzip zur Ausbalancierung wiederstreitender Interessen“; HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, S. 2 f. N 1 ff. Siehe in diese Richtung auch PERRON, Beweisantragsrecht, S. 39: „gleichberechtigte Partner“.
Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
Gerechtigkeit77 und ebenso die damit verbundene Gewährleistung sowohl des Schutzes von «Menschenrechten durch Strafverfahren» als auch des Schutzes von «Menschenrechten im Strafverfahren».78 Nicht nur materieller oder prozeduraler Gerechtigkeit sowie nicht einzig dem Schutz von Menschenrechten «durch» oder «im» Strafverfahren hat das Strafverfahrensrecht zu genügen. Vielmehr zeigt das Zusammentreffen der zwei, jeweils unterschiedliche Bedeutungsapekte des Strafverfahrensrechts ansprechenden Momente – zum einen in Gestalt der dienenden Funktion des Strafverfahrensrechts im Verhältnis zum (materiellen) Strafrecht im engen Sinne und zum anderen in Gestalt der die Natur des Strafverfahrensrechts, selbst Recht zu sein, bestimmenden eigenständigen Werthaftigkeit – auf, dass das Strafverfahren der materiellen und prozeduralen Gerechtigkeit sowie dem Menschenrechtsschutz «durch» und «im» Strafverfahren zur Verwirklichung zu verhelfen hat. Das Spannungs- und Konfliktpotential, das mit der vom Strafverfahrensrecht zu bewältigenden Verwirklichung beider Aspekte der Strafgerechtigkeit – des materiellen und prozeduralen Aspektes – einhergeht, liegt auf das Hand und stellt die gerade an das Strafverfahrensrecht gerichtete Herausforderung dar:79 Eine Herausforderung, die sich in allen der verschiedenen Abschnitte des Strafverfahrens und – bezugnehmend auf die Schwerpunktsetzung in der vorliegenden Untersuchung – insbesondere im strafprozessualen Beweisverfahren offenbart sowie eine Herausforderung, die sich auf die Gestaltung des Strafverfahrens und auf die (mit)gestaltenden Beteiligten am Strafverfahren 77
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Zum Erfordernis der Beachtung von materiellen und prozeduralen Gerechtigkeitskomponenten siehe etwa NEUMANN, ZStW 1989, S. 70, 73 f.; HAUSER/SCHWERI/ HARTMANN, S. 3 N 4: „Einerseits soll es eine möglichst grosse Zuverlässigkeit der Rechtsfindung ermöglichen, andererseits staatlichen Rechtsmissbrauch durch behördliche Willkür und Beeinträchtigung der Verteidigungsrechte verhindern“; SCHMID, S. 3 f. N 8 ff.: „nur unter strenger Beachtung des dafür vorgesehenen Prozesswegs und der etwa in der Verfassung vorgesehenen Garantien und Schranken“ (S. 4 N 10, Hervorhebung Demko); DONATSCH/SCHWARZENEGGER/WOHLERS, S. 3 f., 22 ff.; siehe dazu auch im Zusammenhang mit der Wahrheitsermittlung SEELMANN, Wahrheit und Strafverfahren, S. 362, wonach „jede Wahrheitsermittlung formalen Erfordernissen genügen muβ“ und der Wahrheitsfindung „auch aus Gründen der Fairness des Verfahrens und der Menschenwürde der Verfahrensbeteiligten im heutigen Rechtsstaat Grenzen gezogen sind“. Siehe dazu im Zusammenhang mit dem Bedeutungszuwachs der Strafrechtsvergleichung und -harmonisierung die Ausführungen von SIEBER, S. 82 ff. Zum Spannungs- und Konfliktfeld, welches vom Strafverfahren(srecht) zu bewältigen ist, siehe etwa WEIGEND, ZStW 2001, S. 278: Aufbau eines „funktionierende(n) prozessuale(n) Kraftfeld(es)“; HÖRNLE, Rechtstheorie 2004, S. 194; HAUSER/SCHWERI/ HARTMANN, S. 2 f. N 1 ff.; SCHMID, S. 4 f. N 11 ff.; siehe auch SEELMANN, Wahrheit und Strafverfahren, S. 363: „spannungsgeladenen Trias von Zielen des Strafverfahrens“; siehe auch HARDING, S. 6 f., 14 f.
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Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
und hier – wieder den Bezug zur Schwerpunktsetzung im vorliegenden Buch herstellend – insbesondere auf den Angeklagten und dessen Verteidigung im Straf- und speziell im strafprozessualen Beweisverfahren auswirkt.
II. 15
Die Zusammenführung von materieller und prozeduraler Gerechtigkeitskomponente
Dem speziellen Nahziel des Strafverfahrensrechts, die Durchsetzung des (materiellen) Strafrechts im engen Sinne sicherzustellen, ist die dienende Funktion des Strafverfahrensrechts geschuldet. Beide – Nahziel und dienende Funktion – stehen in einem unmittelbaren und untrennbaren Zusammenhang, beide kennzeichnen die vom Strafverfahrensrecht zu beachtende vertikale, sich an der funktional vorgängigen verbindlichen Grundentscheidung des (materiellen) Strafrechts im engen Sinne auszurichten habende Blickrichtung und durch beide sind die Aspekte der materiellen Gerechtigkeit und des Menschenrechtsschutzes durch Strafverfahren zum Ausdruck gebracht, welche ihrerseits als leitende und funktional vorrangige Aspekte den Massstab ausprägen, dem das Strafverfahrensrecht mit Blick auf seine dienende Funktion und seine funktionale Nachrangigkeit untersteht. Diese materielle Gerechtigkeit verlangt (zum Ersten), dass das Strafverfahren und das durch dieses angestrebte Urteil über die Schuld oder Nichtschuld der beschuldigten Person der Wahrheit und richtigen Rechtsanwendung verpflichtet ist80 und ist zudem (zum Zweiten) mit dem an das Strafverfahren(srecht) anzulegenden Anspruch auf ein ehrliches und unerschütterliches Streben nach materieller Gerechtigkeit und Wahrheit verknüpft,81 welches – soll dieses Streben ein ernstzunehmendes sein – (zum Dritten) nach der Zurverfügungstellung eines entsprechend «geeigneten» Strafverfahren(srecht)s verlangt: Mit der «Geeignetheit» 80
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Zur Wahrheit und Gerechtigkeit als Ziel des Strafverfahrens siehe etwa WEIGEND, ZStW 2001, S. 271: „Streben nach Wahrheit und Gerechtigkeit“; HAUSER/SCHWERI/ HARTMANN, S. 241 f. N 1 ff.; DONATSCH/SCHWARZENEGGER/WOHLERS, S. 3 f.; SCHMID, S. 3 N 8; NEUMANN, ZStW 1989, S. 52 f., 60; WESSLAU, S. 19 ff. insbesondere zur Wahrheit als Ziel des Prozesses; DEMKO, Festschrift Riklin, S. 352: materielle Wahrheit als „Zwischenschritt“ zur materiellen Gerechtigkeit; HÖRNLE, Rechtstheorie 2004, S. 184 zur Erhebung von „Wahrheitsansprüche(n)“ (Hervorhebung Demko); DUTTGE, ZStW 2003, S. 543, wonach das Strafverfahren der Ergebnisrichtigkeit und als Voraussetzung dafür dem Streben nach möglichst umfassender Sachverhaltsaufklärung verpflichtet sein muss. Siehe zum Streben nach Wahrheit und Gerechtigkeit etwa WEIGEND, ZStW 2001, S. 277, 279, 304: „Entscheidend ist allein das allseitige redliche Streben nach Klärung des Tatverdachts“ (S. 279); HÖRNLE, Rechtstheorie 2004, S. 185: „Bemühen um Wahrheitsermittlung“ (Hervorhebung Hörnle); DUTTGE, ZStW 2003, S. 543, 545 f.; siehe dazu auch HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, S. 3 N 6.
Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
ist an dieser Stelle82 das das Strafverfahren kennzeichnende Moment angesprochen, dass das Strafverfahren «in bester Weise» die Grundlagen für die Wahrheitsermittlung und die richtige Rechtsanwendung zu schaffen und zu gewähren hat, um der Wahrheit als Teil der materiellen Gerechtigkeit sowie der materiellen Gerechtigkeit insgesamt so nah wie nur irgend möglich zu kommen.83 Mit der Eigenständigkeit des Strafverfahrensrechts, als Teil von Recht bzw. daraus folgend, selbst Recht zu sein, für den Ablauf und die Gestaltung des Strafverfahrens eine neue, eigene Sollensordnung für den Schutz speziell von Strafverfahrenswerten zu schaffen und zu sichern, ist nun kein weiteres, neben das bereits dargelegte Nahziel – der Durchsetzung des (materiellen) Strafrechts im engen Sinne – tretendes zweites Nahziel und auch kein Fernziel des Strafverfahrens verknüpft, sondern vielmehr ist – wie es Neumann zutreffend herausgearbeitet hat – die „Qualität“84 des Strafverfahrens angesprochen: Die Konzentration nunmehr auf den Ablauf und die Gestaltung der Durchsetzungsebene selbst lenkend, geht es hier um eine unmittelbar verfahrensbezogene, das Strafverfahren in dessen Durchführung an sich in den Mittelpunkt rückende Qualität, welche das Strafverfahren bei bzw. im Rahmen der konkreten Umsetzung seines speziellen, das (materielle) Strafrecht im engen Sinne sichernden Nahzieles zu gewährleisten hat. Das Strafverfahrensrecht als «Recht» stellt auf einer vom (materiellen) Strafrecht im engen Sinne verschiedenen, neuen (horizontalen) Ebene, die sich als Durchsetzungsebene benennen lässt, eine eigene Sollensordnung für auf eben dieser Durchsetzungsebene selbst zu schützende Werte auf und trifft hier neben normativen Entscheidungen (etwa) zum Verfahrensablauf und zur Verfahrensstruktur auch solche zum Schutz von prozeduralen Menschenrechten, d.h. von Menschenrechten im Strafverfahren. Der Umstand, dass es sich bei dem Strafverfahren als Durchsetzungsebene um eine im Verhältnis zur (horizontalen) «Werteebene» des (materiellen) Strafrechts im engen Sinne nachfolgende (ebenfalls horizontale) «Werteebene» handelt, ist allein Konsequenz des Moments des funktionalen Zusammenwirkens von (materiellem) Strafrecht im engen Sinne und Strafverfahrensrecht. Jenes funktionale Zusammenwir82
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Siehe zum zweiten Aspekt der «Geeignetheit» die Ausführungen im Zusammenhang mit der prozeduralen Gerechtigkeitskomponente unter N 17 f. Dazu, dass der Wahrheit und materiellen Gerechtigkeit so nah wie möglich zu kommen ist, die Wahrheitsermittlung dabei aber Beschränkungen faktischer und normativer Art unterliegt, siehe WEIGEND, ZStW 2001, S. 277 f.; dazu auch HÖRNLE, Rechtstheorie 2004, S. 177; DUTTGE, ZStW 2003, S. 544, 553: „… „wahrheitsfördernde“ Bedingungen …“ (S. 553). NEUMANN, ZStW 1989, S. 61 (Hervorhebung Neumann) mit dem treffenden Satz: „Indes ist nicht ohne weiteres zu sehen, wie eine Qualität des Verfahrens zugleich dessen Ziel bilden könnte“ (Hervorhebung Neumann).
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Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
ken ändert aber nichts daran, dass auch die Strafverfahrensrechtsebene als eine Rechtsebene selbst eine normative Ordnung für einen «echten» gerechten Werteschutz, nun eben bezogen auf im Strafverfahren an sich zu schützende Strafverfahrenswerte, aufstellt.85 17
Aus der dienenden Funktion des Strafverfahrens den (Fehl-)Schluss ziehen zu wollen, dass sich das Strafverfahrensrecht in einer blossen technischen Zweckmässigkeitsanordnung erschöpft, verkennt nicht nur, dass bei der Suche nach Wahrheit und materieller Gerechtigkeit sowohl das (materielle) Strafrecht im engen Sinne als auch das Strafverfahrensrecht massgebende Determinanten sind.86 Vielmehr vermischt man bei einem solchen Fehlschluss, Strafverfahrensrecht als blosse Zweckmässigkeitsregel verstehen zu wollen, zudem in einer ebenso falschen Weise das (Durchsetzungs-)Ziel und die damit verbundene (Durchsetzungs-)Funktion des Strafverfahrensrechts mit der von dem Ziel und der Funktion zu unterscheidenden Qualität, die das Strafverfahren(srecht) bei der Erfüllung dieses seines Ziels und dieser seiner Funktion zu gewähren hat:87 Eine Qualität, die vom Strafverfahrensrecht als «Recht», als eine gerade „rechtliche Verfahrensordnung“88 verlangt, neben Regelungen zum Verfahrensablauf und zur Verfahrensstruktur auch Regelungen zum Schutz von prozessualen Rechten der am Strafverfahren Beteiligten, zum Schutz von eben jenen bereits angesprochenen Menschenrechten «im» Strafverfahren in sich aufzunehmen.89 Zwar ist das Strafverfahren in seiner Gesamtheit in Konsequenz seiner dienenden Funktion immer zuvörderst der Wahrheit und materiellen Gerechtigkeit verpflichtet und hat redlich und unermüdlich danach zu streben, dieser «so nah wie möglich» zu kommen. Dies jedoch, und das gilt es zu beachten und hervorzuheben, «nicht um jeden Preis», was wiederum Konsequenz des zweiten Wesenszuges des Strafverfahrensrechts als «Recht» und der damit verbundenen Eigenständigkeit des Strafverfahrens(rechts) ist, für die Durchsetzungs- bzw. Erfüllungsebene an sich, d.h. für den «Weg» selbst hin zum Ziel der Wahrheit und materiellen Gerechtigkeit eine gerechte (Weg-)Ordnung zu schützender Strafverfahrenswerte aufzustellen.90 Wurde im Zusammenhang mit dem vom Strafverfahren 85 86
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Siehe ähnlich NEUMANN, ZStW 1989, S. 62. Dazu instruktiv die näheren Ausführungen von GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 78 ff. zum materiellen Strafrecht und Strafverfahrensrecht als „Determinante des »maβgeblichen Sachverhalts«“ (S. 78 und ebenso S. 79). Zur Unterscheidung zwischen Ziel und Qualität siehe auch NEUMANN, ZStW 1989, S. 60 f. NEUMANN, ZStW 1989, S. 62 (Hervorhebung Demko). Zu den Menschenrechten «im» Strafverfahren im Zusammenhang mit der Strafrechtsvergleichung und -harmonisierung siehe etwa SIEBER, S. 82. Siehe dazu auch JOSITSCH, plädoyer 2001, S. 41: „unter Wahrung der Verfahrensgerechtigkeit“; HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, S. 3 N 4; SCHMID, S. 3 f. N 8 ff.: „nur un-
Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
zu erfüllenden redlichen und unerlässlichen Streben nach Wahrheit und materieller Gerechtigkeit davon gesprochen, dass dafür ein auch «geeignetes» Verfahren zur Verfügung zu stellen ist,91 das die Grundlagen für die Ermittlung von Wahrheit und materieller Gerechtigkeit in der Weise zu legen hat, dass man der Wahrheit und materiellen Gerechtigkeit so nah wie möglich kommen kann, so muss ein solchermassen als «geeignet» bezeichnetes Verfahren als Folge der Eigenständigkeit des «Weges: Strafverfahren» immer auch eine zweite Komponente in sich aufnehmen bzw. darf nicht ohne diese gedacht werden:92 Dem sich an ein Strafverfahren richtenden Anspruch auf ein ehrliches und unermüdliches Streben danach, der Wahrheit und materiellen Gerechtigkeit so nah wie möglich zu kommen, muss mit einem eindeutigen «Ja» beigepflichtet werden,93 jedoch – und darauf verweisen die Worte «nicht um jeden Preis» – darf sich dieses unverzichtbare Streben nur unter strikter Beachtung der auf der Durchsetzungsebene selbst zu wahrenden Strafverfahrenswerte, wozu die prozeduralen Menschenrechte gehören, verwirklichen.94 Erst beide Komponenten in diesem Zusammenspiel – welches auf den notwendigen und untrennbaren Zusammenhang von materieller und prozeduraler Gerechtigkeit verweist, um insgesamt von Strafgerechtigkeit sprechen zu können – machen ein Strafverfahren, da sowohl der materiellen als auch der prozeduralen Gerechtigkeitskomponente der Strafgerechtigkeit Rechnung tragend,95 zu einem sich als «geeignet» bezeichnen lassenden, weil als insgesamt gerecht zu bewertenden rechtlichen Verfahren.96 Die dienende Funktion
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ter strenger Beachtung des dafür vorgesehenen Prozesswegs …“ (S. 4 N 10, Hervorhebung Demko); TRÜG, S. 64. Siehe dazu die vorangehenden Ausführungen unter N 15. Siehe ähnlich auch DUTTGE, ZStW 2003, S. 547 zur „Verfahrensgerechtigkeit als einem zur „Ergebnisrichtigkeit“ hinzutretenden Grundwert“ (Hervorhebung Duttge). Siehe auch HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, S. 242 N 2: „Streben nach Wahrheit, die möglichst vollendet sein soll“. Dazu auch HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, S. 3 N 4, S. 242 N 3; SCHMID, S. 3 f. N 8 ff.; DONATSCH/SCHWARZENEGGER/WOHLERS, S. 4, 22 ff.: „ein gerechtes Urteil (kann) nur auf dem Weg über ein gerechtes Verfahren ermöglicht werden … (Verfahrensgerechtigkeit)“ (S. 24, Hervorhebung Donatsch/Schwarzenegger/Wohlers: «Verfahrensgerechtigkeit», übrige Hervorhebung Demko). Siehe RAWLS, Theorie der Gerechtigkeit, S. 107 zur Einordnung des Strafverfahrens unter die „(u)nvollkommene Verfahrensgerechtigkeit“; siehe auch TSCHENTSCHER, S. 126 f. zur Einordnung des Strafverfahrens unter die „(u)nvollkommene prozedurale Gerechtigkeit“ (S. 126); dazu auch HÖRNLE, Rechtstheorie 2004, S. 176, 185; THEILE, S. 320. Zum Aufgreifen dieses Gesichtspunktes des erforderlichen Zusammenführens von materieller und prozeduraler Gerechtigkeit zur «Strafgerechtigkeit» siehe auch die
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Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
des Strafverfahrens und das Strafverfahren als eigenständige Werteordnung schliessen sich damit nicht aus, sondern sind umgekehrt als zwei das Strafverfahren in verschiedener Hinsicht kennzeichnende Wesensmomente zusammenzubringen:97 Ein Strafverfahren darf nur und muss stets unter strenger Beachtung seiner «eigenständigen Werteordnung der Durchsetzungsebene» – was mit Bezug auf menschenrechtliche Fragestellungen bedeutet: nicht um den Preis der Missachtung, sondern gerade umgekehrt nur unter strenger Beachtung der Menschenrechte «im» Strafverfahren – seiner der Wahrheit und materiellen Gerechtigkeit dienenden Funktion nachkommen, möchte es als ein der Strafgerechtigkeit insgesamt zur Verwirklichung helfendes rechtliches Verfahren anerkannt werden. Der damit einhergehenden Absage an ein Strafverfahren als Ausdruck reiner Verfahrensgerechtigkeit unter Lossagung von einem unabhängigen Massstab für die Beurteilung des richtigen Ergebnisses98 steht dabei nicht der Umstand entgegen, dass sich selbst bei Einhaltung alles zum Verfahrensgerechten des Strafverfahrens Gehörenden die Wahrheit und materielle Gerechtigkeit nicht gleichsam automatisch als Ergebnis «mitgarantieren». Eine solche Ergebnisgarantie kann ein Strafverfahren schon aufgrund des Moments des Unperfekten eines jeden menschlichen Erkenntnisprozesses nicht leisten,99 woraus aber nicht geschlossen werden darf, dass man dann auch gleich auf das Ziel der Wahrheit und materiellen Gerechtigkeit (und das redliche Streben danach) verzichten könne.100 Denn ein solcher (Fehl-)Schluss würde nicht nur das anzustrebende Ziel und das tatsächlich erreichbare – d.h. das unter Beachtung der menschlichen Erkenntnisfähigkeiten und der normativen Vorgaben der Strafverfahrensordnung
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Ausführungen zur Bedeutungsbestimmung der Fairness des Strafverfahrens unter Kap. 3 A. III. Siehe auch HÖRNLE, Rechtstheorie 2004, S. 176 zum Nebeneinanderstehen und der Nicht-Deckungsgleichheit von materieller Richtigkeit der Entscheidung und der Justizförmigkeit des Verfahrens. Dazu auch NEUMANN, ZStW 1989, S. 69 f.; zur reinen und quasi-reinen prozeduralen Gerechtigkeit siehe näher TSCHENTSCHER, S. 127 ff., 204 f.: es gibt „keine verfahrensunabhängigen Kriterien“; dazu auch HÖRNLE, Rechtstheorie 2004, S. 176; DUTTGE, ZStW 2003, S. 548 f. Dazu auch DUTTGE, ZStW 2003, S. 544; HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, S. 242 N 2: „menschliches Stückwerk“; TRÜG, S. 64: „per se irrtumsanfällig und fragil“; JANICH, S. 114: Wahrheit als „Produkt menschlicher Bemühungen (ist) prinzipiell irrtumsanfällig“ (Hervorhebung Janich). Dazu bereits DEMKO, Festschrift Riklin, S. 354 ff.; deutlich auch SCHULZ, Normiertes Misstrauen, S. 194, wonach der Gesichtspunkt, dass „materielle Wahrheit im Verfahren nur annäherungsweise erreichbar ist, … den Anspruch der Wahrheit nicht infrage (stellt)“ (Hervorhebung Schulz: «annäherungsweise», übrige Hervorhebung Demko); dazu auch EICKER, Prinzipien, S. 14.
Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
tatsächlich erreichbare – Ergebnis auf unzulässige Weise vermischen.101 Vielmehr würde zudem verkannt, dass ein Strafverfahren bei einer Lossagung von Wahrheit und materieller Gerechtigkeit seinen durch das (materielle) Strafrecht im engen Sinne auch dem Strafverfahren(srecht) vorgegebenen massgeblichen Orientierungspunkt als erste der zu einem Strafverfahren gehörenden Wesenskomponenten verliert102 und mit dem Wegfall bzw. dem Ausblenden der zu schützenden Strafrechtswerte dann das nicht mehr existent ist, was ein Strafverfahren mit Blick auf seine funktional-nachrangige Durchsetzungsfunktion überhaupt erst zu rechtfertigen in der Lage ist.103 Eigenständigkeit des Strafverfahrens darf mithin nicht als reine Selbstzweckhaftigkeit von Strafverfahren verstanden werden.104 Kann das Strafverfahren zwar nicht ein materiell gerechtes Ergebnis garantieren, so kann und muss es aber als ein rechtliches (und nicht pures Macht-) Verfahren garantieren – und nur dann lässt sich «Strafgerechtigkeit und Strafverfahren» zusammenbringen –, dass es (erstens) seinem redlichen und unerlässlichen Streben nach Wahrheit und materieller Gerechtigkeit (zweitens) stets unter strenger Beachtung auch des für die Strafverfahrensebene selbst aufgestellten gerechten Werteschutzes – wozu die Beachtung prozeduraler Menschenrechte gehört – nachkommt.105 An der Gewährleistung solcher Verfahrensgarantien, die (etwa) den Verfahrensablauf, die Verfahrensgestaltung, die Verfahrensbeteiligung der am Strafverfahren mitwirkenden Personen und einen tatsächlich und praktisch wirksamen Schutz von Menschenrechten «im» Strafverfahren betreffen, hat sich ein Strafverfahren bei seinem strebsamen Bemühen um Erreichung von Wahrheit und materieller Gerechtigkeit unter dem Gesichtspunkt der prozeduralen Gerechtigkeit messen zu lassen: Die prozedurale Gerechtigkeit als „nur eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung“106 der Strafgerechtigkeit zu erkennen, bedeutet, dass die prozedurale Gerechtigkeit allein zwar nicht ausreichend ist, um zu einem insgesamt strafgerechten Verfahren(sergebnis) zu führen, umgekehrt aber ein als insgesamt strafgerecht
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Siehe dazu auch DUTTGE, ZStW 2003, S. 552 f.; SCHREIBER, ZStW 1976, S. 140. Dazu auch DUTTGE, ZStW 2003, S. 548 f. Siehe auch zutreffend MURMANN, GA 2004, S. 70: „nur um der Verfolgung eines Zwecks willen legitimierbar sein“. Dazu auch MURMANN, GA 2004, S. 70; HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, S. 5 N 4: „nicht zum Selbstzweck werden“; DEMKO, Festschrift Riklin, S. 358. Siehe auch DUTTGE, ZStW 2003, S. 552, wonach das „Streben nach zutreffender Rekonstruktion des „wahren“ Geschehens … zu den unverfügbaren Essentialia eines jeden Strafprozesses“ gehört. NEUMANN, ZStW 1989, S. 70; dazu ebenso DUTTGE, ZStW 2003, S. 549.
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Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
anzuerkennendes Verfahren mitsamt Verfahrensergebnis nicht möglich ist, wenn es an einem prozedural gerecht geführten Strafverfahren fehlt.107 20
Die vom Strafverfahren zu bewältigende doppelte Anforderung, der Wahrheit und materiellen Gerechtigkeit einerseits «so nah wie möglich» zu kommen, dies jedoch andererseits «nicht um jeden Preis» – genauer: nicht um den Preis der Missachtung der prozeduralen Gerechtigkeit und hier insbesondere der Menschenrechte «im» Strafverfahren – sowie das damit verbundene, nach einem Ausgleich suchende Spannungsverhältnis zwischen diesen beiden Anforderungen zeitigen konkrete Auswirkungen für das Verständnis des an das Strafverfahren angelegten Fairnessbegriffs und für die Bedeutung und Gestaltung einer fairen und menschenrechtsbasierten Verteidigung des Angeklagten im Straf- und strafprozessualen Beweisverfahren. 108
III. 21
Zusammenfassung
Die Einordnung des Strafverfahrensrechts in das Strafrecht im weiten Sinne und in das Recht an sich lässt die zwei Wesenszüge des Strafverfahrensrechts in Gestalt zum einen der dienenden Funktion und zum anderen der eigenständigen Werthaftigkeit des Strafverfahrensrechts sichtbar werden. Der Wesenszug der dienenden Funktion des Strafverfahrensrechts steht mit dem speziellen Nahziel des Strafverfahrensrechts, die Durchsetzung des (materiellen) Strafrechts im engen Sinne sicherzustellen, in Verbindung, lässt die funktionale Nachfolge des Strafverfahrensrechts im Verhältnis zum funktional vorrangigen (materiellen) Strafrecht im engen Sinne erkennen und bringt zudem mit Blick auf die vertikalen Verbindungslinien zwischen den zwei horizontalen rechtlichen Wertebenen – in Form der Ebene des (materiellen) Strafrechts im engen Sinne und der Ebene des Strafverfahrensrechts – die wichtige Bedeutung der materiellen Gerechtigkeitskomponente zum Ausdruck. Der Wesenszug der eigenständigen Werthaftigkeit des Strafverfahrensrechts zeigt, wie das Strafverfahrensrecht aufgrund seiner Natur als Recht auf seiner Durchsetzungsebene eine eigenständige rechtliche Werteordnung zum Schutz von Strafverfahrenswerten schafft, die als gleichberechtigt und gleichermassen werthaft neben der horizontalen (Rechts-)Werteordnung des (materiellen) Strafrechts im engen Sinne steht und mit dem Verfahrensgerechten, mit der prozeduralen Gerechtigkeitskomponente verbunden ist. Mit diesen zwei We107
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Siehe dazu auch HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, S. 3 N 4; SCHMID, S. 3 f. N 8 ff.: „nur unter strenger Beachtung des dafür vorgesehenen Prozesswegs …“ (S. 4 N 10, Hervorhebung Demko). Zur Bedeutung der Zusammenführung der materiellen und prozeduralen Gerechtigkeitskomponenten für das Verständnis des Fairnessbegriffs siehe unter Kap. 3 A. III.; zur menschenrechtsbasierten Verteidigung des Angeklagten siehe unter Kap. 4 und 5.
Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
senszügen des Strafverfahrensrechts, die es voneinander zu unterscheiden, aber auch in ihrer engen Verknüpfung zu erkennen gilt, bringen sich das Zusammenspiel und die engen und notwendigen Verbindungen von materieller und prozeduraler Gerechtigkeitskomponente, von Menschenrechtsschutz «durch» und «im» Strafverfahren zum Ausdruck, welche zu beachten sind, um von einem insgesamt «Strafgerechten» des Strafverfahrens sprechen zu können.
B.
Das Straf- und Beweisverfahren als «wahrheitsgerichtetes Erkenntnisverfahren»
I.
Das Straf- und Beweisverfahren im Kontext der Erkenntnistheorie und der Wahrheitstheorien der Philosophie
Den Schwerpunkt in der vorliegenden Abhandlung auf den die Tatsachenfeststellung betreffenden Abschnitt des Strafverfahrens legend, gilt es, für die Untersuchung der Bedeutung von Fairness und des Inhaltes eines «Menschenrechts auf Verteidigung» das strafprozessuale Beweisverfahren selbst und mit diesem den «Rahmen» als einen gerade Erkenntnisrahmen näher in den Blick zu nehmen. Das strafprozessuale Beweisverfahren in die Betrachtung als ein menschliches Erkenntnisverfahren einstellend, sind die Erkenntnistheorie und die philosophischen Wahrheitstheorien für den strafverfahrensrechtlichen Wahrheitsbegriff fruchtbar zu machen und die vorangehenden Untersuchungen zur Zusammenführung der materiellen und prozeduralen Gerechtigkeitskomponente des Strafverfahrens in ihrer speziellen Bedeutung für die Wahrheitsermittlung im Straf- und hier strafprozessualen Beweisverfahren sichtbar zu machen. Auf diese Weise soll der Aufgabe nachgegangen werden, Verbindungslinien zwischen Wahrheit und Fairness zu entwickeln und Elemente eines fairen, das «Menschenrecht auf Verteidigung» wahrenden strafprozessualen Beweisverfahrens herauszuarbeiten.109
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Zur „Bedeutung des Fairnessprinzips für eine gerechte Schuldfeststellung“ (S. 177, Hervorhebung Hörnle) und der Wahrheit als Voraussetzung für Gerechtigkeit siehe HÖRNLE, Rechtstheorie 2004, S. 177, 192; ebenso etwa ESER, Festschrift Tiedemann, S. 1464: „Wahrheit und Gerechtigkeit in derart inniger Verbindung“; STAMP, S. 21 ff.; WESSLAU, S. 20; TRÜG, S. 62.
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Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
1. 23
Das Strafverfahren als Erkenntnisverfahren
Fairness und Wahrheit in eine Verbindung zu stellen, verlangt mit Bezug auf die Betrachtung des strafverfahrensrechtlichen Wahrheitsbegriffs nach einer Einordnung des Straf- und Beweisverfahrens in den „Kontext der Erkenntnistheorie“110 und die in diesen eingestellten philosophischen Wahrheitstheorien, denn ein Strafverfahren ist ein Erkenntnisverfahren:111 In einem Strafverfahren ist zu erkennen, ob und im Falle einer strafrechtlichen Verurteilung wird erkannt, dass der Angeklagte der Täter der in Frage stehenden Straftat ist. Eine solche strafrechtliche Verurteilung als ein Erkenntnisspruch ist untrennbar mit dem Anspruch auf Wahrheit verknüpft,112 nur denjenigen Angeklagten als Täter zu erkennen (und zu verurteilen), der die Tat auch «wirklich» begangen hat. Mit Blick auf eben diesen Anspruch ist auch von der Bezeichnung eines Urteils als Wahrspruch zu lesen.113 Der damit angesprochene Wahrheitsbegriff sowie die mit diesem einhergehenden Fragen danach, was Wahrheit ist und wie die Wahrheit zu ermitteln ist,114 sind nicht Fragen, die sich einzig und allein im Strafverfahren stellen. Vielmehr sind jene Fragen 110 111
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GLOY, S. 7. Siehe auch ARZT, Festschrift Eser, S. 691: „… haben das Strafverfahren als Erkenntnisverfahren gesehen …“, in dem es „… im Sinne einer Selbstverständlichkeit … um Erkenntnis der Wahrheit …“ (Hervorhebung Demko) geht. Dazu auch GLOY, S. 7, wonach „Wahrheit in den Kontext der Erkenntnistheorie“ gehöre, denn „Wahrheit und ihr Oppositum Falschheit werden stets von Erkenntnissen im weitesten Sinne ausgesagt: Meinungen, Sätze, Urteile, Behauptungen usw. sind wahr oder falsch“. TRÜG, S. 62; SEELMANN, Wahrheit und Strafverfahren, S. 363: „Wahrsprüche“; BOTTKE, Gedächtnisschrift Zipf, S. 454: „Gerechtigkeit des … Wahrspruchs und des Tatfolgenspruchs“. Zur Unterscheidung zwischen der Fragen nach dem, was Wahrheit ist, welche die Definition von Wahrheit, den Wahrheitsbegriff betrifft, und der Frage, wie Wahrheit zu ermitteln ist, welche den Weg, die Methoden und damit das Wahrheitskriterium betrifft, siehe etwa SCHNÄDELBACH, S. 177 f.: „Wahrheitsbegriff … Wahrheitskriterium(s)“ (S. 177, 178, Hervorhebung Schnädelbach); GLOY, S. 171, 174, 218 : „ein Kriterium der Wahrheit …, quasi ein Wahrheitstest, oder die Wahrheit selbst“ (S. 171), „… ,kriteriologische' und ,definitionale' Frage …“ (S. 171, Hervorhebung Demko), „Prozeβ des Zustandekommens von Wahrheit, nicht aber auf die Definition des Wesens der Wahrheit“ (S. 218); STAMP, S. 30; deutlich zur Unterscheidung zwischen „Begriff der Wahrheit“ (S. 3, Hervorhebung Puntel), „Kriterium der Wahrheit“ (S. 4, Hervorhebung Puntel) – und hier weiter zudem –, „Bedingungen … von Wahrheit“ (S. 4, Hervorhebung Puntel) und „Relevanz von Wahrheit“ (S. 4, 5, Hervorhebung Puntel), siehe näher PUNTEL, S. 4 f., 88, 162 f., 174 f., 204 f.; HÖRNLE, Rechtstheorie 2004, S. 178; JANICH, S. 15 f., 43, 98; HETZER, S. 46; SCHULZ, Sachverhaltsfeststellung, S. 174: „Vom Wahrheitsbegriff sind die Wahrheitskriterien zu unterscheiden.“ (Hervorhebung Demko); HILGENDORF, GA 1993, S. 548.
Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
nach der Wahrheit als erkenntnistheoretische Fragestellungen „im Rahmen und mit den Mitteln der Erkenntnistheorie“115 zu beantworten. Denn Wahrheit hat, wie es Gloy zutreffend herausstellt, „stets mit Erkenntnis … und umgekehrt Erkenntnis mit Wahrheit“116 zu tun. Obwohl bzw. (vielleicht gerade umgekehrt) aufgrund dessen, dass es sich bei der Wahrheit und der Erkenntnis um fundamentale Begriffe der Philosophie handelt,117 ist das Ringen danach, um was es sich bei der Wahrheit und der Erkenntnis handelt und wie diese ihrerseits zu erkennen sind, bis heute Gegenstand nicht nur intensiver philosophischer Auseinandersetzungen,118 sondern auch von solchen, die das Strafverfahrensrecht betreffen. Zahlreiche der in den philosophischen Auseinandersetzungen mit der Wahrheit entwickelten Wahrheitstheorien wurden und werden für die Frage nach der «Wahrheit im Strafverfahren» herangezogen, was aber bisher nicht dazu führte, dass sich ein einheitlich anerkannter und verwendeter strafverfahrensrechtlicher Wahrheitsbegriff etablieren konnte. Dies mag nicht nur mit der an sich schon schwer überschaubaren Vielzahl und inhaltlichen Vielfalt an alten und neuen Wahrheitstheorien der antiken, mittelalterlich-scholastischen und neuzeitlichen Philosophie und deren vielzähligen und vielfältigen Ergänzungen und Varianten zusammenhängen,119 sondern auch mit den ebenso zahlreichen wie inhaltlich variierenden Versuchen der Übertragung oder zumindest Nutzbarmachung der philosophischen Antworten auf die «Wahrheitsfrage» auf bzw. für den konkreten Gegenstand des Strafverfahrens und die Entwicklung eines speziell strafverfahrensrechtlichen Wahrheitsbegriffs. Besteht nicht nur schon in den philosophischen, sondern auch in den auf das Strafverfahren bezogenen Diskussionen eine alles andere als einheitliche Sicht auf den Wahrheitsbegriff, so wird das Verständnis dessen, welche Frage genau mit den unterschiedlichen Wahrheitstheorien beantwortet werden soll, noch dadurch erschwert, dass trotz allseitiger Verwendung des Wahrheitsbegriffs zum Teil nicht hinreichend herausgestellt wird, auf welches der unterschiedli-
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GLOY, S. 7. GLOY, S. 7; siehe dazu auch HEISS, S. 82 zum „Ursprung im Erkennen … das systematisch einen Bereich der Erscheinung in Denkzusammenhängen erfaβt“ und zur Bindung der Wahrheit „an ein Denksystem und eine Denkordnung“. Siehe auch HILGENDORF, GA 1993, S. 547: „Kernprobleme(n) der Philosophie“. Neben den speziellen Angaben in den nachfolgenden Fussnoten im Einzelnen siehe zudem die ausführlichen Darstellungen von SEIFERT, Über die Wahrheit: 1 und SEIFERT, Über die Wahrheit: 2. Dazu, dass die Wahrheitsfrage „so alt wie die Philosophie selbst“ (S. 2) ist, siehe näher GLOY, S. 2 ff.; JANICH, S. 12 ff. zur Frage nach der Wahrheit als „Alltagsproblem oder Philosophenerfindung?“ (S. 12).
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Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
chen Elemente von Erkenntnis und Wahrheit genau Bezug genommen ist.120 In einem Strafverfahren, an dessen Ende als Gebot des Schuldgrundsatzes nur der Angeklagte strafrechtlich verurteilt werden darf, der die angeklagte Tat auch wirklich begangen hat, führt eine undifferenzierte Verwendung des Begriffs der Wahrheit zudem dazu zu versäumen, die unterschiedlichen Bezugspunkte bzw. Elemente des Erkenntnis- und Wahrheitsbegriffs denjenigen Momenten des Strafverfahrens zuzuordnen, denen sie unter erkenntnistheoretischer Sicht zuzuordnen sind: 25
Die zutreffenden Worte von Gloy aufgreifend, nach denen Wahrheit und Erkenntnis untrennbar miteinander zu tun haben und die Frage nach der Wahrheit als eine erkenntnistheoretische Frage zu begreifen ist, geht die Frage nach Erkenntnis der Frage nach Wahrheit stets voraus.121 «Etwas ist zu erkennen» – dieser kurze schlichte Satz zeigt die drei Erkenntniselemente in Gestalt des Zu-Erkennenden («etwas»), der (eigentlichen) Erkenntnis über das Zu-Erkennende («zu erkennen») und der Beziehung zwischen beiden in Form der Erkenntnisrelation («ist») auf.122 Alle drei Erkenntniselemente sind eng miteinander verbunden, stehen in einem untrennbaren Bezug zueinander und prägen sich als „unauflösliche Einheit“123 aus, sind aber dennoch als sich voneinander unterscheidende eigenständige Elemente der Erkenntnis (im weiten Sinne) bzw. des Erkenntnisprozesses zu beachten: Jedes der drei Erkenntniselemente stellt einen jeweils eigenen Bezugs- bzw. Anknüpfungspunkt für die Herausarbeitung eines Wahrheitsbegriffes auf. Es ist die Zuordnung des Wahrheitsbegriffes zu jeweils einem dieser Erkenntniselemente, die zu 120
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Siehe zu den verschiedenen Elementen von Erkenntnis und den diesen zuzuordnenden Wahrheitstheorien sogleich die fortführenden Darstellungen unter Kap. 2 B. I. 2. Siehe näher Gloy, S. 7 f., 67, 72; siehe auch SCHNÄDELBACH, S. 23 dazu, dass nicht nur Verständnis darüber, was unter Erkenntnis zu verstehen ist, erzielt werden möchte, sondern auch „was wir als Erkenntnis gelten lassen wollen. Dies betrifft die Geltungscharaktere ˃wahrrichtig< …“ (Hervorhebung Demko). Dazu eingehend und instruktiv GLOY, S. 7 f., 67 ff.; siehe auch JANICH, S. 16 zu verschiedenen Sprachebenen und S. 22 zur „Was-ist-Frage“; zur „Wahrheitserkenntnis“ (S. 138 N 207) und hier die drei Erkenntniselemente sichtbar werden lassend auch KELLER, S. 138, 139: „dass mir sowohl die behauptende Aussage wie auch das, worauf sie zutrifft und damit eben das Zutreffen selbst im Erscheinenden gegeben sind“ (S. 138 f.), „nur wenn die behauptende Aussage wie die Wirklichkeit, auf die sie zutrifft, erscheinen, kann ich auch das Zutreffen, also die Wahrheit der Aussage erkennen“ (S. 139); KÄSSER, S. 11: „Relation zwischen Wirklichkeit der übersubjektiven Welt und der Vorstellung des Erkenntnissubjektes hierüber“ (Hervorhebung Demko); SEIFERT, Über die Wahrheit: 1, S. 161: „… Form der ,Übereinstimmung' und des Zusammentreffens zwischen dem Erkenntnisakt einerseits und dem, was ist und was der Fall ist (den Sachen und Sachverhalten) andererseits …“ (Hervorhebung Demko); GREGER, S. 28 ff.; siehe zudem GÖSSEL, S. 14 ff. GLOY, S. 76.
Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
der Betonung jeweils unterschiedlicher Wahrheitsmomente und zu der Entwicklung unterschiedlicher Wahrheitsbegriffe führt, wie sie in den vielzähligen philosophischen Wahrheitstheorien sichtbar sind.124 Auch einem Strafverfahren in seinem Verständnis als einem Erkenntnisverfahren lassen sich die drei Erkenntniselemente zuweisen: Stellen sich der strafrechtliche Sachverhalt als das Zu-Erkennende und die strafrechtliche Entscheidung in Form der Verurteilung oder des Freispruchs als die Erkenntnis (im engen, eigentlichen Sinne) dar, so formt das dazwischen liegende Strafverfahren die Erkenntnisrelation zwischen den beiden vorgängig genannten Elementen des ZuErkennenden und der Erkenntnis aus: Das erste Erkenntniselement, das Zu-Erkennende bzw. das Erkenntnisobjekt, lässt sich in Bezug auf dessen objektiven Charakter als «das Seiende», als das Da- und Sosein,125 als die Wirklichkeit an sich beschreiben, das bzw. die einfach «ist», bezogen auf die Vergangenheit «war» und bezogen auf die Zukunft «sein wird». Dieses Sein ist unabhängig davon, ob es ein Erkenntnissubjekt überhaupt gibt, unabhängig davon, ob sich ein Subjekt mit einem Erkenntnisinteresse in einen Erkenntnisprozess hinein begibt, um dieses «Sein» zu erkennen, und nicht zuletzt ebenso unabhängig davon, ob die vom Subjekt gewonnene Erkenntnis über dieses Da- und Sosein wahr oder falsch ist.126 Denn das Wesen jenes Seins macht es gerade aus, dass es schlicht «ist», ohne dass (erst und als Voraussetzung) von einem Subjekt erkannt (und noch dazu wahr erkannt), anerkannt oder zuerkannt werden muss,127 dass es «ist». Das «Sein» ist mithin losgelöst und unabhängig von einer Erkenntnis eines Subjekts über dieses «Sein» existent. Übertragen auf den strafverfahrensrechtlichen Kontext ist es hier der strafrechtliche Sachverhalt, die (in Frage stehende) Straftat als eine dem Sein, der Seinswirklichkeit zugehörende Begebenheit, die geschehen (oder auch nicht geschehen) «ist», und zwar unabhängig davon, was die Verfahrensbeteiligten als Erkenntnissubjekte sodann 124
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Dies ebenso betonend und die Wahrheitstheorien anhand dieser drei Erkenntniselemente strukturierend siehe im Einzelnen GLOY, S. 7 ff., 67 ff.; siehe auch SCHNÄDELBACH, S. 177 ff. Dazu und zu der damit angesprochenen «objektiven» bzw. ontischen Wahrheit bzw. Seinswahrheit näher GLOY, S. 8, 68, 76 ff. unter Bezugnahme u.a. auf Heideggers These der Unverborgenheit; PUNTEL, S. 17 ff.; ausführlich SEIFERT, Über die Wahrheit: 1, S. 53 ff. GLOY, S. 68: „Objekte … an sich existieren, gleichgültig, ob ein Erkenntniswesen vorhanden ist, das dieselben erkennt oder nicht …“ (Hervorhebung Gloy); STAMP, S. 34: „… sind oder sind nicht und existieren unabhängig davon, ob wahre oder falsche Aussagen darüber getroffen werden …“; TRÜG, S. 62: „… in ihrer Existenz zunächst unabhängig vom Verfahren … ontologisch verstandene objektive und intersubjektive Wahrheit und Gerechtigkeit …“; KÄSSER, S. 9: „Wirklichkeit ist oder ist nicht“; GREGER, S. 28. Zur Unterscheidung zwischen Erkennen und Anerkennen auch SCHNÄDELBACH, S. 26.
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Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
über dieses strafrechtliche Sachverhaltsgeschehen im Strafverfahren und Strafurteil erkennen sowie ebenso unabhängig davon, ob die Erkenntnis der Erkenntnissubjekte über das Seinsgeschehen wahr oder falsch ist.128 27
Das zweite und dritte Erkenntniselement stehen dem Zu-Erkennenden nun als subjektive, nach einem Erkenntnissubjekt verlangende Elemente gegenüber,129 beziehen sich aber auf jeweils andere, vom Erkenntnissubjekt zu erbringende «Erkenntnisleistungen». Mit dem zweiten Erkenntniselement ist das, was «über» das Zu-Erkennende erkannt wird, mithin das Erkannte, das Erkenntnisergebnis oder schlicht die Erkenntnis (im engen eigentlichen Sinne) gemeint.130 Bezogen auf das Strafverfahren ist das Erkenntniselement der Erkenntnis der das Strafverfahren abschliessenden strafrechtlichen (verurteilenden oder freisprechenden) Entscheidung zuzuordnen. Beide Elemente, das Zu-Erkennende, das es zu erkennen gilt, und die Erkenntnis «über» dieses ZuErkennende sind aufeinander bezogen und stehen zueinander in einer Erkenntnisrelation bzw. genauer ausgedrückt:131 Beide Erkenntniselemente, das Zu-Erkennende und die Erkenntnis, werden von einem Erkenntnissubjekt (erstens) überhaupt erst in eine solche Erkenntnisrelation gebracht und diese Erkenntnisrelation wird (zweitens) zudem vom Erkenntnissubjekt geformt und gestaltet. Es zeigt sich hier der subjektbezogene und subjektabhängige Charakter der beiden Erkenntniselemente der Erkenntnis und der Erkenntnisrelation132 und es sind die mit diesen beiden Erkenntniselementen einhergehenden, vom Erkenntnissubjekt zu erbringenden Erkenntnisleistungen des Herstellens und Ausgestaltens der Erkenntnisrelation sichtbar gemacht.133
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Die vom Erkenntnissubjekt hergestellte und ausgeformte Erkenntnisrelation, welche das dritte Erkenntniselement darstellt, verknüpft die zwei anderen 128
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Siehe dazu etwa TRÜG, S. 62; siehe zur Unterscheidung zwischen der Wahrheit des Seins, der sog. Seinswahrheit, der Wahrheit des Erkennens, der sog. Erkenntniswahrheit sowie der Urteilswahrheit näher SEIFERT, Über die Wahrheit: 1, S. 61 ff., S. 159 ff. und S. 251 ff. Dazu näher GLOY, S. 68 ff. Siehe zur «subjektiven», logischen bzw. den Intersubjektivitätstheorien der Wahrheit und hier zu den damit angesprochenen Kohärenz- und Konsensustheorien näher GLOY, S. 71 f., 168 ff.; PUNTEL, S. 142 ff., 172 ff.; STAMP, S. 40 ff.; HETZER, S. 65 ff.; SEIFERT, Über die Wahrheit: 2, S. 127 ff. und S. 197 ff. Zur subjektiven Seite der Erkenntnis und der Erkenntnisrelation, die subjektive und objektive Seite, Erkenntnis und Zu-Erkennendes „als gleichrangig und gleichwertig“ (S. 69) behandelt, siehe GLOY, S. 7 ff., 69 ff. Dazu auch GLOY, S. 69: „Subjekt und seine Erkenntnisformen avancieren zur Richtschnur und zum Maβstab der Erkenntnis … erhält das Subjekt Macht über die Dinge, indem es zum Urheber derselben wird …“ Siehe mit Bezug auf das Strafverfahren als Erkenntnisverfahren auch TRÜG, S. 64: „der auf menschlicher Interaktion und Erkenntnis beruhende Wahrheitserforschungsprozeβ“ (Hervorhebung Demko).
Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
Elemente miteinander und erfüllt in diesem Sinne die Funktion eines Verbindungsstücks, indem sie das, was es zu erkennen gilt, mit dem in Beziehung setzt, das über dieses Zu-Erkennende erkannt wird.134 Bezogen auf den strafverfahrensrechtlichen Kontext fällt hier dem Strafverfahren die Funktion dieses Verbindungsstücks zu, indem – ausgelöst durch eine erste Erkenntnis eines Erkenntnissubjekts im Sinne eines Tatverdachts – durch Erkenntnissubjekte in Gestalt der Verfahrensbeteiligten der Erkenntnisweg des Strafverfahrens (erstens) eröffnet und (zweitens) beschritten und hierbei in verschiedener Hinsicht gestaltet wird:135 Jener Erkenntnisweg, den das Strafverfahren darstellt, ist durch ein Hin- und Her-Wenden des Blickes zwischen dem zu erkennenden Sachverhaltsgeschehen und den sich zunehmend in eine bestimmte Richtung verfestigenden Erkenntnissen – die wiederum aus zahlreichen Zwischenerkenntnissen, Verwerfungen und/oder Bestärkungen von einzelnen (Zwischen-)Erkenntnissen bestehen – gekennzeichnet. Mit jedem weiteren, von den Erkenntnissubjekten gegangenen Erkenntnisschritt formt sich auf dem Erkenntnisweg des Strafverfahrens die Relation, die Beziehung zwischen dem zu erkennenden strafrechtlichen Sachverhaltsgeschehen – als dem der Seinswirklichkeit zugehörenden Zu-Erkennenden – und der das strafverfahrensrechtliche Erkenntnisverfahren abschliessenden strafrechtlichen Entscheidung (in Form einer Verurteilung oder eines Freispruches) – als der von Erkenntnissubjekten als eine «Erkenntnisleistung» zu erbringenden Erkenntnis – näher aus.136 2.
Die den verschiedenen Erkenntniselementen zugeordneten philosophischen Wahrheitstheorien in deren Bedeutung für Ziel und Weg des strafverfahrensrechlichen «wahrheitsgerichteten Erkenntnisverfahrens»
Erkenntnis nun, und auch Erkenntnis im Strafverfahren, tritt mit dem „Anspruch auf Wahrheit“137 auf, woran auch die Vielzahl und Vielfalt an Wahrheitstheorien nichts ändern, beziehen sich diese doch alle „auf ein und dassel-
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Zu den der Vermittlungstheorie angehörenden Wahrheitstheorien und hier insbesondere der Korrespondenztheorie siehe GLOY, S. 72, 92 ff.; PUNTEL, S. 26 ff.; STAMP, S. 32 ff.; KÄSSER, S. 9 ff. Zur Unterscheidung zwischen dem Ziel des Strafverfahrens und dem Strafverfahren als zu beschreitendem Weg siehe bereits DEMKO, Festschrift Riklin, S. 352 ff.; siehe SEELMANN, Wahrheit und Strafverfahren, S. 365 zur „Prozeβhaftigkeit des Hervorbringens von Wahrheit“. Siehe dazu näher unter Kap. 2 B. II. GLOY, S. 67.
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Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
be Phänomen“138 und stellen diesem nur jeweils unterschiedliche Erklärungsund Interpretationsversuche an die Seite.139 Ist wirkliche Erkenntnis „stets wahre Erkenntnis“140 und knüpft Wahrheit an Erkenntnis an,141 so wird der Erkenntnis mit jener Wahrheit eine bestimmte Qualität, ein bestimmtes Wertungsprädikat zugeschrieben, welche(s) diese zu erfüllen hat, möchte sie „(w)irkliche Erkenntnis“142 sein. Wie die vielfältigen Wahrheitstheorien aufzeigen, wird für die Zuschreibung dieser Qualität «Wahrheit» an ein jeweils anderes der drei Erkenntniselemente angeknüpft und einmal dieses, das andere Mal jenes für die Erklärung des Phänomens «Wahrheit» in den Vordergrund gestellt, wobei – auch wenn dies von jenen Wahrheitstheorien selbst nicht immer hinreichend deutlich gemacht wird – einige Erklärungen der Definition der Wahrheit selbst,143 andere dem Aufstellen von Kriterien für das Finden, das Ermitteln der Wahrheit zuzuordnen sind 144 und wieder andere Erklärungen beides zu vereinen suchen.
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GLOY, S. 9. GLOY, S. 9, 67: Erkenntnis ist stets mit „dem Anspruch auf Wahrheit“ (S. 67) verknüpft, „Begriff und Theorie der Wahrheit mögen sein, welche sie wollen“ (S. 67), womit Gloy auf das häufig zu beobachtende „Phänomen der Divergenz von Faktum und Theorie“ (S. 67) verweist; KELLER, S. 101 N 143, 109 N 157 zur Verbindung von menschlicher Erkenntnis und Wahrheit. GLOY, S. 11. Dazu GLOY, S. 67 ff. GLOY, S. 11; siehe auch SCHNÄDELBACH, S. 23 zur Wahrheit als Geltungscharakter für Erkenntnis. Unter die Erklärungen für die Definition bzw. den Begriff der Wahrheit selbst werden hier eingeordnet die ontische bzw. Seinswahrheit – die hier jedoch bei genauerer Betrachtung besser als Erklärung für das Sein, die Seins-Wirklichkeit verstanden werden sollte – sowie die für den Bereich der Überzeugungen und des Wissens bedeutende Korrespondenztheorie; siehe zum Entfallen der Seinswahrheit bei einem Verständnis von Wahrheit als Prädikat nicht von Gegenständen oder Ereignissen, sondern von Äusserungen über diese Gegenstände und Ereignisse SCHNÄDELBACH, S. 178 zur „Wahrheit nur als Merkmal von Überzeugungen“ (Hervorhebung Schnädelbach); in diesem Sinne ebenso STAMP, S. 34, wonach „… die Wirklichkeit, der Sachverhalt … nicht wahr oder falsch sein (können). Sie bestehen oder bestehen nicht, sind oder sind nicht …“; „Wahrheit … (ist) nur eine Eigenschaft von Aussagen“; siehe zur Unterscheidung zwischen Seinswahrheit, Erkenntniswahrheit sowie Urteilswahrheit ausführlich SEIFERT, Über die Wahrheit: 1, S. 53 ff., 159 ff., 249 ff.; siehe zudem PIETH, Beweisantrag, S. 5: „… 'Wirklichkeit' ist das Objekt der Erkenntnis, 'Wahrheit' die Relation zwischen dem Ergebnis der Erkenntnis und ihrem 'Objekt' … Wahrheit heisst nicht Wirklichkeit, sondern das, was das Gericht aufgrund der Verhandlungen für Wirklichkeit hält“ (Hervorhebung Demko). Unter die Erklärungen zum Aufstellen von Kriterien für die Ermittlung der Wahrheit werden hier die Kohärenztheorie und die Konsensustheorie eingeordnet.
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Die Korrespondenztheorie rückt das Zu-Erkennende und die Erkenntnis und einen zwischen diesen beiden Erkenntniselementen bestehenden Korrespondenz-Zusammenhang bzw. eine „Übereinstimmungsrelation“145 als solche(n) in den Mittelpunkt der Betrachtung, um auf diese Weise die Frage danach zu beantworten, was Wahrheit ist.146 Die Kohärenztheorie und die dieser (hier) zugeordnete Konsensustheorie machen hingegen die besondere Bedeutung gerade eines speziellen Moments, nämlich des Moments der Subjektbezogenheit der Erkenntnisrelation und der Erkenntnis sichtbar, geben – wenn auch jeweils andere – Kriterien dafür an die Hand, wie Wahrheit zu ermitteln ist147 und zeigen den Wahrheitsermittlungsprozess als ein von Erkenntnissubjekten zu führendes, subjektbezogenes und subjektabhängiges Erkenntnisverfahren:148 Greift man die materielle Strafgerechtigkeitskomponente und damit zusammenhängend das mit der dienenden Funktion des Strafverfahrensrechts verbundene spezielle (Nah-)Ziel des Strafverfahrens auf, die Durchsetzung des (materiellen) Strafrechts im engen Sinne zu sichern, so ist dies mit dem vom Strafverfahren als Vorziel für die Erreichung der materiellen Gerechtigkeit zu leistenden Anspruch, «der Wahrheit so nah wie möglich zu kommen», untrennbar verbunden149 und der Bezug zu der Korrespondenztheorie ist hergestellt.
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Das adaequatio-Verständnis von Wahrheit – in dessen klassischer Formulierung von Thomas von Aquin als adaequatio intellectus et rei sowie in den Explikationen und Präzisierungen in sich anschliessenden adaequatio-
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PUNTEL, S. 28 (Hervorhebung Demko); siehe auch JANICH, S. 32: „Die Beschränkung auf einige Eigenschaften oder besser, Kriterien der Entsprechung bringt das Wort Korrespondenz gut zum Ausdruck“ (Hervorhebung Janich). Siehe etwa PUNTEL, S. 28, 46: „als Übereinstimmungsrelation verstandene Wahrheit“ (S. 28), „Definition dieses Begriffs [= Wahrheit]“ (S. 46, Hervorhebung Puntel) durch die den Korrespondenztheorien zuzuordnende semantische Wahrheitstheorie von Tarski; HÖRNLE, Rechtstheorie 2004, S. 178, 179, wonach der Ansatz der Korrespondenztheorie „nicht mit einem Wahrheitskriterium verbunden ist“ (S. 178, Hervorhebung Hörnle), sondern sich die „Korrespondenztheorie als Wahrheitsdefinition“ (S. 179, Hervorhebung Demko) ausweist; siehe dazu auch KELLER, S. 105. Siehe dazu etwa SCHNÄDELBACH, S. 183: „als Kriterium“; HÖRNLE, Rechtstheorie 2004, S. 178, 179: „Kohärenztheorie als Wahrheitskriterium“ (S. 179, Hervorhebung Demko); instruktiv dazu SEIFERT, Über die Wahrheit: 2, S. 154 ff. und S. 175 ff. Zur Hervorhebung des Subjekts und des subjektiven Erkenntnisbereichs der „subjektimmanenten Wahrheitstheorien“ (S. 168), unter die Gloy zutreffend die Kohärenzund die Konsensustheorien einordnet, siehe näher GLOY, S. 168 ff.; bezugnehmend auf das Strafverfahren siehe auch TRÜG, S. 64 mit der Formulierung vom Wahrheitserforschungsprozess, der auf „menschlicher Interaktion und Erkenntnis“ beruht. Siehe auch ESER, Festschrift Tiedemann, S. 1464: „Wahrheit als Voraussetzung von – gleichermaβen echter wie buchstäblich wahrer – Gerechtigkeit“; WEIGEND, S. 217: „unverzichtbare Voraussetzung“.
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Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
Wahrheitstheorien150 – stellt Objektives und Subjektives, das Zu-Erkennende und die Erkenntnis über das Zu-Erkennende, in eine Beziehung miteinander, genauer in einen Korrespondenz-Zusammenhang, welcher auf eine Übereinstimmung, eine Angleichung zwischen beiden verweist151 und für welchen etwa auf ein Urbild-Abbild-Verhältnis oder auch ein Bedingung-BedingtesVerhältnis zurückgegriffen wird.152 Der materiellen Strafgerechtigkeitskomponente zuvörderst verpflichtet, geht mit dem von einem Strafurteil erhobenen deskriptiven und normativen Geltungsanspruch einher,153 dass nur die Person als Täter einer Straftat verurteilt werden darf, die diese Straftat auch wirklich begangen hat, was nach einer Übereinstimmung zwischen strafrechtlichem Sachverhalt als Original und dem als (Ab-)Bild fungierenden Erkenntnisspruch über dieses Original verlangt sowie mit dem Anspruch an die Gestaltung des Strafverfahrens in einer solchen Weise verbunden ist, dass dieses gewährt, dass jener anzustrebenden Übereinstimmung zwischen Original und Abbild «so nah wie möglich» zu kommen ist. Kann die Durchführung des Strafverfahrens auch keine materielle Ergebnisgarantie bewirken,154 so kann und muss das Strafverfahren aber das redliche Streben und Bemühen und dafür wiederum die Zurverfügungstellung der «besten» Wege und Mittel garantieren,155 um dem Anspruch nach dem «So-nah-wie-möglich-Kommen» von Original und Abbild zur Wirklichkeit zu verhelfen. 32
Auf die Korrespondenztheorie wird für das strafverfahrensrechtliche Wahrheitsverständnis, genauer für die Definition von Wahrheit selbst, von einem überwiegenden Teil des strafverfahrensrechtlichen Schrifttums zurückgegriffen.156 Mit jener für den strafverfahrensrechtlichen Wahrheitsbegriff zugrun150
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Siehe THOMAS VON AQUIN, Quaestio 21, Artikel 2: „Respondeo dicendum quod veritas consistit in adequatione intellectus et rei“; zu nennen sind hier zudem beispielhaft die Abbildtheorie von Wittgenstein und die semantische Wahrheitstheorie von Tarski, siehe zu diesen und weiteren Ausformungen der Korrespondenztheorie im Einzelnen PUNTEL, S. 26 ff.; GLOY, S. 92 ff.; STAMP, S. 32 ff.; siehe dazu auch DUTTGE, ZStW 2003, S. 544 f.; SEIFERT, Über die Wahrheit: 1, S. 178 ff.; SEIFERT, Über die Wahrheit: 2, S. 425 ff. GLOY, S. 92; PUNTEL, S. 28: „Übereinstimmung, Entsprechung, Angleichung, Adäquation, Konformität, Übereinkunft“ als Bezeichnungen für die Relation. Näher dazu GLOY, S. 95. Zum „deskriptiven als auch normativen Geltungsanspruch“ (S. 177, Hervorhebung Hörnle) des Strafurteils siehe HÖRNLE, Rechtstheorie 2004, S. 177. Siehe dazu auch DUTTGE, ZStW 2003, S. 552 f.; SCHREIBER, ZStW 1976, S. 140. Zum Erfordernis des Strebens nach Wahrheit und Gerechtigkeit etwa WEIGEND, ZStW 2001, S. 277, 279, 304; HÖRNLE, Rechtstheorie 2004, S. 185; DUTTGE, ZStW 2003, S. 543, 545 f.; HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, S. 3 N 6; ESER, Festschrift Tiedemann, S. 1464: „zumindest vom ernsthaften Bemühen um Wahrheitsfindung bestimmt“. STAMP, S. 37: „ganz überwiegend“; VOLK, S. 7: „vorherrschende Ansicht“; KÄSSER, S. 9: „herkömmliche Definition“; HÖRNLE, Rechtstheorie 2004, S. 178.
Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
degelegten Korrespondenztheorie geht jedoch das sich nunmehr auch für das Strafverfahren stellende Problem einher, dass die Korrespondenztheorie nur sagt, was eine wahre Erkenntnis ist, nicht aber, wie, d.h. auf welchem Weg und mittels welcher Kriterien zu diesem Ergebnis einer wahren Erkenntnis zu gelangen ist.157 Ist die materielle Strafgerechtigkeitskomponente mit der Korrespondenztheorie und mit der durch diese geleisteten Wahrheitsdefinition verknüpft, welche sich für den strafverfahrensrechtlichen Wahrheitsbegriff in einer Übereinstimmung von strafverfahrensrechtlichem Sachverhalt und Strafurteil konkretisiert, so ist für die Frage nach Kriterien und Voraussetzungen für den Weg der Ermittlung dieser Wahrheit auf die Kohärenztheorie und die Konsensustheorie Rückgriff zu nehmen.158 Mit der Kohärenz- und Konsensustheorie wird das Subjektbezogene als spezifisches Charakteristikum der Erkenntnisrelation und der Erkenntnis – einmal über einen vermittelten Rückschluss, das andere Mal in unmittelbarer(er) Weise – sichtbar gemacht und über das Strafverfahren und Strafurteil als subjektive Elemente der Erkenntnisrelation der Bezug zur prozeduralen Strafgerechtigkeitskomponente hergestellt: Mit jener sichtbar werdenden Subjektbezogenheit bringen die Kohärenztheorie und die Konsensustheorie ein für das (subjektive) Erkenntnisverfahren notwendiges und wichtiges Handlungsmoment und zudem, da menschliches Handeln zumeist sprachliches Handeln ist, ein speziell sprachliches Handlungsmoment ins Spiel.159 Dabei macht die selbst zuvörderst an das Ergebnis einer «Aussagelogik» anknüpfende aussagelogische Kohärenztheorie das Moment der Subjektbezogenheit erst mittelbar über eine Ableitung im Sinne einer Rückschau auf den zu jenem aussagelogischen (Handlungs-)Ergebnis hinführenden (Handlungs-)
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Siehe dazu auch PUNTEL, S. 28, 46; HÖRNLE, Rechtstheorie 2004, S. 178, 179; zur Einseitigkeit der Korrespondenztheorie auch KAUFMANN, Rechtsphilosophie, S. 35 ff. Siehe etwa HÖRNLE, Rechtstheorie 2004, S. 178, 179: „Kohärenztheorie als Wahrheitskriterium“ (S. 179, Hervorhebung Demko); siehe zu den verschiedenen Ausformungen der Kohärenz- und Konsensustheorien im Einzelnen GLOY, S. 168 ff.; PUNTEL, S. 142 ff.; STAMP, S. 38 ff.; dazu auch SCHNÄDELBACH, S. 179 ff.; HETZER, S. 65 ff.; SEIFERT, Über die Wahrheit: 2, S. 127 ff. und S. 197 ff.; zur Konsensustheorie auch instruktiv HASSEMER, Grundlagen, S. 132 ff. Zur Verbindung von Wahrheit und menschlicher Handlung sowie menschlicher Rede siehe JANICH, S. 98 ff.: „Anbindung von Wahrheitskriterien und Wahrheitsdefinition an die Aufgabe menschlicher Rede, gemeinschaftliche Lebensbewältigung zu organisieren“ (S. 98 f., Hervorhebung Janich), „Anspruch auf Wahrheit von Behauptungen über menschliche Handlungen …“ (S. 100, Hervorhebung Janich), „Auch Reden ist Handeln“ (S. 103, Hervorhebung Janich); siehe auch ALEXY, Recht, Vernunft, Diskurs, S. 119 ff. zu den „Teilnehmer(n) des Diskurses, also Menschen“ (S. 120, Hervorhebung Demko) und der massgeblichen Diskursprozedur.
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Prozess sichtbar.160 Hingegen ist die Subjektbezogenheit des Wahrheitsermittlungsweges durch die aussagepragmatische Konsensustheorie, die auf den zum Konsens führenden Handlungsprozess mit seinen Handlungs- und Sprachteilnehmern und den von diesen zu erfüllenden Handlungs- und Sprachregeln und -bedingungen selbst abhebt,161 unmittelbar(er) zum Aus160
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Die Kohärenztheorie stellt mit ihrem Kohärenzbegriff auf die Idee eines „aussagelogische(n) System(s)“ (GLOY, S. 192; dazu auch PUNTEL, S. 191) ab, nach der zu prüfen ist, ob sich eine Aussage in ein Aussagesystem einordnen, integrieren lasse und hierbei mit den anderen Aussagen kompatibel ist, sich widerspruchsfrei mit diesen verträgt und mit ihnen in einem systematischen Zusammenhang steht, wobei als dafür wichtige Kriterien etwa die der Konsistenz, Umfassendheit und Zusammenhängendheit genannt werden, näher dazu GLOY, S. 168 ff.; PUNTEL, S. 172 ff. Die Anknüpfung an die Aussage- und damit die Sprachdimension zeigt die Verbindung zum Menschen und zur menschlichen Erkenntnis, die sich in Sprache, in den Aussagen des Menschen umgesetzt hat, siehe dazu auch die Einordnung der Kohärenztheorie in die „subjektimmanenten Wahrheitstheorien“, GLOY, S. 168 (Hervorhebung Demko) bei GLOY, S. 168 ff.: „Welt ist nichts Erkenntnisjenseitiges, sondern eine … Sprachdimension“ (S. 169), „Abschluβ eines unendlichen Aussagenprozesses“ (S. 169 f.) und – betreff der idealistischen Variante – „Ausrichtung der Gegenstände am Subjekt und an dessen Erkenntnisbedingungen“ (S. 170) sowie Verlagerung der Wahrheit „in die Erkenntnissphäre, die Sphäre des Subjekts“ (S. 170), siehe auch S. 175, 176 dazu, dass Aussagen von Menschen erzeugt werden und Produkt des Menschen und seines (sprechenden) Handelns sind: durch die – von Carnap in diesem Sinne bezeichneten sogenannten – Protokollsätze erfolge eine Wiedergabe der Sinneseindrücke, Wahrnehmungen, Gefühle und Gedanken des „praktizierenden Wissenschaftlers“ (S. 175, Hervorhebung Demko) sowie „aus beiden basteln wir uns unseren „Universalslang“ zusammen“ (S. 170); siehe dazu auch JANICH, S. 107 ff.: „mit wahrheitsfähiger, behauptender Rede den Aufbau der Logik zu beginnen“ (S. 107) und Bestimmen der logischen Wahrheit eines zusammengesetzten Satzes über den „Handlungserfolg …, nämlich der Handlung, eine komplexe Aufforderung an eine Person ergehen zu lassen“ (S. 108), wobei dem von Janich angeführten Handlungserfolg, dem „erfolgreiche(n) Handeln“ (S. 110) eine entsprechende Handlung, gemeint im Sinne des menschlichen Handlungsprozesses voranzugehen hat, damit es durch diesen zum Handlungserfolg kommt. Zu nennen ist hier etwa die interpersonale bzw. intersubjektive Verifikationstheorie der Erlanger Schule und hier die von Kamlah und Lorenzen hervorgehobenen Gesichtspunkte, dass sich die Angehörigen der Sprachgemeinschaft durch Sachkunde und Vernünftigkeit auszeichnen, siehe dazu näher PUNTEL, S. 165; GLOY, S. 195 ff.; HETZER, S. 65 f. Zudem ist als ein weiteres Beispiel die Diskurstheorie von Habermas zu nennen. In dieser werden Bedingungen, formale Voraussetzungen eines idealen Diskurses aufgestellt, die von einer idealen Sprechgemeinschaft gefordert werden als Voraussetzung dafür, dass ein universeller Konsens zustande kommt, siehe zur Diskurstheorie von Habermas näher etwa HABERMAS, Diskursethik, hier z.B. S. 160 f.; dazu zudem GLOY, S. 203 ff.; PUNTEL, S. 144 ff.; HETZER, S. 67 ff.; SEIFERT, Über die Wahrheit: 2, S. 249 ff.
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druck gebracht.162 Die Kohärenztheorie lässt sich also als zuvörderst unmittelbar bzw. direkt bezogen auf das (sprachliche, «aussagelogische») Handlungsergebnis begreifen, von dem dann seinerseits Rückschlüsse auf die Erfordernisse und Anforderungen eines Prozesses menschlichen (sprachlichen) Handelns zu ziehen sind, die es einzuhalten gilt, damit ein solches aussagelogisches Handlungsergebnis, wie es die Kohärenztheorie verlangt, entstehen kann. Einen solchen ableitenden bzw. rückschliessenden Weg braucht es bei der Konsensustheorie nicht, denn die Konsensustheorie prägt mit dem von ihr verlangten Konsens zwar auch ein Handlungsergebnis aus,163 formt aber zuvörderst und unmittelbar die Anforderungen für den Handlungsprozess selbst als einzuhaltende Voraussetzungen und Bedingungen für das Zustandekommen des Konsenses aus164 und rückt dabei die Handlungs- und Sprachteilnehmer und die von diesen zu erfüllenden Handlungs- und Sprachregeln in den Vordergrund.
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Siehe auch näher GLOY, S. 191 ff. zur „aussagepragmatische(n) Seite“ (S. 192, Hervorhebung Gloy) und zu der sichtbar werdenden Verbindung der Konsensustheorien zu den Subjekten als den Sprach- und Gesprächsteilnehmern (S. 192, 196), den „Zeichenbenutzern“ (S. 192), den „Angehörigen der Sprachgemeinschaft“ (S. 195), zu den für die Subjekte aufgestellten „Handlungsregeln“ (S. 200) und den – hier ist die Diskurstheorie von Habermas angesprochen – von einer idealen Sprechgemeinschaft verlangten Voraussetzungen eines idealen Diskurses, die es als „Voraussetzung für das Zustandekommen eines universellen Konsenses“ (S. 204) braucht; siehe auch JANICH, S. 114: Wahrheit als „Produkt menschlicher Bemühungen“ (S. 114) sowie Stattfinden von Argumentationen und Diskursen „immer eingebettet in Lebenspraxen beteiligter Personen“ (S. 118). Siehe auch PUNTEL, S. 162 mit Bezug auf die Diskurstheorie von Habermas, wonach der „Konsens … eher dasjenige (ist), was durch solche Prozeduren allererst herbeigeführt wird bzw. werden kann“ (Hervorhebung Demko). In diesen Sinne auch PUNTEL, S. 162, wonach „die Bedingungen des Konsenses“ (Hervorhebung Puntel) als Wahrheitskriterium anzusehen seien: „Gesamtheit der Prozeduren, die zu einem bestimmten Ausgang (hier: eines Diskurses) führen“ (Hervorhebung Demko); ebenso GLOY, S. 215 ff., wonach die Diskurstheorie von Habermas als das Zustandekommen von Wahrheit und mithin als das Wahrheitskriterium betreffende Theorie zu verstehen sei, da diese Prozeduren, Mittel und Wege angebe zur Erreichung des Konsenses (siehe hierzu insbesondere S. 218); ebenso DUTTGE, ZStW 2003, S. 550 zu der Massgeblichkeit der „Diskursbedingungen“ (Hervorhebung Demko); deutlich auch ALEXY, Recht, Vernunft, Diskurs, S. 119 f. zur „Diskursprozedur“ (S. 119, Hervorhebung Demko), der „Durchführung der Prozedur“ (S. 120) als entscheidendem Gesichtspunkt: „Nicht der Konsens ist für sie entscheidend, sondern die Durchführung der Diskursprozedur … Es ist deshalb unzutreffend, der Diskurstheorie zu unterstellen, daβ sie den Konsens als Grund für die Richtigkeit oder die Wahrheit ansieht“ (S. 119, Hervorhebung Alexy: «Grund», übrige Hervorhebung Demko).
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Die Kohärenztheorie betont die aussagelogische Dimension, nach der eine Aussage dann wahr ist, wenn diese „eingliederbar ist in ein kohärenzielles Aussagensystem“.165 Der Kohärenzbegriff stützt sich auf die Idee eines (Gesamt- oder Teil-)Systems, auf die Idee eines systematischen Zusammenhangs von Aussagen, welcher durch die Aspekte der Konsistenz (im Sinne logischer Widerspruchslosigkeit), der Umfassendheit (womit eine Vollständigkeit und Geschlossenheit angesprochen ist) und der Zusammengefügtheit (im Sinne einer logischen Verknüpfung aller Einzelelemente zu einem Ganzen als einem „durchgängig verknüpfte(n) und geeinte(n) Gefüge“166) gekennzeichnet ist. Übertragen und angewendet auf das Strafverfahren und das abschliessende Strafurteil, welche sich als sprachlich geführte und verfasste Aussagesysteme verstehen lassen – wobei «Aussage» hier sowohl in ihrer speziell sprachlichen als auch in ihrer weitergehenden Dimension als menschliche Handlung begriffen wird –, verlangt der Kohärenzbegriff für die Wahrheit sowohl der einzelnen im Strafverfahren getätigten und im Strafurteil verwerteten Aussagen als auch der Gesamtaussage in Gestalt des Strafurteils selbst, dass alle Aussagen bzw. genauer zumindest diejenigen Aussagen, auf die sich das Strafurteil mit seinem Anspruch, ein auf Wahrheit beruhendes Strafurteil zu sein, stützt, miteinander kompatibel sind in dem Sinne, dass sich alle Aussagen widerspruchslos miteinander verbinden und in ein aussagelogisches System integrieren.167 Dieses von der Kohärenztheorie selbst vorgenommene primäre Abstellen auf das Erfordernis eines aussagelogischen Handlungsund Sprachergebnisses erlaubt es nun – da sich die (syntaktischen und semantischen) Zeichen168 im Sinne von Aussagen nicht von selbst setzen, sondern nur und einzig von Menschen als Handlungs- und Sprachsubjekten gesetzt werden können –, Rückschlüsse zu ziehen auf den vorangehenden Handlungs- und Sprachprozess: Angesprochen sind damit Rückschlüsse auf das Strafverfahren als solches, welches in einer solchen Weise zu führen ist, dass durch die handelnden und sprechenden (Prozess-)Subjekte die Grundlagen für ein aussagelogisches, weil konsistentes, umfassendes und zusammenhängendes Aussageergebnis in Gestalt des Strafurteils gesetzt und ausgeformt werden können.
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GLOY, S. 192, dort auch zur Verbindung von Kohärenztheorie als objektive, logische Seite und Konsensustheorie als subjektive, pragmatische Seite; HILGENDORF, GA 1993, S. 551 zur Kohärenz als „letztlich eine Frage der logischen Widerspruchsfreiheit“. GLOY, S. 186. Zur Bedeutung von Kohärenz im Einzelnen und hier etwa der Widerspruchsfreiheit siehe SEIFERT, Über die Wahrheit: 2, S. 139 ff. Siehe hierzu GLOY, S. 192 unter Bezug auf die „Dreigliederung von Syntaktik, Semantik und Pragmatik“.
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Jenes «Rückschlusses» bedarf es bei der Konsensustheorie nicht, da diese schon selbst Anforderungen für den Handlungs- und Sprachprozess als Weg hin zu dem zu erreichenden Konsens sowie Bedingungen und zu erfüllende Kriterien für die Handlungs- und Sprachteilnehmer als die Subjekte jenes Handlungs- und Sprachprozesses, als die die Aussagen tätigenden „Zeichenbenutzer(n)“169 aufstellt. Zu denken ist etwa an die von Kamlah und Lorenzen als Vertreter der Erlanger Schule aufgestellten Voraussetzungen (z.B.) der Sachkundigkeit und Vernünftigkeit im Sinne von Aufgeschlossenheit der Gesprächsteilnehmer oder an die Diskurstheorie von Habermas.170 In der Diskurstheorie stellt Habermas Voraussetzungen für das Ideal einer Sprechgemeinschaft und einen idealen herrschaftsfreien Diskurs auf, die es für das Erreichen eines wahrheitsverbürgenden universalen Konsenses braucht, und setzt für eine ideale Sprechsituation Bedingungen für die Diskursteilnehmer in Gestalt ihrer Chancengleichheit bei der Verwendung kommunikativer, konstativer, repräsentativer und regulativer Sprechakte.171
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Beide, die Kohärenztheorie und vor allem aber die Konsensustheorie, bringen – erstere erst über einen vermittelnden Rückschluss und letztere in unvermittelter direkter Weise – die besondere Bedeutung des Verfahrens im Sinne des «Weges», des «Prozesses hin zur» Erkenntnis und den Eigenwert des Subjektbezogenen des Erkenntnisverfahrens, wie es das Strafverfahren eines ist, zum Ausdruck. Die Kohärenz- und Konsensustheorien zeigen, dass es für den Wahrheitsermittlungsweg stets handelnde und sprechende Erkenntnissubjekte braucht, ja, dass eine Antwort auf die Frage, wie die (und zwar auch die strafverfahrensrechtliche) Wahrheit zu ermitteln ist, ohne (Prozess-)Subjekte nicht zu denken ist, da sich das (auch strafverfahrensrechtliche) Erkenntnisverfahren mitsamt Erkenntnis (im engen Sinne von Erkenntnisergebnis) als ein durchweg subjektbezogener und subjektabhängiger Prozess mit handelnden und sprechenden Menschen als (Prozess-)Subjekten ausweist.172
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Aufgezeigt wurde, dass sich die Korrespondenztheorie bei isolierter Betrachtung als «leer» darstellt, da diese mit ihrem Korrespondenzzusammenhang zwischen Original und Abbild zwar sagt, was Wahrheit ist und damit das ausdrückt, was es als Ziel zu erreichen gilt, um von einer «wahren Erkennt-
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GLOY, S. 192. Siehe näher zu interpersonalen Verifikationstheorie der Erlanger Schule sowie der Diskurstheorie von Habermas etwa GLOY, S. 195 ff. und S. 203 ff.; SEIFERT, Über die Wahrheit: 2, S. 249 ff.; PUNTEL, S. 144 ff. und S. 164 ff. Dazu etwa GLOY, S. 213 f. Siehe dazu auch DUTTGE, ZStW 2003, S. 547 ff.: nicht nur Nichtverwehrung, sondern Wünschenswert-Sein der „Möglichkeit der Partizipation an dem Herstellungsprozeβ der Entscheidungsgrundlagen“ (S. 547) für die Prozesssubjekte, siehe zu den zu beachtenden „… „Spielregeln“ …“ (S. 549) im Zusammenhang mit den Vertrags- und Diskurstheorien S. 549 ff.
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nis», einer wahren strafrechtlichen Verurteilung sprechen zu können, jedoch keine Kriterien vermittelt, wie zu dieser in der Übereinstimmung zwischen Original und Abbild liegenden Wahrheit zu kommen ist.173 In umgekehrter Weise stellen sich die Kohärenz- und Konsensustheorien bei isolierter Betrachtung als «blind» dar, da diese mit ihrem Bezug auf das wahrheitsermittelnde Erkenntnisverfahren und die Subjektbezogenheit sowohl des eigentlichen, die Erkenntnisrelation ausprägenden (Straf-)Verfahrens an sich als auch der das (Straf-)Verfahren abschliessenden Erkenntnis zwar Kriterien für den Wahrheitsermittlungsweg angeben, die aber nicht zugleich auch als Kriterien dafür, was Wahrheit ist – mithin für die durch das (strafverfahrensrechtliche) Erkenntnisverfahren als Ziel zu erreichende Wahrheit an sich – anzusehen sind.174 38
Das alleinige Nichtgenügen weder der Korrespondenztheorie noch der Kohärenz- und Konsensustheorien zur Erfassung der Elemente von Ziel und Weg des strafverfahrensrechtlichen Wahrheitsbegriffs und das Erfordernis des Zusammenführens dieser wird heute sowohl im philosophischen als auch im strafverfahrensrechtlichen Schrifttum gesehen und zu recht betont. Einzuordnen ist hier etwa die von Kaufmann entwickelte „Konvergenztheorie der Wahrheit“,175 mit welcher die „Einseitigkeiten von Korrespondenztheorie und Konsensustheorie miteinander“176 verbunden und diese „dadurch zu einer
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Siehe zur Verwendung der Begriffe leer und blind im Zusammenhang mit der Frage nach „Korrespondenztheorie oder Konsensustheorie?“ (S. 19, Hervorhebung Kaufmann) näher KAUFMANN, Diskurs, S. 19, wobei Kaufmann diese Begriffe im Vergleich zu deren Verwendung in der vorliegenden Abhandlung aber in umgekehrter Weise verwendet, indem er ausführt: „Die Korrespondenztheorie ohne die Konsensustheorie ist blind; die Konsensustheorie ohne die Korrespondenztheorie ist leer“ (Hervorhebung Demko). Siehe dazu eingehend und instruktiv SEIFERT, Über die Wahrheit: 2: in Bezug auf die Kohärenztheorie S. 154 ff. und S. 175 ff. und in Bezug auf die Konsensustheorie S. 237 ff. und S. 256 ff.; in diese Richtung auch etwa DUTTGE, ZStW 2003, S. 548, wonach der reinen Verfahrensgerechtigkeit „jedwede die Verfahrensfairneβ übersteigende inhaltliche Orientierung (fehlt)“; KAUFMANN, Rechtsphilosophie, S. 35 ff. zum Fehlen der Inhaltsebene bei der Konsensustheorie: „sagt gar nichts darüber, “was“ da irrig sein könnte“ (S. 36) und berechtigt „nicht zur Feststellung der Wahrheit (Richtigkeit) von etwas“ (S. 36). KAUFMANN, Rechtsphilosophie S. 37 (Hervorhebung Kaufmann), wonach massgebend sei, dass „mehrere voneinander unabhängige Subjekte hinsichtlich desselben (!) “Gegenstandes“ zu sachlich konvergieren [sic] Erkenntnissen gelangen“ (Hervorhebung Kaufmann); dazu auch KAUFMANN, Diskurs, S. 19: Konvergenztheorie der Wahrheit als eine „sachlich (personal) begründete prozedurale Wahrheits- bzw. Richtigkeitstheorie“ (Hervorhebung Kaufmann); KAUFMANN, ARSP 1986, S. 441. KAUFMANN, Rechtsphilosophie, S. 37 (Hervorhebung Demko).
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Einheit“177 geführt werden sollen.178 Ebenso zeigen etwa Duttge179 sowie Hörnle mit ihrem „klassische(n) Modell“180 das erforderliche Zusammenführen von «Wahrheitsdefinition und Wahrheitskriterium» – womit die vom Strafverfahren als Ziel anzustrebende Wahrheit selbst und der Wahrheitsermittlungsweg angesprochen sind – auf181 und verdeutlichen die Einseitigkeiten der sich entweder nur auf die anzustrebende Wahrheit selbst oder nur auf den Ermittlungsweg hin zur Wahrheit konzentrierenden Wahrheitstheorien.182 So, wie sich für ein insgesamt strafgerechtes Strafverfahren sowohl die materielle als auch die prozedurale Gerechtigkeitskomponente als erforderlich erwiesen hat und sich die sich auf das Strafverfahren als solches und hier auch auf den Schutz der Menschenrechte «im» Strafverfahren konzentrierende prozedurale Gerechtigkeitskomponente als notwendige, aber allein nicht hinreichende Voraussetzung dargestellt hat, so sind nun auch für den zu einem jeden Strafverfahren gehörenden Abschnitt der Tatsachenfeststellung im strafprozessualen Beweisverfahren das durch die materielle Gerechtigkeitskomponente angesprochene Ziel des Strafverfahrens und der durch die prozedurale Gerechtigkeitskomponente angesprochene Weg in Gestalt des Strafverfahrens selbst notwendig zusammenzuführen:183 Die der materiellen Ge-
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KAUFMANN, Rechtsphilosophie, S. 37 (Hervorhebung Demko). Siehe zur Verbindung auch SEIFERT, Über die Wahrheit: 2, S. 159, 256. Siehe näher DUTTGE, ZStW 2003, S. 547 ff.: „Festhalten an einer übergeordneten rechtsstaatlichen Funktion des materiellen Wahrheitsbegriffs versperrt … nicht die Option zu einer stärker adversarial konzipierten Verfahrensstruktur …“ (S. 547 f.), aber der reinen Verfahrensgerechtigkeit für sich fehle die „inhaltliche Orientierung“ (S. 548), die „Postulate einer erforderlichen Argumentation und Kommunikation im „Diskurs“ bilden nicht etwa für sich schon das Ziel, sondern lediglich die … Mittel zu jenem bereits angeführten ganz anderen (materiellen) Zweck“ (S. 549, Hervorhebung Demko). HÖRNLE, Rechtstheorie 2004, S. 179 (Hervorhebung Hörnle). HÖRNLE, Rechtstheorie 2004, S. 179, 184 f.: „Diese Herangehensweise, die auf einer Korrespondenztheorie als Wahrheitsdefinition und einer Kohärenztheorie als Wahrheitskriterium beruht, möchte ich im folgenden als das „klassische Modell“ bezeichnen“ (S. 179, Hervorhebung Hörnle: «„klassische Modell“», übrige Hervorhebung Demko); „Bemühen um Wahrheitsermittlung kann nicht durch reine Verfahrensgerechtigkeit ersetzt werden“ (S. 185, Hervorhebung Hörnle); siehe dazu zudem HILGENDORF, GA 1993, S. 551 f., 553 f.; GOTTWALD, ZZP 1985, S. 120; JAHN, GA 2004, S. 278; RENZIKOWSKI, Festschrift Lampe, S. 798 f. Zu diesen Einseitigkeiten siehe auch näher KAUFMANN, Rechtsphilosophie, S. 35 ff.; KAUFMANN, ARSP 1986, S. 439 ff. In diesem Sinne auch die Ausführungen von DUTTGE, ZStW 2003, S. 547 ff.; HÖRNLE, Rechtstheorie 2004, S. 179 ff.; KAUFMANN, Rechtsphilosophie, S. 35 ff.
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rechtigkeitskomponente zuzuordnende Korrespondenztheorie,184 die die als Ziel des Verfahrens zu erreichende Wahrheit angibt, und die der prozeduralen Gerechtigkeitskomponente zuzuordnenden Kohärenz- und Konsensustheorien, die Kriterien für den Wahrheitsermittlungsweg ausprägen, können für ein Strafverfahren als ein wahrheitsgerichtetes Erkenntnisverfahren nur zusammengedacht werden.185 Auch bezogen auf den speziellen Verfahrensabschnitt der Tatsachenfeststellung des Strafverfahrens gilt daher das, was bereits für die sich auf das gesamte Strafverfahren beziehende (und hierbei auch das Beweisverfahren einschliessende) prozedurale Gerechtigkeitskomponente formuliert wurde und was sich für das strafprozessuale Beweisverfahren dahingehend konkretisieren lässt, dass sich der Wahrheitsermittlungsweg mit der auf diesem zu beachtenden Subjektbezogenheit zwar nicht als allein hinreichende, aber als zwingend notwendige Voraussetzung für ein gerechtes Straf- und Beweisverfahren ausweist.
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3.
Der Begriffsgegensatz von materieller und formeller Wahrheit: Übereinstimmendes und Unterschiedliches im Wahrheitsverständnis der instruktorischen, adversatorischen sowie der «gemischten» internationalen Strafverfahren
a)
Wahrheit als «universal» anzustrebendes Ziel eines jeden Strafverfahrens
Ist unter Anlegen der Erkenntnistheorie und der Wahrheitstheorien der Philosophie an das Strafverfahren dieses als ein wahrheitsgerichtetes Erkenntnisverfahren sichtbar gemacht worden, so liesse sich fragen, ob dieses Verständnis des strafverfahrensrechtlichen Wahrheitsbegriffs in übereinstimmender Weise für die verschiedenen Strafverfahrensordnungen, wie sie sich in Form der instruktorischen und adversatorischen und gemischten Strafverfahren ausprägen, Geltung beanspruchen kann. Angesprochen ist die Verwendung der häufig als Gegensatzpaar herangezogenen Begriffe von der den instruktorischen Strafverfahren zugeordneten materiellen Wahrheit einerseits und der den adversatorischen Strafverfahren zugeordneten formellen Wahrheit andererseits.186 Jenes Gegenüberstellen und Abgrenzen von materieller und for184
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Siehe auch TRÜG, S. 67: „der … materiellen Wahrheit und jener der Korrespondenztheorie zugrunde liegenden Vorstellung …“ (Hervorhebung Trüg). Siehe auch DUTTGE, ZStW 2003, S. 549: „Postulate einer erforderlichen Argumentation und Kommunikation im „Diskurs“ bilden nicht etwa für sich schon das Ziel, sondern lediglich die … Mittel zu jenem angeführten ganz anderen (materiellen) Zweck“ (Hervorhebung Demko); siehe dazu auch VOLK, S. 16 f., 30. Siehe zu jenem Begriffspaar der materiellen und formellen Wahrheit etwa STAMP, S. 17 ff.; dazu und zur bevorzugten Verwendung des Begriffspaars der materiellen
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meller Wahrheit könnten – fälschlicherweise – zur Annahme verleiten, dass die instruktorischen und adversatorischen Strafverfahren nach einer jeweils «anderen Wahrheit» suchen, so dass sich fragt, ob sich jedes Strafverfahren, und zwar unabhängig davon, für welche (etwa die instruktorische, adversatorische oder gemischte) Verfahrensform es sich entschieden hat, tatsächlich als ein wahrheitsgerichteter Erkenntnisprozess im zuvor dargestellten Sinne verstehen lässt und zu verstehen ist. Genau dies nun ist zu bejahen, zeigt die genauere Betrachtung der Verwendung des Wahrheitsbegriffs in den instruktorischen und adversatorischen Strafverfahren doch, dass mit dem materiellen und dem formellen Wahrheitsbegriff jeweils nur bestimmte einzelne der drei Erkenntniselemente und nur bestimmte erkenntnistheoretische Aspekte besonders hervorgehoben werden, während die anderen weniger Betonung finden,187 was aber nichts daran ändert, dass sowohl in den instruktorischen Strafverfahren mit ihrem materiellen Wahrheitsbegriff als auch in den adversatorischen Strafverfahren mit ihrem formellen Wahrheitsbegriff jeweils alle drei Erkenntniselemente und die ihnen zugehörenden Wahrheitstheorien zur Anwendung kommen: Mit dem materiellen Wahrheitsbegriff wird die vom Strafverfahren anzustrebende Übereinstimmung des der Seinswirklichkeit zugehörenden Originals in Gestalt des Tatgeschehens und des Abbildes in Gestalt der abschliessenden strafverfahrensrechlichen Entscheidung angesprochen, welcher – wenn dieser im Ergebnis u.U. auch nicht vollkommen im Sinne von «Eins zu Eins» entsprochen werden kann und mit Blick auf die Einschränkung auf eine tatbestandsrelevante Wirklichkeit auch gar nicht soll188 – «so nah wie möglich» zu
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Wahrheit und der formalisierten Wahrheit siehe TRÜG, S. 67 FN 174; siehe zudem GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 81 mit dem Begriffspaar der materiellen Wahrheit und der Prozesswahrheit (Hervorhebung Demko); siehe zur materiellen und formellen Wahrheit, welche „in einen begrifflichen Gegensatz gebracht“ (S. 23) werden auch eingehend WESSLAU, S. 23 ff.; MAHLER, S. 17 ff.; zu den zu bevorzugenden und hier verwendeten Begriffen des instruktorischen (und nicht inquisitorischen) und adversatorischen Strafverfahrens siehe instruktiv ESER, Festschrift Tiedemann, S. 1456 f., 1467 ff.; ESER, Strafjustiz, S. 434; AMBOS, ICLR 2003, S. 2, 4; PERRON, Beweisaufnahme, S. 6, 560 ff. zu instruktorischen und adversatorischen Verfahren; siehe auch HARDING, S. 4, 11, 15 zu „inquisitorial“ (S. 4, Hervorhebung Harding) und „adversarial/accusatorial“ (S. 4, Hervorhebung Harding); DAMAŠKA, S. 16 f. zur Verwendung der Begriffe „hierarchical ideal“ (S. 17, Hervorhebung Damaška) und „coordinate ideal“ (S. 17, Hervorhebung Damaška). Zur Unterschiedlichkeit in dem Hervorheben und In den Vordergrund Stellen siehe auch GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 87. Angesprochen sind hier nicht nur die Fehleranfälligkeiten eines jeden menschlichen Erkenntnisprozesses oder auch die etwa mit Beweiserhebungs- und -verwertungsverboten einhergehenden Beschränkungen in der Wahrheitsermittlung, sondern zudem, dass es im strafverfahrensrechtlichen Erkenntnisverfahren nicht um das Erkennen der
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kommen ist. Mit jenem materiellen Wahrheitsbegriff ist mithin die Frage, was Wahrheit ist, in den Vordergrund gerückt und mit der besonderen Betonung189 der beiden in Übereinstimmung zu bringenden Erkenntniselemente des Zu-Erkennenden und der Erkenntnis ist die der materiellen Gerechtigkeitskomponente zugeordnete Korrespondenztheorie in den Mittelpunkt des Blickfeldes gestellt.190 Vernachlässigt wird bei dieser Betonung das «Verbin-
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«ganzen Wirklichkeit» um ihrer selbst willen geht, sondern nur um das Erkennen von bestimmten begrenzten Ausschnitten und Aspekten eines Wirklichkeitsgeschehens, und zwar allein von solchen, die für die zu beantwortende entscheidende Frage der Strafbarkeit des Angeklagten wegen einer bestimmten Straftat und die sich daran anknüpfenden Sanktionen relevant, mithin für die Schuld- und die Strafzumessungsfrage von Bedeutung sind. Siehe dazu auch STAMP, S. 71, 125 ff.: „Reduzierung auf Wirklichkeitsausschnitte“ (S. 125, Hervorhebung Stamp), „tatbestandsrelevante Wirklichkeit“ (S. 127); KÄSSER, S. 3 ff., 29 f.; EICKER, Prinzipien, S. 16; WESSLAU, S. 20 f. Dazu auch TRÜG, S. 62 f., wonach Wahrheit und Gerechtigkeit „in ihrer Existenz zunächst unabhängig vom Verfahren“ (S. 62) sind und das Verfahren nur dazu diene, die „ontologisch verstandene objektive und intersubjektive Wahrheit und Gerechtigkeit ans Licht zu bringen“ (S. 62). Die materielle Wahrheit und materielle Gerechtigkeit stehen im Vordergrund und es geht „nicht in erster Linie um Verfahrensgerechtigkeit“ (S. 62, Hervorhebung Demko), sondern das Strafverfahren nehme „jedenfalls im Ausgangspunkt und als Grundsatz eine dienende Funktion gegenüber dem materiellen Recht“ (S. 63, Hervorhebung Demko) ein. Siehe zudem GUSY, StV 2002, S. 155: „Aufklärung einer materiellen, vorprozessualen Wahrheit … Diese Wahrheit wäre dann notwendig objektiv und intersubjektiv und ggf. auch auβerhalb des Prozesses ermittelbar … die Wahrheitsermittlung (wäre) also verfahrensunabhängig“; VOLK, S. 16 f. zur „Herrschaft des Prinzips der materiellen Wahrheit“ (S. 17, Hervorhebung Demko) und deren „übergeordnete rechtsstaatliche Funktion“ (S. 17, Hervorhebung Demko); SCHULZ, Normiertes Misstrauen, S. 192 f.: „… materielle Wahrheit sei das Merkmal des inquisitorischen Verfahrens …“; WESSLAU, S. 23: Reklamierung der materiellen Wahrheit für Verfahrensordnungen mit Inquisitionsmaxime; dazu auch MAHLER,S. 17 ff.; DONATSCH/SCHWARZENEGGER/WOHLERS, S. 3, 14: „selbstgesetzte Ziel des Inquisitionsprozesses – die Ermittlung der materiellen Wahrheit …“ (S. 14); SCHMID, S. 3 N 8. Siehe auch TRÜG, S. 60 ff. zur Verbindung von materieller Wahrheit und Korrespondenztheorie auf S. 60 f. und S. 67, „Wahrheitsfindung als regulativer Grundsatz meint das Ziel des Verfahrens …“ (S. 62, Hervorhebung Trüg), das Finden der materiellen Wahrheit ist „Korrelat sowohl des materiellen Schuldprinzips als auch der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs“ (S. 62), zum Zusammenhang von materieller Wahrheit und „materielle(r) Gerechtigkeit“ (S. 62, Hervorhebung Trüg) siehe S. 62 f., wonach die materielle Wahrheit Voraussetzung für die Gerechtigkeitsermittlung ist; NIJBOER, Beweisverbote, S. 46; NIJBOER, Beweisprobleme, S. 28 ff.: „die 'ganze Wahrheit', aufgefaβt als ungefärbtes Bild der (historischen) Wirklichkeit hervortritt“ (S. 32, Hervorhebung Nijboer); GLESS, S. 81 ff. zur „umfassende(n), »objektiv zuverlässige(n)« Tatsachenfeststellung“ (S. 81, Hervorhebung Demko) als „Ideal der instruktorischen Verfahrensordnungen“ (S. 81, Hervorhebung Demko) sowie S. 82 ff.
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dungsstück» selbst, mithin das strafverfahrensrechtliche Erkenntnisverfahren, das das Zu-Erkennende und die Erkenntnis erst in eine Beziehung zueinander, in einen Zusammenhang miteinander bringt bzw. genauer, in welchem die dieses Erkenntnisverfahren ausführenden und ausgestaltenden (Prozess-)Subjekte das Zu-Erkennende und die Erkenntnis in einen Erkenntniszusammenhang stellen. Jene Vernachlässigung der Betonung auch des zwischen dem Zu-Erkennenden und der Erkenntnis stehenden Erkenntnisverfahrens, wie sie mit der besonderen Betonung der Korrespondenz-Übereinstimmung durch den materiellen Wahrheitsbegriff einhergeht, heisst aber weder, dass die (heutigen modernen) instruktorischen Strafverfahren für ihr Wahrheitsverständnis davon ausgehen, dass sich die als Verfahrensziel anzustrebende Korrespondenz-Übereinstimmung (ohne ein Strafverfahren als ein Erkenntnisverfahren) quasi «von selbst findet» oder «von selbst herstellt»,191 noch, dass diese Korrespondenz-Übereinstimmung in einem hinsichtlich seiner Durchführung und Gestaltung «beliebigen» Verfahren ermittelt werden dürfe. Vielmehr erkennen auch die instruktorischen Strafverfahren an, dass für jene anzustrebende Korrespondenz-Übereinstimmung ein von (Prozess-)Subjekten eröffnetes und gestaltetes Erkenntnisverfahren in Gestalt eines von Menschen geführten Strafverfahrens durchzuführen und mehr noch, nicht nur «irgendein», sondern nur und gerade ein justizförmiges, der prozeduralen Gerechtigkeitskomponente genügendes und hier insbesondere die Menschenrechte «im» Strafverfahren wahrendes Strafverfahren durchzuführen ist.192
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eingehend und instruktiv zu den Entwicklungen und unterschiedlichen Positionen betreff der Suche nach der materiellen Wahrheit, die für die Frage nach dem Verfahrensziel lange Zeit als genügend angesehen wurde (S. 82), ihre „uneingeschränkte Proklamation … als Prozessziel“ (S. 83) zwar verloren hat, die Ausrichtung des (hier als Beispiel des instruktorischen Strafverfahrens untersuchten) deutschen Strafverfahrens am Prinzip der materiellen Wahrheit aber „nicht in Frage gestellt“ (S. 86) ist; PETERS, Strafprozeβ, S. 82; SCHMIDT, JuS 1973, S. 205 f.; EICKER, Prinzipien, S. 14; PERRON, Beweisantragsrecht, S. 38; MAHLER, S. 20 zur Verbindung von materieller Wahrheit und Korrespondenztheorie. Siehe zu früheren Gottesbeweisen etwa KOST, S. 3 ff.; RÜPING/JEROUSCHEK, S. 12 ff.; siehe auch GÖSSEL, ZStW 1982, S. 9 f. zur Verbannung „irrationale(r) Beweisführung z.B. durch Gottesurteil wie Wasserprobe und Zweikampf“ (S. 9). Zur Betonung des Erfordernisses der Justizförmigkeit des Strafverfahrens und des Gesichtspunktes, dass die materielle Wahrheit und Gerechtigkeit nur in einem auch prozedural gerechten Strafverfahren ermittelt werden dürfen, siehe etwa GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 58, 60, 87: „… hat Grenzen in den (Grund-)Rechten der Beteiligten und dem allgemeinen Anspruch auf ein rechtsstaatliches Verfahren“ (S. 58); TRÜG, S. 64 ff.: „unter Einhaltung prozessualer Regeln die gröβtmögliche Annäherung an die materielle Wahrheit angestrebt“ (S. 66, Hervorhebung Trüg: «materielle», übrige Hervorhebung Demko); PETERS, Strafprozeβ, S. 83: „Nicht Wahrheit unter allen Umständen, sondern Wahrheitsfindung in sittlich einwandfreier Form! Um der
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Auch wenn jener Verfahrensaspekt also von dem materiellen Wahrheitsbegriff weniger hervorgehoben ist, bedeutet dies nicht, dass die instruktorischen Strafverfahren von einem Wahrheitsverständnis ausgehen, nach dem auf das zwischen dem Zu-Erkennenden und der Erkenntnis liegende und beide in eine Verbindung miteinander bringende, von (Prozess-)Subjekten geführte strafverfahrensrechtliche Erkenntnisverfahren verzichtet werden könne oder dass dieses strafverfahrensrechtliche Erkenntnisverfahren um der einseitigen Betonung der materiellen Wahrheit willen unter Nichtbeachtung der durch die Justizförmigkeit aufgestellten Voraussetzungen und hier (etwa) unter Verletzung der prozeduralen Menschenrechte des Angeklagten durchgeführt werden dürfe. Vielmehr wird ein solches, und zwar justizförmiges, «prozedural gerechtes», faires193 strafverfahrensrechtliches Erkenntnisverfahren als zwingend notwendig auch in den instruktorischen Strafverfahrensordnungen verlangt, wobei sowohl dessen der materiellen Wahrheit und materiellen Gerechtigkeit zugeordnete dienende Funktion mit Blick auf das anzustrebende Ziel des Korrespondenz-Zusammenhangs zwischen Original und Abbild, welchem «so nah wie möglich» zu kommen ist, anerkannt und gefordert ist als auch dessen ebenso zu achtende Eigenständigkeit und Eigenwertigkeit mit Blick auf den (Rechts-)Schutz von Strafverfahrenswerten als Moment der prozeduralen Gerechtigkeit.194
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In geradezu umgekehrter Weise finden die erkenntnistheoretischen Elemente und die damit einhergehenden Wahrheitstheorien nun in den adversatorischen Strafverfahren mit ihrem formellen Wahrheitsbegriff besondere Betonung:195 Wird mit dem materiellen Wahrheitsbegriff der instruktorischen Strafverfahren der Verfahrensaspekt, das prozedurale Moment im Vergleich zu dem besonders betonten materiellen Aspekt und der durch diesen definierten materiellen Wahrheit vernachlässigt, so ist es nun gerade dieses prozedurale Moment, das in den adversatorischen Strafverfahren besonders hervorgehoben und mit welchem die Frage, wie die Wahrheit zu ermitteln ist, in den
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menschlichen Würde willen …“; EICKER, Prinzipien, S. 15; WESSLAU, S. 24, siehe auch S. 185 f.; PERRON, Beweisantragsrecht, S. 38 f.; siehe auch PIETH, Strafprozessrecht, S. 2 f.; DONATSCH/SCHWARZENEGGER/WOHLERS, S. 3 f.; SCHMID, S. 4 N 9, 10; ARZT, Festschrift Eser, S. 692. Siehe etwa GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 60: Nicht nur Ausrichtung des Strafverfahrens am „Grundsatz einer möglichst zuverlässigen Beweisführung …“, sondern es „… soll darüber hinaus ein »faires Verfahren« sein …“ Zum erforderlichen Zusammenführen von materieller und prozeduraler Gerechtigkeitskomponente siehe bereits näher unter Kap. 2 A. sowie sodann unter Kap. 3 A. III. WESSLAU, S. 23: Reklamierung der formellen Wahrheit für Verfahrensordnungen mit Verhandlungsmaxime; GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 89: das im adversatorischen Parteiverfahren traditionell geltende „Postulat der im Parteienstreit hervorgebrachten »Prozesswahrheit«“.
Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
Mittelpunkt gerückt wird. Die adversatorischen Strafverfahren sind durch ein von Beginn an prozessuales Denken geprägt,196 welches die grosse Bedeutung und den eigenständigen Wert des strafverfahrensrechtlichen Erkenntnisverfahrens als Wahrheitsermittlungsweg betont.197 Neben der Hervorhebung des kommunikativen und interaktiven Charakters des Strafverfahrens, der sich in einem von den Parteien geführten Beweisverfahren ausprägt, welche in einem widerstreitenden und auch sprachlich streitenden Sich-GegenüberStehen die Wahrheit hervorbringen sollen,198 ist es dabei zudem das subjektbezogene und hierbei gerade auch das (prozess)subjektschützende Moment, das mit den für den Angeklagten aufgestellten Verteidigungsrechten eine besondere Betonung findet.199 Den Schwerpunkt der Betonung durch den formellen Wahrheitsbegriff auf den Verfahrensaspekt zu legen, heisst aber nicht, dass die adversatorischen Strafverfahrensordnungen davon ausgehen, dass das Strafverfahren um seiner selbst willen, als purer Selbstzweck und losgelöst von allen ausserhalb des Verfahrens selbst liegenden Aspekten durchgeführt werden dürfe. Trotz vorrangiger Betonung des Erkenntnisverfahrens selbst und mit diesem der Frage, wie man die Wahrheit ermittelt, wird das strafverfahrensrechtliche Erkenntnisverfahren in seiner Bedeutung, ein die Beziehung gerade zwischen ZuErkennendem und Erkenntnis herstellendes Erkenntniselement zu sein, gesehen und es sind damit auch die beiden anderen Erkenntniselemente in Gestalt des Zu-Erkennenden und der Erkenntnis sowie die vom Strafverfahren als Ziel anzustrebende Korrespondenz-Übereinstimmung zwischen beiden anerkannt.200 Ebenso wie in den instruktorischen Strafverfahrensordnungen ist das 196
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So auch TRÜG, S. 68: „von Beginn an prozedural gedachte Gerechtigkeit“; DAMAŠKA, ZStW 1978, S. 843; SCHULZ, Normiertes Misstrauen, S. 193 und FN 796, wonach für die Wahrheit „dort deren »Demokratisierung« (Prozeduralisierung) entscheidend“ (S. 193) sei und der angloamerikanischen Dogmatik „die prozessuale, verdachtszentrierte Betrachtungsweise“ (S. 193 FN 796) näher steht als der kontinentalen; siehe auch BORA, S. 22 ff.; MAHLER, S. 21 ff.; GALLIGAN, S. 167 f. In diesem Sinne wohl auch TRÜG, S. 70, wonach es „weniger um die Ermittlung als um die Herstellung von Wahrheit“ (Hervorhebung Trüg) geht; siehe auch GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 89: „im förmlichen Verfahren hergestellte(r) Sachverhalt“, der Geltung als „durch den Prozess hervorgebrachte Wahrheit“ beanspruchen darf. TRÜG, S. 69: „gegenseitige Aufreiben der Parteien“, Wahrheit als „Produkt eines kommunikativen Diskurses“; dazu auch DAMAŠKA, S. 3 ff., 145 f.; MAHLER, S. 24: „regelgeleiteter, auf Chancengleichheit bedachter Wettkampf“. Siehe dazu auch GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 90 f.; GALLIGAN, S. 243 ff.; HOFSTETTER, S. 15, 16. Siehe dazu deutlich und zutreffend GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 90 und FN 343, wonach die Orientierung an der Prozesswahrheit „aber nicht im Widerspruch zu dem Idealziel einer möglichst optimalen Annäherung an den historischen Sachverhalt als Ergebnis des strafprozessualen Beweisverfahrens“ (S. 90, Hervorhebung
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strafverfahrensrechtliche Erkenntnisverfahren auch in den adversatorischen Strafverfahrensordnungen in dessen dienender Funktion gesehen, zu einer gemäss der Korrespondenztheorie «so nah wie möglich» kommenden Übereinstimmung zwischen dem der Seinswirklichkeit angehörenden Tatgeschehen und der «abbildenden», das Strafverfahren abschliessenden strafrechtlichen Entscheidung beizutragen, wobei sich das Streben nach jenem Ziel nur unter Beachtung der sich auf den Erkenntnisweg als solchen, auf das strafverfahrensrechtliche Erkenntnisverfahren an sich beziehenden Anforderungen der prozeduralen Gerechtigkeitskomponente und hier des Menschenrechtsschutzes «im» Strafverfahren vollziehen darf. 45
Beide, sowohl die instruktorischen Strafverfahrensordnungen mit dem ihnen zugeordneten materiellen Wahrheitsbegriff als auch die adversatorischen Strafverfahrensordnungen mit dem ihnen zugeordneten formellen Wahrheitsbegriff, weisen das Strafverfahren mithin als aus den drei Erkenntniselementen bestehendes Erkenntnisverfahren aus. In beiden Verfahrensordnungen ist es die Korrespondenz-Übereinstimmung zwischen Zu-Erkennendem und Erkenntnis, der als vom Strafverfahren anzustrebendes Ziel «so nah wie möglich» zu kommen ist, wobei sich diese – mit der KorrespondenzÜbereinstimmung angesprochene und definierte – anzustrebende Wahrheit jedoch nicht von selbst verwirklicht, sondern in einem von Menschen, von (Prozess-)Subjekten durchgeführten und gestalteten strafverfahrensrechtlichen Erkenntnisverfahren zu verwirklichen ist. Trotz des missverständlichen Begriffspaars der materiellen und formellen Wahrheit, welches eine Unterschiedlichkeit des Wahrheitsbegriffs und -verständnisses in den instruktorischen und adversatorischen Strafverfahrensordnungen suggeriert, welche bei genauerer Betrachtung nicht besteht,201 handelt es sich bei den instruktori-
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Demko) stehe und auch die englische Doktrin zum Beweisrecht durch die Korrespondenztheorie nachhaltig beeinflusst sei (S. 90 FN 343); TRÜG, S. 69, wonach „auch diese formalisierte Wahrheit in einer Beziehung zur Alltagswahrheit steht, wenn grundsätzlich angestrebt wird, daβ beide zueinander kongruent sind“; SCHULZ, Normiertes Misstrauen, S. 193 und FN 796 zur Ausrichtung auch des angloamerikanischen Strafverfahrens an der materiellen Wahrheit; WESSLAU, S. 27, wonach „(a)uch das Verfahren mit Verhandlungsmaxime … die Feststellung des wahren Sachverhalts (erstrebt) und … sich dazu nur einer anderen Methode der Stoffsammlung (bedient); MAHLER, S. 26 f.; ESER, Laienrichter, S. 173. Dazu, dass das instruktorische und das adversatorische Strafverfahren demselben Ziel der Ermittlung der Wahrheit folgen und sich nur die Art und Weise, wie sich die Wahrheitsermittlung im Strafverfahren gestaltet, voneinander unterscheidet, siehe etwa GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 93; STAMP, S. 18 mit der Formulierung, dass auch im angloamerikanischen Strafverfahren „in gewisser Hinsicht … die Wahrheitsfindung Ziel des Verfahrens ist“; TRÜG, S. 69, 70, wonach nicht fernliegend sei, dass „der materielle und der formalisierte Wahrheitsbegriff im Ergebnis identisch oder zumindest ähnlich sein können“ (S. 70, Hervorhebung Trüg: «materielle», «formali-
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schen und adversatorischen Strafverfahren mithin um alle drei Erkenntniselemente in sich aufnehmende wahrheitsgerichtete Erkenntnisverfahren, welche Ziel und Weg und die damit jeweils verbundenen materiellen und prozeduralen Gerechtigkeitskomponenten zu beachten und zusammenzuführen haben. b)
Unterschiedlichkeit bezüglich der Art und Weise der Wahrheitsermittlungswege
Nicht, dass das – in der Korrespondenz-Übereinstimmung bestehende – Ziel «der Wahrheit» als das «so nah wie möglich» zu erreichende vom Strafverfahren anzustreben ist, und auch nicht, «dass» zur Erreichung dieses Ziels ein von (Prozess-)Subjekten durchgeführtes und die Anforderungen der prozeduralen Gerechtigkeit erfüllendes strafverfahrensrechtliches Erkenntnisverfahren als Wahrheitsermittlungsweg zu beschreiten ist, unterscheiden die instruktorischen und adversatorischen Strafverfahren voneinander, sondern jene beiden, eben genannten Gesichtspunkte weisen sich gerade als das Gemeinsame von instruktorischen und adversatorischen Strafverfahren aus. Der Unterschied zwischen instruktorischen und adversatorischen Strafverfahren liegt vielmehr darin, «wie», auf welche «Art und Weise» jener Wahrheitsermittlungsweg in Gestalt des von (Prozess-)Subjekten durchgeführten und ausgeformten, den prozeduralen Gerechtigkeitsanforderungen genügenden strafverfahrensrechtlichen Erkenntnisverfahrens beschritten wird:202
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sierte»; übrige Hervorhebung Demko); dazu auch WESSLAU, S. 25, 27, 103; MAHLER, S. 17 ff., 21 ff., 28; AMBOS, ICLR 2003, S. 21; SADOGHI, ZfRV 2007, S. 235; JÖRG, S. 221, 228, wonach für akkusatorische und inquisitorische Systeme „it is fundamental that the truth be established in what is regarded as a fair, and therefore socially legitimate, manner“ (S. 221) und in „both traditions truth-finding and fairness are the most important, distinct aims of criminal justice ….“ (S. 221, Hervorhebung Demko). Ebenso GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 93 f.: „… auf verschiedenen Wegen das gleiche Ziel, nämlich eine maximale Annäherung an die historische Wahrheit, erreichen wollen“ (S. 93, Hervorhebung Demko); siehe auch WESSLAU, S. 25 ff. zu den „verschiedenen Prozeβmaximen, die sich auf die Rollenverteilung bei der Herbeischaffung des Tatsachenstoffs beziehen: Untersuchungsmaxime einerseits, Verhandlungsmaxime andererseits“ (S. 25); MAHLER, S. 17 ff.; AMBOS, ICLR 2003, S. 21: „the search for truth is a common feature of both systems, and only the method of arriving at the truth is different“; HERRMANN, Hauptverhandlung, S. 158; SADOGHI, ZfRV 2007, S. 235: „Erforschung der materiellen Wahrheit … lediglich auf anderem Weg“, „lediglich auf unterschiedliche Art und Weise“; JÖRG, S. 221, 228: Unterscheidung hinsichtlich der Annahmen „über den besten Weg zu diesem Ziel“ (S. 228); SANDERMANN, S. 61.
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In den instruktorischen Strafverfahren des civil law liegt die Verfahrens- und Beweisführungsherrschaft203 bei dem Richter, der eingestellt in den Amtsermittlungsgrundsatz von Amts wegen zur Sachverhaltsaufklärung verpflichtet ist.204 Das durch einen «one-case»-Ansatz205 gekennzeichnete Straf- und Beweisverfahren wird von dem Richter als „Herr des Verfahrens“206 dominiert,207 in dessen Verantwortungsbereich die Leitung der Hauptverhandlung und die Entscheidung über die vorzulegenden Beweise und den Umfang der Beweiserhebung fallen. Auch die Durchführung der Vernehmungen des Angeklagten und der Zeugen ist zuvörderst in die Hände des Richters gegeben, so dass sich etwa Zeugenvernehmungen als in den Händen des Richters liegende Vernehmungen und – trotz etwaiger, aber eben nur (Ergänzungs)Fragerechte der Parteien – nicht als Vernehmungen durch die Parteien charakterisieren.208 Zudem wird für die Durchführung der Zeugenvernehmungen zumeist die Form des Präsidialverhörs unter Ablehnung der Form des Kreuzverhörs gewählt.209 Mitwirkungsrechte der anklagenden und angeklagten Partei an der in den Händen des Richters liegenden Beweisführung und hier etwa auch an den (Angeklagten- und Zeugen-)Vernehmungen des Richters, wie etwa Beweisantragsrechte, Fragerechte und die Einbringung zusätzlicher Beweismittel, sind zwar nicht ausgeschlossen, was an der das Verfahren und 203
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Zur unterschiedlichen „Rollenverteilung zwischen Gericht und Parteien hinsichtlich der Sachverhaltsaufklärung“ (S. 27) im instruktorischen und adversatorischen Strafverfahren siehe WESSLAU, S. 25 ff. Dazu etwa HOFSTETTER, S. 9 ff.; ESER, Festschrift Tiedemann, S. 1459: „verhandlungsbeherrschende Rolle“ des Richters; TOCHILOVSKY, Legal Systems, S. 633; PERRON, Beweisaufnahme, S. 560. Dazu AMBOS, ICLR 2003, S. 4: „… 'one case approach' …“; siehe auch HERRMANN, Hauptverhandlung, S. 167: „einspuriger“; GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 57, 58, wonach der Richter „eine Sachverhaltshypothese (bildet), die er zu bestätigen oder zu falsifizieren sucht“ (S. 58). BOCK, S. 347. Siehe dazu auch BOCK, S. 347; ESER, Festschrift Tiedemann, S. 1459; AMBOS, ICLR 2003, S. 4: „…“judge led” …“; instruktiv zum behördenzentrierten und hier insbesondere Staatsanwaltschaft-zentrierten eidgenössischen schweizerischen Strafverfahren EICKER, AJP 2003, S. 15 ff.; dazu auch SCHMID, AJP 2002, S. 620 f.: „starke(n) Stellung der Staatsanwaltschaft“ (S. 621). Siehe zur Unterscheidung zwischen Fragerecht und Vernehmungsrecht auch WALTHER, GA 2003, S. 210: „kein autonomes Recht zur Parteivernehmung“; zur Unterscheidung ebenso bereits eingehend ALSBERG, GA 1916/1917, S. 99 ff.: „Fragerecht ist enger als das Recht zur Vernehmung“ (S. 99), „Abgrenzung der Begriffe »Vernehmung« und »Befragung«“ (S. 100); SADOGHI, ZfRV 2007, S. 232: richterliche Vernehmung und „lediglich ein subsidiäres Fragerecht“ der Parteien. Siehe dazu zum schweizerischen Strafverfahren unter Kap. 5 C. I. 2.; SADOGHI, ZfRV 2007, S. 232; zur Ablehnung des Kreuzverhörs für das eidgenössische schweizerische Strafverfahren siehe etwa SCHMID, AJP 2007, S. 701.
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die Beweisführung beherrschenden Rolle des Richters als solcher jedoch nichts ändert.210 Getragen von dem «one-case»-Ansatz des instruktorischen Strafverfahrens entwickelt der Richter aufgrund der Akteninformationen «eine Sachverhaltshypothese»,211 die sodann durch das fortlaufende Beweisverfahren auf deren Bestätigung oder Widerlegung hin untersucht wird,212 wobei die anklagende und die angeklagte Partei durch ihre jeweiligen Sachund Beweisbeiträge zur Bestätigung oder Widerlegung der richterlichen Sachverhaltshypothese beitragen können.213 In den adversatorischen Strafverfahren des common law mit ihrem «twocases»-Ansatz214 liegt die Verfahrens- und Beweisführungsherrschaft bei den Parteien,215 wobei die «Sachverhaltshypothese der anklagenden Partei» und die «Sachverhaltshypothese der angeklagten Partei» von der jeweiligen Partei selbst in getrennten Beweisvorträgen präsentiert werden,216 die Parteien eingestellt in die Dispositionsmaxime über den Prozessstoff verfügen und die 210 211
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Dies ebenso aufzeigend ESER, Festschrift Tiedemann, S. 1459. Dazu auch GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 57 f. unter Aufzeigen zudem des – das adversatorische im Gegensatz zum instruktorischen Strafverfahren prägenden – Vorliegens des case for the prosecution und des case for the defence, S. 90; siehe dazu eingehend auch HERRMANN, Hauptverhandlung, S. 167 ff., wo es zum instruktorischen Strafverfahren heisst, dass die Parteien zwar auf das Verfahren der richterlichen Sachverhaltsfeststellung Einfluss nehmen können, „aber ihre Mitwirkung ist grundsätzlich nicht auf den Entwurf eines selbstständigen Bildes vom Sachverhalt gerichtet, das neben dem vom Vorsitzenden geschaffenen entsteht und möglicherweise in Konkurrenz zu diesem tritt“ (Hervorhebung Demko). Zu dem damit mitangesprochenen Moment des dialektischen, in These und Antithese fortschreitenden Charakters des strafprozessualen Erkenntnisverfahrens siehe näher unter Kap. 2 B. II. 4., 5. Siehe auch GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 58; HERRMANN, Hauptverhandlung, S. 167. Siehe etwa AMBOS, Internationales Strafrecht 2011, S. 337 N 32: „two cases approach“ (Hervorhebung Ambos); AMBOS, ICLR 2003, S. 4; siehe auch HERRMANN, Hauptverhandlung, S. 167 f.: „zweispuriges Verfahren“; ESER, Laienrichter, S. 173 f. Siehe dazu auch GALLIGAN, S. 243 ff.; ESER, Festschrift Tiedemann, S. 1458: „»party driven«“; SADOGHI, ZfRV 2007, S. 232: „sind die Parteien die Hauptakteure“; PERRON, Beweisaufnahme, S. 562 f.; siehe auch HUBER, S. 33 f., 37 f. Dazu auch GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 73 ff.: „widerstreitende Beweispräsentation der Parteien“ (S. 75), Herstellung der Tatsachengrundlage „aufgrund der parteiischen Beweispräsentation (»case for the prosecution« und »case for the defence«)“ (S. 90); MAHLER, S. 23: parteiliche Präsentation „ihre(r) Beweise und ihre(r) darauf beruhende(n) Hypothese“ (S. 23) und Begründung „ihre(r) jeweilige(n) Sachverhaltshypothese, den sog. case“ (S. 24, Hervorhebung Mahler); SADOGHI, ZfRV 2007, S. 232, 235: „präsentieren in zwei getrennten Abschnitten den Fall aus ihrer Sicht“ (S. 232), „zweispurig(e)“ (S. 235) Beweisaufnahme; ESER, Laienrichter, S. 174: „beide Seiten ihre Hypothese vom Tatgeschehen entwickeln“.
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Entscheidung zur Einbringung des Beweisstoffs treffen.217 Anders als im instruktorischen Strafverfahren führt „nicht der Richter Beweis, sondern die Parteien“218 und nicht nur die Beweisbeschaffung, sondern auch die widerstreitende Präsentation der Beweise liegt in den Händen der die Durchführung der Beweisführung beherrschenden Parteien:219 Der «case» der Anklage und der «case» der Verteidigung werden durch die Parteien vor einem Richter, dem die Rolle eines Schiedsrichters und neutralen Beobachters zugeschrieben ist, vorgetragen.220 Dieser «two-case»-Ansatz setzt sich auch (etwa) bei den Zeugenvernehmungen fort, welche in Gestalt des Kreuzverhörs durchgeführt werden und welche sich – über ein blosses (Ergänzungs-)Fragerecht hinausgehend – als in den Händen der Parteien liegende Vernehmungen charakterisieren lassen.221 Der Richter, dem eine beobachtende Schiedsrichterrolle zugewiesen ist, übt hinsichtlich der eigentlichen Durchführung und Gestaltung der Beweisführung Zurückhaltung und übernimmt die Funktion der Überwachung der Einhaltung und Durchsetzung der Verfahrensregeln.222 49
Zusammenfassend lässt sich zu den vorangehenden, das instruktorische und das adversatorische Strafverfahren bezüglich der Verfahrensherrschaft und der Rollenverteilung zwischen Richter und Parteien einander gegenüberstellenden Ausführungen sagen: Auch in dem adversatorischen Strafverfahren mit seinem «two-case»-Ansatz geht es um eine Bestätigung oder Widerlegung der durch die Parteien vorgetragenen Sachverhaltshypothesen,223 nur dass sich die Art und Weise, wie sowie unter wessen Verfahrensherrschaft (der des Richters oder der der Parteien) diese Sachverhaltshypothesen präsentiert werden, von der Präsentation im instruktorischen Strafverfahren unterscheidet. Das instruktorische und adversatorische Strafverfahren sehen in Bezug auf die Art und Weise der Sachverhaltserforschung jeweils einen anderen Wahrheitsermittlungsweg als «den besten» Weg zur Sachverhaltserfor217 218 219
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Siehe auch BOCK, S. 346; ESER, Festschrift Tiedemann, S. 1458. GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 75 f. Siehe auch näher HERRMANN, Hauptverhandlung, S. 167 ff. zur „Wahrheitsermittlung durch Auseinandersetzung“ (S. 167). Siehe etwa BOCK, S. 347, wonach der Richter „die eher passive Rolle des neutralen Beobachters“ einnimmt; GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 76; SADOGHI, ZfRV 2007, S. 234: „die passiven Schiedsrichter“; HOFSTETTER, S. 15, 96: „neutraler Verfahrensleiter“ (S. 96); ESER, Festschrift Jung, S. 176. Zur Verknüpfung von Kreuzverhör und Vernehmungsrecht der Parteien und zu dem Kreuzverhör als „Kampfregel“ (S. 100) bereits ALSBERG, GA 1916/1917, S. 100. GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 76; BOCK, S. 347. Zum dialektischen, durch These und Antithese fortschreitenden Charakter des strafprozessualen Beweisverfahrens siehe unter Kap. 2 B. II. 4., 5.; siehe dazu auch MAHLER, S. 26: Überprüfung und Hinterfragung der Sachverhaltshypothese der jeweils anderen Partei; ESER, Laienrichter, S. 174; LÜDERRSEN, StV 1990, S. 416; TRÜG, ZStW 2008, S. 347.
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schung an.224 Im instruktorischen Strafverfahren wird es als der «beste» Weg zur Wahrheitsermittlung betrachtet, dass ein neutraler und aktiv handelnder Richter die Erforschung des Sachverhalts vornimmt: Der Richter trägt aufgrund der richterlichen Verfahrens- und Beweisführungsherrschaft selbst und sozusagen «in (s)einer Person» die seine (eine) Sachverhaltshypothese bestätigenden und widerlegenden Argumente zusammen, formt im Laufe des Strafverfahrens seine Sachverhaltshypothese immer weiter aus und nimmt dabei auf seinem, eben einem richterlich beherrschten Wahrheitsermittlungsweg auch von der anklagenden und der angeklagten Partei beigebrachte und die verfahrensbeherrschende eine richterliche Sachverhaltshypothese bestätigende und/oder widerlegende Sach- und Beweisbeiträge in sich auf.225 Im adversatorischen Strafverfahren wird hingegen ein von den Parteien beherrschter Wahrheitsermittlungsweg bevorzugt, bei dem sich die anklagende und die angeklagte Partei aufgrund der ihnen zukommenden Verfahrens- und Beweisführungsherrschaft als in einem (Wett-)Kampf,226 einem Wettbewerb,227 einem Streit228 um die Wahrheit sich gegenüber stehende Gegner darstellen. Gerade das von den Parteien beherrschte Präsentieren und das damit einhergehende offene Austragen von zwei sich widerstreitenden Sachverhaltshypothesen229 vor einem unparteiischen Richter, welcher den vor ihm ausgetragenen «Kampf» der Anklage und der Verteidigung um die Wahrheit jeweils ihrer Sachverhaltshypothese und das damit einhergehende «antagonis-
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Zu den mit dem instruktorischen und adversatorischen Strafverfahren verbunden Vorund Nachteilen siehe etwa HOFSTETTER, S. 12 f., 15 f.; siehe auch TRÜG, S. 68; ESER, Festschrift Jung, S. 178 f. Siehe dazu die Schrifttumsangaben in den vorangehenden Fussnoten. Siehe etwa GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 90: „Wettkampf um die Wahrheit“; SADOGHI, ZfRV 2007, S. 232, 234: „Kampf und ein Kräftemessen zwischen den wettstreitenden Parteien“ (S. 232); HERRMANN, Hauptverhandlung, S. 156 f.; ESER, Festschrift Jung, S. 179. Siehe dazu etwa MAHLER, S. 24: „… „disciplined contest between equal adversaries“ …“ (Hervorhebung Mahler). Siehe etwa HOFSTETTER, S. 15: „im Streit der Parteien“; HERRMANN, Hauptverhandlung, S. 168: „… „Wettstreit“ …“ Dazu auch MAHLER, S. 24, 26, wonach die „Aufstellung der eigenen Sachverhaltshypothese … das Grundelement des adversatorischen Verfahrens deutlich“ (S. 24) mache, siehe zur „Konkurrenz zwischen den Sachverhaltshypothesen“ näher auf S. 26; TRÜG, S. 67, wonach „jedes Beweismittel der einen Seite von der anderen Seite angegangen werden kann, demnach einer genauen Prüfung unterzogen wird“; LÜDERRSEN, StV 1990, S. 416: „reale Konkurrenz zwischen der Konzeption des Beschuldigten und der des »prosecutioners«“; ESER, Festschrift Jung, S. 178: „adversatorisches Gegenüber von »Prosecution case« und »Defence case«“, „konfrontative(s) Grundmuster“; TRÜG/KERNER, S. 195 ff.; TRÜG, ZStW 2008, S. 347.
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Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
tische Gefecht der Worte» beobachtet, werden hier als der «beste» Weg zur Wahrheitsermittlung angesehen.230 50
Mit den insbesondere auf der internationalen Ebene des Völkerstrafprozessrechts sich in Entwicklung befindenden gemischten Strafverfahren «sui generis»,231 wie sie sich etwa für das internationale Strafverfahren vor dem ICTY und in einem noch verstärkteren Masse für das internationale Strafverfahren vor dem ICC ausform(t)en, haben sich weitere neue Formen von Wahrheitsermittlungswegen herausgebildet bzw. sind gegenwärtig am Entstehen und Sichvertiefen.232 Auch mit solchen gemischten internationalen Strafverfahren, für welche die Aspekte und Elemente der instruktorischen und adversatorischen Strafverfahren mit Blick auf deren Vor- und Nachteile für die besonderen Anforderungen gerade eines internationalen Strafverfahrens zu überprüfen sind sowie die Frage zu beantworten ist, in welcher Weise sich einzelne der instruktorischen und adversatorischen Verfahrenselemente für ein internationales Strafverfahren sui generis sinnvoll zusammenfügen lassen,233 ist der Anspruch verknüpft, den für ein internationales Strafverfahren «besten» Wahrheitsermittlungsweg zu finden. Dabei geht es auch hier bei den internationalen Strafverfahren um die Suche nach einem solchen Wahrheitsermittlungsweg, mit dem einerseits dem Ziel der anzustrebenden Wahrheit und materiellen Gerechtigkeit «so nah wie möglich» zu kommen ist,234 dies aber zugleich andererseits – ebenso wie in den instruktorischen und adversatorischen Strafverfahren auf nationaler Ebene – nur unter strenger Beachtung der
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Siehe dazu die Schrifttumsangaben in den vorangehenden Fussnoten. Siehe dazu AMBOS, ICLR 2003, S. 6: „a sui generis model“ (Hervorhebung Ambos). Dazu etwa AMBOS, ICLR 2003, S. 5 ff.; ESER, Festschrift Tiedemann, S. 1457: „Mischsystem“; SADOGHI, ZfRV 2007, S. 234, wobei die ad hoc-Gerichte „eher am adversatorischen System orientiert sind …“, während die Verfahrensordnung beim ICC „… dem Mischsystem stärker angepasst“ sei; HOFSTETTER, S. 1, 23 f. Siehe auch die Ausführungen von AMBOS, ICLR 2003, S. 37 zu „a harmonic convergence of both systems“; HOFSTETTER, S. 16 ff. zu der „Konvergierungstendenz“ (S. 16) der gemischten Modelle; siehe dazu auch WILHELMI, S. 9, 39 ff., 56; zudem der Hinweis von LAGODNY, Wirklichkeit, S. 9 zur Verbindung von common law- und civil law-Elementen; BÁRD, S. 54 f.: „Entwicklung in die Richtung einer Verschmelzung von kontinentalen und angelsächsischen Institutionen“ (S. 54). Siehe zum Ziel der Ermittlung der Wahrheit auch etwa Prosecutor v. Furundžija, Decision on Prosecutor`s Motion Requesting Protective Measures for Witnesses ”A” and ”D” at Trial, Case No. IT-95-17/1-T, 11. Juni 1998, para. 9: „… The primary duty of the Trial Chamber is the search for truth. The measures requested will assist in giving witnesses ”A” and ”D” psychological freedom in giving their testimony, thus promoting the search for truth …“ (Hervorhebung Demko).
Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
an den Wahrheitsermittlungsweg selbst angelegten prozeduralen Gerechtigkeitsanforderungen.235 Mit Blick auf die Frage nach dem «besten» Wahrheitsermittlungsweg hat sich in den internationalen Strafverfahren vor dem ICTY und dem ICC, für welche sich weder die Übernahme des reinen adversatorischen noch des reinen instruktorischen Strafverfahrens durchsetzen konnte236 und vielmehr nach einem „Kompromiss“237 zwischen beiden traditionellen Verfahrensordnungen gesucht wurde/wird, insbesondere die Frage nach der Zuweisung und der Aufteilung der Verfahrens- und Beweisführungsherrschaft gestellt. Ist das internationale Strafverfahren vor dem ICTY in seiner «Ausgangsfarbe» durch das adversatorische Strafverfahren geprägt,238 so traten und treten beim ICTY 235
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Siehe zu Regelungen, die – wenn auch einmal mehr, einmal weniger ausdrücklich – das im internationalen Strafverfahren anzustrebende Ziel der Wahrheitsermittlung erkennbar machen etwa ICTY-Regel 90 (F) (i): „… make the interrogation and presentation effective for the ascertainment of the truth …“, ICTY-Regel 85 (B), ICTYRegel 98; zudem Art. 69 Abs. 3 S. 2 ICC-Statut: „… The Court shall have the authority to request the submission of all evidence that it considers necessary for the determination of the truth …“; zu Regelungen, die die im internationalen Strafverfahren zu wahrende Fairness und den Schutz der Rechte des Angeklagten zum Ausdruck bringen, siehe etwa Art. 20 Abs. 1 ICTY-Statut: „The Trial Chambers shall ensure that a trial is fair and expeditious and that proceedings are conducted in accordance with the rules of procedure and evidence, with full respect for the rights of the accused and due regard for the protection of victims and witnesses“, Art. 21 Abs. 2 ICTY-Statut, ICTY-Regel 65 ter (B), 73 bis (D), (E), 89 (B), (D), Art. 64 Abs. 2 ICC-Statut: „The Trial Chamber shall ensure that a trial is fair and expeditious and is conducted with full respect for the rights of the accused and due regard for the protection of victims and witnesses“, Art. 67 Abs. 1 S. 1 ICC-Statut: „In the determination of any charge, the accused shall be entitled to a public hearing, having regard to the provisions of this Statute, to a fair hearing conducted impartially, and to the following minimum guarantees, in full equality …“; siehe aus dem Schrifttum etwa ESER, Festschrift Jung, S. 170, 185 ff. zu den drei Maximen „Wahrheitsermittlung, Fairness und Zügigkeit des Verfahrens“ (S. 170); zu den im Strafverfahren zu wahrenden unterschiedlichen Interessen und Rechten des Angeklagten, der Zeugen und Opfer sowie zu dem allgemeinen Interesse an einem auf einem bestmöglichen Beweisergebnis beruhenden Urteil siehe auch NEMITZ, S. 58; siehe zudem TOCHILOVSKY, Legal Systems, S. 630 f. Dazu auch HOFSTETTER, S. 24; LAGODNY, ZStW 2001, 801: „politisch denkunmöglich, dass sich ein System in reiner Form durchsetzte“; LORENZ, S. 336 f. BOCK, S. 347; siehe auch HOFSTETTER, S. 24; BRUER-SCHÄFER, S. 254. Siehe etwa HOFSTETTER, S. 24 zum ICTY, für dessen Verfahren „dem Grundsatz nach … einfach die Verfahrensmechanismen des „Common Law“ übernommen“ wurden; MAY/WIERDA, ColJTL 1999, S. 735 zum ICTY: „essentially adversarial“; siehe dazu auch FAIRLY, ICLR 2004, S. 268 f. und FN 159: „… adopted an adversarialaccusatorial framework, a decision 'motivated by a desire to protect the rights of the accused' …“ (S. 269 FN 159); TOCHILOVSKY, Legal Systems, S. 628 f.; VAN HEECK,
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und in noch verstärkterem Masse beim ICC in zunehmender Weise Elemente aus dem instruktorischen Strafverfahren hinzu, was schon dem internationalen Strafverfahren vor dem ICTY und in noch grösserem Masse dem internationalen Strafverfahren vor dem ICC ein neues und von den traditionell adversatorischen/instruktorischen Strafverfahren abweichendes Gesicht vermittelt.239 Mit Blick auf die hier interessierende Frage der Verfahrens- und Beweisführungsherrschaft ist es der bereits im Strafverfahren vor dem ICTY sichtbar
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S. 128; NEMITZ, S. 53 f.; siehe aber auch ESER, Festschrift Jung, S. 168, 180 f., wonach die Präferenz für das adversatorische System nicht im ICTY-Statut, sondern allenfalls in den Rules of Procedure and Evidence zu finden sei und mit dem zutreffenden Hinweis, dass selbst bei Annahme eines weitgehend adversatorisch geprägten Verfahrens vor dem ICTY „dieses Verfahren weder vollständig noch unveränderbar vorherbestimmt (ist) durch die Rules of Procedure and Evidence“ (S. 181). Siehe dazu etwa Botschaft Römer Statut, S. 560, wo es im Zusammenhang mit den Beweismitteln heisst: „… Artikel 69 enthält Vorschriften über die Erhebung und die Zulässigkeit von Beweismitteln. Auch in dieser Bestimmung mussten Vorstellungen des angelsächsischen Rechtskreises, dessen Verfahrensrecht sich durch teils ausführliche und formalisierte Beweisvorschriften auszeichnet, und der kontinentalen Strafverfahren, die sich am Grundsatz der freien Beweiswürdigung orientieren, überbrückt werden. Artikel 69 sieht nun die Grundzüge eines Kompromisses vor, der in der Verfahrens- und Beweisordnung weiter spezifiziert wird …“ (Hervorhebung Demko). Neben der zunehmenden Stärkung der verfahrensbeherrschenden Rolle des Richters als Ausdruck des Einflusses der instruktorischen Rechtstradition ist als ein weiteres Beispiel dieses Einflusses des civil law auch die Bezeichnung eines Zeugen nach seiner Vereidigung als «witness of truth» oder «witness of justice» zu nennen, siehe dazu ICTY, Prosecutor v. Kupreškić et al., Decision on Communications between the Parties and their Witnesses, IT-95-16-T, 21. September 1998, S. 3, Consideration (iii): „… a witness, either for the Prosecution or Defence, once he or she has taken the Solemn Declaration pursuant to Rule 90(B) of the Rules of Procedure and Evidence, is a witness of truth before the Tribunal and, inasmuch as he or she is required to contribute to the establishment of the truth, not strictly a witness for either party …“ (Hervorhebung Demko); siehe zur Bezeichnung des Zeugen als «witness of justice» in Procesutor v. Jelisić, Decision on Communication between Parties and Witnesses, IT95-10-T, 11. Dezember 1998, S. 2: „… from the moment they make the solemn declaration at the latest, the witnesses must no longer be considered witnesses of either of the parties to the trial but only as witnesses of justice …“ (Hervorhebung Demko); siehe dazu aus dem Schrifttum etwa ESER, Festschrift Tiedemann, S. 1470 f.; BOCK, S. 347 ff.: zunehmende Ergänzung um Elemente aus dem civil law und vor allem Stärkung der Rolle des Richters (S. 349); AMBOS, Internationales Strafrecht 2011, S. 339 f. N 36, 37: Zunahme der kontinentaleuropäischen Einflüsse und „noch dominanter(e)“ (S. 339 N 37) Rolle der Verhandlungskammer beim ICC im Vergleich zum ICTY; siehe auch AMBOS, International Criminal Procedure, S. 44 ff.; MAIER, Nürnberg, S. 266 f.; VAN HEECK, S. 131; TOCHILOVSKY, Legal Systems, S. 630 ff.; ESER, Festschrift Jung, S. 183, wonach das Verfahren vor dem ICC „noch weitaus weniger adversatorisch geprägt ist, als es in der Praxis des ICTY zu beobachten ist“.
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gewordene und sich vor allem im Strafverfahren vor dem ICC vertiefende Einfluss der instruktorischen Verfahrenstradition, der zu einer zunehmenden Stärkung der verfahrensbeherrschenden Rolle der Richter der Verhandlungskammer führte.240 So sind die Richter in den internationalen Strafverfahren anders als im klassischen adversatorischen Strafverfahren nicht mehr auf eine rein passive beobachtende Rolle beschränkt, sondern können und sollen eine „aktive und kontrollierende“241 und insbesondere im Strafverfahren vor dem ICC sichtbar werdende verfahrensleitende und -beherrschende Rolle einnehmen.242 Ist dies ein bedeutender Einfluss der instruktorischen Rechtstradition, so kommt aber auch den Parteien bei der Beweisaufnahme und der Präsentation der Beweise eine wichtige und aktive sowie die eigentliche Durchführung der Beweisaufnahme massgeblich prägende und bestimmende Rolle zu,243 was den ebenso bedeutenden Einfluss der adversatorischen Rechtstradition auf die internationalen Strafverfahren verdeutlicht. Diese Einflussnahme der adversatorischen Rechtstradition zeigt sich dabei auch etwa in der – für das Strafverfahren vor dem ICTY ausdrücklich vorgesehenen,244 aber auch im 240
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Dazu auch AMBOS, Internationales Strafrecht 2011, S. 339 f. N 36, 37; BOCK, S. 347 ff.; HOFSTETTER, S. 110. BOCK, S. 349. Zu der im internationalen Strafverfahren vor dem ICTY als Befugnis («may») ausgeformten Möglichkeit des Richters, auf den Ablauf des Beweisverfahrens und die zusätzliche Beweiserhebung Einfluss zu nehmen, siehe etwa die ICTY-Regeln 85 (A), (B), 90 (H) (iii) und 98; siehe zur verstärkten Rolle der Verhandlungskammer im internationalen Strafverfahren vor dem ICC etwa die Regelungen in Art. 64 Abs. 6 (a), (b), (d), (f) und Art. 69 Abs. 3 S. 2 ICC-Statut, wonach die Kammer für die Verfahrensdurchführung zuständig («be responsible») ist (Art. 64 Abs. 6 (a) i.V.m. Art. 61 Abs. 11 ICC-Statut) und in Ermächtigung zur Wahrheitsermittlung die Beibringung aller für die Wahrheitsermittlung erforderlichen Beweise verlangen kann, siehe dazu Art. 69 Abs. 3 S. 2 ICC-Statut: „The Court shall have the authority to request the submission of all evidence that it considers necessary for the determination of the truth“ sowie ebenso Art. 64 Abs. 6 (b) und (d); siehe auch BOCK, S. 348 f. zur Möglichkeit der Kammer, „eine starke, das Verfahren beherrschende Stellung einzunehmen“ (S. 348) und zur eindeutigen „Grundentscheidung“ (S. 348) des ICC-Statuts bezüglich der „aktive(n) und kontrollierende(n) Rolle im Verfahren“ (S. 349); AMBOS, Internationales Strafrecht 2011, S. 339 f. N 36, 37; zum Einfluss des civil law auch BANTEKAS, S. 475 ff.; ESER, Festschrift Tiedemann, S. 1466 zu dem „Recht“ und den „eingeräumten Chancen“ im Verfahren vor dem ICTY und der mit Bezug auf die Wahrheitsermittlung deutlicheren In-die-Pflichtnahme der Verfahrenskammer. Siehe dazu etwa ICTY-Regel 85 (A) und (B), Art. 69 Abs. 3 S. 1 ICC-Statut; siehe auch BOCK, S. 347 f. zu der den Parteien zuerkannten „zentrale(n) und aktive(n) Rolle bei der Beweisaufnahme“ (S. 347). Siehe dazu ICTY-Regel 85 (A) und (B); zur möglichen Abweichung von diesem grundsätzlich vorgesehenen Verfahrensablauf «in the interests of justice» siehe ICTYRegel 85 (A).
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Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
Strafverfahren vor dem ICC „implizit“245 anerkannten – Möglichkeit der Zeugenvernehmungen in Form des von den Parteien durchgeführten Kreuzverhörs.246 52
Gerade die Verbindung einer richterlichen Verfahrensherrschaft und einer damit einhergehenden, beim Gericht liegenden „Letztverantwortung für die Wahrheitserforschung“247 einerseits mit einer die Durchführung der Beweiserhebung betreffenden, zunächst in den Händen der Parteien liegenden Präsentation der Beweise – wozu auch die zunächst von den Parteien durchgeführten Zeugenvernehmungen in Form des Kreuzverhörs gehören – andererseits, wie sie sich als ein möglicher neuer Wahrheitsermittlungsweg im internationalen Strafverfahren abzeichnet, zeigt, dass und wie sich Elemente, die typischerweise mit entweder der instruktorischen oder der adversatorischen Rechtstradition verbunden werden,248 durchaus in eine sinnvolle Verknüpfung miteinander bringen lassen:249 Eine Verknüpfung, die nicht in einem einseitigen Denken des «Entweder-Oder» nur dem Richter oder nur den Parteien massgeblichen Einfluss auf das Straf- und Beweisverfahren zuweist, sondern 245
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AMBOS, Internationales Strafrecht 2011, S. 340 N 37; ebenso HOFSTETTER, S. 110: „legt die Vermutung des Kreuzverhörssystems aber sehr nahe“; siehe dazu auch GALLANT, TIL 2000, S. 37 f.; siehe dazu ICC-Regel 140 Abs. 2 (a), (b), (c), wonach der Richter nur das Recht hat, den Zeugen vor oder nach der Befragung der Parteien zu befragen: „…The Trial Chamber has the right to question a witness before or after a witness is questioned by a participant referred to in sub-rules 2 (a) or (b) …“ (ICCRegel 140 Abs. 2 (c)). Siehe zur Zeugenbefragung und zu dem Konfrontationsrecht des Angeklagten im internationalen Strafverfahren vor dem ICTY näher unter Kap. 5 C. ESER, Festschrift Tiedemann, S. 1470 (Hervorhebung Demko). Kritisch dazu auch ESER, Festschrift Tiedemann, S. 1467, 1469; siehe zudem SADOGHI, ZfRV 2007, S. 237, wonach die Suche nach der materiellen Wahrheit und die gerichtliche Amtsermittlungspflicht „nicht in Widerspruch“ zum Kreuzverhör stehen. Siehe dazu für das internationale Strafverfahren die instruktiven Ausführungen von ESER, Festschrift Tiedemann, S. 1467 ff. zu einer „»(a)kkusatorisch-instruktorische(n)« Gewaltenteilung“ (S. 1467; Hervorhebung Eser) und einer „»(k)ontradiktorisch-instruktorische(n)« Wahrheitserforschung“ (S. 1469, Hervorhebung Eser), in denen in zutreffender Weise Leitlinien mit Blick auf „eine Verfahrensoptimierung aus Elementen beider Modelle“ (S. 1467) herausgearbeitet werden; siehe zudem die ausführlichen und instruktiven Ausführungen zu Reformvorschlägen für das Strafund Beweisverfahren von HERRMANN, Hauptverhandlung, S. 358 ff.; zudem SADOGHI, ZfRV 2007, S. 235 f. zur Verknüpfung der Elemente, dass die Erforschung der materiellen Wahrheit beim Gericht verbleibt und die Zeugenvernehmung primär den Parteien obliegt, und zu dem Vorschlag eines „limitiert inquisitorisch-adversatorische(n) Verfahren(s)“ (S. 237, hier kursive, im Original fettgedruckte Hervorhebung Sadoghi), das die „Grundsätze(n) der materiellen Wahrheit sowie der amtswegigen Wahrheitserforschung …“ als inquisitorische Elemente mit dem „… Wechselverhör als adversielle Vernehmungsmethode“ (S. 237) verbindet.
Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
das Rollenverhältnis zwischen diesen neu austariert und dabei als Vorteil und Vorzug bewertete Elemente des instruktorischen und adversatorischen Strafverfahrens zusammenführt. In diesem Sinne wird mit der Zuweisung der Verfahrensherrschaft und Letztverantwortung für die Wahrheitsermittlung an das Gericht das wichtige und grundlegende Erfordernis gesichert, dass es sich hier tatsächlich um eine „überparteiliche(n)“250 Wahrheitsermittlung handelt. Mit dem die Durchführungsebene betreffenden Moment der Präsentation der (Zeugen-)Beweise zunächst durch die Parteien ist hingegen zugleich gesichert, dass auch der kontradiktorische251 Charakter eines strafverfahrensrechtlichen Erkenntnisverfahrens offener zu Tage tritt252 und dass die Parteien nicht mehr nur als «Ergänzung» der einen richterlichen Sachverhaltshypothese angesehen werden: In «einer Art von Aufwertung» können die Parteien ihren jeweils eigenen Sachverhaltshypothesen – im wahrsten Sinne des Wortes – gleichwertige Stimmen verleihen,253 welche sodann Eingang in die richterliche Sachverhaltshypothese finden und vom letztendlich die Beweiswürdigung vornehmenden und urteilenden Gericht zu einer Synthese zusammengeführt werden.254 Es sind also die – hier als Schwerpunkt herausgegriffenen – Unterschiedlichkeiten bezüglich der Verfahrensherrschaft, der Rollenzuweisung und Rollenverteilung zwischen den Parteien sowie bezüglich der jeweils eigenen Art und Weise des Ablaufs und der Gestaltung des Straf- und Beweisverfahrens, welche die instruktorischen, adversatorischen und gemischten Strafverfahren auf ihrem Weg zur angestrebten Wahrheit voneinander unterscheiden, wobei diese Verschiedenheiten hinsichtlich des «Wie» des Wahrheitsermittlungswe250
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ESER, Festschrift Tiedemann, S. 1471 (Hervorhebung Demko), wonach der „überparteilichen Wahrheitssuche der Vorrang“ gegenüber der „adversatorische(n) Parteienrivalität“ einzuräumen ist, siehe zudem die Ausführungen auf S. 1468 ff.; LÜDERSSEN, Overview, S. 19 ff. Siehe auch ESER, Festschrift Tiedemann, S. 1470 zur „kontradiktorische(n) Beweispräsentation durch die Parteien“; ESER, Festschrift Jung, S. 185 f. Siehe zur Frage des (mehr oder weniger) offenen Zu-Tage-Tretens der kämpferischen Elemente in einem Strafverfahren HERRMANN, Hauptverhandlung, S. 168 f. Siehe auch ESER, Festschrift Jung, S. 186 zur Frage eines Wechsels in der Terminologie, nach der für ein besseres Verständnis der Prozessstruktur der internationalen Verfahren weniger die Bezeichnung «adversatorisch» als vielmehr die Bezeichnung «kontradiktorisch» verwendet werden könnte, um nicht einem Charakter der „Feindlichkeit“, sondern vielmehr der Art und Weise einer Wahrheitsermittlung „durch Widersprechen“ Ausdruck zu verleihen: „Verständnis der Akteure eines Strafverfahrens als Partner eines – wenngleich kontroversen – Dialogs“; SADOGHI, ZfRV 2007, S. 235 zur Aufwertung der Parteielemente. Zu dem damit angesprochenen dialektischen Charakter des Erkenntnisverfahrens und dem Zusammenspiel von These, Antithese und Synthese siehe näher unter Kap. 2 B. II.
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ges aber nichts daran ändern, «dass» sich alle diese unterschiedlichen Strafverfahrens«formen» als wahrheitsgerichtete Erkenntnisverfahren ausweisen. 4.
Zusammenfassung
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Die Einordnung des Strafverfahrens und speziell des strafprozessualen Beweisverfahrens in den Kontext der Erkenntnistheorie und der verschiedenen philosophischen Wahrheitstheorien hat die Zuordnung der drei Erkenntniselemente – in Gestalt des Zu-Erkennenden, der Erkenntnis und der Erkenntnisrelation – zu den ein Strafverfahren kennzeichnenden Momenten in Form des strafrechtlichen Sachverhaltes, der (verurteilenden oder freisprechenden) strafrechtlichen Entscheidung und des Strafverfahrens an sich sichtbar gemacht. Das Erfordernis des Zusammenführens der materiellen und prozeduralen Gerechtigkeitskomponente für ein insgesamt strafgerechtes Strafverfahren zeitigt konkrete Bedeutungen auch für den zu einem jeden Strafverfahren gehörenden Abschnitt der Tatsachenfeststellung im strafprozessualen Beweisverfahren und hier für den strafverfahrensrechtlichen Wahrheitsbegriff. Dies in der Weise, dass weder die Korrespondenztheorie allein noch die Kohärenz- und Konsensustheorien allein zur Erfassung der Elemente von Ziel und Weg des strafverfahrensrechtlichen Wahrheitsbegriffs ausreichend sind. Notwendig für ein umfassendes Verständnis des (auch strafverfahrensrechtlichen) Wahrheitsbegriffs ist eine Verbindung von «Wahrheitsdefinition und Wahrheitskriterium», womit auf die erforderliche Verknüpfung zwischen der vom Strafverfahren als Ziel anzustrebenden Wahrheit selbst und dem Wahrheitsermittlungsweg verwiesen ist. Zu beachten gilt es danach, dass die der materiellen Gerechtigkeitskomponente zuzuordnende Korrespondenztheorie, welche die als Ziel des Verfahrens zu erreichende Wahrheit angibt, und die der prozeduralen Gerechtigkeitskomponente zuzuordnenden Kohärenz- und Konsensustheorien, welche die Kriterien für den Wahrheitsermittlungsweg ausformen, für ein Strafverfahren als ein wahrheitsgerichtetes Erkenntnisverfahren stets zusammenzudenken und entsprechend zusammenzuführen sind.
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Trotz des missverständlichen Begriffspaars der materiellen und formellen Wahrheit und trotz des zwischen den instruktorischen und den adversatorischen Strafverfahren bestehenden Unterschiedes in Bezug auf die besondere Hervorhebung von bestimmten einzelnen erkenntnistheoretischen Elementen und von damit einhergehenden Wahrheitstheorien hat sich bei genauerer Untersuchung gezeigt, dass sich sowohl die instruktorischen Strafverfahren mit dem ihnen zugeordneten materiellen Wahrheitsbegriff als auch die adversatorischen Strafverfahren mit dem ihnen zugeordneten formellen Wahrheitsbegriff sowie zudem die «gemischten» Strafverfahren auf internationaler Ebene jeweils als ein alle drei Erkenntniselemente in sich aufnehmendes wahrheits60
Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
gerichtetes Erkenntnisverfahren ausweisen. In den instruktorischen, den adversatorischen sowie den «gemischten» internationalen Strafverfahrensordnungen ist es die Korrespondenz-Übereinstimmung zwischen ZuErkennendem und Erkenntnis, der als vom Strafverfahren anzustrebendes Ziel «so nah wie möglich» zu kommen ist, wobei diese – mit der KorrespondenzÜbereinstimmung angesprochene und definierte – anzustrebende Wahrheit in einem von Menschen, von (Prozess-)Subjekten durchgeführten und gestalteten strafverfahrensrechtlichen Erkenntnisverfahren und hier unter strenger Beachtung der prozeduralen Gerechtigkeitselemente einschliesslich des Schutzes der Menschenrechte «im» Strafverfahren zu verwirklichen ist. Gemeinsam ist den instruktorischen, adversatorischen und «gemischten» internationalen Strafverfahren zum einen ihr Streben, dem in der Korrespondenz-Übereinstimmung bestehenden Ziel der Wahrheit «so nah wie möglich» zu kommen, und zum anderen, «dass» zur Erreichung dieses Ziels ein von (Prozess-)Subjekten durchgeführtes und die Anforderungen der prozeduralen Gerechtigkeit und des Menschenrechtsschutzes «im» Strafverfahren wahrendes strafverfahrensrechtliches Erkenntnisverfahren als Wahrheitsermittlungsweg zu beschreiten ist («Dass»-Ebene). Der Unterschied zwischen den instruktorischen, adversatorischen und «gemischten» internationalen Strafverfahren bezieht sich auf die Frage des «Wie» des Wahrheitsermittlungsweges und hier auf die Beurteilung, welche «Art und Weise» der Durchführung eines Strafverfahrens als der «beste» Weg zur Wahrheitsermittlung angesehen wird («Wie»-Ebene). Diese Verschiedenheit betreff der Beurteilung des «besten» Weges zur Wahrheitsermittlung («Wie»-Ebene) ändert aber nichts daran, «dass» sich die instruktorischen, adversatorischen und «gemischten» internationalen Strafverfahren jeweils als wahrheitsgerichtete Erkenntnisverfahren unter Zusammenführung der materiellen und prozeduralen Gerechtigkeitskomponenten ausformen.
II.
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Ausgewählte Elemente und Kennzeichen des strafverfahrensrechtlichen Erkenntnisverfahrens als Wahrheitsermittlungsweg
Konnte das Strafverfahren – trotz Unterschieden zwischen den verschiedenen Strafverfahrens«formen» in Bezug auf die Art und Weise des Wahrheitsermittlungsweges – als ein wahrheitsgerichtetes Erkenntnisverfahren ausgewiesen werden, welches den Anspruch auf Ermittlung der Wahrheit und Gewährleistung der materiellen Gerechtigkeit unter zugleich zu beachtender Gewährleistung der aus der prozeduralen Gerechtigkeit fliessenden Anforderungen an das Strafverfahren erhebt, so gilt es im Folgenden, das Straf- und Beweisverfahren gerade als ein Erkenntnisverfahren, das das Verbindungsstück zwi61
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schen Zu-Erkennendem und Erkenntnis bildet, noch einmal selbst genauer in den Blick zu nehmen und hierbei Charakteristika und Wesenszüge herauszuarbeiten, die sich auch für das Verständnis der Fairness des Straf- und Beweisverfahrens und des in einem fairen Straf- und Beweisverfahren zu gewährenden «Menschenrechts auf Verteidigung» als bedeutend erweisen. Soll an dieser Stelle auch keine umfassende Aufarbeitung einer «Theorie des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens»255 – wie sie von Rödig entwickelt ist – und einer «Theorie strafprozessualer Sachverhaltsfeststellung»256 – wie sie von Schulz entworfen ist – erfolgen, so sind doch solche ausgewählten Wesenselemente und Grundzüge des strafverfahrensrechtlichen Erkenntnisverfahrens herauszuheben, die es in ihrer Relevanz für ein faires, dem Angeklagten eine wirksame Verteidigung ermöglichendes Strafverfahren aufzuzeigen gilt. 1.
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Das Strafverfahren als ein dynamisches, finales und gesteuertes Erkenntnisverfahren
Das Strafverfahren ist ein menschliches Erkenntnisverfahren, genauer ein solches, an dem mehrere Menschen in jeweils verschiedenen «Handlungs»rollen beteiligt sind und in dem jene Menschen nicht nebeneinander und unabhängig voneinander, sondern vielmehr in einer Bezugnahme aufeinander das strafverfahrensrechtliche Erkenntnisverfahren als einen «Handlungsvorgang» mit fort- bzw. voranschreitendem Charakter gestalten. Dem strafverfahrensrechtlichen Erkenntnisverfahren ist ein dynamischer Charakter eigen. Zum einen ist es ein Geschehen zwischen einem Anfang und einem Ende als zwei realen Zeitpunkten der Seins-Wirklichkeit und es gestaltet sich damit zeitlich-dynamisch. Zum anderen ist das Strafverfahren sachlich-dynamisch in dem Sinne, dass diesem wie einem jeden «Prozess» das Moment des Werdens, der Bewegung, der Veränderung, eben des (Vorwärts-)Gehens eigen ist und dieses dadurch zugleich mit dem damit einhergehenden Moment des Unsteten und Unfertigen,257 d.h. mit einem „Entwicklungscharakter“258 ver255
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Siehe die Abhandlung von RÖDIG mit dem Titel: «Die Theorie des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens. Die Grundlinien des zivil-, straf- und verwaltungsgerichtlichen Prozesses». Siehe die Abhandlung von SCHULZ, Sachverhaltsfeststellung mit dem Titel: «Sachverhaltsfeststellung und Beweistheorie, Elemente einer Theorie strafprozessualer Sachverhaltsfeststellung». Siehe zu diesem dynamischen Charakter des Strafverfahrens näher SCHULZ, Sachverhaltsfeststellung, S. 1 ff.; RÖDIG, S. 15 ff., 106; GOLDSCHMIDT, S. 265. RÖDIG, S. 15; siehe auch POSER, S. 247 f. zur „Dialektik und Bewegung“ (S. 247, Hervorhebung Poser); HEISS, S. 119, wonach Sprache auch Sprechen sei und der Ge-
Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
bunden ist:259 Von einem bestimmten Erkenntniszustand als Ausgangspunkt der Erkenntnis, mithin von einer als Beginn gesetzten Ausgangserkenntnis wird in bestimmten Ablaufschritten bzw. (Erkenntnis-)Phasen zu einem anderen Erkenntniszustand vorgerückt und von diesem wiederum zu weiteren Erkenntniszuständen, bis man nach Durchlaufen dieser zumeist mehreren Erkenntniszustände als Zwischenerkenntnisse260 zu einem solchen Erkenntniszustand bzw. einem solchen Erkenntnisergebnis gelangt, dem die Qualität, Enderkenntnis zu sein, zugeschrieben wird.261 Das Strafverfahren begnügt sich jedoch nicht mit einer solchen Bewegung an sich, d.h. macht Bewegung und Dynamik nicht zum Selbstzweck, sondern stellt sich vielmehr als eine zielgerichtete Bewegung dar, 262 indem es ein durch Finalität geprägter Handlungsvorgang ist. Überhaupt erst in Gang gesetzt durch das an das Strafverfahren angelegte Ziel, die Wahrheit über einen durch das materielle Strafrecht vorgeprägten Sachverhalt der Seinswirklichkeit erkennen zu wollen,263 wird mit dem strafprozessualen Beweisverfahren ein gesteuertes Handlungsvorgehen eingeleitet und sodann durchgeführt, welches bestrebt ist, der tatsächlichen Erreichung dieses Ziels unter gleichzeitiger Beachtung der prozeduralen Gerechtigkeitsanforderungen an das Strafverfahren so nah wie möglich zu kommen.264 «Zu steuern» im Sinne
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danke sich im Denken vollziehe: „Sprache und Gedanken als Sprechen und Denken (sind) Bewegungen“ (Hervorhebung Demko). Siehe SCHULZ, Sachverhaltsfeststellung, S. 1 zur zeitlichen und sachlichen Dynamik von gerichtlichen Erkenntnisverfahren; THEILE, S. 90. Siehe auch PIETH, Beweisantrag, S. 288 zu den auf dem Weg zur endgültigen Entscheidung „von Anfang an und fortan laufend“ (S. 288) gezogenen „Zwischensaldo(s)“ (S. 288), siehe dazu auch die Ausführungen zur „… “Chrono-Logie“ des Beweisens …“ (S. 7) auf den S. 7 ff.; THEILE, S. 90. RÖDIG, S. 16 ff. zu den einzelnen Phasen des Prozesses. Siehe auch RÖDIG, S. 3, 7, 19, 21, 106: „Der Prozeβ wird zum Zweck der maβgeblichen Bestätigung oder Widerlegung einer bestimmten Behauptung geführt“ (S. 3, Hervorhebung Demko), „Bestätigung oder Widerlegung der in Anklage oder Klage liegenden Behauptung“ (S. 7) als „Ziel“ (S. 7, Hervorhebung Demko) des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens; zur formalen Struktur des Beweises näher SCHULZ, Sachverhaltsfeststellung, S. 7 ff. Siehe auch DEDES, S. 11 zum „Ziel“ des Beweisverfahrens, „einen Sachverhalt zu klären. Die Sachverhaltsfeststellung bildet also den Zweck des Beweises“ (Hervorhebung Demko); MEYER, Dialektik, S. 81: Erkenntnis von Wahrheit und Gerechtigkeit als „Ziel des kognitiven Vorgangs im Strafverfahren“; siehe auch bereits MITTERMAIER, Archiv des Criminalrechts 1842, S. 106. Zur Verbindung von Beweisverfahren und „regelorientierte(r) Steuerungsfunktion“ (S. 9 FN 8) im Rahmen des interaktionistischen Beweisverfahrens siehe SCHULZ, Sachverhaltsfeststellung, S. 9; RÖDIG, S. 6 f., 31: „ein Ziel nicht blindlings zu verfolgen, sondern in geordneten Schritten“ (S. 6 f.), „durch das Befolgen eines Inbegriffs
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eines Treffens bewusster Entscheidungen ist mithin nicht nur, auf welche Weise das Ziel der Wahrheitsermittlung und der Gewährleistung der materiellen Gerechtigkeit am besten zu erreichen bzw. diesem zumindest so nah wie möglich zu kommen ist, sondern auch, welchen Aspekten auf dem Weg zur Zielerreichung ihrerseits in welcher Weise Beachtung zu schenken ist, womit die Beachtung der prozeduralen Gerechtigkeitsanforderungen und des Schutzes von Menschenrechten im Strafverfahren angesprochen ist. 2.
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Die Verbindung und Inbezugnahme von objektivem und subjektivem Moment des strafverfahrensrechtlichen Erkenntnisverfahrens
Mit der Finalität des Strafverfahrens einerseits, deren Umsetzung in einem menschlichen Erkenntnisprozess anderseits treffen nun ein Moment des Objektiven mit einem Moment des Subjektiven in einem Erkenntnisprozess zusammen: Geht es um den finalen Wesenszug des Strafverfahrens, der das Strafverfahren auf das – hier im Mittelpunkt der Untersuchung stehende – Ermitteln der Wahrheit ausrichtet und hierbei das Erreichen der «absoluten» bzw. objektiven Wahrheit im Sinne einer vollkommenen KorrespondenzÜbereinstimmung von Seins-Wirklichkeit und Erkenntnis über die SeinsWirklichkeit anstrebt, so wäre ein sicheres im Sinne von garantiertes Finden dieser objektiven Wahrheit265 an sich «am besten» gewährt,266 wenn dieses nicht erst durch das Subjektive des Erkenntnisverfahrens und der Erkenntnis (in Gestalt der Erkenntnissubjekte) erkannt und «gefiltert» werden müsste. Eine solchermassen objektive Wahrheit läge vor, wenn mit dem Geschehen der Seins-Wirklichkeit immer auch zugleich und automatisch die spiegelbildlich exakt übereinstimmende und durchweg unverfälschte Erkenntnis über
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von Regeln dafür, wie verfahren werden soll“ (S. 7, Hervorhebung Rödig); THEILE, S. 89. Siehe auch PIETH, Beweisantrag, S. 288 zu der dem Entscheid als Endpunkt des Verfahrens vorausgehenden Beweisaufnahme als einer „Phase der Offenheit, in der alles zur Sprache kommen muss, was ansteht (bzw. “sich aufdrängt“)“ (Hervorhebung Demko), siehe S. 274 f. zu materieller Wahrheit, Objektivität und „Rationalitätsanspruch“ (S. 275); zur Rationalität des Strafverfahrens siehe auch HASSEMER, Grundlagen, S. 146 f.; SCHILD, Strafrichter, S. 103: „auf der einen Seite soll das Strafverfahren rational, sachlich sein …“ (Hervorhebung Demko); TRÜG/KERNER, S. 192 ff. zum (materiellen) Wahrheits- und Gerechtigkeitsbegriff im deutschen Strafverfahren: „objektive Wahrheitsfindung“ (S. 192, Hervorhebung Demko); zu Rationalitätskriterien siehe auch GOTTWALD, ZZP 1985, S. 119 f., 127 f. Siehe auch PIETH, Beweisantrag, S. 31, 276 ff. zur ernsthaften Gefahr für die Wahrheitsfindung durch die „Subjektivität“ (S. 31, Hervorhebung Demko) der Beweisaufnahme und zur Subjektivität und Intersubjektivität auf S. 276 ff.
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diese Seins-Wirklichkeit schlicht (mit-)gegeben wäre,267 ohne dass es erst eines «dazwischen geschalteten» menschlichen Erkenntnisverfahrens und einer menschlichen Erkenntnis bedürfte.268 Diesen an der Wirklichkeit eines Erkenntnisverfahrens selbstverständlich vorbeigehenden Wunschgedanken auf das Strafverfahren zu beziehen, würde bedeuten, dass es ein solches Strafverfahren nicht bräuchte, da das Gericht das gesuchte Geschehen der Sein-Wirklichkeit bereits «schlicht und automatisch kennt» und noch dazu vollumfänglich korrekt und spiegelbildlich exakt kennt, ohne erst nach diesem in einem (Straf-)Verfahren ermitteln zu müssen.269 Bei dem Entwurf eines solchen wirklichkeitsfremden Wunschgedankens würde selbstverständlich übersehen, dass die objektive Seins-Wirklichkeit bei dem Ziel, diese erkennen zu wollen, nun einmal «durch das Subjektive der Erkenntnissubjekte hindurch muss», denn eine Erkenntnis und ein zu dieser hinführendes Erkenntnisverfahren tragen per se einen gerade durch das Subjektive gekennzeichneten Charakterzug und die objektive Seins-Wirklichkeit lässt sich nur durch Erkenntnissubjekte erkennen:270 Eine Erkenntnis und ein zu dieser hinführendes Erkenntnisverfahren sind nur mit und durch, nicht jedoch ohne Erkenntnissubjekte(n) denkbar. 267
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Dazu auch NIJBOER, Beweisprobleme, S. 32: „die 'ganze Wahrheit', aufgefaβt als ungefärbtes Bild der (historischen) Wirklichkeit“ (Hervorhebung Nijboer: «'ganze Wahrheit'», übrige Hervorhebung: Demko); KRAUSS, Prinzip der materiellen Wahrheit, S. 411: „einer im Prinzip als unbegrenzt gedachten, an sich möglichen und erstrebenswerten Erforschung „objektiver“ Wahrheit“ (Hervorhebung Demko); KAUFMANN, Festgabe Opałek, S. 188 f.: „… zu objektiv wahren, subjektfreien … Erkenntnissen gelangen zu können …“ (S. 188), „dieses Objektive, das der Rechtserkenntnis vorgegeben und von ihr unverfälscht zu erfassen ist“ (S. 189, Hervorhebung Demko). Siehe auch PIETH, Beweisantrag, S. 18, 31 zur „Sicherung vor allzu starkem “persönlichem Einschlag“ …“ (S. 18) und dazu, dass der „Entscheid über den massgeblichen Sachverhalt … trotz Objektivierungstendenzen von Subjektivität getragen“ (S. 31, Hervorhebung Demko) ist; siehe TRÜG/KERNER, S. 192 ff. zum (materiellen) Wahrheits- und Gerechtigkeitsbegriff im deutschen Strafverfahren als „a priori, also verfahrensunabhängig“ (S. 194, Hervorhebung Trüg/Kerner): „objektive Wahrheitsfindung“ (S. 192, Hervorhebung Demko); dazu auch TRÜG, ZStW 2008, S. 335. Siehe dazu auch KAUFMANN, Festgabe Opałek, S. 188 f.: „… das es in seiner Gegebenheit zu belassen, auf das es nur hinzuhorchen hatte … das Objekt als das Maβgebende, das Subjekt als das Maβempfangende …“ (S. 189). RÖDIG, S. 32, wonach das gerichtliche Erkenntnisverfahren eine „geordnete Menge von auf den Beweis des Erkenntnisses gerichteten Verhaltensweisen der an dem Prozeβ beteiligten Personen, mithin eine besondere Art finalen Gesamtverhaltens“ (S. 32, Hervorhebung Demko) darstellt; PIETH, Beweisantrag, S. 280 zum Schuldspruch als Ergebnis eines „gemeinsamen Zuschreibungsvorganges“ (Hervorhebung Pieth); KAUFMANN, Festgabe Opałek, S. 189, wonach es „(I)nzwischen … ein Allgemeinplatz (ist), daβ Erkenntnis nicht einfach eine Abbildung des Objekts im Bewuβtsein ist …“
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An das dem Ziel der Wahrheitsermittlung verpflichtete Strafverfahren richtet sich der normative Anspruch auf Objektivität des Erkenntnisverfahrens,271 nach dem es ein Objektivität wahrendes, un- und überparteiisches, nichts verschweigendes und nichts verfälschendes Erkenntnisverfahren sein soll. Hinsichtlich der Umsetzung dieses von einem Strafverfahren zu erfüllenden Anspruchs auf Objektivität trifft dieses auf die Ist-Tatsache,272 dass das strafverfahrensrechtliche Erkenntnisverfahren nun einmal ein von Menschen geführtes und damit «subjektives» im Sinne von subjektbezogenes und subjektabhängiges Erkenntnisverfahren ist273 und die normativ beanspruchte Objektivität des Strafverfahrens infolgedessen vermittelt durch die Erkenntnissubjekte zu gewährleisten ist. Subjektbezogen ist ein Strafverfahren zum einen deshalb, weil eine Erkenntnis über die Seins-Wirklichkeit nicht einfach von einer «objektiven Instanz» gefunden wird, sondern vielmehr in einem eben von Menschen durchgeführten Erkenntnisverfahren erst zu ermitteln ist. Subjektbezogen ist ein Strafverfahren zum anderen deshalb, weil es in diesem Erkenntnisverfahren selbst Werte und Rechte von Menschen zu beachten und zu schützen gilt. Nicht zuletzt ist ein Strafverfahren auch deshalb subjektbezogen, weil die nach Erkenntnis über einen Seins-Wirklichkeitsausschnitt (hier in Gestalt des in der Vergangenheit liegenden strafrechtlichen Sachverhaltsgeschehens) strebenden Menschen nicht unmittelbar und unvermittelt an diesen Seins-Wirklichkeitsausschnitt selbst ansetzen können: Da das gesuchte strafrechtliche Sachverhaltsgeschehen in der Vergangenheit liegt und damit einer Wirklichkeit zugehört, die im Zeitpunkt des Erkennenwollens nicht 271
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Siehe auch RZEPKA, S. 236 zum „Bild des „gerechten“ Richters, der durch die Integrität seiner Person Objektivität im Verfahren und im Urteilsspruch verbürgt“ (Hervorhebung Rzepka: «im», übrige Hervorhebung: Demko); siehe auch KUNZ, ZStW 2009, S. 573 f.; BRUSIIN, S. 24, 26, 27: „Objektivitätsprinzip“ (S. 27), das der „normativen Betrachtungsweise“ (S. 27) angehört. Siehe auch KAUFMANN, Festgabe Opałek, S. 188 f. dazu, dass „Subjekt und Objekt in der Erkenntnis nicht feinsäuberlich zu trennen sind“ (S. 189). Siehe zum objektiven und subjektiven Wahrheitsbegriff näher SCHULZ, Sachverhaltsfeststellung, S. 174 f., 185, wonach bei dem subjektiven Wahrheitsbegriff der „Nachweis der Wahrheit an die erkennende Person gebunden“ (S. 174, Hervorhebung Schulz) ist und im Rahmen des individualistischen Wahrheitsbegriffs die „Konstitution des Wahrheitsbegriffs aus der Warte des als Individuum gedachten erkennenden Subjekts“ (S. 185, Hervorhebung Schulz) Kernpunkt ist; PIETH, Beweisantrag, S. 19 dazu, dass „Beweiserhebung und -würdigung wesentlich von psychischen, subjektiven und auch irrationalen Vorgängen getragen werden“; GRÖSCHNER, JZ 1985, S. 174; SCHILD, Strafrichter, S. 105: „totale Verrechtlichung ist nicht möglich, da immer Menschen miteinander zu tun haben“ (Hervorhebung Demko); KAUFMANN, Festgabe Opałek, S. 189, wonach „der Erkennende … aktiv-gestaltend in die Erkenntnis eingeht …“; BRUSIIN, S. 26: „nicht von Maschinenteilen, sondern von Menschen zusammengesetzt“.
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mehr zeitgleich existent ist, können die Erkenntnissubjekte im Strafverfahren auf die gesuchte, der Vergangenheit angehörende Seins-Wirklichkeit nur und allein mit Hilfe von zur Zeit des strafverfahrensrechtlichen Erkenntnisverfahrens gegebenen Tatsachen der Seins-Wirklichkeit nach bestem menschlichen Wissen rückschliessen.274 Die zwei an ein jedes Erkenntnisverfahren herantretenden objektiven und subjektiven Aspekte – der Anspruch auf Objektivität des Erkenntnisverfahrens, der in einem von Erkenntnissubjekten geführten und von Erkenntnissubjektivität geprägten Erkenntnisverfahren zu verwirklichen ist – treten mithin auch an das Strafverfahren heran.275 Weder dem einen noch dem anderen Aspekt kann sich ein Strafverfahren erfolgreich entziehen, würde es dadurch doch versuchen, sich aus dem Charakter, nun einmal ein durch eine objektive und subjektive Seite gekennzeichnetes Erkenntnisverfahren zu sein, herauszunehmen und würde es sich auf diese Weise seinen grundlegenden Wesenszug – ein Erkenntnisverfahren zu sein – gerade absprechen. Wie oben ausgeführt, ist ein Strafverfahren als ein gesteuerter Prozess des Erkennens zu begreifen, wofür es auch die wichtige steuernde Funktion von Recht selbst für jenes (Erkenntnis-)Verfahren der strafprozessualen Wahrheitsermittlung zu er- und anzuerkennen gilt, vermitteln doch sowohl strafverfahrensrechtliche als auch menschenrechtliche Regelungen massgebliche Entscheidungen nicht nur für den äusseren Ablauf und die Struktur des Strafverfahrens, sondern ebenso für die zu schützenden Menschenrechte «durch» und «im» Strafverfahren. An den finalen Charakter des Strafverfahrens anknüpfend, ist vom Recht mit Blick auf die materielle Gerechtigkeitskomponente nicht nur steuernd zu bestimmen und zu regeln, wie dem Erkenntnisziel der Wahrheit «so nah wie möglich» zu kommen ist. Vielmehr ist vom Recht mit Blick auf die prozedurale Gerechtigkeitskomponente ebenso steuernd zu bestimmen, wie die Wahrheit in einer solchen Weise zu ermitteln ist, dass dies nicht auf Kosten bzw. «um den Preis», sondern gerade umgekehrt nur unter Beachtung von Werten und Menschenrechten, die als für den strafverfahrensrechtlichen (Erkenntnis-)Weg selbst schutzwürdig und -bedürftig erachtet werden, geschieht. 274 275
Zum Moment des Zurückschliessens siehe auch unter N 65 f.; dazu näher PIETH, Beweisantrag, S. 6; BOHNE, S. 8; KÄSSER, S. 73 ff. Siehe dazu auch die Ausführungen zu den Rationalitätskriterien einerseits und den subjektiven Momenten des richterlichen Handelns andererseits GOTTWALD, ZZP 1985, S. 119 ff., 127 f.: „Richter (muβ) … den Parteien, ihren Anliegen und dem Gegenstand des Streits gegenüber aufgeschlossen sein und darf seine Entscheidung nicht durch Emotion und Herkommen allein bestimmen lassen … Richter handelt … vernünftig, wenn er seine Lösung subjektiv redlich entwickelt“ (S. 121), „Höchstmaβ an Klarheit, Vollständigkeit, Vorurteilslosigkeit und Bereitschaft, sich in die streitigen Fragen einzudenken“ (S. 122); KUNZ, ZStW 2009, S. 573 f.
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Haben sich die materiellen und die prozeduralen Gerechtigkeitsaspekte in normativen Regelungen des Rechts konkretisierend niederzuschlagen, so bedeutet die notwendige Umsetzung des an ein Strafverfahren angelegten Anspruchs auf Objektivität in einem „unausweichlich(e)“276 von Subjektivität im Sinne von Subjektbezogenheit gekennzeichneten Strafverfahren zugleich, dass sich ein Strafverfahren bis zur allerletzten, das Verfahren abschliessenden Entscheidung seine Offenheit und seine damit verbundene Unfertigkeit in Bezug auf die Festlegung des der Strafentscheidung zugrunde zu legenden wahren strafrechtlichen Sachverhaltes zu bewahren hat.277 Übergeleitet ist damit zu einem weiteren Element des strafverfahrensrechtlichen Erkenntnisverfahrens in Gestalt des Moments des Zweifelbehafteten. 3.
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Das Moment des Zweifelbehafteten und das Erfordernis zu wahrender Offenheit des strafverfahrensrechtlichen Erkenntnisverfahrens
Ist es der von einem Strafverfahren zu erfüllende Anspruch, ein bis zur abschliessenden verfahrensbeendenden Entscheidung hinsichtlich der Wahrheitsermittlung offenes Verfahren zu sein, durch den sich ein Strafverfahren notwendig auszuzeichnen hat, möchte es als ein ernsthaft und ehrlich nach der Wahrheit strebendes Verfahren des Erkennens anerkannt werden, so ist es genau nun dieses Erfordernis der Offenheit bzw. des Offenbleibens, das dem Strafverfahren auf seinem Weg zum endgültigen Wahrheitsspruch Mühe bereitet. Denn das Erfordernis der Offenheit des Strafverfahrens gerät bereits auf dem (Verfahrens-)Weg hin zum abschliessenden Wahrheitsspruch immer wieder in die Gefahr, zu früh und unter Umständen mit schwerwiegenden Folgen (im Sinne fehlerhafter Urteile) für den Angeklagten verlustig zu gehen. Jene Gefahr für die Offenheit und das Offenhalten des Strafverfahrens hängt mit dem Vorgang, der Abfolge des Erkennens selbst bzw. – in den treffenden Worten von Pieth – mit der „… “Chrono-Logie“ des Beweisens 276
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PIETH, Beweisantrag, S. 288: „unausweichliche Subjektivität der Entscheidung“, siehe dort zudem zu den auf dem Weg zur endgültigen Entscheidung „von Anfang an und fortan laufend“ (S. 288) gezogenen „Zwischensaldo(s)“ (S. 288), siehe auch die Ausführungen zur Chrono-Logie des Beweisens auf den S. 7 ff.; zudem KUNZ, ZStW 2009, S. 573 f. Zur Offenheit und der Aufgabe von Recht, für die Wahrung dieser Offenheit des Verfahrens Sorge zu tragen, siehe instruktiv PIETH, Beweisantrag, S. 12 ff., 288: „… muss das Recht während der Vorbereitungsphase für die Erhaltung der Offenheit gegenüber alternativen Sachverhaltsvarianten eintreten“ (S. 14); zudem JUNG, Richterbilder, S. 89 dazu, dass „man im Verfahren bis zum Schluss flexibel reagieren müsse“.
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…“278 zusammen. Nicht nur wichtig ist dafür zu sehen, dass das Erkennen – im Sinne des Vorgangs, des Prozesses hin zur Erkenntnis als (End)Ergebnis des Erkennens – ein „kontinuierlicher Vorgang“279 ist, der sich in Etappen und Phasen vollzieht, die geleitet durch Zwischenerkenntnisse als „Zwischenergebnis(e)“280 aufeinander aufbauen u./o. miteinander verknüpft werden.281 Von Bedeutung ist zudem, dass es im Strafverfahren um das Erkennen eines in der Vergangenheit liegenden Geschehens geht. Das Erkennen, das Aufklären jenes der vergangenen Seins-Wirklichkeit angehörenden Geschehens kann – da dieses nicht mehr «aktuell-wirklich» ist – nicht durch blosses zeitgleiches An- bzw. Zusehen erkannt werden, sondern auf das vergangene seinswirkliche Geschehen ist vielmehr rückzuschliessen, indem an im Strafverfahren vorhandene Erkenntnismittel angeknüpft und ausgehend von den durch diese vermittelten Erkenntnissen auf das Geschehen der vergangenen Seins-Wirklichkeit zurückgeschlossen bzw. zurückgeschlussfolgert wird.282 Das Strafverfahren stellt einen – wie es Pieth zutreffend bezeichnet – „Vermittlungsvorgang(es)“283 dar, in welchem aus im Strafverfahren aktuell verwendeten Erkenntnismitteln – den Beweismitteln – als formalisierten Wissensträgern284 unter Befolgung von als richtig anerkannten Schlussgesetzen eine Erkenntnis zu einem vergangenen Geschehen der Seins-Wirklichkeit gedanklich erschlossen, ab- bzw. hergeleitet bzw. vermittelt wird.285
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In dieser Aussage, die zum einen von den im Strafverfahren aktuell zur Verfügung stehenden Wissensträgern und zum anderen von dem Zurückschliessen von jenen Wissensträgern auf eine vergangene Seins-Wirklichkeit spricht, stecken zwei Elemente, die sich als wichtige Anknüpfungspunkte auch für die Beurteilung des Vorliegens einer wirksamen Verteidigung des Angeklagten
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282
283 284 285
PIETH, Beweisantrag, S. 7 (Hervorhebung Pieth). PIETH, Beweisantrag, S. 12. PIETH, Beweisantrag, S. 12. Siehe auch HEISS, S. 119 f. zum Voranschreiten, „indem wir Wort an Wort, Phrase an Phrase, Thema an Thema setzen und reihenhaft entwickeln“ (S. 119). Siehe zur Verbindung von Erkenntnisquellen, Erkenntnismitteln und Beweismitteln näher DEDES, S. 50 f. PIETH, Beweisantrag, S. 6. Siehe auch PIETH, Beweisantrag, S. 6: „formalisierten Trägern“. Siehe auch BOHNE, S. 8: „… aus den beigebrachten Beweismitteln erst ein Schluβ auf die unmittelbar relevante Tatsache gezogen werden muβ“, „… diesen Schluβ aus dem Inhalt der Aussage auf die Tatsächlichkeit des bezeugten Vorganges ziehen zu können …“; PIETH, Beweisantrag, S. 6: „Vermittlungsprozess“, „Schlussgesetze“; KÄSSER, S. 73 ff.: „Aufbauend auf den unmittelbar gegenwärtigen Beweismitteln, erschlieβt der Richter die Vergangenheit, indem er die Beweismittel als Anknüpfungstatsachen zur Erkenntnis der vergangenen tatbestandsrelevanten Wirklichkeit verwendet“ (S. 73, Hervorhebung Demko).
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Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
im Strafverfahren erweisen. Der Prozess des Erkennens setzt sich aus zwei Phasen zusammen:286 In der ersten Phase geht es darum, dass die Beweismittel als Wissensträger ihrerseits überhaupt und notwendigerweise korrekt erschlossen werden müssen, was deren Zustandekommen an sich – und zwar nicht nur überhaupt als Informationsquelle, sondern als im Sinne des Strafverfahrensrechts anerkannte, weil verwertbare Informationsquelle – betrifft. In der sich anschliessenden zweiten Phase geht es um das richtige Verstehen, Einordnen und Interpretieren dieser Wissensträger: Erst jetzt, an einen korrekt erschlossenen Wissensträger anknüpfend, folgt das eigentliche Rückschliessen von dem Wissensträger auf einen der vergangenen Seins-Wirklichkeit angehörigen Sachverhalt. Dieses Zurückschliessen ist ein geistiger Prozess des Zurückdenkens, der die Bedeutung, den Aussagegehalt der Wissensträger für einen bestimmten vergangenen Wirklichkeitsausschnitt zu erkennen sucht und dabei zu klären hat, was an Wissen die Wissensträger für ein vergangenes Geschehen vermitteln. 67
Beide Phasen vermitteln Anknüpfungspunkte für eine wirksame Verteidigung des Angeklagten im Straf- und Beweisverfahren: In der ersten Phase geht es um die Teilnahme und Mitwirkung des Angeklagten an dem Zustandekommen von noch «unfertigen» Beweismitteln – wie es die persönlichen Beweismittel sind – und damit in Bezug auf die hier näher untersuchten Zeugenbeweismittel um die Mitwirkung des Angeklagten an dem Zustandekommen von Zeugenaussagen. In der zweiten Phase geht es um eine wirksame Einflussnahme des Angeklagten auf den (letztverantwortlich) in den Händen des Gerichts liegenden (Be-)Wertungs- und Würdigungsprozess der (Zeugen-)Beweismittel, indem der Angeklagte seine eigenen (Be-)Wertungen zur Wahrheit sowie zum Inhalt der (Zeugen-)Beweismittel in den richterlichen (Be-)Wertungs- und Entscheidungsprozess einbringen kann und diese sodann vom Gericht beachtet und berücksichtigt und damit Teil des gerichtlichen (Be-)Wertungs- und Entscheidungsfindungsprozesses werden.287
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Auf das Moment des Werdens zurückkommend,288 das den Prozess des Erkennens kennzeichnet, gilt es, der Wahrheit im Strafverfahren als einem gerade durch Subjektbezogenheit geprägten Herstellungsverfahren289 Stück für Stück näher zu kommen. Wenn Rödig davon spricht, dass „Prozeβ … Metho286
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Siehe zu verschiedenen Phasen des Beweisverfahrens auch DEDES, S. 20, der zwischen drei Phasen des Beweisverfahrens unterscheidet: Sammlung, Erhebung und Würdigung der Beweise. Siehe dazu auch die Ausführungen zum rechtlichen Gehör unter Kap. 4 B. III. 1. und zum Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen unter Kap. 5. Dazu auch HASSEMER, Grundlagen, S. 125: „wachsen, verändern sich … sind in Gegenwart und Zukunft“. Siehe dazu näher HASSEMER, Grundlagen, S. 124 ff., 135 ff.: „Herstellungsphase“ (S. 135).
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de“290 ist, so gilt dies auch für das strafprozessuale Beweisverfahren als Teil des Strafverfahrens. Dieses hat und ist selbst Methode, verfolgt es seine Ziele doch weder „blindlings“291 noch nach Belieben der an dem Strafverfahren beteiligten Personen. Vielmehr erfolgt die Wahrheitsermittlung in – durch das Strafverfahrens- und Beweisrecht vorgegebenen bzw. – „geordneten Schritten … eben auf die Weise des Prozesses …, d.h. durch das Befolgen eines Inbegriffs von Regeln dafür, wie verfahren werden soll“.292 Zutreffend heisst es insofern bei Rödig: „… Der Prozeβ ist daher nicht allein von seinem Ziel her zu begreifen. Kennzeichnend für den Begriff des Prozesses ist bereits der zum Ziel führende Weg: Prozeβ ist Methode …“293
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Nicht nur etymologisch,294 sondern auch sachlich stehen Methode und Prozess in einem Zusammenhang und Begriffe, wie etwa Fortschreiten, (Fort-)Gang, Vorrücken, Hervortreten, sind mit diesen verbunden.295 Der damit zugleich angesprochene dynamische Charakter des Strafverfahrens verweist auf dessen Entwicklungs- und Durchgangscharakter hin zum Urteil296 und macht mit diesem die stets unfertige bzw. unvollkommene Natur des Strafverfahrens deutlich.297 Nicht nur ist zu Beginn und zur Zeit des Durchführens des Strafverfahrens dessen Ausgang und mit diesem das Erkenntnisergebnis offen, sondern selbst mit förmlicher Beendigung des Strafverfahrens lässt sich nicht mit hundertprozentiger Garantie sagen, ob mit dem im Prozess ermittelten (relativen) Erkenntnisergebnis tatsächlich das Erkenntnisziel der «absolut korrekten» Wahrheitsermittlung im Sinne einer exakten und vollkommenen Eins-zu-Eins-Korrespondenz-Übereinstimmung von Seins-Wirklichkeit und Erkenntnis über diese Seins-Wirklichkeit erreicht wurde.
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RÖDIG, S. 7 (Hervorhebung Rödig). RÖDIG, S. 6. RÖDIG, S. 7 (Hervorhebung Rödig). RÖDIG, S. 7 (Hervorhebung Rödig). Siehe näher zum etymologischen Zusammenhang zwischen Prozess und Methode RÖDIG, S. 8, 9. Näher RÖDIG, S. 8, 9: „fortschreiten, hervortreten, vorrücken …“ (S. 8, Hervorhebung Rödig); GRÖSCHNER, S. 4: „Meta-hodos bezeichnet einen Weg von … nach, von einem Ausgangs- auf einen Endpunkt hin und die Vorgehensweise, in der das Denken auf diesem Weg vor-geht“; siehe auch JUNG, Richterbilder, S. 89 zum „allmählich heran(reifen)“. RÖDIG, S. 14, 15: „Prozeβ und alle seine Einzelerscheinungen als einen Durchgang zum Urteil“. Zum unfertigen Charakter des Strafverfahrens siehe auch RÖDIG, S. 15.
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Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung» 71
Der Zweifel,298 ob es gelungen ist, dem Strafverfahren und dem Strafurteil gerade und einzig denjenigen vergangenen Wirklichkeitsausschnitt zugrunde zu legen, der sich auch tatsächlich ereignet hat, begleitet die Wahrheitsermittlung im Strafverfahren nicht nur zu Beginn und während des Prozesses, sondern kann auch mit der verfahrensbeendenden letzten Entscheidung nicht mit allerletzter Sicherheit ausgeräumt werden. Auch ein «fertiges» im Sinne von förmlich beendetes Strafverfahren ist und bleibt unter streng erkenntnistheoretischer Sicht also stets ein nur «relativ fertiges» (Erkenntnis-)Verfahren,299 sind doch nicht nur die auf dem Weg zum Strafurteil als Enderkenntnis getroffenen Zwischenerkenntnisse,300 sondern ist auch die Enderkenntnis selbst „stets eine unsichere Sache“301:
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„… Ist bereits der laufende Beweisvorgang ständig dem “Zweifel des Gelingens“ ausgesetzt, lässt sich auch das Resultat in den seltensten Fällen ausser Zweifel stellen …“302
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Mit dem ein Erkenntnisverfahren als dessen „Systemkomponente“303 auszeichnenden Moment des Nie-völlig-Zweifelsfreien ist zugleich die Aufforderung verknüpft, den Weg des Erkennens im Strafverfahren bis zur Enderkenntnis als einen offenen und offen zu haltenden Weg zu gestalten. Diese Aufforderung und der damit erhobene Anspruch auf ein bis zuletzt Offenheit zu wahrendes Strafverfahren richten sich dabei auch an das Recht selbst, welches durch entsprechende normative Regelungen Sorge dafür zu tragen hat, dass bei der Suche nach der Wahrheit diese Offenheit im Strafverfahren bis zum letzten verfahrensabschliessenden Wahrheitsspruch gewährleistet ist. Durch entsprechende normative Regelungen hat das Recht dem stets möglicherweise Zweifelhaften Rechnung zu tragen bzw. genauer, es hat zu sichern, dass im Strafverfahren hinreichende Möglichkeiten bestehen, dem Zweifel Raum zu geben, was erneut Anknüpfungspunkte für eine wirksame Verteidigung des Angeklagten im Strafverfahren im Sinne des Einbringen-Könnens von Zweifeln an der gerichtlichen Wahrheitsermittlung und an den vom Gericht gefundenen (Zwischen- und End-)Erkenntnissen sichtbar macht. Zweifel lassen sich, was Pieth zutreffend betont, zwar durch das Recht nicht vorschreiben, jedoch kann und muss das Recht „… verbieten, den Assoziations-
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301 302 303
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Siehe auch HASSEMER, Grundlagen, S. 125: „Zweifel des Gelingens“ (Hervorhebung Hassemer). Zum „Zeitpunkt des Eintritts der relativen „Fertigkeit“ des gesamten Prozesses“ (S. 27, Hervorhebung Rödig) siehe näher RÖDIG, S. 27 f. Zu den im Laufe des Strafverfahrens getroffenen Zwischenergebnissen siehe PIETH, Beweisantrag, S. 12, 288. PIETH, Beweisantrag, S. 13. PIETH, Beweisantrag, S. 13 (Hervorhebung Pieth). PIETH, Beweisantrag, S. 13.
Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
kreisel vorzeitig abbrechen zu lassen …“.304 Auf der Suche nach einem die Dynamik und Offenheit des Straf- und Beweisverfahrens bis zu dessen formellen Abschluss sichernden „rechtstechnischen Instrumentarium“305 führt Pieth in treffenden Worten an: „... Der Zweifel – die ständige Antithese zu dem, was sich fortlaufend festigen will – ist zwar das agens, das den Kreisel in Gang hält, er lässt sich aber rechtlich nicht einfach vorschreiben. Das Recht muss Wege finden, Zweifel indirekt über eine gewisse Zeit hin zu erhalten oder gar zu begünstigen. Es muss also Techniken entwickeln, einen bestimmten Mindestaufwand des Untersuchungs- und Entscheidungsträgers zu garantieren, der zugleich klare Konturen aufweist und aber abstrakt genug ist, dass er sowohl auf den Ladendiebstahlsprozess wie das Wirtschaftsverfahren Anwendung finden kann. “Zeit“ kann daher nur in übertragenem Sinne gemeint sein …“306
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Mit dem, «was sich fortlaufend festigen will», ist das angesprochen, das sich als scheinbar Widersprüchliches der Offenheit und dem (um der redlichen Wahrheitssuche willen zu fordernden) Offenhalten des Strafverfahrens entgegenstellt: Gemeint ist das ebenso zu einem Erkenntnisverfahren gehörende natürliche Moment, dass angefangen von einem Nicht(s)erkennen sich das Erkennen über mehrere, sich aneinander reihende Zwischenerkenntnisse nach und nach verdichtet hin zu der Enderkenntnis.307 Dieser sich verdichtende Prozess des Erkennens wird in Gang gesetzt durch eine erste Uraussage, „eine(r) “Urbehauptung“ …“,308 welche im Strafverfahren in der ersten Äusserung eines Tatverdachts seine das strafverfahrensrechtliche Erkenntnisverfahren auslösende Gestalt und auf diese Weise Eingang in die strafverfolgende (Hypo-)These der anklagenden Seite findet.309 Eine (Hypo-)These ist damit in der Welt, nach der etwas Bestimmtes, möglicherweise Strafbares in der vergangenen Seins-Wirklichkeit geschehen und durch eine bestimmte, möglichweise durch die angeklagte Person begangen worden ist bzw. genauer, sein könnte.
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In einem permanenten und sich wiederholenden Hin- und Her-Wenden des Blickes zwischen der Tatsachen- und der Rechtsseite wird jenes behauptete Geschehen nun hypothetisch unter (Straf-)Rechtsnormen subsumiert und jene Subsumtionshypothese wiederum mit der Tatsachenseite rückgekoppelt, indem nach diese Subsumtionshypothese bestätigenden oder widerlegenden Tatsachen ermittelt wird. Auf der Tatsachenseite beginnt eine Suche nach
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304 305 306 307
308 309
PIETH, Beweisantrag, S. 15 (Hervorhebung Pieth). PIETH, Beweisantrag, S. 14. PIETH, Beweisantrag, S. 13, 14 (Hervorhebungen Demko). Siehe dazu etwa JUNG, Richterbilder, S. 89: „in eine bestimmte Richtung verdichten können“. PIETH, Beweisantrag, S. 10 (Hervorhebung Pieth). Siehe auch RÖDIG, S. 4: „Diese Behauptung stellt der Staatsanwalt im Rahmen eines Strafprozesses auf“; siehe dazu auch näher PIETH, Beweisantrag, S. 10.
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Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
möglicherweise als Beweismittel in Betracht kommenden Informationsquellen, eben nach jenen bereits angesprochenen, Erkenntnisse über eine vergangene Seins-Wirklichkeit vermitteln könnenden «Wissensträgern», welche nun Stück für Stück erhoben und gewürdigt, miteinander verglichen und entweder wieder verworfen oder mit Blick auf ihre Aussage- und Beweiskraft tiefergehend untersucht werden. Auch jenes Vorgehen auf der Tatsachenseite geschieht unter ständiger Rückkoppelung mit der Seite des (Straf-)Rechts und mit den „Suchaufträge(n)“310 der Strafrechtsnorm. Es setzt sich, ausgelöst durch die Anfangs(hypo)these, dass eine bestimmte Straftat geschehen sein und eine bestimmte – möglicherweise die angeklagte – Person diese begangen haben könnte, ein Prozess des Suchens in Gang, in welchem sich die These «Diese Person ist Täter dieser Straftat» und die Antithese «Diese Person ist nicht Täter dieser Straftat» gegenüberstehen bzw. sich als Widerspruch entgegenstehen.311 77
Bereits hier zeigt sich die wichtige Bedeutung der dem Angeklagten im Strafverfahren zugewiesenen Antithese, mit welcher er sich gegen die ihn anklagende These stellen, Widerspruch zu dieser These in das Strafverfahren einbringen und auf diese Weise wirksamen Einfluss auf den Prozess des Fortschreitens des wahrheitsgerichteten Erkennens im Strafverfahren nehmen kann.312 Es ist dieses Moment des Widerspruchs, das das strafverfahrensrechtliche Erkenntnisverfahren bei seiner Suche nach der Wahrheit in Bewegung hält, indem es zu einem erkennenden Voran-Schreiten und Weiter-Suchen nach der Wahrheit auffordert:313 Gefundene, erhobene, verwertete und gewürdigte formalisierte Wissensträger in Gestalt der Beweismittel bestätigen oder falsifizieren die sich gegenüberstehende These und/oder Antithese. Sowohl der Tatverdacht als solcher als auch die Antizipationen über den möglichen Verlauf und das Ergebnis eines einzelnen Beweisvorganges (z.B. hinsichtlich eines einzelnen Beweismittels) und des Beweisverfahrens insgesamt halten das (Weiter-)Suchen in Gang, sind „... geradezu … Motor des Assozia-
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313
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PIETH, Beweisantrag, S. 10 mit weiteren Ausführungen. Siehe auch RÖDIG, S. 3, 31 zum „Zweck der maβgeblichen Bestätigung oder Widerlegung einer bestimmten Behauptung“ (S. 3, Hervorhebung Demko), „Prozeβ um das Recht vor Gericht erst durch ein Denken in Alternativen voll zu begreifen“ (S. 31, Hervorhebung Rödig). Siehe zur Zuweisung des dialektischen Erfordernisses der Antithese an den Angeklagten auch unter Kap. 2 B. II. 4.; dazu auch HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, S. 168 N 22; MÜLLER, ZStrR 1979, S. 169. Siehe auch näher HEISS, S. 147 ff. zum Prinzip des Widerspruchs als „das zeugende Prinzip“ (S. 147, Hervorhebung Heiss): „Der Widerspruch treibt, wo er erscheint und offenkundig wird, bewegen sich die Dinge“ (S. 147, Hervorhebung Demko) sowie zur dialektischen Stufenfolge auf den S. 151 ff.; siehe auch KIESOW, S. 15.
Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
tionskreisels“.314 Aber nicht nur diese, sondern eben auch das sich im Verhältnis zwischen These und Antithese zeigende Widersprüchliche und der damit verbundene, immer mitschwingende Zweifel, tatsächlich alles umfassend und korrekt erkannt, verstanden und gewürdigt zu haben, halten den (weiter)suchenden Vorgang des Erkennens wach und in Gang.315 Es ist ein sich Hin- und Her-Bewegen zwischen der These «Ja» und der Antithese «Nein», welches sich im Laufe des Prozesses über in diesem vollzogene zahlreiche Zwischenerkenntnisse und damit verknüpfte Zwischenentscheidungen zum Fortlauf des Prozesses mehr und mehr entweder in Richtung These oder in Richtung Antithese verdichtet. Nicht erst am Ende des Strafverfahrens steht eine erste Erkenntnis über das hypothetische Geschehen, sondern bereits mit Beginn des Strafverfahrens und in dessen gesamten Verlauf werden Zwischenerkenntnisse und „Zwischenergebnis(se)“316 zusammengetragen und jedes Beweismittel fügt ein weiteres Puzzleteil an Erkenntnis hinzu, das entweder mehr für die These oder mehr für die Antithese spricht. (Zwischen-)Entscheidungen zum Ablauf und zur Gestaltung des Strafverfahrens werden gefällt, welche die Weichen für das weitere Vorrücken im Prozess der Wahrheitsermittlung jeweils ganz anders stellen (können).317
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„… Es ist also nicht so, dass vorerst bloss “vorbereitet“ wird und erst zum Schluss ein qualitativ ganz anders gearteter Entscheidungsakt erfolgt …“318
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Schon das gesamte Straf- und Beweisverfahren als solches – also der Vorgang noch vor der abschliessenden Strafentscheidung – ist nicht nur ein blosses erkenntnis- und entscheidungsfreies Vorbereiten, sondern ist vielmehr selbst „immer bereits Entscheiden“.319 Über zahlreiche im Laufe des Strafund Beweisverfahrens ermittelte Zwischenerkenntnisse wird das anfangs noch vage (Wahrheits-)Bild über die gesuchte vergangene Seins-Wirklichkeit
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314 315
316 317
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PIETH, Beweisantrag, S. 11 f. Siehe zur dialektischen Formel von These, Antithese, Synthese, wie sie von Fichte und Hegel geprägt sind, etwa HEISS, S. 154 ff., wonach sich diese dialektische Formel als „Bewegungsformel“ (S. 157, Hervorhebung Heiss) darstellt und „(I)n dieser Bewegungsformel … das eigentlich dynamische Element die Negation und das Negative (ist). Sobald zu einem Positivum das Negativum gefunden ist, beginnt die Dynamik zu arbeiten …“ (S. 157, Hervorhebung Demko). Auch diese Aussage zeigt sich in ihrer Bedeutung für den Angeklagten, dem durch die ihm eingeräumte Antithese ein wichtiger Einfluss auf die Fort-Bewegung des Erkennens(prozesses) im Strafverfahren gegeben wird. PIETH, Beweisantrag, S. 12. Siehe auch PIETH, Beweisantrag, S. 12: „… wo immer man eine Zäsur anlegt, bereits ein Zwischenergebnis angebbar und jeder Zwischenstand für die weitere Entwicklung richtungweisend ist …“ (Hervorhebung Demko). PIETH, Beweisantrag, S. 12 (Hervorhebungen Pieth). PIETH, Beweisantrag, S. 12.
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Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
nach und nach mit immer mehr Bildelementen angereichert und verfestigt sich auf diese Weise Stück für Stück in die eine (thesenhafte) oder andere (antithesenhafte) Richtung. Einige der einzelnen Bildelemente werden mehr in die eine oder andere Richtung ausgebaut, während andere Bildelemente vernachlässigt oder unberücksichtigt bleiben. Durch jene Zwischenerkenntnisse und getroffenen Zwischenentscheidungen wird Schritt für Schritt eine bestimmte Richtung des Weiterermittelns, des Weitervorrückens auf der Suche nach der Wahrheit in Gang gesetzt und verfestigt, was wiederum mit der Gefahr verbunden ist, dass Aspekte ausgeblendet, falsch bewertet und/oder falsch gewichtet werden,320 welche tatsächlich relevant sind, jedoch in dieser ihrer (Wahrheits-)Relevanz aufgrund eines sich bereits vorschnell in eine bestimmte Richtung verengenden Bildes über die Seins-Wirklichkeit nicht (mehr) oder nicht richtig erkannt werden. 81
Die zu jedem Erkenntnisverfahren gehörenden und für ein Vorankommen im Prozess des Erkennens auch erforderlichen Vor-Erkenntnisse – womit die Zwischenerkenntnisse gemeint sind, die vor der eigentlichen Enderkenntnis gefunden werden – können sich unbesehen und vorschnell zu den (Wahrheits-)Blick einseitig verengenden Vorurteilen entwickeln: Vorurteile im Sinne von vorweggenommenen Enderkenntnissen, die von den das Verfahren gestaltenden (Prozess-)Subjekten getroffen werden, noch bevor das Strafverfahren tatsächlich beendet ist. Gemeint sind Vorurteile als vorweggenommene Enderkenntnisse, welche das gesamte Strafverfahren bei seiner Wahrheitssuche in eine einseitige Richtung lenken, diesem seine nötige Offenheit für die Möglichkeit von These oder Antithese nehmen und dem einem jeden Erkenntnisverfahren natürlicherweise anhaftenden Moment des stets Zweifelhaften bzw. des Nie-gänzlich-ausser-Zweifel-Stehens keinen oder keinen hinreichenden Raum mehr einräumen. Dem nun gilt es entgegenzuwirken und verlangt – und vom Recht zu regeln – ist das Gewährleisten von das Offenhalten der strafverfahrensrechtlichen Wahrheitsermittlung sichernden Gegengewichten.321 Auch diese durch das Recht zu eröffnenden und zu sichernden Gegengewichte gegen eine zu frühe Verengung des Wahrheitsermittlungsblickes und gegen eine einseitige Verfolgung nur der These unter Vernachlässigung der Antithese (sowie umgekehrt) bilden einen wichtigen Anknüpfungspunkt für die Bedeutung des «Menschenrechts auf Verteidigung», indem der Angeklagte und dessen Teilnahme an der strafverfahrensrechtlichen Wahrheitsermittlung (auch vom Recht) in die Bedeutung eingestellt werden, selbst ein 320
321
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Siehe dazu im Zusammenhang mit Fehlern bei der Vernehmung auch WALDER, AJP 1992, S. 1106, wonach „(S)chon eine vereinzelte, unscheinbare Vernehmungslücke … einen ganzen Beweis zu Fall bringen“ kann. Dazu auch näher unter N 99; zum Gegengewicht in Gestalt der Verteidigung siehe etwa HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, S. 168 N 22; zudem PIETH, Beweisantrag, S. 13 zu vom Recht einzubauenden „Gegengewichte(n)“.
Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
sich gegen die strafverfolgende These der anklagenden Seite stellendes Gegengewicht zu sein und sich als ein solches antithetisches Gegengewicht im Strafverfahren auch wirksam auszuprägen. 4.
Der dialektische Charakter des strafverfahrensrechtlichen Erkenntnisverfahrens und dessen Erfordernis von im Strafverfahren zu wahrender These und Antithese
Mit dem Moment des Gegengewichts ist unter Hinzunahme des dialektischen Charakters des (strafverfahrensrechtlichen) Erkenntnisverfahrens auf dessen Teilaspekt in Gestalt der Antithese verwiesen: Aufgezeigt wurden bereits die zwei „dialektischen Pole“,322 die These und die Antithese, zwischen denen sich das Strafverfahren auf seiner Suche nach der Wahrheit hin und her bewegt. Damit angesprochen ist die Dialektik als die – wie es Meyer zutreffend herausgearbeitet hat – „erkenntnistheoretische Grundkonzeption“323 des Strafverfahrens, welche zu dem erkenntnistheoretischen Element der Offenheit und des stets Zweifelbehafteten des Strafverfahrens hinzutritt und welche aufzeigt, wie Erkenntnis in einem (strafverfahrensrechtlichen) Erkenntnisverfahren zu gewinnen ist. Den Begriff der Dialektik für das Strafverfahren fruchtbar zu machen, um dieses als einen „dialektischen Vorgang“324 bezeichnen und charakterisieren zu können, heisst und verlangt zunächst, nach dem etymologischen und vor allem philosophiegeschichtlichen Bedeutungsgehalt des Dialektik-Begriffs bzw. nach Ausschnitten desselben mit Blick auf das Strafverfahren zu fragen:
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Etymologisch werden mit der Dialektik das Auseinanderlesen, Unterscheiden, Aussondern, das (Durch-)Sprechen im Hin und Her in Verbindung gesetzt und es wird mit dieser auf die „Kunst der Gesprächsführung, die Methodik des Dialogs“325 verwiesen.326 Sichtbar sind bei näherer Ausformung des Begriffs der Dialektik Bedeutungselemente, die sich, wenn auch mit zum Teil unterschiedlicher Betonung, in der philosophiegeschichtlichen Entwicklung des Begriffs der Dialektik wiederfinden. In diesem Sinne wurde die Dialektik nicht nur (erstens) mit der Wahrheitsfindung als dem Ziel des Gesprächs,
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322 323 324 325 326
PIETH, Beweisantrag, S. 17. MEYER, Dialektik, S. 90. MEYER, Dialektik, S. 1. MEYER, Dialektik, S. 9 (Hervorhebung MEYER). Siehe zur etymologischen Begriffsbestimmung näher MEYER, Dialektik, S. 9 ff.; siehe auch HEISS, S. 29 zum griechischen Wort dialegesthai: „sich unterhalten, sich besprechen, etwas auseinanderlegen“ und zum „Zerlegen eines Tatbestandes, wie es am deutlichsten in Rede und Gegenrede auftritt“ (Hervorhebung Heiss: «Zerlegen», übrige Hervorhebung Demko); dazu auch KIESOW, S. 14 f.
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Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
sondern zudem (zweitens) mit dem Moment des Widerspruchs, einer Gesprächsführung in „Rede und Gegenrede, Frage und Antwort, Zustimmung und Ablehnung, Argument und Gegenargument“327 verknüpft:328 84
„… Aus der Gegensätzlichkeit der Meinungen, im richtigen Vergleich des Widersprechenden wird der Weg gefunden, der zur Wahrheit führt …“329
85
Das Wahrheitsziel und das Moment des Widerspruchs auf dem Weg zu jenem Ziel als zwei der Dialektik zugeordnete Elemente nun mit dem Gespräch, dem Dialog „als der Grundform geistiger Mitteilung und Auseinandersetzung“330 in Verbindung setzend, wird zudem auf eine engere Bedeutung von Dialektik, nämlich auf die Methode des philosophischen Lehrgesprächs, den sokratisch-platonischen Dialog Bezug genommen.331 Des Weiteren wird der Begriff der Dialektik (in einem negativen Sinne) unter Lösung von der Wahrheit als Gesprächsziel aber auch verstanden als das Streiten um seiner selbst willen, als purer Selbstzweck, bei dem – nicht die Gesprächspartner, sondern – die Gesprächsgegner auf zwieträchtige, trügerische Weise beabsichtigen, den anderen „auf jeden Fall zu überwinden“332 und (nicht zu überzeugen, sondern) zu überreden.333 Nicht zuletzt wird der Begriff der Dialektik nicht nur mit dem Gespräch, dem „lebendigen Dialog“334 verknüpft, sondern auch bereits für das dem Sprechen, dem Gespräch vorausgehende und mit diesem unlösbar verbundene Denken, also bereits für den Denkvorgang als solchen verwendet, in welchem ein Gegenstand „dialogisch, in einer Art inneren Gesprächs, im Für und Wider“335 einer Prüfung und Klärung unterzogen wird.
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Die in der philosophischen Ideengeschichte der Dialektik herausgehobenen Momente, dass Dialektik (erstens) mit der Wahrheit(sermittlung) als Ziel des Erkennensvorgangs, (zweitens) mit dem Moment des Widerspruchs, des
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329 330 331
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MEYER, Dialektik, S. 9. Siehe dazu auch COHN, S. 256 f.: „Ermittlung der Wahrheit durch Gespräch“ (S. 256), „Auftauchen und Lösen von Widersprüchen wesentlich in sich schlieβt“ (S. 256); DIEM, S. 8: Wahrheitsermittlung „in Frage und Antwort“; HEISS, S. 29 f. HEISS, S. 30. MEYER, Dialektik, S. 10. Siehe dazu MEYER, Dialektik, S. 10 sowie zur Dialektik in der Philosophiegeschichte S. 11 ff. MEYER, Dialektik, S. 10. MEYER, Dialektik, S. 10; siehe auch KIESOW, S. 15; EISLER, S. 268 zur Bedeutung der Dialektik im „schlechten Sinn“: „Überredung“. MEYER, Dialektik, S. 11, gemeint ist hier die Bezugnahme auf die Dialektik im engeren Sinne; siehe dazu auch ODEBRECHT, Einleitung S. XX ff., S. 5 ff. MEYER, Dialektik, S. 11; siehe dazu auch POSER, S. 235: Dialektik als „eine Grundfigur des Denkens“; KIESOW, S. 24 f.
Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
«Gegensatzes und Gegen-Satzes»336 auf dem Weg hin zu diesem Ziel und (drittens) mit sowohl bereits dem Denken an sich als auch dem Sprechen verbunden ist, erweisen sich auch für das strafverfahrensrechtliche Erkenntnisverfahren als relevant. Hervorzuheben sind hier im nachfolgenden insbesondere die Vorstellungen, die Sokrates, Platon, Kant, Fichte, Schleiermacher und Hegel mit dem Begriff der Dialektik verbanden:337 Das Frageverfahren – die „Technik des Gesprächs"338 –, das sich aus dem Moment des auf unterschiedliche Vorstellungen der Gesprächspartner zurückgehenden Gegensätzlichen herleitet, kommt bereits in der sokratischen und platonischen Dialektik zum Ausdruck. Stand bei Sokrates die „sittliche(n) Selbstbesinnung“339 des Einzelnen im Vordergrund,340 welcher im Frageverfahren bzw. „Ausfrageverfahren(s)“341 wachgerufen und zur „Rechenschaft über seinen Weg“342 gezwungen werden sollte, ist es im platonischen Dialog mehr der Gegenstand des Gesprächs, wobei die Wahrheitsfindung als das Ziel des platonischen Dialogs und die Möglichkeit der Wahrheitsfindung im und durch das Gespräch betont werden, welches sich als ein dialektisches Frage-Antwort-Verfahren darstellt und bei welchem die Gesprächspartner als Dialektiker diejenigen sind, die sich „auf das Fragen und Antworten“343 verstehen.344 Die Vorstellung, Dialektik aus der Idee des Gegensatzes, des Sich-Widersprechenden heraus zu begründen und die Wahrheitsfindung aus diesem Denken und Sprechen in Widersprüchen hervorge336
337
338 339 340
341 342
343 344
Diese Formulierung ist gewählt in Anlehnung an MEYER, Dialektik, S. 11: Dialektik als „Methode, in Gegensätzen oder Gegen-Sätzen zu denken oder zu sprechen“ (Hervorhebung Meyer); dazu auch KIESOW, S. 17 ff.; EISLER, S. 268: „logische Bewegung des Denkens von einem Begriff zum anderen mittels Aufhebung von Widersprüchen“. Zur philosopiegeschichtlichen Entwicklung und Bedeutung des Dialektik-Begriffs siehe etwa RITTER, S. 164 ff.; EISLER, S. 268 ff.; HOFFMEISTER, S. 146 ff.; GESSMANN, S. 166 f. MEYER, Dialektik, S. 15; dazu auch HEISS, S. 59 f. MAIER, Sokrates, S. 205. Dazu näher MAIER, Sokrates, S. 204 f., 382 ff.: „… nicht bloβ aufrütteln, sondern auch wirklich zur sittlichen Gestaltung seines Lebens bringen wollte, ein bestimmtes Bild dieses Lebens, ein Ziel, zu dem er den Wachwerdenden zu führen bemüht war, vor Augen stand …“ (S. 392). MAIER, Sokrates, S. 205. MEYER, Dialektik, S. 15; siehe dazu auch MAIER, Sokrates, S. 204 f., 382 ff.: Sokrates als „Begründer der Gesprächsdialektik“ (S. 204) und Dienen des „sokratischen Ausfrageverfahrens … als Mittel, die Gesprächspartner zur Rechenschaft zu ziehen … und zur sittlichen Selbstbesinnung zu veranlassen“ (S. 205); siehe auch die Ausführungen zu Sokrates bei GRÖSCHNER, S. 141 ff. MEYER, Dialektik, S. 16. Siehe dazu mit näheren Ausführungen und Verweisungen MEYER, Dialektik, S. 15 ff.; zu Sokrates und Plato siehe auch DIEM, S. 9 ff.
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Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
hend zu betrachten,345 findet sich auch in der späteren philosophiegeschichtlichen Entwicklung wieder. Schleiermacher spricht von der „Verschiedenheit der Vorstellungen“346 als immer den „Ausgangspunkt eines Gespräches“347 bildend und stellt mit seiner Dialektik in innerer Absicht – im Gegensatz zur Dialektik in äusserer Absicht – den Bezug zur Wahrheitsfindung her.348 Der den „Verstandesbestimmungen, de(n) Dinge(n) und de(m) Endlichen überhaupt“349 „… „innewohnende(n)“ Widerspruch …“350 und der Bezug jener „Antinomie“351 auf die Wahrheit wird ebenso im dialektischen Denken Hegels sichtbar und jene Antinomie wird als der „höchste formelle Ausdruck des Wissens und der Wahrheit“352 angesehen. Nach Hegel macht das Dialektische „die bewegende Seele des wissenschaftlichen Fortgehens aus“:353 88
„… Das Dialektische gehörig aufzufassen und zu erkennen, ist von der höchsten Wichtigkeit. Es ist dasselbe überhaupt das Prinzip aller Bewegung, alles Lebens und aller Bethätigung in der Wirklichkeit. Eben so ist das Dialektische auch die Seele alles wahrhaft wissenschaftlichen Erkennens …“354
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Die wahre und positive Bedeutung der Antinomie liegt nach Hegel darin, dass
90
„… alles Wirkliche entgegengesetzte Bestimmungen in sich enthält und daβ somit das Erkennen und näher das Begreifen eines Gegenstandes eben nur so viel heisst,
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346 347 348
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352 353 354
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Siehe auch POSER, S. 235 f.: „Durch Ausräumen der Widersprüche soll letztlich die Wahrheit gefunden werden – eine Erwartung, die … nicht nur Sokrates, Platon und jeder Richter in einer Verhandlung teilen, sondern die Habermas auch in seiner Theorie des herrschaftsfreien Dialogs leitet“ (Hervorhebung Demko). SCHLEIERMACHER, S. 48 (Hervorhebung Schleiermacher). SCHLEIERMACHER, S. 48 (Hervorhebung Schleiermacher). Siehe SCHLEIERMACHER, S. 47 f. zur Dialektik in äusserer Absicht mit ihrem Zweck, „jemanden zu Vorstellungen zu bewegen, nicht gerade um der Wahrheit, sondern um eines besonderen Erfolges willen“ (S. 47) sowie zu der auf Wahrheit zielenden Dialektik in innerer Absicht, S. 48; siehe auch ODEBRECHT, S. 9, 47 f. HEGEL, Logik, S. 190: „In ihrer eigenthümlichen Bestimmtheit ist die Dialektik vielmehr die eigene, wahrhafte Natur der Verstandesbestimmungen, der Dinge und des Endlichen überhaupt.“ HEYNACHER, S. 12; siehe zum Widerspruch und der Antinomie näher HEGEL, Logik, S. 140 ff.; HÖSLE, S. 161 ff. HEGEL, Logik, S. 140, näher dazu S. 140 ff.; siehe auch die vergleichenden Untersuchungen von WOLFF, S. 9 ff. zur Dialektik und dem Begriff des Widerspruchs bei Hegel und bei Kant; zur Dialektik bei Hegel zudem GRÖSCHNER, S. 157 ff.; HEISS, S. 45 ff., 49 ff.; GLOCKNER, S. 378 ff. Entnommen aus MEYER, Dialektik, S. 25. HEGEL, Logik, S. 190. HEGEL, Logik, S. 190.
Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung» sich dessen als einer konkreten Einheit entgegengesetzter Bestimmungen bewuβt zu werden …“355
Nicht der Wahrheitsfindung, sondern nur den Scheinwahrheiten ist hingegen die Dialektik im negativen Sinne zugeordnet und etwa Kant spricht – in Abgrenzung zur transzendentalen Dialektik – von dieser als einer „Logik des Scheins“356 und meint damit „(E)ine sophistische Kunst, seiner Unwissenheit, ja auch seinen vorsätzlichen Blendwerken den Anstrich der Wahrheit zu geben …“.357 Das der Wahrheitsfindung dienende Verfahren des Erkennens in Widersprüchen – sei dies bezogen auf ein Denken oder ein Sprechen in Widersprüchen –, das in der dialektischen Formel von These-Antithese-Synthese von Fichte und Hegel näher ausgeformt wurde,358 bringt Heiss in einer – auch für das Strafverfahren – treffend formulierten Weise zum Ausdruck:
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„… Dies Prinzip der Stufenordnung der Widersprüche, wie es allen Hegelschen Werken zugrunde liegt, ist nicht neu. Es findet sich schon in der sokratisch-platonischen Technik des Gesprächs, wo Widerspruch um Widerspruch entwickelt wird, aber jede Etappe und Station des Gesprächs die Lösung des vorhergehenden ist …“359
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Angefangen bei einem Nicht-Wissen, einer Nicht-Erkenntnis über ein in Frage stehendes Geschehen vergangener Seins-Wirklichkeit und ausgelöst durch eine – sich in einen geäusserten Tatverdacht, in eine Behauptung eines strafbaren Geschehens kleidende – (Hypo-)These beginnt ein Prozess des Suchens nach Verifizierung oder Falsifizierung jener (Hypo-)These, dass eine bestimmte Straftat durch eine bestimmte – möglichweise die angeklagte – Per-
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HEGEL, Logik, S. 142; siehe zu Hegels Widerspruchstheorie eingehend und instruktiv HÖSLE, S. 161 ff. KANT, Kritik der reinen Vernunft 1, S. 104 (Hervorhebung Kant). KANT, Kritik der reinen Vernunft 1, S. 104, 105 (Hervorhebung Demko) im Gegensatz zu seiner den falschen dialektischen Schein aufdeckenden „transzendentale(n) Dialektik“, S. 106; siehe zu Kants Dialektik auch HEISS, S. 45 ff.; EISLER, S. 268, 270. Siehe zu Fichtes Anschauung von These, Antithese, Synthese näher FICHTE, S. 33 ff.: „… Keine Antithesis ist möglich ohne eine Synthesis … So ist auch umgekehrt keine Synthesis möglich ohne eine Antithesis. Entgegengesetzte sollen vereinigt werden …“ (S. 34), „… Aber keine Synthesis ist möglich ohne eine vorhergegangene Antithesis, von welcher wir aber, insofern sie Handlung ist, abstrahieren, und bloβ das Produkt derselben, das Entgegengesetzte, aufsuchen. Wir müssen demnach bei jedem Satze von Aufzeigung Entgegengesetzter, welche vereinigt werden sollen, ausgehen …“ (S. 35), „… So wenig Antithesis ohne Synthesis, oder Synthesis ohne Antithesis möglich ist; ebensowenig sind beide möglich ohne Thesis …“ (S. 35); zu Hegels Anschauung siehe etwa HEGEL, Objektive Logik, S. 51; GLOCKNER, S. 379 f.; siehe dazu auch POSER, S. 237 ff.: „dialektische Dreischritt“ (S. 239, Hervorhebung Poser); HEYNACHER, S. 12 zur These, Antithese und Synthese bei Fichte, Hegel und Heraklit; DIEM, S. 8 f.; EISLER, S. 271. HEISS, S. 59 f. (Hervorhebung Demko).
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Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
son begangen sein könnte. Die Unsicherheit und das Zweifelbehaftete dieses Wahrheitsermittlungsprozesses – in dessen Verlauf bis zur gefundenen Enderkenntnis man nicht mit hinreichender Sicherheit weiss bzw. noch nicht sicher erkannt hat, ob eine Straftat geschehen und wer der Täter ist – bringen das sich jener These als Widerspruch,360 als Gegensatz entgegenstellende antithetische Erkenntnismoment gleichsam mit und verdeutlichen den sich notwendig aus These und Antithese formenden Charakter des strafverfahrensrechtlichen Erkenntnisverfahrens. Hauser/Schweri/Hartmann führen hierzu zutreffend an: 94
95
„Jeder Prozess baut auf These und Antithese auf, wobei die Verteidigung das Gegengewicht zur Ermittlung und Anklage durch die staatlichen Behörden setzt.“361
Ebenso betont Müller in zutreffender Weise:
96
„Wie überall in kontroversen Situationen, lässt sich auch im Strafverfahren die Wahrheit nie ausschliesslich auf der einen Seite finden. Der These, die der Ankläger aufstellt, steht die Antithese der Verteidigung gegenüber, und aus diesen gegensätzlichen Meinungen bildet der Richter seine Überzeugung auf dem Weg der Synthese. Das ist angewandte Dialektik.“362
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Dieser thetische und antithetische Charakter durchzieht das Strafverfahren dabei auf mehreren Ebenen: Die das gesamte Strafverfahren als Hauptfrage prägende (Ober-)These und (Ober-)Antithese, dass eine bestimmte Person eine bestimmte Straftat begangen haben könnte oder auch nicht, fächern sich jeweils in zahlreiche und vielfältige (Unter-)Thesen und (Unter-)Antithesen zu bestimmten Einzelheiten und ausgewählten Teilaspekten rund um die Tat, den Täter und das sich auf diese beziehende Beweisgeschehen auf, welche ihrerseits in Zwischenerkenntnisse als Zwischensynthesen überführt werden:363 Es sind Zwischensynthesen, wie sie zahlreich in den verschiedenen Etappen des Strafverfahrens – beeinflusst durch die dort vorherrschenden Funktionsverteilungen zwischen den Prozesssubjekten und inhaltlich geleitet durch die jeweils zu beantwortenden spezifischen Sachfragen und die dabei angelegten Sachkriterien – getroffen werden. Diese Zwischensynthesen, welche jeweils in Nachfolge und in Anknüpfung an bereits getroffene frühere Zwischensynthesen ergehen, geben sodann ihrerseits eine Such- und Ermittlungsrichtung, wenn nicht gar eine Lösung oder zumindest Lösungsrichtung für das weitere Vorrücken im Prozess der Wahrheitsermittlung an: Dies erfolgt ganz im Sinne der „Stufenordnung der Widersprüche“,364 nach der „… 360 361 362 363
364
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Siehe zum „Grundphänomen“ des Widerspruchs näher HEISS, S. 67. HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, S. 168 N 22 (Hervorhebung Demko). MÜLLER, ZStrR 1979, S. 169 (Hervorhebung Demko). Siehe auch KÜHNE, Kommunikationsproblem, S. 53 zum Verstehen im Verhältnis von Einzelerkenntnis(sen) und Gesamtgefüge. HEISS, S. 59 (Hervorhebung Demko).
Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
Widerspruch um Widerspruch entwickelt wird, aber jede Etappe und Station des Gesprächs die Lösung des vorhergehenden ist …“365 (Schon) Ein (einziges) fehlerhaftes, unachtsames Zusammenfügen von (Unter-)Thesen und (Unter-)Antithesen zu einzelnen Zwischensynthesen hat oder zumindest kann einen Fehler auch bei den nachfolgenden Zwischensynthesen zur Folge haben. Eine falsche Such-, Ermittlungs- und Lösungskette ist dann in Gang gesetzt, die in Folge einer zu frühen und/oder falschen Verfestigung und einseitigen Fixierung des Rekonstruktionsvorganges auf ein bestimmtes Sachverhaltsbild in eine ebenso falsche Enderkenntnis, in einen falschen Wahrheitsspruch als (End-)Synthese von (Ober-)These und (Ober-)Antithese mündet oder zumindest münden kann.366 Das Strafverfahren als ein solches dialektisches Erkenntnisverfahren zu begreifen, heisst zu sehen, dass das ihm eigene Thesen- und Antithesenhafte sowohl in den Zwischenerkenntnissen als auch in der Enderkenntnis nicht rein logisch, sondern in einem „dialektische(n) Schluβ“367 auf einer höheren Ebene, nämlich in der Synthese als einer „höheren These“368 erschlossen werden. Der dialektische Prozess muss dabei nicht stets in einer Synthese enden, sondern ist ebenso für ein antithetisches Ende offen,369 was etwa im Strafverfahren das Freisprechen mangels hinreichender Beweise für die (anklagende) These zur Folge hat bzw. haben kann.
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Bereits bei dem erkenntnistheoretischen Moment der Offenheit und Zweifelbehaftetheit des Strafverfahrens hat sich dessen Bedeutung auch für den Angeklagten und seine wirksame Verteidigung im Strafverfahren gezeigt: Hinsichtlich der Gegengewichte, die das Recht zum Schutz vor zu früher und falscher Einengung und einseitiger Fixierung auf ein bestimmtes Sachverhaltsbild im Prozess der Wahrheitsermittlung zu schaffen hat, ist der Blick auch auf den Angeklagten und dessen Mitwirkung im Prozess der Wahrheitsermittlung als eines der (oder gar als «das» wichtigste ) Gegengewicht(e)
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HEISS, S. 59 f.; JUNG, Richterbilder, S. 89: „reifen allmählich heran“. Siehe instruktiv PIETH, Beweisantrag, S. 12 ff. zu den Gefahren „verfrühter Fixierung“ (S. 13, Hervorhebung Pieth) und der Aufgabe von Recht, dieser entgegenzuwirken. HEISS, Philosophische Studien 1949, S. 164 im Titel seines Aufsatzes (Hervorhebung Demko), siehe dazu näher S. 164 ff., insbesondere S. 175 ff.; dazu auch KIESOW, S. 19. MEYER, Dialektik, S. 26. Siehe zu der Möglichkeit eines synthetischen oder antithetischen Endes eines dialektischen Prozesses näher KIESOW, S. 20 f., wonach der dialektische Prozess „auch einmal bei der Antithese haltmacht, bzw. haltmachen muβ, das Heisst, daβ das Denken in einem fixen Widerspruch endet“ (S. 21) und der Begriff der Dialektik „im Grunde genommen nur den Prozeβ meint, nicht das Ergebnis“ (S. 21).
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Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
gegen die den Angeklagten anklagende These gerichtet worden.370 Diese Zuordnung des Gegengewichts (auch) zu der Person des Angeklagten lässt sich unter Hinzunahme des dialektischen Charakters des Strafverfahrens nunmehr konkretisieren. Denn gründet sich ein dialektisches Erkennen auf These und Antithese und ist es gerade der Widerspruch bzw. der Gegensatz, der nach beidem – nach These und Antithese – verlangt, dann darf einem (Straf-)Verfahren des Erkennens, das sich ein dialektisches nennt, weder das Thesenhafte noch das Antithesenhafte völlig entzogen werden, lässt sich ein Erkennen der Wahrheit (auch im Strafverfahren) nur allein mit der These oder nur allein mit der Antithese doch nicht denken. Das (mit Blick auf die Wahrheitsermittlung zu beachtende Teilerfordernis des) Thesenhafte(n) und ebenso das (für die Wahrheitsermittlung zu beachtende Teilerfordernis des) Antithesenhafte(n) dürfen einem Strafverfahren mithin nicht genommen werden, würde man doch ansonsten dem Erkennensprozess im Strafverfahren das Moment des Widerspruchs nehmen und entzöge man auf diese Weise dem Strafverfahren seinen – gerade auf das Moment des Widerspruchs aufbauenden und durch dieses definierten – dialektischen Charakter.371 100
Dieser einem Strafverfahren eigene dialektische Charakter zeigt den (Erkenntnis-)Rahmen auf, in den der Angeklagte mit Blick auf seine wirksame Verteidigung im Strafverfahren notwendig eingestellt ist: Nicht irgendeine Art von Verfahren, sondern ein gerade wahrheitsgerichtetes Erkenntnisverfahren, mehr noch ein dialektisch geführtes wahrheitsgerichtetes Erkenntnisverfahren, kennzeichnet ein Strafverfahren als den (äusseren) Erkenntnisrahmen, in den eingeordnet die Frage nach der Bedeutung und dem Inhalt des Menschenrechts des Angeklagten auf Verteidigung zu beantworten ist. Folgende Gesichtspunkte gilt es hierbei zu beachten:
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Mit dem Strafverfahren formt sich (erstens) ein dialektischer wahrheitsgerichteter Erkenntnisrahmen aus, der durch das zwingende Erfordernis von These und Antithese gekennzeichnet ist. Ist dies der (äussere) Erkenntnisrahmen, in den der Angeklagte und seine Verteidigung notwendig eingebettet sind, so ist dem Angeklagten (zweitens) innerhalb dieses Erkenntnisrahmens das Moment des Gegengewichts und mit diesem – dialektisch gesprochen – das dialektische Teilerfordernis der Antithese zugewiesen, mit welchem er sich der strafverfolgenden These der anklagenden Seite entgegen bzw. in Widerspruch stellt. 370
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Siehe bereits unter N 81; dazu auch PIETH, Beweisantrag, S. 13 zu vom Recht einzubauenden „Gegengewichte(n)“; siehe auch VON LISZT, StV 2001, S. 138 zum Dienen der Wahrheitserforschung dadurch, dass jede der Parteien ihren „Parteistandpunkt vertritt“. Siehe dazu auch MEYER, Dialektik, S. 90 ff. zur Dialektik als der „erkenntnistheoretische(n) Grundkonzeption des Strafprozesses“ (S. 90): „Der prozessuale Erkenntnisvorgang steht im Zeichen der Dialektik“ (S. 91, Hervorhebung Meyer).
Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
Dass es (drittens) nicht allein und nur um ein Erfordernis einer der anklagenden Seite zukommenden These und einer der angeklagten Seite zukommenden Antithese gehen kann, sondern dass darüber hinaus – wenn es um die Untersuchung der Bedeutung und des Inhaltes gerade eines Menschenrechts auf Verteidigung geht – von einem «Menschenrecht des Angeklagten auf Gegengewicht» bzw. (um in der dialektischen Sprache zu bleiben) von einem «Menschenrecht des Angeklagten auf Antithese» zu sprechen ist, leitet sich nicht aus dem dialektischen Charakter des Strafverfahrens an sich ab. Vielmehr folgt ein solches «Menschenrecht des Angeklagten auf Antithese» aus einem weiteren, ein «gerechtes» Strafverfahren kennzeichnenden Gesichtspunkt, welcher mit dem Menschenwürdeschutz und der daraus fliessenden, den Verfahrensbeteiligten – und hier dem Angeklagten – einzuräumenden Prozesssubjektivität als Ausdruck und Ausformung einer der prozeduralen Gerechtigkeitsanforderungen verbunden ist.372 372
Jene Unterscheidung in der Herleitung der unterschiedlichen Elemente, die für eine menschenrechtsbegründete Verteidigung des Angeklagten im Strafverfahren von Bedeutung sind, findet sich auch bei Hassemer wieder, welcher zwischen dem «szenischen Verstehen» und dem Beschuldigten als «Teilnehmer am szenischen Verstehen» differenziert, siehe dazu HASSEMER, Grundlagen, S. 122 ff., 130, 138 ff. Mit dem Begriff des szenischen Verstehens im Strafverfahren verweist Hassemer zutreffend darauf zu unterscheiden, ob sich der Begriff des Verstehens auf einen bereits hergestellten Fall bezieht und sich in einer „Theorie der Texte“ (S. 123) ausformt, wie es weithin noch Gegenstand der juristischen Hermeneutik ist, oder, ob der Begriff des Verstehens auch auf die Herstellung des Falles erweitert ist. Bezieht man das Verstehen nicht allein auf das Produkt des Herstellungsprozesses, sondern auf den realen Herstellungsprozess selbst, in dem sich die Herstellung des Produkts vollzieht, dann lässt sich eine hermeneutische Lehre vom Verstehen auch zu einer „Theorie des Verfahrensrechts, der Prozesse“ (S. 123) ausgestalten, wobei der in der Theorie der Psychoanalyse herausgearbeitete (dazu S. 124) Begriff des szenischen Verstehens „die Dimension des Verfahrens, des Prozesses, der Handlungssequenz, der Szene“ (S. 124, Hervorhebung Demko) in sich aufnimmt. Das Strafverfahren als eine ebensolche „Herstellungsphase“ (S. 135), in der sich die Herstellung der Erkenntnis über einen vergangenen Wirklichkeitsausschnitt vollzieht, hat im Unterschied zum Verstehen eines hergestellten Falles mit anderen und „spezifisch verschärfte(n) Schwierigkeiten beim Gelingen und beim Sichern des „richtigen“ Verstehens“ (S. 126) zu tun und das Strafverfahrensrecht hält für dieses szenische Verstehen im Strafverfahren ein „Muster szenischen Verstehens“ (S. 135, Hervorhebung Demko) bereit, das die Herstellungsphase selbst ermöglicht, ordnet und sichert (dazu S. 126, 135). Heisst es, dass jedes „Strafverfahren … szenisches Verstehen (erfordert)“ (S. 138), so ist die Frage, ob und in welcher Weise der Angeklagte an diesem szenischen Verstehen teilnehmen können muss – womit die Frage nach einem nicht nur erkenntnistheoretischen Erfordernis von These und Antithese, sondern nach einem (Menschen-)Recht des Angeklagten auf Antithese gestellt ist –, hingegen (auch) nach Hassemer „nicht so sehr Forderung aus der Theorie des Verstehens, sondern eine Forderung aus der politi-
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5.
Das strafverfahrensrechtliche Erkenntnisverfahren als – dialektische – Kommunikation und Interaktion
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Ist von dem auch an das Strafverfahren als Erkenntnisrahmen angelegten Erfordernis von These und Antithese die Rede, so ist zudem zu beachten, dass dieses zu gewährende Erfordernis von These und Antithese im Strafverfahren nicht als im «reinen Denken» verhaftet bleibend zu sehen und zu erörtern ist, sondern sich im Strafverfahren vielmehr zu einer «Rede und Antirede» bzw. einer «Behauptung und Gegenbehauptung» ausformt. Von dem Strafverfahren nicht nur die Gewährleistung von These und Antithese «im reinen Denken», sondern auch deren (praktische) Umsetzung in Rede und Gegenrede zu verlangen, weist darauf hin, dass (auch wenn sich das dialektische Erkennen im Strafverfahren auf einen geistigen Vorgang des dialektischen Denkens gründet) sich das Strafverfahren nicht im reinem Denken erschöpft.373 Die Ermittlung der Wahrheit über ein vergangenes Wirklichkeitsgeschehen und die rechtliche Lösung des Strafrechtsfalles bleiben im Strafverfahren nicht Gegenstand purer Gedanken. Vielmehr wird das dialektische Denken im Strafverfahren in Handlung(en) umgesetzt und zur Sprache gebracht. Es ist nicht allein ein dialektisches Denken, sondern es sind ein dialektisches Handeln und ein dialektisches Sprechen, die den Erkennensprozess im Strafverfahren kennzeichnen und mit denen das das Denken – vermittelt über verschiedene verbale und nonverbale Sprachformen – auch Zur-Sprache-Bringen gemeint ist.
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In der philosophiegeschichtlichen Entwicklung zur Dialektik wurde nicht nur das Denken, sondern – von einigen philosophischen Richtungen, wie etwa der sokratischen und platonischen Dialektik – auch das Sprechen, das Gespräch als Gegenstand und Anwendungsbereich der Dialektik betrachtet.374 In Auseinandersetzung mit der Ideengeschichte der Dialektik in den verschiedenen philosophischen Strömungen und mit dem „Nachweis der Dialektik des Strafprozesses“375 führt Meyer die Unterscheidung zwischen der Dialektik als
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schen Philosophie und der Rechtspolitik“ (S. 139, Hervorhebung Hassemer, siehe dort auch die weiteren Ausführungen), steht im Zusammenhang mit der „politischen Philosophie der Aufklärung“ (S. 130, Hervorhebung Hassemer) und den „Errungenschaften im Kampf um eine verbesserte Rechtsposition des Beschuldigten“ (S. 130, Hervorhebung Hassemer). Dazu auch MEYER, Dialektik, S. 44 f.: „Denkgegensätze“ (S. 45, Hervorhebung Meyer, siehe auch S. 75), siehe zudem S. 82: „im wesentlichen ein Denkvorgang“. Siehe dazu etwa MAIER, Sokrates, S. 204 f., 382 ff.: Sokrates als „Begründer der Gesprächsdialektik“ (S. 204), „sokratische(s) Ausfrageverfahren(s)“ (S. 205); zur engen Verbindung von Denken und Sprechen siehe auch ODEBRECHT, Einleitung S. XX ff., S. 5 ff., 47 ff.; SCHLEIERMACHER, S. 47 ff. MEYER, Dialektik, S. 75.
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„Oberbegriff(s)“,376 der Dialektik im „eigentlichen Sinne“377 und – unter Bezugnahme auf den Mündlichkeitsgrundsatz des Strafprozesses und das gesprochene Wort in der Hauptverhandlung – der sokratisch-platonischen Dialektik ein, welche beide für das Strafverfahren wirksam sind.378 Nicht um die „abwegige Behauptung“379 einer Gleichartigkeit von mündlicher Strafverhandlung und akademischem Gespräch des sokratisch-platonischen Dialoges, sondern um das Aufzeigen (u.a.) eines gemeinsamen wesentlichen Elements in Gestalt der Mündlichkeit ist Meyer bemüht. Ihm geht es um den Nachweis einer Parallele zum sokratisch-platonischen Dialog in der Hauptverhandlung des Strafverfahrens in Gestalt der „Methode, sich des gesprochenen Wortes in Frage und Antwort, Rede und Gegenrede mit dem Ziel der Wahrheitsfindung zu bedienen“.380 Ist der Beweisvorgang im Strafverfahren von Mündlichkeit geprägt, so sind es zugleich aber auch andere Sprachformen, die für das Beweisen im Strafverfahren von Bedeutung sind: Neben die Mündlichkeit tritt die Schriftlichkeit als verbale Sprachform und auch nonverbale Sprachformen fliessen (etwa im Zusammenhang mit dem Zeugenbeweis) in den Beweisvorgang des Strafverfahrens ein. Ist die Rede von einem nicht nur dialektischen Denken, sondern einem auch dialektischen Handeln und Sprechen im Strafverfahren und ist damit das Zur-Sprache-Bringen an sich gemeint, so ist das dialektische Erkennen im Strafverfahren weder nur auf die Hauptverhandlung noch nur auf die mündliche Sprachform beschränkt, sondern mündliche und schriftliche als verbale Sprachformen sowie nonverbale Sprachformen werden in den dialektischen Erkenntnisprozess des gesamten Strafverfahrens einbezogen.381 Sprache, hier im Sinne von (irgend)einer Sprachform, fungiert als „Medium“,382 welches die im Denken gewonnenen Erkenntnisse zwischen (mindestens zwei) Menschen vermittelt und verweist in dieser vermittelnden Funktion auf die sich auf das Verhältnis zwischen Menschen beziehende Kommunikation und Interaktion.383 Der Gesichtspunkt, das Strafverfahren als einen 376 377 378 379 380 381
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MEYER, Dialektik, S. 75. MEYER, Dialektik, S. 75, ebenso S. 82. Siehe dazu näher MEYER, Dialektik, S. 75 ff. MEYER, Dialektik, S. 79. MEYER, Dialektik, S. 79 (Hervorhebung Meyer) mit weiteren Ausführungen. Siehe auch KÜHNE, Kommunikationsproblem, S. 53 zur „strafprozessual gestalteten Interaktion“ mit den „Formen verbaler und nonverbaler Kommunikation“. GRÖSCHNER, S. 68; siehe dazu auch HEISS, S. 17: „Werkzeuge der Mitteilung und des Denkens“. Siehe auch FIEDLER/FREYTAG, S. 545 ff. zur sprachlichen Kommunikation und der Sprache als „Symbolsystem“ (S. 545), welche (z.B.) dazu „dient …, verstanden zu werden oder nicht verstanden zu werden … die Realität zu beschreiben oder Lügen zu fabrizieren …“ (S. 545, Hervorhebung Demko); GRÖSCHNER, S. 67 f. zur Sprache als
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Kommunikations- und Interaktionszusammenhang384 zu begreifen und an das Strafverfahren(srecht) ein sowohl juristisches als auch kommunikativinteraktives Anliegen zu richten, bringt den Begriff des Strafverfahrens(rechts) mit den Begriffen der Kommunikation und Interaktion in Verbindung und macht deutlich, dass der dialektische wahrheitsgerichtete Erkenntnisprozess im Strafverfahren ein Rekonstruieren eines vergangenen Wirklichkeitsausschnitts «in Kommunikation und Interaktion» der am Rekonstruktionsprozess Beteiligten ist. Nicht allein die Beachtung straf- und strafverfahrensrechtlicher Normen und die Befolgung juristischer Techniken, wie etwa der Subsumtionstechnik, sondern ebenso „Techniken kommunikativer Interaktion“,385 „verhaltenswissenschaftlich-kommunikative(r) Techniken“386 bestimmen den Rekonstruktionsprozess im Strafverfahren. Mehr noch, verbinden sich mit dem Strafverfahrensrecht, auch wenn dieses Begriffe wie etwa Kommunikation und Interaktion nicht ausdrücklich nennt, von der Sache her stets auch Normierungen für das kommunikative und interaktive Handeln der am Strafverfahren Beteiligten. Das Strafverfahrensrecht schafft – wie es Hassemer ausdrückt – ein „Muster szenischen Verstehens“,387 indem Regelungen für die – sowohl der Wahrheitsfindung als auch dem Schutz von Menschenrechten im Strafverfahren Beachtung schenkende – Herstellung einer «optimalen» Kommunikation und Interaktion, aber auch solche für nötige Abweichungen von einer solchen aufgestellt werden.388 Das Strafverfahren als einen zutiefst sowie komplexen kommunikativen und interaktiven Erkenntnisvor-
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Vermittler und Mittel; HEISS, S. 17 zum „instrumentalen Charakter“ von Wort und Sprache. Siehe auch HOFFMANN, Kommunikation vor Gericht, S. 23, welcher den Begriff des Kommunikationszusammenhangs auf die Hauptverhandlung bezieht, dieser sich aber ebenfalls bezogen auf das gesamte Strafverfahren denken lässt und hier in diesem letzteren Sinne verwendet werden soll; siehe auch die Untersuchungen von JAHN, GA 2004, S. 277 ff. zum kommunikativen Handeln im Gerichtsverfahren in Auseinandersetzung mit (u.a.) Habermas und Alexy; JUNG, Richterbilder, S. 79 ff., 89. KÜHNE, Kommunikationsproblem, S. 17. KÜHNE, Kommunikationsproblem, S. 17. HASSEMER, Grundlagen, S. 135 (Hervorhebung Hassemer); siehe auch KÜHNE, Kommunikationsproblem, S. 19 zur Beschäftigung der prozessualen Normen mit den Kommunikationsvorgängen, siehe auch S. 61 zum „Grundsatz der Kommunikationsoptimierung“, der den Prozess als „tragendes verfahrensrechtliches Prinzip“ bestimmt. Siehe etwa (einerseits) die (menschenrechtlichen und) strafverfahrensrechtlichen Regelungen, welche den persönlichen, zeitlichen und sachlichen Schutzbereich des Konfrontationsrechts des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen betreffen und sich hier auf die «optimale», uneingeschränkte Ausübung des Konfrontationsrechts beziehen, sowie (andererseits) die (menschenrechtlichen und) strafverfahrensrechtlichen Regelungen zu den Einschränkungen und Einschränkungsvoraussetzungen des Konfrontationsrechts des Angeklagten; siehe dazu im Einzelnen näher unter Kap. 5.
Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
gang anzuerkennen bzw. – um mit den Worten von Kühne zu sprechen – zu sehen, dass „gerade die Jurisprudenz … in ihrer Anwendungssituation, dem Prozeβ, von der Kommunikation (lebt)“,389 bedingt und fordert, nicht nur die «eine Richtung» zu betrachten, nach der das Strafverfahrensrecht das kommunikative und interaktive Geschehen im Strafverfahren normativ mitbestimmt. Vielmehr ist auch die – häufiger gerade von Juristen vernachlässigte390 – «andere Richtung» in den Blick zu nehmen, welche nach dem Einbringen und dem Nutzbarmachen des Wissens über Kommunikation und Interaktion aus nichtjuristischen Wissenschaftsdisziplinen in das bzw. für das Strafverfahren(srecht) fragt.391 Das Strafverfahren als einen Kommunikations- und Interaktionszusammenhang zu verstehen, verweist auf den ein jedes Strafverfahren kennzeichnenden Aspekt eines Handelns in Sozialbezug,392 geht es doch – wie unterschiedlich sich die instruktorischen, adversatorischen und «gemischten» Strafverfahren auf nationaler und internationaler Ebene im Einzelnen auch gestalten – stets um ein Handeln im Verhältnis zwischen mehreren Menschen unter- und miteinander. Das Strafverfahren, in dem Menschen handeln und das sich an Menschen richtet,393 ist zu denken nur auf der Grundlage einer „funktionierenden Kommunikation“394 und Interaktion. In keinem Strafverfahren, an dem immer mehrere Menschen beteiligt sind (wenn auch in unterschiedlichen Funktionen und ausgestattet mit unterschiedlicher Verfahrensherrschaft und hiermit auch mit unterschiedlicher Handlungs- und Redeherrschaft, die noch 389
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KÜHNE, Kommunikationsproblem, S. 17 (Hervorhebung Demko); siehe auch die Untersuchungen von ROTTLEUTHNER, KJ 1971, S. 64 ff. Dazu ebenso KÜHNE, Kommunikationsproblem, S. 16 f., 105: „Blindheit der Juristen für die Ergebnisse und Fortschritte auf dem Gebiet der Kommunikationswissenschaften“ (S. 105). Siehe zur Beschäftigung mit Fragen im Zusammenhang von Kommunikation und Strafverfahren etwa KÜHNE, Kommunikationsproblem, S. 11 ff.; SCHREIBER, ZStW 1976, 117 ff., insbesondere S. 141 ff.; HASSEMER, Grundlagen, S. 126 ff.; HETZER, S. 75 ff. zur Hauptverhandlung als „Kommunikationsforum“ (S. 75). Zur Wechselbezüglichkeit des Handelns auch näher HASSEMER, Grundlagen, S. 126 ff.; siehe auch KOPP/MANDL, S. 504 ff. zu der „gemeinsamen Wissenskonstruktion“ (S. 504), der „Ressourceninterdependenz zwischen den Gruppenmitgliedern“ (S. 505) und der „soziale(n) Interaktion“ (S. 505); GRÖSCHNER, S. 134 zum Bezogen-Bleiben der „Reden des Einen sachlich auf die Gegen-Reden des Andern“; SCHULZ, Sachverhaltsfeststellung, S. 9 ff. zum „interaktionistischen Beweisverfahren“ (S. 9). Siehe dazu auch KÜHNE, Kommunikationsproblem, S. 14: „zwischenmenschliche(r) Verständigung“. KÜHNE, Kommunikationsproblem, S. 14, siehe auch S. 62 ff.; LÖHNER, Kriminalistik 1990, S. 616 zur Gestaltung der „Beziehung zwischen Menschen … notwendig über die Sprache“.
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dazu im instruktorischen, adversatorischen und «gemischten» Strafverfahren jeweils anders verteilt sind),395 geht es um einen Erkennensvorgang in Form eines Monologes, welcher ein (gerichtliches) Erkenntnissubjekt aus dessen Sozialbezug mit den anderen verfahrensbeteiligten Erkenntnissubjekten sowie aus dem thetisch-antithetischen Erkennensvorgang herauslöst.396 Insbesondere liegt auch in den instruktorischen Strafverfahren mit ihrer richterlichen Verfahrensherrschaft und ihrer mit dem one-case-Ansatz angesprochenen «einen» richterlichen Sachverhaltshypothese keine monologische Wahrheitsermittlung vor.397 Versuche, das instruktorische Strafverfahren mit einer monologischen, hingegen (allein) das adversatorische Strafverfahren mit einer dialogischen Wahrheitsermittlung zu verbinden,398 verwechseln bzw. setzen vorschnell gleich Fragen der Verteilung von Verfahrens- und Beweisführungsherrschaft und damit auch von Handlungs- und Redeherrschaft einerseits mit solchen nach einem monologischen oder dialogischen Handeln andererseits. 107
Ist es auch richtig, dass in den instruktorischen Strafverfahren die Verfahrensund damit auch Redeherrschaft bei dem Richter liegt und sich bei diesem sozusagen «bündelt», während sich die Verfahrens- und Redeherrschaft im adversatorischen Strafverfahren hingegen in einer sich dialogisch-offener 395
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Siehe auch MEYER, Dialektik, S. 84 f. zu den Grenzen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit als Grund für den Einbezug vielzähliger Personen in den prozessualen Erkenntnisvorgang. Siehe dazu auch GRÖSCHNER, S. 131, 239, wonach die Ausgangspunkt und Ziel aller juristischen Bemühungen bildende Sachnähe und Sachgerechtigkeit „eine dialogische Vorgehensweise (verlangen): monologisch ist nun einmal einer Sache, die zwei Seiten hat, nicht beizukommen und gerecht zu werden“ (S. 131), eine dialogisch verstandene Wahrheit ist „nur in einem „Zwischen“ möglich …: zwischen (mindestens) zweien, die sich um eine überzeugende Begründung bemühen“ (S. 239); PIETH, Beweisantrag, S. 7, 17 zur „Fiktion …, es sei nur eine Person mit der Entscheidungsfindung betraut“ (S. 7, Hervorhebung Demko); KÜHNE, Kommunikationsproblem, S. 11, wo es im Zusammenhang mit der „Anerkennung des nicht länger rechtlosen Individuums“ und dessen Menschenwürde heisst, dass die „Kommunikation … nicht mehr einseitig von den Strafverfolgungsorganen zu dem Beschuldigten (verläuft), sondern auch umgekehrt; das monologische Prinzip des Inquisitionsverfahrens ist abgelöst durch das dialogische des rechtsstaatlich liberalen Strafprozesses“ (Hervorhebung Demko). Siehe auch PIETH, Beweisantrag, S. 7, 17: „im modernen Prozess (ist) eine Vielzahl von Organen und Personen am Entscheidungsprozess beteiligt“ (S. 7), „Fiktion“ (S. 7), zu der synchronen und diachronen Aufteilung des Verfahrens und der Verteilung der Funktionen auf verschiedene Funktionsträger näher S. 17. Siehe dazu etwa WESSLAU, S. 86 ff. zur Unterscheidung zwischen dem monologischen und dem dialogischen Wahrheitsfindungsmodell; siehe zudem die Untersuchungen von Winter/Schuhmann zum monologischen und dialogischen Verfahren, WINTER/SCHUHMANN, S. 535 f.
Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
präsentierenden Weise auf die Parteien verteilt, so bedeutet dies nicht, dass sich der Richter im instruktorischen Strafverfahren aus dem nun einmal (auch hier) bestehenden Wechselverhältnis zwischen den am Strafverfahren beteiligten Menschen sowie aus den sich entgegenstehenden thetischen und antithetischen Erkenntnismomenten völlig herausnimmt oder auch überhaupt nur herausnehmen könnte. Vielmehr wird auch der Richter im instruktorischen Strafverfahren, ob er sich dessen nun bewusst ist oder nicht, durch die (kommunikativen) Handlungen der anderen Verfahrensbeteiligten in seinen eigenen (kommunikativen) Handlungen (mit-)beeinflusst und (mit-)beeinflusst durch seine (kommunikativen) Handlungen wiederum die der anderen Verfahrensbeteiligten. Auch das eigene denkende (und handelnde) Voranschreiten des Richters im instruktorischen Strafverfahren im Laufe des wahrheitsgerichteten Erkenntnisprozesses gestaltet sich in Form eines ständigen Hin- und Herwenden seines Blickes zwischen den sich widersprüchlich entgegenstehenden thetischen Erkenntnismomenten, die für die Strafbarkeit des Angeklagten sprechen, und den antithetischen Erkenntnismomenten, die gegen die Strafbarkeit des Angeklagten angeführt sind.399 Die Verfahrens- und Redeherrschaft des Richters im instruktorischen Strafverfahren und die damit verbundene eine richterliche Sachverhaltshypothese bedeuten mithin keine monologische Wahrheitsermittlung im Sinne eines Sich-Herauslösens (oder auch nur Sich-Herauslösen-Könnens) des Richters zum einen aus dem zwischenmenschlichen Wechselverhältnis zu den anderen Verfahrensbeteiligten und zum anderen aus dem sich thetisch und antithetisch gestaltenden Erkennensvorgang.400 Die Verfahrens- und Redeherrschaft des Richters im instruktorischen Strafverfahren bedeutet allein, dass dem Richter ein grösseres Gewicht und ein grösserer, spezifisch ausgeformter aktiver Einfluss auf den Ablauf und die Gestaltung der Wahrheitsermittlung im Rahmen 399
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Siehe zum dialektischen Denken und Sprechen im Gegensatz zum monologischen auch HEISS, S. 29 f.: keine lineare und deduzierende, sondern eine sich hin und her bewegende Denkbewegung, die „die Gegensätzlichkeit von Rede und Gegenrede hervortreten läβt und … dem Widerspruch einen gröβeren Raum gibt“ (S. 29); MEYER, DIALEKTIK, S. 9 zum Verständnis von „Dialektik oder auch „Dialogik“ …“ (Hervorhebung Demko); siehe zudem WESSLAU, S. 145, wonach die Vorstellung überwunden ist, dass „der Richter … in einem monologischen Verfahren aus den jeder Disposition entzogenen Vorgaben des materiellen Rechts stets die (einzig) „richtige“ Entscheidung ableiten (könne)“; siehe dazu zudem GRASNICK, JZ 1991, S. 290 ff.; JUNG, Richterbilder, S. 13 f. Siehe dazu auch NIEHAUS, ZfRSoz 2003, S. 84 f. mit den Ausführungen zum dialektischen Disput und der Empfehlung von Thomasius von 1713 an die auszubildenden Studierenden, „das „Disputiren durch Frag und Antwort“ zu üben; es sei „die beste und älteste Methode […] die Wahrheit zu erforschen“ und man könne „ohne dieselbe keinen Inquisitions-Proceβ gehörig dirigieren“ …“ (S. 85).
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des bestehenden und auch den Richter einbindenden Wechselverhältnisses zwischen den am Verfahren beteiligten Menschen eingeräumt ist.401 109
Im instruktorischen, adversatorischen und «gemischten» Strafverfahren ist es, wie unterschiedlich die Rollen und Funktionen auf die Verfahrensbeteiligten auch verteilt sind, stets ein Sich-Verhalten in Bezugnahme auf einen anderen Menschen, ist es stets ein Sich-Aufeinander-Beziehen, ist es immer ein „wechselbezügliche(s) Handeln“,402 das das Strafverfahren prägt und dieses als einen kommunikativen und interaktiven Prozess kennzeichnet.403 Nicht, «dass» sich der wahrheitsgerichtete Erkennensvorgang im Strafverfahren in einer durch Wechselbezüglichkeit gekennzeichneten Kommunikation und Interaktion vollzieht, sondern – auch hier wieder404 – allein, «wie» sich diese wechselbezügliche Kommunikation und Interaktion, angeleitet durch die strafverfahrensrechtlichen Regelungen, im Einzelnen gestaltet, unterscheidet die instruktorischen, adversatorischen und «gemischten» Strafverfahren voneinander.405
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Das Moment des dialektisch denkenden Vorrückens in dem strafverfahrensrechtlichen Erkennensprozess auf der Suche nach der Wahrheit einerseits und das kommunikativ-interaktive Moment des Strafverfahrens andererseits zusammenführend, gilt es nun, Folgendes hervorzuheben:
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Es ist (erstens) nicht allein das Kommunikativ-Interaktive an sich und mit diesem das Moment des Wechselbezüglichen als solches, welche genügen, um das Handeln der an der strafprozessualen Wahrheitsermittlung beteiligten Menschen hinreichend zu bestimmen: Nicht nur überhaupt und in irgendeiner beliebigen Weise kommunizieren und interagieren die Verfahrensbeteiligten 401
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Zur Wechselbezüglichkeit des Handeln siehe näher HASSEMER, Grundlagen, S. 126 ff.; siehe zudem JUNG, Richterbilder, S. 13 f., 79 ff., 88 wonach „Richter nicht allein (stehen), auch wenn sie im durchaus wörtlichen Sinne die entscheidende Figur des Prozesses sind“ (S. 13), „Richter (sind) … keineswegs die einsamen Entscheider“ (S. 88). HASSEMER, Grundlagen, S. 126; siehe auch GRASNICK, JZ 1991, S. 292: „… ist zentrales Moment der Dialog als Gespräch zwischen den Parteien und zwischen den Parteien und dem Richter … Der Richter findet die Entscheidung im Dialog und kann sie auch nur auf dieser Grundlage begründen“. PIETH, BEWEISANTRAG, S. 282 ff. zur Interaktion im Strafverfahren und S. 286 ff. zur strafprozessualen Kommunikation. Siehe dazu schon unter Kap. 2 B. 3. Siehe auch PIETH, BEWEISANTRAG, S. 285, wonach „der Richter seine Meinung nur im Dialog bilden kann. Es fragt sich lediglich, im Dialog mit wem.“ (Hervorhebung Pieth); HASSEMER, Grundlagen, S. 138: Unterschiede der Verfahrenstypen „nicht in der Notwendigkeit szenischen Verstehens … Solche Unterschiede finden sich vielmehr in der Art und Weise, wie die Verfahrensrechte das szenische Verstehen ermöglichen und sichern …“ (Hervorhebung Demko).
Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
miteinander sowie nicht nur überhaupt und in irgendeiner beliebigen Weise beziehen sich die am Verfahren Beteiligten wechselseitig aufeinander. Vielmehr fliesst (zweitens) gerade das dialektische Denken in These und Antithese in die dieses Denken umsetzenden (Sprach-)Handlungen selbst ein und zeigt das Strafverfahren – über den Gesichtspunkt hinausgehend, dass es überhaupt ein von Kommunikation und Interaktion geprägter Vorgang ist – in seinem besonderen Charakterzug, ein Vorgang dialektischer (!) Kommunikation und Interaktion zu sein. Im gesamten Strafverfahren, in jedem seiner einzelnen Abschnitte und zwischen allen am Strafverfahren beteiligten und mit jeweils verschiedenen Rollen bzw. Funktionen versehenen Menschen kommt es zu einem permanenten „… Wechsel von „challenge and response“ …“406 Es lässt sich – und es lässt sich auch im Strafverfahren – „nicht nicht kommunizieren“.407 Jede kommunikative Handlung erhält (auch im Strafverfahren) „ihren Sinn nicht nur aus sich selbst, sondern aus einem anderen Handlungsteil, auf den sie sich bezieh(t)“,408 ist Antwort auf eine frühere sowie zugleich Anlass und Frage für eine sich anschliessende kommunikative Handlung.409
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Durch das permanente „Ineinanderwirken gegensätzlicher Auffassungen und Denkrichtungen in Rede und Gegenrede, Frage und Antwort“410 durchziehen der dialektische Charakter des Erkennensprozesses und mit diesem das Moment des Widerspruchs die gesamte Kommunikation und Interaktion im Strafverfahren. Dieser dialektische Charakter der Kommunikation und Interaktion im Strafverfahren ist eine Erkenntnis, die nicht erst neu für unsere heutigen Strafverfahren gilt, sondern die bereits 1842 von Mittermaier hervorgehoben und formuliert wurde:
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„... Es tritt hier ein Zusammenwirken vieler Personen auf die Benutzung der Beweisesquellen ein, und zwar derjenigen, welche nach verschiedenen Interessen, die sie verfolgen, Fragen stellen und Zweifel zu beseitigen suchen. Nicht blos der Präsident und die urtheilenden Richter, sondern auch der Ankläger, der Angeklagte, seine Vertheidiger sind dabei thätig. Während im Interesse der Begründung der Anklage der Staatsanwalt Fragen stellt und für die Herbeischaffung der Beweismittel sorgt, sucht der Angeklagte Alles was für seine Vertheidigung wichtig ist herzustellen, so daβ
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HASSEMER, Grundlagen, S. 126 (Hervorhebung Hassemer). So das bedeutende 1. Axiom von Watzlawick, siehe WATZLAWICK/BEAVIN/JACKSON, S. 51 (Hervorhebung Watzlawick/Beavin/Jackson), siehe näher S. 50 ff. HASSEMER, Grundlagen, S. 126 (Hervorhebung Hassemer); PIETH, BEWEISANTRAG, S. 283 f.: „Dialog als unser leitendes Erkenntnisbild“ (S. 283) und „dialektische Struktur des Prozesses“ (S. 284). Siehe dazu näher und instruktiv HASSEMER, Grundlagen, S. 126 ff. MEYER, Dialektik, S. 78 (Hervorhebung Demko).
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Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung» durch dies Zusammenwirken die Wahrheit vor den urtheilenden Richtern am besten sich darstellt ...“411 115
Dieses Dialektische des Kommunizierens und Interagierens im Strafverfahren ist es, das als innerer Massstab und Richtschnur für die Beurteilung des Vorliegens einer «funktionierenden», einer «wirksamen» Kommunikation und Interaktion im Strafverfahren mit Blick auf die Wahrheitsermittlung fungiert. Nicht, dass überhaupt im Strafverfahren kommuniziert und interagiert wird – d.h., nicht eine Kommunikation und Interaktion um ihrer selbst willen, zu beliebigen Zwecken und auf beliebige Weise –, stellt das dar, was für eine «wirksame» Kommunikation und Interaktion im Strafverfahren genügt und entscheidend ist. Vielmehr ist erforderlich und massgebend, dass die Kommunikation und Interaktion (auch mit Hilfe des Rechts) im Strafverfahren in einer solchen Weise gewährleistet sind, welche gerade den dialektischen Weg zum Erkennen der Wahrheit über den der Strafentscheidung zugrunde zu legenden Sachverhalt der Seins-Wirklichkeit eröffnet und sichert. Anknüpfend an das dialektisch-denkende Vorrücken in These und Antithese bei der Wahrheitsermittlung (auch im Strafverfahren), sind die Kommunikation und Interaktion im Strafverfahren mit Bezug auf eine «wirksame» Kommunikation und Interaktion daher dergestalt auszuformen, dass sie dem dialektisch(-denkend)en Erkennen auch tatsächlich zur praktischen Umsetzung, zur Verwirklichung verhelfen. Für eine «wirksame» Kommunikation und Interaktion ist mit Blick auf die Wahrheitsermittlung im Strafverfahren mithin, und zwar auch mittels des Rechts, dafür Sorge zu tragen, dass die Überführung des dialektischen Denkens in ein auch tatsächlich mögliches dialektisches Handeln, Kommunizieren und Interagieren im Strafverfahren gewährleistet ist. 6.
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Zusammenfassung
In den vorangehenden Darstellungen ist der Blick auf den Wahrheitsermittlungsweg als solchen vertieft und es sind dazu ausgewählte wesensbestimmende Elemente und Kennzeichen des strafverfahrensrechtlichen Erkenntnisverfahrens, und zwar auch hinsichtlich ihrer Relevanz für ein faires, dem Angeklagten eine wirksame Verteidigung ermöglichendes Strafverfahren, näher untersucht worden. Das Strafverfahren konnte als ein zeitlich und sachlich dynamisches Verfahren ausgewiesen werden, das durch die Momente des Werdens und des Unfertigen gekennzeichnet ist und sich als ein durch Finalität geprägter sowie als ein gesteuerter Handlungsvorgang zeigt. Mit Bezug auf die enge Verbindung von objektivem und subjektivem Moment des straf411
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MITTERMAIER, Archiv des Criminalrechts 1842, S. 106 (Hervorhebung Demko); dazu auch KÄSSER, S. 26 f.
Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
verfahrensrechtlichen Erkenntnisverfahrens ist auch für die Wahrheitsermittlung im Strafverfahren betont worden, dass sich die (im Strafverfahren zu findende) Erkenntnis und das zu dieser hinführende (strafverfahrensrechtliche) Erkenntnisverfahren nur mit und durch, nicht jedoch ohne Erkenntnissubjekte(n) denken lassen. Damit in einem Zusammenhang stehend, konnte zudem gezeigt werden, dass der an das Strafverfahren gestellte normative Anspruch auf Objektivität des wahrheitsgerichteten Erkenntnisverfahrens – aufgrund dessen, dass ein Strafverfahren ein subjektbezogenes, weil von Menschen als Erkenntnissubjekten geführtes Erkenntnisverfahren ist – auf dem Wege einer Vermittlung durch die verfahrensbeteiligten Erkenntnissubjekte zu verwirklichen ist. Ein Strafverfahren hat sich in Bezug auf die Festlegung des der abschliessenden Strafentscheidung zugrunde zu legenden wahren strafrechtlichen Sachverhaltes im Laufe seines gesamten Wahrheitsermittlungsprozesses bis zur verfahrensabschliessenden Entscheidung die es kennzeichnenden Momente der Offenheit und der damit einhergehenden Unfertigkeit zu bewahren. Damit steht in Verbindung, dass das Recht durch entsprechende normative Regelungen dafür Sorge zu tragen hat, dass dem Moment des Zweifelbehafteten und dem Erfordernis der Offenheit des Erkenntnisverfahrens bei der Wahrheitsermittlung im Strafverfahren ein hinreichender Raum eingeräumt ist. Dies bedeutet und verlangt mit Blick auf aufzuzeigende Anknüpfungspunkte für eine wirksame Verteidigung des Angeklagten im Strafverfahren, dass das Recht auch dem Angeklagten normative Befugnisse zum Einbringen-Können von Zweifeln an der gerichtlichen Wahrheitsermittlung und an den vom Gericht gefundenen (Zwischen- und End-)Erkenntnissen zuweist.
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Weitere Anknüpfungspunkte für eine wirksame Verteidigung des Angeklagten im Strafverfahren sind herausgearbeitet worden, welche mit dem Moment des Rückschliessens bei der strafprozessualen Wahrheitsermittlung zusammenhängen. Die Wahrheit über das der vergangenen Seins-Wirklichkeit angehörende Sachverhaltsgeschehen lässt sich nur unter Anbindung an die im Strafverfahren vorhandenen Erkenntnismittel – die Beweismittel als Wissensträger – ermitteln, von denen ausgehend sodann auf das Geschehen der vergangenen Seins-Wirklichkeit zurückzuschliessen bzw. zurückzuschlussfolgern ist. Diese Beweismittel als Wissensträger müssen in einer ersten Phase überhaupt erst einmal korrekt erschlossen werden und als im Sinne des Strafverfahrensrechts verwertbare Informationsquellen zustandekommen, während die folgende zweite Phase das richtige Verstehen und Interpretieren dieser Wissensträger zum Gegenstand hat und es hier zu dem geistigen Prozess des Rückschliessen von den Wissensträgern auf einen der vergangenen SeinsWirklichkeit angehörigen Sachverhalt kommt. Beide Phasen zeigen Anknüpfungspunkte für eine wirksame Verteidigung des Angeklagten im strafprozessualen Beweisverfahren auf, wonach der Angeklagte in der ersten Phase
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Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
an dem Zustandekommen von noch «unfertigen» Beweismitteln – wie es die persönlichen Beweismittel und hier insbesondere die Zeugenbeweismittel sind – zu beteiligen ist und dem Angeklagten in der zweiten Phase eine wirksame Einflussnahme auf den, wenn auch letztverantwortlich in den Händen des Gerichts liegenden (Be-)Wertungs- und Würdigungsprozess der (Zeugen-) Beweismittel – und auf den damit verbundenen geistigen Rückschliessungsprozess – einzuräumen ist. 119
Nicht zuletzt bilden sich weitere Anknüpfungspunkte für eine wirksame Verteidigung des Angeklagten im Strafverfahren im Zusammenhang mit dem dialektischen Charakter der strafprozessualen Wahrheitsermittlung aus. Das Strafverfahren stellt sich als ein dialektischer wahrheitsgerichteter Erkenntnisrahmen dar, der sich durch das zwingende Erfordernis von These und Antithese auszeichnet. Zudem prägt sich ein Strafverfahren als ein Kommunikations- und Interaktionszusammenhang aus, was verdeutlicht, dass sich das dialektische Rekonstruieren des in Frage stehenden vergangenen SeinsWirklichkeitsausschnitts «in Kommunikation und Interaktion» der am Rekonstruktionsprozess Beteiligten vollzieht. Verwiesen ist damit zugleich auf den grundlegenden Charakterzug des Strafverfahrens – und zwar des Strafverfahrens sowohl instruktorischen als auch adversatorischen Charakters und nicht zuletzt ebenso des Strafverfahrens «gemischten» Charakters, wie er die internationalen Strafverfahren kennzeichnet –, ein Vorgang dialektischer (!) Kommunikation und Interaktion zu sein: Das dialektische Denken in These und Antithese fliesst danach in die dieses Denken praktisch verwirklichenden dialektischen (Sprach-)Handlungen selbst ein und mit Blick auf eine für eine Wahrheitsermittlung «wirksame» Kommunikation und Interaktion ist (auch mit Hilfe des Rechts) dafür zu sorgen, dass das dialektische Denken in ein auch dialektisches Handeln, Kommunizieren und Interagieren im Strafverfahren Eingang findet.
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Mit Blick auf die wirksame Verteidigung der Angeklagten im Strafverfahren gilt es im Zusammenhang mit dem dialektischen Charakter der strafprozessualen Wahrheitsermittlung nun zu beachten, dass der Angeklagte nicht nur überhaupt in den (äusseren) Erkenntnisrahmen, wie er sich in Gestalt des Strafverfahrens zeigt, eingestellt ist, sondern dass dem Angeklagten innerhalb dieses dialektischen wahrheitsgerichteten Erkenntnisrahmens das Moment des Gegengewichts und mit diesem das dialektische Teilerfordernis der Antithese zugewiesen ist: Mit dieser dem Angeklagten im Strafverfahren zugewiesenen Antithese stellt er sich mithin in dialektisch-erkenntnistheoretischer Hinsicht der strafverfolgenden These der anklagenden Seite entgegen, d.h. es kommt innerhalb des dialektischen wahrheitsgerichteten Erkenntnisprozesses dem Angeklagten und seiner Verteidigung zu, ein sich gegen die strafverfolgende These der anklagenden Seite stellendendes antithetisches Gegengewicht auszuformen. Ist mit dem dialektischen Charakter des Strafverfahrens 96
Kapitel 2: Fairness und «Menschenrecht auf Verteidigung»
das Erfordernis einer der anklagenden Seite zukommenden These und einer der angeklagten Seite zukommenden Antithese aufgezeigt, so ist mit diesem dialektischen Charakter selbst jedoch noch nicht die Frage nach einem «Menschenrecht des Angeklagten auf Antithese» beantwortet, sondern die diesbezügliche Antwort steht in einer Verbindung mit einem weiteren, ein «gerechtes» Strafverfahren auszeichnenden und die prozedurale Gerechtigkeitskomponente ansprechenden Gesichtspunkt in Gestalt des Menschenwürdeschutzes und der daraus folgenden Prozesssubjektivität der Verfahrensbeteiligten und hier auch speziell des Angeklagten.412
412
Siehe dazu näher in den folgenden Kap. 3 und 4.
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Kapitel 3 Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht A.
Fairness des Strafverfahrens als das an das Strafverfahren als «Gesamtheit» angelegte Verfahrensprinzip auf höchster Ebene
I.
Fairness des Strafverfahrens als Ganzheitsbegriff
Auf der Suche nach dem Bedeutungsgehalt des Wortes «Fairness» führt die etymologische Herkunft dieses Wortes zur Wortwurzel des altenglischen faeger und des altsächsischen fagar – was soviel wie schön, lieblich bedeutet –, an welche durch das Mittelenglische und frühe Neuenglische weitere Inhalte – wie etwa prächtig und frei von Makel, aber auch hellfarbig und blond – geknüpft wurden.413 In der Bedeutung als Fairplay, in welcher der Fairnessbegriff auch heute im Bereich des Sports verwendet wird, ist jener Begriff in Gestalt eines Antonyms, nämlich der Ächtung eines fowl play, auch bereits mit altenglischen Tunierregeln des 15. Jahrhunderts in Verbindung gesetzt.414 Eine Vielzahl an Wortbedeutungen wird heute mit dem Wort «Fairness» in der Alltagssprache und bei dem Versuch einer Übersetzung dieses, seinen Ursprung im Englischen und Amerikanischen findenden Begriffs verknüpft.415 Folgende Bedeutungen seien beispielhaft genannt: sich an die Spielregeln haltend, den Regeln entsprechend, ehrlich, anständig, gerecht, begründet, berechtigt, recht und billig, vernünftig, ehrenhaft, einwandfrei, vorbildlich, aber auch schön, blond, rein und sauber.416 413 414
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STUDER, S. 10 mit weiteren Ausführungen. STUDER, S. 10 mit weiteren Nachweisen; JUNG, Festschrift Lüke, S. 325 f. zu den Anleihen beim und den Assoziationen mit dem sportlichen Wettbewerb bzw. sportlichen Wettkampf. Siehe dazu näher STUDER, S. 11: Das Wort fair tauchte ab dem 19. Jahrhundert im Bereich der Sports auf, und zwar im Zusammenhang mit dem amerikanischen Baseball, dem englischen Cricket und später dem Fussball. Siehe dort auch zum FairnessBegriff als einem „besonderen englisch-amerikanischen und weiten Begriff“ (S. 11). Siehe zu diesen und weiteren Bedeutungen, die mit dem Fairness-Begriff verknüpft sind etwa Duden Oxford, S. 1128; ROMAIN/BADER/BYRD, S. 312 f.; HAASE, S. 21; HOFFMANN, Verfahrensgerechtigkeit, S. 35; HEUBEL, S. 63 f.; TETTINGER, S. 4, 52; MINELLI, S. 31.
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Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht 122
Die spezielle Verbindung des Fairnessbegriffs nun mit dem (Gerichts-)Verfahren, insbesondere mit dem Strafverfahren fand entsprechend der Herkunft jenes „englisch-amerikanischen“417 Begriffs ebenso im anglo-amerikanischen Rechtskreis seinen Ursprung und der Begriff «fair trial» setzte sich dort als ein dem Recht zugehörender Begriff in gefestigter Tradition durch.418 Weder die Wortwurzel noch die allgemeine Wortbedeutung, die dem Fairnessbegriff im Englischen sowie in Übersetzungen in anderen Sprachen – in denen der Fairnessbegriff als ein „Kunstwort“419 erscheint – zugeordnet wird, genügen jedoch, um dem im speziell strafverfahrensrechtlichen Kontext verwendeten Fairnessbegriff eine klare und genaue Inhaltsbestimmung zu geben.420 Zwar hat die Verknüpfung jenes Begriffs mit dem (Straf-)Verfahren im angloamerikanischen Rechtsraum eine lange und gefestigte Tradition. Die Übernahme nicht nur jenes Begriffs an sich, sondern auch der mit diesem verbundenen Inhalte für das kontinental-europäische Verfahren wird hingegen häufig als fremd empfunden, sind aufgrund der spezifischen Ausgestaltung des anglo-amerikanischen Strafverfahrens als Parteiverfahren doch bestimmte Merkmale und Elemente des Strafverfahrens zugleich auch mit dem Fairnessbegriff an sich verbunden worden, welche es in dieser Form aufgrund des sich in anderer Weise ausgestaltenden richterzentrierten Strafverfahrens im kontinental-europäischen Rechtsraum nicht gibt. Neben Versuchen einer Vermeidung der Verwendung des Fairnessbegriffs und des Ersatzes des Fairnessbegriffs durch Synonyme – indem etwa von einem Verfahren gesprochen wird, das justizförmig, rechtsstaatlich, richtig, gehörig, billig oder gerecht zu sein hat421 – setzt(e) sich der Fairnessbegriff – trotz seines Ursprungs im angloamerikanischen Rechtskreis und trotz aller Kritik an jenem als zu vage, unbestimmt und weich angesehenen Begriff – dennoch sowohl für nationale Strafverfahrensordnungen kontinental-europäischer Rechtstradition als auch auf der Ebene des internationalen Strafverfahrensrechts sowie zudem in interna-
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STUDER, S. 11; siehe auch HOFFMANN, Verfahrensgerechtigkeit, S. 34 f.: „des dem angelsächsischen Sprachraum entlehnten Begriffs“; JUNG, Festschrift Lüke, S. 323; MÜLLER-DIETZ, ZStW 1981, S. 1206; DRUEY, recht 1998, S. 138. Siehe dazu näher HAAS, S. 21; DÖRR, S. 5; TETTINGER, S. 2 f.; GALLIGAN, S. 167 ff., 171. STUDER, S. 11 (Hervorhebung Studer). Siehe auch RENZIKOWSKI, Festschrift Lampe, S. 791: „uferlose(n) Weite des Fairneβprinzips, dem sich offenbar nur schwer feste Konturen verleihen lassen“; MÜLLERDIETZ, ZStW 1981, S. 1206; TRECHSEL, ZStrR 1979, S. 376, 382 zur Unbestimmtheit des Fairnessbegriffs. Siehe dazu HOFFMANN, Verfahrensgerechtigkeit, S. 34 mit weiteren Nachweisen; HEUBEL, S. 64 ff.; KOHLBACHER, S. 12, 23; RADBRUCH, Geist des englischen Rechts, S. 21; MINELLI, S. 31; MILEJ, S. 85.
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
tionalen und regionalen Menschenrechtsinstrumenten als ein an das Strafverfahren anknüpfender Rechtsbegriff durch.422 Um der „geringsten Verluste an Authentizität“423 willen hat die unveränderte Übernahme als Anglizismus den Fairnessbegriff zu einem auch der deutschen Rechtssprache eigenen Begriff werden lassen,424 wozu bereits Radbruch feststellte:
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„… Schon beginnt aber ,fair‘ ein in die deutsche Sprache aufgenommenes Fremdwort zu werden, dessen vielfältige Bedeutungen auch für uns zu vielfältig nuancierter Einheit sich verbinden …“425
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Die Übernahme des Fairnessbegriffs in die deutsche Rechtsterminologie darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass jener Begriff in dessen Verknüpfung mit dem kontinental-europäischen Strafverfahren – begründet durch dessen andere Verfahrensstruktur im Vergleich zum anglo-amerikanischen Strafverfahren – mit zum Teil anderen Inhalten gefüllt wird bzw. andere Merkmale und Elemente des (kontinental-europäischen) Strafverfahrens betont werden, welche es aus der spezifisch kontinental-europäischen Sicht für die Fairness des Strafverfahrens zu beachten gilt. Führt die sich durchsetzende Verwendung des Fairnessbegriffs für den strafverfahrensrechtlichen Kontext zwar nicht gleichsam automatisch zur Erhellung von dessen, noch dazu weltweit einheitlichen Inhalt und wird der strafverfahrensrechtliche Fairnessbegriff auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene auch mit teils übereinstimmenden, teils ähnlichen, teils unterschiedlichen Inhalten ausgefüllt, so ist aber dennoch als einheitsstiftendes Moment die Anknüpfung des Fairnessbegriffs an das Strafverfahren selbst, an das Strafverfahren als «Ganzes» bzw. als «Gesamtheit» zu erkennen. Jene scheinbar selbstverständlich und logisch klingende Aussage gilt es hervorzuheben, und zwar gerade mit Blick auf die in dieser Abhandlung untersuchte und hier differenzierende Frage nach der Fairness als höchstes Verfahrensprinzip einerseits und als Menschenrecht (hier speziell als Menschenrecht des Angeklagten) andererseits. Denn ist der Fairnessbegriff in dessen Bedeutung als höchstes Verfahrensprinzip mit einer
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Siehe dazu näher unter Kap. 3 B. III.; siehe auch den Hinweis von BOROWSKY, in: MEYER, Charta der Grundrechte, Art. 47 N 34: Erfordernisse des aus dem angloamerikanischen Rechtskreis entlehnten fairen Verfahrens seien „weder definiert noch konkretisiert“; BISCHOFBERGER, S. 90, wonach eine Definition schwierig, aber die „deutsche Uebersetzung mit „billiges Verfahren“ … zu eng und wenig aufschlussreich“ sei; dazu auch MILEJ, S. 85. TETTINGER, S. 4; dazu auch RZEPKA, S. 267. Siehe dazu etwa HAASE, S. 21; HOFFMANN, Verfahrensgerechtigkeit, S. 35 f.; dazu auch HEUBEL, S. 34; KOHLBACHER, S. 23; siehe auch SANDERMANN, S. 12, 14 zur Gefahr von „Sinnveränderungen“ (S. 12) bei Übersetzungen; DRUEY, recht 1998, S. 138: „unübersetzbar“. RADBRUCH, Geist des englischen Rechts, S. 21; siehe dazu auch HEUBEL, S. 27.
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Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
Ganzheitsebene – dem Strafverfahren selbst als «Ganzes», als «Gesamtheit» – in Verbindung gesetzt, so wird der Fairnessbegriff in dessen Bedeutung als Menschenrecht mit einem Teil dieses Ganzen – und betrachtet aus einer individualisierenden und hier individual-menschenrechtsschützenden Sicht dieses Teils auf das «Ganze» – verknüpft426 und mit jenem Teil des Ganzen formt sich wiederum ein spezifischer Inhalt, ein spezifisch inhaltlicher Teilaspekt eines fairen Strafverfahrens aus.427 126
Der Fairnessbegriff in dessen Anknüpfung an das Strafverfahren selbst erweist sich als eine Qualität, ein Wertprädikat, das dem Verfahren als solchem im Sinne einer sich aus einer Vielzahl unterschiedlicher «Teile», Einzelmomente und Formelemente zusammensetzenden dynamischen Gesamtheit bzw. Ganzheit zuzuschreiben ist. In diesem Sinne betrachtet lässt sich der Fairnessbegriff mit Blick auf dessen Bedeutung als höchstes Prinzip des Verfahrens selbst als ein Ganzheitsbegriff erkennen, der zur Beschreibung einer Qualität, eines Wertes zu verwenden ist, welche/welcher sich mit eben jener Ganzheit des Strafverfahrens – und nicht nur bezogen auf einen bestimmten spezifisch-inhaltlichen Teilaspekt des Ganzen – verknüpft.428
II.
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Fairness des Strafverfahrens als normativer Wert(ungs)begriff und auf Optimierung und Ausgleich ausgerichteter Lösungsbegriff
In Fortführung und Konkretisierung der Bezeichnung der Fairness als ein zu den „Wertwörter(n)“429 gehörendes Wort, ist «Fairness» (auch) in deren Anwendung auf den strafverfahrensrechtlichen Kontext ebenso wie «Gerechtigkeit» als ein sich auf einer hohen Abstraktionsebene befindendes «wertgefüll426
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Siehe zur individual-menschenrechtsschützenden Sicht der EMRK und des EGMR auf das faire Strafverfahren näher unter Kap. 3 B. III. 1. b) cc). Siehe zu den spezifischen Inhalten, die sich mit dem Menschenrecht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren verbinden, näher unter Kap. 3 B. III. 1. b) cc) und Kap. 4. Siehe zum Verfahrensbegriff auch RÖHL, ZfRSoz 1993, S. 2 f.; siehe zudem DRUEY, recht 1998, S. 139 mit den Hinweisen auf die „in der Auseinandersetzung zu verwendenden Mittel“. STUDER, S. 9 (Hervorhebung Studer) mit Bezugnahme auf den englischen Sprachanalytiker Hare; siehe auch WIEDERKEHR, S. 1: Fairness als „prozeduraler Wert“ (Hervorhebung Demko); HAMM, Festschrift Salger, S. 274: „metarechtlichen Wert“; TAMMELO, Philosophie der Gerechtigkeit, S. 23, 40: Treffen von Gerechtigkeitsurteilen bei Vorhandensein eines entsprechenden „Wertgefühl(s)“ (S. 23), Auffassung der Gerechtigkeit als ein „Wert“ (S. 40), der „nicht in einem Sachverhalt gefunden werden kann, sondern vielmehr in vorherrschenden Einstellungen, vor allen jener, die über Fachkunde, Einsicht und Redlichkeit verfügen“ (Hervorhebung Tammelo).
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
tes und wertfüllendes» Wort zu erkennen:430 «Wertgefüllt», da in den strafverfahrensrechtlichen Fairnessbegriff vielzählige unterschiedliche Einzelwerte einfliessen,431 welche einzelne Facetten und Aspekte eines fairen Strafverfahrens bezeichnen und den Fairnessbegriff auf diese Weise inhaltlich konkretisieren und ausformen,432 weshalb jene Einzelwerte im Folgenden als inhaltsbestimmende «Formelemente» der strafverfahrensrechtlichen Fairness bezeichnet werden sollen. «Wertfüllend», weil der Fairnessbegriff – welcher ein «Mehr» ist als die blosse Summe seiner Teile,433 mithin ein «Mehr» als die reine Nebeneinanderstellung und Addition der ihm zugeordneten Einzelwerte – selbst einen eigenen Wert auf höchster Ebene, und zwar einen übergreifenden und das Gesamte des Strafverfahrens ansprechenden und ausdrückenden «Ganzheits-Wert» für das Strafverfahren bestimmt und «füllt». Jenes Wertgefüllt- und Selbst-Wertfüllend-Sein des Fairnessbegriffs ist zugleich im Zusammenhang mit dessen Charakter als ein normativer Begriff zu erkennen: Nicht die deskriptive Beschreibung dessen, was ist, sondern ein Sollensanspruch – und zwar nicht nur ein solcher, der nur der Philosophie zugehörende Sollensnormen, sondern vielmehr ein solcher, der dem Gebiet des Rechts zugehörende rechtsverbindliche Mussnormen für das Strafverfahren aufstellt – ist mit dem strafverfahrensrechtlichen Fairnessbegriff verbunden: Ein Anspruch, wie aus Sicht der jeweiligen (Straf-)Rechtsgemeinschaft ein Strafverfahren in seinen einzelnen Teilen sowie in seiner Gesamtheit «zu sein hat», um als ein von der jeweiligen Rechtsgemeinschaft anerkanntes Verfahren für eine soziale Konfliktbeilegung mit dem ultima ratio-Mittel des Strafrechts434 angesehen und akzeptiert zu werden. Gemeint ist eine Anerkennung, welche mit dem Wert, ein «gerechtes» Strafverfahren zu sein, in Verbindung zu setzen ist. Tatsächlich findet sich ein solches Zusammenbringen des Begriffs der «Fairness» mit dem der «Gerechtigkeit», wenn auch in unterschiedlicher Formulierungsweise sowie inhaltlicher Ausformung und Deut-
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Dazu etwa DEMKO, Festschrift Riklin, S. 359; HAMM, Festschrift Salger, S. 274. MÜLLER-DIETZ, ZStW 1981, S. 1208: „Sammelbecken für eine ganze Reihe von Schutzgarantien zugunsten des Beschuldigten“. Siehe schon RADBRUCH, Geist des englischen Rechts, S. 21 dazu, dass sich das Wort Fairness nicht in die ihm zugeschriebenen Bedeutungen auflösen lässt: „vielmehr verschmelzen sie in ihm, es bedeutet nicht bald das Eine bald das Andere, alle seine Bedeutungen schwingen bei jedem Gebrauch des Wortes gleichzeitig mehr oder minder mit“, was die Bedeutung der Fairness als eines umfassenden bzw. Oberbegriffs erkennen lässt. Dazu schon DEMKO, Festschrift Riklin, S. 361: kein „rein logisches Summenspiel im Sinne „1+1=Fairness“ …“ Gemeint im weiten Sinne, das eigentliche materielle Strafrecht und das Strafverfahrensrecht erfassend.
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Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
lichkeit,435 in sich mit dem (strafverfahrensrechtlichen) Fairnessbegriff auseinandersetzenden Abhandlungen, in denen der Fairnessbegriff einmal insbesondere mit der sogenannten Verfahrensgerechtigkeit oder prozeduralen Gerechtigkeit verknüpft oder gar gleichgestellt wird,436 das andere Mal aber auch das notwendige Einfliessen der materiellen und prozeduralen Gerechtigkeitskomponenten in den Fairnessbegriff erkennbar wird.437 Zu lesen ist zudem von Gegenüberstellungen438 von «Fairness» und anderen, an das Strafverfahren angelegten Begriffen, wie insbesondere dem Begriff der «Effizienz», indem die Strafjustiz „im Spannungsfeld von Effizienz und Fairness“439 betrachtet wird, und der «Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege».440 Lassen sich Fairness und Gerechtigkeit(skomponenten) in Verbindung,441 in ein Verhältnis oder vielleicht sogar in eine Gleichsetzung bringen,442 so wird an anderer Stelle aber auch von einer Abgrenzung des Fairnessbegriffs von dem 435
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Siehe etwa KOHLBACHER, S. 23 f., 26, wonach betreff der Idealvorstellung eines fair trial „die Worte gerechtes und rechtsstaatliches Verfahren verwendet“ (S. 24, Hervorhebung Demko) werden können; WIEDERKEHR, S. 1, 3: Fairness als „Massstab für ein gerechtes Verfahren“ (S. 1, Hervorhebung Demko), „Fairness als Anspruch auf ein gerechtes Verfahren“ (S. 1, Hervorhebung Demko), „… als gerecht beurteilt und als fair akzeptiert …“ (S. 3), „Fairness … als Fundament eines gerechten Verfahrens …“ (S. 3, Hervorhebung Demko); SCHAERZ, S. 52 zur „Grundlage der Gerechtigkeit“; BGE 113 Ia 412, S. 421: „Grundsatz des fairen oder gerechten Verfahrens“. Siehe dazu die Ausführungen etwa von RÖHL, ZfRSoz 1993, S. 1 ff.; RÖHL, Procedural Justice, S. 1 ff.; HOFFMANN, Verfahrensgerechtigkeit, S. 34 ff.; TETTINGER, S. 580 ff.; DÖRR, S. 5 ff., 50 ff., 60 ff.; siehe zur Fairness und ihrer oft als Synonym stehenden Bezeichnung als due process etwa JUNG, Festschrift Lüke, S. 328 f.; zur Vergleichbarkeit mit den Begriffen due process und natural justice siehe etwa DÖRR, S. 73; RZEPKA, S. 277 ff. Zur Beachtung von materieller und prozeduraler Gerechtigkeitskomponente für ein faires Strafverfahren siehe bereits unter Kap. 2 A. sowie unter Kap. 3 A. III. Siehe auch RZEPKA, S. 242: „Gegenrechten und -interessen“. So der entsprechende Titel des Buches von Eser/Rabenstein: „Strafjustiz im Spannungsfeld von Effizienz und Fairness …“; siehe dazu auch etwa MILEJ, S. 259 ff. Zur Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege als „ein neuer Rechtsbegriff?“ (S. 275) instruktiv HASSEMER, StV 1982, S. 275 ff; RZEPKA, S. 238 f., 242: „konkurrierende“ (S. 239). Siehe dazu auch die instruktiven Ausführungen von BERKEMANN, JR 1989, S. 221 ff., in denen die Verbindungen von Fairness und Gerechtigkeit, und zwar materieller und prozeduraler Gerechtigkeit untersucht werden: „der Gedanke der Fairneβ eine gerechtigkeitsprägende Bedeutung besitzt“ (S. 222), zur nötigen Beachtung von materieller und prozeduraler Gerechtigkeit siehe insbesondere S. 224, 226; zur Verbindung von „Gerechtigkeit und Fairneβ im Verfahren“ (S. 317) siehe auch BIERBRAUER, Gerechtigkeit, S. 317 ff. Siehe zur Frage der bedeutungsmässigen Gleichsetzung von Fairness und Strafgerechtigkeit unter Kap. 3 A. III.
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
Gerechtigkeitsbegriff gesprochen: Beziehe sich Gerechtigkeit als ein „Zustandswert“443 in seiner sprachlichen Verwendung auf eine sich auf statische Gegenstände beschränkte „ethische(n) Zustandsbeschreibung“444 und „sittliche(n) Qualifizierung des Ergebnisses“,445 findet der Fairnessbegriff Anwendung für die „ethische(n) Ausgestaltung eines Entwicklungsvorganges“,446 mithin für einen zu beschreibenden Gegenstand, dem, wie dem (Straf-)Verfahren, eine „innere Bewegung, ein dynamisches Moment“447 eigen ist. Weitere inhaltliche Zuordnungen werden mit dem Fairnessbegriff verknüpft, welche einmal als Elemente, (Bestand-)Teile, „Teilaspekte“448 des «Oberbegriffs Fairness» herausgearbeitet sind, von denen es das andere Mal aber auch scheint, als würde versucht, den weiten und abstrakten449 obersten Wertbegriff der Fairness auf die Bedeutung eines seiner Teile selbst zu reduzieren.450 Als mit der Fairness verbundene Elemente, Aspekte oder Grundzüge werden etwa Fairness und Waffengleichheit,451 Fairness und Legitimität,452 Fairness und (oder auch «als») Teilhabe,453 Fairness und (oder auch «als») Verfassungsprinzip oder -grundsatz454 sowie Fairness und (oder «als») Verfahrens443 444
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TAMMELO, Philosophie der Gerechtigkeit, S. 23. HOFFMANN, Verfahrensgerechtigkeit, S. 37 mit weiteren Ausführungen und Nachweisen. HOFFMANN, Verfahrensgerechtigkeit, S. 37. HOFFMANN, Verfahrensgerechtigkeit, S. 37. HOFFMANN, Verfahrensgerechtigkeit, S. 37. MATT, S. 21 (hier kursive, im Original fettgedruckte Hervorhebung). Siehe auch BERKEMANN, JR 1989, S. 222 ff.: „Fairneβ ist kein abgeschlossener, sondern ein vager, ein offener Begriff“ (S. 222), Fairness als „ungeschriebener Nothelfer unseres Prozeβrechts … innere Grund, warum Fairneβ als Grundsatz des fairen Verfahrens letztlich .. unbestimmt bleiben muβ … Fairneβ als Rechtsprinzip (kann) konstruktiv nur die Funktion einer Superauslegungsmaxime einnehmen …“ (S. 226), „(a)ngesichts dieser offenen Struktur wird es also kein Handbuch geben, in dem man abschlieβend nachlesen kann, was der genaue Inhalt von Fairneβ als Rechtsprinzip ist …“ (S. 228). Siehe auch der Hinweis von JUNG, Festschrift Lüke, S. 324 zur vielfachen synonymen Verwendung; RZEPKA, S. 190 f. zur uneinheitlichen Begriffsverwendung: „Ein gemeinsamer Nenner ist nicht erkennbar“ (S. 190). Siehe etwa KOHLBACHER, S. 25 ff.; TETTINGER, S. 22 ff.; dazu auch JUNG, Festschrift Lüke, S. 333 f.; RZEPKA, S. 186: „Aspekt“. Siehe etwa VIDMAR, ZfRSoz 1993, S. 45: „Faire Verfahren und faire Behandlung seien für die Entwicklung von Legitimität erforderlich …“; siehe zudem die Untersuchung und den Titel der Untersuchung von MACHURA: «Fairneβ und Legitimität». Siehe etwa den Titel der Abhandlung von GAEDE: «Fairness als Teilhabe». Siehe etwa SALADIN, S. 41 ff. mit dem Titel seiner Abhandlung «Das Verfassungsprinzip der Fairness»; siehe auch den Titel der Abhandlung von WIEDERKEHR: «Fairness als Verfassungsgrundsatz»; siehe auch BGE 122 V 166, S. 167: „Verfassungsprinzip der Fairness“.
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Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
bzw. prozedurale Gerechtigkeit455 genannt. Zudem wird der Fairnessbegriff unterschiedlichen, am Strafverfahren in irgendeiner Weise beteiligten oder von diesem betroffenen Menschen – zumeist dem Angeklagten,456 aber auch den Opfern oder Zeugen457 – zugeordnet. Versuche, den «Oberbegriff Fairness» um seiner besseren Bestimmbarkeit und Fassbarkeit willen in eine «kleine konkrete Form», d.h. in die Bedeutung eines seiner (Bestand-)Teile zu wandeln (bzw. besser: zu «pressen»), übersehen jedoch, dass der Fairnessbegriff zwar aus konkreten Form- und Strukturelementen besteht, jedoch diese nicht gleichsam «ist». Dies heisst, dass bei der Suche nach der Bedeutung des strafverfahrensrechtlichen Fairnessbegriffs dieser selbst nicht auf die Bedeutung einzelner seiner Teile reduziert werden darf, womit zu dem Verhältnis zwischen dem «obersten Wertbegriff Fairness» und seinen (Bestand-) Teilen, seinen Formelementen übergeleitet ist.458 129
So sehr es wichtig, unerlässlich und zu begrüssen ist, mit dem strafprozessualen Fairnessbegriff zusammenhängende Formelemente herauszuheben und zu konkretisieren, so wichtig ist es auch, diese zugleich in ihrer Wesenheit als «nur» (Bestand-)Teile, Elemente des übergeordneten Oberbegriffs Fairness zu erkennen.459 Formelemente, die jeweils einen eigenen spezifischen inhaltlichen Teilaspekt eines fairen Strafverfahrens ausformen und welche in ihrem Wechselspiel mit den anderen Formelementen in einen Ausgleich miteinander zu bringen sind. Als ein ebensolches inhaltsbestimmendes Formelement, das mit der Fairness des Strafverfahrens als notwendige, aber jeweils allein 455
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Siehe dazu etwa die Untersuchungen von SCHMIDT, ZfRSoz 1993, S. 89 ff.; RÖHL, ZfRSoz 1993, S. 1 ff.; VIDMAR, ZfRSoz 1993, S. 35 ff.; LIND, ZfRSoz 1994, S. 24 ff.; KAUFMANN, Festgabe Opałek, S. 191 ff.; RÖHL, Procedural Justice, S. 1 ff.; TSCHENTSCHER, Function, S. 105 ff.; HOFFMANN, Verfahrensgerechtigkeit, S. 34 ff., 103 ff.; RAISER, S. 214 ff. mit weiteren Angaben. Art. 6 EMRK betrachtet die Fairness des Strafverfahrens aus individual-menschenrechtsschützender Sicht unter Anbindung an den Angeklagten, dem ein (Menschen-) Recht auf ein faires Strafverfahren gegeben ist, welches in eine Vielzahl unterschiedlicher Einzelrechte ausdifferenziert ist, siehe dazu näher unter Kap. 3 B. III. 1. b) cc). Siehe etwa BOCK, S. 441: effektive Wahrnehmung ihrer Interessen durch die Opfer als ein „Gebot des Fair-trial-Grundsatzes“ (Hervorhebung Bock), „faires Verfahren muss den Interessen aller Beteiligter – des Beschuldigten, des Anklägers und der Opfer – gerecht werden“. Siehe auch TETTINGER, S. 56 zur Fairness als „… verfassungskräftige verfahrenswirksame Maxime …“, bezüglich der es nahe liege „… einzelne in Prozeβordnungen … gesetzlich fixierte Direktiven im Lichte dieser Maxime auszulegen“ (Hervorhebung Demko). Siehe auch GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 196: „Oberbegriff“; RZEPKA, S. 321: „Oberbegriff“; SCHROEDER, GA 2003, S. 294: „Recht auf ein fair trial als übergreifend und die übrigen in Art. 6 EMRK vorgesehenen Einzelrechte als dessen Ausfluss“.
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nicht hinreichende Voraussetzung für eines fairen Strafverfahren in Verbindung steht, werden (beispielsweise) angesehen die Teilnahme des Angeklagten am Strafverfahren – wozu etwa sein rechtliches Gehör und die vielzähligen spezifischen Verteidigungsrechte zählen –,460 die Waffengleichheit, ein unabhängiges und unparteiliches Gericht, die Wahrung der Unschuldsvermutung, aber auch der Opfer- und Zeugenschutz. Ohne diese (hier nicht abschliessend genannten) Formelemente wird ein Strafverfahren heute nicht als fair bewertet und doch genügt nicht schon eines dieser Formelemente allein, um ein Strafverfahren als fair zu erkennen. Der «grosse» offene Fairnessbegriff lässt sich mithin nicht auf eines seiner Formelemente reduzieren, zumal sich fragen würde, welches dieser Elemente, noch dazu aus welchem Grund, genau dasjenige sein sollte, das «die Fairness ist». Aufgabe des an das Strafverfahren als Gesamtheit angelegten und damit auch das Strafverfahren in dessen Gesamtheit bewertenden «Oberbegriffs Fairness» als des höchsten, übergeordneten Verfahrensprinzips461 ist es, die ihn 460 461
Dazu auch RZEPKA, S. 321 f. Gesprochen werden soll in dieser Abhandlung – wenn die Fairness als Qualität «des» (gesamten) (Straf-)Verfahrens verstanden und damit aus Sicht der Verfahrens- als Ganzheitsebene (im Gegensatz zur anschliessenden Betrachtung aus individualmenschenrechtsschützender Sicht als Menschenrecht) betrachtet wird – von der Fairness als Verfahrensprinzip. Angeregt und beeinflusst wurde diese Begriffsverwendung von und sichtbar werden bei dieser Begriffsverwendung einzelne(n) Momente(n), wie sie von Dworkin und Alexy herausgearbeitet worden sind: Danach sei nach Dworkin ein Prinzip ein Massstab, dessen Befolgung „ein Gebot der Gerechtigkeit oder Fairneβ oder einer anderen moralischen Dimension“ (DWORKIN, S. 55) ist. Im Unterschied zu Regeln, die „in der Weise des Alles-oder-Nichts anwendbar“ (DWORKIN, S. 58) sind, fehlt Prinzipien dieser «mathematische» Automatismus (DWORKIN, S. 59: „automatisch“), was auch für die Fairness des Strafverfahrens im Sinne eines Verfahrensprinzips gilt, welche sich nicht in einer blossen mathematischen Summierung all ihrer Einzelelemente erschöpft, siehe dazu auch DEMKO, Festschrift Riklin, S. 361 f. Zudem weisen Prinzipien die „Dimension des Gewichts oder der Bedeutung“ (DWORKIN, S. 62) auf und auch dies kann für die Fairness als Verfahrensprinzip beansprucht werden, wonach die Fairness als ein für das Strafverfahren wichtiger, bedeutungsvoller Wert zu erkennen ist und dabei hier als der «wichtigste», oberste bzw. der Gesamtwert auf höchster Stufe verstanden wird, der all die zahlreichen Einzelwerte als die Einzelprinzipen des Strafverfahrens in sich aufnimmt und in ein Miteinander mit zugleich notwendiger Abwägung zwischen diesen Einzelwerten zusammenzuführen hat (siehe dazu auch ALEXY, Theorie der Grundrechte, S. 78 f. zur Prinzipienkollision). Nicht zuletzt ist die Fairness als Verfahrensprinzip durch den von Alexy betonten, auf Optimierung ausgerichteten Charakter mitbestimmt (siehe dazu ALEXY, Theorie der Grundrechte, S. 75 f.), wonach es Teil der Fairness des Strafverfahrens ist, dass diese für die grundsätzlich bestmögliche, optimale im Sinne von uneingeschränkte Verwirklichung ihrer einzelnen Teile zu sorgen hat. Siehe zur Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien im Einzelnen DWORKIN, S. 54 ff., 130 ff.; ALEXY, Theo-
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konkret ausmachenden einzelnen Formelemente in ihrem jeweils eigenen inhaltlichen Eigenwert herauszuheben und anzuerkennen sowie diese sodann in ihrem notwendigen Zusammenspiel miteinander, aber auch Wechsel- und Spannungsverhältnis zueinander zu gestalten und auszubalancieren. Der Fairnessbegriff als an das Strafverfahren als Ganzes angelegter oberster normativer Wert(ungs)begriff und höchstes Verfahrensprinzip462 hat mithin (erstens) der Eigenwertigkeit jedes einzelnen seiner Formelemente unbedingte Anerkennung zu vermitteln, womit der optimierende Charakterzug der Fairness des Strafverfahrens angesprochen ist, und hat (zweitens) zugleich dem ebenfalls notwendig zu beachtenden «Moment des Ausgleichs» zwischen den verschiedenen Formelementen Beachtung zu schenken, was auf den ausgleichenden Charakterzug der Fairness des Strafverfahrens verweist. 131
Der Fairnessbegriff als ein normativer Wertbegriff des Strafverfahrens ist ein Begriff zur Qualitätsbestimmung der «Gesamtheit Strafverfahren», welcher jene Fairness-Qualität als einen vom Strafverfahren als Gesamtheit zu erfüllenden Anspruch an das Strafverfahren richtet und verlangt, dass das Strafverfahren fair «zu sein hat». Aber nicht allein mit jener (normativ) beanspruchten Bestimmung und (Gesamt-)Bewertung, dass ein Strafverfahren fair zu
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rie der Grundrechte, S. 71 ff.; dazu auch WIEDERKEHR, S. 37 ff.; siehe auch zur Bezeichnung der Fairness als „Rechtsprinzip“ (S. 221) bei BERKEMANN, JR 1989, S. 221 ff. Zur uneinheitlichen Verwendung von Begriffen wie etwa Gebot, Grundsatz, Prinzip, Recht oder Anspruch im Zusammenhang mit der strafverfahrensrechtlichen Fairness siehe etwa: BGE 122 V 166, S. 167: „Verfassungsprinzip der Fairness“, „Fairnessgebot“; BGE 113 Ia 309, S. 315: „Gebot der Fairness“; BGE 113 Ia 412, S. 421: „Grundsatz des fairen oder gerechten Verfahrens“; BVerfGE 57, 250: „Anspruch des Angeklagten auf ein faires, rechtsstaatliches Strafverfahren … allgemeinen Prozeβgrundrecht(s)“ (III. 1. b)) und „Grundsatz der Prozeβfairneβ … Gebot des fairen Verfahrens“ (III. 1. b) dd) (3)); MÜLLER-DIETZ, ZStW 1981, S. 1208: „Grundsatz des „fair trial“ …“; JUNG, Festschrift Lüke, S. 323: „Grundsatz des fair trial“, „Anspruch auf ein faires Verfahren“; RENZIKOWSKI, Festschrift Lampe, S. 791, 794: „Fairneβprinzip“ (S. 791), „Verfahrensprinzip“ (S. 794); BERKEMANN, JR 1989, S. 221: „Rechtsprinzip“; MINELLI, S. 33: „Prinzips“; RZEPKA, S. 227 f., 259 f.: „… „Prozeβgrundrecht“ … „Recht“ … „Anspruch“ auf ein faires Strafverfahren“ (S. 228); ABETZ, S. 60: „Prinzip des fairen Verfahrens“, „Recht auf ein faires Verfahren“, „Grundsatzes eines fairen gerichtlichen Verfahrens“; LEBLOIS-HAPPE, S. 318: „Recht auf ein faires Gerichtsverfahren“; MATT, S. 21: „Recht auf ein faires Verfahren“ (im Original fettgedruckte Hervorhebung) als „Kernstück aller Verfahrensgarantien“; SCHAERZ, S. 52 f.: „Garantie“ (S. 52), „Anspruch“ (S. 53); zur Unterscheidung zwischen Regel und Rechtsprinzip und der Anerkennung des Fairnessgebotes als eines „Rechtsprinzip(s)“ (S. 141) bzw. „rechtsgültige(n) Prinzip(s)“ (S. 209) siehe etwa STEINER, S. 133 ff., welcher für die Unterscheidung zwischen Prinzip und Regel u.a. auf die von Dworkin und Alexy erarbeiteten Überlegungen zurückgreift; dazu zudem WIEDERKEHR, S. 38 f.
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sein hat, begnügt sich die (Straf-)Rechtsgemeinschaft. Vielmehr legt diese – neben der Ganzheitsebene auch die Ebene der (Bestand-)Teile des Ganzen beachtend – ebenso normativ fest, welche Formelemente im Strafverfahren zu erfüllen sind sowie, in welcher Weise unter Beachtung welcher Kriterien das Zusammenwirken, aber auch das Spannungsverhältnis zwischen den verschiedenen Formelementen zu gestalten ist. Mit jenen normativen Regelungen zu den Formelementen, zu deren Zusammenspiel, aber auch zu notwendig werdenden Ausbalancierungen wird durch die (Straf-)Rechtsgemeinschaft bestimmt, welche Voraussetzungen und Kriterien ihrer Ansicht nach auf der Ebene der Teile des Ganzen einzuhalten sind, um darauf aufbauend die Gesamtbewertung vorzunehmen zu können, dass das Strafverfahren als fair zu bewerten ist (d.h., die Qualität der Fairness aufweist) oder nicht als fair zu bewerten ist (d.h., die Qualität der Fairness nicht besitzt). Mit Blick auf die jeweils bestimmte einzelne inhaltliche Fairnessaspekte ausprägenden Formelemente gilt es (zum Ersten), entsprechend dem optimierenden Charakterzug der Fairness463 jedes einzelne der Formelemente für sich, aber zugleich auch alle Formelemente in ihrer Gesamtheit zu beachten und auf ihre optimale (im Sinne von uneingeschränkte) Gewährleistung hin auszurichten. Hinzu kommt (zum Zweiten) entsprechend dem ausgleichenden Charakterzug der Fairness, dass das Miteinander und damit einhergehend die notwendige Ausbalancierung zwischen den verschiedenen Formelementen zu beachten sind:464
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Die erforderliche Anerkennung jedes einem fairen Strafverfahren zugeordneten einzelnen Formelementes in seiner jeweiligen Eigenwertigkeit zeigt den dem strafverfahrensrechtlichen Fairnessbegriff zukommenden, auf Optimierung ausgerichteten Charakter,465 nach welchem danach zu streben ist, dem
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Siehe dazu auch ALEXY, Theorie der Grundrechte, S. 75 f. zum Optimierungsgebot; WIEDERKEHR, S. 37; siehe zudem JUNG, Richterbilder, S. 46 mit Bezug auf die autonome und dynamische Auslegung durch den EGMR, wonach in „Menschenrechtsfragen … der Grundsatz der Maximierung des Rechtsschutzes“ (Hervorhebung Demko) gelte. Zum Ausgleichs- und Abwägungscharakter siehe etwa WIEDERKEHR, S. 37 f.: „im Rahmen der Güterabwägung oder präziser der Verhältnismässigkeitsprüfung“; ALEXY, Theorie der Grundrechte, S. 78 ff., 100 ff.: „Abwägung“ (S. 80), zum Zusammenhang zwischen der „Prinzipientheorie und dem Grundsatz der Verhältnismäβigkeit“ (S. 100) siehe näher S. 100 ff. Zu dem auf Optimierung ausgerichteten Charakterzug der strafverfahrensrechtlichen Fairness siehe auch STEINER, S. 135, welcher dies im Zusammenhang mit seinen Darstellungen zur Normstruktur des Fairnessgebots nicht als eine Regel, sondern als ein „Rechtsprinzip“ (S. 141) bzw. „rechtsgültiges Prinzip“ (S. 209) ausführt: „Prinzipien … sind Optimierungsgebote, die es gebieten, ein Ziel oder einen bestimmten Wert in einem möglichst hohen Maβe zu realisieren.“ (S. 135, Hervorhebung Demko).
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Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
jeweiligen Formelement zu seiner «besten» im Sinne von uneingeschränkten und vollen Entfaltung zu verhelfen (was sich beispielsweise in der grundsätzlich anzustrebenden uneingeschränkten Gewährleistung der Verteidigungsrechte des Angeklagten zeigt). Doch die Fairness des Strafverfahrens «ist» (im Sinne von bedeutet) weder nur ein einziges Formelement noch besteht die Fairness des Strafverfahrens nur aus einem einzigen Formelement, sondern eine Vielzahl unterschiedlicher Formelemente werden von der Rechtsgemeinschaft (als Voraussetzung) für ein als insgesamt fair zu bewertendes Strafverfahren verlangt.466 Die damit einhergehende erforderliche Anerkennung aller einem fairen Strafverfahren zugeschriebenen Formelemente und deren zu gewährendes Miteinander zeigt den dem strafverfahrensrechtlichen Fairnessbegriff ebenso notwendig zukommenden ausgleichenden, ausbalancierenden Charakter an. Sichtbar ist das Erfordernis eines Ausgleichs, einer Balance, der bzw. die zwischen den Teilen des «Ganzen Strafverfahren» herzustellen ist, was nicht mit einem beliebigen, willkürlichen Miteinander der Teile zu verwechseln ist, sondern was selbst wiederum auf eine von der jeweiligen Rechtsgemeinschaft zu treffende Wertentscheidung dazu verweist, wie bzw. auf welche Art und Weise die vielzähligen und vielfältigen Teile des «Ganzen Strafverfahren» in ein funktionierendes Miteinander zu setzen sind:467 Ein funktionierendes Miteinander, nach dem für jedes der Einzelteile einerseits grundsätzlich nach dessen uneingeschränkter Entfaltung zu streben ist, nach dem aber andererseits zugleich alle diese Einzelteile – möchten diese nicht «auf Kosten» der jeweils anderen, sondern wahrlich miteinander verwirklicht sein – in ihrer unter Umständen notwendigen Einschränkung zu erkennen sind, was wiederum nach Wertentscheidungen verlangt zur Frage, welche der Einzelteile in welcher Weise und in welchem Umfang – womit auch die Frage eines nicht einschränkbaren Kern- bzw. Wesensgehaltes angesprochen ist – eingeschränkt werden dürfen, um trotz solcher ausnahmsweise erforderlichen Einschränkungen bei einer Betrachtung und Bewertung des Strafverfahrens in 466
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Zu den verschiedenen Einzelausprägungen des (Gesamt-)Rechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren, welche jeweils einen bestimmten inhaltlichen Aspekt dieses Gesamtrechts ausformen, gehören etwa der Anspruch auf rechtliches Gehör und die Waffengleichheit sowie die vielzähligen, in Art. 6 Abs. 1, 2 und 3 EMRK benannten und vom EGMR herausgearbeiteten unbenannten spezifischen Verteidigungsrechte des Angeklagten. Zum konturengebenden und damit inhaltsprägenden Charakter dieser Einzelrechte für ein faires Strafverfahren siehe bereits DEMKO, Festschrift Riklin, S. 360 f. Siehe auch GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 199 zum fairen Verfahren als „Rechtfertigung einer bestimmten, als adäquat empfundenen Lösung eines Konflikts widerstreitender Interessen“ (Hervorhebung Demko) und zu dem mit dem fairen Verfahren zur Geltung Bringen einer Konfliktlösung, die „von der Rechtsgemeinschaft als adäquater Ausgleich widerstreitender Interessen anerkannt wird“ (Hervorhebung Demko).
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
dessen Gesamtheit sagen zu können, dass diesem das «Qualitätsprädikat fair» zugeschrieben werden kann. Die von einer Rechtsgemeinschaft zu treffenden Wert(ungs)entscheidungen, was an Formelementen zu denen zu zählen ist, die als notwendige Teile eines fairen Strafverfahrens angesehen werden, sowie die sich daran anknüpfenden Wert(ungs)entscheidungen, auf welche Art und Weise die vielzähligen, jeweils bestimmte inhaltliche Fairnessteilaspekte ausdrückenden Formelemente in ein funktionierendes Miteinander zu stellen sind, zeigt den – sowohl eine Optimierung jedes seiner Teile als auch eine Ausbalancierung zwischen all seinen Teilen zu gewähren habenden – Fairnessbegriff zugleich in seinem Charakter, ein Lösungsbegriff, genauer ein normativer Lösungsbegriff zu sein.468 Der Fairnessbegriff als ein normativer Lösungsbegriff beinhaltet, wie aus Sicht und nach Bewertung der jeweiligen Rechtsgemeinschaft das Zusammenspiel der Teile «des Ganzen Strafverfahren» gelöst werden soll(te), so dass trotz möglicher und notwendiger Einschränkungen einzelner Teile des Gesamten «das Gesamte» funktioniert.469 Legt man den Fairnessbegriff normativ als beanspruchte Qualität an «das Strafverfahren» insgesamt an und versteht man den Fairnessbegriff in Bezug auf diese seine Anknüpfung an die «Gesamtheit Strafverfahren» als ein Prinzip «des» Verfahrens auf höchster Ebene, dann ist es immer eine «Lösung», eine (Be-)Wertung für eben diese «Gesamtheit Strafverfahren», die für den Fairnessbegriff zu verlangen ist. Dies bedeutet keine Nicht- oder Geringschätzung der Wichtigkeit und Eigenwertigkeit der einzelnen zu einem fairen Strafverfahren gezählten Formelemente, sind diese doch in ihrer Bedeutung als die inhaltlichen Fairnessaspekte angebenden Teile und als von der Rechtsgemeinschaft aufgestellte Voraussetzungen für ein faires Strafverfahren unbedingt und notwendig anzuerkennen, aber dabei eben auch in ihrer Eigenschaft zu sehen, nicht selbst das Ganze, sondern nur (Bestand-)Teil des Ganzen zu sein.470
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In diese Richtung ähnlich auch GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 199: Geltung verschaffen einer „Konfliktlösung“ (Hervorhebung Demko), die „von der Rechtsgemeinschaft als adäquater Ausgleich widerstreitender Interessen anerkannt wird“, siehe auch: „als adäquat empfundenen Lösung eines Konflikts“ (Hervorhebung Demko). In Bezug worauf das Strafverfahren als Gesamtheit zu «funktionieren» hat, wird sogleich im Zusammenhang mit der vom Strafverfahren zusammenzuführenden materiellen und prozeduralen Gerechtigkeitskomponente näher ausgeführt, siehe unter Kap. 3 A. III. Dazu bereits DEMKO, Festschrift Riklin, S. 361 f.: Einzelaspekte haben „eigenen unverzichtbaren Wert für eine faire Verfahrensgestaltung“ (S. 362) und sind in das insgesamt faire Strafverfahren als dessen „konkretisierende „unselbständige Einzelausprägungen““ (S. 361) eingestellt; dazu auch GOLLWITZER, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR, N 70: „bestimmte konkrete inhaltliche Mindestanforderungen“, „übergeordneter
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Mit dem Fairnessbegriff als „Oberbegriff“471 und dessen (Bestand-)Teilen, den Formelementen, fliessen mithin Struktur- und Inhaltselemente ineinander, verknüpfen sich untrennbar miteinander und finden beide Eingang in die Bewertung eines Strafverfahrens als fair, indem (zum einen) vermittelt durch die Formelemente die inhaltlichen Aspekte – und zwar vermittelt durch ein jedes Formelement ein jeweils anderer spezifischer Inhaltsaspekt – angegeben und ausgeprägt werden, die es für ein als fair zu bewertendes Strafverfahren zu beachten gilt.472 Eingestellt in den strukturvermittelnden und hier u.a. optimierenden und ausgleichenden Wesenszug des Fairnessbegriffs gilt es (zum anderen), diese inhaltsbestimmenden Formelemente im Strafverfahren nicht irgendwie und beliebig, sondern vielmehr in einer grundsätzlich uneingeschränkten Weise zu verwirklichen und Einschränkungen nur für den Ausnahmefall zuzulassen. Dabei ist auch diese ausnahmsweise Abweichung von der uneingeschränkten Gewährleistung im Falle eines Spannungsverhältnisses zwischen sich entgegenstehenden Formelementen nicht beliebig und willkürlich möglich, sondern ist ihrerseits wiederum nur unter Beachtung der von der Rechtsgemeinschaft angelegten Wert(-ungs)entscheidungen und aufgestellten Einschränkungsvoraussetzungen anzuerkennen.473
III.
Fairness des Strafverfahrens als der die materielle und prozedurale Gerechtigkeitskomponente zusammenführende Begriff der «Strafgerechtigkeit»
1.
Fairness des Strafverfahrens in deren Bedeutung als «Strafgerechtigkeit»
Legt man den Fairnessbegriff an das «Ganze Strafverfahren» an, so sind für die mit diesem normativen Lösungsbegriff – der von Gless zutreffend auch
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Grundsatz“, „unselbständige Einzelausprägungen“ (im Original fettgedruckte Hervorhebungen). GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 196; siehe auch RANSIEK, S. 5 ff.: „übergeordneten Prinzips“ (S. 5), „einer obersten, übergreifenden Verfahrensnorm“ (S. 6 f.), „Sammelbecken verschiedener Aspekte“ (S. 7), „Oberbegriff“ (S. 7). Zu diesen inhaltsbestimmenden Formelementen zählen etwa die benannten und unbenannten spezifischen Verteidigungsrechte des Angeklagten, welche die «Teilhabe» des Angeklagten am Strafverfahren betreffen, sowie etwa die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichts, mit denen der für ein faires Strafverfahren ebenso zu gewährende «Teilhaberahmen» angesprochen ist, siehe dazu näher unter Kap. 4 B. Siehe zu den vom EGMR aufgestellten Einschränkungsvoraussetzungen im Zusammenhang mit dem Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen als einem seiner spezifischen Verteidigungsrechte näher unter Kap. 5 B. II.
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
als „funktionaler Begriff“474 bezeichnet wird – einhergehende QualitätsBewertung eben dieses Ganzen nun auch die zwei Gerechtigkeitskomponenten in den Blick zu nehmen, die sich in Gestalt der materiellen und der prozeduralen Gerechtigkeit beide an das Strafverfahren richten und welche beide in den Oberbegriff der Fairness des Strafverfahrens einzubeziehen sind. Angesprochen ist zum einen die materielle Gerechtigkeit als das das Ziel des Strafverfahrens kennzeichnende Moment und zum anderen die prozedurale Gerechtigkeit als das das Strafverfahren in dessen Qualität als Weg hin zu diesem Ziel kennzeichnende Moment. Im Zusammenhang mit den Ausführungen zur materiellen und prozeduralen Gerechtigkeit des Strafverfahrens wurde dargestellt, wie jene zwei Gerechtigkeitskomponenten zwar unterschiedliche, jedoch beide sich an das Strafverfahren richtende Ansprüche an das Strafverfahren anlegen, was darin gründet, dass das Strafverfahren ein «Ziel hat» und selbst «Weg ist» hin zu diesem Ziel:475 Die mit einem entsprechenden Streben verbundene Ausrichtung des Strafverfahrens auf das Ziel der materiellen Gerechtigkeit – und auf das Vorziel der Wahrheit als Voraussetzung der materiellen Gerechtigkeit – zeigt die dienende Funktion des Strafverfahrens in dessen Verhältnis zum materiellen Strafrecht. Die Weg-Qualität des Strafverfahrens kennzeichnet das Strafverfahren hingegen in seiner Eigenständigkeit und Eigenwertigkeit, wonach das vom materiellen Strafrecht vorgegebene Ziel nur in einem solchen Strafverfahren zu erreichen zu suchen ist, das sich selbst – als Teil von Recht und als ein gerade rechtlicher Verfahrensweg – dem Schutz der für die Strafverfahrensebene als solche als schutzwürdig und schutzbedürftig angesehenen Strafverfahrenswerte verpflichtet sieht. Die dienende Funktion des Strafverfahrens und dessen Qualität, eigenständige Werteordnung zu sein, kennzeichnen zwei unterschiedliche Wesensmomente der «Ganzheit Strafverfahren», von denen ersteres in Bezug auf das zu erreichende Ziel der Wahrheit und materiellen Gerechtigkeit einen funktionalen Blick auf das Strafverfahren richtet und das Strafverfahren in seinem, sich an das (funktional) vorangehende materielle Strafrecht anschliessenden und insofern «funktional nachfolgenden» Charakter erkennbar macht. Das zweite Wesensmoment kennzeichnet das Strafverfahren hingegen in dessen WegQualität, eine bezogen auf die Strafverfahrensebene als solche eigenständige (rechtliche) Werteordnung für die dort zu schützenden Strafverfahrenswerte zu sein.476
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GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 199: „Das »faire Verfahren« als funktionaler Begriff der strafprozessualen Beweisführung“ (Hervorhebung Demko). Siehe zu der materiellen und prozeduralen Gerechtigkeitskomponente des Strafverfahrens näher unter Kap. 2 A. Dazu auch bereits DEMKO, Festschrift Riklin, S. 355 ff. mit weiteren Angaben.
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Aufgezeigt wurde, dass ein Strafverfahren, das als ein insgesamt gerechtes Strafverfahren angesehen werden will, nicht entweder der materiellen oder der prozeduralen Gerechtigkeit sowie nicht einzig Menschenrechten «durch» oder «im» Strafverfahren zu genügen hat. Vielmehr verlangt das Zusammentreffen der zwei, mit dem Strafverfahren verknüpften und sich an das Strafverfahren richtenden Wesensmomente von einem Strafverfahren, der materiellen und der prozeduralen Gerechtigkeit sowie dem Menschenrechtsschutz «durch» und «im» Strafverfahren zur Verwirklichung zu verhelfen, möchte es sich als ein «insgesamt strafgerechtes» Strafverfahren bewertet wissen.477
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Es ist dieses notwendige Zusammenführen von materieller und prozedualer Gerechtigkeitskomponente als den zwei Wesensmomenten des Strafverfahrens, das auch in die inhaltliche Bestimmung des strafverfahrensrechtlichen Fairnessbegriffs als eines normativen Lösungsbegriffs für das «Ganze Strafverfahren» einzufliessen hat und das den strafverfahrensrechtlichen Fairnessbegriff, welcher beide – die materielle und die prozedurale – Gerechtigkeitskomponenten in sich aufnimmt, zu einem zur Beurteilung und Bestimmung eines «insgesamt strafgerechten» Strafverfahrens geeigneten Wert(ungs)begriff auf höchster Stufe werden lässt. Zwar ist der strafverfahrensrechtliche Fairnessbegriff ein normativer Begriff, der an das (Straf-)Verfahren selbst als der „zu beschreibende(n) Gegenstand“478 angelegt wird, was aber nicht dazu führt bzw. genauer, nicht dazu führen sollte, den Fairnessbegriff unter Ausblendung der materiellen Gerechtigkeitskomponente einzig und allein auf die prozedurale Gerechtigkeitskomponente zu beziehen bzw. zu reduzieren.479 Denn eben jener durch den Fairnessbegriff zu beschreibende Gegenstand der «Gesamtheit Strafverfahren» mit den ihn ausmachenden und charakterisierenden zwei Wesenskomponenten der materiellen und prozeduralen Gerechtigkeit hat entsprechend beiden Ansprüchen zu genügen und der Fairnessbegriff – versteht man diesen als Wert(ungs)begriff auf höchster Stufe und als Ausdruck einer an das Strafverfahren in dessen Gesamtheit angelegten Gesamtqualität – hat infolgedessen beide Gerechtigkeitskomponenten in sich auf zu nehmen.480 477
478 479
480
114
Siehe zur Beachtung der materiellen und prozeduralen Gerechtigkeitskomponente des Strafverfahrens mit weiteren Angaben bereits näher unter Kap. 2 A.; siehe zur Verbindung von Fairness und Gerechtigkeit BERKEMANN, JR 1989, S. 221 ff.; siehe auch BVerfGE 9, 338, S. 349: „die fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft“ (S. 349); RENZIKOWSKI, Festschrift Lampe, S. 794 ff., 800; MÜLLERDIETZ, ZStW 1981, S. 1205 f. HOFFMANN, Verfahrensgerechtigkeit, S. 37. Siehe dazu etwa BERKEMANN, JR 1989, S. 223, 224, 227 zur Beachtung auch der materiellen Gerechtigkeit. Siehe zur Beachtung der materiellen und prozeduralen Gerechtigkeitskomponenten die Nachweise bereits unter Kap. 2 A.
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
Verstanden wird der Begriff der Fairness des Strafverfahrens hier also in der Bedeutung als Strafgerechtigkeit, d.h. als ein Begriff für ein insgesamt gerechtes Strafverfahren, welcher die materielle und prozedurale Gerechtigkeitskomponente in sich aufnimmt und beide in sich zu vereinen und zusammenzuführen hat: Ein Strafverfahren kann weder als fair, als insgesamt gerecht bewertet werden, wenn es sich nur auf die Verwirklichung von Wahrheit und materieller Gerechtigkeit unter Ausblenden der prozeduralen Gerechtigkeitsanforderungen ausrichtet, noch, wenn es nur auf die Verwirklichung der prozeduralen Gerechtigkeitsanforderungen unter Nichtberücksichtigung der anzustrebenden Wahrheit und materiellen Gerechtigkeit bedacht ist.481 Erst und nur beides zusammen, das Streben nach Wahrheit und materieller Gerechtigkeit unter Beachtung der Anforderungen der prozeduralen Gerechtigkeit, lassen ein Strafverfahren zu einem solchen werden, das als ein faires im Sinne von insgesamt gerechtes Strafverfahren bewertet und bezeichnet werden kann.
140
Den Fairnessbegriff nun mit dem strafverfahrensrechtlichen Wahrheitsbegriff in Verbindung setzend und weiterführend nach speziellen Bedeutungsfacetten eines fairen strafprozessualen Beweisverfahrens fragend, kann ein faires Beweisverfahren (erstens) nur ein solches sein, das sich als ein wahrheitsgerichtetes Erkenntnisverfahren ausweist. Denn die Wahrheit über das vergangene Geschehen der Seins-Wirklichkeit hat sich als die unerlässliche Voraussetzung für die materielle Gerechtigkeit und als deren Vorziel erwiesen,482 so dass ein faires Beweis- und Strafverfahren ohne Streben nach eben dieser Wahrheit nicht denkbar ist. Wie im Strafverfahren insgesamt, so hat es aber ebenso speziell bezogen auf die wahrheitsermittelnde Tatsachenebene des Beweisverfahrens ein Streben nach der Wahrheit unter Beachtung auch der prozeduralen Gerechtigkeitsanforderungen zu sein. Auch im Beweisverfahren als einem wahrheitsgerichteten Erkenntnisverfahren sind mithin die materielle Gerechtigkeitskomponente mit ihrem unerlässlichen Kernmoment der Wahrheit und die prozedurale Gerechtigkeitskomponente notwendig zusammenzuführen.
141
Ein weiterer Inhaltsaspekt eines fairen strafprozessualen Beweisverfahrens kommt hinzu, welcher sich daran knüpft, dass sich der strafverfahrensrechtliche Wahrheitsermittlungsweg selbst als ein dialektischer Erkenntnisweg erwiesen hat,483 so dass unter Aufgreifen jenes dialektischen Charakters des strafverfahrensrechtlichen Erkenntnisverfahrens ein als fair bewertetes Be-
142
481
482
483
Zur Beachtung von materieller und prozeduraler Gerechtigkeit auch BERKEMANN, JR 1989, S. 221 ff.; MILEJ, S. 275. Siehe dazu bereits unter Kap. 2 A.; siehe auch BOTTKE, Verfahrensgerechtigkeit, S. 13 zur „Wahrheit des Werturteilsbasissatzes“. Siehe zum dialektischen Charakter des strafverfahrensrechtlichen Erkenntnisverfahrens unter Kap. 2 B. 4., 5.
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Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
weisverfahren (zweitens) nur ein solches sein kann, das eben jener Dialektik des Erkennens und mit dieser den Erfordernissen von These und Antithese im Beweisverfahren in wirksamer Weise Raum zur Verwirklichung einräumt. Unter Aufgreifen dieser Dialektik des Erkennens (auch) im Straf- und Beweisverfahren bedeutet das Anlegen des normativen Wert(ungs)begriffs der Fairness an das Beweisverfahren, dass dieses ein dialektisches wahrheitsgerichtetes Erkenntnisverfahren zu sein hat, welches in einer entsprechend dialektischen Kommunikation und Interaktion zwischen den Verfahrensbeteiligten in einer wirksamen Weise den Raum für das Zur-Sprache-Bringen von These und (!) Antithese öffnet und sichert,484 und zwar durchgängig sowohl für die Oberthese und die Oberantithese – wonach der Angeklagte der Täter der angeklagten Straftat ist oder nicht ist – als auch für die zahlreichen Unterthesen und Unterantithesen zu bestimmten einzelnen Beweis- und Beweismittelaspekten. 2.
143
Der aus dem Fairnessbegriff als «Strafgerechtigkeit» folgende vertikale und horizontale Ausgleich und das Spannungsverhältnis zwischen den verschiedenen Fairnesselementen
Die in den vorangehenden Darstellungen für den Fairnessbegriff angeführten Charakterzüge des Optimierenden einerseits und des Ausgleichenden andererseits finden, nimmt man die in den strafverfahrensrechtlichen Fairnessbegriff 484
116
Siehe zum dialektischen Charakter des strafverfahrensrechtlichen Erkenntnisverfahrens und zu weiteren damit zusammenhängenden Charakteristika mit den dortigen näheren Nachweisen unter Kap. 2 B. II.; siehe zudem MILEJ, S. 247 ff.: „kontradiktorische Ausrichtung der freigesetzten Kommunikation“ (S. 247), „der Antagonismus zwischen den auf dem Spiel stehenden Belangen (wird) ausgetragen; eine faire Auseinandersetzung um das Recht kann stattfinden“ (S. 248), „gleichwertige(n) Kommunikationspartner“ (S. 248), zudem: „Das faire Verfahren ist eine Hommage an den Zweifel …“ (S. 249); SCHÜNEMANN, Gedächtnisschrift Vogler, S. 86: „Wahrheitsfindung … nur unter der Voraussetzung einer permanenten Kontrolle seitens der Gegenpartei“; instruktiv zudem ARNDT, NJW 1959, S. 1301: „… weil erst die freie Kritik des Verteidigers, erst die Spannung, die aus entgegengesetzten Standpunkten erzeugt werden muβ, die Wahrheits- und Rechtserkenntnis so läutert, so „offensichtlich“ macht, wie es das Gericht aus eigener Kraft nicht erreichen könnte. Diese „wahrheitsschaffende“ Fähigkeit des „Aufeinanderwirkens“ ist es, aus der … „wie ein Lichtbogen die Wahrheit aufleuchtet“ …“, „… weil der Richter zu einer als rechtsstaatlich und menschenwürdig charakterisierten, kritischen Wahrheits- und Rechtsschöpfung erst dadurch instand gesetzt wird, daβ ihm und einander Anklage und Verteidigung entgegentreten“, „… das jeweils Gerechte nicht einsam vom Gericht allein errechnet werden kann, sondern sich erst im Widerspruch lebendig entfaltet …“ (Hervorhebung Demko).
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
einfliessenden materiellen und prozeduralen Gerechtigkeitskomponenten hinzu, ihre konkretisierende Form in einem vom strafverfahrensrechtlichen Fairnessbegriff zu leistenden horizontalen und vertikalen Ausgleich: Angesprochen ist ein vertikaler Ausgleich, der im Verhältnis zwischen der Ebene der materiellen und der prozeduralen Gerechtigkeit zu leisten ist und der mit dem funktional-vertikalen Blick des Strafverfahrens zusammenhängt, als Diener des materiellen Strafrechts dafür Sorge zu tragen, der Wahrheit und materiellen Gerechtigkeit so nah wie möglich zu kommen. Mit dem ebenso zu leistenden horizontalen Ausgleich ist der Ausgleich gemeint, der auf der horizontalen (Durchsetzungs-)Ebene des Strafverfahrens selbst im Verhältnis zwischen den unterschiedlichen Strafverfahrenswerten zu leisten ist und welcher mit der Eigenwertigkeit des Strafverfahrens, mit der Weg-Qualität als solcher und der Eigenwertigkeit auch der verschiedenen Strafverfahrenswerte als Elemente dieses (Erkenntnis-)Weges verbunden ist. Davon zu sprechen, dass der Wahrheit (einerseits) «so nah wie möglich» zu kommen ist, diese aber (andererseits) «nicht um jeden Preis» erforscht werden darf, bringt diesen von einem fairen Strafverfahren zu leistenden vertikalhorizontalen Ausgleich für das strafprozessuale Beweisverfahren zum Ausdruck. In treffender Weise ist von Gless formuliert:
144
„Eine strafprozessuale Beweisführung erscheint aus Sicht der ausgewählten Rechtsordnungen nur dann legitim, wenn sie nicht nur um eine umfassende Sachverhaltsaufklärung mit hoher Richtigkeitsgewähr bemüht ist, sondern auch der Strafverfolgung (im Einzelfall) übergeordnete Interessen respektiert. Diese Anforderung an die Tatsachenfeststellung wird regelmäβig unter dem Begriff des »fairen Verfahrens« behandelt: Die Tatsachenfeststellung soll Teil eines »fairen Verfahrens« sein.“485
145
Die Zuverlässigkeit der Sachverhaltsfeststellung erweist sich – so heisst es zutreffend bei Gless – als eine „notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung“486 für die „Maxime“487 eines fairen Verfahrens als „Oberbegriff“488 bzw. als „das übergeordnete Prinzip“:489
146
„Die Funktion des »fairen Verfahrens« als Oberbegriff kommt insbesondere dann zum Ausdruck, wenn Regelungen sowohl einer Richtigkeitsgewähr der Tatsachenfeststellung wie auch dem Schutz übergeordneter Interessen dienen sollen.“490
147
Zu einem fairen Strafverfahren gehört es – womit der auf Optimierung ausgerichtete Charakterzug des Fairnessbegriffs angesprochen ist –, dass dieses
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485 486
487 488 489 490
GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 198 (Hervorhebung Demko). GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 196 (Hervorhebung Demko) mit weiteren Ausführungen. GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 196. GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 196; siehe auch RZEPKA, S. 321: „Oberbegriff“. GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 196 (Hervorhebung Demko). GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 196 (Hervorhebung Demko).
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Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
«sein Bestes» zu geben hat, um zum einen bei dem Streben nach der Wahrheit und der materiellen Gerechtigkeit dieser «so nah wie möglich» zu kommen sowie zum anderen zugleich aber auch die Strafverfahrenswerte im Strafverfahren möglichst optimal zu gewähren. Die materielle und die prozedurale Gerechtigkeitskomponente als die zwei den strafverfahrensrechtlichen Fairnessbegriff prägenden Momente sind in ihrer Eigenwertigkeit und Gleichwertigkeit anzuerkennen und beide gilt es zu einer möglichst vollkommenen, unbeschränkten Entfaltung zu bringen. Verbunden mit dem ausgleichenden Charakterzug des Fairnessbegriffs sind aber auch der mögliche Widerstreit und der sich unter Umständen ergebende Konflikt in den Blick zu nehmen, welche sich sowohl auf der horizontalen Durchsetzungsebene des Strafverfahrens zwischen den verschiedenen Strafverfahrenswerten stellen können als auch im vertikalen Verhältnis zwischen den durch die materielle und die prozedurale Gerechtigkeitskomponente geschützten Werten.491 Dieser vertikale und/oder horizontale Ausgleich, den der strafverfahrensrechtliche Fairnessbegriff zu leisten hat, geht mit Fragen nach einer möglichen Einschränkbarkeit von zu der materiellen und prozeduralen Gerechtigkeitskomponente gehörenden Elementen sowie mit Fragen nach dabei zu beachtenden Einschränkungsvoraussetzungen einher. Nicht nur für die Frage, was überhaupt als (Bestand-)Teil der prozeduralen Gerechtigkeitskomponente und insbesondere, welcher Strafverfahrens(rechts)wert als schützenswert anzusehen ist, sondern auch für die sich auf eine Ausbalancierung zwischen verschiedenen Werten und eine Einschränkung dieser beziehende Frage hat die Rechtsgemeinschaft Wertentscheidungen zu treffen: Wertentscheidungen dazu, wie das vertikale Miteinander zwischen den Werten auf der Strafrechtsund Strafverfahrensrechtsebene sowie wie das horizontale Miteinander zwischen verschiedenen Strafverfahrens(rechts)werten so zu gestalten ist, dass trotz im Spannungsfall notwendig werdender Einschränkungen von Einzelwerten das Strafverfahren als Gesamtheit als ein faires, als ein insgesamt gerechtes Strafverfahren angesehen werden kann. 149
Den strafverfahrensrechtlichen Fairnessbegriff als einen normativen Wert(ungs)begriff auf höchster Ebene zu verstehen und für diesen die Berücksichtigung von materieller und prozeduraler Gerechtigkeitskomponente zu verlangen, bedeutet mit Blick auf ein sich ausprägen könnendes Spannungsverhältnis und eine sodann erforderlich werdende Ausbalancierung nicht zuletzt ein Folgendes: Ist, wie es vorliegend vertreten wird, die strafverfahrensrechtliche Fairness als das Verfahrensprinzip auf höchster Ebene und als der an der Spitze stehende Gesamtwert des Strafverfahrens zu verstehen, welcher allen anderen, ebenso mit dem Strafverfahren verbundenen (Einzel-) 491
118
Siehe zum Spannungsverhältnis zwischen verschiedenen durch das und im Strafverfahren zu schützenden Werten bereits unter Kap. 2 A.; WIEDERKEHR, S. 13, 15 zur „gerechte(n) Ausbalancierung“ (S. 13).
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
Werten übergeordnet ist, so können der Fairness als Gesamtwert andere, mit dem Strafverfahren verbundene (Einzel-)Werte auf einer gleichrangigen Ebene nicht begegnen und ebensolche (Einzel-)Werte können sich auch nicht zu ein Spannungsfeld zur Fairness aufbauenden «Gegenbegriffen» oder «Nachbarbegriffen» zur Fairness entwickeln. Wird der Fairnessbegriff in diesem übergeordneten, als Oberbegriff fungierenden Sinne verstanden, kann es kein Entweder-Oder-Verhältnis zwischen Fairness und angeblichen «Gegenpolen»492 geben, mithin kein Entweder-Oder etwa im Verhältnis zwischen Fairness und Effizienz eines Strafverfahrens bzw. zwischen Fairness und Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege493 oder etwa zwischen Fairness und Menschenrechten der am Strafverfahren Beteiligten, wie die des Angeklagten, des Opfers oder des Zeugen.494 Diese (fälschlicherweise) als «Gegenpole» zur Fairness des Strafverfahrens angeführten Momente sind vielmehr als Elemente, (Bestand-)Teile, Einzelwerte des übergeordneten Gesamtwertes der strafverfahrensrechtlichen Fairness und damit in ihrem der Fairness nicht gleichgeordneten, sondern ihr untergeordneten Charakterzug zu erkennen: Diese Einzelwerte zeigen (erstens) jeweils einen bestimmten, der materiellen oder prozeduralen Gerechtigkeitskomponente zugehörenden inhaltlichen Fairnessaspekt an, den es für die Bewertung eines Strafverfahrens als «insgesamt fair» zu gewährleisten gilt, und diese Einzelwerte stehen (zweitens) – nicht mit der Fairness des Verfahrens selbst, sondern vielmehr – untereinander in einem Abwägungs- und Ausgleichsverhältnis. Nicht mit der Fairness selbst, die als Gesamtwertprädikat einem Strafverfahren als Qualität auf höchster Ebene zuzuschreiben ist, können die Einzelwerte des Strafverfahrens in ein nach Ausbalancierung verlangendes Spannungsverhältnis treten, sondern nur – unterhalb jener obersten Fairness-Ebene – im Verhältnis zwischen den verschiedenen Einzelwerten stellt sich die Frage eines funktionierenden Miteinanders, eines Gegenübers und eines sich entwickeln könnenden Spannungsverhältnisses, welches nach einer Ausbalancierung zwischen diesen Einzelwerten unter Einschränkungen dieser verlangen kann. Es sind die verschiedenen Formelemente, die als Elemente, als (Bestand-)Teile der Fairness im Verhältnis untereinander in ein funktionierendes 492
493
494
Siehe auch STEINER, S. 180 im Zusammenhang mit der häufig ins Spiel gebrachten Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege „als “Gegenpol“ und Grenze eines fairen Verfahrens“ (Hervorhebung Demko); zutreffend auch die kritische Sicht von JUNG, GA 2002, S. 73 f. Siehe dazu etwa STEINER, S. 180 f.; HASSEMER, StV 1982, S. 275 ff.; zur Gegenüberstellung von crime control und due process siehe PACKER, S. 153 ff.; MILEJ, S. 258 ff.; siehe dazu auch die mit recht kritischen Ausführungen von JUNG, GA 2002, S. 73 f., wonach diese „Gegensatzbildung … problematisch“ (S. 74) sei. Siehe auch STEINER, S. 181 ff. zu Grundrechten Dritter und sonstigen Gegeninteressen zum Fairnessprinzip.
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Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
Miteinander zu bringen sind und – falls sich diese einzelnen Fairnesselemente in ihrem Zusammenspiel nicht alle unbeschränkt verwirklichen lassen – welche sich in ein sich gegenseitig einschränkendes Miteinander einzufügen haben. Die von der jeweiligen Rechtsgemeinschaft zu treffende Wertentscheidung hat dabei zu bestimmen, welches der einzelnen Fairnesselemente im Verhältnis zu den anderen Fairnesselementen in welchem Umfang und unter welchen Voraussetzungen (ausnahmsweise) eingeschränkt werden darf, um trotz jener Einschränkungen bei den einzelnen Fairnesselementen dennoch ein insgesamt faires Strafverfahren bejahen zu können.
151
B.
Fairness des Strafverfahrens als Menschenrecht
I.
Fairness des Strafverfahrens als Menschenrecht des Angeklagten
Ist die Fairness in deren Bedeutung als höchstes Verfahrensprinzip untersucht und dabei als eben ein Prinzip «des» Verfahrens selbst an das (Straf-)Verfahren als eine Gesamtheit angelegt, mithin aus der Perspektive der Verfahrens- als Ganzheitsebene betrachtet worden,495 so gilt es im nachfolgenden einen Blickwechsel von der Ganzheitsebene zur Ebene eines der Teile des Ganzen vorzunehmen, wenn nach der Bedeutung und dem Inhalt des Menschenrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren gefragt ist. War bisher von der Fairness «des (Straf-)Verfahrens» als dessen Prinzip die Rede, ohne die Fairness mit einem Menschenrecht auf Fairness zu verbinden, so ist genau diese menschenrechtliche Bedeutungsebene nunmehr hinzuzunehmen:496 Das Strafverfahren nicht mehr (allein) aus der Ganzheitsperspektive 495
496
120
Siehe auch die Bezeichnung von RZEPKA, S. 235, 236 f.: „Ethik des Verfahrens“ (S. 235, Hervorhebung Rzepka) mit einem moralischen Anspruch sowohl an das Verfahrensergebnis als auch einem moralischen Massstab für das „Verfahren selbst“ (S. 235, Hervorhebung Demko). Siehe dazu auch TETTINGER, S. 58, wonach es sich bei der Fairness „nicht nur um ein objektives Gebot auf rechtsstaatlicher Grundlage (handelt), sondern zugleich ist ein damit korrespondierender Anspruch des jeweils begünstigten Verfahrensbeteiligten anzuerkennen“ (Hervorhebung Demko); RZEPKA, S. 260, 321 dazu, dass „das objektive Verfassungsprinzip „faires Verfahren“ – sei es nun über Art. 2 Abs. 1 GG oder die speziellen Freiheitsrechte – Ansprüche des von einem Strafverfahren Betroffenen gegen den Staat konkretisiert“ (S. 260, Hervorhebung Demko) sowie mit Bezug auf Art. 6 EMRK: „die Verfahrensgarantie als Menschenrecht!“ (S. 321); RANSIEK, S. 5 f., 54 f. zur zweifachen Bedeutung des Grundsatzes des fairen Verfahrens als „Verfassungsgrundsatz“ (S. 5), wonach dieser sich zum einen als ein „Anspruch des einzelnen“ (S. 5), als ein „Verfahrensgrundrecht“ (S. 5) darstellt und dem Einzelnen
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
betrachtend, sondern vielmehr die Sicht eines seiner Teile auf das Ganze in den Mittelpunkt nachfolgender Untersuchungen stellend, ist zu fragen, welche speziellen Bedeutungsmomente und Inhaltsaspekte sich ausformen, wenn – wie es auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene getan wird – von einem Menschenrecht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren die Rede ist. Mit diesem nun hinzuzunehmenden menschenrechtlichen Blick, der auf das Strafverfahren gerichtet wird, kommt zu der Ganzheitsperspektive ein individualisierendes, ein individual-menschenrechtsschützendes Bedeutungsmoment hinzu,497 das danach fragt, was an speziellen Inhalten als Anspruch an ein als fair bewertetes Strafverfahren von der Rechtgemeinschaft verlangt wird, wenn diese dem Angeklagten ein Menschenrecht auf ein faires Strafver-
497
ein „subjektives, einklagbares Recht auf Gewährleistung eines fairen Verfahrens“ (S. 5) zuspricht, sowie sich zum anderen als ein „objektiver Grundsatz“ (S. 6) darstellt. Zur Betonung der Bedeutung der zu achtenden Subjekt-Stellung des Beschuldigten für die Präzisierung des Fairnessbegriffs siehe weiter S. 54 f.: „Fair ist ein Verfahren dann, wenn es dem Beschuldigten die Chance zu eigenen Entscheidungen über seine Verteidigung läβt“ (S. 55); ARNDT, NJW 1959, S. 1301: „… ob ein konkretes Verfahren ein „fair trial“ war … d.h. ob die prinzipielle Position eines Beteiligten als einfluβberechtigtes Subjekt des Verfahrens nicht in ihrem Kern angetastet wurde“; RZEPKA, S. 268; siehe aus der Rechtsprechung etwa BVerfGE 57, 250: „Anspruch des Angeklagten auf ein faires, rechtsstaatliches Strafverfahren … allgemeinen Prozeβgrundrecht(s)“ (III. 1. b)) und „Grundsatz der Prozeβfairneβ … Gebot des fairen Verfahrens“ (III. 1. b) dd) (3)); SANDERMANN, S. 64: „Verfahrensnormen in den Rang eines Menschenrechtes erhoben“; zur Verbindung des Fairnessbegriffs mit den Begriffen Grundsatz und Anspruch siehe etwa BGE 113 Ia 412, S. 421: „… das Grundrecht des "fair trial", also gegen den Grundsatz des fairen bzw. gerechten Verfahrens. Dieser Grundsatz ergibt sich namentlich aus Art. 6 Ziff. 1 EMRK, wonach … jedermann Anspruch darauf hat, dass seine Sache in billiger Weise gehört wird, und nebstdem ist er auch durch Art. 6 Ziff. 3 EMRK garantiert …“ (im Original fettgedruckte Hervorhebung BG: «Art. 6 Ziff. 1 EMRK», «Art. 6 Ziff. 3 EMRK», übrige Hervorhebung: Demko). Auch Art. 6 EMRK und der EGMR in seiner dazu ergangenen Rechtsprechung nehmen eine individual-menschenrechtsschützende Sicht ein, indem ein Menschenrecht des Angeklagten «auf ein faires Strafverfahren» ausgeprägt und für dieses eine Vielzahl von spezifischen Einzelrechten ausdifferenziert wird, siehe dazu näher unter Kap. 3 B. III. 1 b) cc); RZEPKA, S. 450: „nicht nur um ein objektives Gestaltungsprinzip, sondern um ein Recht des strafrechtlich Verfolgten, einen subjektiven Anspruch, ja sogar um ein Prozeβgrundrecht“ (Hervorhebung Rzepka); siehe auch WIEDERKEHR, S. 185 ff., 301 ff. zu Komponenten einer „individuelle(n) Gerechtigkeit“ (S. 187, Hervorhebung Wiederkehr), hinsichtlich der auf die Wahrung der Würde und Subjektstellung des Individuums Bezug genommen wird (siehe etwa S. 186, 188), siehe zur individuellen formellen und individuellen materialen Gerechtigkeit zudem näher S. 304 ff. und S. 320 ff.
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Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
fahren eröffnet und (mit den Mitteln des Rechts durchsetzbar) sichert.498 Bei der Betrachtung des Strafverfahrens aus menschenrechtsschützender Sicht des Angeklagten und unter Hervorhebung eines aus der Qualität des MenschSeins fliessenden – angeborenen, unverfügbaren und vorstaatlich zu denkenden – Rechts eines Menschen499 ist mithin eine sich auf den Angeklagten konzentrierende Bedeutungsebene eröffnet, mit welcher eine inhaltliche Konkretisierung der strafverfahrensrechtlichen Fairness unter Aufzeigen von denjenigen spezifischen Inhalten einhergeht, die die Rechtsgemeinschaft mit einem speziell dem Angeklagten zu gewährenden fairen Strafverfahren normativ verbindet.500 152
Die Ganzheitsebene und ihre inhaltsbestimmenden Formelemente stehen in einer sich gegenseitig beeinflussenden untrennbaren Verbindung: Der Begriff der Fairness des Strafverfahrens, der hier in der Bedeutung als Strafgerechtigkeit verstanden wird und die Zusammenführung von materieller und prozeduraler Gerechtigkeit verlangt, wurde in seinem optimierenden und ausgleichenden Charakter aufgezeigt.501 Dieser optimierende und ausgleichende Charakterzug der strafverfahrensrechtlichen Fairness verweist mit Bezug auf das Menschenrecht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren und die zu diesem gehörenden, dem Angeklagten zu gewährenden Einzel(verteidigungs)rechte einerseits auf deren grundsätzlich zu fordernde optimale, d.h. 498
499
500
501
122
Siehe dazu auch RZEPKA, S. 228 f.; WIEDERKEHR, S. 2, wonach „Fairness des Verfahrens … Rücksichtnahme auf die Würde und Persönlichkeit des Menschen, Anerkennung des Einzelnen als Subjekt des Verfahrens“ (Hervorhebung Demko) bedeute; siehe auch BGE 113 Ia 309, S. 315: „Die Prozessbeteiligten haben bereits aus dem Gebot der Fairness … Anspruch darauf, im Verfahren ihre Würde garantiert zu erhalten … In besonderem Masse gilt dies für den strafrechtlich Beschuldigten …“ (Hervorhebung Demko). Zum Verständnis und zu der Herleitung der Menschenrechte aus der Qualität als Mensch siehe etwa ALEXY, Institutionalisierung, S. 248 f.; CLAYTON/TOMLINSON, S. 21 N 1.05, S. 24 f. N 1.13-1.15.; SANDERMANN, S. 67: „Anerkennung angeborener vorstaatlicher Rechte der Menschen“; GAEDE, S. 339 mit weiteren Nachweisen; LUHMANN, Grundrechte, S. 72: Freiheit und Würde als „vorstaatliche Rechtsgüter“, „Charakterisierungen der Grundrechte als vorstaatlich, allmenschlich, naturrechtlich, nicht disponibel …“; HASSEMER, KritV 1988, S. 343 zur „Idee von der Unverfügbarkeit der Menschenrechte“; VON WEBER, ZStW 1953, S. 347; DENNINGER, JZ 1988, S. 1130 f. zum naturrechtlichen Verständnis: „natürlichen und unveräuβerlichen Menschenrechte“ (S. 1130), „vor- und überstaatlichen Rechten“ (S. 1130), Menschenrechte „als vorgegeben ,gewährleistenʻ“ (S. 1130), Hervorhebung Demko. Zur Verbindung von Fairness mit materieller und prozeduraler Gerechtigkeit sowie dem „humanitären, mitmenschlichen Aspekt der Fairneβ (S. 223) und hierbei zu der zu gewährleistenden Partizipation des Einzelnen am Verfahren als „kommunikatives Grundbedürfnis“ (S. 223) siehe näher BERKEMANN, JR 1989, S. 222 f., 225 ff. Siehe dazu unter Kap. 3 A. III.
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
uneingeschränkte Gewährleistung und aber andererseits auch auf die Einschränkbarkeit jener Rechte im Falle von Spannungen zwischen diesen und anderen, aus der materiellen und/oder prozeduralen Gerechtigkeitskomponente fliessenden Fairnesselementen. Ist das Ganze damit (struktur-)mitbestimmend auch für dessen Teile, so wirken diese als die Formelemente der strafverfahrensrechtlichen Fairness aber auch ihrerseits auf das Ganze, und zwar inhaltsmitbestimmend, zurück, indem die Formelemente die strafverfahrensrechtliche Fairness inhaltlich konkretisieren und jeweils bestimmte spezifische Inhaltsmomente ausprägen, die von der Rechtsgemeinschaft als für ein faires Strafverfahren unerlässliche Fairnessaspekte angesehen werden. Was genau nun macht diesen spezifischen Inhalt der strafverfahrensrechtlichen Fairness aus, wenn auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene von einem Menschenrecht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren gesprochen wird? Wird nach der Bedeutung und dem Inhalt eines Menschenrechts nicht irgendeines Menschen und nicht auf irgendein Verfahren, sondern gerade des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren gefragt, so gilt es, die Einbettung, das Eingestelltsein des Angeklagten in eben dieses Strafverfahren zu beachten, in dessen Rahmen sich das Menschenrecht des Angeklagten auf Fairness des Strafverfahrens ausprägen soll. Diese Betrachtung des Angeklagten in seiner Einbettung in das Strafverfahren bedeutet dabei, dessen Eingestelltsein in ein wahrheitsgerichtetes Erkenntnisverfahren, genauer in ein dialektisches wahrheitsgerichtetes Erkenntnisverfahren, welches die Erfordernisse von These und Antithese zu gewährleisten hat, zu erkennen und anzuerkennen.502 Ein faires Straf- und Beweisverfahren wurde speziell mit Blick auf die Wahrheitsermittlung als ein solches ausgewiesen, das dem Streben nach Wahrheit und materieller Gerechtigkeit unter Beachtung auch der prozeduralen Gerechtigkeitsanforderungen zu genügen und welches sich dabei als ein der Dialektik des Erkennens wirksam Raum gebendes wahrheitsgerichtetes Erkenntnisverfahren auszuformen hat.503 Verlangt ist damit von einem fairen Straf- und Beweisverfahren, dem Moment des Widerspruchs und mit diesem beiden Erfordernissen der These und der Antithese in 502
503
Instruktiv dazu auch ARNDT, NJW 1959, S. 1301: „… das jeweils Gerechte nicht einsam vom Gericht allein errechnet werden kann, sondern sich erst im Widerspruch lebendig entfaltet. Erst daβ die Verfahrensbeteiligten durch Einfluβrechte am Rechtsdenken des Richters teilhaben, gibt dem Verfahren seine freiheitliche Würde und gewährleistet den erforderlichen Grad an Offensichtlichkeit und Richtigkeit des Rechterkennens …“. Den Zusammenhang der Wahrung des fair trial mit der Subjektstellung des Angeklagten herstellend heisst es zudem: „… ob die prinzipielle Position eines Beteiligten als einfluβberechtigtes Subjekt des Verfahrens nicht in ihrem Kern angetastet wurde“, Hervorhebung Demko. Siehe zum Strafverfahren als wahrheitsgerichtetem Erkenntnisverfahren und zu seinem dialektischen Charakter bereits unter Kap. 2 B.
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Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
gleichwertiger und gleichberechtigter Weise die Möglichkeit zur Verwirklichung zu geben, so dass die für und die gegen die Strafbarkeit des Angeklagten sprechenden Erkenntnismomente in gleicher Weise im Strafverfahren ans Licht und – im wahrsten Sinne des Wortes – zur Sprache gebracht werden können. 154
Ist unter dialektischer Betrachtung des Strafverfahrens dabei dem Angeklagten die Antithese zugewiesen, mit welcher er sich gegen die strafverfolgende These der anklagenden Seite stellt bzw. sich zu dieser in Widerspruch setzt,504 so fragt sich unter Hinzunahme nun der menschenrechtlichen Bedeutungsebene, in welcher Weise sich jene dialektischen Erkenntnisse mit der inhaltlichen Ausformung des Menschenrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren verbinden lassen. Eingestellt in den von einem fairen Strafverfahren zu leistenden Anspruch, das dialektische (Erkenntnis-)Erfordernis von «These und Antithese» bzw. (handlungsbezogen umgesetzt) von «Rede und Gegenrede» in dem gesamten Strafverfahren so zu gewähren, dass einerseits – als Ausdruck der materiellen Gerechtigkeitskomponente – der Wahrheit «so nah wie möglich» zu kommen ist, dass dies andererseits – als Ausdruck der prozeduralen Gerechtigkeitskomponente – aber «nicht auf Kosten, nicht um den Preis» der Verletzung von Strafverfahrenswerten und hierbei von Menschenrechten (auch solcher des Angeklagten) im Strafverfahren geschehen darf, fragt sich mit Blick auf die Betonung eines Menschenrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren, welche Bedeutung gerade dem Angeklagten in diesem, bezüglich der Wahrheitsermittlung Objektivität zu wahren habenden dialektischen Erkenntnisverfahren zukommt bzw. genauer, von den Rechtsgemeinschaften auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene zugeschrieben wird: Steht die strafverfahrensrechtliche Ermittlung der Wahrheit unter dem Anspruch der Objektivität, lässt sich diese aber zugleich nur von Menschen als Erkenntnissubjekten in einem von diesen Erkenntnissubjekten durchzuführenden und hierbei thetischen und antithetischen Erkenntnismomenten Raum gebenden Erkenntnisverfahren ermitteln,505 so ist mit diesen erkenntnistheoretischen und dialektischen Bedeutungsmomenten allein nicht gleichsam automatisch mitausgesprochen, dass auch und gerade der Angeklagte «als Mensch» und Erkenntnissubjekt an diesem strafverfahrensrechtlichen Erkenntnisverfahren aus Sicht der Rechtsgemeinschaft mitwirken darf: Denn es liesse sich doch (wenn auch heute nur theoretisch) die Entscheidung der Rechtsgemeinschaft denken – und wurde zu Zeiten des frühen
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Siehe dazu auch NIEHAUS, ZfRSoz 2003, S. 83, wonach der Beschuldigte „mit seiner Unschuldsbehauptung … einen Geltungsanspruch (erhebt), der ihm dadurch, daβ er sich in der Position des Beschuldigten befindet, bestritten wird …“ (Hervorhebung Niehaus: «Geltungsanspruch», übrige Hervorhebung Demko). Dazu unter Kap. 2 B. II. 2.
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
inquisitorischen Strafverfahrens auch gedacht506 –,507 das strafverfahrensrechtliche Erkenntnisverfahren ohne den Angeklagten als ein im Strafverfahren anzuerkenndes Prozesssubjekt durchzuführen, indem diesem eine blosse Objektstellung zugewiesen und ihm das (Menschen-)Recht verweigert wird, als (Prozess-)Subjekt an dem Strafverfahren und an dem sich in diesem vollziehenden Wahrheitsermittlungsweg in wirksamer Weise teilzunehmen. Ist die Wahrung der Stellung des Angeklagten als Prozesssubjekt im Strafverfahren als Ausfluss von dessen Menschenwürde heute anerkannt,508 so fragt sich auf der Suche nach der Bedeutung und dem Inhalt des Menschenrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren, in welcher Weise diese dem Angeklagten zu gewährende Prozesssubjektivität in dessen Menschenrecht auf ein faires Strafverfahren einfliesst und welche inhaltlichen Ausdifferenzierungen dieser Prozesssubjektivität als zugleich inhaltliche Konkretisierungen auch des Menschenrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren in diesem Menschenrecht Eingang finden.509
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Siehe zum früheren Inquisitionsverfahren, in dem der Angeklagte nicht Subjekt, sondern Objekt des Verfahrens war, etwa DONATSCH/SCHWARZENEGGER/WOHLERS, S. 12. Siehe in diese Richtung auch HASSEMER, Grundlagen, S. 139 zwischen dem szenischen Verstehen (S. 122 ff.) und dem „Beschuldigte(n) als Teilnehmer am szenischen Verstehen“ (S. 138, Hervorhebung Hassemer, siehe näher dazu S. 138 ff.) unterscheidend: „Um szenisches Verstehen des Richters zu ermöglichen, braucht das Strafverfahrensrecht den Beschuldigten nicht als „Teilnehmer“ …“ (S. 139, Hervorhebung Demko), „Teilnahme des Beschuldigten am Verstehensprozeβ ist nicht so sehr Forderung aus der Theorie des Verstehens, sondern eine Forderung aus der politischen Philosophie und der Rechtspolitik“ (S. 139, Hervorhebung Hassemer: «Forderung aus der politischen Philosophie und der Rechtspolitik», übrige Hervorhebung Demko). Siehe dazu näher die Ausführungen bei der menschenrechtlichen und strafverfahrensrechtlichen Verankerung des Menschenrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren unter Kap. 3 B. III.; siehe dazu auch TETTINGER, S. 22, 23; siehe auch BERKEMANN, JR 1989, S. 222 f., 225 zur „Partizipation als kommunikatives Grundbedürfnis“ (S. 222, Hervorhebung Berkemann) und der „Kommunikative(n) „Teilhabe“ …“ (S. 225, Hervorhebung Berkemann): „Das Fehlen eines derart vorgelagerten, kommunikativ ausgerichteten Handlungsabschnitts gilt in unserer Kultur als unfair“ (S. 225). Siehe zur Konkretisierung des Menschenrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren in dessen Menschenrecht auf Verteidigung sowie zur konkretisierenden Ausprägung wiederum dieses im Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen unter Kap. 4 und Kap. 5; siehe zudem RZEPKA, S. 228 f., wonach das Recht auf ein faires Strafverfahren „in einen engen Zusammenhang mit Art. 1 Abs. 1 GG … gebracht und als Garant für aktive verfahrensrechtliche Befugnisse zur Abwehr des staatlichen Strafanspruchs beschrieben“ (S. 228, Hervorhebung Rzepka: «Abwehr des staatlichen Strafanspruchs», übrige Hervorhebung: Demko) werde; WIEDERKEHR, S. 13, wonach Fairness „als unerlässliche Waffe im Kampf um die menschliche Würde“ fungiere.
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Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht 155
Es gilt mithin, die dialektische Betrachtung des «Erkenntnisverfahrens: Strafverfahren» mit einer menschenrechtsschützenden Bedeutungsebene – und bezüglich dieser hier speziell mit der sich auf den Angeklagten beziehenden menschenrechtsschützenden Bedeutungsebene – zusammenzuführen, um auf diese Weise Bedeutung und Inhalt(e) des Menschenrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren zu ermitteln. Daraus ergibt sich der nachfolgende Untersuchungsgang:
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Gefragt wird zunächst danach, welche Bedeutungs- und Inhaltsmomente sich für das Menschenrecht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren den Begründungslinien der Philosophie und der Psychologie entnehmen lassen.510 Sodann ist zu untersuchen, was an Bedeutungs- und Inhaltsmomenten die Verankerungen des Menschenrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren in menschenrechtlichen und strafverfahrensrechtlichen Rechtsinstrumenten auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene zu erkennen geben.511 Nach dem Kernmoment des Menschenrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren suchend, gilt es anschliessend und auf die vorgängigen Untersuchungen aufbauend, das «Menschenrecht auf Verteidigung» näher auszuformen512 und hierbei die gewonnenen menschenrechtlichen und dialektischen Erkenntnisse zusammenzuführen. Zu fragen ist hier: Könnte der spezifische Kerninhalt des Menschenrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren in einem «Menschenrecht auf Verteidigung» liegen, welches sich – unter Hinzunahme der dialektischen Erkenntnisse – als ein «Menschenrecht auf Antithese» ausprägt? Neben einer Untersuchung des spezifischen Inhaltes des Menschenrechts auf Verteidigung ist dabei zudem nach den Rechten und Elementen auf der Ausübungsebene zu fragen, die es für ein wirksam gewährtes Menschenrecht auf Verteidigung braucht, wobei sowohl den Kern- bzw. Grundausübungsrechten/-elementen513 als auch einer spezifischen Ausformung des Menschenrechts auf Verteidigung in Gestalt des Konfrontationsrechts des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen nachzugehen ist.514
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Siehe dazu unter Kap. 3 B. II. 1. und 2. Siehe dazu unter Kap. 3 B. III. Siehe dazu unter Kap. 4. Siehe dazu unter Kap. 4 B. III. Siehe dazu unter Kap.5.
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
II.
Begründungslinien für ein Menschenrecht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren
1.
Philosophische Begründungslinien für ein Menschenrecht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren
Die Bedeutung der dem Angeklagten im Strafverfahren einzuräumenden Prozesssubjektivität, als Prozesssubjekt an dem strafverfahrensrechtlichen Erkenntnisverfahren teilnehmen zu können, findet in der Philosophie ihren vielfachen Ausdruck, wobei sich die ausdrückliche Einbettung der anzuerkennenden Subjekthaftigkeit eines Menschen in den strafverfahrensrechtlichen Kontext in den einzelnen philosophischen Begründungslinien in unterschiedlicher Weise ausprägt. a)
Kant
Das von Kant betonte Prinzip der sittlichen Autonomie der Person, mit dem er „einen sehr wesentlichen Beitrag zur philosophischen Begründung der Menschenrechte geleistet hat“515 und welches – wenn auch noch weniger ausführlich von Kant selbst, so doch in dessen Nachfolge im sich mit dem Strafverfahren und den Schriften von Kant beschäftigenden Schrifttum – auch auf den strafverfahrensrechtlichen Kontext übertragen wird,516 bringt den Gedanken der dem Angeklagten im Strafverfahren einzuräumenden Subjekthaftigkeit in fruchtbarer Weise zum Ausdruck. Die Frage der subjektiven Moralität in den Mittelpunkt rückend, ist die sittliche Autonomie des Menschen „zum Grundsatz der moralischen Welt“517 erhoben und jene Autonomie des Menschen ist – auch nach der Rechtsprechung des EGMR – als Grundlage der Menschenrechte der EMRK und auch speziell der in Art. 6 EMRK geschützten Menschenrechte des Angeklagten anerkannt.518 Als causa der 515 516
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KAUFMANN, Problemgeschichte, S. 61. Siehe dazu GAEDE, S. 355 f., wonach Kant „nicht explizit ein Recht auf ein faires Verfahren …“ benennt, sich aber das „… faire Verfahren als Ausdifferenzierung des allgemeinen Freiheitsrechts betrachten lässt“. KAUFMANN, Problemgeschichte, S. 61. Siehe etwa EGMR, PRETTY v. THE UNITED KINGDOM, 29.04.2002, Reports 2002-III, §§ 52, 61, 65, ausdrücklich die Menschenwürde anführend: „… showing a lack of respect for, or diminishing, his or her human dignity …“ (§ 52, bei Prüfung des Art. 3 EMRK), ausdrücklich auf Selbstbestimmung und Autonomie eingehend: „… Although no previous case has established as such any right to self-determination as being contained in Article 8 of the Convention, the Court considers that the notion of personal autonomy is an important principle underlying the interpretation of its guarantees …“ (§ 61, bei Prüfung des Art. 8 EMRK), deutlich zu der das Wesen der Konvention ausmachenden Menschenwürde sodann in § 65 (bei Prüfung des Art. 8
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Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
Würde des Menschen seine Autonomie anführend519 und sich dem den „Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit“520 weisenden Ziel der Aufklärung an die Seite stellend, heisst es bei Kant: 159
„… Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur …“521
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Selbstgesetzgebung, Menschenwürde und Selbstzweckhaftigkeit in einen Zusammenhang bringend, erfasst menschliches Dasein als ein „Dasein von Subjektivität“522 die Fähigkeit, „allgemein gesetzgebend, obgleich mit dem
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520 521 522
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EMRK); EGMR, CHRISTINE GOODWIN v. THE UNITED KINGDOM, 11.07.2002, Reports 2002-VI, §§ 90, 91, wo im Rahmen der Prüfung des Art. 8 EMRK ausdrücklich auf die Menschenwürde und die Autonomie hingewiesen ist: „… to enable individuals to live in dignity and worth …“ (§ 91), die Menschenwürde ausdrücklich als das Wesen der Konvention ausmachend bezeichnet ist (§ 90) und zudem die Autonomie betont wird: „… Under Article 8 of the Convention in particular, where the notion of personal autonomy is an important principle underlying the interpretation of its guarantees …“ (§ 90); EGMR, VAN KUCK v. GERMANY, 12.06.2003, Reports 2003-VII, § 69, wo bei Prüfung des Art. 8 EMRK die Selbstbestimmung, Autonomie und Menschenwürde ausdrücklich betont sind; siehe auch bereits EKMR, EAST AFRICAN ASIANS v. THE UNITED KINGDOM, 14.12.1973, D.R. 78 A/B/5, S. 55 N 189; EGMR, TYRER v. THE UNITED KINGDOM, 25.04.1978, A26, § 33, wo im Zusammenhang mit Art. 3 EMRK gesprochen wird von „… one of the main purposes of Article 3 (art. 3) to protect, namely a person’s dignity and physical integrity ...“ und wo ebenso von der Behandlung als Objekt die Rede ist: „... he was treated as an object in the power of the authorities ...“; deutlich auch EGMR, KUDLA v. POLAND, 26.10.2000, Reports 2000-XI, § 94; EGMR, RIBITSCH v. AUSTRIA, 04.12.1995, A336, § 38; EGMR, DIKME v. TURKEY, 11.07.2000, Reports 2000-VIII, § 90; EGMR, VANDER VEN v. THE NETHERLANDS, 04.02.2003, Reports 2003-II, §§ 50, 62; ausdrückliche und deutliche Hinweise auf die Menschenwürde als die grundlegenden Ziele und das Wesen der Konvention ausmachend, und zwar bei Prüfung des notstandsfesten Art. 7 EMRK siehe EGMR, S.W. v. THE UNITED KINGDOM, 22.11.1995, § 44, Hervorhebungen Demko. Siehe aus dem Schrifttum etwa näher STIEGLITZ, S. 150 f. zum Schutz der Autonomie des Einzelnen gegen Willkür als Ausgangs- und Fixpunkt der Rechtsprechung des EGMR; BERGMANN, S. 65, 91, 119 ff., 254 f., 274, wonach der Mensch als „ein mit besonderer Würde und Freiheit ausgestattetes Wesen im Zentrum steht und dazu bestimmt erscheint, sich dieser seiner Würde gemäβ in Freiheit zu vervollkommnen“ (S. 91, Hervorhebung Bergmann); BOROWSKY, in: MEYER, Charta der Grundrechte, Art. 1 N 3. Siehe zum Zusammenhang zwischen dem Würdebegriff und der zweiten und dritten Formel von Kants Kategorischem Imperativ näher SEELMANN, Menschenwürde, S. 68 ff. GIESE, S. 35. KANT, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 69. KAHLO, KritV 1997, S. 199.
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
Beding, eben dieser Gesetzgebung zugleich selbst unterworfen zu sein“.523 Das autonome, selbstgesetzgebende menschliche Sein erstreckt sich dabei nicht allein auf eine innere Autonomie, nach der ein Mensch fähig ist, allgemeingültige Handlungsziele und -normen innerlich setzen, reflektieren und hervorbringen zu können,524 sondern ist auch äussere Autonomie, ist im Aussen gelebte Subjektivität bzw. „praktische(r) Subjektivität“,525 nach der der Mensch die Fähigkeit hat, die innerlich selbstgesetzten allgemeingültigen Handlungsziele und -normen auch praktisch umzusetzen und ihnen gemäss im Aussen zu handeln.526 Die enge Verbindung von Menschenwürde und Freiheit aufzeigend und dabei den Zusammenhang verdeutlichend, der zwischen innerer Würde und ihrem Ausdruck im Aussen, zwischen innerer Freiheit und äusserer Freiheit besteht,527 verweist Kant auf ein jedem Menschen unabhängig von allen rechtlichen Akten zustehendes angeborenes Naturrecht, welches nur ein einziges, nämlich das Menschenrecht auf Freiheit ist:528 „… Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür), sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen, kraft seiner Menschheit, zustehende Recht …“529
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Die Herleitung und enge Verknüpfung zwischen dem kantischen Autonomiebegriff und den „Konstitutionsmomente(n) Freiheit – Gleichheit – Selbstständigkeit“530 erheben Anspruch auf Geltung auch für einen „freiheitlich reformierten Strafprozeβ als dem Verfahrensrecht der Subjektivität“,531 indem sich das menschliche Dasein des Beschuldigten in dem spezifischen Handlungs-
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KANT, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 74. Siehe auch KAHLO, KritV 1997, S. 196: „menschliches Dasein als ein besonderes Selbstverhältnis …, das sich seines Vermögens, durch eigene Erkenntnisleistungen zu wahren Einsichten zu finden …“ KAHLO, KritV 1997, S. 197, siehe dort auch: „praktische Autonomie“ (S. 197); siehe auch KAHLO, Festschrift Wolff, S. 158, 160, 165. Siehe dazu auch GÖLLER, S. 129; KAHLO, KritV 1997, S. 196 f.: „Dieses Vermögen hat dieses Dasein … nicht etwa nur hinsichtlich der Natur und der bearbeiteten Natur als einer Welt der Gegenstände, sondern es hat sie insbesondere und primär hinsichtlich seiner Handlungen …“ (S. 196, Hervorhebung Demko). Siehe dazu mit weiteren Ausführungen MÜLLER, Menschenwürde, S. 131; WOLBERT, S. 91 ff.; FENNER, AZP 2007, S. 144 ff. zu der inneren Würde und der WürdeDarstellung. Siehe MÜLLER, Menschenwürde, S. 140: das angeborene Freiheitsrecht im Sinne einer „durch Abwehrrechte und Unterlassungsgebote abgesicherten Handlungsfreiheit“ (S. 140). KANT, Metaphysik der Sitten, S. 345 (Hervorhebung Demko). SCHILD, Menschenrechte, S. 265 FN 87; siehe auch HOFMANN, S. 14 ff. zu der Menschenwürde, der Freiheit und der Gleichheit. KAHLO, KritV 1997, S. 199.
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Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
kontext «Strafverfahren» als ein Dasein von „Rechtssubjektivität“,532 genauer von „Strafverfahrenssubjektivität“533 zu erweisen hat und der Beschuldigte entsprechend als „Prozesssubjekt“,534 als Strafverfahrenssubjekt anzuerkennen und zu behandeln ist. Nicht weil der Staat ein Rechtsstaat, nicht weil ein Strafverfahren ein rechtsstaatliches Strafverfahren ist, ist dem Beschuldigten im Strafverfahren die Rechtsstellung als Rechts- und Strafverfahrenssubjekt zuzusprechen und sind ihm vom Staat Freiheit, Gleichheit und aktive politische Partizipation erst zu verleihen.535 Vielmehr, genau umgekehrt,536 steht das menschliche Dasein – und zwar auch im Handlungskontext «Strafverfahren» das menschliche Dasein des Beschuldigten – als Subjekt-Dasein am Beginn und haben in Folge der Staat, will er ein Rechtsstaat sein, und das Strafverfahren(-srecht), will es ein rechtsstaatliches „freiheitsbegrifflich aufgeklärtes“537 Strafverfahren(srecht) sein, der den kantischen Autonomiebegriff verkörpernden Freiheit, Gleichheit und aktiven politischen Partizipation konform zu sein538 und ist Subjektivität als Rechts-, als Strafverfahrenssubjektivität für den Beschuldigten „auch (gerade)“539 im Strafverfahren als eine der „Konkretisierungen von Staatlichkeit“540 zu wahren. Ein Strafverfahren(srecht) mit einem „freiheitsorientierte(n)“,541 genauer einem freiheitsverpflichteten Geist hat dafür zu sorgen und die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die die Autonomie des Beschuldigten verkörpernde rechtssubjektive Freiheit, Gleichheit und aktive Mitwirkung im Strafverfahren für den Beschuldigten gewährleistet sind und sich innere Würde, innere Freiheit des
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KAHLO, KritV 1997, S. 199. KAHLO, KritV 1997, S. 195. KAHLO, KritV 1997, S. 199 mit weiteren Ausführungen; siehe zudem KAHLO, Festschrift Wolff, S. 170 f. Dazu, dass Rechtsgleichheit und Selbständigkeit „nicht vom Staat erlassen oder verliehen werden“ (S. 128), siehe näher GÖLLER, S. 128. GÖLLER, S. 128: „… sondern – umgekehrt – …“; KAHLO, KritV 1997, S. 199: „… gerade umgekehrt …“ KAHLO, KritV 1997, S. 199, der mit weiteren Ausführungen zutreffend auf die Übertragung des freiheitsbegrifflich aufgeklärten Selbstverständnisses neuzeitlicher Subjektivität in das Prozessrecht hinweist (S. 199). Siehe dazu näher GÖLLER, S. 128; KAHLO, KritV 1997, S. 199; TSCHENTSCHER, S. 199: „Gleichzeitig verkörpern Freiheit und Gleichheit den kantischen Autonomiebegriff“; zum Zusammenhang von Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit bei Kant und ebenfalls den Bezug zu den Menschenrechten herstellend siehe MÜLLER, Menschenwürde, S. 132 ff. KAHLO, KritV 1997, S. 199. KAHLO, KritV 1997, S. 200. KAHLO, KritV 1997, S. 200.
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
Beschuldigten auch im Aussen, d.h. in dem konkret durchgeführten Strafverfahren praktisch umzusetzen, sich äusserlich auszudrücken vermag.542 „… und dies hat dadurch zu geschehen, daβ der Beschuldigte durch seine strafprozeβgesetzlich positivierte Rechtsstellung als ein Subjekt des Strafverfahrens anerkannt: als ein Prozeβsubjekt behandelt wird …“543
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Die jedem Menschen eigene Subjektivität ist in ihrer Geltung für jeden, für alle544 Menschen mit dem Prinzip der Universalität eng verbunden545 und die aus dem kantischen Autonomiebegriff hergeleitete Freiheit eines Menschen, welche sich in ihrer Gesamtheit, in ihrer vollkommenen Gewährleistung als innere und äussere Freiheit erweist bzw. zu erweisen hat,546 ist in dem Zusammenwirken von Menschenwürde und Menschenrechten547 als ein universales Menschenrecht auf Freiheit zu begreifen, welches sich angewendet auf den Handlungskontext «Strafverfahren» dergestalt auszuformen hat, dass einem jeden Angeklagten unabhängig von der äusseren – etwa instruktorischen, adversatorischen oder gemischten548 – Form der Gestaltung des Strafverfahrens ein Menschenrecht auf Freiheit im Strafverfahren zusteht: Trotz Bestehens unterschiedlicher Ausgestaltungsformen von Strafverfahren auf
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Zum äusseren Ausdruck der inneren Würde siehe u.a. näher MÜLLER, Menschenwürde, S. 131; instruktiv zudem WOLBERT, S. 91 ff.; KOBUSCH, AZP 2006, S. 216 f., wo bezüglich der äusseren Freiheit von dem „anfällige(n), menschlicher Willkür und Verfügungsgewalt ausgesetzte(n), situationsabhängige(n), umstandsbedingte(n) und in materiellen Gütern manifestierbare(n) Element unserer Freiheit“ (S. 217) gesprochen wird. KAHLO, KritV 1997, S. 199 (Hervorhebung Demko). Siehe dazu KANT, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 51: „handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daβ sie ein allgemeines Gesetz werde“ (Hervorhebung Demko); dazu auch TSCHENTSCHER, S. 198. Siehe dazu näher TSCHENTSCHER, S. 198: „Für Kant selbst ist die enge Verbindung der Universalität mit dem Begriff der Autonomie kennzeichnend“ (Hervorhebung Tschentscher); siehe dazu KANT, Kritik der praktischen Vernunft, S. 144: „Die Autonomie des Willens ist das alleinige Prinzip aller moralischen Gesetze und der ihnen gemäβen Pflichten; alle Heteronomie der Willkür gründet dagegen nicht allein gar keine Verbindlichkeit, sondern ist vielmehr dem Prinzip derselben und der Sittlichkeit des Willens entgegen“; zur Auseinandersetzung mit Kants Auffassung von Menschenwürde und Autonomie siehe auch VELTEN, S. 174 ff. Zum Zusammenspiel von innerer Würde und ihrem Ausdruck im Aussen siehe etwa MÜLLER, Menschenwürde, S. 131; zur privaten und öffentlichen Autonomie siehe TSCHENTSCHER, S. 198. Zum Begründungszusammenhang von Menschenwürde und Menschenrechten siehe mit weiteren Nachweisen MÜLLER, Menschenwürde, S. 117 ff. Mit der «gemischten» Strafverfahrensform ist das Strafverfahren gemeint, wie es sich (etwa) auf der Ebene der internationalen Strafverfahren entwickelt hat, siehe dazu näher unter Kap. 2 B. I. 3.
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Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
nationaler und internationaler Ebene hat sich die rechtssubjektive Freiheit eines jeden Angeklagten bezüglich der Frage des «Ob» bzw. des «Dass» ihrer Gewährleistung als ein universales Menschenrecht im Strafverfahren auszuprägen, wird doch nur dann dem universalen Charakter der Menschenwürde eines jeden Menschen entsprochen. So unterschiedlich nationale und internationale Strafverfahren (etwa im Zusammenhang mit dem Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen) auch die Frage beantworten, «wie» dem Angeklagten seine „rechtssubjektive(r) Freiheit“549 im Strafverfahren zu gewährleisten ist, so einig sind sie doch, «dass» ihm diese zusteht und der Angeklagte als Strafverfahrenssubjekt aktiv handelnd im Strafverfahren und hierbei auch im strafprozessualen Beweisverfahren mitwirken darf.550 165
Der inneren Menschenwürde, die sich anknüpfend an die innere Autonomie eines Menschen auf die Fähigkeit bezieht, sich innerlich selbst allgemeingültige Handlungsziele und -normen zu setzen, steht dem Umstand entsprechend, dass der Mensch nicht nur ein geistiges Wesen ist, sondern dessen geistige Wesenheit in der sinnlichen äusserlichen Welt zu leben und auszudrücken hat,551 eine dem äusseren Ausdruck der inneren Menschenwürde dienende Handlungs- bzw. Ausdrucksseite zur Seite, welche die innere Autonomie zu einer «praktischen Autonomie im Aussen» werden lässt. Lässt sich in Entsprechung von innerer Würde und äusserer – im Sinne von das Innere ausdrückender bzw. in Handlungen umsetzender – Würde mit Bezug auf das Menschenrecht auf Freiheit von einer inneren und äusseren Freiheit jedes Menschen sprechen,552 so erstreckt sich diese rechtssubjektive Freiheit des Menschen über die Innenwelt hinaus immer auch auf die Aussenwelt des Handelns, des Umsetzens, des Realisierens innerer Zwecksetzungen und stellt – da und wenn sich menschliches Handeln auf andere Menschen bezieht bzw. 549 550
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KAHLO, KritV 1997, S. 200. Siehe zu den Gewährleistungen der Ausübung des Konfrontationsrechts des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen im nationalen Strafverfahren der Schweiz und im internationalen Strafverfahren vor dem ICTY näher unter Kap. 5. Siehe dazu auch MÜLLER, Menschenwürde, S. 138, der mit Bezug auf eine Würdekonzeption, die „der menschlichen Natur als ganzer gerecht wird“ (S. 138) zutreffend ausführt, dass zu achten nicht nur ist, „was am Menschen als geistige Person hochzuschätzen ist, sondern auch das, was alle Menschen als natürliche Lebewesen miteinander verbindet“ (S. 138), vgl. auch S. 140 f.: Menschenwürde als „nicht ausschlieβlich als Würde einer rein geistig verstandenen Person …, weil dadurch die menschliche Natur als Grundlage und Realisierungsfeld einer im Vollsinne des Wortes verstandenen Menschenwürde ausgeklammert bleibt“ (S. 140, 141, Hervorhebung Müller). Dazu MÜLLER, Menschenwürde, S. 131; siehe auch HOFMANN, S. 15 im Zusammenhang mit der kantischen Definition von Recht als „Inbegriff der äuβeren Bedingungen zur Realisierung menschlicher Sittlichkeit durch Betätigung der Freiheit“ (S. 15, Hervorhebung Demko); siehe dazu auch KAHLO, Festschrift Wolff, S. 170 f.
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
im menschlichen Miteinander geschieht – ein Handeln in Interaktion, in Kommunikation mit anderen Menschen, mithin eine praktisch gelebte Autonomie eines Menschen «in Sozialbezug» bzw. eingebettet in einen „sozialen Rahmen“553 der Aussenwelt dar. Auch die dem Angeklagten im Strafverfahren zuzusprechenden prozeduralen Menschenrechte als die Achtungs- und „Schutzinstanzen“554 der Menschenwürde lassen sich auf die „Gewährleistung des Ausdrucks bzw. der Realisierungsmöglichkeiten“555 der Menschenwürde des Angeklagten, wie sie sich im interpersonellen Zusammenwirken mit den anderen am Strafverfahren beteiligten Menschen zu verwirklichen zu können hat, beziehen und schützen damit die dem Angeklagten zustehende „unverlierbare Würde in ihren Ausdrucksformen“.556 Müller weist zutreffend darauf hin, dass „Personalität und Sozialnatur des Menschen … in keinem Ausschlussverhältnis, sondern in einem notwendigen Verweisungszusammenhang zueinander“557 stehen, weshalb praktische Autonomie, sich äusserlich ausdrückende Menschenwürde immer auch als interpersonell gelebte Freiheit eines Menschen zu verstehen ist.558 Von dem kantischen Menschenrecht auf Freiheit ausgehend nun jenen interpersonellen Aspekt zu betonen und mit diesem die freiheitlich motivierten Handlungen eines Menschen in Beziehung auf andere Menschen bzw. im menschlichen Miteinander hervorzuheben, findet Anwendung und Wert auch im «Handlungskontext Strafverfahren». Denn im Strafverfahren vollzieht sich die in Handlungen, Kommunikationen und Interaktionen sich realisierende äussere Autonomie des Angeklagten im sozialen Miteinander mit anderen am Strafverfahren beteiligten Menschen, mithin in einem interpersonellen Handlungs- und Kommunikationszusammenhang.559
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Diese praktische Autonomie, angewendet auf den Angeklagten im Strafverfahren, hat als sich interpersonell ausformende Handlungsfreiheit nicht nur Bedeutung für das im strafverfahrensrechtlichen Schrifttum im Zusammenhang mit dem fairen Verfahren und den Verteidigungsrechten des Angeklag-
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MÜLLER, Menschenwürde, S. 138 mit weiteren Ausführungen. MÜLLER, Menschenwürde, S. 131. MÜLLER, Menschenwürde, S. 131, wobei Müller hervorhebt, dass sich die Menschenrechte „primär“ (S. 131) auf die Gewährleistung der äusseren Freiheit beziehen. MÜLLER, Menschenwürde, S. 131. MÜLLER, Menschenwürde, S. 138. Siehe auch MÜLLER, Menschenwürde, S. 138, wonach Menschenwürde nicht solipsistisch zu verstehen sei, sondern im „interpersonellen Raum“ (S. 138) zu suchen ist. Siehe dazu MÜLLER, Menschenwürde, S. 131: „Das äuβerliche Bedingungsgefüge …“, unter dem die Realisierung der äusseren Freiheit steht, „… wird dabei nicht unwesentlich von anderen Menschen bestimmt …“ (S. 131, Hervorhebung Demko).
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ten betonte sog. Recht auf Teilhabe.560 Vielmehr verknüpft sich jener Aspekt der Interpersonalität auch mit dem weiteren, die Menschenwürde nach der kantischen Philosophie auszeichnenden Aspekt der Achtung und Anerkennung, wonach die Würde der Menschheit „an jedem anderen Menschen praktisch anzuerkennen“561 sei. Dies wiederum lässt sich mit dem in Bezug auf das faire Verfahren und die Verteidigungsrechte des Angeklagten ebenso zu beachtenden sog. Teilhaberahmen562 in einen sachlichen Zusammenhang bringen und lässt hier (etwa) die erforderliche Beachtung und Anerkennung der Teilhabehandlungen des Angeklagten in der Beweiserhebungsphase durch das Gericht im Rahmen der anschliessenden Beweiswürdigungsphase sichtbar werden.563 168
Gehört es zur Menschenwürde und dem Menschenrecht auf Freiheit, dass sich ein jeder Mensch in seiner Subjektivität und seinem entsprechend „sittlich selbstgesetzgebenden Dasein(s)“564 allgemeingültige Handlungsziele und -normen innerlich setzen und diese äusserlich realisieren und in Handlungen umzusetzen vermag, so ist dieses selbstgesetzgebende Dasein eines Menschen zum einen das eines jeden Menschen und geschieht zum anderen nicht in einem «Vakuum», das einen Menschen von den anderen Menschen isoliert. Vielmehr ist das selbstgesetzgebende Dasein jedes und damit aller Menschen mit einer „Geltung für alle“565 verknüpft und die kantische Menschenwürdekonzeption verbindet sich auf diese Weise mit einer wechselseitigen Achtung, einer wechselseitigen Anerkennung durch jeden Anderen und mithin durch alle Anderen:566
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„… Gleichwie er also sich selbst für keinen Preis weggeben kann (welches der Pflicht der Selbstschätzung widerstreiten würde), so kann er auch nicht der eben so notwendigen Selbstschätzung anderer, als Menschen, entgegen handeln, d. i. er ist verbunden, die Würde der Menschheit an jedem anderen Menschen praktisch anzuer-
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Zur „Fairness gemäβ Art. 6 EMRK als Recht auf Teilhabe“ (S. 339) siehe ausführlich GAEDE, S. 339 ff. und insbesondere S. 383 ff.: „Teilhabe als umfassende Prozesssubjektivität“ (S. 414). KANT, Metaphysik der Sitten, S. 601 (Hervorhebung Demko). Zu den Rechten des «Teilhaberahmens» siehe näher GAEDE, S. 403 ff. Siehe zur «Teilhabe» und zu dem «Teilhaberahmen» im Zusammenhang mit dem fairen Strafverfahren und hier speziell mit dem strafprozessualen Beweisverfahren und der Trennung zwischen der Beweiserhebungs- und Beweiswürdigungsphase die Ausführungen im Zusammenhang mit dem Menschenrecht auf Verteidigung unter Kap. 4 B. KAHLO, KritV 1997, S. 197. TSCHENTSCHER, S. 198 (Hervorhebung Tschentscher). Siehe dazu auch die Ausführungen und insbesondere die Herstellung des Bezugs zu den Menschenrechten bei MÜLLER, Menschenwürde, S. 127 ff.
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht kennen, mithin ruht auf ihm eine Pflicht, die sich auf die jedem anderen Menschen notwendig zu erzeigende Achtung bezieht …“567
„(N)icht bloβ, zurechnungsfähiges Subjekt von Handlungen, sondern auch Gegenstand der Achtung Anderer zu sein“,568 zeigt das auf, was sich als eine anerkannt gelebte Subjektivität bezeichnen lässt. Diese Anerkennung durch die Anderen bedeutet dabei in der Diskussion569 zwischen der sozialen Anerkennungstheorie und der den Gesichtspunkt der Inhärenz der Menschenwürde hervorhebenden Mitgifttheorie entsprechend letzterer nicht etwas, was einem Menschen seine Würde erst konstitutiv verleiht. Der Achtung und Anerkennung durch Andere kommt keine würdekonstituierende Bedeutung zu, sondern die Achtung „konstatiert und konfirmiert“570 die Menschenwürde. Die Achtung durch Andere ist, wie es Honnefelder treffend ausdrückt: „… Anerkenntnis, nicht Zuerkenntnis …“571
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Verkörpert sich die Menschenwürde in dem Menschenrecht auf Freiheit und formt sich im Aussen als eine umfassende Handlungs- und Ausdrucksfreiheit aus, um die im Innen selbstgesetzten allgemeingültigen Handlungsziele und -normen praktisch umzusetzen, so spricht die Anerkennung durch die Anderen den Rahmen des sozialen Miteinanders an und verweist auf das bereits angeführte Moment der Interpersonalität, das den äusseren Ausdruck der Menschenwürde mitbestimmt und zu einem äusseren Würdeausdruck in einem sozialen, interpersonellen Miteinander werden lässt. Die sich in den Menschenrechten auf Freiheit und Gleichheit wiederfindenden Begriffe von Menschenwürde und Autonomie geben hier ihre zwei untrennbar zusammengehörenden Aspekte zu erkennen: (Zum Ersten) Das selbstgesetzgebende Sein und Handeln eines jeden Menschen, was für den Angeklagten im Strafverfahren das Moment des Rechts auf Teilhabe anspricht, und zwar (zum Zweiten) unter Achtung und Anerkennung durch alle Anderen, womit auf den Rahmen des mitmenschlichen Miteinanders bezugnehmend für den Angeklagten im
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KANT, Metaphysik der Sitten, S. 601 (Hervorhebung Demko). MÜLLER, Menschenwürde, S. 127 (Hervorhebung Demko) mit weiteren Bezugnahmen auf Kant und einen Zusammenhang zu den Menschenrechten herstellend, S. 127 ff. Zur Diskussion zwischen der sozialen Anerkennungstheorie und der Mitgifttheorie siehe etwa MÜLLER, Menschenwürde, S. 127 f.; zur Kontroverse um deontologische und konsequentialistische Menschenwürde-Begründungen siehe HERDEGEN, S. 57 ff. HONNEFELDER, S. 163. HONNEFELDER, S. 163 (Hervorhebung Demko); zur Anerkennung durch alle, zu der Unparteilichkeit (impartiality) und zu dem kantischen Autonomiebegriff siehe auch TSCHENTSCHER, S. 198 f.
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Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
Strafverfahren die Verbindung zu seinem Recht auf einen Teilhaberahmen hergestellt ist.572 In den treffenden Worten von Kahlo heisst es hierzu: 173
„… Menschliches Dasein ist … also Selbstgesetzgebung des Willens, praktische Autonomie, in deren Akten sich Selbstverantwortung und wechselseitige Achtung miteinander verbinden …“573
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Ein selbstgesetzgebendes Sein und Handeln kann sich für einen jeden Menschen im Aussen als ein wirksames nur vollziehen, wenn dies auch unter Achtung aller sich gestaltet, vermittelt doch jene wechselseitige Anerkennung der gelebten Subjektivität eines Einzelnen durch alle Einzelnen der Subjektivität einen interpersonellen Rahmen, innerhalb dessen sich die Subjektivität in der äusseren Welt auch praktisch wirksam entfalten kann und innerhalb dessen die Menschenwürde einen „genuin praktischen Status“574 bezeichnet. Bezogen auf den Angeklagten und dessen wirksame Verteidigung im Strafverfahren bedeutet dies, dass ihm die Zuerkennung eines Rechts auf freies und gleiches Handeln im Strafverfahren nur dann eine auch wirksame freie und gleiche Mitwirkung am Strafverfahren vermittelt, wenn ihm zugleich auch die äusseren Rahmenbedingungen zugestanden werden, die eine wirksame selbstbestimmte Mitwirkung des Angeklagten im Strafverfahren erst ermöglichen. Braucht es – wie es auch in der kantischen Menschenwürdekonzeption zum Ausdruck kommt, auch wenn Kant dies nicht für die Frage des Angeklagten im Strafverfahren und dessen Anspruch auf ein faires Strafverfahren vertiefte575 – für den Menschenwürdebegriff beides, einerseits ein selbstbestimmtes Sein und Handeln jedes Menschen und andererseits einen Rahmen, ein (auch interpersonelles) «Feld», in dem sich dieses selbstbestimmte Sein und Handeln jedes Einzelnen verwirklichen, vollziehen kann, so sind beide Aspekte auch für die Frage der Ausgestaltung der rechtssubjektiven Freiheit des Angeklagten im Strafverfahren und hier speziell im strafpro-
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Siehe zur „wechselseitig gebotenen Achtung der Freiheit anderer“ (S. 356) auch im Zusammenhang mit dem Strafverfahren näher GAEDE, S. 356; vgl. zur Subjektivität des Angeklagten und ihrem „alltäglich praktisch(en)“ (S. 200) Wirklichwerden im Strafverfahren KAHLO, KritV 1997, S. 198 ff., siehe dort auch: „daβ der Beschuldigte durch seine strafprozeβgesetzlich positivierte Rechtsstellung als ein Subjekt des Strafverfahrens anerkannt: als ein Prozeβsubjekt behandelt wird“ (S. 199, Hervorhebung Demko), siehe zudem S. 197 zur Verbindung von Selbstverantwortung und wechselseitiger Achtung. KAHLO, KritV 1997, S. 197 (Hervorhebung Demko). MÜLLER, Menschenwürde, S. 129 (Hervorhebung Müller), zugleich den Bezug zur Begründung universaler Menschenrechte herstellend. Siehe dazu auch GAEDE, S. 355, 356, der auf das fehlende explizite Benennen eines Rechts auf ein faires Verfahren bei Kant, aber auch auf „fragmentarische Rekurse auf ein nötiges Verfahren im Denken“ (S. 355 FN 94) von Kant hinweist.
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
zessualen Beweisverfahren von Relevanz.576 Die Anerkennung eines jeden Einzelnen durch alle Anderen und damit die wechselseitige Anerkennung innerer und äusserer Subjektivität eines Jeden durch einen Jeden vermittelt nicht nur einen Bezug zum universalen Geltungsanspruch des umfassenden Menschenrechts auf Freiheit und Gleichheit und stellt die Frage nach einem Anspruch auf Universalität der zu wahrenden rechtssubjektiven Freiheit des Angeklagten im Strafverfahren.577 Vielmehr stellt sich über dieses interpersonelle Moment der gegenseitigen Achtung und Anerkennung auch der Bezug zu der zweiten Formel des Kategorischen Imperativs, der Selbstzweck-Formel her: Bedeutet die Verbindung von praktischer Autonomie, mithin von im Aussen gelebter Subjektivität einerseits und von wechselseitiger Achtung und Anerkennung andererseits eine «anerkannt gelebte Subjektivität», so drückt sich diese auch im Zusammenhang mit der kantischen Selbstzweck-Formel und der Idee der Menschheit als Zweck an sich selbst aus.578 Das Gebot der Achtung der Menschenwürde mit einem Instrumentalisierungsverbot zusammenbringend,579 heisst es in der bekannten Selbstzweck-Formel von Kant: „… Die Menschheit selbst ist eine Würde; denn der Mensch kann von keinem Menschen (weder von anderen noch sogar von sich selbst) bloβ als Mittel, sondern muβ jederzeit zugleich als Zweck gebraucht werden, und darin besteht eben seine Würde (die Persönlichkeit), dadurch er sich über alle andere Weltwesen, die nicht Menschen sind, und doch gebraucht werden können, mithin über alle Sachen erhebt. Gleichwie er also sich selbst für keinen Preis weggeben kann (welches der Pflicht der Selbstschätzung widerstreiten würde), so kann er auch nicht der eben so notwendigen Selbstschätzung anderer, als Menschen, entgegen handeln, d. i. er ist verbunden, die Würde der Menschheit an jedem anderen Menschen praktisch anzuerkennen, mithin 576
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Siehe zur Konkretisierung beider Aspekte und deren Bezug zum Recht auf Teilhabe und auf einen Teilhaberahmen die näheren Ausführungen im Zusammenhang mit dem Menschenrecht auf Verteidigung unter Kap. 4 B. Zur Menschenwürde in einem „genuin praktischen Status“ (S. 200, Hervorhebung Müller), zu universalen Menschenrechten und der wechselseitigen Anerkennung der Menschen als Träger subjektiver Rechte siehe näher MÜLLER, Menschenwürde, S. 128 f.; TSCHENTSCHER, S. 198 verweist auf die für Kant kennzeichnende enge Verbindung zwichen der Universalität und dem Autonomiebegriff; auf die von Kant „jedenfalls vorgezeichnet(e)“ (S. 355) „Erweiterung“ (S. 355) des von Kant betonten Menschenrechts auf Freiheit „zu einem universalen Menschenrecht“ (S. 355) siehe GAEDE, S. 355; GÖLLER, S. 130 zum „wahrhaft universale(n) bzw. allgemein gültige(n) Recht“ (S. 130, Hervorhebung Göller). KANT, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 61: „vernünftige Natur existiert als Zweck an sich selbst“, „Handle so, daβ Du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloβ als Mittel brauchest“, „der Idee der Menschheit, als Zweck an sich selbst“. Mit Hinweis auf die Objektformel von Dürig siehe zur aktuellen Bedeutung der zweiten und dritten Formel des Kategorischen Imperativs für die Würdediskussion die differenzierten Ausführungen von SEELMANN, Menschenwürde, S. 73 ff.
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Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht ruht auf ihm eine Pflicht, die sich auf die jedem anderen Menschen notwendig zu erzeigende Achtung bezieht …“580 176
Als „unbedingtes praktisches Handlungsgebot“581 bedeutet die sich wechselseitig verpflichtete Anerkennung gelebter Subjektivität eines jeden Menschen durch alle Anderen so zu handeln, dass „du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloβ als Mittel brauchest“:582 Ein Handlungsgebot, das angewendet auf den Angeklagten im Strafverfahren ein striktes und ausnahmsloses Verbot der Behandlung als nur Mittel, nur Objekt, nur Instrument des Staates bedeutet583 und das nach einer unbedingten und stets zu wahrenden584 Achtung und Behandlung als Subjekt auch im Handlungskontext «Strafverfahren», mithin als Prozesssubjekt bzw. Strafverfahrenssubjekt verlangt.585 Mit jener kantischen Selbstzweck-Formel, angewendet auf das Strafverfahren(srecht) als „weitere(n) Konkretisierung(en) von Staatlichkeit“586 bringt sich das Erfordernis unbedingt zu beachtender rechtssubjektiver Freiheit auch für den Angeklagten im Strafverfahren zum Ausdruck, welchem, selbst wenn er sich der angeklagten Straftat schuldig gemacht haben sollte und ebenso dann, wenn über die im Laufe des Strafverfahrens noch offene Frage von Schuld oder Unschuld des Angeklagten erst noch zu entscheiden ist,587 die Achtung seiner Würde ausnahmslos dargebracht werden muss. Die dem Angeklagten in einem rechtsstaatlichen freiheitsverpflichteten Strafverfahren zu gewährende anerkannt gelebte Subjektivität bedeutet für den zur Achtung jener Men-
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KANT, Metaphysik der Sitten, S. 600, 601. GAEDE, S. 354. KANT, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 61 (Hervorhebung Demko). GAEDE, S. 357: „kein Instrument nationaler oder europäischer Kriminalpolitik“. GAEDE, S. 357: „bruchlos“. Siehe zur „Prozeβsubjektivität“ (S. 183) und zur „Rechts- und Strafverfahrenssubjektivität“ (S. 195) des Angeklagten im Strafverfahren eingehend KAHLO, KritV 1997, S. 195 ff. KAHLO, KritV 1997, S. 200. Siehe auch GAEDE, S. 357: „Selbst der tatsächlich straffällig gewordene Mensch verliert seine Würde als Mensch nicht“ (S. 357), bezugnehmend auf Art. 3 EMRK sowie „erst recht“ (S. 357) habe ein Vertragsstaat einem Bürger mit der Achtung seiner Würde zu begegnen, wenn es zunächst aufgrund eines Tatverdachts noch darum gehe, „dessen mögliche Verantwortung für eine Straftat überhaupt erst festzustellen“ (S. 357, Hervorhebung Demko); siehe zudem KAHLO, KritV 1997, S. 199, 201 auf die Unschuldsvermutung Bezug nehmend und S. 202: „also auch das jedes Beschuldigten“ (S. 199, Hervorhebung Kahlo), „mag ein Subjekt auch unter Tatverdacht oder Strafklage stehen“ (S. 202).
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
schenwürde verpflichteten (Strafverfahrens-)Rechtsgesetzgeber,588 die Realisierungsbedingungen für eine im Aussen praktisch wirksame rechtssubjektive Freiheit des Angeklagten rechtsgesetzlich zu schaffen,589 deren Einhaltung sodann in jedem einzelnen Strafverfahren zu gewährleisten ist. Die gesetzlich festgelegten und in jedem einzelnen Strafverfahren umzusetzenden Realisierungsbedingungen rechtssubjektiver Freiheit des Angeklagten, die von Kahlo auch als die „je notwendigen Bedingungen äuβerer Freiheit“590 benannt werden, sind unter Beachtung der oben angeführten Verbindung von Selbstgesetzgebung und wechselseitiger Anerkennung zum Ersten solche, die dem Angeklagten selbst aktive Freiheits«realisierungsmöglichkeiten» in Gestalt von Rechtspositionen einräumen, mittels derer er als aktiv handeln könnendes Prozesssubjekt von seinem Menschenrecht auf Freiheit im Strafverfahren auch praktisch wirksamen Gebrauch machen kann, womit das Recht des Angeklagten auf Teilhabe angesprochen ist.591 Hinzukommen zum Zweiten solche Bedingungen äusserer Freiheit, solche „äuβeren Voraussetzungen“,592 welche den ermöglichenden, unterstützenden und fördernden 588
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Siehe näher KAHLO, KritV 1997, S. 198 zum Staat und Rechtsgesetzgeber als „Produkt“ (S. 198) und „Teil der Verkörperung“ (S. 198) der praktischen Vernunft der Subjektivität. Näher KAHLO, KritV 1997, S. 198 zu der „Aufgabe konkreter rechtsgesetzlicher Festlegung der je notwendigen Bedingungen äuβerer Freiheit“ (S. 198, Hervorhebung Kahlo) und dazu, dass diese Freiheit als angeborenes Recht der Subjektivität „gesetzlich zu realisieren“ (S. 198, Hervorhebung Demko) sei; GAEDE, S. 357: „zugewiesen sind“. KAHLO, KritV 1997, S. 198 (Hervorhebung Kahlo). In diesem Sinne auch GAEDE, S. 357, der von der Zuweisung von „Rechtspositionen“ (S. 357) spricht, die „zeigen, dass er als Subjekt und nicht als Objekt angesprochen und behandelt wird“ (S. 357, Hervorhebung Demko); siehe auch HÄBERLE, VVDStRL 1972, S. 81: „status activus processualis“ (Hervorhebung Häberle), der die „verfahrensrechtliche Seite grundrechtlicher Freiheit, den „grundrechtlichen due process“, prozessuale Teilhabe …“ meint; KAHLO, KritV 1997, S. 200 ff. zu Ausdrucksformen rechtssubjektiver Freiheit des Angeklagten im Strafverfahren, von denen Kahlo für den Angeklagten u.a. die Unschuldsvermutung, den in dubio pro reo-Satz, den Grundsatz des rechtlichen Gehörs, das Beweisantragsrecht, den ne bis in idem-Satz und das Mitwirkungsrecht des Angeklagten benennt. SCHILD, Menschenrechte, S. 263, siehe auch die weiteren Ausführungen auf den S. 262 ff, wonach der Staat, die Rechtsordnung „nicht den Anspruch erheben (dürfen), Freiheit als solche zu verwirklichen. Sie sollen (nur, aber auch) dafür sorgen, daβ in ihnen menschenwürdiges Leben aller möglich sein kann, indem sie die äuβeren Voraussetzungen dafür schaffen und sichern“ (S. 264, Hervorhebung Demko); „die äuβeren Voraussetzungen gewährleisten, sogar herstellen, damit diese gleiche Freiheit nicht nur auf dem Papier steht, sondern politische Wirklichkeit wird“ (S. 263, Hervorhebung Demko) bzw. dass „in ihnen die Menschen sich autonom verwirklichen können“ (S. 262, Hervorhebung Demko).
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Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
Rahmen für eine wirksame Realisierung der rechtssubjektiven Freiheit des Angeklagten legen und welche mithin den Bezug zum Recht des Angeklagten auf einen Teilhaberahmen herstellen.593 178
Geht es bei der inneren und äusseren rechtssubjektiven Freiheit jedes Menschen und so auch eines jeden Angeklagten im Strafverfahren um eine jedem Menschen umfassend zustehende Freiheitssphäre – übertragen auf die Menschenrechte mithin um ein uneingeschränkt gewährleistetes Menschenrecht auf Freiheit –, so zeigen die kantischen Ausführungen zugleich aber auch die möglichen und nötigen Einschränkungen an, die im Verhältnis der Freiheiten aller Menschen im menschlichen Miteinander zu beachten sind und die in ihrer Anwendung auf das Strafverfahren auch für mögliche und unter bestimmten Voraussetzungen vorzunehmende Einschränkungen der rechtssubjektiven Freiheit des Angeklagten bedeutend sind. Denn ist jedem einzelnen Menschen (s)eine rechtssubjektive Freiheit zu gewähren, so bedeutet dies im Rahmen des menschlichen Miteinanders von mehreren bzw. allen einzelnen Menschen, dass die mehreren einzelnen rechtssubjektiven Freiheiten aufeinandertreffen und, sollen diese Ausdruck allgemeingültiger Handlungsziele und -normen sein, sich im Rahmen dieses ihres Zusammenseins und -wirkens gegenseitig zu beschränken haben. Diese wechselseitige Beschränkung der individuellen Freiheiten formt sich bei Kant in einer „menschenrechtliche(n) Grundnorm“594 aus, wonach die Freiheit eines jeden Menschen „mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen“595 können muss. Dies spricht eine auch für den «Handlungskontext: Strafverfahren» und das hier gegebene Zusammentreffen unterschiedlicher Interessen (sei es etwa mit Bezug auf das Konfrontationsrecht des Angeklagten dessen Interesse an einer unbeschränkten Zeugenkonfrontation auf der einen Seite und das diesem Angeklagteninteresse entgegenstehende Schutzinteresse des Belastungszeugen auf der anderen Seite) bedeutsame „Reziprozitätsforderung“596 an, nach der „die Freiheitsansprüche aller … wechselseitig – also reziprok – eingeschränkt oder limitiert werden“597 müssen: Eine „Freiheitslimitation“,598 die sich als Erfordernis eines nach einem allgemeinen Gesetz Zusammenbestehen-Könnens auch für die Verteidigungsrechte des Angeklag-
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Siehe auch KAHLO, KritV 1997, S. 200 f. zu institutionellen Vorkehrungen und prozeduralen Garantien; GAEDE, S. 403 ff. zu Rechten des Teilhaberahmens. GÖLLER, S. 131, siehe auch S. 128: „grundlegende menschenrechtliche Norm“ (Hervorhebung Göller). KANT, Metaphysik der Sitten, S. 345 (Hervorhebung Demko). GÖLLER, S. 131. GÖLLER, S. 131. GÖLLER, S. 131; siehe auch HOFMANN, S. 15.
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
ten, bei welchen es sich um konkretisierte im Sinne von inhaltlich ausgeformte rechtssubjektive Freiheiten des Angeklagten handelt, stellt.599 Mit der anerkannt gelebten Subjektivität, die sich aus der kantischen Philosophie zur Selbstgesetzgebung, Menschenwürde und Selbstzweckhaftigkeit herausarbeiten lässt, zeigen sich in deren Anwendung auf den spezifischen «Handlungskontext Strafverfahren» die Notwendigkeit und Bedeutung der Achtung und Anerkennung des Subjekt-Seins des Angeklagten für ein faires freiheitsverpflichtetes Strafverfahren. Für jenes Subjekt-Sein des Angeklagten im Strafverfahren, das für ein praktisches Wirklichkeit-Werden im Aussen immer auch ein, durch alle Anderen anerkanntes Sein als (Prozess-)Subjekt zu bedeuten hat, wurden in der kantischen Philosophie sehr bedeutende Grundlegungen geschaffen, die bis heute, insbesondere im Zusammenhang mit der Selbstzweck-Formel und dem damit verbundenen Instrumentalisierungsverbot in der Rechtsprechung und im Schrifttum zum nationalen, europäischen und internationalen Strafverfahren und zu den prozeduralen Menschenrechten des Angeklagten aufgegriffen und verwendet werden.600 Aber auch weitere philosophische Schriften erweisen sich in deren Anwendung auf das Strafverfahren für die Frage nach der Bedeutung des anerkannt gelebten Subjekt-Seins des Angeklagten als wertvoll und fruchtbar, womit zu den Auffassungen von Hegel übergeleitet werden soll. b)
Hegel
Die bei Kant zur „Tugendpflicht“601 erhobene Achtung und Anerkennung der Würde des anderen Menschen in deren Wechselseitigkeit formt sich bei Hegel zu einer „Konstitutionsbedingung der Vergesellschaftung“602 und einer massgebenden „Rechtspflicht“603 im Sinne eines ein intersubjektives Moment
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Zu der Einschränkbarkeit und den Einschränkungsvoraussetzungen mit Blick auf die Verteidigungsrechte des Angeklagte und hier speziell mit Blick auf das Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen siehe im Einzelnen unter Kap. 5. Siehe auch GAEDE, S. 357, der in Auseinandersetzung mit Kant, der Subjektstellung des Angeklagten im Strafverfahren und dem fairen Verfahren von der Legung eines „entscheidende(n) Grund(es) für ein faires Verfahren …“ spricht, der „… auch eine qualitativ bedeutsame und nicht zu übersehende Grundaussage“ (S. 357) treffe. SEELMANN, Rechtsphilosophie, S. 198 N 4, siehe auch S. 195. SEELMANN, Rechtsphilosophie, S. 195 N 26. SEELMANN, Rechtsphilosophie, S. 198 N 4.
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herausstellenden Rechtsgebotes der gegenseitigen Achtung und Anerkennung als Person, als «Rechts-Subjekt» aus:604 181
„… Die Persönlichkeit enthält überhaupt die Rechtsfähigkeit … Das Rechtsgebot ist daher: sei eine Person und respektiere die anderen als Personen …“605
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Recht mit Dasein des freien Willens, mit Freiheit als Idee verknüpfend606 und jenes Dasein als Sich-Gegenüberstehendes ausführend607 verbindet sich bei Hegel Freiheit, und zwar sowohl im Innen als auch in deren Verwirklichung im Aussen, in einer „äuβerlich(e) vorgefundene(n) Objektivität“608 mit einem Sichaufeinanderbeziehen freier Willen.609 Jene, das Recht zeichnende, auf einer Wechselseitigkeit beruhende Anerkennungsbeziehung zwischen freien und gleichen Rechtssubjekten spricht sich gegen die Behandlung eines Menschen als blosses Objekt aus610 und verpflichtet, sich als (Rechts-)Subjekte wechselseitiger Anerkennung (auch) in der – die innere Freiheit im Aussen realisierenden – Sphäre der „äuβerlich(e) vorgefundene(n) Objektivität“611 zu respektieren und zu achten.
183
Die sich gegenseitig zu gewährende Anerkennung als freie und gleiche (Rechts-)Subjekte gewinnt bei Hegel, insoweit in einer Ausdrücklichkeit über Kant hinausgehend,612 auch für das Strafverfahren als eine Konkretisierung der äusserlichen Sphären der Objektivität und speziell für den angeklagten Täter als ein (Rechts-)Subjekt wechselseitiger Anerkennung im Strafverfahren Raum. Auch im Strafverfahren, das wie andere Formen äusserer „intersubjektive(r) Realität“613 durch Intersubjektivität bzw. Interpersonalität im 604
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Siehe zu „Hegels Philosophie der Intersubjektivität“ (S. 195 N 25) näher SEELMANN, Rechtsphilosophie, S. 195, 198; zur kaum noch zu überblickenden Literatur über Hegels Anerkennungsbegriff siehe etwa die Beiträge in SCHILD, Anerkennung. HEGEL, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Bd. 7, § 36, S. 95 (Hervorhebung Hegel). HEGEL, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Bd. 7, § 29, S. 80. HEGEL, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Bd. 7, § 23, S. 75. HEGEL, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Bd. 10, § 483, S. 303 (Hervorhebung Hegel): „… Der freie Wille hat unmittelbar zunächst die Unterschiede an ihm, daβ die Freiheit seine innere Bestimmung und Zweck ist und sich auf eine äuβerliche vorgefundene Objektivität bezieht …“ (Hervorhebung Hegel); siehe dazu näher SEELMANN, JuS 1979, S. 688 f. Siehe dazu auch HEGEL, Rechts-, Pflichten- und Religionslehre, Bd. 4, §§ 3 ff., S. 232 f. Siehe auch SEELMANN, Rechtsphilosophie, S. 195, 198 zu Kant und Hegel. HEGEL, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Bd. 10, § 483, S. 303 (Hervorhebung Hegel). Siehe dazu auch GAEDE, S. 359. SEELMANN, JuS 1979, S. 689 (Hervorhebung Demko): „intersubjektive Realität oder ihr Anerkanntsein in einer äuβeren Sphäre“.
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
äusserlichen menschlichen Miteinander geprägt ist, ist und bleibt das (Rechts-) Gebot der Achtung und Behandlung des angeklagten Täters als (Rechts-) Subjekt bestehen. Selbst der Täter, der durch eine Straftat seinem Opfer die Anerkennung als Rechtssubjekt abspricht und sich dabei gleichsam selbst als Person verletzt, kann seines Person-Seins auch durch eine Straftat nicht verlustig gehen, sondern ist und bleibt Rechtsubjekt, dem seinerseits Anerkennung wahrend zu begegnen ist. „… Die Strafe ist Wirkung eines übertretenen Gesetzes, von dem der Mensch sich losgesagt hat, aber von welchem er noch abhängt und welchem … er nicht entfliehen kann …“614
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Selbst der «wirkliche» Täter, der mit seiner mittelbaren Selbstverletzung im irrationalen, „in sich nichtig(en)“615 Widerspruch zur „weiterhin geltenden, auch ihn konstituierenden Norm“616 steht, ist und bleibt als willensfreies (Rechts-)Subjekt Teil der Rechtsordnung,617 was dann erst recht für denjenigen zu gelten hat, der wegen einer nur möglicherweise von ihm begangenen Straftat erst angeklagt und dessen Strafbarkeit in jener noch ergebnisoffenen Phase des Strafverfahrens erst noch zu ermitteln ist.618 Das Rechtsgebot wechselseitiger Anerkennung als Rechtssubjekt drückt sich bei Hegel auch für den potentiellen Täter im die konkrete Strafe erst legitimierenden gerichtlichen Verfahren aus, 619 hat dieser doch als „Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft … das Recht, im Gericht zu stehen“.620 Dabei genügt Hegel allein ein Recht zur physischen Anwesenheit nicht, sondern er bringt vielmehr das Erfordernis eines Rechts zu einer auch „geistig(en), mit ihrem eigenen Wissen“621 verbundenen Mitwirkung des potentiellen Täters im gerichtlichen Verfahren zum Ausdruck, was zugleich wichtige Grundaspekte sichtbar macht, denen auch heute bei dem Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen – hier etwa im Zusammenhang mit dem dem Angeklagten zu gewährenden Wissens- und aktiv-handeln (auch sprachlich-aktiv
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614 615
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HEGEL, Der Geist des Christentums, Bd. 1, S. 341 (Hervorhebung Demko). HEGEL, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Bd. 7, § 97, S. 185 (Hervorhebung Hegel): „Die geschehene Verletzung des Rechts als Rechts ist zwar eine positive, äuβerliche Existenz, die aber in sich nichtig ist“ (Hervorhebung Hegel). MAULTZSCH, JURA 2001, S. 89. Siehe dazu mit weiteren Ausführungen und Verweisen MAULTZSCH, JURA 2001, 85, 89, 90. Siehe in diesem Sinne im Zusammenhang bereits mit Kant die Ausführungen bei GAEDE, S. 357: „erst recht“. Dazu auch GAEDE, S. 360 ff. HEGEL, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Bd. 7, § 221, S. 375 (Hervorhebung Hegel). HEGEL, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Bd. 7, § 228, S. 381 (Hervorhebung Hegel).
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handeln) könnenden Mitwirkungsmoment – eine grosse Bedeutung zugesprochen wird.622 Bei Hegel heisst es insoweit: 186
„… Wenn sie wohl das Recht haben, im Gericht leiblich, mit den Füβen, zugegen zu sein (in iudicio stare), so ist dies wenig, wenn sie nicht geistig, mit ihrem eigenen Wissen gegenwärtig sein sollen, und das Recht, das sie erlangen, bleibt ein äuβerliches Schicksal für sie …“623
187
Das Recht, das vor den Gerichten die Bestimmung erhalte, „ein erweisbares sein zu müssen“,624 bedeutet für den Angeklagten, an dem die Tat erweisenden und die Strafe – soll diese keine blosse Rache sein625 – mitbegründenden gerichtlichen Verfahren als Rechtssubjekt teilnehmen zu können.626 Dabei heisst es – was von Relevanz insbesondere auch für das Strafverfahren und speziell die Tatsachenfeststellung im strafprozessualen Beweisverfahren ist – hinsichtlich der „Rechtshandlungen der Parteien, als welche selbst Rechte sind“627 bei Hegel konkretisierend und hierbei auch das aktive Teilhaberecht des Angeklagten als Ausdruck und Verwirklichung von dessen Prozesssubjektivität ansprechend, dass der Rechtsgang die Parteien „in den Stand (setzt), ihre Beweismittel und Rechtsgründe geltend zu machen, und den Richter, sich in die Kenntnis der Sache zu setzen …“,628 womit sich wie schon in der kantischen Philosophie Verbindungslinien zum Recht des Angeklagten auf Teilhabe und auf einen Teilhaberahmen herstellen lassen. Jene „Schritte sind selbst Rechte …“ und ihr Gang habe „… somit gesetzlich bestimmt“629 zu sein, was nach einer Ausgestaltung auch der (Verfahrens-)Rechte des Angeklagten in Rechtsbestimmungen, wie es die menschenrechtlichen und strafverfahrensrechtlichen Bestimmungen auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene sind, verlangt.
622 623
624
625 626 627 628
629
144
Siehe zu den Teilrechten des Konfrontationsrechts näher unter Kap. 5 B. I. 3. HEGEL, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Bd. 7, § 228, S. 381 (Hervorhebung Hegel). HEGEL, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Bd. 7, § 222, S. 375 (Hervorhebung Hegel). Siehe auch GAEDE, S. 361 f. Siehe dazu Gaede, S. 360 ff. HEGEL, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Bd. 7, § 226, S. 378. HEGEL, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Bd. 7, § 222, S. 375 (Hervorhebung Demko). HEGEL, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Bd. 7, § 222, S. 375 (Hervorhebung Hegel: «Schritte sind selbst Rechte», übrige Hervorhebung Demko).
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
c)
Rawls
Das autonome Subjekt in den Mittelpunkt von Recht stellend,630 drückt sich das Moment der Anerkennung des Einzelnen in dessen Freiheit und Gleichheit auch in der der politischen Philosophie zugeordneten Theorie der Gerechtigkeit von Rawls aus.631 Auf Rawls Suche nach der Gerechtigkeit der Grundstruktur einer Gesellschaft632 sind die Autonomie des Subjekts sowie ein soziales Moment sichtbar gemacht und miteinander verbunden,633 wobei sich Rawls zur Gewinnung „universalisierbare(r) Normen“634 eines „Gedankenexperiments“635 bedient, indem er danach fragt, welche Gerechtigkeitsprinzipien in einer „rein theoretische(n)“636 sog. „fairen Ausgangssituation“,637 einer „anfänglichen Situation der Gleichheit“638 von „freie(n) und vernünftige(n) Menschen in ihrem eigenen Interesse … zur Bestimmung der Grundverhältnisse ihrer Verbindung“639 ausgewählt und festgelegt würden.
188
„… Die Entscheidung, die vernünftige Menschen in dieser theoretischen Situation der Freiheit und Gleichheit treffen würden, bestimmt die Grundsätze der Gerechtigkeit …“640
189
Unter Zugrundelegung eines hypothetischen „Urstand(es)“641 der Gleichheit als eines „angemessenen Ausgangszustand(s)“,642 mithin auf der Grundlage der „fairen Ausgangssituation“643 hinter dem „Schleier des Nichtwissens“644 wird von der – wie es Wiederkehr treffend herausstellt – als Massstab und Grundlage von Gerechtigkeit(-sprinzipien) fungierenden Fairness der Aus-
190
630
631
632 633
634 635 636 637 638 639 640 641
642 643 644
Siehe dazu die näheren Hinweise in den nachfolgenden Fussnoten; siehe dazu auch BRAUN, S. 171 f. Siehe zur Bezugnahme auf die Lehre vom Gesellschaftsvertrag RAWLS, Theorie der Gerechtigkeit, S. 12, 26; siehe dazu auch BRAUN, S. 122 ff.; KAUFMANN, Festgabe Opałek, S. 192 ff.; HOFFMANN, Verfahrensgerechtigkeit, S. 174 ff.; MASTRONARDI, S. 102. Siehe dazu RAWLS, Theorie der Gerechtigkeit, S. 19, 23 ff. Siehe dazu etwa RAWLS, Theorie der Gerechtigkeit, S. 23 ff.; siehe zum sozialen Moment auch KAUFMANN, Festgabe Opałek, S. 194. KAUFMANN, Festgabe Opałek, S. 193. BRAUN, S. 124. RAWLS, Theorie der Gerechtigkeit, S. 29. RAWLS, Theorie der Gerechtigkeit, S. 29. RAWLS, Theorie der Gerechtigkeit, S. 28. RAWLS, Theorie der Gerechtigkeit, S. 28. RAWLS, Theorie der Gerechtigkeit, S. 28 (Hervorhebung Demko). RAWLS, Theorie der Gerechtigkeit, S. 28, siehe auch näher S. 29; siehe dazu auch HOFFMANN, Verfahrensgerechtigkeit, S. 174 ff. RAWLS, Theorie der Gerechtigkeit, S. 29. RAWLS, Theorie der Gerechtigkeit, S. 29. RAWLS, Theorie der Gerechtigkeit, S. 29.
145
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
gangssituation auf die Fairness der ausgewählten Gerechtigkeitsprinzipien selbst geschlossen.645 Es heisst dazu bei Rawls: 191
„… Denn in Anbetracht der Symmetrie aller zwischenmenschlichen Beziehungen ist dieser Urzustand fair gegenüber den moralischen Subjekten, d.h. den vernünftigen Wesen mit eigenen Zielen und … der Fähigkeit zu einem Gerechtigkeitsgefühl. Den Urzustand könnte man den angemessenen Ausgangszustand nennen, und damit sind die in ihm getroffenen Grundvereinbarungen fair. Das rechtfertigt die Bezeichnung »Gerechtigkeit als Fairneβ«: Sie drückt den Gedanken aus, daβ die Grundsätze der Gerechtigkeit in einer fairen Ausgangssituation festgelegt werden …“646
192
Ausgehend von dieser fairen, angemessenen Ausgangssituation hinter dem Schleier des Nichtwissens als einer „ursprüngliche(n) Situation der Gleichheit“647 widmet sich Rawls dann einer „Hauptaufgabe“648 bei der Erarbeitung des Begriffs der Gerechtigkeit als Fairness, welche „offenbar in der Bestimmung der Gerechtigkeitsgrundsätze (besteht), die im Urzustand gewählt würden“.649 Nach Ansicht von Rawls würden die Menschen in jenem hypothetischen fairen Urzustand zwei Gerechtigkeitsgrundsätze wählen, die für das schon bei Kant und Hegel sichtbar gewordene Moment der «anerkannt gelebten Subjektivität» des Angeklagten im Strafverfahren von Bedeutung sind und die sich als „Spezialfall einer allgemeineren Gerechtigkeitsvorstellung“650 darstellen, nach der alle sozialen Werte – zu denen Rawls etwa Freiheit, Chancen und die sozialen Grundlagen der Selbstachtung zählt – gleichmässig zu verteilen seien, soweit nicht eine ungleiche Verteilung zum Vorteil von jedermann gereiche.651
193
Bestimmt von der Frage nach einer gerechten Verteilung gewinnen Freiheit und Gleichheit und deren Zusammenspiel in der Rawlsschen Gerechtigkeitskonzeption einen herausgehobenen Wert und als ersten der beiden Gerechtigkeitsgrundsätze anerkennt Rawls, dass „(j)edermann … gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben (soll), das mit
645
646 647 648 649 650 651
146
Siehe dazu näher WIEDERKEHR, S. 56; siehe ebenso KERSTING, S. 43: „Nicht bereits die Grundsätze sind als gerecht anzusehen, auf die sich rationale Menschen einigen würden, sondern erst und allein die, auf die sich rationale Menschen in einer fairen Ausgangssituation einigen würden. Gerechtigkeitsprinzipien sind das Ergebnis einer rationalen Einigung unter fairen Bedingungen: das ist in nuce die Botschaft der Rawlsschen Konzeption von Gerechtigkeit als Fairneβ“ (Hervorhebung Kerstin: «in einer fairen Ausgangssituation»; übrige Hervorhebung Demko). RAWLS, Theorie der Gerechtigkeit, S. 29 (Hervorhebungen Demko). RAWLS, Theorie der Gerechtigkeit, S. 28. RAWLS, Theorie der Gerechtigkeit, S. 31. RAWLS, Theorie der Gerechtigkeit, S. 31. RAWLS, Theorie der Gerechtigkeit, S. 31. RAWLS, Theorie der Gerechtigkeit, S. 83.
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
dem gleichen System für alle anderen verträglich ist“.652 Nach dem zweiten Gerechtigkeitsgrundsatz seien „(s)oziale und wirtschaftliche Ungleichheiten … so zu gestalten, daβ (a) vernünftigerweise zu erwarten ist, daβ sie zu jedermanns Vorteil dienen, und (b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offen stehen“.653 Nicht nur räumt Rawls der Freiheit und Gleichheit überhaupt eine wichtige Bedeutung für eine gerechte Grundstruktur einer Gesellschaft ein, sondern er bringt zudem den herausragenden, absoluten „Vorrang des Grundsatzes der gleichen Freiheit für alle“654 zum Ausdruck.655 Beide Gerechtigkeitsgrundsätze stellt Rawls in eine sog. lexikalische Ordnung,656 nach der der erste Grundsatz dem zweiten vorgehe und entsprechend die „Forderungen der Freiheit zuerst zu erfüllen“657 seien sowie die „Freiheit nur um der Freiheit selbst willen eingeschränkt“658 werden könne. Sich mit der Betonung der Autonomie des Subjektes und des Vorranges gleicher Grundfreiheiten für jeden Einzelnen gegen eine würdeverletzende Erniedrigung und Verletzung der gegenseitigen Achtung als freie und gleiche Subjekte richtend,659 gewinnt das Moment anerkannt gelebter Subjektivität in der Gerechtigkeitskonzeption von Rawls einen wichtigen Raum, wobei Rawls sich in Bezug auf die zur grösstmöglichen Entfaltung zu bringenden gleichen Grundfreiheiten für jeden Einzelnen660 nicht mit einer inneren (Willens-) Freiheit begnügt, sondern – wie es auch bei Kant und Hegel sichtbar wurde – 652 653 654 655
656 657 658 659
660
RAWLS, Theorie der Gerechtigkeit, S, 81. RAWLS, Theorie der Gerechtigkeit, S. 81. RAWLS, Theorie der Gerechtigkeit, S. 275. Siehe dazu RAWLS, Theorie der Gerechtigkeit, S. 591, 594: „muβ der Vorrang der Freiheit unbedingt gesichert sein“ (S. 591); dazu auch SEELMANN, Rechtsphilosophie, S. 177; BRAUN, S. 145. RAWLS, Theorie der Gerechtigkeit, S. 275; siehe dazu auch BRAUN, S. 145. RAWLS, Theorie der Gerechtigkeit, S. 275 (Hervorhebung Demko). RAWLS, Theorie der Gerechtigkeit, S. 275 (Hervorhebung Demko). RAWLS, Theorie der Gerechtigkeit, S. 591 f.: „Minderwertigkeit öffentlich festlegen“ (S. 591), „erniedrigend und würde die Selbstachtung zerstören“ (S. 591), „(I)n einer wohlgeordneten Gesellschaft wird also die Selbstachtung durch die öffentliche Anerkennung der gleichen Bürgerrechte für alle gesichert“ (S. 591), „(D)ie beste Lösung ist also, das Grundgut der Selbstachtung so weit wie möglich zu unterstützen, indem jeder gleichen Status durch Grundfreiheiten erhält …“ (S. 592), siehe auch S. 279: „Grundrechte der Menschenwürde“; siehe dazu BRAUN, S. 146 f., wonach das Nichtgerechtfertigt-Werden-Können einer Einschränkung oder ungleichen Verteilung der Freiheit durch sonstige Vorteile nach dem Vorrangprinzip „so gesehen nur ein anderer Ausdruck dafür (ist), daβ die Bürger als autonome Personen geachtet werden: Sie dürfen nicht als Mittel für Zwecke benutzt werden, denen sie selbst nicht zugestimmt haben“ (S. 147, Hervorhebung Demko). Siehe etwa RAWLS, Theorie der Gerechtigkeit, S. 588; RAWLS, Gerechtigkeit als Fairneβ, S. 177 f.
147
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
nach einer Verwirklichung in einer äusseren Handlungssphäre, in einem „sozialen Handlungsspielraum“661 im Aussen verlangt.662 194
Dies im Strafverfahren als einem Anwendungsfall der von Rawls beschriebenen unvollkommenen Verfahrensgerechtigkeit ausformend,663 für das Rawls trotz seines prozeduralen Ansatzes die notwendige Anbindung an die Wahrheit und materielle Gerechtigkeit hervorhebt,664 ist es das erforderliche Streben nach „Verfahrensregeln, Beweisregeln“,665 die dem Finden von Wahrheit und materieller Gerechtigkeit „am besten dienen könnten“,666 unter zugleich zu wahrendem gewissenhaften Bemühen um den Schutz jedes Einzelnen als autonomen Subjekts und dessen Grundfreiheiten, was eine Anerkennung des Strafverfahrens – trotz dessen Unvollkommenheit und Fehlbarkeit – als eines gerechten erwarten lässt.667 Nimmt das Moment des Subjekt-Seins durch die Betonung von Autonomie, Freiheit und Gleichheit des Einzelnen bei Rawls einen bedeutenden Raum ein, so ist – insbesondere ausgedrückt im Zusammenhang mit der Bedeutung von Institutionen, zu denen Rawls das Gerichtsverfahren zählt668 – ebenso das Moment des Objektiven bedeutsam, welches ein institutionalisiertes Verfahren als ein unparteiisches und unabhängiges auszuformen hat.669 Auf der Suche nach Strukturen eines Verfahrens, mittels derer das Erhalten gerechter Ergebnisse sich gewähren liesse, geht es Rawls um eine gerechte Grundstruktur der Gesellschaft, womit die Art angesprochen ist, „wie die wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen Grundrechte und -pflichten und die Früchte der gesellschaftlichen Zusammenarbeit vertei661
662
663
664 665 666 667 668 669
148
BRAUN, S. 145 mit weiteren Ausführungen zu den Freiheiten der Alten und der Neueren, S. 145 f. Siehe dazu näher RAWLS, Theorie der Gerechtigkeit, S. 82, 112 f., 288 f. bezugnehmend auf Kant: „gesellschaftliche(n) Grundgüter“ (S. 112), von denen die wichtigsten Arten Rechte, Freiheiten, Chancen, Einkommen und Vermögen und das Selbstwertgefühl seien, es sind „gesellschaftliche Güter, da sie mit der Grundstruktur zusammenhängen; Freiheiten und Chancen werden durch die Regeln der wichtigeren Institutionen festgelegt“ (S. 113); RAWLS, Gerechtigkeit als Fairneβ, S. 45 f., 175 ff., 222: „Freiheiten der Alten“ (S. 222) und „Freiheiten der Modernen“ (S. 222), „voll und ganz am kooperativen Leben der Gesellschaft teilzunehmen“ (S. 46). Siehe zur unvollkommenen Verfahrensgerechtigkeit und deren Anwendungsfall des Strafverfahrens RAWLS, Theorie der Gerechtigkeit, S. 107; siehe auch HOFFMANN, Verfahrensgerechtigkeit, S. 177; TSCHENTSCHER, S. 126 f. Siehe dazu RAWLS, Theorie der Gerechtigkeit, S. 107. RAWLS, Theorie der Gerechtigkeit, S. 107. RAWLS, Theorie der Gerechtigkeit, S. 107 (Hervorhebung Demko). Siehe dazu auch GAEDE, S. 367 ff. RAWLS, Theorie der Gerechtigkeit, S. 75. Siehe etwa RAWLS, Theorie der Gerechtigkeit, S. 75, 560 f.: „Am besten nennt man wohl die wirksam und unparteiisch verwirklichte Institution gerecht oder ungerecht“ (S. 75).
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
len“,670 sowie um eine Gestaltung des Gesellschaftssystems so, dass die sich ergebende Verteilung „unter allen Umständen gerecht“671 ist. Die „Fairneβ des Rahmens“672 betonend, sei ein gerechtes System von Institutionen zu schaffen und unparteiisch anzuwenden, beachtend, dass „(n)ur vor dem Hintergrund einer gerechten Grundstruktur, wozu eine gerechte Verfassung und gerechte wirtschaftliche und soziale Institutionen gehören, … es das nötige gerechte Verfahren geben“673 könne.674 Als eines der erforderlichen Elemente einer als gerecht zu beschreibenden Grundstruktur der Gesellschaft gewinnen mit dem ersten Gerechtigkeitsgrundsatz die Freiheit und Gleichheit an entscheidender Bedeutung und mit dem – bereits angesprochenen – von Rawls betonten absoluten Vorrang der gleichen Freiheit für jeden Einzelnen sind Momente grösstmöglicher Entfaltung der gleichen Grundfreiheiten für jeden Einzelnen,675 von Autonomie sowie wechselseitig beachteter freier und gleicher moralische Subjektivität,676 von Selbstachtung und gegenseitiger Achtung der gleichen Grundfreiheiten verknüpft677 und von Rawls für den Bereich politischer Gerechtigkeit und Verfassung als Beispiel unvollkommener Verfahrensgerechtigkeit ausgeführt als ein den Grundsatz gleicher Freiheit für alle ausformender „Grundsatz der (gleichen) Teilnahme“.678 Auch hier sind – wie schon bei Kant und Hegel – mit Blick auf ein faires Strafverfahren Anknüpfungspunkte für ein Recht des Angeklagten auf Teilhabe und einen Teilhaberahmen vorgezeichnet. Auf Kant bezugnehmend liesse sich nach Rawls der Urzustand „als eine verfahrensmäβige Deutung von Kants Begriff der Autonomie und des Kategorischen Imperativs im Rahmen einer empirischen Theorie“679 auffassen. Die 670
671 672 673 674 675 676 677
678
679
RAWLS, Theorie der Gerechtigkeit, S. 23, siehe auch S. 105 f.: Theorie der Gerechtigkeit als Fairness sehe die Gesellschaft „als ein Unternehmen der Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil“ (S. 105), „das Gesellschaftsystem so zu gestalten, daβ immer nur etwas Gerechtes herauskommt, mindestens solange es sich in einem bestimmten Rahmen hält“ (S. 106). RAWLS, Theorie der Gerechtigkeit, S. 308. RAWLS, Theorie der Gerechtigkeit, S. 308. RAWLS, Theorie der Gerechtigkeit, S. 108. Siehe dazu auch HOFFMANN, Verfahrensgerechtigkeit, S. 178 f. Siehe näher RAWLS, Theorie des Gerechtigkeit, S. 588 f. Siehe dazu näher RAWLS, Theorie der Gerechtigkeit, S. 289, 560, 588. Siehe näher RAWLS, Theorie der Gerechtigkeit, S. 289, 591 f. in Auseinandersetzung mit Kant bezugnehmend auf die gegenseitige Achtung sowie die Selbstachtung; siehe zur Gleichbehandlung, Selbstachtung, Autonomie, Selbstverantwortung und zur Ausstattung aller mit den „gröβtmöglichen gleichen Grundfreiheiten“ (S. 146) auch näher BRAUN, S. 146 f. RAWLS, Theorie der Gerechtigkeit, S. 251 (Hervorhebung Demko), siehe die vertiefenden Ausführungen auf S. 251 ff. RAWLS, Theorie der Gerechtigkeit, S. 289.
149
195
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
Momente des „unsere Natur als freie und gleiche vernünftige Menschen“680 ausdrückenden Handelns und der „gegenseitigen Achtung und der Selbstachtung“681 hervorhebend, heisst es in Auseinandersetzung mit Kant bei Rawls weiter: 196
„… Recht verstanden, leitet sich also der Wunsch, gerecht zu handeln, von dem Wunsch her, möglichst vollständig das auszudrücken, was wir sind oder sein können, nämlich freie und gleiche vernünftige Wesen mit Wahlfreiheit …“682
197
Die hierbei von Rawls für den für das verfassungsmässige Verfahren des Zustandekommens von Gesetzen dargestellten Grundsatz der gleichen Teilnahme aufgeworfenen Fragen, worin die durch den Teilnahmegrundsatz sich ausdrückenden gleichen Freiheiten für alle bestehen, in welchem Umfang jene gleichen Freiheiten zu definieren seien und was ihren zu sichernden Wert bestimme,683 lassen sich in ihrer Bedeutung auch für das Strafverfahren als einem (weiteren) Anwendungsbeispiel unvollkommener Verfahrensgerechtigkeit sowie für die im Strafverfahren dem Angeklagten einzuräumenden Verteidigungsrechte als eben solche ihm zu gewährenden gleichen Teilnahmerechte – zu denen auch das Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen gehört – erkennen.684 d)
198
Luhmann
In dem systemtheoretischen Verfahrensmodell von Luhmann nimmt – wie schon bei Kant, Hegel und Rawls – das Moment «anerkannt gelebter Subjektivität» ebenfalls einen wichtigen Raum ein und dies, obwohl Luhmanns Systemtheorie von einer grundlegenden Skepsis gegenüber Wahrheit, Richtigkeit und Gerechtigkeit gekennzeichnet ist.685 In seinem selbst soziologisch begriffenen, sich der Beschreibung des Funktionierens des (Rechts-)Systems zuwendenden Ansatz, der in normative Vorgaben erst umzuwandeln ist,686 fragt 680 681 682 683
684 685
686
150
RAWLS, Theorie der Gerechtigkeit, S. 289 (Hervorhebung Demko). RAWLS, Theorie der Gerechtigkeit, S. 289 (Hervorhebung Demko). RAWLS, Theorie der Gerechtigkeit, S. 288 (Hervorhebung Demko). Siehe im Einzelnen zu jenen drei Fragen, die nach Rawls der Diskussion bedürfen RAWLS, Theorie der Gerechtigkeit, S. 253 ff. Zu diesen Fragen mit Blick auf das «Menschenrecht auf Verteidigung» und das Konfrontationsrecht siehe näher unter Kap. 4 und Kap. 5. Siehe zur Wahrheits- und Gerechtigkeitsskepsis näher LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 22 ff., 52, 124; siehe dazu Stellung nehmend auch TSCHENTSCHER, S. 148 ff.; KAUFMANN, Festgabe Opałek, S. 192; SCHULZE, ZRph 2009, S. 7 f.; SEELMANN, Rechtsphilosophie, S. 130 f. Siehe zur Beschreibung des Systems etwa LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 36 f., 40 ff., 58 ff., 106 ff.; siehe zum beschreibend verstandenen, in normative Vorgaben erst zu transformierenden Ansatz von Luhmann im Zusammenhang mit
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
Luhmann „radikal(er) …, ob der Gewinn von Wahrheit überhaupt die tragende Funktion rechtlich geregelter Verfahren“687 sei, denn liesse man „dagegen von der Voraussetzung ab, daβ Verfahren der Entdeckung von Wahrheit dienen, gewinnt man die Möglichkeit, ihre Funktion für die Legitimierung des Entscheidens unvoreingenommen in neuartiger, soziologischer Weise zu untersuchen.“688 In der „Symbolbildung, in der Ausgestaltung des Verfahrens als eines Dramas, das richtige und gerechte Entscheidung symbolisiert“,689 stellt sich die Funktion von Verfahren dar, bei dem es als einem auf eine Entscheidung hin orientierten sozialen System nicht um die Begründung und Realisierung von Richtigkeit und Gerechtigkeit, sondern um das Systemfunktionieren durch Reduzierung sozialer Komplexität690 und um die Frage des Erreichens von Akzeptanz und einem Sichabfinden mit der Entscheidung geht.691 Auch Verfahren seien als „ein soziales Handlungssystem besonderer Art“692 zu verstehen, als „in der Tat soziale Systeme, die eine spezifische Funktion erfüllen, nämlich eine einmalige verbindliche Entscheidung zu erarbeiten“.693 Auch das Strafverfahren als ein soziales Handlungssystem ist in die Reduktion von Komplexität der in ihm zu entscheidenden gesellschaftlichen Konflikte eingestellt694 und auch für das Strafverfahren stellt sich die von Luhmann aufgeworfene Frage, was „für das Akzeptieren unwillkommener Entscheidungen getan werden kann“,695 was es mithin benötigt, damit die am Ende des Strafverfahrens getroffenen, unter Umständen auch ungünstigen Strafentscheidungen Akzeptanz, Anerkennung, ein Sichabfinden insbesondere auch durch den Angeklagten als Entscheidungsempfänger finden. Im Rahmen der von Luhmann erarbeiteten „Systemmerkmale eines Verfahrens“,696 die es für ein ebensolches Akzeptieren von – auch ungünstigen – (Straf-)Entscheidungen am Ende des Strafverfahrens durch den Angeklagten als „Entscheidungsempfänger“697 braucht, gewinnen nun das Erfordernis
687 688 689 690
691
692 693 694 695 696 697
dem Strafverfahren auch GAEDE, S. 364 FN 143; SCHLEIMINGER, S. 250, 255; zur Beschreibung des Rechtssystems aus einer unbeteiligten Beobachterposition siehe auch TIEDEMANN, S. 36. LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 22. LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 23. LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 124. Siehe zur Reduktion von Komplexität näher LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 40 ff. Zum Akzeptieren und Anerkennen siehe näher LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 33 ff., 86 ff., 119 f. LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 38. LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 41. Siehe auch GAEDE, S. 364 f. mit Bezug auf das Strafverfahren. LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 87. LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 120. LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 82.
151
199
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
anerkannt gelebter Subjektivität für die Person der Angeklagten sowie das das Strafverfahren kennzeichnende Erfordernis der Objektivität einen wichtigen Raum: Luhmann betont als „heimliche Theorie des Verfahrens“698 einerseits die (Selbst-)Darstellung und Mitwirkung des Entscheidungsempfängers in Rollen durch dessen „handelnde Verflechtung“699 in das Entscheidungsverfahren sowie andererseits mit der Ungewissheit als der mit aller Sorgfalt zu pflegenden und zu erhaltenden „treibende(n) Kraft des Verfahrens“700 die mit der Objektivität von (Straf-)Verfahren verknüpften Elemente von Neutralität, Unparteilichkeit und Unabhängigkeit, die es bis zur Urteilsverkündung wachzuhalten gilt.701 Mit Recht weist Zippelius hinsichtlich jener Verfahrensstrukturen, auf die sich die Legitimität gerichtlicher Entscheidungen gründet, darauf hin, dass man in diesen „klassische Prinzipien der Verfahrensgerechtigkeit wiedererkennen kann, wenn Luhmann sie auch nicht als solche kennzeichnet:“702 200
„… vor allem die Respektierung der Prozeβbeteiligten als handelnde Prozeβsubjekte (im Strafverfahren eine der wesentlichen Errungenschaften des reformierten Strafprozesses) und allgemeiner noch das audiatur et altera pars; ferner die Konsequenz im prozessualen Handeln, insbesondere das Verbot des venire contra factum proprium; sodann die Unparteilichkeit des Richters; und schlieβlich die Öffentlichkeit des Verfahrens …“703
201
Diese Ungewissheit des Verfahrens als „eigentlich legitimierende(r) Faktor“704 macht eines der Systemmerkmale des Verfahrens aus, das im Zusammenwirken705 mit den anderen zum Akzeptieren der Entscheidung beiträgt und stellt eine Verbindung zum von Luhmann hervorgehobenen Systemmerkmal der selbstdarstellenden, den Verfahrensverlauf beeinflussen könnenden Mitwirkung des Entscheidungsempfängers her, werde doch die Ungewissheit „als Motiv in Anspruch genommen, um den Entscheidungsempfänger zu unbezahlter zeremonieller Arbeit zu veranlassen“706 und um bei den Betroffenen Motive zu mobilisieren, „an Rollen mitzuwirken, denen der Zug 698 699 700 701
702 703 704 705
706
152
LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 87. LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 82. LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 116. Zur Ungewissheit, die bis zur Urteilsverkündung wachzuhalten sei und zu damit angesprochenen Elementen von Verfahrensobjektivität siehe näher LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 116 f. ZIPPELIUS, S. 298 (Hervorhebung Zippelius). ZIPPELIUS, S. 298 (Hervorhebungen Demko). LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 116. Siehe zum notwendigen Zusammenwirken der Systemmerkmale des Verfahrens LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 120. LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 117 (Hervorhebung Demko), siehe auch S. 114.
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
zur Festlegung und Verengung eigen ist“.707 Damit die notwendige Beachtung und Verbindung von Objektivität des (Straf-)Verfahrens und «Subjekt-Sein» des Angeklagten ansprechend,708 mithin das Moment des als Subjekt ein Teil des «Objektiven im Subjektiven» des Strafverfahrens berührend, gewinnt die wirksame Mitwirkung des Entscheidungsempfängers an dem Verfahren selbst, u.a. auch bezogen auf das sich „offene(n) Tatfragen“709 widmende Beweisverfahren, bei Luhmann eine herausgehobene Bedeutung: „… Gerade die Mitwirkung derer, die möglicherweise den kürzeren ziehen, hat für eine Bestätigung der Normen, für ihre Fixierung als verbindliche, persönlich-engagierende Verhaltensprämisse besonderen Wert …“710
202
In gerichtlichen Verfahren – mit deren kontradiktorischen, gegeneinander gerichtetes Handeln erlaubenden Verhandlungen711 – den Parteien „sich wechselseitig chancenneutrale Rollen“712 einzuräumen, in welchen sich diese „als Gegner darstellen und verhalten können“713 und in welchen sich diese ein „Recht darauf …, Gegner zu sein“,714 anerkennen, ist insbesondere die Möglichkeit wirksamer, das Verfahren an sich beeinflussen könnender Mitwirkung des Entscheidungsempfängers an dem „Verfahren selbst als ein System von Darstellungen“715 für die Akzeptanz des Entscheidungsergebnisses von massgebender Bedeutung, womit auch bei Luhmann – ebenso wie (in den vorangehenden Darstellungen aufgezeigt) bei Kant, Hegel und Rawls – ein Anknüpfungspunkt für das dem Angeklagten in einem fairen Strafverfahren zu gewährende Recht auf Teilhabe sichtbar ist. Bei Luhmann heisst es in diesem Zusammenhang:
203
„Vermutlich ist dies die heimliche Theorie des Verfahrens: daβ man durch Verstrickung in ein Rollenspiel die Persönlichkeit einfangen, umbilden und zur Hinnahme von Entscheidungen motivieren könne.“716
204
Gerade die „bestätigende Mitwirkung des Betroffenen“,717 bezogen auf das Strafverfahren mithin des Angeklagten als desjenigen Entscheidungsempfän-
205
707 708
709 710 711 712
713 714 715 716
LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 120. Zur Betonung der Einbindung des Betroffenen in das Verfahren sowie zu der offenen Gestaltung des Verfahrens siehe im Zusammenhang mit den Ausführungen zu Luhmann auch GAEDE, S. 364 f. LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 115. LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 114 f. (Hervorhebung Demko). LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 100. LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 104 (Hervorhebung Demko); siehe dazu auch die Ausführungen von ROTTLEUTHNER, KJ 1971, S. 70 ff. LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 104 (Hervorhebung Demko). LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 104 (Hervorhebung Demko). LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 94 (Hervorhebung Luhmann). LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 87 (Hervorhebung Demko).
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Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
gers, der „möglicherweise den kürzeren zieh(t)“,718 erweist sich bei Luhmann als wichtiges, wenn nicht gar wichtigstes Systemmerkmal eines (Entscheidungs-)Verfahrens, um dessen Entscheidungsergebnisse akzeptieren zu können.719 Für die Legitimierung als „Institutionalisierung des Anerkennens von Entscheidungen als verbindlich“720 ist die Teilnahme,721 die Mitwirkung722 insbesondere auch des Entscheidungsempfängers am Verfahren von massgebendem Gewicht und „hat für eine Bestätigung der Normen, für ihre Fixierung als verbindliche, persönlich-engagierende Verhaltensprämisse besonderen Wert“.723 Eine solche, die Eigenverantwortlichkeit des Entscheidungsempfängers ansprechende Möglichkeit der Beteiligung des Entscheidungsempfängers am Verfahren ist eine ihm einzuräumende „Leistung“,724 nach deren Vornahme, nach „deren Ableistung … er sich wieder(findet) als jemand, der die Normen in ihrer Geltung und die Entscheidenden in ihrem Amte bestätigt“725 und sich bezüglich eines möglicherweise späteren Protestes gegen eine für ihn ungünstige Entscheidung sozial „selbst isoliert“,726 wobei bei Luhmann – einen Bezug zu Verletzungen des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs ansprechend727 – auch die Verantwortung des Gerichts für einen, eine solche Mitwirkungsleistung ermöglichenden „Verhaltensrahmen“728 sichtbar wird. Mit Blick auf die Suche nach erforderlich zu wahrenden Elementen eines fairen Strafverfahrens sind damit auch bei Luhmann Anknüpfungspunkte in Form des dem Angeklagten einzuräumenden Rechts auf Teilhabe sowie auf einen Teilhaberahmen deutlich gemacht. Luhmann führt insofern aus:
717 718 719
720 721 722
723 724 725 726 727 728
154
LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 115. LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 114. Siehe dazu auch SCHLEIMINGER, S. 252 ff.: „Entscheidendstes Systemmerkmal“ (S. 252); GAEDE, S. 364 f.; zur Erhöhung individueller Akzeptanz durch eine Mitwirkung der Beteiligten siehe in der sozialpsychologischen Forschung zur Verfahrensgerechtigkeit etwa LIND, Verfahrensgerechtigkeit, S. 3 ff.; RÖHL, ZfRSoz 1993, S. 1 ff.; Luhmann geht davon aus, dass ein zielgerichtetes enttäuschungsloses Lernen in Rechtsverfahren im Normalfall nicht zu erreichen sei, sondern dies erst durch das Isoliertwerden des Entscheidungsempfängers mit seinem Protest geschieht, siehe dazu näher LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 112 ff. LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 122. LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 114: „Teilnahme am Verfahren“. LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 114 f.: „Mitwirkung“ (S. 114), „bestätigende Mitwirkung des Betroffenen“ (S. 115). LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 114 f. LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 86. LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 117. LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 117. LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 86 FN 10. LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 86 (Hervorhebung Demko).
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht „… Besonders dem Richter obliegt es, dafür zu sorgen, daβ alle Beteiligten auch für schwierige, riskante, peinliche, herzzerreiβende Kommunikation einen sicheren Verhaltensrahmen besitzen, daβ sie nicht abgelenkt und nicht irritiert werden, sondern in Ruhe eine gute (eine nach den Maβstäben des Verfahrens gute!) Leistung vollbringen …“729
206
Die mit der Möglichkeit einer wirksamen Mitwirkung des Entscheidungsempfängers am Verfahren einhergehende eigenverantwortliche Selbstverflechtung des Entscheidungsempfängers in dem Entscheidungsverfahren verbindet sich mit der Überzeugung, dass „alles mit rechten Dingen zugeht, daβ in ernsthafter, aufrichtiger und angestrengter Bemühung Wahrheit und Recht ermittelt werden“.730 Diese eigenverantwortliche Selbstverflechtung macht eine Zuschreibung, eine Verlagerung der Verantwortung für die auch ungünstige Entscheidung auf den Entscheidungsempfänger möglich,731 während umgekehrt bei mangelnder Einräumung einer wirksamen Mitwirkungsmöglichkeit des Entscheidungsempfängers am Verfahren ein Gericht „die Chancen der Legitimation …, die ein Verfahren bietet“,732 nicht nutze, wenn es „den Beteiligten nur einige noch fehlende Informationen abverlangt und dann nach eigener Einsicht überraschend entscheidet“.733
207
Bei jener dem Entscheidungsempfänger zu ermöglichenden Mitwirkungsleistung im Verfahren geht es um dessen Einbezug „in die Darstellung des Verfahrens“,734 handelt es sich um (Selbst-)Darstellungsleistungen,735 mit denen sich eine (Mit-)Verantwortung für den Ablauf des Verfahrens verbindet.736 Eine zu ermöglichende Mitwirkung in Rollen, ein Prozess der Rollenübernahme sei wie jede soziale Interaktion mit einer „Darstellung von Sinn, darunter auch mit einer Selbstdarstellung der handelnden Personen“737 verbunden. Die Darstellungsleistungen der Beteiligten sind mit dem ein Entscheidungsverfahren kennzeichnenden Selektionsprozess sowie der Reduzierung von Komplexität verknüpft,738 was bezogen auf die Mitwirkungsmöglichkeit
208
729 730 731 732 733 734 735
736 737 738
LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 86 (Hervorhebung Demko). LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 123. LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 114, 123. LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 115. LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 115. LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 108 mit weiteren Ausführungen. Siehe zu der (Selbst-)Darstellung des Menschen im Verfahren sowie deren Verbindungen mit der Würde und Freiheit des Menschen LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 66 f., 86 ff., 103 ff.; LUHMANN, Grundrechte, S. 53 ff.; siehe dazu auch VELTEN, S. 182. Siehe etwa LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 104, 107 ff. LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 91. LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 66 f.: „ … Auch für sie wird die Reduktion der Komplexität, das Ausbooten anderer Deutungsmöglichkeiten, zu einem Darstellungsproblem, und zwar zu einem Problem der Selbstdarstellung. Sie müssen,
155
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des Entscheidungsempfängers am Verfahren die ihm einzuräumende Möglichkeit anspricht, durch seine, selbst Selektionsleistungen seienden (Selbst-)Darstellungen seinerseits an dem gesamten Selektionsprozess und der Komplexitätsreduktion im Verfahren wirksam teilnehmen und diese(n) wirksam beeinflussen zu können. Angetrieben durch die Ungewissheit nimmt ein auf die Erarbeitung einer einmaligen verbindlichen Entscheidung abzielendes Verfahren, bestimmt und gesteuert durch die Selektionsleistungen der Beteiligten, (s)einen sich in seiner Komplexität immer mehr zusammenziehenden bzw. reduzierenden Verlauf:739 209
„… Nicht die vorgeprägte konkrete Form, die Geste, das richtige Wort treiben das Verfahren voran, sondern selektive Entscheidungen der Beteiligten, die Alternativen eliminieren, Komplexität reduzieren, Ungewiβheit absorbieren oder doch die unbestimmte Komplexität aller Möglichkeiten in eine bestimmbare, greifbare Problematik verwandeln. Die Selektivität einer Kommunikation wird ihr zugerechnet. Sie macht ihren Sinn aus … und die Beteiligten reagieren mit eigenen Verhaltenswahlen … auf Information über Selektionsleistungen anderer … So läuft das Verfahren ab als eine Entscheidungsgeschichte, in der jede Teilentscheidung einzelner Beteiligter zum Faktum wird, damit den anderen Beteiligten Entscheidungsprämissen setzt und so die gemeinsame Situation strukturiert …“740
210
Es ist einerseits das Moment des Sich-Eingeben-Könnens des Entscheidungsempfängers (hier des Angeklagten im Strafverfahren) in diesen von Luhmann hervorgehobenen Prozess von Selektion und Reduktion von Komplexität durch eigene Darstellungsleistungen und Kommunikationen – womit der Anknüpfungspunkt für das Recht des Angeklagten auf Teilhabe gesetzt ist – und es ist andererseits das Moment des ebenso notwendigen Beachtens jener Darstellungsleistungen des Entscheidungsempfängers als Gegenstand der fortlaufenden Kommunikationen im Entscheidungsverfahren durch die anderen Beteiligten – womit der Anknüpfungspunkt für das Recht des Angeklagten auf einen Teilhaberahmen gesetzt ist –,741 welche es beide für eine wirk-
739 740 741
156
wenn sie auf den Gang des Entscheidungsprozesses Einfluβ nehmen wollen, dem Gericht einen überzeugungskräftigen, vertrauenswürdigen Eindruck machen …“ LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 40 ff. LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 40. LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 49: „Die Kommunikationen der Beteiligten müssen zwar Selektionsleistungen erbringen …, aber sie bleiben in ihrer Selektivität … Gegenstand weiterer Kommunikation … erst das Sicheinlassen auf sie durch andere Teilnehmer reduziert, so weit es reicht, Komplexität für das System …“; zu Luhmanns Gesellschaftssystem als Kommunikationssystem, dem damit verbundenen Selektionsprozess und der Anschlusskommunikation siehe näher NOLL, S. 28 ff.; zu Gerichtsverfahren als Kommunikations- und Interaktionssystemen und der Beteiligung des Angeklagten an diesen siehe in Auseinandersetzung mit Luhmann sowie ebenso mit Rottleuthners Gegenmodell einer gelungenen Kommunikation sowie mit
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same Mitwirkung des Entscheidungsempfängers an der gemeinsamen „Herstellung der Verfahrensgeschichte … zusammen“742 mit den anderen Beteiligten braucht.743 Ziehen sich die Handlungsmöglichkeiten der Beteiligten in dem Masse zusammen, als das Verfahren sich entwickelt744 und engt sich der Entscheidungsspielraum im Fortlaufen des Entscheidungsverfahrens immer mehr ein,745 so ist es ein wirksames Mitwirkenkönnen auch des Entscheidungsempfängers an eben diesem, die Ungewissheit Stück für Stück absorbierenden, die Komplexität nach und nach reduzierenden Entscheidungsverfahren, das sich für eine Akzeptanz des (auch ungünstigen) Entscheidungsergebnisses als wichtig, als „heimliche Theorie des Verfahrens“746 erweist und für das die Bedeutung der dem Entscheidungsempfänger vom Gericht einzuräumenden und zu sichernden747 (Selbst-)Darstellungsleistungen hervorgehoben wird. Die Selbstdarstellung des Menschen steht bei Luhmann in einem engen Zusammenhang mit der Menschenwürde und der Freiheit, deren Funktion auf der Grundlage eines aus der Gesellschaft heraus konstituierten Individuums als eines gesellschaftlichen Rollenträgers ermittelt wird.748 Seine Individualität als Persönlichkeit gewinne ein Mensch „nur im sozialen Verkehr, indem auf seine Selbstdarstellung … eingegangen“749 werde, und die Notwendigkeiten und Bedingungen der Interaktion würden den Menschen zugleich „indivi-
742 743
744 745 746 747 748
749
dem dialogischen Modell von Callies näher SCHREIBER, S. 71 ff., insbesondere S. 73, 76 ff., 79 f., 81 f. LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, 45. Siehe zur Verfahrensgeschichte auch LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 44 f.: „… Um eine eigene Verfahrensgeschichte herstellen zu können, muβ das Verhalten der Beteiligten im Verfahren wählbar und damit auch zurechenbar sein … Jede Kommunikation, selbst eine unbeabsichtigte Darstellung, die zum Verfahren beiträgt, wird als eine Information angenommen, die Möglichkeiten eröffnet, verdichtet oder ausscheidet, die die handelnden Personen und ihre relevante Vergangenheit definiert und den Entscheidungsspielraum einengt. Jeder Beitrag geht in die Geschichte des Verfahrens ein … Auf diese Weise wird Schritt für Schritt eine Konstellation von Fakten und Sinnbeziehungen aufgebaut, die mit den unverrückbaren Siegeln der Vergangenheit belegt ist und mehr und mehr Ungewiβheit absorbiert …“ (S. 44, Hervorhebung Demko). LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 45. Siehe dazu näher LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 44 f. LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 87. LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 86. Siehe dazu auch NOLL, S. 243 ff.; zur Systemtheorie von Luhmann siehe BRAUN, S. 226 ff.; zum Luhmannschen Rechtsbegriff als Erwartungsbeziehung siehe SEELMANN, Rechtsphilosophie, S. 48 ff. LUHMANN, Grundrechte, S. 62.
157
211
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dualisieren und sozialisieren“.750 Wird der Mensch „die Persönlichkeit, als welche er sich darstellt“,751 so werden – den Zusammenhang von Selbstdarstellung, Menschenwürde und Freiheit aufzeigend – die Begriffe der Freiheit und Menschenwürde von Luhmann als „werthaft formulierte Bezeichnungen für die Auβen- bzw. die Innenproblematik menschlicher Selbstdarstellungen“752 angesehen. Die einander wechselseitig bedingende753 Freiheit und Würde des Menschen seien die „äuβeren und inneren Vorbedingungen der Selbstdarstellung als individuelle Persönlichkeit im Kommunikationsprozeβ“754 und erst die Selbstdarstellung des Menschen lässt „den Menschen in Kommunikation mit anderen zur Person werden …“ und „… (konstituiert) ihn damit in seiner Menschlichkeit“:755 212
„… Ohne Erfolg in der Selbstdarstellung, ohne Würde, kann er seine Persönlichkeit nicht benutzen. Ist er zu einer ausreichenden Selbstdarstellung nicht in der Lage, scheidet er als Kommunikationspartner aus und sein mangelndes Verständnis für Systemanforderungen bringt ihn ins Irrenhaus …“756
213
Selbstidentifikation eines Menschen vollzieht sich nach Luhmann mithin erst im sozialen Kontakt und selbstbewusste Individualität gewinnt ein Mensch nur dadurch, dass er sich „als Interaktionspartner selbst darstellt“.757 Ist das Moment einer „gelungene(n) Selbstdarstellung“,758 des „Gelingens der Selbstdarstellung eines Menschen als individuelle Persönlichkeit“759 betont und sind die Würde und die Freiheit des Menschen als „Grundbedingungen“760 für jenes Gelingen der Selbstdarstellung hervorgehoben, so unterscheidet Luhmann dergestalt zwischen beiden aufeinander angewiesenen Begriffen, als die Würde „sich auf die inneren, die Freiheit auf die äuβeren Bedingungen und Probleme der Selbstdarstellung als individuelle Persön-
750 751 752 753
754 755
756 757 758 759 760
158
LUHMANN, Grundrechte, S. 61. LUHMANN, Grundrechte , S. 60 (Hervorhebung Demko). LUHMANN, Grundrechte, S. 68 (Hervorhebung Demko). LUHMANN, Grundrechte, S. 70, 77: „die eigentümliche Interdependenz, das Aufeinanderangewiesensein beider“ (S. 77, Hervorhebung Lumann). LUHMANN, Grundrechte, S. 70 (Hervorhebung Demko). LUHMANN, Grundrechte, S. 69 (Hervorhebung Demko); zu Luhmanns „Würde als gelingende Selbstdarstellung“ (S. 55) siehe zudem GIESE, S. 55 ff.; siehe ebenso zu der persönlichen Freiheit und der Menschenwürde bei Luhmann die Ausführungen von NOLL, S. 243 ff. LUHMANN, Grundrechte, S. 69 (Hervorhebung Demko). LUHMANN, Grundrechte, S. 61 (Hervorhebung Demko) mit weiteren Ausführungen. LUHMANN, Grundrechte, S. 68 (Hervorhebung Demko). LUHMANN, Grundrechte, S. 61 (Hervorhebung Demko). LUHMANN, Grundrechte, S. 61.
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lichkeit“761 beziehen. Die individuell-persönliche Selbstdarstellung betonend und dieser auch im Zusammenhang mit Entscheidungsverfahren eine massgebende Rolle zusprechend, so dass deren Bedeutung angewendet auf Strafverfahren auch für den Angeklagten sichtbar wird, spricht Luhmann von einem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit als einem „Recht des Menschen auf eine ihm zurechenbare Handelnssphäre, die er braucht, um sich als Persönlichkeit, als selbstbewuβte individuelle Einheit darstellen zu können“.762 Erneut ist hier die zu beachtende Verbindung der Momente von Handeln und (Selbst-)Darstellen mit einem dafür einzuräumenden «Handlungsund (Selbst-)Darstellungs-Rahmen», welchen es für ein wirksames Handeln und (Selbst-)Darstellen braucht, sichtbar gemacht763 und ebenso geben sich hier erneut die Anknüpfungspunkte für ein dem Angeklagten in einem fairen Strafverfahren einzuräumendes Recht auf Teilhabe und auf einen Teilhaberahmen zu erkennen. Den Grundrechten der Freiheit und Würde des Menschen kommt nach Luhmann die wichtige Funktion des Schutzes der Sphäre der individuell-persönlichen Selbstdarstellung gegen staatliche Eingriffe zu, welche „das symbolisch-kommunikative Ausdruckspotential der Persönlichkeit entscheidend lähmen könnten“.764 Angewendet auf das Strafverfahren als ein Entscheidungsverfahren und hier konkret bezogen auf den Angeklagten ist das Moment «anerkannt gelebter Subjektivität» – mit den von Luhmann betonten Erfordernissen von Handeln und (Selbst-)Darstellen (gerade auch) des Entscheidungsempfängers und seinem Mitwirkenkönnen an den Interaktionen und Kommunikationen des Entscheidungsverfahrens – auch in der Luhmannschen systemtheoretischen Konzeption erkennbar. Trotz der Skepsis von Luhmann gegenüber den Begriffen von Wahrheit, Richtigkeit und Gerechtigkeit sowie seiner ihm auch kritisch vorgeworfenen funktionalen Betrachtungsweise765 stellt sich das von Luhmann betonte Erfordernis von möglicher aktiver Teilnahme, von (Selbst-) 761
762 763 764 765
LUHMANN, Grundrechte, S. 77 (Hervorhebungen Luhmann), siehe zur Würde und Freiheit des Menschen auch näher auf S. 68 ff.: „Würde muβ konstituiert werden. Sie ist das Ergebnis schwieriger … Darstellungsleistungen und in gleichem Maβe Ergebnis ständiger sozialer Kooperation … Sie ist eines der empfindlichsten menschlichen Güter … Eine einzige Entgleisung, eine einzige Indiskretion kann sie radikal zerstören. Sie ist also alles andere als „unantastbar“. Gerade wegen ihrer Exponiertheit ist sie einer der wichtigsten Schutzgegenstände unserer Verfassung …“ (S. 68 f.), Freiheit und Würde als „vorstaatliche Rechtsgüter“ (S. 72) dazu näher S. 72 ff.; siehe auch NOLL, S. 369 ff. LUHMANN, Grundrechte, S. 79 (Hervorhebung Demko). Siehe dazu auch LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, S. 86. LUHMANN, Grundrechte, S. 82 (Hervorhebung Demko). Zur Kritik an der funktionalen Betrachtungsweise und zu dem Vorwurf der Instrumentalisierung siehe etwa SCHLEIMINGER, S. 254 f.; siehe auch ZIPPELIUS, S. 293 f., 298 ff.
159
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Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
Darstellung und Verwirklichung von Ausdruckschancen und symbolischexpressiver Handlungskomponenten,766 von Mitwirkung als Interaktions- und Kommunikationspartner an dem Komplexität Schritt für Schritt reduzierenden Entscheidungsverfahren mit Blick auf dessen Anwendung auf das Strafverfahren gerade auch für den Angeklagten als Entscheidungsempfänger als grundlegend und entscheidend dar.767 In dem sich der Beschreibung des Funktionierens des (Rechts-)Systems widmenden Luhmannschen Konzept sind damit wichtige Momente angesprochen, welche sich auch mit Blick auf eine vorzunehmende Transformation in zu entwickelnde normative Vorgaben – zu denken ist hier insbesondere an normative Vorgaben für das Menschenrecht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren und in Bezug auf die ihm zu gewährende wirksame Verteidigung an normative Vorgaben für das Recht des Angeklagten auf Teilhabe und einen Teilhaberahmen – als wertvoll erweisen.
215
e)
Die Diskurstheorien von Apel, Habermas, Alexy und Tammelo
aa)
Der ideale Diskurs und dessen Diskursbedingungen
Die Ideen von Universalität sowie Autonomie, Freiheit und Gleichheit drücken sich auch in den Diskurstheorien aus, wie sie u.a. von Apel und Habermas und für die juristische Argumentation von Alexy entscheidend geformt wurden. Als „Argumentationstheorien“768 und prozedurale Theorien der Gerechtigkeit769 möchten die Diskurstheorien – welche im Unterschied zu Luhmann den Begriffen von Wahrheit, Richtigkeit, Gerechtigkeit nicht skeptisch gegenüber stehen – wahre und richtige Inhalte aus einer bestimmten Prozedur in Gestalt einer rationalen Kommunikation, eines rationalen praktischen Diskurses gewinnen,770 wobei die Wahrheit empirischer Aussagen im theoretischen Diskurs und die Richtigkeit normativer Aussagen im praktischen Diskurs zu gewinnen sei.771 Nicht irgendein beliebiger Diskurs genügt, sondern vielmehr ist ein zu einem bestimmten Diskursergebnis, nämlich einem begründeten Konsens führender „konsenserzielende(r)“772 Diskurs gefordert 766 767
768 769 770 771
772
160
Dazu näher LUHMANN, Grundrechte, S. 79. Siehe auch GAEDE, S. 364 f. und dazu, dass der Luhmannsche systemtheoretisch gefärbte Zugang zu einem fairen Verfahren in Art. 6 EMRK seine „erforderliche normative Grundlage“ (S. 365) finden könnte. TSCHENTSCHER, S. 218 mit weiteren Ausführungen. Siehe dazu näher TSCHENTSCHER, S. 132 ff., 217. Siehe dazu auch KAUFMANN, Festgabe Opałek, S. 195 ff.; TSCHENTSCHER, S. 217. Näher dazu NEUMANN, Argumentationslehre, S. 72; KAUFMANN, Festgabe Opałek, S. 196. KAUFMANN, Festgabe Opałek, S. 196, siehe zudem die weiteren Ausführungen auf den S. 195 ff.
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und allein ein begründeter Konsens ist als Wahrheits- und Richtigkeitskriterium anerkannt und zugelassen. Die Bedingung für die Wahrheit von Aussagen sei, so heisst es bei Habermas, „die potentielle Zustimmung aller anderen“773 und auf die Frage, was den Konsens zu einem begründeten mache und diesen legitimiere, antwortet Habermas mit der Kraft des besseren Arguments, welche allein erklärt werden könne durch formale Eigenschaften des Diskurses: „… Die Konsensustheorie der Wahrheit beansprucht den eigentümlich zwanglosen Zwang des besseren Argumentes durch formale Eigenschaften des Diskurses zu erklären …“774
216
Hinsichtlich dieser formalen Eigenschaften des einen begründeten Konsens erzielenden und damit als Wahrheits- und Richtigkeitskriterium dienen könnenden Diskurses verweist Habermas auf die sog. ideale Sprechsituation, mit deren Bedingungen sich die sich in den Diskurstheorien ausweisen könnenden Begriffe von Autonomie, Freiheit und Gleichheit verbinden. Eine Sprechsituation sei ideal, in welcher die Kommunikationen „nicht nur nicht durch äuβere kontingente Einwirkungen, sondern auch nicht durch Zwänge behindert werden, die sich aus der Struktur der Kommunikation selbst ergeben“.775 Entwickelt wurden eine Vielzahl unterschiedlicher Diskursregeln, die von Habermas, aber vor allem für die juristische Argumentation von Alexy in differenzierender Weise ausformuliert sind:
217
Die Diskursregeln bringen das Erfordernis der Anerkennung von Autonomie, Freiheit und Gleichheit der Diskursteilnehmer im Handeln und in der Diskursteilnahme zum Ausdruck, sprechen sich gegen Macht, Herrschaft und Zwang aus und lassen sowohl den notwendig objektiven Charakter eines Entscheidungsprozesses als auch das (bezogen auf die am Prozess Teilnehmenden) notwendige Moment des Subjekthaften erkennen. Bei der idealen Sprechsituation von Habermas geht es um die für alle Diskursteilnehmer gegebene „symmetrische Verteilung der Chancen, Sprechakte zu wählen und auszuführen“.776 Aus jener „allgemeinen Symmetrieforderung“777 abgeleitet ist gefordert, dass alle potentiellen Diskursteilnehmer die „gleiche Chance …“ zur Verwendung „… kommunikative(r) Sprechakte“778 haben müssen, so
218
773
774
775
776 777 778
HABERMAS, Wahrheitstheorien, S. 219; siehe auch HABERMAS, Faktizität und Geltung, S. 138: „Gültig sind genau die Handlungsnormen, denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen könnten“; dazu auch NEUMANN, Argumentationslehre, S. 72. HABERMAS, Wahrheitstheorien, S. 240 (Hervorhebung Demko); dazu auch NEUMANN, Argumentationslehre, S. 73. HABERMAS, Wahrheitstheorien, S. 255; siehe zudem NEUMANN, Argumentationslehre, S. 73. HABERMAS, Wahrheitstheorien, S. 255. ALEXY, Theorie der juristischen Argumentation, S. 156. HABERMAS, Wahrheitstheorien, S. 255 (Hervorhebung Demko).
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dass sie „jederzeit Diskurse eröffnen sowie durch Rede und Gegenrede, Frage und Antwort perpetuieren können“.779 Verbunden ist dies mit der sich ebenfalls unmittelbar auf den Diskurs beziehenden Forderung einer gleichen Chance für alle Diskursteilnehmer, „Deutungen, Behauptungen, Empfehlungen, Erklärungen und Rechtfertigungen aufzustellen und deren Geltungsanspruch zu problematisieren, zu begründen oder zu widerlegen, so daβ keine Vormeinung auf Dauer der Thematisierung und der Kritik entzogen bleibt“.780 219
Mit den von Habermas formulierten Diskursregeln bringt sich zum einen das Gewähren von Offenheit und Offenhalten des Diskurses und des gesamten Diskursverlaufs – ausgedrückt etwa in der Forderung, dass «keine Vormeinung auf Dauer der Thematisierung und der Kritik entzogen» werden dürfe – zum Ausdruck. Sichtbar wird zugleich zum anderen das Gewähren von Freiheit(en) und Gleichheit der Diskursteilnehmer hinsichtlich ihrer kommunikativen – sei dies etwa redenden, gegenredenden, fragenden und/oder antwortenden – Teilnahme am Diskurs, womit unmittelbar auch die antithetische Mitwirkung des Angeklagten im Strafverfahren angesprochen ist, mit welcher er sich in kommunikativer Rede gegen die ihn anklagende These stellen kann. Diese Aspekte finden sich ausdifferenziert auch in den Diskursregeln von Alexy wieder:781 Als eine „prozedurale Theorie der praktischen Richtigkeit“782 bestimme sich die Richtigkeit und deshalb Gültigkeit einer Norm nach der Diskurstheorie danach, dass sie das „Ergebnis einer bestimmten Prozedur, nämlich der eines rationalen praktischen Diskurses“783 sei und die Prozedur des Diskurses „ist eine Argumentationsprozedur“.784 Ebenfalls die Momente von Objektivität und Offenheit des Diskurses sowie der gleichen Diskursfreiheiten der Diskursteilnehmer aufzeigend heisst es bei Alexy, dass das Ziel der Diskursregeln „die Unparteilichkeit des Diskurses“785 sei:
779 780
781
782 783 784 785
162
HABERMAS, Wahrheitstheorien, S. 255 (Hervorhebung Demko). HABERMAS, Wahrheitstheorien, S. 255 (Hervorhebung Demko); zwei weitere, Diskurse in Handlungszusammenhänge einbettende Forderungen schliessen sich an, welche die gleichen Chancen der Handelnden zur Verwendung repräsentativer und regulativer Sprechakte betreffen, siehe näher S. 256. Siehe auch ALEXY, Theorie der juristischen Argumentation, S. 157: „Verwirklichung von Offenheit im alltäglichen Umgang als auch die Realisierung von Handlungsfreiheit“ (S. 157) als Voraussetzung der Verwirklichung der idealen Sprechsituation, bezugnehmend auf die beiden, die Handlungszusammenhänge betreffenden Forderungen von Habermas. ALEXY, Recht, Vernunft, Diskurs, S. 129. ALEXY, Recht, Vernunft, Diskurs, S. 129. ALEXY, Recht, Vernunft, Diskurs, S. 129. ALEXY, Recht, Vernunft, Diskurs, S. 129 (Hervorhebung Demko).
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht „… Dieses Ziel soll durch Sicherung der Freiheit und Gleichheit der Argumentation erreicht werden …“786
220
Die Forderungen von Alexy nach „Gleichberechtigung, Universalität und Zwanglosigkeit“787 sind von ihm in – den Habermasschen Bedingungen der idealen Sprechsituation entsprechenden – Regeln zu gleichen Diskursfreiheiten in Gestalt einer gleichen Teilnahmefreiheit, Thematisierungsfreiheit, Problematisierungs- bzw. Infragestellungsfreiheit, Äusserungsfreiheit und Herrschafts- bzw. Zwangsfreiheit zum Ausdruck gebracht.788 Den Eintritt in den Diskurs betreffend dürfe nach der ersten Diskursregel jeder, der sprechen kann, an Diskursen teilnehmen.789 Sich auf die „Freiheit des Diskutierens“790 beziehend dürfe nach der zweiten Diskursregel jeder jede Behauptung problematisieren und in den Diskurs einführen sowie seine Einstellungen, Wünsche und Bedürfnisse äussern.791 Hinsichtlich der Abschirmung von Zwang heisst es sodann in der dritten Diskursregel, dass kein Sprecher durch innerhalb oder ausserhalb des Diskurses herrschenden Zwang an der Wahrnehmung seiner in den ersten beiden Diskursregeln festgelegten Rechte gehindert werden dürfe.792
221
Das mit den Diskursregeln von Habermas und Alexy ausgedrückte Recht der Diskursteilnehmer, unter Zwanglosigkeit und in Gleichberechtigung an der Prozedur des Diskurses mitwirken und deren Verlauf und Gestaltung durch die unterschiedlichen Diskursfreiheiten (mit-)beeinflussen zu können, verweist auf das zu wahrende Autonomiemoment, das Moment der Subjekthaftigkeit, das in Bezug auf die Diskursteilnehmer als eine der Bedingungen eines praktischen rationalen Diskurses nach Erfüllung verlangt. Verbunden zudem mit der weiter geforderten Bedingung der Offenheit und Unparteilichkeit des Diskurses erlangen diese für die Kennzeichnung eines sog. idealen Diskurses793 aufgestellten Bedingungen als Leitmassstab und Ausrichtungs-
222
786 787 788
789
790 791
792
793
ALEXY, Recht, Vernunft, Diskurs, S. 129 (Hervorhebung Demko). ALEXY, Theorie der juristischen Argumentation, S. 239. ALEXY, Theorie der juristischen Argumentation, S. 240; siehe auch ALEXY, Recht, Vernunft, Diskurs, S. 130; siehe dazu näher TSCHENTSCHER, S. 224; NEUMANN, Argumentationslehre, S. 78 ff. ALEXY, Theorie der juristischen Argumentation, S. 240; siehe auch ALEXY, Recht, Vernunft, Diskurs, S. 130. ALEXY, Theorie der juristischen Argumentation, S. 240. ALEXY, Theorie der juristischen Argumentation, S. 240; siehe auch ALEXY, Recht, Vernunft, Diskurs, S. 130. ALEXY, Theorie der juristischen Argumentation, S. 240; siehe auch ALEXY, Recht, Vernunft, Diskurs, S. 130. Zur Definition von idealem und realem Diskurs siehe näher TSCHENTSCHER, S. 218 f.; zur Unterscheidung zwischen idealer und realer Kommunikationsgemeinschaft siehe APEL, Transformation der Philosophie, Bd. 2, S. 428 f.
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Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
vorgabe sowie ebenso als Rechtfertigungsmassstab auch für die Prozedur des Strafverfahrens und für die am Strafverfahren Beteiligten eine wichtige Bedeutung und lassen auszuformende Bezugnahmen auf die dem Angeklagten zu gewährende «anerkannt gelebte Subjektivität» und auf das ihm für ein faires Strafverfahren zu ermöglichende Recht auf Teilhabe und einen Teilhaberahmen deutlich werden. bb) 223
Der ideale Diskurs als Leit- und Rechtfertigungsmassstab für den «realen Diskurs: Strafverfahren»
Die mit der Offenheit und Objektivität des Diskurses einerseits und mit der für die Diskursteilnehmer zu sichernden Zwangs- bzw. Herrschaftsfreiheit sowie ihrer Freiheit und Gleichheit bei der Diskursteilnahme andererseits ausgedrückten Bedingungen eines idealen Diskurses sind unter den Bedingungen realen Handelns, Kommunizierens und Diskursführens zwar (zumeist) nicht vollkommen, nicht in «Rein»- bzw. «Höchst»form verwirklicht und verwirklichbar.794 Dies ändert aber – sind reale Handlungs- und Kommunikationsformen um das Erreichen ihres gesetzten Handlungs- und Kommunikationsziels tatsächlich ehrlich bemüht – nichts an ihrem nötigen Bestreben(sanspruch) und Verwirklichungsbemühen nach gerade solchen Handlungs- und Kommunikationsbedingungen,795 welche sich zur Erreichung des gesetzten Handlungs- und Kommunikationsziels als «am besten geeignet» ausweisen. Als eben solche «bestgeeignete» Bedingungen der Ermittlung von Wahrheit, Richtigkeit, Gerechtigkeit stellen sich nach Ansicht der Diskurstheorien nun die in diesen formulierten Regeln und Bedingungen eines idealen Diskurses dar. Jene idealen Diskursregeln lassen sich einerseits als Leitmassstab und Vorbild begreifen, indem sie vorgeben, wonach auch unter real eingeschränkten Handlungs- und Kommunikationsbedingungen zu streben ist und woran es sich anzunähern gilt.796 Andererseits fungieren sie als begrenzendes Rechtfertigungs- bzw. Begründungsmoment, indem sie nach Aufmerksamkeit und Begründung verlangen für Abweichungen von als ideal ausgewiesenen Handlungs- und Kommunikationsbedingungen und indem sie dabei solchen Abweichungen Einhalt gebieten, die nicht durch die realen Erfordernisse tatsächlich begründet sind, sondern sich (etwa) auf absichtlich herbeigeführten Zwang, Machtungleichgewichte und andere unbegründete 794
795
796
164
Dazu auch APEL, Transformation der Philosophie, Bd. 2, S. 428 f.: „… (in den meisten Fällen) die reale Gemeinschaft … weit davon entfernt ist, der idealen Kommunikationsgemeinschaft zu gleichen“ (S. 429). Siehe zu „Beteiligung, Dialog, Bemühen um Konsens“ (S. 85) im Strafverfahren, selbst wenn man dieses nicht dem Diskurs zuordnet, näher SCHREIBER, S. 81 ff. Siehe dazu auch TSCHENTSCHER, S. 218 ff.; siehe dazu auch APEL, Transformation der Philosophie, Bd. 2, S. 428 f.
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
und mithin „vermeidbare“797 Verzerrungen im Handeln und Kommunizieren zurückführen lassen.798 Der oft vorschnell angerufene Einwand, dass sich die idealen Diskursbedingungen im Realen nicht verwirklichen lassen,799 greift zu kurz und verkennt die Bedeutung und Funktion des idealen Diskurses als – wie es auch Tschentscher zutreffend ausführt – einer „regulative(n) Idee“800 und eines Leit- sowie Rechtfertigungsmassstabes.801 Schon bei Kant heisst es zum zu beachtenden Verhältnis zwischen Idealem und Realem:
224
„… Denn nichts kann Schädlicheres und eines Philosophen Unwürdigeres gefunden werden, als die pöbelhafte Berufung auf vorgeblich widerstreitende Erfahrung, die doch gar nicht existieren würde, wenn jene Anstalten zu rechter Zeit nach den Ideen getroffen würden, und an deren statt nicht rohe Begriffe, eben darum, weil sie aus Erfahrung geschöpft worden, alle gute Absicht vereitelt hätten … Ob nun gleich das letztere niemals zu Stande kommen mag, so ist die Idee doch ganz richtig, welche dieses Maximum zum Urbilde aufstellt, um nach demselben die gesetzliche Verfassung der Menschen der möglich gröβten Vollkommenheit immer näher zu bringen …“802
225
Auch bei Apel, Habermas und Alexy findet sich jenes Moment der anzustrebenden Annäherung des Realen an Bedingungen und Strukturen des Idealen von Handlungen und Kommunikationen wieder. Apel zeigt das langfristige Hinzielen der realen Bedingungen auf die Annäherung an die regulative Idee der idealen Kommunikationsgemeinschaft und das Fördern einer, wenn auch nicht vollkommenen, jedoch progressiven Verwirklichung der Rahmenbedingungen eines gleichberechtigten und gleichverantwortlichen Miteinanders:803
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„… Erstens muβ es in allem Tun und Lassen darum gehen, das Überleben der menschlichen Gattung als der realen Kommunikationsgemeinschaft sicherzustellen, zweitens darum, in der realen die ideale Kommunikationsgemeinschaft zu verwirkli-
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SCHREIBER, S. 81. Siehe auch TSCHENTSCHER, S. 219 mit dem Verweis auf den „Verzicht aller Beteiligten auf die absichtliche Ausübung von Zwang durch Gewalt und Drohung“; siehe auch REESE-SCHÄFER, S. 15, 16: „Die Voraussetzung der Diskurse ist, anders als beim Überlebenskampf, die Anerkennung des anderen; zumindest also seines Lebensrechts, und die Bereitschaft, Dissens gewaltfrei zu klären.“ (S. 16, Hervorhebung Demko). Siehe dazu auch ALEXY, Theorie der juristischen Argumentation, S. 158. TSCHENTSCHER, S. 221 (Hervorhebung Tschentscher); siehe auch S. 222: „Diskursregeln definieren die Rahmenbedingungen eines idealen Diskurses, der gleichzeitig die regulative Idee aller realen Diskurse ist“ (Hervorhebung Demko). Siehe auch TSCHENTSCHER, S. 221: „Leitbildfunktion“. KANT, Kritik der reinen Vernunft 1, S. 324. Siehe dazu etwa APEL, Diskursethik, S. 36 f.: „die progressive, aber niemals vollständige Realisierung der (kommunikativen) Rahmen-Bedingungen eines gleichberechtigten und gleichmitverantwortlichen Miteinanders …“ (Hervorhebung Apel); APEL, Vernunftfunktion, S. 40 f.
165
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht chen. Das erste Ziel ist die notwendige Bedingung des zweiten Ziels; und das zweite Ziel gibt dem ersten seinen Sinn, – den Sinn, der mit jedem Argument schon antizipiert ist …“804 228
Die mit der idealen Sprechsituation verbundenen „Grundnormen vernünftiger Rede“805 liegen nicht nur Diskursen, sondern auch den Geltungsansprüchen zugrunde, die in alltäglichen Handlungen, in – wie es bei Habermas heisst – „jedem Interaktionszusammenhang“806 erhoben werden. Nach Habermas werde die ideale Sprechsituation von jedem, der überhaupt in irgendwelchen kommunikativen Beziehungen stehe, bereits vorausgesetzt, auch dann, wenn er faktisch noch so sehr von den Postulaten der idealen Sprechsituation abweiche.807 Dieser Hinweis ist von Relevanz insbesondere auch für die Diskussion über die Einordnung des Strafverfahrens als Diskurs oder als strategisches Handeln,808 anzeigend, dass selbst bei der Annahme strategischer Handlungen von einzelnen Verfahrensbeteiligten sich an dem – für einen jeden Handlungs- und Kommunikationszusammenhang mit Anspruch auf vernünftige Rede809 – stets gegebenen „Vorgriff“810 auf die bzw. an der stets gegebenen „vorweggenommene(n) Unterstellung“811 der ideale(n) Sprechsituation sowie an dem damit verknüpften Ziel der Annährung an diese ideale Sprechsituation auch in real eingeschränkten Kommunikationszusammenhängen – zu denen auch das Strafverfahren zu zählen ist – nichts ändert.
229
Das Ideale eines Handlungs- und Kommunikationszusammenhangs in dessen Funktion als Leitbild- sowie Rechtfertigungsmassstab für reale Handlungen und Kommunikationen und ihre Annäherungsbestrebungen an das Ideale erkennen lassend, ist auch bei Habermas von einer „hinreichende(n) Realisierung“812 der an Diskurse zu stellenden Forderungen und davon zu lesen, dass 804
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APEL, Transformation der Philosophie, Bd. 2, S. 431 (Hervorhebung Apel: «Überleben», «realen» und «ideale»; Hervorhebung Demko: «das zweite Ziel gibt dem ersten seinen Sinn» und «schon antizipiert ist») zu den zwei grundlegenden regulativen Prinzipien für die langfristige moralische Handlungsstrategie jedes Menschen. ALEXY, Theorie der juristischen Argumentation, S. 160. HABERMAS, Legitimationsprobleme, S. 153 FN 160 (Hervorhebung Habermas). Siehe dazu HABERMAS, Legitimationsprobleme, S. 153 FN 160; siehe dazu auch ALEXY, Theorie der juristischen Argumentation, S. 160. Siehe zur Diskussion über die Einordnung des Strafverfahrens als Diskurs näher unter Kap. 3 B. II. 1. e) cc). Siehe auch ALEXY, Theorie der juristischen Argumentation, S. 160 zu den „Grundnormen vernünftiger Rede“; siehe auch HABERMAS, Rekonstruktion, S. 11 zum „Vernunftanspruch“ der Kommunikationstheorie mit den vier Geltungsansprüchen. ALEXY, Theorie der juristischen Argumentation, S. 158. HABERMAS, Wahrheitstheorien, S. 258: ideale Sprechsituation als „eine in Diskursen unvermeidliche reziprok vorgenommene Unterstellung“, „eine im Kommunikationsvorgang operativ wirksame Fiktion … Antizipation … Vorgriff“. HABERMAS, Wahrheitstheorien, S. 257.
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
eine ebensolche hinreichende Realisierung dann gegeben sei, wenn „externe und redeimmanente Zwänge soweit neutralisiert sind, daβ die Gefahr eines (auf Täuschung und Selbsttäuschung beruhenden) Pseudokonsensus“813 nicht bestehe. Diesen Gedanken auf das Straf- und insbesondere Beweisverfahren übertragend und dabei die Bedeutung eines vom Gericht zu sichernden gleichberechtigten zur Sprache-Bringen-Könnens von be- und entlastenden Tatsachen sichtbar machend, heisst es weiter, dass ungleiche Verteilungen von Chancen zur Verwendung von Sprechakten durch institutionelle Vorkehrungen neutralisiert werden können.814 Die „unvermeidliche reziprok vorgenommene Unterstellung“815 der idealen Sprechsituation bei jedem Handlungsund Kommunikationszusammenhang allein biete die „Gewähr dafür, daβ wir mit einem faktisch erzielten Konsensus den Anspruch eines vernünftigen Konsensus verbinden dürfen“816: „… zugleich ist er ein kritischer Maβstab, an dem jeder faktisch erzielte Konsensus auch in Frage gestellt und daraufhin überprüft werden kann, ob er ein hinreichender Indikator für einen begründeten Konsensus ist …“817
230
Dass es bei den idealen Diskursregeln um einen Leitbild- und Rechtfertigungsmassstab für reale Diskurse geht, bringt ebenso Alexy deutlich zum Ausdruck, wonach der Umstand, dass einige der Diskursregeln sich nur annäherungsweise erfüllen lassen, jene Regeln „jedoch nicht sinnlos“818 mache und – den Gesichtspunkt der Annäherung(sbestrebungen) realer Kommunikationszusammenhänge an die ideale Kommunikationssituation ansprechend – an die Möglichkeit einer „approximative(n) Verwirklichung der idealen Sprechsituation“819 zu denken sei. Hinsichtlich der Diskursregeln heisst es:
231
„... Sie können im Bereich des diskursiv Möglichen zwar keine endgültige Gewiβheit erzeugen, als Explikation des Anspruchs auf Richtigkeit, als Kriterium für die Richtigkeit normativer Aussagen, als Instrument der Kritik nicht rationaler Begründungen
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ALEXY, Theorie der juristischen Argumentation, S. 158 (Hervorhebung Demko) einen Brief von Habermas an Alexy vom 17.12.1974 zitierend. Dazu näher HABERMAS, Wahrheitstheorien, S. 257. HABERMAS, Wahrheitstheorien, S. 258; zur Frage, ob die gerichtliche Hauptverhandlung als rationaler juristischer Diskurs im Sinne der Diskurstheorie von Habermas angesehen werden könne, siehe auch TSCHERWINKA, S. 45 ff., insbesondere S. 46 f. HABERMAS, Wahrheitstheorien, S. 258 (Hervorhebung Demko). HABERMAS, Wahrheitstheorien, S. 258 (Hervorhebung Demko). ALEXY, Theorie der juristischen Argumentation, S. 36, siehe auch weiter S. 240. ALEXY, Theorie der juristischen Argumentation, S. 159 (Hervorhebung Demko), siehe auch weiter: „Man kann durchaus ein Ideal verfolgen, das nie zu realisieren ist.“ (S. 159).
167
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht sowie als Präzisierung eines anzustrebenden Ideals sind sie jedoch von erheblicher Bedeutung …“820 233
Das Fungieren eines erkannten Ideals eines Kommunikationszusammenhangs als „regulative Idee“,821 mit der sich der Anspruch realer Kommunikationszusammenhänge auf Annäherung an das als anzustrebendes Ziel erkannte Ideal verbindet,822 drückt sich mit der vom Realen vorzunehmenden Bezugnahme auf das „Forum der Vernunft“823 auch bei Tammelo aus. Tammelo verlangt für das Erreichen einer „einsichtige(n) Zustimmung“824 ein paraduktives Verfahren unter Bedingungen, „in denen Besonnenheit, Redlichkeit und Zuständigkeit herrschen“825 und spricht unter Verweis auf Perelman mit diesen Bedingungen ein von einem solchen Verfahren gefordertes Forum an, „das als „Forum der Vernunft“ bezeichnet werden“826 könne. Das Verhältnis von realen und idealen Kommunikationen ansprechend sei jene Idee des Forums der Vernunft als ein „Idealtypus zu betrachten, der sich in tatsächlichen Argumentationssituationen nur in Glücksfällen annähernd verwirklicht“.827 Die „wichtige Rolle“828 dieses Forums der Vernunft als Idealtypus auch in der Alltäglichkeit des paraduktiven Verfahrens sei darin zu sehen, dass dieses „ein Ziel abgibt, das nicht aus den Augen verloren werden darf, wenn vertretbare Wertungen erzielt werden sollen“,829 wobei unter jener Vertretbarkeit keine solche im absoluten Sinne gemeint, sondern sie zu verstehen sei „im Sinne einer Haltbarkeit, Bewährung an einem gegebenen Ort und zu einer gegebenen Zeit“.830
234
Das Sich-Auszurichten-Haben von Real-Eingeschränktem an Bedingungen idealer Kommunikationszusammenhänge drückt sich auch mit dem Verweis auf den reflexiven Charakter paraduktiver Verfahren aus, nach welchem diese in ihrem Ablauf dauernd die Frage nach der Erfüllung der wesentlichen Be820
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ALEXY, Theorie der juristischen Argumentation, S. 36, siehe dazu auch näher S. 240 ff., zum Anspruch auf Gerechtigkeit als „Sonderfall“ (S. 242) des Anspruchs auf Richtigkeit siehe S. 242. ALEXY, Theorie der juristischen Argumentation, S. 414; siehe dazu auch APEL, Transformation der Philosophie, Bd. 2, S. 428 f. Siehe dazu auch ALEXY, Theorie der juristischen Argumentation, S. 414; siehe dazu auch APEL, Transformation der Philosophie, Bd. 2, S. 428 f. TAMMELO, Theorie der Gerechtigkeit, S. 105 unter Verweis auf Perelman, siehe auch S. 107. TAMMELO, Theorie der Gerechtigkeit, S. 105 (Hervorhebung Tammelo). TAMMELO, Theorie der Gerechtigkeit, S. 105. TAMMELO, Theorie der Gerechtigkeit, S. 105. TAMMELO, Theorie der Gerechtigkeit, S. 107 (Hervorhebung Demko). TAMMELO, Theorie der Gerechtigkeit, S. 107. TAMMELO, Theorie der Gerechtigkeit, S. 107 (Hervorhebung Demko). TAMMELO, Theorie der Gerechtigkeit, S. 107 (Hervorhebung Demko).
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
dingungen ihrer Durchführung zu stellen und sich um eine an das Ideal von Kommunikationszusammenhängen annähernde Verbesserung des Realen zu bemühen haben: „… Wo die … unverzichtbare Besonnenheit im Schwinden ist, müssen die Argumentationsbeteiligten ihre Aufmerksamkeit darauf lenken; wenn ein Argumentationspartner seine Pflicht zur Wahrhaftigkeit vernachlässigt, muβ er zu ihrer Erfüllung aufgerufen werden; wenn die Redlichkeit und Lauterkeit verloren zu gehen droht, muβ diese Eigenschaft des Verfahrens durch angemessene Maβnahmen gerettet werden …“831
235
Das von den Diskurstheorien verdeutlichte Ideal von diskursiven Kommunikationszusammenhängen und das mit diesem ausgedrückte gegenseitige Anerkennen von Menschen als an einer diskursiven Kommunikation frei und gleichberechtigt teilnehmenden Personen ist von Bedeutung auch für den realen Kommunikationszusammenhang in Gestalt des Strafverfahrens und für die im Strafverfahren zu gewährleistenden Menschenrechte (u.a.) des Angeklagten. Die mit den idealen Diskursregeln sich ausdrückende Freiheit und Gleichheit der Diskursteilnehmer hinsichtlich ihrer Diskursteilnahme sowie die zu wahrende Herrschaftsfreiheit weisen sich dabei gerade auch in den Strafverfahrensgarantien und in den im Strafverfahren zu sichernden Menschenrechten aus, wie sie heute in Strafverfahrensrechts- und Menschenrechtsbestimmungen auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene Gestalt gewonnen haben:832
236
Zu denken ist etwa an das (Menschen-)Recht auf rechtliches Gehör und an die sich aus diesem herleitenden speziellen Verteidigungsrechte des Angeklagten (wie z.B. das Konfrontationsrecht gegenüber Belastungszeugen), welche auf das Diskursmoment der Freiheit der Diskursteilnahme durch das Zur-Sprache-Bringen-Können eigener und das In-Frage-Stellen-Können fremder Inhalte verweisen.833 Jene Diskursfreiheiten der Diskursteilnehmer sind dabei angelegt als solche in Gleichberechtigung, wie sie sich in der Garantie der Waffengleichheit wiederfindet.834 Einschränkungen dieser sich (etwa) in dem rechtlichen Gehör, speziellen Verteidigungsrechten und der Waffengleichheit ausweisenden Momente gleicher Diskursfreiheiten der Diskursteilnehmer können ihrerseits Gegenstand einer ebenfalls kommunika-
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TAMMELO, Theorie der Gerechtigkeit, S. 105 (Hervorhebung Tammelo). Siehe ähnlich auch THEILE, S. 328: „Und tatsächlich zeigt ein Blick auf die eine „ideale Sprechsituation“ konstituierenden prozeduralen Bedingungen, wie sich hinter ihnen verfassungsrechtlich abgesicherte Verfahrensgarantien verbergen ...“ (Hervorhebung Demko). Siehe zur Garantie rechtlichen Gehörs nach Art. 103 I dt. GG auch THEILE, S. 328; siehe auch Jahn, GA 2004, S. 282. Zur horizontalen Chancengleichheit als Ausdruck des allgemeinen, über Art. 3 I dt. GG garantierten Willkürverbots siehe THEILE, S. 328; JAHN, GA 2004, S. 282.
169
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
tiv sich vollziehenden Überprüfung und Infragestellung sein, wie sie durch Rechtsmittel und Rechtsbehelfe eingeräumt werden.835 238
Mit der engen Verknüpfung der dem Diskursteilnehmer (wie hier dem Angeklagten) einzuräumenden Freiheit und Gleichheit der Diskursteilnahme mit weiteren Verfahrensgarantien, wie der der Öffentlichkeit des Verfahrens oder der Unparteilichkeit des Richters, welche (auch) Ausdruck der zu sichernden Objektivität und Offenheit des Strafverfahrens sind,836 ist die dem Angeklagten zu gewährende «anerkannt gelebte Subjektivität» – wie schon zuvor bei Kant, Hegel, Rawls und Lumann nun – auch im Zusammenhang mit den Diskurstheorien sichtbar macht: Es geht bei den gleichen Diskursfreiheiten in deren Anwendung auf den Angeklagten im Strafverfahren um eine freie und gleichberechtigte Teilnahme des Angeklagten an dem bis zum endgültigen Entscheidungsergebnis Objektivität und Offenheit zu wahren habenden «Entscheidungsverfahren Strafverfahren».837 Angesprochen ist eine dem Angeklagten einzuräumende freie und gleichberechtigte Teilnahme am Strafverfahren, die sich – da sich das Strafverfahren mit seinen materiell und prozessual vor- und mitbestimmten Strukturen838 stets (auch) eingestellt in einen Kommunikations- und Interaktionszusammenhang vollzieht839 – zugleich und immer auch als eine dem Angeklagten zu gewährende kommunikativ-interaktive Freiheit und Gleichheit hinsichtlich seiner Teilnahme am Strafverfahren auszuprägen hat. Diese kommunikativ-interaktive Freiheit und Gleichheit der Teilnahme des Angeklagten, welche ihm für ein faires Strafverfahren einzuräumen sind, gewinnen dabei (wenn auch nicht ausschliesslich, sondern hier beispielhaft genannt und wegen des gewählten Untersuchungsgegenstandes der vorliegenden Abhandlung besonders hervorgehoben) insbesondere in Bezug auf das Recht des Angeklagten auf rechtliches Gehör sowie in Bezug auf das Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen mit ihrer sichtbaren kommunikativ-interaktiven Relevanz an besonderer Bedeutung.
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Siehe dazu auch THEILE, S. 328; JAHN, GA 2004, S. 282. Siehe zum Anspruch auf Objektivität des Strafverfahrens und auf Offenhalten des strafverfahrensrechtlichen Erkenntnisverfahrens bereits unter Kap. 2 B. II. Siehe ebenso das Ergebnis von Theile zu „gleichberechtigte(n) und effektive(n) Partizipationsmöglichkeiten“ (S. 329) sämtlicher Verfahrensbeteiligten innerhalb des Strafverfahrens THEILE, S. 329. Siehe auch THEILE, S. 326. Siehe etwa STRAUCH, S. 479: „Der Gerichtssaal ist ein Kommunikationsraum, aber ein Kommunikationsraum eigener Art. Kommuniziert werden Geschichten, Tatsachenund Rechtsbehauptungen, also Argumente, mit denen Rechtspositionen begründet oder zurückgewiesen werden sollen“ (Hervorhebung Demko).
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
cc)
Das nach Gerechtigkeit strebende und menschenrechtsschützende Strafverfahren in dessen Einordnung als Diskurs und in dessen Annäherungsanspruch auf Verwirklichung der idealen Diskursbedingungen
Das Strafverfahren stellt sich – und, aber auch nur insofern ist den Stimmen im Schrifttum zuzustimmen, die das Strafverfahren nicht als idealen Diskurs im Sinne der Diskurstheorien ansehen – nicht als ein idealer Diskurs dar, wie er etwa von Habermas mit seiner idealen Sprechsituation und von Alexy mit seinen differenziert ausformulierten idealen Diskursregeln Gestalt annimmt und wie er gerade in Bezug auf dessen Anwendung auf das Gerichts- und insbesondere Strafverfahren Gegenstand von Kritik und häufiger Ablehnung ist.840 Der Umstand, dass ein Strafverfahren – wie wohl auch überwiegend die anderen realen Kommunikationszusammenhänge – den Diskursregeln hinsichtlich ihrer idealen Erfüllung nicht nachzukommen vermag, mithin kein idealer Diskurs im Sinne der philosophischen «Höchst»form ist, ändert aber nichts daran, auch das Strafverfahren überhaupt der Kommunikationsform «Diskurs» zu öffnen und zuzuordnen.841 840
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Zur Skepsis und/oder Ablehnung der Einordnung des Strafverfahrens als eines (idealen) Diskurses im Sinne der Diskurstheorien siehe aus den zahlreichen Stimmen im Schrifttum etwa STRAUCH, S. 479 f.; ENGLÄNDER, S. 144 ff., zur Kritik an Alexys Sonderfallmodell insbesondere S. 144 ff. und an dem Angemessenheitsmodell von Habermas und Günther S. 147 ff.; SCHREIBER, S. 81, 84; GRASNICK, GA 2000, S. 157; skeptisch auch WEIGEND, ZStW 1992, S. 499 f.; HASSEMER, Grundlagen, S. 133 ff.; NEUMANN, Argumentationslehre, S. 84 f.; siehe auch HILGENDORF, GA 1993, S. 554; DUTTGE, ZStW 2003, S. 553, 569; GAEDE, S. 363, 364 FN 137, der bezüglich der auch prozeduralen Begründung der Gerechtigkeit zwar davon spricht, dass „ähnliche Begründungslinien diskurstheoretisch anknüpfungsfähig scheinen“ (S. 363), eine nähere Befassung mit den Diskurstheorien dann aber unterlässt, sich dabei auf den „stets erzwungenen und zwingenden Rechtsgang(s)“ (S. 363 FN 137, Hervorhebung Gaede) und das Verfehlen der „Grundannahmen und Voraussetzungen für die „Zustimmungsfähigkeit“ im Diskurs zumindest mit dem als Maβ genommenen idealen und zwangsfreien Rechtsanwendungsdiskurs gerade im Strafverfahren“ (S. 363 FN 137) stützend; RZEPKA, S. 307 ff.; siehe zum diskursiven, wenn auch nicht ideal diskursiven Charakter des Strafverfahrens differenzierend CHRISTENSEN/KUDLICH, S. 203 ff., 209 ff., 213 f., 218, 222, 228 f. Siehe dazu etwa THEILE, S. 326 ff. mit seiner zutreffenden Betonung, dass bei der Einordnung des Strafverfahrens als praktischen Diskurs die spezifischen Bedingungen der gerade strafprozessualen Kommunikation zu beachten sind; siehe zudem die Ausführungen vom SCHMÜCKER, Rechtsphilosophische Hefte 1993, S. 152 ff. zur Diskursethik als einer „Diskurstheorie des Rechts“ (S. 152) und zu der zu beachtenden „spezifischen Funktion“ (S. 155) von Anwendungsdiskursen; JAHN, GA 2004, S. 286 f.; TSCHENTSCHER, S. 218 f., 346 f.; GOTTWALD, ZZP 1985, S. 122 ff.; TSCHERWINKA, S. 46; siehe auch die differenzierenden Ausführungen von KRIELE, S. 30 ff., 62 ff.;
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Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht 240
Hierfür an der Definitionsebene (und nicht der Durchführungsebene842) ansetzend und an die (Zweck-)Bestimmung anknüpfend, die eine Kommunikationsgemeinschaft mit einem Kommunikationszusammenhang intentional verbindet – mithin an dem ansetzend, was als Anspruch an einen Kommunikationszusammenhang (diesen in dessen Gesamtheit betrachtend) angelegt wird, um diesen als einen sich von anderen Kommunikationszusammenhängen unterscheidenden Kommunikationszusammenhang in seiner spezifischen Eigenheit und Besonderheit zu erklären und festzulegen –, lassen sich (ohne dass an dieser Stelle eine vollständige Definition des inflationär und teils nicht einheitlich verwendeten Diskursbegriffs geleistet werden kann843) als definitorische Diskurselemente die Themengerichtetheit, der Richtigkeitsanspruch und der Argumentationsanspruch hervorheben.844 In diesem Sinne ist
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zum juristischen Diskurs als Sonderfall des allgemeinen praktischen Diskurses bei Alexy siehe im Einzelnen ALEXY, Theorie der juristischen Argumentation, S. 33 ff., 261 ff., 271: „Hiermit wird deutlich, daβ die Theorie des rationalen Diskurses als Theorie der juristischen Argumentation nicht voraussetzt, daβ alle juristischen Dispute als Diskurse im Sinne einer zwanglosen und unbegrenzten Kommunikation anzusehen sind, sondern nur, daβ in juristischen Disputen überhaupt unter dem Anspruch auf Richtigkeit und damit unter Bezugnahme auf ideale Bedingungen diskutiert wird.“ (S. 271, Hervorhebung Demko), zudem S. 428 ff., 434 f.; zur Einordnung des Strafverfahrens als Diskurs von Habermas, der das gerichtliche Verfahren zunächst als strategisches Handeln interpretierte und vom Diskursbegriff ausschloss (sog. Exklusionsthese), sich sodann Alexy anschloss und das gerichtliche Verfahren als Sonderfall des praktischen Diskurses ansah (sog. Sonderfallthese) und sich später von seiner übernommenen Sonderfallthese, diese relativierend, distanzierte, siehe näher HABERMAS/LUHMANN, S. 200 f.; HABERMAS, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. I, S. 62 f. FN 63 zur Übernahme von Alexys Sonderfallthese; zur anschliessenden Relativierung wiederum HABERMAS, Faktizität und Geltung, S. 288 ff.: „Das Verfahrensrecht regelt nicht die normativ-rechtliche Argumentation als solche, aber es sichert in zeitlicher, sozialer und sachlicher Hinsicht den institutionellen Rahmen für freigesetzte Kommunikationsabläufe, die der Logik von Anwendungsdiskursen gehorchen.“ (S. 288, Hervorhebung Habermas), „… daβ die Prozeβordnungen die auf den Tathergang konzentrierte Beweisaufnahme verhältnismäβig strikt regeln und dabei den Parteien einen begrenzt strategischen Umgang mit dem Recht einräumen, während sich der juristische Diskurs des Gerichts in einem verfahrensrechtlichen Vakuum abspielt …“ (S. 290 f., Hervorhebung Demko); dazu kritisch Stellung nehmend etwa THEILE, S. 325 f.; ENGLÄNDER, S. 146. Siehe zur Durchführungsebene, die von der – für die Zuordnung eines Kommunikationszusammenhangs zum Diskurs entscheidenden – Definitionsebene zu unterscheiden ist, die nachfolgenden Ausführungen. Zum inflationären Gebrauch des Diskursbegriffs siehe auch TSCHENTSCHER, S. 218; siehe auch SAUER, S. 65: „terminologisch zugespitzte Diskurs-Begriff“. Diese Diskurselemente sind sichtbar auch etwa bei TSCHENTSCHER, S. 218 f.; mit Bezug auf die Etymologie und das „Hin- und Herlaufen“ (S. 69), womit sich das Hin
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
ein Diskurs als eine themengerichtete, geregelte Kommunikation zu begreifen, die sich durch einen Richtigkeitsanspruch und einen Argumentationsanspruch auszeichnet, mithin gerade von dem Anspruch geprägt ist, das richtige Ergebnis durch den Weg der Argumentation zu erreichen. Ist es die Argumentation, der argumentative Charakter,845 die/der für das Erreichen des Richtigen für den Diskurs(begriff) massgebend ist, so sind mit jenem Argumentationsanspruch u.a. Gesichtspunkte wie Interaktion, «Hin und Her»-Bewegung zwischen These und Antithese, Freiheit und Gleichheit im Vorbringen eigener und Bestreiten anderer (Anti-)Thesen sowie Freiheit von einer ein freies gleiches Argumentieren einschränkenden Macht verbunden. Eine «Vollkommenheit» aller jener Momente zeichnet dabei einen idealen Diskurs aus,846 während sich ein Diskurs, der diese Momente nicht in höchster Vollkommenheit verwirklicht, als ein realer Diskurs bezeichnen lässt und der reale Diskurs nach Annäherung an jene Vollkommenheit unter Beachtung der diesen realen Diskurs spezifisch kennzeichnenden Bedingungen zu streben hat.847 Auch das von der Rechtsgemeinschaft mit dem Anspruch auf Gerechtigkeit verknüpfte Strafverfahren lässt sich in diesem Sinne als ein Diskurs verstehen,848 sich auszeichnend als eine (auch) durch das (Straf-, Strafverfahrens- und Menschen-)Recht geleitete, auf eine wahre und gerechte Entscheidung gerichtete Kommunikation, welche den Anspruch an sich erhebt und sich zu dessen Erfüllung gleichsam selbst verpflichtet, unter Berücksichtigung und Achtung aller für und gegen den Angeklagten sprechenden Argumente,849 mithin unter Einbezug alles Thesen- und Antithesenhaften argumentativ bestmöglich nach Wahrheit und Gerechtigkeit zu streben. Dieses argumentativ-bestmögliche Streben nach Wahrheit und Gerechtigkeit hat dabei – wie vorangehend aufgezeigt wurde850 – ein solches zu sein, das gewährt, der Wahrheit und materiellen Gerechtigkeit durch das Strafverfahren
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und Her zwischen den Für- und Gegenargumenten verbindet, siehe näher SAUER, S. 69; CHRISTENSEN/KUDLICH, S. 209 ff., 213 ff. Siehe zur Rolle von Argumenten im Verfahren im Einzelnen CHRISTENSEN/KUDLICH, S. 213 ff. Siehe zur Definition des idealen Diskurses von Tschentscher näher TSCHENTSCHER, S. 219. Siehe zur Definition des realen Diskurses von Tschentscher näher TSCHENTSCHER, S. 219: „bei dem unter Bedingungen, die so weit, wie es nach den Umständen angemessen ist, denen des idealen Diskurses angenähert sind“ (Hervorhebung Demko). Siehe zum Diskursiven des und im (Straf-)Verfahren(s) u.a. näher CHRISTENSEN/KUDLICH, S. 203, 205 f., 209 ff., 213 ff. Siehe auch CHRISTENSEN/KUDLICH, S. 213 ff.: „Es braucht also gar nicht erst nach dem argumentativen Charakter des diskursiven Handelns im Gerichtsverfahren gesucht zu werden. Es ist eine argumentative Praxis per Excellence.“ (S. 214). Siehe zu notwendigen Beachtung der materiellen und prozeduralen Gerechtigkeit für ein faires Strafverfahren bereits näher unter Kap. 2 A. und Kap. 3 A. III.
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Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
«so nah wie möglich» zu kommen, dies aber «nicht um jeden Preis», sondern stets und nur unter Beachtung der ebenso an das Strafverfahren angelegten prozeduralen Gerechtigkeitsanforderungen. 242
Kann das Strafverfahren mithin definitorisch dem «Diskurs» zugewiesen werden, ist jedoch zugleich zu erkennen, dass es sich nicht als ein idealer Diskurs im Sinne der philosophischen Diskurstheorien verwirklicht. Als ein realer Diskurs hat das Strafverfahren aber nach einer Annäherung an das Ideal zu streben, und zwar – was es besonders hervorzuheben gilt – nach einer Idealannäherung unter Beachtung der den jeweiligen Kommunikationszusammenhang prägenden und ihn bestimmenden spezifischen Kommunikationsstrukturen. Dies bedeutet für den «realen Diskurs Strafverfahren», dass sich das Strafverfahren um eine Idealannäherung unter Berücksichtigung und Einbezug der das Strafverfahren durch das Straf-, Strafverfahrensrecht und die menschenrechtlichen Bestimmungen vor- und mitbestimmenden Kommunikationsstrukturen zu bemühen hat.851 Dass die ideale Sprechsituation im Strafverfahren „in ihrer Reinform“852 tatsächlich nicht erreichbar ist, betont auch Jahn, jedoch ebenso hervorhebend, dass diese aber „stets präsent (ist) als Bezugspunkt für die Beurteilung des Wahrheitsanspruchs realer Kommunikation“:853
243
„… Die Diskurstheorie tritt also selbst überhaupt nicht mit dem Anspruch auf, dass der Strafprozess eine ideale Kommunikationsgemeinschaft darstellen könne oder auch nur müsse …“854
244
Mit dem Streben nach Annäherung an den idealen Diskurs ist (dies sei zur Vermeidung etwaiger Missverständnisse betont) nicht gemeint die Umwandlung des Strafverfahrens in das «philosophische Ideal» als eine – in den Wor851
852 853 854
174
Die Beachtung der spezifischen Bedingungen strafprozessualer Kommunikation betont auch THEILE, S. 326 f.; TSCHENTSCHER, S. 346 f.: „Regeln über die Tatsachenermittlung nähern das Verfahren so weit, wie nach den Umständen angemessen, dem Diskursideal der vollkommenen empirischen Informiertheit an“ (S. 346 f., Hervorhebung Demko), siehe dazu auch S. 218 f. Ähnlich zur Annäherung auch GOTTWALD, ZZP 1985, S. 122 ff.: „… muβ sich die Rationalität der Entscheidung nach Verfahrensregeln bestimmen, die sich ihrerseits als Ausformung des Prinzips der Verallgemeinerungsfähigkeit verstehen lassen und darauf abzielen, ein Höchstmaβ an Klarheit, Vollständigkeit, Vorurteilslosigkeit und Bereitschaft, sich in die streitigen Fragen einzudenken, zu sichern …“ (S. 122, Hervorhebung Demko). Zudem heisst es weiter: Wenn auch evident sei, dass die Beachtung der Verfahrensregeln „keine richtigen Ergebnisse garantiert …“, so „… (D)ennoch: »ein praktisches Optimum an Wahrheitsnähe« wird in der Regel eher bei Einhaltung von Diskursregeln als bei »einsamen« Entscheidungen erreicht …“ (S. 123, Hervorhebung Demko). JAHN, GA 2004, S. 282. JAHN, GA 2004, S. 282 (Hervorhebung Demko). JAHN, GA 2004, S. 282 (Hervorhebung Demko).
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
ten von Schreiber – zwar „faszinierende, … aber abwegige Utopie“855 bzw. – wie es bei Grasnick zu lesen ist – in ein „von Diskursenthusiasten bestimmter Provenienz propagierte(s) Palaver aller, die nur mitmachen wollen …“.856 Eine solche Umwandlung bzw. besser «Ersetzung» des Strafverfahrens in bzw. durch das «philosophische Ideal» geht an der auch durch das Straf- und Strafverfahrensrecht vorstrukturierten Realität des «Kommunikationszusammenhangs Strafverfahren» vorbei, welcher nicht im Sinne der philosophischen «Höchst»form von vollständiger Herrschaftsfreiheit, Teilnahmefreiheit und -gleichheit geprägt ist.857 Dies heisst jedoch nicht und darf nicht heissen, dem «philosophischen Ideal» als einem, und zwar auch für das Strafverfahren „faszinierende(n)“858 Denkmodell jegliche Bedeutung abzusprechen und die Leit- sowie Rechtfertigungswirkung zu übersehen,859 die von jenem philosophischen «Denk»ideal auch für das Strafverfahren ausgeht, natürlich – und dies sei nochmals betont – unter Berücksichtigung und Rechnungtragung der spezifischen Kommunikationsstrukturen des Strafverfahrens:860 Eine Leit855 856 857
858 859
860
SCHREIBER, ZStW 1976, S. 146. GRASNICK, GA 2000, S. 157 mit weiteren Ausführungen. Siehe dazu auch STRAUCH, S. 479 f.; SCHREIBER, S. 79 ff. in Auseinandersetzung mit Rottleuthner; in Auseinandersetzung mit Habermas und Alexy siehe THEILE, S. 324 ff.; die Hinweise auf die asymmetrischen Rollenverteilungen im Strafverfahren werden auch von Alexy gesehen, jedoch wird von ihm betont, dass jene Hinweise zwar richtig seien, aber „nicht den entscheidenden Punkt“ (S. 434) treffen, siehe dazu näher ALEXY, Theorie der juristischen Argumentation, S. 434 f.; siehe in diesem Zusammenhang auch THEILE, S. 326 f. zum Alexy kritisch entgegengehaltenen Vorliegen von strategischem und nicht kommunikativem Handeln als „allenfalls vordergründig plausibel“ (S. 326) erscheinend. SCHREIBER, ZStW 1976, S. 146. Siehe zur Leit- und Rechtfertigungswirkung bereits die vorangehenden Ausführungen; siehe ähnlich auch die Ausführungen von HASSEMER, Grundlagen, S. 133 zur Theorie des idealen Diskurses, die – womit die Leitfunktion angesprochen ist – das „Bild einer idealen Situation …“ entwirft und dieses so farbig ausmale, dass die „… Stationen des Weges einsichtig und diskutierbar werden, der in die Richtung eines herrschaftsfreien Diskurses führt …“ (S. 133, Hervorhebung Hassemer). Die Rechtfertigungswirkung ansprechend heisst es weiter, dass „… die Typen und Grade der Verzerrung sichtbar werden, die unsere realen Kommunikationsformen jeweils von den Linien des idealen Bildes unterscheiden …“ (S. 133, Hervorhebung Hassemer), mit nachfolgender Anführung von Stichworten für eine „Kritik und Reform im politischen und rechtspolitischen System“ (S. 133, Hervorhebung Hassemer); siehe dazu auch KRIELE, S. 31, 33 f. Zur möglichen Einordnung des Strafverfahrens als praktischen Diskurs unter Beachtung der spezifischen Bedingungen der strafprozessualen Kommunikation siehe zutreffend herausgestellt bei THEILE, S. 326 f.; siehe auch HASSEMER, Grundlagen, S. 133 zu den „Vorstellungen diesseitiger Wirklichkeitsveränderung“ (Hervorhebung Hassemer).
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und Rechtfertigungswirkung nicht in dem Sinne, dass das Strafverfahren nun schlicht «eins zu eins» ersetzt werden soll durch das philosophische Denkideal, sondern vielmehr in dem Sinne, dass diejenigen Grundaussagen und Aspekte aus dem philosophischen Denkideal zu erkennen und anzuerkennen sind, die sich auch unter real eingeschränkten Handlungs- und Kommunikationsbedingungen und unter Beachtung real (auch vom Recht) vorgegebener spezifischer Kommunikationsstrukturen des Strafverfahrens verwirklichen lassen und heute auch – betrachtet man die von Fairness und Menschenrechtsschutz geprägten Strafverfahren – verwirklicht werden.861 Auch wenn dem Strafverfahren, wie es Hassemer mit seinem „institutionellen Diskurs des Strafverfahrens“862 zutreffend formuliert, die „Idealität in der radikalen Abstraktion (fehlt), wie sie die Theorie des herrschaftsfreien Diskurses auszeichnet …“, so fehlt ihm „... aber nicht Idealität, Anforderung, Zukunft schlechthin“,863 sich um eine Verbesserung seiner strafprozessualen Kommunikationsstrukturen unter (Mit-)Beachtung864 der ihm eigenen spezifischen Bedingungen zu bemühen. 245
„… Auch die institutionelle Sprechsituation kann idealiter gedacht werden, auch in Bezug auf sie gibt es Fortschritt und Rückschritt. Das Beispiel des Inquisitionsprozesses und seine Kritik unter dem Blickwinkel der Kommunikation belegen das …“865
246
Gemeint und gefordert sind mithin zum einen anzustrebende Annäherungen des realen Diskurses «Strafverfahren» an ideale Diskursmomente, wie u.a. an die Herrschaftsfreiheit, Teilnahmefreiheit und Teilnahmegleichheit, wie sie sich unter Beachtung und Rechnungtragung der (auch) durch das Strafrecht, Strafverfahrensrecht und durch die menschenrechtlichen Bestimmungen vorgegebenen und das Strafverfahren spezifisch prägenden Kommunikationsstrukturen verwirklichen lassen.866 Gemeint sind – damit verbunden und gleichsam umgekehrt– zum anderen die Vermeidung und Beseitigung von solchen Einschränkungen und Abweichungen vom philosophischen Denkideal, die sich nicht durch die vorgegebenen (Kommunikations-)Strukturen und Spezifika des Strafverfahrens als erforderlich erweisen, sondern sich als 861
862 863 864 865 866
176
Zu dem „Fortschritt und Rückschritt“ (S. 135, Hervorhebung Hassemer) der auch idealiter gedacht werden könnenden institutionellen Sprechsituation des Strafverfahrens siehe HASSEMER, Grundlagen, S. 135. HASSEMER, Grundlagen, S. 134 f. HASSEMER, Grundlagen, S. 135 (Hervorhebung Hassemer). Siehe dazu auch etwa HASSEMER, Grundlagen, S. 135. HASSEMER, Grundlagen, S. 135 (Hervorhebung Hassemer). Siehe dies betonend auch THEILE, S. 326 f.; ähnlich auch HASSEMER, Grundlagen, S. 135: „… der das Bestehen und die Funktionsbedingungen von Institutionen mitbeachtet …“ (Hervorhebung Hassemer); JAHN, GA 2004, S. 284, wo es bezüglich des Geltungsanspruchs der Wahrhaftigkeit heisst, dass dieser „allerdings in Relation zu der jeweiligen Rolle des Akteurs gesetzt werden“ müsse.
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
sachlich unbegründete, als „vermeidbare“867 Verzerrungen der Kommunikationsstrukturen und als Ausdruck einseitiger und/oder missbräuchlicher Machtverteilungen «entlarven» lassen.868 Eben solche Annäherungen an das philosophische Denkideal unter Beachtung und Einbezug869 der (auch) durch das Recht vorgegebenen spezifischen Strukturen des Strafverfahrens sind sichtbar und weisen sich aus gerade auch in den verfassungsrechtlich und in Menschenrechtsinstrumenten abgesicherten Verfahrensgarantien und Menschenrechten,870 welche es – vorgegeben durch das Recht, wie etwa durch die Menschenrechtskonventionen und die Strafverfahrensordnungen – in fairen Strafverfahren zu verwirklichen gilt.871 Hinsichtlich des Einordnungsverhältnisses des Strafverfahrens zwischen «Diskurs» und «strategischem Handeln» gilt es unter Beachtung der Unterscheidung von Definitions- und Durchführungsebene Folgendes zu berücksichtigen:
247
Richtig ist, dass auch die heutigen (in den verschiedenen Rechtskulturen existierenden, etwa kontinentaleuropäischen, angloamerikanischen sowie gemischten) Strafverfahren die idealen Diskursbedingungen, wie sie in der Philosophie ausformuliert sind, nicht in dieser philosophischen «Höchst»form erfüllen und vielleicht auch nicht erfüllen können.872 Anführen lassen
248
867 868
869
870 871
872
SCHREIBER, S. 81. Siehe dazu auch die Ausführungen von HASSEMER, Grundlagen, S. 132 ff.: „Die ideale Sprechsituation, der herrschaftsfreie Diskurs, der so hergestellte Konsens, dies sind (transzendentale) Bedingungen der Möglichkeit, Wahrheit zu begreifen … es sind nicht (immanente) Erfahrungen, die wir in unserer Wirklichkeit machen können ...“ (S. 133, Hervorhebung Hassemer) und mit dem zutreffenden Hinweis, dass die Theorie dennoch „nicht jenseitig“ (S. 133, Hervorhebung Hassemer) sei, sondern „diesseitige Interessen (hat), und sie hat Vorstellungen diesseitiger Wirklichkeitsveränderung …“ (S. 133, Hervorhebung Hassemer). Siehe auch die Betonung von THEILE, S. 326 f., nach der mit Blick auf die ideale Sprechsituation im Strafverfahren stets zu beachten sei, dass „den spezifischen Bedingungen Rechnung zu tragen (ist), unter denen gerade strafprozessuale Kommunikation stattfindet“ (S. 327, Hervorhebung Demko), siehe auch: „Im Hinblick auf diese „Richtigkeit“ …“ (S. 326, Hervorhebung Demko), „formellen Programme des materiellen und prozessualen Strafrechts“ (S. 326), „Die Wahrhaftigkeit … muss deshalb in einen Bezug zu den prozessualen und systemischen Interessen der Verfahrensbeteiligten gesetzt werden …“ (S. 327, Hervorhebung Demko). Siehe dazu ähnlich auch THEILE, S. 328. Den Zusammenhang zwischen der idealen Sprechsituation im Strafverfahren und dem Begriff der Fairness verdeutlichend siehe THEILE, S. 329. Deutlich auch HASSEMER, Grundlagen, S. 135, der bezüglich des institutionellen Diskurses des Strafverfahrens ausführt: „Solange es Institutionen gibt, ist er eine berechtigte Form der Auseinandersetzung in und mit diesen Institutionen, denn seine Rahmenbedingungen sind mit der Existenz der Institution „Strafrecht“ und „Strafver-
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sich dafür verschiedene Gesichtspunkte: Die durch das Straf- und Strafverfahrensrecht die strafprozessuale Kommunikation vor- und mitstrukturierenden „Rahmenbedingungen“873 (zum Ersten) sowie die sich in den kontinentaleuropäischen, angloamerikanischen und gemischten Strafverfahren jeweils anders gestaltende Asymmetrie in der Rollenverteilung zwischen Gericht, Ankläger und Angeklagtem mit damit verbundenen Unterschieden bezüglich «Macht» bzw. Einfluss auf das Strafverfahren (zum Zweiten) und nicht zuletzt (zum Dritten) die unterschiedlichen, häufig, wenn nicht gar regelmässig die eigenen Vorteile in den Vordergrund rückenden, als «strategisch» bezeichneten prozessualen Interessen der einzelnenVerfahrensbeteiligten machen deutlich,874 dass es sich bei Strafverfahren nicht um eine Verwirklichung des philosophischen Denkideals mit vollkommener Herrschaftsfreiheit, Teilnahmefreiheit und Teilnahmegleichheit handelt.875 249
Gerade der Hinweis auf die von eigenen Interessen geleiteten strategischen Handlungen der einzelnen Verfahrensbeteiligten, wonach insbesondere das Handeln vieler der Angeklagten (und deren Verteidiger) um des eigenen
873
874
875
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fahren“ zugleich gesetzt; eine Herstellung des herrschaftsfreien Diskurses wäre die Abschaffung des Verfahrens und damit der Möglichkeit, das Recht rechtsförmig durchzusetzen“ (Hervorhebung Hassemer). HASSEMER, Grundlagen, S. 134, Hervorhebung Hassemer. Zu denken ist, wie es u.a. Hassemer (HASSEMER, Grundlagen, S. 134) anführt, etwa an die Vorgabe des Gegenstandes des Strafverfahrens in Gestalt der angeklagten Straftat, die Vorgaben zum Stattfinden des Strafverfahrens überhaupt, zu dessen Beginn, Ablauf und Beendigung (auch unter zeitlichen Gesichtspunkten mit Blick auf das Beschleunigungsgebot), die Vorgaben zu der Reihenfolge und/oder dem Inhalt des Sprechen- und Fragendürfens der Verfahrensbeteiligten, an die Vorgaben zu den Folgen des Strafverfahrens sowie auch an die für das Stattfinden des Strafverfahrens und/oder für die Teilnahme am Strafverfahren vorhandenen Zwangsmöglichkeiten. Zu Spezifika des Strafverfahrens, die angeführt werden, um aufzeigen, dass es sich bei diesem um keine ungezwungene Sprechgemeinschaft handelt, siehe bereits die Angaben in den vorangehenden Fussnoten; auf Rottleuthner Bezug nehmend näher SCHREIBER, S. 80; im Einzelnen auch ENGLÄNDER, S. 144 ff.; die asymmetrische Rollenverteilung im Strafverfahren, der Zeitdruck, die Beschränkungen durch das Prozessrecht und die häufig an einem für sich vorteilhaften Ergebnis ausgerichtete Motivation des Angeklagten werden auch von Alexy gesehen, jedoch betont er, dass jene Hinweise zwar richtig seien, aber „nicht den entscheidenden Punkt“ (S. 434) treffen, siehe näher ALEXY, Theorie der juristischen Argumentation, S. 434 f.; siehe auch HABERMAS/LUHMANN, S. 200 f. zum „strategischen Spiel“ (S. 200) der Parteien; LIEBER, S. 247 f.; HASSEMER, Grundlagen, S. 132, 134; WEIGEND, ZStW 1992, S. 500: „Machtgefälle“. Gegen die Einordnung des Strafverfahrens als idealen Diskurs u.a. aufgrund der nicht gegebenen Verwirklichung der idealen Diskursbedingungen der Diskurstheorien siehe die näheren Angaben in den vorangehenden Fussnoten; siehe zudem HASSEMER, Grundlagen, S. 132 ff.; SCHREIBER, S. 81, 84.
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«Schutzes» willen eher von strategischen Interessen und weniger davon bestimmt ist, die ganze, ihnen eben auch zum Nachteil gereichen könnende Wahrheit ans Licht kommen zu lassen,876 wird vielfach als Argument gegen die Einordnung des Strafverfahrens als Diskurs angebracht. Die Durchführungsebene hierbei mit der Definitionsebene vermischend, setzen die Stimmen, die das Strafverfahren wegen der strategisch motivierten Handlungen der Verfahrensbeteiligten nicht als Diskurs betrachten, dabei aber (fälschlicherweise) an der Durchführungsebene und nicht an der (vor der Durchführungsebene liegenden) Definitionsebene selbst an, an welche jedoch für das Diskursverständnis und für die Zuordnung eines Kommunikationszusammenhangs zum Diskurs richtigerweise anzuknüpfen ist. Denn: Auf der Definitionsebene bestimmt sich, was ein Diskurs ist, d.h. ihn definiert. Erfüllt sodann ein Kommunikationszusammenhang die auf dieser Definitionsebene vorgegebenen Definitionsmerkmale, ist dieser als Diskurs einzuordnen. Dargestellt worden ist, dass für die Definitionsebene an die (Zweck-)Bestimmung, die eine Kommunikationsgemeinschaft mit einem Kommunikationszusammenhang intentional verbindet, anzusetzen ist, mithin an dem Anspruch, den eine Kommunikationsgemeinschaft an einen Kommunikationszusammenhang – diesen in seiner Gesamtheit betrachtend – von vornherein anlegt. Ein Strafverfahren, mit dem die Rechtsgemeinschaft den Anspruch auf sowohl Wahrheit und materielle Gerechtigkeit als auch prozedurale Gerechtigkeit verbindet und dafür entsprechend normative Vorgaben durch das Recht – etwa in straf-, strafverfahrensrechtlichen und menschenrechtlichen Bestimmungen – setzt, ist mit diesem von der Rechtsgemeinschaft an ein Strafverfahren von vornherein angelegten Anspruch auf Gerechtigkeit ein solcher Kommunikationszusammenhang, der sich in Bezug auf eben diese seine Intentionen von anderen Kommunikationszusammenhängen, wie z.B. von Wettspielen, Glücksspielen oder auch (Tarif-)Verhandlungen877 unterscheidet.878 Denn bei Wettspielen, Glücksspielen oder reinen Verhandlungen ist die Strategie selbst von vornherein (ausdrücklich oder konkludent mitvereinbarte bzw. für jene Kommunikationszusammenhänge von vornherein vorausgesetzte) Spielbedingung, gehört mithin gleichsam selbst bereits zum Spiel und zeichnet bzw. definiert Wett- und Glücksspiele sowie Verhandlungen von Anfang an als offen strategisch intendierte Kommunikationen. Für die Definition des «Kommunikationszusammenhangs Strafverfahren» wählt – 876
877
878
Siehe dazu etwa NEUMANN, Argumentationslehre, S. 84 f.; siehe dazu auch die Angaben in den vorangehenden Fussnoten. Siehe zu dem Beispiel der Tarifverhandlungen ALEXY, Theorie der juristischen Argumentation, S. 434 f.; siehe zudem NEUMANN, Argumentationslehre, S. 84 f. Siehe auch näher TSCHENTSCHER, S. 126 ff. zur Unterscheidung zwischen Gerichtsverfahren, die der unvollkommenen prozeduralen Gerechtigkeit zugeordnet werden, und Glückspielen, die der reinen prozeduralen Gerechtigkeit zugeordnet werden.
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Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
was gerade die Entwicklung hin zu den heutigen, der Fairness und dem Menschenrechtsschutz verpflichteten Strafverfahren zeigt – die Rechtsgemeinschaft hingegen einen davon verschiedenen Ausgangspunkt, indem das Strafverfahren (als Gesamtheit betrachtet) von vornherein in einen der materiellen und prozeduralen Gerechtigkeit verpflichteten (Gerechtigkeits-)Anspruch eingestellt ist, welcher durch das Recht im Einzelnen konkretisiert und ausformuliert wird. Dieses dem Streben nach Gerechtigkeit verpflichtete Anliegen ist dasjenige, was dem «Kommunikationszusammenhang Strafverfahren» seine massgebende, ihn durchdringende Grundfarbe verleiht. Der an den «Kommunikationszusammenhang Strafverfahren» von Anfang an angelegte Gerechtigkeits-Anspruch erweist sich als die alles entscheidende „Spielbedingung“,879 für die sich die Rechtsgemeinschaft für die Definition des «Kommunikationszusammenhangs Strafverfahren» entschieden hat und das Recht fungiert in diesem Zusammenhang als normatives Schutz- und Gegeninstrument: Als normatives Schutzinstrument zur Sicherung der (materiellen und prozeduralen) Gerechtigkeit und als normatives Gegeninstrument gegen eine missbräuchliche Ersetzung des gerechtigkeitsverpflichteten Strafverfahrens durch ein reines Macht- und Strategiespiel, dem es allein darum geht, dass der «Stärkere» den «Schwächeren» besiegt. 251
Die zu beachtende Unterscheidung zwischen der Definitions- und Durchführungsebene bedeutet: Dass auf der Durchführungsebene die einzelnen Verfahrensbeteiligten, wie etwa die anklagende und angeklagte Verfahrensseite, jeweils ihre, einmal eher die belastenden oder das andere Mal eher die entlastenden Momente hervorhebenden prozessualen Interessen zu vertreten und hierbei insofern «strategisch» zu handeln versuchen, ändert – da dies eine von der sich auf die Gesamtheit des «Kommunikationszusammenhangs Strafverfahren» beziehende Definitionsebene zu unterscheidende Ebene, nämlich die sich an die Definitionsebene erst anschliessende Durchführungsebene betrifft – nichts an der definitorischen Einordnung des mit dem Anspruch auf Gerechtigkeit verknüpften Strafverfahrens als Diskurs: Ein Diskurs als eine regelgeleitete themengerichtete Kommunikation mit Richtigkeits- und Argumentationsanspruch,880 die sich in Gestalt des Strafverfahrens als eine auch durch das (Straf-, Strafverfahrens- und Menschen-)Recht geleitete, auf eine wahre und gerechte Entscheidung gerichtete Kommunikation konkretisiert, welche den Anspruch erhebt, nach Erreichung von Wahrheit und (materieller und prozeduraler) Gerechtigkeit argumentativ-bestmöglich zu streben. 879
880
180
ALEXY, Theorie der juristischen Argumentation, S. 435 (Hervorhebung Alexy): Alexy verwendet den Begriff der Spielbedingung dabei in etwas anderer Betonung als vorliegend in Bezug auf den von den Beteiligten erhobenen Anspruch auf vernünftige Argumentation bzw. den „Anspruch auf Richtigkeit“ (S. 434), siehe dazu näher auf S. 434 f. Siehe dazu bereits die vorangehenden Ausführungen.
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
Das von den Gegnern der Einordnung des Strafverfahrens als Diskurs angeführte strategisch motivierte Handeln der anklagenden und angeklagten Seite erweist sich – neben dem Gesichtspunkt, dass dieses Strategieargument die Durchführungs- und nicht die Definitionsebene für die Begriffsdefinition «Diskurs» betrifft881 – zudem auch deshalb als nur „vordergründig plausibel“,882 weil mit jenem Hinweis auf die «Strategien» der sich gegenüberstehenden anklagenden und angeklagten Seite, welche entsprechend dem im Streit stehenden «Ja» oder «Nein» der Berechtigung des dem Angeklagten gemachten strafrechtlichen Vorwurfs jeweils das Belastende oder Entlastende in den Vordergrund rücken, allein das angesprochen wird, was ein Strafverfahren als ein dialektisches Erkenntnisverfahren gerade kennzeichnet und ausmacht: nämlich das Voranschreiten des Strafverfahrens hin zu einem wahren und gerechten Urteil in Thesen und Antithesen.883 Zutreffend wird, wenn auch mit teils anderen Betonungen, auf diesen Gesichtspunkt ebenso von Theile, Jahn, Gottwald sowie Alexy884 hingewiesen. Die „im Hintergrund unthematisch ablaufende Sprechaktanalyse durch die Beteiligten …“ sei – so Jahn – „... geradezu Voraussetzung für das Gelingen der Kommunikation im Strafprozess“885 und – was Theile und Jahn betonen – allen Verfahrensbeteiligten sei der Einfluss der ihnen „zugewiesenen Rollen auf die Kommunikationsbeiträge“886 bewusst. Bezüglich des durch die anklagende und angeklagte Seite sich umsetzenden Thesen- und Antithesenhaften heisst es auch bei Gottwald:
252
„... Die Teilnehmer eines Streitgesprächs haben verständlicherweise gegenläufige Interessen. Sie zu verfolgen ist schlieβlich Anlaβ der Auseinandersetzung. Gleichwohl erfordert ein Gespräch die Einhaltung von Dialogregeln und insoweit ein gewisses »Miteinander« je nach der konkreten Gestaltung der Verfahrensregeln …“887
253
881
882 883
884
885 886
887
Zur Definitionsebene mit deren Ansetzen an die (Zweck-)Bestimmung und den Anspruch, den die Kommunikationsgemeinschaft mit einem Kommunikationszusammenhang (in dessen Gesamtheit betrachtet) verbindet, siehe bereits die zuvor gemachten Ausführungen. THEILE, S. 326. Siehe zum dialektischen Charakter des Strafverfahrens mit dem Erfordernis der Beachtung von These(n) und Antithese(n) bereits unter Kap. 2 B. II. 4., 5. Siehe ALEXY, Theorie der juristischen Argumentation, S. 434 f. mit seinem Verweis auf den Anspruch auf vernünftige Argumentation bzw. auf Richtigkeit als „nicht nur eine Erfolgs-, sondern auch eine Spielbedingung“ (S. 435, Hervorhebung Alexy) in Gerichtsverfahren. JAHN, GA 2004, S. 284 (Hervorhebung Demko). JAHN, GA 2004, S. 284; THEILE, S. 326 f.: „… sämtlichen Verfahrensbeteiligten bewusst, so dass die jeweiligen kommunikativen Selektionen von vornherein im Lichte dieser Erkenntnis interpretiert werden …“ GOTTWALD, ZZP 1985, S. 124 (Hervorhebung Demko).
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Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht 254
Wenn sich ein Strafverfahren – einerseits – auch nicht als ein idealer Diskurs verwirklicht und es auch vom Recht selbst gesetzte „Rahmenbedingungen“888 sind, die ein Strafverfahren von einem idealen Diskurs im Sinne der philosophischen Höchstform unterscheiden lassen, so zeigen aber – andererseits – ebenso vom Recht gemachte Vorgaben bzw. genauer zeigen die heutigen, sich der Fairness und dem Menschenrechtsschutz im Strafverfahren verpflichtenden Vorgaben durch das Recht zugleich, dass es sich bei einem Strafverfahren dennoch nicht um ein pures Strategie- und reines Machtspiel handelt und handeln darf, welches einseitig nur von bestimmten Verfahrensbeteiligten dominiert wird, während die anderen Verfahrensbeteiligten als blosse Objekte angesehen und abgewertet werden.889 Werden durch Recht auf der einen Seite Bedingungen für die strafprozessuale Kommunikation vorstrukturiert, die einer Verwirklichung des philosophischen Diskursideals im Strafverfahren entgegenstehen, so werden durch Recht auf der anderen Seite zugleich solche Vorgaben an die Durchführung und Gestaltung eines Strafverfahrens gestellt, die einer Ersetzung des Strafverfahrens durch ein reines „Kampfspiel“890 gerade Einhalt gebieten und bezüglich derer sich Recht als normatives Gegengewicht gegen einen Austausch des Strafverfahrens durch ein reines strategisches Machtspiel ausweist:891 Weder einen idealen Diskurs im Sinne der philosophischen Rein- bzw. Höchstform noch ein pures Strategiespiel darstellend, geht es bei dem sich der Fairness und dem Menschenrechtsschutz verpflichtenden Strafverfahren um die Suche nach einem solchen im Rahmen des Rechts – im Sinne von der rechtlichen Vorgaben – idealiter sich verwirklichen könnenden Strafverfahren,892 das sowohl dem Streben nach Wahrheit und materieller Gerechtigkeit sowie dem Menschenrechts888 889
890 891 892
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HASSEMER, Grundlagen, S. 134, Hervorhebung Hassemer. Selbst von Stimmen im Schrifttum, die sich gegen die Einordnung des Strafverfahrens als Diskurs aussprechen, wird das Erfordernis der Teilnahme des Angeklagten als eines Subjekts am Strafverfahren hervorgehoben, siehe etwa die entsprechende Betonung von SCHREIBER, S. 81, 84 f.; auch HASSEMER, Grundlagen, S. 134 f. betont bezüglich seiner Unterscheidung zwischen herrschaftsfreiem und „institutionelle(m) Diskurs des Strafverfahrens“ (S. 134 f.), dass es falsch sei anzunehmen, der „institutionelle sei ein defizienter Modus, eine Verzerrung des herrschaftsfreien Diskurses …“ (S. 135, Hervorhebung Hassemer) und weiter heisst es, dass der institutionelle Diskurs des Strafverfahrens zwar kein herrschaftsfreier idealer Diskurs sei, aber auch „nicht das schlechthin andere, der Gegenpol. Es ist vielmehr ein Modus der Sprechund Handlungssituation, der das Bestehen und die Funktionsbedingungen von Institutionen mitbeachtet …“ (S. 135, Hervorhebung Hassemer). GOTTWALD, ZZP 1985, 113, 122. Siehe dazu auch GOTTWALD, ZZP 1985, S. 122 ff. Siehe auch Theile zum Erfordernis, den spezifischen Bedingungen Rechnung zu tragen, unter welchen der praktische Diskurs im Kontext des Strafverfahrens stattfindet, THEILE, S. 326 f.
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
schutz «durch» Strafverfahren als auch der prozeduralen Gerechtigkeit und dem Menschenrechtsschutz «im» Strafverfahren bestmöglich nachzukommen strebt und zu streben hat. Wenn Recht (mit seinen einmal mehr, das andere Mal weniger ausdrücklich geregelten Handlungs- und Kommunikationsvorgaben) einerseits Bedingungen vorstrukturiert, die das Strafverfahren von einem idealen Diskurs im Sinne der philosophischen Höchstform unterscheiden lässt, so erheben sich mit rechtlichen und hier vor allem menschenrechtlichen Normvorgaben für ein faires Strafverfahren andererseits zugleich solche Ansprüche an das Strafverfahren und die Art und Weise, wie die Verfahrensbeteiligten miteinander zu kommunizieren und zu interagieren haben, die sich als Kerngedanken eben auch in den idealen Diskursbedingungen der Diskurstheorien wiederfinden, was das Annäherungsbestreben eines als fair zu bewertenden Strafverfahrens an die idealen Diskursbedingungen sichtbar macht.893 Gewährt ein Strafverfahren zwar keine absolute Herrschaftsfreiheit, Teilnahmefreiheit und Teilnahmegleichheit im Sinne der philosophischen Höchstform, so sind es doch jene mit der Herrschaftsfreiheit, Teilnahmefreiheit und -gleichheit angesprochenen Grundgedanken eines idealen Diskurses, die sich gerade auch894 als Vorgaben für ein faires und menschenrechtsschützendes Strafverfahren in den menschenrechtlichen Bestimmungen wiederfinden:895 Mit der Fairness des Strafverfahrens sind in Menschenrechtsinstrumenten, wie etwa der Europäischen Menschenrechtskonvention, u.a. der Anspruch auf rechtliches Gehör, die Waffengleichheit, spezielle Verteidigungsrechte des Angeklagten sowie die Grundsätze der Öffentlichkeit und der Unparteilichkeit des Gerichts verknüpft. Zudem sind die dem Angeklagten vom Recht eingeräumten Menschenrechte im Strafverfahren als grundsätzlich uneingeschränkt zu gewährende Menschenrechte angelegt.896 Mit diesen dem Angeklagten – zudem 893
894 895
896
Siehe in diesem Sinne auch THEILE, S. 328; siehe ähnlich GOTTWALD, ZZP 1984, S. 122 ff: „Die Prozeβordnung schafft … die Grundbedingungen für einen sachgerechten Dialog, der der Annäherung an die Wahrheit und der Konsensbildung dienen kann.“ (S. 125, Hervorhebung Demko). Siehe treffend formuliert THEILE, S. 328: „Und tatsächlich zeigt …“ Zum Zusammenhang zwischen idealer Sprechsituation im Kontext des Strafverfahrens und dem Begriff der Fairness siehe näher THEILE, S. 329. Zur grundsätzlich uneingeschränkten Gewährleistung der Menschenrechte des Angeklagten und deren Einschränkbarkeit und Einschränkungsvoraussetzungen in der EMRK und nach der Rechtsprechung des EGMR siehe näher im Zusammenhang mit dem Konfrontationsrecht des Angeklagten unter Kap. 5; siehe zu Stichworten für eine „Kritik und Reform im politischen und rechtspolitischen System“ (S. 133, Hervorhebung Hassemer) auch HASSEMER, Grundlagen, S. 133, der u.a. Chancengleichheit, Partizipation aller, Herrschaftsabbau, Umstellung rechtlicher Verfahren auf diskursive Kommunikationsformen und die Stärkung der kommunikativen Kompetenz der Betroffenen im Verfahren anführt, siehe näher S. 133.
183
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Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
grundsätzlich uneingeschränkt – zu gewährleistenden Menschenrechten im Strafverfahren zeichnet bzw. gibt die EMRK mit ihrer Forderung nach Gewährleistung eines fairen Strafverfahrens das normative Bild oder zumindest bestimmte normative Bildfragmente für ein idealiter auch im Realen, unter Beachtung der realen Strukturspezifika des Strafverfahrens zu verwirklichendes und eben auch verwirklichungsfähiges Strafverfahren vor.897 Nach diesem vom Recht normativ vorgebenen Bild eines fairen Strafverfahrens ist der Angeklagte als ein in Freiheit und Gleichheit handeln und kommunizieren könnendes Prozesssubjekt am Strafverfahren zu beteiligen und Einschränkungen seiner ihm gleichberechtigt zu gewährenden Teilnahmefreiheiten sind nur in begründeten Ausnahmefällen zulässig.898 256
Gerade in den Menschenrechtsbestimmungen (etwa der EMRK) zugunsten des Angeklagten zeigt sich also das normativ vorgegebene Streben nach dem «Besten» des Handelns, Kommunizierens und Interagierens im Strafverfahren, das die von den Diskurstheorien mit ihren idealen Diskursbedingungen ausgedrückten Kerngedanken auch für ein der Fairness verpflichtetes Strafverfahren erkennen und fruchtbar werden lässt. Zutreffend heisst es in diesem Sinne auch bei Theile:
257
„... dass von einer „idealen Sprechsituation“ im Kontext eines Strafverfahrens dann gesprochen werden kann, wenn sämtlichen Verfahrensbeteiligten gleichberechtigte und effektive Partizipationsmöglichkeiten innerhalb des Strafverfahrens zugestanden werden. Gleichberechtigte und effektive Partizipation ist somit das maβgebliche inhaltliche Bestimmungsmerkmal für den Begriff der Fairness, wenn es um das Wie strafprozessualer Regulierung geht …“899
258
Das Bestreben nach einer Verbesserung der (Kommunikations-)Strukturen des Strafverfahrens, das das Bestreben nach einer Verbesserung der «Herrschafts»verteilung und hier nach einer gleichmässig(er)en Einflussnahme der am Verfahren Beteiligten auf den Ablauf und die Gestaltung des Strafverfah897
898
899
184
Siehe zum Moment des «Bildes» in Bezug auf die Theorie des idealen herrschaftsfreien Diskurses näher HASSEMER, Grundlagen, S. 133: „Sie entwirft das Bild einer idealen Situation und malt es so farbig aus, daβ die Stationen des Weges einsichtig und diskutierbar werden, der in die Richtung eines herrschaftsfreien Diskurses führt …“ (Hervorhebung Hassemer). Siehe zur Einschränkung und zu den Einschränkungsvoraussetzungen hinsichtlich der Verteidigungsrechte des Angeklagten und hier speziell des Konfrontationsrechts näher unter Kap. 5; siehe im Zusammenhang mit den staatsrechtlichen Diskursbedingungen auch KRIELE, S. 63 zur Begründungsbedürftigkeit von Freiheitsbeschränkungen. THEILE, S. 329 (Hervorhebung Theile: «Wie»; übrige Hervorhebung: Demko); siehe auch JAHN, GA 2004, S. 282: „… Sein Subjektstatus, der in diesem Rahmen erst Kontur gewinnt, ermöglicht es dem Angeklagten, im Schulddiskurs Verantwortlichkeit anzuerkennen …“
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
rens (und zwar gerade auch bezüglich der strafverfahrensrechtlichen Tatsachenfeststellung im Beweisverfahren) einschliesst, zeigt sich sowohl innerhalb der traditionell kontinentaleuropäisch und angloamerikanisch geprägten nationalen Strafverfahren als auch auf internationaler Strafverfahrensebene: In den nationalen Strafverfahren kontinentaleuropäischer Prägung ist es u.a. die Frage, ob und in welcher Weise der starken Stellung des Gerichts eine Stärkung der (auch kommunikativen) Einflussnahme insbesondere des Angeklagten und dessen Verteidigung – zumindest teilweise, etwa bei der Beweiserhebung und hier insbesondere bei der Zeugenvernehmung und -befragung – entgegenzuhalten ist. Umgekehrt beschäftigt die nationalen Strafverfahren angloamerikanischer Prägung, welche der anklagenden und angeklagten Partei einen massgeblichen Einfluss auf die Gestaltung des Straf- und Beweisverfahrens zusprechen, die Frage nach einer Stärkung im Sinne von aktive(re)n Mitwirkung des Gerichts an dem Strafverfahren und hierbei auch an der Beweiserhebung. Die Entwicklungen der Strafverfahren auf internationaler Ebene (vergleicht man etwa das Strafverfahren des noch sehr angloamerikanisch geprägten ICTY im Vergleich zum Strafverfahren des ICC, der sich kontinentaleuropäischen Elementen in einem viel stärkeren Masse geöffnet hat) und die Herausbildung der «gemischten» Strafverfahrensmodelle lassen sich ebenso als Ausdruck einer Suche nach einer «besten» Verteilung der (auch kommunikativen) Einflussnahmemöglichkeiten der am Verfahren Beteiligten auf das Straf- und insbesondere Beweisverfahren – und zwar unter Vermeidung derjenigen Gefahren einer Einflussverzerrung und eines Herrschaftsungleichgewichts, die aus den herkömmlichen nationalen Strafverfahren traditionell kontinentaleuropäischer oder angloamerikanischer Prägung bekannt waren – verstehen.900
259
Zusammenfassend ist hervorzuheben: Lassen sich die idealen Diskursbedingungen der Diskurstheorien im Strafverfahren zwar nicht «eins zu eins» verwirklichen, so geht es, wie soeben aufgezeigt wurde, im realen «Kommunikationszusammenhang Strafverfahren» auch gar nicht um eine ebensolche tatsächliche «Eins-zu-Eins»-Verwirklichung des philosophischen Ideals. Vielmehr geht es darum, dasjenige aus den Aussagen und Anliegen der Diskurstheorien mit ihren idealen Diskursbedingungen abzulesen, zu erkennen, anzuerkennen und dann auch anzuwenden, was sich auch für ein reales Strafverfahren mit seinen spezifischen, vom Recht (mit)vorgegebenen Kommunikationsstrukturen als erforderlich und wertvoll erweist und was sich unter Beach-
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900
Zum Vergleich der Einflussnahmemöglichkeiten der am Strafverfahren Beteiligten und hier insbesondere des Angeklagten sowie der dafür gewählten Ausübungsformen im Zusammenhang mit der Konfrontation von Belastungszeugen im internationalen Strafverfahren vor dem ICTY und dem nationalen Strafverfahren in der Schweiz siehe im Einzelnen in Kap. 5.
185
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
tung und Rechnungtragung jener spezifischen Kommunikationsbedingungen des Strafverfahrens trotz aller im Realen gegebenen Einschränkungen verwirklichen lässt:901 Es ist mithin ein Annäherungsstreben, das sich für ein reales Strafverfahren in Ausrichtung auf die idealen Diskursbedingungen ausprägt, mittels welchem sich ein Strafverfahren die Grundgedanken und Kernaussagen der idealen Diskursregeln erkennend und aufgreifend um deren bestmögliche Verwirklichung «im Realen» zu bemühen hat. 261
Ein ebensolches Annäherungsstreben hat sich in heutigen menschenrechtlichen und strafverfahrensrechtlichen Vorgaben auf nationaler und internationaler Ebene für ein als fair zu bewertendes Strafverfahren sichtbar ausgeformt und zu denken ist hier etwa an die normativen Vorgaben des Art. 6 EMRK für ein dem Angeklagten zu gewährendes Menschenrecht auf ein faires Strafverfahren. Aus den idealen Diskursbedingungen und hier insbesondere aus denen der Herrschaftsfreiheit, Teilnahmefreiheit und Teilnahmegleichheit lassen sich Ansprüche für ein sich gegenseitig als Subjekt achtendes und anerkennendes Miteinanderhandeln und -kommunizieren erkennen, die als Werte auch für ein menschenrechtsschützendes reales Strafverfahren (vom Recht) gefordert sind und sich durchgesetzt haben: Die sich in den idealen Diskursregeln zur Herrschafts- und gleichen Teilnahmefreiheit ausdrückenden Kernaussagen zur einer zu wahrenden Objektivität und Offenheit des Diskurses sowie zur Anerkennung der Diskursteilnehmer als frei und gleichberechtigt handeln und kommunizieren könnender Subjekte gehören gerade auch zu denjenigen Elementen, die in menschenrechtlichen und strafverfahrensrechtlichen Bestimmungen mit Blick ein faires und die Menschenrechte (u.a. des Angeklagten) wahrendes Strafverfahrens normativ eingefordert sind.902 Die anzustrebende bestmögliche Annäherung an das philosophische Ideal, und zwar unter Beachtung der jeweils vorgegebenen realen Diskursstrukturen, die das philosophische Denkideal von realen Diskursen verlangt, ist eine Forderung, die sich auch für ein menschenrechtsschützendes faires Strafverfahren stellt, und zeigt sich in Bezug auf ihre Umsetzung – auch wenn dies im Recht ohne ausdrückliche Bezugnahme auf die philosophischen Diskurstheorien geschieht – insbesondere in solchen strafverfahrensrechtlichen und menschenrechtlichen Bestimmungen, die die Wahrung der Prozesssub901
902
186
Siehe zum erforderlichen Rechnungtragen der spezifischen Bedingungen des Strafverfahrens auch THEILE, S. 326 f. Zu den sich in Art. 6 EMRK ausdrückenden Momenten der Objektivität des Strafverfahrens und der dem Angeklagten zu garantierenden Subjektstellung im Strafverfahren gehören etwa die zu gewährende Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichts nach Art. 6 Abs. 1 EMRK und die dem Angeklagten zu gewährenden (in Art. 6 EMRK benannten sowie vom EGMR herausgearbeiteten unbenannten) Verteidigungsrechte, die zur Verwirklichung der Prozesssubjektivität des Angeklagten im Strafverfahren dienen.
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
jektivität des Angeklagten und deren Verwirklichung in Form einer freien und gleichberechtigten Verfahrensteilnahme als Kernmoment eines dem Angeklagten einzuräumenden fairen Strafverfahrens ausweisen. 2.
Psychologische Begründungslinien für ein Menschenrecht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren
Die aus den „juristischen Verfahrenslehren“903 bekannte – und vorgängig dargestellte904 – Kennzeichnung des Strafverfahrens in Bezug auf seine dienende Funktion einerseits und auf seinen eigenständigen Wert andererseits hat Eingang gefunden sowohl in die sich mit dem (Straf-)Verfahren beschäftigende Rechtssoziologie als auch in die sozialpsychologischen Forschungen. Während die Rechtssoziologie, sich spätestens seit Beginn der 70er Jahre mit Verfahren verschiedener Art und insbesondere auch mit Gerichtsverfahren beschäftigend, dabei häufig die dienende Funktion des Verfahrens und dessen «Mittel zum Zweck»-Sein in den Vordergrund stellte,905 hat sich mit der Procedural Justice-Forschung ausgehend von der Sozialpsychologie hingegen ein „neuer Forschungsschwerpunkt“906 herausarbeiten und etablieren können, der den Akzent von der dienenden Funktion des (Straf-)Verfahrens auf dessen eigenständigen Wert verschoben hat und jene Eigenwertigkeit des Verfahrens als erkannten „… „Mehrwert“ des Verfahrens …“907 in den Mittelpunkt der Bewertung eines (Straf-)Verfahrens als eines fairen (Straf-)Verfahrens stellte. Diese sich unter der Bezeichnung Procedural Justic-Research in den Vereinigten Staaten entwickelnde, vornehmlich sozialpsychologisch orientierte Forschungsrichtung kennzeichnet – neben der Konzentration auf den sowie die Hervorhebung des „Eigenwert(es)“908 des Verfahrens für dessen FairnessBewertung – zum einen ein empirisches Arbeiten909 sowie zum anderen ein 903 904
905 906 907
908 909
RÖHL, ZfRSoz 1993, S. 5. Siehe zum Strafverfahren und seiner dienenden Funktion einerseits und seiner Eigenständigkeit andererseits unter Kap. 2 A. Siehe dazu mit weiteren Hinweisen näher RÖHL, ZfRSoz 1993, S. 6 f. RÖHL, ZfRSoz 1993, S. 6. RÖHL, ZfRSoz 1993, S. 1 (Hervorhebung Röhl); dazu auch BARTON, Opferschutz, S. 244. RÖHL, ZfRSoz 1993, S. 6 (Hervorhebung Demko); siehe dazu auch BORA, S. 24. Siehe dazu etwa BORA, S. 24; RÖHL, ZfRSoz 1993, S. 29: „mit den empirischen Befunden der Sozialpsychologie“. Siehe dort auch die von Röhl zutreffend angeregte Kombination der makrotheoretisch ausgerichteten Ansätze mit der empirisch arbeitenden Sozialpsychologie, fehle doch der Sozialpsychologie „die übergreifende theoretische Perspektive, den system- und kommunikationstheoretischen Ansätzen die Umsetzung in empirisch prüfbare Hypothesen“ (S. 29). Kritik findet zudem, dass die vorliegenden empirischen Ergebnisse von den normativ-philosophischen Konzeptio-
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262
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
Abstellen auf „subjektive(r) Gerechtigkeitsvorstellungen“910 für die FairnessBewertung eines (Straf-)Verfahrens: 263
Es geht um subjektive, individuelle und kollektive Vorstellungen von Gerechtigkeit und Fairness, welche als Grundlage und Urteilskategorien für die Bewertung nicht nur individueller Handlungen, sondern auch als Kriterien für die Legitimität und den Grad an Legitimität einer Handlung oder eines „sozialen Programm(s)“911 fungieren.912 Wird in der Philosophie, der Soziologie und der Ökonomie das Schwergewicht häufig auf makrosoziologische Variablen gelegt, konzentriert sich die Procedural Justice-Forschung in der Sozialpsychologie auf die Mikroebene und hier auf die „subjektiv erlebte“913 Fairness des Verfahrens, welche aus der Sicht und dem Blickwinkel der einzelnen Person untersucht wird.914
264
Eingang in die und Beachtung in den sozialpsychologischen Untersuchungen von «Gerechtigkeit und Fairness»915 des (Straf-)Verfahrens hat dabei sowohl die materielle – oder auch als distributive Gerechtigkeit bezeichnete – Ge-
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911 912 913 914 915
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nen der Prozeduralität nicht zur Kenntnis genommen wurden und auch die juristischen Verfahrenslehren auf eine konsequente Untersuchung anhand der empirischen Untersuchungen warten, S. 29. Siehe dazu auch BIERBRAUER, Gerechtigkeit, S. 325 FN 1: „Es ist erstaunlich festzustellen, welche geringe Bedeutung innerhalb der Verfahrensrechtslehre der Diskussion von subjektiven Gerechtigkeitsvorstellungen auch von sozialwissenschaftlich orientierten Juristen zugemessen wird“ (Hervorhebung Demko). BIERBRAUER, Gerechtigkeit, S. 324 (Hervorhebungen Demko); siehe auch RÖHL, ZfRSoz 1993, S. 1 f., 6 f. BIERBRAUER, Gerechtigkeit, S. 318. BIERBRAUER, Gerechtigkeit, S. 317, 318. BARTON, Opferschutz, S. 244. Siehe dazu BIERBRAUER, Gerechtigkeit, S. 317, 318; BARTON, Opferschutz, S. 244 f. Die Begriffe der Gerechtigkeit und Fairness des (Straf-)Verfahrens werden in Darlegungen zu sozialpsychologischen Untersuchungen häufig nebeneinander aufgeführt, was den Eindruck erzeugt, die Fairness sei ein sich auf das Verfahren beziehender Begriff für Gerechtigkeit, siehe etwa RÖHL, ZfRSoz 1993, S. 6: „… Wenn im Zusammenhang sozialpsychologischer Untersuchungen von „Gerechtigkeit“ oder im Hinblick auf Verfahren von „Fairness“ gesprochen wird …“; BIERBRAUER, Gerechtigkeit, S. 317, 318, 319: „… die Überzeugung einer Person, daβ Aufteilungen oder Verteilungsverfahren dann fair oder gerecht sind …“ (S. 318, Hervorhebung Demko), „Gerechtigkeits- oder Fairneβregeln“ (S. 319, Hervorhebung Demko), „Gerechtigkeits- oder Fairneβbewertungen“ (S. 319, Hervorhebung Demko), siehe zudem die Anwendung des Fairness-Begriffs auf die materielle Gerechtigkeitskomponente: „… ob nach Überzeugung einer Person eine Aufteilung fair ist …“ (S. 319) und die Anwendung des Fairness- und Gerechtigkeits-Begriffs auf die prozedurale Gerechtigkeitskomponente: „… die Überzeugung einer Person, ob die bei einer Verteilung eingesetzten Verfahren bestimmten Kriterien der Fairneβ oder Gerechtigkeit genügen …“ (S. 319).
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
rechtigkeit gefunden, welche mit der dienenden Funktion des (Straf-)Verfahrens korrespondiert, als auch die prozedurale bzw. die Verfahrensgerechtigkeit, welche den Bezug zum Eigenwert, zur eigenständigen Bedeutung des (Straf-)Verfahrens kennzeichnet.916 Betont wird dabei, dass eine Trennung zwischen beiden nicht möglich ist bzw. sich als schwierig erweist und vielmehr gerade umgekehrt die Einschätzung beider – der materiellen und prozeduralen – Variablen „hoch miteinander korreliert“.917 Röhl, der zutreffend darauf verweist, dass der Topos Verfahrensgerechtigkeit „ein ganzes Themenfeld zusammen (hält)“918 und verschiedene Disziplinen – wie die juristischen Verfahrenslehren, die sozialpsychologischen, soziologischen und normativ-philosophischen Ansätze – verbindet, hebt die Mikro- und die Makroebene als mögliche Forschungsperspektiven hervor, dabei betonend: „… Aus allen Perspektiven ist es jedoch wichtig, zwischen objektiver und subjektiver, interner und externer Verfahrensgerechtigkeit zu unterscheiden …“919
265
Mit dieser auch nach Ansicht von Röhl920 bisher nicht üblichen Rede von der internen und externen Verfahrensgerechtigkeit bezeichnet Röhl zum einem – mit dem Begriff der externen Verfahrensgerechtigkeit – die materielle Gerechtigkeitskomponente und die damit korrespondierende dienende Funktion des Verfahrens und zum anderen – mit der internen Verfahrensgerechtigkeit – die auf die eigenständige Bedeutung des Verfahrens abhebende prozedurale Gerechtigkeitskomponente.921 Betonend, dass beide Gerechtigkeitskomponenten, also sowohl die externe als auch die interne Verfahrensgerechtigkeit, „wiederum objektiv und subjektiv beurteilt“922 werden können, hat sich die Procedural Justice-Forschung „auf den subjektiv-internen Aspekt des Verfahrens konzentriert …“ und in „… erster Linie geht es um die individuell abgefragte Einschätzung des Verfahrens durch Beteiligte und Beobachter …“923
266
Nicht die Perspektive eines objektiven Urteils über die Eignung eines Verfahrens zur Wahrheitsfindung – was die materielle Gerechtigkeitskomponente anspricht – und über das Verfahren in seiner eigenständigen, die prozedurale Gerechtigkeitskomponente ansprechenden Bedeutung, sondern vielmehr die
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916 917 918 919 920 921 922 923
Siehe dazu näher etwa RÖHL, ZfRSoz 1993, S. 6, 7. RÖHL, ZfRSoz 1993, S. 9. RÖHL, ZfRSoz 1993, S. 5. RÖHL, ZfRSoz 1993, S. 5. RÖHL, ZfRSoz 1993, S. 6: „bisher nicht üblich“. RÖHL, ZfRSoz 1993, S. 6, 7. RÖHL, ZfRSoz 1993, S. 6. RÖHL, ZfRSoz 1993, S. 6, 7 (Hervorhebung Demko); siehe dazu auch LIND/TYLER, S. 3 f. zur Unterscheidung zwischen „subjective justice“ (S. 3), „justice as a subjective, psychological response“ (S. 3) und „justice as an objective state of affairs“ (S. 3).
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Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
Perspektive der „subjektiv empfundene(n)“924 Fairness, einer individuellbewerteten Zufriedenheit mit dem Urteil und mit dem zu diesem Urteilsergebnis führenden Verfahren, bestimmt die sozialpsychologischen Untersuchungen zur Fairness des Verfahrens.925 268
„... Die Parteien empfinden ein Verfahren dann als fair und sind mit seinem Ergebnis zufrieden, wenn bestimmte, für sie wichtige Verfahrensstandards eingehalten werden und der Ausgang des Verfahrens in etwa dem entspricht, was sie in ihrer subjektiven Vorstellung erwartet haben. Mit anderen Worten: Auch Verlierer können mit dem Verfahrensergebnis zufrieden sein, wenn sie das Verfahren selbst als fair empfinden …“926
269
Die enge Korrelation zwischen materieller und prozeduraler Gerechtigkeitskomponente bei der Konzentration der Procedural Justice-Forschung auf den „subjektiv-internen Aspekt“927 des Verfahrens beachtend,928 geht es um eine subjektive Gerechtigkeits- und Fairnessbewertung.929 Diese bezieht sich sowohl auf die materielle – oder auch als distributive oder «Aufteilungsgerechtigkeit»930 bezeichnete – Gerechtigkeitskomponente als auch auf die den «Verteilungsprozess»931 an sich betreffende prozedurale Gerechtigkeitskomponente, bezüglich derer es um die subjektiven Überzeugungen einer Person geht, ob die für die Verteilung von Belohnungen und/oder Kosten (und Strafen) eingesetzten Verfahren selbst „bestimmten Kriterien der Fairneβ oder Gerechtigkeit genügen“.932 Mit Blick auf ebensolche Fairness- oder Gerechtigkeitskriterien für „Aufteilungs- und Verfahrensregeln“,933 mithin für die materielle und prozedurale Gerechtigkeit des (Straf-)Verfahrens hat sich in der sozialpsychologischen Forschung bezogen auf den subjektiv-internen 924 925
926
927 928
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931 932 933
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BARTON, Opferschutz, S. 244 (Hervorhebung Demko). Zu dieser subjektiven Perspektive der sozialpsychologischen Untersuchungen siehe näher etwa BARTON, Opferschutz, S. 244, 245. GOTTWALD, Beitrag, S. 79 (Hervorhebung Gottwald: «Verfahrensstandards» und «erwartet»; übrige Hervorhebung Demko). BARTON, Opferschutz, S. 245 (Hervorhebung Demko). Siehe dazu etwa LEVENTHAL/KARUZA/FRY, S. 220: „... Beurteilungen der Fairneβ sind eine spezielle Klasse moralischer Urteile, die sich ergeben, wenn eine Person an einem Austausch oder einer Aufteilung von Belohnungen und Ressourcen (oder Kosten und Strafen) zwischen zwei oder mehr Parteien entweder teilnimmt oder diesen beobachtet. Urteile zu Fairneβ bewerten die Rechtmäβigkeit der Aufteilung sowie des Verteilungsprozesses, der sie hervorbrachte …“ (S. 220, Hervorhebung Demko); dazu auch BIERBRAUER, Gerechtigkeit, S. 317, 318. Dazu BIERBRAUER, Gerechtigkeit, S. 319. Dazu BIERBRAUER, Gerechtigkeit, S. 318, 319: „Rechtsmäβigkeit der Aufteilung“ (S. 318). Dazu BIERBRAUER, Gerechtigkeit, S. 317, 318. BIERBRAUER, Gerechtigkeit, S. 319 (Hervorhebung Demko). BIERBRAUER, Gerechtigkeit, S. 319.
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
Aspekt des Verfahrens und damit die Eigenwertigkeit des Verfahrens in den Vordergrund rückend die Erkenntnis durchgesetzt, dass es neben der Einhaltung der Verfahrensregeln „Zusatzbedingungen“934 gebe, welche die Gerechtigkeit eines Verfahrens ausmachen und bei deren Realisierung auch das Verfahrensergebnis von den Betroffenen eher akzeptiert werde. Die Akzeptanz einer Verfahrensentscheidung hängt nach Sicht der Procedural Justice-Forschung nicht nur von dem Verfahrensergebnis selbst – auf die Strafentscheidung bezogen mithin nicht nur von einem ausgesprochenen Freispruch oder einem geringen Strafmass – ab, sondern auch von der Einhaltung von Fairness-Kriterien, die nach subjektiver Überzeugung der am Verfahren Beteiligten oder der Beobachter des Verfahrens im Rahmen des Verfahrens selbst erfüllt sein müssen:935
270
„… Der „Eigenwert des Verfahrens“ habe einen so hohen Einfluβ, daβ nicht nur nachteilige Entscheidungen, die durch ein gerechtes Verfahren zustande kommen, akzeptiert würden, sondern daβ sogar offensichtlich wünschenswerte Entscheidungen – etwa ein Freispruch in einem Strafverfahren – dann zu Frustration auf Seiten der Betroffenen führe, wenn sie das Verfahren als unfair wahrgenommen haben …“936
271
Mit Bezug auf dieses als „fair process effect bezeichnete(n) Phänomen(s)“937 und die Fairness-Kriterien für das (Straf-)Verfahren als solches haben sich in der Procedural Justice-Forschung zwei Forschungsansätze entwickelt, welche – trotz ihrer Unterschiede im Einzelnen – angewendet auf das Strafverfahren der Person des Angeklagten und den „… „dignitary aspects“ des Verfahrens …“938 eine für die Fairness-Bewertung des (Straf-)Verfahrens bedeutsame Rolle zuweisen.939 Als „(b)ahnbrechend“940 wurden das von Thibaut und Walker erarbeitete Self Interest Model sowie die Veröffentlichung des 1975 erschienenen Buches «Procedural Justice»941 angesehen. In einer Ergänzung der Equity-Theory gingen Thibaut und Walker davon aus, dass, wenn für die Verteilungsgerechtigkeit das Verhältnis von Beiträgen und Ergebnissen wichtig sei, sich die Fairnessbewertung des Verfahrens danach richte, ob dieses für die bestmögliche Erfassung der individuellen Beiträge dienlich sei oder nicht. Anknüpfend an die dienende Funktion des Verfahrens wurde eine instrumentelle Sicht für die Fairnessbewertung des Verfahrens eingenommen und abgestellt auf „das instrumentelle Handeln des aufgeklärten, eigeninteressierten
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934 935 936 937 938 939
940 941
BORA, S. 24. Siehe dazu auch LIND/TYLER, S. 3 f. BORA, S. 24 (Hervorhebung Demko). BORA, S. 24 (Hervorhebung Bora). RÖHL, ZfRSoz 1993, S. 11 (Hervorhebung Demko). Zur Bedeutung der Behandlung des Angeklagten für die Bewertung eines Gerichtsverfahrens als fair siehe etwa MACHURA, S. 310, 311, 313. RÖHL, ZfRSoz 1993, S. 9. THIBAUT/WALKER, Procedural Justice: A Psychological Analysis.
191
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
Individuums“,942 dem es ergebnisorientierend vornehmlich darum ginge, für sich günstige Ergebnisse zu erreichen und welches als ein solcher „rein ergebnisorientierte(r) Akteur(s)“943 an einer verfahrenskontrollierenden direkten Einwirkung und Einflussnahme auf das Verfahren interessiert ist, um über jene direkte Verfahrenskontrolle indirekt auch das (Verfahrens-)Ergebnis – im Sinne einer Ergebniskontrolle – beeinflussen zu können.944 273
„… Thibaut and Walker focused on process control as a major determinant of the fairness of procedures because they believed that control over the evidence and arguments presented at trial lead to greater consideration of individualized arguments, and that this in turn leads to fairer outcomes. Hence procedural fairness is defined in terms of outcome fairness …“945
274
Als für die Bewertung der Fairness eines Verfahrens entscheidende Variable sahen Thibaut und Walker die Verfahrenskontrolle (process control) an und schlossen, dass ein Verfahren dann als gerechter angesehen werde, wenn die Parteien das Verfahren durch eine Mitwirkung an diesem und dieses infolgedessen kontrollieren könnend in ihrer Hand haben, während bei abnehmender persönlicher Einflussnahme auf das und Kontrolle des Verfahren(s) dieses als weniger gerecht beurteilt werde.946
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„… Some third-party control is often necessary and apparently acceptable to disputants. They are willing to give the third-party control over the decision itself, so long as they retain control over the process – that is, over the definition of the issues and the collection and presentation of evidence at the hearing …“947
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Das Moment der process control als massgebendes Fairnesskriterium eines (Straf-)Verfahrens und das damit angesprochene Moment der den streitenden Parteien des Verfahrens und speziell im Strafverfahren dem Angeklagten zukommenden (Mit-)Herrschaft über das Verfahren, etwa bezüglich einer grösseren Einflussnahme auf das Einbringen und Interpretieren von Beweis942 943 944
945 946
947
192
BORA, S. 24, 25 (Hervorhebung Demko). BORA, S. 25 (Hervorhebung Demko). Siehe dazu etwa LIND/TYLER, S. 35: „… Thibaut and Walker … discriminate between control over the verdict or judgment in an adjudication, “decision control,“ and control over the presentation of evidence and arguments, “process control.“ Thibaut and Walker contend that procedures that vest process control in those affected by the outcome of the procedure are viewed as more fair than are procedures that vest process control in the decision maker …“ (Hervorhebung Demko); siehe auch BORA, S. 24, 25. LIND/TYLER, S. 39. Siehe dazu auch BIERBRAUER, Gerechtigkeit, S. 322; RÖHL, ZfRSoz 1993, S. 9, 10; BORA, S. 25: „Verteilung von Kontrolle als Basisvariable, mit Hilfe derer die Gerechtigkeit verschiedenster Konfliktlösungsverfahren abgeschätzt werden könne“ (Hervorhebung Bora). LIND/TYLER, S. 35 (Hervorhebung Demko).
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
mitteln, sind von Thibaut und Walker in empirischen Analysen betreffend eines Vergleichs des amerikanischen Adversary Model mit dem kontinentaleuropäischen Inquisitorial Model herausgearbeitet worden.948 Mit Blick auf die Frage, in welcher Weise beide Verfahrenstypen – zum einen das Adversary Model, in dem die streitenden Parteien über mehr Kontrolle über das Verfahren verfügen, zum anderen das Inquisitorial Model, in dem dem Richter mehr Macht und Kontrolle über das Verfahren zukommt – die individuelle Einschätzung und Bewertung der Fairness des Verfahrens durch die am Verfahren beteiligten oder dieses beobachtenden Personen beeinflussen, kamen Thibaut und Walker zum Ergebnis einer Bevorzugung des Adversatory Model aufgrund der dort den streitenden Parteien zukommenden grösseren Kontrolle über das und grösseren Einflussnahme auf das Verfahren und damit indirekt auch auf das Verfahrensergebnis.949 Während man einerseits der von Thibaut und Walker angegebenen „objektive(n) Überlegenheit“950 des amerikanischen Parteiprozesses gegenüber dem kontinentaleuropäischen Inquisitionsprozess kritisch bis ablehnend gegenüberstand,951 haben andererseits die Analysen von Thibaut und Walker als ein „erster Nachweis der subjektiv legitimierenden Kraft des Verfahrens“952 Anerkennung und Unterstützung gefunden. Denn der den streitenden Parteien eine grössere Beeinflussung des und Kontrolle über das Verfahren(s) gewährende Parteiprozess führe ungeachtet des Inhaltes des Urteils zu einer grösseren Akzeptanz des Urteils953 und es sei „die Verfahrensgerechtigkeit für die Gesamtzufriedenheit mit Verteilungsentscheidungen mindestens ebenso wichtig“954 wie die Ergebnisgerechtigkeit. Kritisch ist der in den Untersuchungen (etwa von Lind) vorgenommenen Gegenüberstellung von kontradiktorischem Parteiverfahren und inquisitorischem Verfahren entgegengehalten worden, dass hier ein Verfahrensmodell eines inquisitorischen Verfahrens zugrunde gelegt wurde, das – entgegen der heute real existierenden reformiert-inquisitorischen Verfahren, die neben dem Richter auch den streitenden 948
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950 951
952 953 954
Siehe dazu auch THIBAUT/WALKER/LATOUR/HOULDEN, Stanford Law Review 1974, S. 1271 ff. Siehe dazu auch THIBAUT/WALKER/LATOUR/HOULDEN, Stanford Law Review 1974, S. 1271 ff.; zu befürwortenden sowie kritischen Ansichten zu den Ergebnissen von Thibaut und Walker siehe näher RÖHL, ZfRSoz 1993, S. 10. RÖHL, ZfRSoz 1993, S. 10. Siehe mit Anführung kritischer Stimmen RÖHL, ZfRSoz 1993, S. 10: „Als Beleg für die objektive Überlegenheit … nach wie vor nicht akzeptiert“; zur Kritik an dieser behaupteten objektiven Überlegenheit siehe etwa HAYDEN/ANDERSON, Law and Human Behavior 1979, S. 21 ff. RÖHL, ZfRSoz 1993, S. 10 (Hervorhebung Demko). Dazu auch RÖHL, ZfRSoz 1993, S. 10. RÖHL, ZfRSoz 1993, S. 10; siehe dazu auch LIND/TYLER, S. 39 f.
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Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
Parteien und im Strafverfahren auch dem Angeklagten einen Einfluss auf und damit eine Kontrolle über das Verfahren einräumen – zu einseitig die Verfahrensherrschaft des Richters betont.955 Dennoch konnten die zwischen dem Adversary Model und dem Inquisitorial Model vergleichenden Untersuchungen – welche zur Vermeidung einer Ergebnisverfälschung aufgrund kultureller Traditionen und Vorlieben nicht nur in den USA durchgeführt, sondern in England, Deutschland und Frankreich wiederholt wurden956 – aufzeigen, dass der überprüften Variable «process control» für die Fairness-Bewertung aus individueller Einschätzung der Beteiligten oder Beobachter des Verfahrens eine bedeutsame Rolle zukommt, woraus zum Teil sogar eine Universalität einer Präferenz für den Parteiprozess geschlossen wurde.957 278
Die von Thibaut und Walker für die subjektive Fairness-Bewertung eines Verfahrens hervorgehobene Variable «process control» als massgebendes Kriterium eines als fair angesehenen Verfahrens, fand und findet – wenn auch unter anderer Bezeichnung, eingebettet in andere bzw. weitere als massgeblich erachtete Fairness-Kriterien und unter Anlegung anderer Erklärungsmodi für ein faires Verfahren – Eingang in sich anschliessende sozialpsychologische Untersuchungen zur «Fairness und Gerechtigkeit» des (Straf-)Verfahrens: In Distanzierung von einer rein instrumentalen Betrachtung des (Straf-)Verfahrens, wie sie in dem auf ein ergebnisorientiertes und eigeninteressiertes Individuum abstellenden Self Interest Model von Thibaut und Walker erkennbar wurde,958 und unter Hervorhebung des Eigenwertes eines Verfahrens ist dem Fairness-Kriterium der «process control» auch in sich den Forschungen von Thibaut und Walker anschliessenden Forschungen von Lind und Tyler im Rahmen des von ihnen entwickelten Group Value Model eine wichtige Bedeutung für die subjektive Bewertung eines (Straf-)Verfahrens als fair eingeräumt. Unter Lösung und Abgrenzung von einer das Verfahren nur als Diener des Verfahrensergebnisses betrachtenden Perspektive, welche auch die Handlungen der Verfahrensakteure stets in Abhängigkeit zum Verfahrensergebnis hin beurteilt, legen Lind und Tyler, den eigenständigen Wert des 955
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Siehe dazu etwa die Kritik von Vidmar an der Untersuchung von Lind in VIDMAR, Law and Social Inquiry 1990, S. 877 ff.; RÖHL, ZfRSoz 1993, S. 14, wo es mit Bezug auf die Kritik von Vidmar heisst, dass „ein Modell des Inquisitionsprozesses zugrunde gelegt“ worden sei, das „nicht der Realität entspreche. In Wirklichkeit sei der Amtsprozeβ nach deutschem Muster eine Mischform, die durchaus auch den Parteien einige Kontrolle über das Verfahren einräume“. Siehe dazu LIND/TYLER, S. 33; RÖHL, ZfRSoz 1993, S. 14. Siehe etwa LIND/ERICKSON/FRIEDLAND/DICKENBERGER, Journal of Conflict Resolution 1978, S. 318 ff.; zu Zweifeln an dieser angenommenen Universalität der Präferenz des Parteiverfahrens siehe VIDMAR, Law and Social Inquiry 1990, S. 877 ff.; dazu auch RÖHL, ZfRSoz 1993, S. 14. Siehe dazu bereits die vorangehenden Ausführungen.
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
Verfahrens an sich betonend, dem Verfahren eine andere Sichtweise zugrunde. Verfahren als Eigenschaften von Gruppen als sozialen Einheiten verstehend, seien Menschen als soziale Wesen „ganz existenziell an Gruppen gebunden“,959 strebten nach einer Identifikation mit sozialen Gruppen und gewönnen ihre persönliche Identität teilweise erst durch die für ihr persönliches Leben bedeutsame Mitgliedschaft in sozialen Gruppen und die dort gegebenen Sozialisierungsprozesse.960 Gruppenwerte, wozu auch Werte für die Fairness von Verfahren gehören, werden erlernt und in Verfahren drückt sich das Wertsystem der Gruppe aus: „… Verfahren sind wichtig als Symbol der Gruppe, mit denen sich die Gruppe von anderen unterscheiden kann. Gruppenmitglieder erwarten entsprechend dieser Werte behandelt zu werden – durch die Gruppe und durch die Autoritäten, die für die Gruppe entscheiden …“961
279
Wird in der Group Value Theory und auch in dem später von Lind und Tyler erarbeiteten Autoritäts-Beziehungs-Model962 der für die Existenz und die Identifikation eines Menschen bedeutende Stellenwert der Einbettung des Einzelnen in die Gruppe, und zwar unter Achtung und Anerkennung des Einzelnen als Person («status recognition») durch die Gruppe und durch die für die Gruppe entscheidenden Autoritäten, betont, so lassen sich dieses hervorgehobene Erfordernis der Achtung des Einzelnen als „voll berechtigtes und geachtetes Mitglied der Gruppe“963 und die damit verbundene, den Gruppenmitgliedern eigene Erwartung eines Wohlwollens («benevolence») und einer Neutralität («neutrality») der Autoritätspersonen auch bezugnehmend auf die Fairnessbewertung eines Verfahrens als bedeutsam erkennen.964 Die Statusanerkennung, als voll und gleichberechtigtes Gruppenmitglied anerkannt zu sein und von der Gruppe und den für die Gruppe handelnden Autoritäten wohlwollend behandelt zu werden, nimmt als Kriterium für die Bewertung eines Verfahrens als eines fairen Verfahrens einen bedeutenden Stellenwert ein. Den Bezug herstellend zu dem von Thibaut und Walker betonten Fairness-Kriterium der process control hat die Bedeutung dieses Kriteriums für die Fairness-Bewertung eines Verfahrens Eingang auch in die Forschungen
280
959 960
961 962 963 964
MACHURA, S. 82 bezugnehmend auf die Forschungen von Lind, Tyler und Degoey. Siehe dazu in Auseinandersetzung mit dem Group Value Model BORA, S. 25; MACHURA, S. 82. MACHURA, S. 82. Siehe dazu LIND, Verfahrensgerechtigkeit, S. 7; zudem MACHURA, S. 82. MACHURA, S. 82 (Hervorhebung Demko). Zu den drei Verfahrenskriterien «status recognition» – womit die soziale Anerkennung und das Ansehen als vollwertiges Gesellschaftsmitglied angesprochen sind –, «benevolence» – womit das Vertrauen und Wohlwollen benannt sind – und «neutrality» – womit die Neutralität und das Unparteiisch-Sein gemeint sind – siehe näher LIND, Verfahrensgerechtigkeit, S. 7; MACHURA, S. 82 f.
195
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
von Lind und Tyler gefunden, welche jenes Fairness-Kriterium unter Lösung von einer nur instrumentalen Sicht auf das Verfahren untersuchen und dessen Bedeutung für die Fairness-Bewertung eines Verfahrens auch bei einer nichtergebnisorientierten, sondern „procedure-oriented“,965 die eigenständige Bedeutung des Verfahrens an sich betonenden Sicht auf das Verfahren aufzeigen. In Auseinandersetzung mit den Forschungen von Thibaut und Walker und der Frage, ob und inwieweit die process control ein Kriterium für die subjektive Bewertung eines Verfahrens als fair in Abhängigkeit oder unabhängig von dem Verfahrensergebnis sei, betonen Lind und Tyler sowie mit ihnen andere Forscher die vom Verfahrensergebnis losgelöste bzw. losgelöst zu betrachtende Bedeutung jenes Kriteriums für die Fairness-Bewertung eines Verfahrens: 281
„… The psychological processes underlying the process control effect have become the subject of some debate in recent years. The argument centers around the issue … of whether outcomes and outcome-related variables can account for the effect. Some explanations of the process control effect, most notably those of Thibaut and Walker (1978) and Brett (1986), are based on assertions linking process control to the outcome of a procedure. An opposing view has been advanced by Tyler, Rasinski, and Spodick (1985) who assert that the process control effect is based on reactions to the procedure per se, independent of its relation to the outcome …“966
282
Die verfahrensergebnisunabhängige, mit dem Verfahren als solchem in seiner eigenständigen Bedeutung in Verbindung stehende Relevanz des process control effect für die Fairness-Bewertung eines (Straf-)Verfahrens findet in den von Linder und Tyler beschriebenen Momenten von «expression and consideration of arguments» eine nähere inhaltliche Konkretisierung, die auch mit Blick auf die Frage nach der Bedeutung der (Prozess-)Subjekthaftigkeit des Angeklagten und seine wirksame Teilnahme am Straf- und Beweisverfahren von Wichtigkeit ist. Haben bereits Thibaut und Walker, wenn auch mit Bezugnahme auf das Verfahrensergebnis, die Bedeutung der Prozesskontrolle der streitenden Parteien im Verfahren und Beweisverfahren für die subjektive Fairness-Bewertung hervorgehoben, so betonen ebenso Lind und Tyler in ihrer nicht «outcome-oriented», sondern «procedureoriented» Betrachtung des Verfahrens967 und in einer Ausdifferenzierung des process control-Kriteriums, dass für die Fairness-Bewertung eines Verfahrens zum einen die Möglichkeit der streitenden Parteien wichtig ist, ihre eigenen Argumente, Meinungen, Informationen und mit diesen «ihre eigene Sicht der Geschichte» zur Sprache bringen zu können. Eng und untrennbar damit ver965 966
967
196
LIND/TYLER, S. 96. LIND/TYLER, S. 95, 96 (Hervorhebung Lind/Tyler: «per se», übrige Hervorhebung Demko), siehe zu näheren Ausführungen zu “Control over Process and Decision” (S. 94) auf den S. 94 ff. Siehe dazu LIND/TYLER, S. 96.
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
bunden ist zum anderen der Gesichtspunkt wichtig, dass die die Entscheidung treffende Person (im Strafverfahren mithin der Richter bzw. das Gericht) den zur Sprache gebrachten Ansichten, Meinungen und Informationen der streitenden Parteien auch entsprechende Beachtung und Berücksichtigung gibt.968 Die schon bei den philosophischen Begründungslinien herausgearbeitete «anerkannt gelebte Subjektivität»,969 welche dem Angeklagten für ein faires Strafverfahren zu gewährleisten ist, und die damit in Zusammenhang stehenden Anknüpfungspunkte für ein dem Angeklagten für ein faires Strafverfahren einzuräumendes Recht auf Teilhabe und einen Teilhaberahmen sind mithin auch hier im Rahmen der psychologischen Begründungslinien für ein Menschenrecht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren sichtbar gemacht. Bei Lind und Tyler heisst es insoweit: „… The opportunity to express one`s opinions and arguments – the chance to tell one`s own side of the story – is a potent factor in the experience of procedural justice. A closely related finding is that, in order for procedural justice to be experienced in a dispute resolution, one must feel that the third party is giving due consideration to the views and information expressed by the disputants …“970
283
Diese, die process control ausdifferenzierende Momente einer (erstens) für die streitenden Parteien im Verfahren bestehenden Möglichkeit, sich mit ihren individuellen Ansichten und Informationen zur Sprache bringen zu können sowie (zweitens), mit diesen ihren Ansichten und Informationen von den das Verfahrensergebnis entscheidenden Personen auch berücksichtigt zu werden, sind unter Bezugnahme auf weitere Forschungen ausgesprochen worden als „value in and of itself“:971
284
„… A quite different etiology of the effect is suggested by Tyler, Rasinski, and Spodick, who attribute the enhancement of procedural fairness directly to the expression of values permitted under high process control. This value-expression explanation accounts for the process control effect by arguing that the mere experience of an opportunity for expression will be seen as fair – there is no reference to the outcome of the procedure … The value-expressive view is based on the notion that there are situations in which the opportunity to speak has value in and on itself, regardless of the capacity of the speech to secure other outcomes …“972
285
968
969 970 971 972
Siehe zur notwendigen Beachtung beider Gesichtspunkte auch die Ausführungen im Zusammenhang mit dem Anspruch des Angeklagten auf rechtliches Gehör unter Kap. 4 B. III. 1. Zur «anerkannt gelebten Subjektivität» im Rahmen der philosophischen Begründungslinien siehe bereits unter Kap. 3 B. II. 1. LIND/TYLER, S. 101 (Hervorhebung Demko). LIND/TYLER, S. 101 (Hervorhebung Demko). LIND/TYLER, S. 96, 101 (Hervorhebung Demko); siehe auch RÖHL, ZfRSoz 1993, S. 9 zu den empirischen Forschungen von Lind und Tyler: „Den Menschen sei es wichtiger, wie sie behandelt würden, als was sie bekämen“.
197
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht 286
Die Anerkennung als (Prozess-)Subjekt und des auch Handeln-Könnens als (Prozess-)Subjekt, um auf diese Weise – in dieser «handelnden Prozesssubjektivität» – am Straf- und Beweisverfahren wirksam teilnehmen zu können, welche mit dem Kriterium der process control der streitenden Parteien in den dargestellten outcome-oriented und procedure-oriented sozialpsychologischen Forschungen für die Bewertung eines Verfahrens als eines fairen Verfahrens angesprochen ist, findet des Weiteren Ausdruck in den von Leventhal benannten sechs Kriterien bzw. „Variablenkomplexe(n)“,973 welche für das Ausmass subjektiv empfundener Fairness eines Verfahrens als wichtig angesehen werden.974 Bringen einige der Fairnesskriterien von Leventhal mehr das Moment der erforderlichen Objektivität strafprozessualer Wahrheitsermittlung, andere mehr das Moment des Subjekthaften zum Ausdruck,975 so sind es erst die Gesamtheit und das Zusammenwirken dieser Kriterien, was für die subjektive Bewertung eines (Straf-)Verfahrens als fair bestimmend ist.
287
Mit der Genauigkeitsregel, die das Zugrundlegen optimaler Informationen betrifft und die mit Blick auf das strafprozessuale Beweisverfahren die Zuverlässigkeit der Tatsachenfeststellung anspricht,976 sowie mit der die Verhinderung von Parteilichkeit und Voreingenommenheit der das Verfahren(sergebnis) entscheidenden Personen betreffenden Unvoreingenommenheitsregel ist das die Objektivität wahrende Moment strafprozessualer Wahrheitsermittlung angesprochen.977 Mit der Korrigierbarkeitsregel, die zur Beseitigung von Fehlern Möglichkeiten der Korrektur vorsieht – zu denken ist etwa an die strafprozessualen Rechtsmittelverfahren, aber auch an korrigierende Einflussnahmen des Angeklagten auf das Fortschreiten der Wahrheitsermittlung bereits im erstinstanzlichen Verfahren –,978 ist das Moment des ZweifelBehafteten eines jeden menschlichen und auch des von Menschen durchgeführten strafverfahrensrechtlichen Erkenntnisverfahrens auf der Suche nach der Wahrheit angesprochen: Geknüpft ist hier zugleich eine Verbindung zum Moment des Subjekthaften, indem es dem Angeklagten im gesamten Strafverfahren möglich sein muss, als (Prozess-)Subjekt handelnd jene Korrektur von Fehlern einzuleiten und zu erwirken. 973 974
975 976
977
978
198
RÖHL, ZfRSoz 1993, S. 11. Siehe näher LEVENTHAL, Equity Theory S. 27 ff.; siehe zur Auseinandersetzung mit den Kriterien von Leventhal auch RÖHL, ZfRSoz 1993, S. 11, 12; MACHURA, S. 80, 81; BIERBRAUER, Gerechtigkeit, S. 322 ff. Siehe dazu auch bereits unter Kap. 2 B. II. Siehe zur Zuverlässigkeit der Tatsachenfeststellung instruktiv auch GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 99 f., 103 ff. Siehe dazu und zur Genauigkeits- und Unvoreingenommenheitsregel LEVENTHAL, Equity Theory S. 39 ff.; RÖHL, ZfRSoz 1993, S. 11; MACHURA, S. 80, 81. Siehe dazu und zur Korrigierbarkeitsregel LEVENTHAL, Equity Theory S. 39 ff.; RÖHL, ZfRSoz 1993, S. 11; MACHURA, S. 80; BIERBRAUER, Gerechtigkeit, S. 323.
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
In besonders deutlicher Weise drückt sich das für den Angeklagten wichtige Moment, als (Prozess-)Subjekt auf das Straf- und Beweisverfahren Einfluss ausüben zu können, in der Repräsentativitätsregel aus.979 Diese besagt, dass die vom Verfahren betroffenen Personen die Möglichkeit haben müssen, sich mit ihren Ansichten, Informationen und Interessen in allen Phasen des Verteilungsprozesses Gehör zu verschaffen und durch die Darlegungen und das zur Sprache-Bringen-Können ihrer Ansichten, Informationen und Interessen – mithin ihrer Sicht von der in Rede stehenden Sache und ihres Standpunktes dazu – auf das Strafverfahren, einschliesslich des strafprozessualen Beweisverfahrens wirksam Einfluss zu nehmen.
288
Mit der Repräsentativitätsregel von Leventhal drückt sich das aus, was Thibaut und Walker mit ihrem process control-Kriterium und was Lind und Tyler mit dem von ihnen betonten Moment von «expression and consideration of arguments» als das für die subjektive Fairness-Bewertung eines (Straf-)Verfahrens wichtige Fairness-Kriterium herausheben: Es geht um die Anerkennung und Beachtung der Prozesssubjektivität des Angeklagten und um deren Verwirklichung in Gestalt einer dem Angeklagten einzuräumenden wirksamen Einflussnahme auf das Straf- und Beweisverfahren.980 Die grosse Bedeutung der Prozesssubjektivität und der damit angesprochenen Möglichkeit der wirksamen Einflussnahme der vom Verfahren Betroffenen auf das (Streit-)Verfahren gerade in justizförmigen Auseinandersetzungen deutlich machend, heisst es mit Blick auf die Repräsentativitätsregel von Leventhal bei Lind und Tyler:
289
„… The study supports the Thibaut and Walker focus on issues of control in dispute resolution procedures: Representation, which includes process and decision control, was the feature most strongly related to procedural justice judgments …“981
290
Die Repräsentativitätsregel spricht das Moment der Verteilung von Kontrolle,982 das „Problem der Machtverteilung“983 an und macht die Relevanz der
291
979
980
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Siehe dazu und zur Repräsentativitätsregel LEVENTHAL, Equity Theory S. 39 ff.; RÖHL, ZfRSoz 1993, S. 11; MACHURA, S. 80, 81; BIERBRAUER, Gerechtigkeit, S. 324. Siehe zur Verbindung zwischen der Repräsentationsregel von Leventhal und der process control-Variable von Thibaut und Walker auch RÖHL, ZfRSoz 1993, S. 11: „Dieser Teil der Repräsentativregel entspricht der Process-Control-Variablen bei Thibaut und Walker“. LIND/TYLER, S. 109; siehe auch RÖHL, ZfRSoz 1993, S. 10 bezugnehmend auf Lind und Tyler, nach denen Verfahrensgerechtigkeit mindestens ebenso wichtig sei für die Gesamtzufriedenheit mit Verteilungsentscheidungen wie die Ergebnisgerechtigkeit und die Verfahrensgerechtigkeit an Wichtigkeit zunehme, wenn es um die Einstellung „gegenüber Gerichten, Behörden und staatlichen Institutionen“ gehe. Siehe zur unterschiedlichen Verteilung von Kontrolle im inquisitorischen und kontradiktorischen Verfahrensmodell bei BIERBRAUER, Gerechtigkeit, S. 321, 322. BIERBRAUER, Gerechtigkeit, S. 324.
199
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
„Möglichkeiten zur Partizipation“984 der vom Verfahren Betroffenen an dem Verfahren für die subjektive Fairnesseinschätzung deutlich. Diese für die Verfahrensbetroffenen bestehende Möglichkeit eines Involviert-Seins985 in das Verfahren und einer „persönliche(n) Kontrolle“986 hat für die subjektive Vorstellung von Gerechtigkeit und Fairness ein tragendes Gewicht, wie sich auch in dem von Bierbrauer in Bezug genommenen Forschungsbeispiel zeigt, in welchem die Angeklagten in einem simulierten Gerichtsverfahren demjenigen Verfahren eine grössere Fairness zuschreiben, „bei dem sie eine gröβere Kontrolle bei dem Einbringen und bei der Interpretation der Beweismittel haben“.987 292
Trotz unterschiedlicher Betonung des Verhältnisses zwischen Verfahren und Verfahrensergebnis ist in den empirischen Untersuchungen der sozialpsychologischen Forschung die Bedeutung der (Prozess-)Subjektivität der vom Verfahren Betroffenen für die Einschätzung eines Verfahrens als fair sichtbar gemacht. Die Anerkennung der Verfahrensbetroffenen als (Prozess-)Subjekt und damit verbunden das Ernstnehmen von deren Anliegen sowie die ihnen einzuräumende Möglichkeit, sich in aktiv handelnder Weise mit ihren Anliegen, ihrem Wissen und ihren Ansichten in das Verfahren einzugeben und dieses damit (mit)zubeeinflussen, kommen sowohl in dem von Thibaut und Walker herausgestellten process control-Kriterium als auch in dem von Lind und Tyler betonten Moment von «expression and consideration of arguments» sowie nicht zuletzt in der Repräsentativitätsregel von Leventhal zum Ausdruck.988 Diese für einen Verfahrensbetroffenen und im Strafverfahren für den Angeklagten bestehende, aus der Achtung als (Prozess-)Subjekt fliessende Möglichkeit der wirksamen Teilnahme an dem und der wirksamen Einflussnahme auf das Verfahren – welche die „Bedeutung von personaler Fairneβ in sozialen Beziehungen“989 anspricht – hat sich in der sozialpsychologischen Forschung als eines der wichtigen Kriterien für die subjektive Einschätzung eines Verfahrens als eines fairen Verfahrens erwiesen.990 984 985
986
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200
MACHURA, S. 80. Zum tatsächlichen oder symbolischen Involviert-Sein siehe BIERBRAUER, Gerechtigkeit, S. 324. Zur persönlichen Kontrolle der vom Verfahren Betroffenen und deren Relevanz für ihre subjektive Einschätzung von Gerechtigkeit und Fairness siehe mit Nachweisen auf weitere sozialpsychologische Forschungen BIERBRAUER, Gerechtigkeit, S. 322. BIERBRAUER, Gerechtigkeit, S. 324 (Hervorhebung Demko) mit Verweis auf Thibaut, Walker, La Tour und Houlden. Siehe insbesondere zu den verschiedenen Forschungsakzenten von Lind und Tyler die Hinweise von RÖHL, ZfRSoz 1993, S. 19. MACHURA, S. 308. Zur Statusanerkennung der Gruppenmitglieder innerhalb der Gruppe und dem von ihnen wahrgenommenen Wohlwohlen der Gruppe und der Autoritäten ihnen gegen-
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
Die in den sozialpsychologischen Forschungen empirisch nachgewiesene Bedeutung der den Verfahrensbetroffenen ermöglichten prozesssubjektwahrenden Einflussnahme auf das Verfahren stellt sich bei dem in den Mittelpunkt-Rücken des „Blickwinkel(s) der einzelnen Person“991 und mit diesem der subjektiven Fairnessvorstellungen992 als massgebliches und (mit)bestimmendes Kriterium für die subjektive Einschätzung eines Verfahrens als fair dar. Als Urteilskategorien nicht nur für die Bewertung individueller Handlungen und Entscheidungen, sondern als „Kriterien für die Legitimität eines sozialen Programms oder einer politischen Entscheidung“993 ist es eben diese die Mikroebene ansprechende, empirisch nachgewiesene subjektive Vorstellung von Fairness von Verfahren als Gradmesser dafür, „welcher Grad an Legitimität“994 einem (Straf-)Verfahren zugesprochen wird, welche den makrotheoretischen Forschungsrichtungen an die Seite zu stellen ist: Angesprochen ist eine einzugehende und/oder zu verstärkende, einen wertvollen Erkenntnisgewinn versprechende Verbindung zwischen Empirischem der sozialpsychologischen Forschungen zur Procedural Justice und normativen Forschungskonzeptionen etwa der Philosophie und der juristischen Verfahrenslehren.995
991 992
993 994 995
über als „die stärksten Prädikatoren für die wahrgenommene Fairneβ“ (S. 308) siehe mit weiteren Hinweisen auf sozialpsychologische Forschungen MACHURA, S. 82 f., 308 f. BIERBRAUER, Gerechtigkeit, S. 318. Zu der subjektiven Perspektive der sozialpsychologischen Untersuchungen siehe bereits die vorgängigen Ausführungen; siehe dazu näher etwa BARTON, Opferschutz, S. 244, 245. BIERBRAUER, Gerechtigkeit, S. 317 (Hervorhebung Demko). BIERBRAUER, Gerechtigkeit, S. 318. Zum Erstaunen von Bierbrauer darüber, welche geringe Bedeutung den subjektiven Gerechtigkeitsvorstellungen innerhalb der Verfahrensrechtslehre auch von sozialwissenschaftlich orientierten Juristen beigemessen wird, siehe BIERBRAUER, Gerechtigkeit, S. 325 FN 1; zur Bezugnahme auf philosophische und sozialwissenschaftliche Forschungen im Rahmen von Ausführungen (auch) zu sozialpsychologischen Forschungen, u.a. auf Luhmann, Rawls, Habermas oder Alexy siehe etwa MACHURA, S. 80, 81 bezugnehmend auf Luhmann und Habermas; RÖHL, ZfRSoz 1993, S. 19 ff., 26, 27 bezugnehmend auf u.a. Luhmann, Rawls, Habermas, Alexy; BIERBRAUER, Gerechtigkeit, S. 321 bezugnehmend auf Rawls; eine Anstrengung zur Kombination von empirischen und normativen sowie mikrotheoretischen und makrotheoretischen Forschungsrichtungen als „wechselseitige Bereicherung der unterschiedlichen Arbeiten zur Verfahrensgerechtigkeit“ (S. 29) hebt zutreffend Röhl hervor, RÖHL, ZfRSoz 1993, S. 29.
201
293
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
III.
Verankerung des Menschenrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren in menschenrechtlichen und strafverfahrensrechtlichen Rechtsinstrumenten
294
Die Untersuchungen zu den philosophischen und psychologischen Begründungslinien eines Menschenrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren haben gezeigt, dass für ein als fair, als ingesamt gerecht zu bewertendes Strafverfahren die Subjektstellung des Angeklagten – mithin die aus der Menschenwürde fliessende Prozessubjektivität des Angeklagten und deren Verwirklichung in Form einer dem Angeklagten einzuräumenden aktiven und wirksamen Teilnahme am Strafverfahren – als ein wichtiges, mehr noch, als ein massgebendes und erforderlich zu achtendes Grundmoment eines als fair zu bewertenden Strafverfahrens angesehen wird. Anknüpfend daran ist im folgenden der Frage nachzugehen, ob und in welcher Weise sich die Verbindung zwischen der Fairness des Strafverfahrens und der zu wahrenden Prozesssubjektivität des Angeklagten auch in einer normativen, einer normativrechtlichen Verankerung, und zwar auf der internationalen, regionalen und nationalen Menschenrechts- sowie Strafverfahrensrechtsebene, wiederfindet und sich hier in einem Menschenrecht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren ausformt.
295
Auf der Suche nach einer solchen normativen Verankerung des Menschenrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren und dem spezifischen Bedeutungsgehalt dieses Menschenrechts werden zunächst verschiedene internationale und regionale Menschenrechtsinstrumente996 und anschliessend ausgewählte strafverfahrensrechtliche Rechtsinstrumente auf nationaler und internationaler Ebene untersucht.997 Geleitet von der Frage nach Verknüpfungslinien zwischen der Fairness des Strafverfahrens und der Prozesssubjektivität des Angeklagten ist der Blick hierbei auch darauf zu richten, welche Verbindungen zwischen den Verfahrens- bzw. genauer den Verteidigungsrechten des Angeklagten und seinem Gesamtrecht auf ein faires Strafverfahren in den menschenrechtlichen und strafverfahrensrechtlichen Rechtsinstrumenten hergestellt und sichtbar gemacht sind sowie zudem darauf, was als wesensbestimmender Bedeutungsgehalt der Verteidigungsrechte des Angeklagten zu erkennen ist, welcher sich als unverzichtbares inhaltliches Grundmoment zugleich des Gesamtrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren erweist.
996 997
202
Siehe dazu unter Kap. 3 B. III. 1. Siehe dazu unter Kap. 3 B. III. 2.
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
1.
Verankerung des Menschenrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren in internationalen und regionalen Menschenrechtsinstrumenten
a)
Internationale Menschenrechtsinstrumente: Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und der Internationale Pakt über Bürgerliche und Politische Rechte
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) vom 10. Dezember 1948998 spricht u.a. in ihrer Präambel999 und in Art. 1 AEMR von der Würde des Menschen sowie den zu wahrenden Menschenrechten und stellt eine Verbindung zu Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt her.1000 Das die gesamte AEMR tragende Streben nach Anerkennung und Schutz von Menschenwürde und Menschenrechten konkretisiert die AEMR in ihren Artikeln jeweils bezogen auf verschiedene Aspekte und Facetten des menschlichen Seins und Lebens. Jene der gesamten AEMR zugrundeliegende Achtung der Menschenwürde gibt für das Verständnis und die Interpretation ihrer einzelnen Artikel wichtige Richtungen vor und ist – auch wenn im Text der Art. 10 und 11 AEMR nicht ausdrücklich von der Menschenwürde gesprochen wird – entsprechend von Bedeutung auch für die das Recht auf ein faires Verfahren betreffenden Art. 10 und Art. 11 AEMR.
296
Als „Debüt des fairen Verfahrens auf der internationalen Bühne“1001 ist im Text des Art. 10 AEMR nicht nur von dem «fair hearing», sondern auch von dem Recht auf jenes («is entitled») zu lesen und es sind des Weiteren einzelne Elemente eines fairen (Straf-)Verfahrens in Art. 10 und 11 AEMR ausdrücklich aufgenommen und benannt: Art. 10 AEMR spricht von einer vollen Gleichberechtigung («in full equality»), einem öffentlichen («public») Verfahren sowie von einem unabhängigen und unparteiischen Gericht («independent and impartial tribunal»). Absatz 1 von Art. 11 AEMR enthält die Unschuldsvermutung und die Rede ist hier zudem von einem öffentlichen Verfahren, in dem der Beschuldigte alle für seine Verteidigung notwendigen Garantien gehabt habe («in a public trial at which he has had all the guarantees necessary for his defence»).
297
998
999 1000
1001
Allgemeine Erklärung für Menschenrechte vom 10. Dezember 1948, GA Res. 217 (III), S. 71 ff. Siehe Abs. 1 und Abs. 5 der Präambel der AEMR, GA Res. 217 (III), S. 71, 72. Siehe dazu Abs. 1 der Präambel der AEMR, GA Res. 217 (III), S. 71: „… recognition of the inherent dignity and of the equal and inalienable rights of all members of the human family is the foundation of freedom, justice and peace in the world“ (Hervorhebung Demko); siehe dazu auch MEYER-LADEWIG, NJW 2004, S. 981. MILEJ, S. 23; siehe zur AEMR auf dem Entwicklungsweg des Rechts auf ein faires Verfahren auf globaler Ebene auch KAMARDI, S. 68 ff.
203
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht 298
Auch wenn bei einem blossen Lesen des Wortlautes von Art. 10 AEMR der Begriff «fair» auf den ersten Blick als ein Begriff erscheinen könnte, der gleichrangig neben den anderen Begriffen steht, so zeigt nicht nur die Geschichte der Entwicklung hin zum heutigen Art. 10 AEMR,1002 sondern zeigt auch das heutige Auslegungsverständnis dieses Artikels, dass der Begriff der Fairness derjenige ist, der jenen Artikel als ein übergeordneter Begriff massgebend prägt.1003 War zwar im ersten, dem Entwurfsausschuss der Menschenrechtskommission vorgelegten Entwurf der Begriff «fair» noch nicht ausdrücklich enthalten,1004 wurde nachfolgend in mehreren Vorschlägen und Entwürfen ausdrücklich von einem «fair trial» oder einem «fair hearing» gesprochen.1005 Nicht aber nur überhaupt ist der Begriff «fair» in die Entwurfstexte aufgenommen worden, sondern seine das Verfahren leitend bestimmende, weil übergeordnete und die einzelnen Fairnessaspekte in sich aufnehmende Bedeutung zeigte sich insbesondere in jener Diskussion über den Entwurf, in welcher ein Teil der Vertreter die ausdrückliche Aufnahme 1002
1003 1004
1005
204
Zur Geschichte der Entwicklung hin zum heutigen Art. 10 AEMR siehe mit weiteren Nachweisen MILEJ, S. 23 ff. Siehe dazu u.a. MILEJ, S. 28; VERDOODT/CASSIN, S. 125 ff. und insbesondere S. 129 f. Vgl. UN Dok. E/CN.4/AC.1/3/Add.1 S. 235: In Artikel 27 heisst es: „There shall be access to independent and impartial tribunals for the determination of rights and duties under the law. Every one has the right to consult with and to be represented by counsel“. Siehe u.a. UN Dok. E/CN.4/AC.1/3/Add.1 S. 235 zum von Panama vorgeschlagenen Entwurf eines Art. 7, in dem im S. 1 von einem Jedermann-Recht („Every one has the right“), einem fairen Verfahren („fair public trial by a competent tribunal“) und der Möglichkeit zu einem «full hearing» („before which he has had opportunity for a full hearing“) gesprochen wird sowie in S. 2 davon, dass „(T)he state has a duty to maintain adequate tribunals and procedures to make this right effective“ (Hervorhebung Demko); siehe auch UN Dok. E/CN.4/21 Annex A S. 17 zu Artikel 26: „fair trial at which he has had an opportunity for a full public hearing“ (Hervorhebung Demko); zu den Vorschlägen der Vereinigten Staaten von Amerika siehe UN Dok. E/CN.4/21 Annex C, S. 41, 42: Artikel 8 spricht u.a. von „… a fair public trial at which he has had the opportunity for a full hearing, the right to be confronted with the witnesses against him, the right of compulsory process for obtaining witnesses in his favour …“ (Hervorhebung Demko), was aufzeigt, dass das Konfrontationsrecht des Angeklagten als Bestandteil eines fairen Verfahrens angesehen wurde, siehe auch Artikel 9 und 10: „before which he has the opportunity for a fair hearing“ (Hervorhebung Demko); UN Dok. E/CN.4/36/Add. 2 S. 4: HRDC-Text: „… fair and public trial at which he has had an opportunity for a full hearing and has been given all guarantees necessary for his defence …“ und U.S. Short Form: „Everyone … is entitled to a fair hearing …“ (Hervorhebung Demko); UN Dok. E/CN.4/99, S. 2: Article 7: „… He shall be entitled to a fair hearing of his case …“ und Substitute: „… is entitled to a fair hearing …“ (Hervorhebung Demko); siehe dazu auch mit weiteren Ausführungen zur Entwicklung der AEMR MILEY, S. 24 ff.
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
der einzelnen Aspekte und Facetten eines fairen Verfahrens in den Text forderten, während von der Seite anderer Vertreter und auch des Vorsitzenden darauf hingewiesen wurde, dass mit dem Fairnessbegriff seine einzelnen Aspekte und Facetten – auch ohne ausdrückliche Nennung dieser im Text – miterfasst und gedeckt seien („covered all provisions“1006).1007 Diese schon damals geführte Diskussion erinnert an auch heute u.a. im Zusammenhang mit Art. 6 EMRK geführte Diskussionen über das Verständnis des einmal als zu unbestimmt, das andere Mal als hinreichend bestimmt angesehenen Fairnessbegriffs sowie über das Verhältnis zwischen der «Gesamtfairness» eines Verfahrens und den einzelnen, zu einem fairen Verfahren gezählten, benannten und unbenannten spezifischen Teilaspekten und Mindestrechten.1008 Auch wenn die AEMR selbst als eine Resolution der UN-Generalversammlung völkerrechtlich nicht verbindlich ist, hatte und hat diese Vorbildund Leitfunktion für zahlreiche anschliessend erlassene Menschenrechtsinstrumente,1009 welche darauf zielen, die in der AEMR enthaltenen, dem Menschenwürde- und Menschenrechte-Schutz verpflichteten Bestrebungen in rechtsverbindliche Formen umzusetzen. Zu nennen sind (u.a.) auf internationaler Ebene der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR)1010 und der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte1011 sowie auf regionaler Ebene, genauer auf europäischer Ebene die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK).1012
299
In Art. 14 Abs. 1 IPbpR heisst es: «All persons shall be equal before the courts and tribunals. In the determination of any criminal charge against him … everyone shall be entitled to a fair and public hearing by a competent, independent and impartial tribunal established by law …».1013 Als ein Indivi-
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1012 1013
UN Dok. E/CN.4/SR.54, S. 10. Siehe im Einzelnen zu jener Diskussion UN Dok. E/CN.4/SR.54, S. 8 – 11, insbesondere zwischen den Vertretern der Sowjetunion, die eine präzisere Benennung einzelner Fairnesselemente vorschlugen (S. 8, 9), und von Indien, wonach „the ChineseIndian-United Kingdom draft was simpler and covered all provisions of the USSR amendment“ (S. 10, Hervorhebung Demko), siehe auch S. 10: „The CHAIRMAN agreed with the Indian representative`s remarks“. Siehe zur EMRK unter Kap. 3 B. III. 1. b) cc). GOLLWITZER, Einf. MRK/Einf. IPBPR, S. 102 f. N 6; HAILBRONNER, S. 230 f. N 222 f.: „Standard …, an dem Fortschritte im Bereich des Menschenrechtsschutzes gemessen werden können“ (N 223). International Covenant on Civil and Political Rights, UNTS 999, 171, unterzeichnet am 16.12.1966, in Kraft getreten am 23.03.1976. International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights, General Assembly Resolution 2200 A (XXI), unterzeichnet an 16.12.1966, in Kraft getreten am 03.01.1976. Siehe zur EMRK unter Kap. 3 B. III. 1. b) cc). Hervorhebung Demko.
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Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
dualrecht («be entitled») ausformuliert ist in diesem Vertragstext des Absatzes 1 des Art. 14 IPbpR von einem fair hearing die Rede. Des Weiteren sind einzelne spezielle Rechte des Angeklagten (Abs. 2: «have the right», Abs. 3: «be entitled to the following minimum guarantees») in den Absätzen 1, 2 und 3 von Art. 14 IPbpR benannt. Diese speziell aufgeführten Einzelrechte werden als Anwendungsfälle des umfassenden Rechts auf ein faires Verfahren verstanden, welche in dem Konzept des fair hearing („the concept of a fair hearing“1014) als seine Elemente enthalten seien, in welchen allein sich aber die Fairness des Verfahrens als ein die Gesamtheit des Verfahrens erfassendes umfangreiches Recht mit „selbständige(m) Potential“1015 nicht erschöpfe.1016 301
Fiel schon auf dem Weg zur Ausarbeitung des Textes von Art. 10 AEMR auf, dass der Fairnessbegriff einmal mit dem Begriff «trial», das andere Mal mit dem Begriff «hearing» verknüpft wurde, so zeigte sich dies ebenso im Zusammenhang mit Art. 14 IPbpR und wiederholte sich auch im Kontext von Art. 6 EMRK.1017 Spricht der Text des Art. 14 Abs. 1 IPbpR ausdrücklich von einem «fair hearing», so verwendet der UN-Menschenrechtsausschuss teils die Verknüpfung «fair hearing», häufig(er) jedoch auch die Verknüpfung «fair trial».1018 Scheint der UN-Menschenrechtsausschuss die Formulierung 1014
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MRA v. 28.7.1989, Morael/France, CCPR/C/36/D/207/1986 N 9.3.; siehe auch Fei/Colombia, CCPR/C/53/D/514/1992, N 8.2, 8.3, 8.4. MILEJ, S. 32 mit weiteren Ausführungen. Siehe dazu etwa MRA v. 28.7.1989, Morael/France, CCPR/C/36/D/207/1986 N 9.3: „The first question before the Committee is whether the author is victim of a violation of article 14 (1) of the Covenant because, as he alleges, his case did not receive a fair hearing within the meaning of that paragraph … Although article 14 does not explain what is meant by a "fair hearing" in a suit at law (unlike paragraph 3 of the same article dealing with the determination of criminal charges), the concept of a fair hearing in the context of article 14 (1) of the Covenant should be interpreted as requiring a number of conditions, such as equality of arms, respect for the principle of adversary proceedings, preclusion of ex officio reformatio in pejus (ex officio correction worsening an earlier verdict), and expeditious procedure. The facts of the case should accordingly be tested against those criteria“ (Hervorhebung Demko); siehe mit weiteren Hinweisen und Stellungnahme auch MILEJ, S. 31 f. Siehe dazu sogleich unter Kap. 3 B. III. 1. b) cc) (1). MRA, 25.08.2004, Khomidova/Tajikistan, CCPR/C/81/D/1117/2002, N 6.6: „the right to a fair trial as set out in article 14 of the Covenant“; MRA, 26.04.1995, Fei/Colombia, CCPR/C/53/D/514/1992, N 8.2, 8.3, 8.4: „(T)he concept of a ”fair trial” within the meaning of article 14, paragraph 1“; MRA, 05.11.1992, Karttunen/Finland, CCPR/C/46/D/387/1989, N 7.2: „the right to a fair trial within the meaning of article 14, paragraph 1“; MRA, 19.09.2003, Casafranca de Gomez/ Peru, CCPR/C/78/D/981/2001, N 7.3: „a violation of article 14 of the right to a fair trial taken as a whole“; von dem «fair hearing» wird hingegen gesprochen in: MRA,
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
«fair hearing» bezogen auf den Verfahrensablauf selbst zu verwenden und mit dieser Formulierung damit eine speziellere und engere Bedeutung anzusprechen,1019 so bezieht er bei der Verwendung der Formulierung «fair trial» diese nicht (nur) auf den Verfahrensablauf, sondern darüber hinaus u.a. auch auf institutionsbezogene, gerichtsbezogene Merkmale.1020 Mit jener inhaltlich weiter verstandenen Formulierung «fair trial» ist der Art. 14 IPbpR damit in dessen Ganzheit unter Einbeziehung sämtlicher verfahrens- sowie institutionsbezogener Verfahrensgarantien, welche für ein insgesamt faires Verfahren für erforderlich gehalten werden, in den Blick genommen.1021 Auch Art. 14 IPbpR selbst lässt sich anführen zum einen für einen engeren Bedeutungsbezug des «fair hearing» – bezogen auf den Verfahrensablauf als solchen – und zum anderen aber zudem für den weit(er)en, genauer den gesamten Art. 14 IPbpR erfassenden Bedeutungsbezug des «fair trial»: Denn dort heisst es, dass das «fair hearing» vor einem «competent, independent and
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1020
1021
23.08.2004, Deisl/Austria, CCPR/C/81/D/1060/2002, N 11.2: „The Committee further recalls that the right to a fair hearing under article 14, paragraph 1“, während in N 11.4 allgemein vom Konzept der Fairness die Rede ist: „a violation of the concept of fairness enshrined in article 14, paragraph 1“; siehe auch MRA, 07.11.2001, Äärelä and Näkkäläjärvi/Finland, CCPR/C/73/D/779/1997, N 7.3, 7.4. Zur impliziten Herleitung näher MILEJ, 30; siehe auch MRA, 23.08.2004, Deisl/Austria, CCPR/C/81/D/1060/2002, N 11.2: „The Committee further recalls that the right to a fair hearing under article 14, paragraph 1, entails a number of requirements, including the condition that the procedure before the national tribunals must be conducted expeditiously“; siehe auch MRA, 07.11.2001, Äärelä and Näkkäläjärvi/Finland, CCPR/C/73/D/779/1997, N 7.3: „unfairness into the hearing“ (N 7.3), während der Fairnessbegriff zugleich aber auch mit procedure, proceedings und trial verbunden wurde: „unfairness in the particular proceedings“ (N 7.3), „right to a fair trial“ (N 7.4). Siehe etwa MRA, 25.08.2004, Khomidova/Tajikistan, CCPR/C/81/D/1117/2002, N 2.9, 6.5, 6.6: „the trial of Mr. Khomidov was unfair, as the court did not fulfil its obligation of impartiality and independence“ (N 6.5); institutionsbezogene Elemente ansprechend sowie auf ein umfassendes Verständnis des Verfahrens als Gesamtheit hinweisend siehe auch MRA, 26.04.1995, Fei/Colombia, CCPR/C/53/D/514/1992, N 8.2, 8.3, 8.4: „the Colombian judicial authorities failed to observe their obligation of independence and impartiality“ (N 8.3) und „(T)he concept of a "fair trial" within the meaning of article 14, paragraph 1, however, also includes other elements. Among these, as the Committee has had the opportunity to point out, … are the respect for the principles of equality of arms, of adversary proceedings and of expeditious proceedings“ (N 8.4); MRA, 18.09.2004, CCPR/C/81/D/811/1998, N 6.2; Karttunen/ Finland, CCPR/C/46/D/387/1989, N 7.2: „The impartiality of the court and the publicity of proceedings are important aspects of the right to a fair trial within the meaning of article 14, paragraph 1“. Siehe dazu auch die Angaben in den vorangehenden und nachfolgenden Fussnoten; dazu zudem MILEJ, 30 ff.
207
302
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
impartial tribunal established by law» stattzufinden hat und angeführt sind in den Absätzen 1, 2 und 3 weitere zu beachtende spezielle Einzelrechte, welche es (wenn auch allein nicht genügend1022) für ein insgesamt – und dabei mithin sowohl verfahrensbezogene als auch institutionsbezogene Verfahrenselemente einschliessend – faires Verfahren („the right to a fair trial taken as a whole“1023) braucht.1024 Unterstützt wird dies durch Ausführungen des Menschenrechtsausschusses zur komplexen Natur („of a complex nature“1025) von Artikel 14 IPbpR sowie dazu, dass der Begriff des «fair trial» das zu garantierende «fair hearing» miteinschliesse.1026 Im General Comment 13 [21] heisst es: 303
„… The Committee notes that article 14 of the Covenant is of a complex nature and that different aspects of its provisions will need specific comments. All of these provisions are aimed at ensuring the proper administration of justice, and to this end uphold a series of individual rights such as equality before the courts and tribunals and the right to a fair and public hearing by a competent, independent and impartial tribunal established by law …“1027
304
Auf das Verhältnis von «fair trial» und «fair heraring» bezugnehmend und letzteres als Teil und Bedeutungsausschnitt des «fair trial» zu erkennen gebend, heisst es im General Comment 32 [90] aus dem Jahre 2007:
305
„The notion of fair trial includes the guarantee of a fair and public hearing …“1028
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Die vom UN-Menschenrechtsausschuss nicht immer einheitlich gewählte1029 Verwendung der Formulierungen «fair hearing» und «fair trial», die vielfach 1022
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1024 1025 1026 1027 1028
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Siehe dazu etwa MRA v. 28.7.1989, Morael/France, CCPR/C/36/D/207/1986 N 9.3; Fei/Colombia, CCPR/C/53/D/514/1992, N 8.2, 8.3, 8.4; Deisl/Austria, CCPR/C/81/ D/1060/2002, N 11.2; vgl. auch MILEJ, S. 30 ff. Casafranca de Gomez/Peru, CCPR/C/78/D/981/2001, N 7.3: „a violation of article 14 of the right to a fair trial taken as a whole“ (Hervorhebung Demko). Darauf verweist ebenso MILEJ, S. 30. MRA, General Comment No. 13 [21], 12.04.1984, N 1. Siehe dazu MRA, General Comment No. 32 [90], 24.07.2007, N 25. MRA, General Comment No. 13 [21], 12.04.1984, N 1 (Hervorhebung Demko). MRA, General Comment No. 32 [90], 24.07.2007, N 25. Weiter heisst es, dass „… Fairness of proceedings entails the absence of any direct or indirect influence, pressure or intimidation or intrusion from whatever side and for whatever motive. A hearing is not fair if, for instance, the defendant in criminal proceedings is faced with the expression of a hostile attitude from the public or support for one party in the courtroom that is tolerated by the court, thereby impinging on the right to defence … or is exposed to other manifestations of hostility with similar effects …“ Siehe die Urteile in den vorangehenden Fussnoten, in denen von dem «fair trial», dem «fair hearing» oder allgemein von dem Fairnesskonzept gesprochen wird: vgl. u.a. MRA, 23.08.2004, Deisl/Austria, CCPR/C/81/D/1060/2002, N 11.2: „The Committee further recalls that the right to a fair hearing under article 14, paragraph 1“, während in N 11.4 allgemein vom Konzept der Fairness die Rede ist: „a violation of the con-
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
möglichen Überschneidungen sowie die gegebenen Verknüpfungen zwischen verfahrens- und institutionsbezogenen Verfahrenselementen1030 sowie nicht zuletzt das erkennbare Anliegen, das Verfahren umfassend, in dessen Gesamtheit und nicht nur begrenzt auf bestimmte einzelnen Aspekte, z.B. nur verfahrensbezogen oder nur institutionsbezogen, schützen zu wollen, zeigt, dass das Entscheidende der Begriff der Fairness ist, der sich auf das gesamte Verfahren mit all seinen Elementen und Aspekten bezieht:1031 Sichtbar ist die Ausformung der Fairness als eine Gesamtfairness, die zwar einerseits aus einer Vielzahl und Vielfalt einzelner Fairnessgarantien besteht, die aber andererseits dennoch zugleich Mehr als die blosse Summe ihrer Teile ist.1032 Die Verbindung des Fairnessbegriffs mit den Begriffen hearing, trial, procedure ist auch in der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des EGMR wiederzufinden.1033 Die sich entwickelnde und heute bereits umfangreiche Spruchpraxis des EGMR zur Fairness des Strafverfahrens macht deutlich, dass der Fairnessbegriff der massgebende Leitbegriff und hierbei ein solcher ist, der sich auf das gesamte (Straf-)Verfahren mit allen zu diesem gehörenden Verfahrenselementen und Verfahrensrechten bezieht und sich als ein Gesamt(menschen)recht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren ausprägt.1034 Bevor auf die Europäische Menschenrechtskonvention im Einzelnen einzugehen ist,1035 sei im Folgenden der Blick zunächst auf weitere
1030 1031 1032
1033 1034
1035
cept of fairness enshrined in article 14, paragraph 1“; siehe auch MRA, 07.11.2001, Äärelä and Näkkäläjärvi/Finland, CCPR/C/73/D/779/1997, N 7.3., 7.4., wo der Fairnessbegriff mit procedure, proceedings, hearing und trial verbunden wurde: „unfairness in the particular proceedings“ (N 7.3), „unfairness into the hearing“ (N 7.3), „right to a fair trial“ (N 7.4); zu den terminologisch nicht einheitlichen Formulierungen siehe auch MILEJ, S. 30 ff. Dazu auch MILEJ, 31f. Siehe zu entsprechenden Schlussfolgerungen auch MILEJ, S. 32. Siehe zum Verhältnis zwischen «fair hearing» nach Art. 14 Abs. 1 IPbpR und den Mindestgarantien des Art. 14 Abs. 3 IPbpR etwa MRA, General Comment 13 [21] N 5: „The second sentence of article 14, paragraph 1, provides that "everyone shall be entitled to a fair and public hearing". Paragraph 3 of the article elaborates on the requirements of a "fair hearing" in regard to the determination of criminal charges. However, the requirements of paragraph 3 are minimum guarantees, the observance of which is not always sufficient to ensure the fairness of a hearing as required by paragraph 1“. Siehe dazu sogleich unter Kap. 3 B. III. 1. b) cc) (1). Siehe auch etwa GAEDE, S. 159, 290 ff.: „Inbegriff aller strafprozessualen Verfahrensrechte des Art. 6 EMRK“ (S. 159, Hervorhebung Demko), „Gesamtrecht auf ein faires Strafverfahren“ (S. 290, Hervorhebung Demko), „integrales Menschenrecht“ (S. 290, Hervorhebung Demko). Siehe unter Kap. 3 B. III. 1. b) cc).
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Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
regionale Menschenrechtskonventionen und ihre Ausgestaltungen eines fairen Strafverfahrens gerichtet.
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b)
Regionale Menschenrechtsinstrumente
aa)
Amerikanische Menschenrechtsinstrumente
Als regionale Menschenrechtsinstrumente für Amerika sind in Bezug auf das Recht auf ein faires Verfahren die American Declaration of the Rights and Duties of Man1036 von 1948 und die American Convention on Human Rights1037 (AMRK) von 1969 zu nennen. Die American Declaration of the Rights and Duties of Man, welche gleich im ersten Absatz ihrer Präambel die Würde der Person («the dignity of the individual») betont, geht auf das faire Verfahren in dessen Artikel XXVI ein. Dabei ist der Begriff «fair» in jenem Artikel nicht ausdrücklich genannt, sondern dessen Überschrift spricht von dem «Right to due process of law». In den Absätzen 1 und 2 des Artikels XXVI sind einzelne Garantien eines faires Verfahrens genannt, wie etwa in Abs. 1 die Unschuldsvermutung und im Abs. 2 die Unparteilichkeit und Öffentlichkeit der Verhandlung. Der Text des Abs. 2 führt dabei den Begriff «hearing» auf und verbindet diesen zudem mit einem dem Angeklagten zustehenden Recht («has the right»).1038 Umfangreichere Regelungen zum fairen Strafverfahren sind in Artikel 8 der AMRK enthalten: Dessen Überschrift nennt ausdrücklich das «Right to a Fair Trial», während im Text des Artikels der Fairnessbegriff nicht aufgeführt ist, sondern der Absatz 1 des Art. 8 AMRK davon spricht, dass «(E)very person has the right to a hearing, with due guarantees …».1039 Auch in Absatz 2 ist von dem Recht des Angeklagten («the right»1040 und «is entitled»1041) bezogen auf bestimmte Einzelgarantien eines fairen Verfahrens die Rede. Im ersten und zweiten Absatz sind zahlreiche Einzelgarantien eines fairen Strafverfahrens aufgeführt, wie u.a. die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichts, die Unschuldsvermutung, die Waffengleichheit und die in den Buchstaben a.- h. von Absatz 2 aufgezählten und als solche ausdrücklich bezeichneten Mindestgarantien («minimum gua-
1036 1037
1038 1039 1040 1041
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American Declaration of the Rights and Duties of Man, AG/RES. 1591. American Convention on Human Rights vom 22.11.1969, in Kraft getreten am 18.07.1978, O.A.S.Treaty Series No. 36, auch bezeichnet als Pakt von San José; ein Überblick über die Amerikanische Menschenrechtskonvention gibt etwa DE TORRES, S. 160 ff.: „Juridifizierung des Menschenrechtsschutzes“ (S. 165). Siehe auch die Hinweise von KAMARDI, S. 73; MILEJ, S. 38. Hervorhebung Demko. Art. 8 Abs. 2 Satz 1 AMRK. Art. 8 Abs. 2 Satz 2 AMRK.
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
rantees»).1042 In Hinblick auf das (später näher zu untersuchende1043) Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen sei hier insbesondere Art. 8 Abs. 2 S. 2 Buchst. f AMRK genannt, in dem es heisst: «… the right of the defense to examine witnesses present in the court and to obtain the appearance, as witnesses, of experts or other persons who may throw light on the facts …»
309
Diese geschriebenen Mindestgarantien des Art. 8 Abs. 2 S. 2 AMRK, die teils an die in Art. 6 III EMRK enthaltenen erinnern, sind eingestellt in ein weites Auslegungsverständnis des Art. 8 Abs. 1 AMRK, welches nach Auffassung des Inter-Amerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte (IAGMR) auch offen scheint für weitere ungeschriebene Garantien und Rechte, die „inherent in the human personality or derived from representative democracy as a form of government“1044 sind:1045
310
„…This Tribunal considers that Article 8(1) of the Convention must be given a broad interpretation based on both the letter and the spirit of this provision, and must be appreciated in accordance with Article 29 (c) of the Convention, whereby none of its provisions shall be interpreted as precluding other rights or guarantees that are inherent in the human personality or derived from representative, democratic form of government …“1046
311
Dass von dem Recht auf ein «fair trial» ausdrücklich nur in der Überschrift, hingegen im Text des Art. 8 Abs. 1 AMRK von dem «right to a hearing, with due guarantees» die Rede ist, hinderte den IAGMR nicht daran, die mit den «due guarantees» angesprochenen Verfahrensgarantien in eine Verbindung mit einem fair trial zu setzen, indem er das Gegebensein eines «fair trial» in Fällen verneinte, in welchen die zu einem due process gezählten Verfahrensgarantien keine hinreichende Achtung oder eine übermässige Beschränkung fanden. Diese Verwandschaft1047 zwischen einem fair trial und einem due guarantees gewährenden Verfahren findet sowohl speziell in Auseinandersetzung mit der Spruchpraxis des IAGMR1048 als auch mit dem amerikanischen, das due process-Konzept betonenden Strafverfahren überhaupt im Schrifttum
312
1042
1043 1044 1045
1046
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Vgl. auch IAGMR, Suárez-Rosero v. Ecuador, 12.11.1997, Series C Nr. 35, § 82: „… Article 8(2)(c), (d) and (e) of the American Convention establishes minimum guarantees to which every person is entitled, with full equality …“ (Hervorhebung Demko). Siehe dazu näher unter Kap. 5. Art. 29 Buchst. c AMRK. Siehe IAGMR, Blake v. Guatemala, 24.01.1998, Series C Nr. 36, §§ 96 f.; siehe dazu auch MILEJ, S. 39. IAGMR, Blake v. Guatemala, 24.01.1998, Series C Nr. 36, § 96 (Hervorhebung Demko). Siehe etwa MILEJ, S. 39: „eng verwandt“. Näher dazu MILEJ, S. 39.
211
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
wiederholt Betonung,1049 wobei einmal von einer Entsprechung bzw. Gleichsetzung gesprochen1050 und das andere Mal der fair trial als ein Teil des weiter zu verstehenden due process aufgefasst wird.1051 Die nicht hinreichende Beachtung der zu einem due process gezählten Garantien führten den IAGMR im Fall Loayza-Tamayo v. Peru zum Ergebnis, dass ein fair trial nicht vorgelegen habe, was den engen Bezug zwischen einem fair trial und dem due process-Konzept bestätigt: 313
„… Ms. María Elena Loayza-Tamayo was tried and convicted by application of an exceptional procedure in which it is obvious that the fundamental rights embodied in the concept of due process were greatly restricted. Those proceedings do not meet the criteria of a fair trial, since the presumption of innocence was not observed; the defendants were not allowed to challenge or examine the evidence; the defense attorney's power was curtailed in that he could not communicate freely with his client or intervene in all stages of the proceeding in full possession of the facts ...“1052
314
Neben der vom «fair trial» sprechenden Überschrift des Art. 8 AMRK und der eben aufgezeigten, vom IAGMR hergestellten engen Verbindung zwischen dem due process-Konzept und dem «fair trial» sprechen zudem die für die Auslegung des Art. 8 AMRK vom Gerichtshof und einzelnen Richtern herangezogenen, der Rechtsvergleichung einen wichtigen Stellenwert einräumenden Bezugnahmen auf andere internationale und regionale Menschenrechtsinstrumente – wie etwa auf den das faire Strafverfahren regelnden Art. 14 IPbpR sowie auf die Europäische Menschenrechtskonvention einschliesslich der Rechtsprechung des EGMR – für die Verankerung des Rechts auf ein faires Strafverfahren in Art. 8 AMRK, welches als Teil der living instruments des Weiteren für ein evolutionäres Verständnis und eine inhaltliche Fortentwicklung entsprechend der fortschrittlicheren Rechtsordnungen geöffnet ist.1053 Hervorzuheben sind insofern neben Ausführungen des Rich1049 1050 1051
1052 1053
212
Siehe dazu im Einzelnen unter Kap. 3 B. III. 2. a) aa). Siehe etwa MILEj, S. 39. Zur Vermutung des vom IAGMR vertretenen „etwas breiter(en)“ (S. 39) due processKonzepts siehe MILEJ, S. 39, der aber auch von einer Gleichsetzung der Begriffe «hearing with due guaranties», «fair trial» und «fair hearing» spricht, S. 39. IAGMR, Loayza-Tamayo v. Peru, 17.09.1997, Series C Nr. 25, § 62. Siehe dazu näher IAGMR, Advisory Opinion OC-16/99, The Right to Information on Consular Assistance. In the Framework of the Guarantees of the due Process of Law, 01.10.1999, Series A No. 16, §§ 113 ff., hier insbesondere §§ 113, 114, 115, 117: „… This guidance is particularly relevant in the case of international human rights law, which has made great headway thanks to an evolutive interpretation of international instruments of protection. That evolutive interpretation is consistent with the general rules of treaty interpretation established in the 1969 Vienna Convention. Both this Court, in the Advisory Opinion on the Interpretation of the American Declaration of the Rights and Duties of Man (1989), and the European Court of Human Rights, in Tyrer v. United Kingdom (1978), Marckx v. Belgium (1979), Loizidou v. Turkey
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
ters Cançado Trindade1054 insbesondere die Ausführungen des Gerichtshofs in einem seiner Gutachten aus dem Jahr 1999, in welchem auf Art. 14 IPbpR hingewiesen, ausdrücklich sowohl vom „right to the due process of law“1055 als auch vom fair trial1056 gesprochen und dabei auf die zu achtende Menschenwürde Bezug genommen wird: „… The International Covenant on Civil and Political Rights recognizes the right to the due process of law (Article 14) as a right that “derives[s] from the inherent dignity of the human person.” … That article enumerates a number of guarantees that apply to “everyone charged with a criminal offence,” and in that respect is consistent with the principal international human rights instruments …“1057
315
Insbesondere die wichtige Bedeutung der dem Angeklagten im Strafverfahren zu gewährenden (Verteidigungs-)Rechte für ein Strafverfahren, das als fair
316
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(1995), among others, have held that human rights treaties are living instruments whose interpretation must consider the changes over time and present-day conditions … The corpus juris of international human rights law comprises a set of international instruments of varied content and juridical effects (treaties, conventions, resolutions and declarations). Its dynamic evolution has had a positive impact on international law in affirming and building up the latter’s faculty for regulating relations between States and the human beings within their respective jurisdictions. This Court, therefore, must adopt the proper approach to consider this question in the context of the evolution of the fundamental rights of the human person in contemporary international law …“ (§§ 114, 115, Hervorhebung IAGMR: «corpus juris» und die Bezeichnungen der EGMR-Urteile; übrige Hervorhebung Demko), „… These two rights are already part of the laws and jurisprudence of the more advanced legal systems. And so, the body of judicial guarantees given in Article 14 of the International Covenant on Civil and Political Rights has evolved gradually. It is a body of judicial guarantees to which others of the same character, conferred by various instruments of international law, can and should be added …“ (§ 117, Hervorhebung Demko); siehe auch IAGMR, Villagran-Morales et al. v. Guatemala, 19.11.1999, Series C Nr. 35, §§ 192 ff. Siehe zu den Ausführungen des Richters Trindade, insbesondere zur Betonung des universalen Charakters im Zusammenhang mit dem fair trial näher MILEJ, S. 39 f.; zu einem universalen corpus juris vgl. auch die Ausführungen des IAGMR, Advisory Opinion OC-16/99, §§ 113 ff.; siehe dazu die Stellungnahmen von MILEJ, S. 39 ff. IAGMR, Advisory Opinion OC-16/99, §§ 116, 120 (Hervorhebung Demko). IAGMR, Advisory Opinion OC-16/99, § 122 a.E. (Hervorhebung Demko). IAGMR, Advisory Opinion OC-16/99, § 116 (Hervorhebung Demko), vgl. zudem § 121 a.E.: „Their most precious juridical rights, perhaps even their lives, hang in the balance. In such circumstances, it is obvious that notification of one’s right to contact the consular agent of one’s country will considerably enhance one’s chances of defending oneself and the proceedings conducted in the respective cases, including the police investigations, are more likely to be carried out in accord with the law and with respect for the dignity of the human person …“ (Hervorhebung Demko).
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sowie die Anforderungen des due process-Konzeptes erfüllend bezeichnet werden kann, wird vom IAGMR deutlich hervorgehoben:1058 317
„… In the opinion of this Court, for “the due process of law” a defendant must be able to exercise his rights and defend his interests effectively and in full procedural equality with other defendants. It is important to recall that the judicial process is a means to ensure, insofar as possible, an equitable resolution of a difference. The body of procedures, of diverse character and generally grouped under the heading of the due process, is all calculated to serve that end. To protect the individual and see justice done, the historical development of the judicial process has introduced new procedural rights. An example of the evolutive nature of judicial process are the rights not to incriminate oneself and to have an attorney present when one speaks. These two rights are already part of the laws and jurisprudence of the more advanced legal systems. And so, the body of judicial guarantees given in Article 14 of the International Covenant on Civil and Political Rights has evolved gradually. It is a body of judicial guarantees to which others of the same character, conferred by various instruments of international law, can and should be added … This is why an interpreter is provided when someone does not speak the language of the court, and why the foreign national is accorded the right to be promptly advised that he may have consular assistance. These measures enable the accused to fully exercise other rights that everyone enjoys under the law. Those rights and these, which are inextricably inter-linked, form the body of procedural guarantees that ensures the due process of law …“1059
318
Betont sind vom Gerichtshof neben der Bedeutung der dem Angeklagten für seine effektive Verteidigung zu gewährenden Rechte selbst zudem die im Verfahren zu gewährenden Ausgleichsmassnahmen („countervailing measures“1060) für den Fall von für den Angeklagten bestehenden Einschränkungen und Benachteiligungen, ohne welche sich schwerlich davon sprechen lasse, dass ein in irgendeiner Hinsicht in seiner Verteidigung eingeschränkter Angeklagter „… enjoy a true opportunity for justice and the benefit of the due process of law equal to those who do not have those disadvantages …“.1061 Die Frage von ebensolchen die Einschränkungen von Verteidigungsrechten ausgleichenden Massnahmen spielt auch in der Spruchpraxis des EGMR zu Art. 6 I EMRK und insbesondere zum Konfrontationsrecht des Angeklagten nach Art. 6 III d EMRK eine entscheidende Rolle.1062 In dem Gutachten des IAGMR heisst es – was sich als bedeutend auch für das Verständnis des Erfordernisses ausgleichender Massnahmen im Zusammenhang mit Art. 6 I, III d EMRK erweist – insoweit:
1058 1059 1060 1061 1062
214
Siehe IAGMR, Advisory Opinion OC-16/99, §§ 117, 119, 120. IAGMR, Advisory Opinion OC-16/99, §§ 117, 120 (Hervorhebung Demko). IAGMR, Advisory Opinion OC-16/99, § 119 (Hervorhebung Demko). IAGMR, Advisory Opinion OC-16/99, § 119 (Hervorhebung Demko). Siehe zum Erfordernis ausgleichender bzw. kompensierender Massnahmen im Zusammenhang mit Art. 6 I und 6 III d EMRK näher unter Kap. 5.
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht „… In this regard the Court has held that the procedural requirements that must be met to have effective and appropriate judicial guarantees “are designed to protect, to ensure, or to assert the entitlement to a right or the exercise thereof” and are “the prerequisites necessary to ensure the adequate protection of those persons whose rights or obligations are pending judicial determination.” … To accomplish its objectives, the judicial process must recognize and correct any real disadvantages that those brought before the bar might have, thus observing the principle of equality before the law and the courts and the corollary principle prohibiting discrimination. The presence of real disadvantages necessitates countervailing measures that help to reduce or eliminate the obstacles and deficiencies that impair or diminish an effective defense of one’s interests. Absent those countervailing measures, widely recognized in various stages of the proceeding, one could hardly say that those who have the disadvantages enjoy a true opportunity for justice and the benefit of the due process of law equal to those who do not have those disadvantages …“1063
319
Zu erkennen geben diese Ausführungen die aufgestellte Verbindung zwischen zu achtender Menschenwürde – auf welche neben den Bezugnahmen des IAGMR1064 auch im Text der AMRK selbst hingewiesen wird1065 –, den im Strafverfahren zu gewährleistenden Rechten des Angeklagten für dessen wirksame Verteidigung und dem Gegebensein eines fair trial,1066 zu dessen unverzichtbaren Elementen eben jene Verteidigungsrechte des Angeklagten gehören: Eine Verbindung, die nicht nur für das Verständnis des Art. 8 AMRK sichtbar gemacht ist, sondern sich ebenfalls bei der Auslegung des Art. 6 EMRK in der Spruchpraxis des EGMR ausgeformt hat1067 und sich auch bei weiteren regionalen Menschenrechtskonventionen zeigt.
320
bb)
Afrikanische und Arabische Menschenrechtsinstrumente
In der African Charter on Human and Peoples' Rights,1068 auch Banjul Charter genannt, von 1981, in deren Präambel und deren Art. 5 explizit von der zu achtenden Menschenwürde gesprochen wird und sich diese auch mit Art. 4 in
1063 1064 1065
1066
1067 1068
IAGMR, Advisory Opinion OC-16/99, §§ 118, 119 (Hervorhebung Demko). Siehe u.a. IAGMR, Advisory Opinion OC-16/99, §§ 116, 121 a.E. Siehe Art. 5 Nr. 2 S. 2 AMRK: «All persons deprived of their liberty shall be treated with respect for the inherent dignity of the human person.». IAGMR, Advisory Opinion OC-16/99, § 122: „… The Court therefore believes that the individual right under analysis in this Advisory Opinion must be recognized and counted among the minimum guarantees essential to providing foreign nationals the opportunity to adequately prepare their defense and receive a fair trial …“ (Hervorhebung Demko). Siehe dazu unter Kap. 3 B. III. 1. b) cc). African Charter on Human and Peoples' Rights, OAU Doc. CAB/LEG/67/3 rev. 5, 21 I.L.M. 58 (1982).
215
321
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
Verbindung setzen lässt,1069 ist das faire Verfahren in Art. 7 der Banjul Charter geregelt. Der Text dieses Artikels nennt den Begriff fair nicht ausdrücklich, sondern spricht im Satz 1 davon, dass «(E)very individual shall have the right to have his cause heard …».1070 Im Satz 2 werden einzelne Fairnessgarantien aufgezählt, wie u.a. die Unschuldsvermutung, die Unparteilichkeit des Gerichts sowie – vorliegend von Bedeutung – unter Buchstabe (c) das «right to defence, including the right to be defended by counsel of his choice».1071 Wie schon im Satz 1 («the right») sind dabei auch im Satz 2 die aufgezählten Fairnessgarantien mit einem Jedermann-Recht («the right» in den Buchstaben (a) – (d)) in Bezug gesetzt.1072 Die ausdrückliche Hervorhebung des «right to have his cause heard» sowie des «right to defence» lassen, insbesondere unter Hinzunahme der Betonungen des Menschenwürdeschutzes in der BanjulCharter, den Schluss zu, dass die aus der Menschenwürde fliessenden Verteidigungsrechte des Angeklagte zu den Elementen gezählt werden, die ein Verfahren aufzuweisen hat, um als fair angesehen zu werden, auch wenn Art. 7 der Banjul-Charter den Fairnessbegriff als solchen nicht ausdrücklich verwendet.1073 322
Als weiteres regionales Menschenrechtsinstrument, das Aussagen zum fairen Verfahren enthält, ist die Arab Charter in Human Rights zu nennen, welche in ihrer ersten Version im Jahr 1994 vom der Arabischen Liga verabschiedet wurde, jedoch mangels hinreichender Ratifikationen nicht in Kraft trat.1074 Die zweite, überarbeitete Version der Arab Charter in Human Rights wurde im Jahre 2004 von der Arabischen Liga verabschiedet und trat im Jahr 2008 1069
1070 1071 1072 1073
1074
216
Siehe die Absätze 2 und 8 der Präambel und Art. 5 der Banjul-Charter: «Every individual shall have the right to the respect of the dignity inherent in a human being and to the recognition of his legal status. All forms of exploitation and degradation of man particularly slavery, slave trade, torture, cruel, inhuman or degrading punishment and treatment shall be prohibited.» (Hervorhebung Demko), siehe auch Art. 4 der BanjulCharter: «Human beings are inviolable. Every human being shall be entitled to respect for his life and the integrity of his person. No one may be arbitrarily deprived of this right.» Hervorhebung Demko. Hervorhebung Demko. Hervorhebung Demko. Zum Verweis auf die African Charter on Human and Peoples' Rights als eines der regionalen Menschenrechtsinstrumente, denen Aussagen zum fairen Verfahren zu entnehmen sind, siehe u.a. KAMARDI, S. 73 f.; MILEJ, S. 81 f. Arab Charter on Human Rights vom 15.09.1994, nicht in Kraft getreten (nachfolgend: Arab Charter 1994), zugrundegelegt ist nachfolgend die englische Übersetzung: COUNCIL OF THE LEAGUE OF ARAB STATES, Arab Charter on Human Rights, adopted by the League of Arab States, 18 Hum. Rts. L.J. 151 (1997), siehe auch http://www1. umn.edu/humanrts/instree/arabhrcharter.html (letzter Besuch am 20.01.2011); zu der Arab Charter 1994 siehe auch die kurzen Hinweise von KAMARDI, S. 74; MILEJ, 81 f.
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
in Kraft.1075 Sowohl die Arab Charter 1994 als auch die Arab Charter 2004 erwähnen die zu achtende Menschenwürde ausdrücklich im Text ihrer Präambeln und ihrer Artikel.1076 Hinsichtlich ihrer expliziten Ausführungen zum Inhalt und den Elementen eines fairen Verfahrens unterscheiden sich beide Versionen deutlich: Waren in der Arab Charter 1994 nur kurzgehaltene Darstellungen zu finden und wurde hier der Begriff «fair» als solcher nicht genannt, so zeichnet die Arab Charter 2004 eine umfangreiche(re), sich über mehrere Artikel erstreckende Darstellung von Anforderungen und Elementen eines fairen Verfahrens und es wird zudem in Art. 13 der Arab Charter 2004 ausdrücklich von dem «right to a fair trial»1077 gesprochen. Einschlägig für einzuhaltende Anforderungen an ein faires Verfahren waren in der Arab Charter 1994 insbesondere die Artikel 7 und 9. Wie bereits angeführt, ist der Fairnessbegriff in jener ersten Version von 1994 nicht ausdrücklich im Text genannt, sondern gesprochen wird von einem «lawful trial».1078 Aufgezählt sind in den Art. 7 und 9 der Arab Charter 1994 sodann einzelne wenige Fairnessgarantien, wie etwa die Unschuldsvermutung sowie das «guaranteed right to legal remedy». Dabei ist – was vorliegend von besonderem Interesse und von Relevanz ist – bereits dem Text des Art. 7 der Arab Charter 1994 ein ausdrücklicher Hinweis auf eine dem Angeklagten zu gewährleistende Verteidigung zu entnehmen:
323
«The accused shall be presumed innocent until proved guilty at a lawful trial in which he has enjoyed the guarantees necessary for his defence.»
324
Der hier deutlich werdende Bezug zwischen einem «lawful trial» und einer Verteidigung des Angeklagten bzw. seinen Verteidigungsgarantien wiederholt sich in der späteren Version der Arab Charter 2004 und, mehr noch,
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1076
1077 1078
Es gibt verschiedene englische Übersetzungen der Arab Charter on Human Rights vom 22.05.2004, in Kraft getreten am 15.03.2008 (nachfolgend Arab Charter 2004). Zugrunde gelegt und auch vergleichend gegenübergestellt werden im folgenden zwei englische Übersetzungen: Die erste englische Übersetzung ist von MOHAMMED AMIN AL-MIDANI/MATHILDE CABANETTES, Arab Charter on Human Rights 2004, Boston University International Law Journal Vol. 24, 2006, S. 147 ff., siehe auch http://www.acihl.org/res/Arab_Charter_on_Human_Rights_2004.pdf (letzter Besuch am 20.01.2011). Die zweite Übersetzung ist von der LEAGUE OF ARAB STATES, Arab Charter on Human Rights, May 22, 2004, 12. International Human Rights Report 893 (2005), siehe auch http://www1.umn.edu/humanrts/instree/loas2005.html (letzter Besuch am 20.01.2011). Vgl. zudem die Ausführungen und Stellungnahmen von RISHMAWI, HRLR 2010, S. 169 ff.; ders., HRLR 2005, S. 361 ff. Siehe in der Arab Charter 1994 der Absatz 1 der Präambel und Artikel 1 (b) und in der Arab Charter 2004 der erste Absatz der Präambel, Artikel 2 Nr. 3, Artikel 20 Nr. 1. Hervorhebung Demko. Siehe Artikel 7 der Arab Charter 1994.
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Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
formt sich in der dort hergestellten Beziehung zwischen einem «fair trial» und den aufgezählten verschiedenen Verteidigungsrechten des Angeklagten in differenzierter Weise aus: Die mit Blick auf ein faires Verfahren u.a. einschlägigen Bestimmungen in der Arab Charter 2004 finden sich, verteilt auf mehrere Artikel, in den Art. 12, 13 und 16. Ausdrücklich wird in Artikel 13 Nr. 1 S. 1 der Arab Charter 2004 von einen «right to a fair trial» gesprochen und einzelne Fairnessgarantien, wie etwa die Unschuldsvermutung, die Waffengleichheit, die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichts sowie die Öffentlichkeit des Verfahrens sind in den Artikeln 12, 13 und 16 S. 1 der Arab Charter 2004 aufgezählt. Eine zu gewährleistende Verteidigung und entsprechend einzuräumende Verteidigungsrechte des Angeklagten sind neben der Formulierung «to enable them to defend their rights» in Art. 13 Nr. 1 S. 2 der Arab Charter 2004 vor allem den in Art. 16 S. 2 Nr. 1 - 8 der Arab Charter 2004 aufgeführten Mindestgarantien zu entnehmen, die mit einem Recht des Angeklagten in Bezug gesetzt sind,1079 gefolgt von einer Aufzählung von einzelnen dem Angeklagten einzuräumenden Verteidigungsrechten.1080 Insbesondere die Nr. 1 - 5 des Art. 16 der Arab Charter 20041081 zei-
1079
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In der englischen Übersetzung von MOHAMMED AMIN AL-MIDANI/MATHILDE CABANETTES, Arab Charter on Human Rights 2004, Boston University International Law Journal Vol. 24, 2006, S. 147, 153 heisst es in Art. 16 S. 2 der Arab Charter 2004: «… During the investigation and the trial, the accused shall be entitled to the following minimum guarantees …»; in einer anderen Formulierung drückt sich derselbe Inhalt ebenso aus in der englischen Übersetzung der LEAGUE OF ARAB STATES, Arab Charter on Human Rights, May 22, 2004, 12. International Human Rights Report 893 (2005), in der es in Artikel 16 S. 2 Arab Charter 2004 heisst: «… in the course of the investigation and trial, he shall enjoy the following minimum guarantees …», wobei sodann in allen der nachfolgenden Nr. 1 – 8 ausdrücklich von «the right to» gesprochen wird (Hervorhebung Demko). Siehe auch Art. 16 S. 2 Nr. 2, 3, 4 der Arab Charter 2004: «of his defense», «to defend himself». In der englischen Übersetzung von MOHAMMED AMIN AL-MIDANI/MATHILDE CABANETTES, Arab Charter on Human Rights 2004, Boston University International Law Journal Vol. 24, 2006, S. 147, 154 lautet Art. 16 der Arab Charter 2004: «The accused shall be presumed innocent until proven guilty at a lawful trial. During the investigation and the trial, the accused shall be entitled to the following minimum guarantees: 1. To be informed promptly and in detail, in a language which he understands, of the nature and cause of the charge against him. 2. To have adequate time and facilities for the preparation of his defense and to contact his relatives. 3. To be tried in his presence in front of a judge, and to defend himself or through legal assistance of his own choosing or with the assistance of his lawyer, with whom he can freely and confidentially communicate.
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
gen Ähnlichkeiten mit den in Art. 6 III EMRK aufgezählten Verteidigungsrechten. Mit Blick auf das – später näher zu untersuchende1082 – Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen sei auf das Verteidigungsrecht des Angeklagten unter Nr. 5 des Art. 16 der Arab Charter 2004 besonders hingewiesen, wonach der Angeklagte das Recht hat: «… to examine, or have examined, the witnesses against him, and to obtain the attendance and examination of witnesses on his behalf under the same conditions as witnesses against him …»1083
cc)
Europäische Menschenrechtsinstrumente: Die europäische Menschenrechtskonvention
Die in den bereits dargestellten regionalen Menschenrechtsinstrumenten auf amerikanischer, afrikanischer und arabischer Ebene sichtbar werdende Anerkennung eines Rechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren und/oder zumindest von einzelnen, im Kontext von Fairness und (Straf-)Verfahren genannten Verfahrensgarantien und -rechten findet in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) nicht nur überhaupt ihre Bestätigung. Vielmehr sind darüber hinausgehend das Recht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren nach Art. 6 I 1 EMRK und die mit diesem zusammenhängenden einzelnen Verfahrensgarantien und Verteidigungsrechte des Angeklagten bereits in der sich bis heute entwickelten Spruchpraxis des EGMR Gegenstand umfangreicher und sich mehr und mehr ausdifferenzierender Erörterungen.
1082 1083
326
4. To have free legal assistance of a lawyer to defend himself if he does not have sufficient means to pay for his defense, and if the interests of justice so require. To have the free assistance of an interpreter if he cannot understand or speak the language of the court. 5. To examine, or have examined, the witnesses against him, and to obtain the attendance and examination of witnesses on his behalf under the same conditions as witnesses against him. 6. Not to be compelled to testify against himself or to confess to guilt. 7. If convicted of a crime, to have his conviction and sentence reviewed by a higher tribunal according to law. 8. To have the security of his person and his private life respected in all circumstances.» Siehe dazu näher unter Kap. 5. Vgl. auch die Übersetzung der LEAGUE OF ARAB STATES, Arab Charter on Human Rights, May 22, 2004, 12. International Human Rights Report 893 (2005), in der es in Nr. 5 von Artikel 16 der Arab Charter 2004 heisst: «… The right to examine or have his lawyer examine the prosecution witnesses and to on defense according to the conditions applied to the prosecution witnesses …»
219
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Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
(1) 328
Fair Trial – Fair Hearing
Der Begriff «fair», der in Art. 6 EMRK ausdrücklich genannt ist – und zwar sowohl in der durch das Protokoll Nr. 11 eingeführten Überschrift des Art. 6 EMRK als auch im Text des Art. 6 I 1 EMRK selbst1084 –, wird, wie schon bei den anderen regionalen Menschenrechtsinstrumenten aufgezeigt, auch auf europäischer Ebene in Verbindung mit Begriffen wie «hearing», «trial» oder «proceeding» gestellt. Heisst es in Art. 6 I 1 EMRK «fair hearing», so ist in der Überschrift von Art. 6 EMRK von dem «fair trial» die Rede. In der Rechtsprechung des EGMR ist von «fair hearing»1085, «fair proceedings»1086 1084
1085
1086
220
In der früheren deutschen Übersetzung wurde noch von dem Anspruch darauf gesprochen, dass „seine Sache in billiger Weise … gehört wird“, BGBl. 1952 Teil II S. 685; in der neuen deutschen Übersetzung ist von dem „fairen Verfahren“ die Rede, BGBl. II S. 1054; zur Kritik an der früheren deutschen Übersetzung, die nicht das ausdrücke, was der englische Begriff «fair» enthalte, siehe etwa GAEDE, S. 290 f.: „missverständlich“ (S. 290), „Unterschätzung“ (S. 291); SPANIOL, S. 118 ff.; RZEPKA, S. 23; GOLLWITZER, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR, S. 318 N 64; GEPPERT, JURA 1992, S. 599. Siehe u.a. EGMR, JOKELA v. FINLAND, 21.05.2002, Application No. 28856/95, § 68: „…The requirements inherent in the concept of “fair hearing” …“, siehe aber auch in § 68: „… The Court must ascertain whether the overall proceedings, including the way in which evidence was dealt with, were fair within the meaning of Article 6 § 1 …“; EGMR, DOMBO BEHEER B.V. v. THE NETHERLANDS, 27.10.1993, A274, § 32 f.: „… the concept of "fair hearing" …“ (§ 32), „… the notion of a "fair hearing" …“ (§ 33); EGMR, SUOMINEN v. FINLAND, 01.07.2003, Application No. 37801/97, § 33: „… the concept of “fair hearing” …“, siehe aber auch § 38: „... fair proceedings …“; EGMR, KHAN v. THE UNITED KINGDOM, 12.05.2000, Reports 2000-V, § 34: „… While Article 6 guarantees the right to a fair hearing …“, siehe aber auch in § 34: „... The question which must be answered is whether the proceedings as a whole, including the way in which the evidence was obtained, were fair …“ sowie in den §§ 35, 40: „… whether the applicant's trial as a whole was fair. In concluding that the use of the disputed recording in evidence did not deprive the applicant of a fair trial …“ (§ 35) und „… the use at the applicant's trial of the secretly taped material did not conflict with the requirements of fairness guaranteed by Article 6 § 1 of the Convention …“ (§ 40); EGMR, BARBERÀ, MESSEGUÉ AND JABARDO v. SPAIN, 06.12.1988, A146, § 89: „… the proceedings in question, taken as a whole, did not satisfy the requirements of a fair and public hearing ...“; EGMR, KAMASINSKI v. AUSTRIA, 19.12.1989, A168, § 102: „It is an inherent part of a "fair hearing" in criminal proceedings as guaranteed by Article 6 § 1 (art. 6-1) …“, siehe aber auch § 106; Hervorhebung Demko; siehe auch PEUKERT, EuGRZ 1980, S. 259. Siehe u.a. EGMR, JOKELA v. FINLAND, 21.05.2002, Application No. 28856/95, § 68; EGMR, SUOMINEN v. FINLAND, 01.07.2003, Application No. 37801/97, § 38; EGMR, PÉLISSIER AND SASSI v. FRANCE, 25.03.1999, Reports 1999-II, § 45: „… The Court has nevertheless to ascertain whether the proceedings considered as a whole, including the way in which the evidence was taken, were fair as required
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
und häufig von dem «fair trial»1087 zu lesen. Gerade die vom EGMR in ständiger Spruchpraxis wiederholte Betonung, dass es für die Beurteilung des
1087
by Article 6 § 1 …“, siehe auch § 46: „The fairness of proceedings is assessed with regard to the proceedings as a whole …“, siehe aber § 63: „… fair trial …“; EGMR, MANTOVANELLI v. FRANCE, 18.03.1997, Reports 1997-II, §§ 34, 36; EGMR, KHAN v. THE UNITED KINGDOM, 12.05.2000, Reports 2000-V, § 34; EGMR, SAIDI v. FRANCE, 20.09.1993, A 261-C, § 43, siehe aber §§ 41, 44: „… a fair trial …“; EGMR, SADAK AND OTHERS v. TURKEY, 17.07.2001, Reports 2001-VIII, § 69: „… the fairness of the proceedings …“, siehe aber auch § 68: „… a fair trial …“; EGMR, STANFORD v. THE UNITED KINGDOM, 23.02.1994, A282-A, § 24: „… the proceedings as a whole including the decisions of the appellate courts. Its task is to ascertain whether the proceedings in their entirety, as well as the way in which evidence was taken, were fair … “, siehe aber auch § 32; EGMR, I.J.L. AND OTHERS v. THE UNITED KINGDOM, 19.09.2000, Reports 2000-IX, § 101: „… the right to a fair procedure in the determination of the charges brought against him. The Court, for the reasons stated, has concluded that the applicants did not enjoy a fair procedure …“; Hervorhebung Demko. Siehe aus der umfangreichen Spruchpraxis des EGMR u.a. EGMR, PEREZ v. FRANCE, 12.02.2004, Reports 2004-I, § 72: „… the concept of a “fair trial” …“; EGMR, KHAN v. THE UNITED KINGDOM, 12.05.2000, Reports 2000-V, §§ 35, 40, siehe aber auch § 34; EGMR, SAIDI v. FRANCE, 20.09.1993, A261-C, §§ 41, 44: „… a fair trial … “, siehe aber auch § 43: „… the proceedings in their entirety, including the way in which evidence was taken, were fair …“; EGMR, ARTICO v. ITALY, 13.05.1980, A 37, § 33: „… the right to a fair trial ...“; EGMR, BORGERS v. BELGIUM, 30.10.1991, A214-B, § 24: „… whether the proceedings before the Court of Cassation also respected the rights of the defence and the principle of the equality of arms, which are features of the wider concept of a fair trial …“, siehe aber auch anschliessend in § 24: „… This has undergone a considerable evolution in the Court’s case-law, notably in respect of the importance attached to appearances and to the increased sensitivity of the public to the fair administration of justice …“; siehe ebenso in EGMR, BULUT v. AUSTRIA, 22.02.1996, Reports 1996-II, § 47: „… wider concept of a fair trial … “ und „… increased sensitivity to the fair administration of justice …“; EGMR, KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 20.11.1989, A166, § 45: „… the rights of the defence were such that Mr Kostovski cannot be said to have received a fair trial. There was accordingly a violation of paragraph 3 (d), taken together with paragraph 1, of Article 6 (art. 6-3-d, art. 6-1) …“; EGMR, KAMASINSKI v. AUSTRIA, 19.12.1989, A168, § 106: „… The right to a fair trial … “, siehe aber auch § 102; EGMR, SADAK AND OTHERS v. TURKEY, 17.07.2001, Reports 2001-VIII, § 68: „… the three applicants concerned have suffered such major violations of their defence rights that they have been denied a fair trial …”, siehe aber auch § 69; EGMR, STANFORD v. THE UNITED KINGDOM, 23.02.1994, A282-A, § 32: „… a fair trial …“, siehe aber auch § 24; EGMR, FUNKE v. FRANCE, 25.02.1993, A256-A, §§ 40, 41: „… right to a fair trial as secured in Article 6 para. 1 …“ (§ 40), „…the guidelines laid down in the Convention institutions’ case-law on what constituted a fair trial …“ (§ 41); EGMR, DEWEER v. BELGIUM, 27.02.1980, A35,
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Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
Gegebenseins eines fairen Verfahrens auf das Verfahren in dessen Gesamtheit («as a whole»1088) ankommt sowie die vom EGMR vorgenommene Betrachtung des Rechts auf ein faires Verfahren als ein Gesamtrecht, das die zahlreichen zu ihm gehörenden geschriebenen und ungeschriebenen Einzelgarantien integral in sich aufnimmt,1089 machen deutlich, dass der EGMR sich nicht damit begnügt, nur bestimmte Phasen des Verfahrens oder nur einzelne Aspekte oder Elemente des Verfahrens unter die Anforderung zu erfüllender Fairness zu stellen, sondern dass der Gerichtshof die Fairness zum übergeordneten Leitmassstab für das gesamte Verfahren mit all seinen einzelnen Elementen und Aspekten erhebt.1090
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§§ 48, 49, 56: „Under Article 6 par. 1 (art. 6-1), Mr. Deweer had the right to a fair trial ...“ (§ 48), „The "right to a court", which is a constituent element of the right to a fair trial ...“ (§ 49), „… the notion of a fair trial in criminal proceedings ...“ (§ 56); siehe auch TRECHSEL, ZStW 1989, S. 832 zur vorwiegenden Verwendung „unbestimmte(r) Rechtsbegriffe ..., man denke nur an „fair trial“ …“ in der Konvention; TRECHSEL, ZStW 1988, S. 693, wonach der „zentrale Begriff der Fairneβ … scharfe Konturen vermissen“ lasse. Siehe u.a. EGMR, KHAN v. THE UNITED KINGDOM, 12.05.2000, Reports 2000V, §§ 34, 35; EGMR, BARBERÀ, MESSEGUÉ AND JABARDO v. SPAIN, 06.12.1988, A146, § 89; EGMR, PÉLISSIER AND SASSI v. FRANCE, 25.03.1999, Reports 1999-II, § 45. Siehe etwa EGMR, DEWEER v. BELGIUM, 27.02.1980, A35, § 56: „… these two paragraphs (art. 6-2, art. 6-3) represent specific applications of the general principle stated in paragraph 1 of the Article (art. 6-1). The presumption of innocence embodied in paragraph 2 (art. 6-2) and the various rights of which a non-exhaustive list appears in paragraph 3 (art. 6-3) ("minimum rights", "notamment") are constituent elements, amongst others, of the notion of a fair trial in criminal proceedings ...“, Hervorhebung Demko; siehe dazu auch VOGLER, ZStW 1977, S. 777 f.: Nichtdefinition des Begriffs des fairen Verfahren in der Konvention und Ableitung des Prinzips der Waffengleichheit aus dem Begriff des fair hearing; TRECHSEL, ZStW 1989, S. 829: „nicht isoliert, sondern im Gesamtzusammenhang des Strafverfahrens“; PEUKERT, EuGRZ 1980, S. 248: „nicht in erschöpfender Weise“. Siehe dazu auch die Ausführungen und Stellungnahmen von GAEDE, S. 159 ff., 187 ff., 290 ff.; GOLLWITZER, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR, S. 318 N 64: „Kernstück der Verfahrensgarantien von Art 6 MRK und Art. 14 IPBPR“ sowie „umfassende(s) Rechtsprinzip“, das für die Auslegung „aller in den Konventionen garantierten Verfahrensrechte“ bestimmend sei und einen „verbindlichen Wertmaβstab für die gesamte Verfahrensgestaltung“ setze (Hervorhebung Demko), siehe auch N 65.
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
(2)
Die menschenrechtsschützende Blickrichtung der EMRK und des EGMR auf ein faires Strafverfahren
Art. 6 EMRK formt diese sich auf das gesamte Verfahren beziehende Fairness dabei als ein Menschenrecht aus,1091 was auf ein teleologisches Auslegungskriterium verweisend gestützt ist durch die Einbettung in das die gesamte Europäische Menschenrechtskonvention auszeichnende Bestreben des Menschenrechtsschutzes1092 und was sich zudem nicht nur im Wortlaut des Art. 6 EMRK selbst, sondern auch in der Spruchpraxis des EGMR zeigt:
329
In der Überschrift zu Art. 6 EMRK ist von dem «Right to a fair trial» die Rede, in Art. 6 I 1 EMRK heisst es «is entitled» und Art. 6 III 1 EMRK formuliert für die angeklagte Person, dass diese «has the following minimum rights». Neben diesem Bezug auf den Wortlaut des Art. 6 EMRK ist unter systematischen Gesichtspunkten betrachtet zu beachten, dass Art. 6 EMRK in den Abschnitt I eingestellt ist, der mit «Rights and freedoms» bezeichnet ist und in welchem – und damit auch in Art. 6 EMRK als Teil des Abschnitts I – dasjenige Fortsetzung und Konkretisierung findet, was mit der Verpflichtung zur Achtung der Menschenrechte («Obligation to respect human rights») in Art. 1 EMRK ausdrücklich formuliert wurde.1093
330
Damit zugleich auf das vorrangige teleologische Auslegungsmoment hinweisend, ist es eben jenes die gesamte EMRK prägende und ihre einzelnen Artikel durchdringende Ziel der Wahrung und Fortentwicklung eines staaten-
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Siehe auch prägnant GAEDE, S. 387: „Art. 6 EMRK prägt ein Menschenrecht aus“; LEBLOIS-HAPPE, S. 318: „Recht auf ein faires Gerichtsverfahren ist der Kern des Menschenrechtsschutzsystems der EMRK“; BRUNHÖBER, ZIS 2010, S. 762: „nicht nur Deklaration und nicht nur Prozessmaxime, sondern ein einklagbares Grundrecht“. Siehe dazu die Bezugnahme auf die AEMR im Absatz 1 der Präambel der EMRK sowie die wiederholte Betonung der zu wahrenden Menschenrechte in den Absätzen 3 und 4 der Präambel; vgl. zudem Art. 1 EMRK, in dem von «the rights and freedoms» gesprochen wird, welche in den nachfolgenden Artikeln konkretisiert sind. Zum Blickwinkel der EMRK aus Sicht des Menschenrechtsschutzes siehe aus dem Schrifttum u.a. GOLLWITZER, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR, S. 287, N 1 ff.: „Als selbständige Menschenrechte …“ (N 1), DICKE, S. 25 ff. zur „Stellung der EMRK in der Ideengeschichte der Menschenrechte“ (S. 25): „individualrechtliche Ausrichtung“ (S. 26), „Maβstabsfunktion der Grund- und Menschenrechte“ (S. 26); HUTTER, S. 45, 51 f.: „einzelne Mensch in den Vordergrund getreten“ (S. 45); TRETTER, S. 55: „Herz des europäischen Menschenrechtsschutzes“. Siehe Art. 1 EMRK, in dessen Überschrift gesprochen wird von der «Obligation to respect human rights» und in dessen Text es heisst: «The High Contracting Parties shall secure to everyone within their jurisdiction the rights and freedoms defined in Section I of this Convention.»
223
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
übergreifenden Menschenrechtsschutzes,1094 das auch dem Art. 6 EMRK zugrundeliegt und dem Verständnis der Fairness des Strafverfahrens eine entsprechende menschenrechtsschützende Blickrichtung vorgibt. Nicht die Sicht auf ein Strafverfahren und eine auszuprägende Strafverfahrensordnung aus der Blickrichtung eines verfolgenden Staates, sondern die Sicht auf ein Strafverfahren aus der Blickrichtung des übernationalen, europaweit geltenden Menschenrechtsschutzes,1095 und zwar – was sich sowohl in den sich auf die angeklagte Person beziehenden Art. 6 II und III EMRK als auch in Art. 6 I EMRK zum Ausdruck bringt, der neben zivilrechtlichen Streitigkeiten ebenso im Fall einer strafrechtlichen Anklage zur Anwendung kommt und sich diesbezüglich auf die angeklagte Person bezieht («In the determination … of any criminal charge against him, everyone is entitled to») – unter Anknüpfung an den Angeklagten und die ihm in einem Strafverfahren zu gewährenden Menschenrechte ist gerade diejenige Richtung, die für das Verständnis der in Art. 6 EMRK geforderten Fairness des Strafverfahrens bestimmend ist: Ausformung hat die Fairness des Verfahrens in Art. 6 EMRK in Gestalt eines Menschenrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren gefunden.1096 332
Die Einnahme eines solchen, und zwar staatenübergreifenden, europaweit geltenden menschenrechtsschützenden Blickwinkels, mit dem Art. 6 EMRK und der EGMR auf ein Strafverfahren sehen und dieses beurteilen, zeigt sich auch in der Spruchpraxis des EGMR:
333
Mit Bezug auf die Kontrollbefugnis und den Kontrollumfang des EGMR stellt der Gerichtshof den den Vertragsstaaten durch die Konvention erlaubten Beurteilungsspielräumen hinsichtlich der Frage, in welcher Art und Weise und durch die Wahl welcher Mittel sie die Konventionskonformität ihres nationalen Rechtssystems sicherzustellen beabsichtigen,1097 eine dem EGMR 1094
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224
Siehe auch GOLLWITZER, Einführung MRK/IPBPR, S. 104 N 8, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR, S. 287 N 1, 160. Zur Offenheit der EMRK in Bezug auf unterschiedliche Verfahrenstypen und -formen siehe bereits hier u.a. GOLLWITZER, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR, N 65, 160; GAEDE, S. 462 ff. Vgl. mit weiteren Ausführungen auch GAEDE, S. 290 ff.: „echtes Menschenrecht auf ein faires Verfahren“ (S. 290, Hervorhebung Gaede); IGNOR, S. 45 f., DÖRR, S. 60: „echte, unmittelbar anwendbare Individualrechte geschaffen hat“; SPANIOL, S. 116 ff.; SUMMERS, S. 176 ff. zur „Procedural Fairness as Individual Rights“ (S. 176): „Those charged with a criminal offence have the 'right' to a fair trial …“ (S. 176, Hervorhebung Demko). Siehe aus der Rechtsprechung des EGMR die deutliche Aussage des Gerichtshofes in EGMR, HANDYSIDE v. THE UNITED KINGDOM, 07.12.1976, A24, § 48: „... The Court points out that the machinery of protection established by the Convention is subsidiary to the national systems safeguarding human rights … The Convention leaves to each Contracting State, in the first place, the task of securing the rights and
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
obliegende europäische Überwachung und Kontrolle an die Seite,1098 deren Aufgabe es ist, die durch die Vertragsstaaten in Ausübung ihres Beurteilungsspielraumes getroffenen Entscheidungen an den Massstäben und dem Standard der Menschenrechtskonvention zu messen.1099 Auf die vom EGMR anerkannte margin of appreciation und das damit zusammenhängende Subsidiaritätsprinzip Rückgriff nehmend und von der Sache her auch die mit diesem in Verbindung stehende 4th instance doctrin berührend,1100 betont der EGMR, dass es in erster Linie Aufgabe der einzelnen Vertragsstaaten sei, für die Sicherung der in der Konvention verankerten Rechte und Freiheiten zu sorgen: Der Gerichtshof habe sich weder an die Stelle der Vertragsstaaten zu setzen noch die Wahrung nationalen Rechts allgemein zu überprüfen.1101 Angesichts der Kontrollfunktion des EGMR, die Einhaltung der Konventionsverpflichtungen der Vertragsstaaten sicherzustellen (Art. 19 EMRK),1102 obliege es ihm aber, eine Verletzung der durch die EMRK gewährleisteten Menschenrechte zu prüfen und eine endgültige Entscheidung darüber zu treffen, ob die staatlichen Massnahmen mit der Konvention und ihren Menschenrechtsgarantien vereinbar sind:
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1102
liberties it enshrines …“; siehe auch EGMR, SUNDAY TIMES v. THE UNITED KINGDOM. 26.04.1979, A30, § 59: „... the initial responsibility for securing the rights and freedoms enshrined in the Convention lies with the individual Contracting States …“ EGMR, HANDYSIDE v. THE UNITED KINGDOM, 07.12.1976, A24, § 49: „… The domestic margin of appreciation thus goes hand in hand with a European supervision …“; EGMR, SUNDAY TIMES v. THE UNITED KINGDOM. 26.04.1979, A30, § 59. Siehe dazu etwa EGMR, SUNDAY TIMES v. THE UNITED KINGDOM. 26.04.1979, A30, § 59: „… subject to the Court’s control as regards the compatibility of its conduct with the engagements it has undertaken under the Convention …“ sowie dort auch zu der nicht „unlimited power of appreciation“ der Vertragsstaaten. Vgl. aus der Rechtsprechung des EGMR etwa EGMR, HANDYSIDE v. THE UNITED KINGDOM, 07.12.1976, A24, §§ 48 ff.; weitere Verweise sowie Ausführungen dazu bei GAEDE, S. 93 ff. Siehe etwa EGMR, QUARANTA v. SWITZERLAND, 24.05.1991, A205, § 30: „… On several occasions the Court has observed that the Contracting States enjoy considerable freedom in the choice of the means of ensuring that their legal system satisfies the requirements of Article 6 (art. 6). Its task is to determine whether the method chosen by them in this connection leads to results which, in the cases which come before it, are consistent with the requirements of the Convention …“ (Hervorhebung Demko); EGMR, MEDENICA v. SWITZERLAND, 14.06.2001, Reports 2001-VI, § 55. Siehe auch EGMR, HANDYSIDE v. THE UNITED KINGDOM, 07.12.1976, A24, § 49: „… The Court, which, with the Commission, is responsible for ensuring the observance of those States’ engagements (Article 19) …“; EGMR, SCHENK v. SWITZERLAND, 12.07.1988, A140, § 45.
225
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht 334
„… According to Article 19 (art. 19) of the Convention, the Court’s duty is to ensure the observance of the engagements undertaken by the Contracting States in the Convention. In particular, it is not its function to deal with errors of fact or of law allegedly committed by a national court unless and in so far as they may have infringed rights and freedoms protected by the Convention …“1103
335
Diese dem EGMR obliegende, mit den staatlichen Beurteilungsspielräumen Hand in Hand gehende und sich auf die von der EMRK garantierten Menschenrechte beziehende «europäische Überwachung» der Einhaltung jener Menschenrechte konkretisiert der Gerichtshof auch mit Blick auf das an den Massstäben des Art. 6 EMRK auszurichtende Strafverfahren und das einen wesentlichen Bestandteil desselben ausmachende Beweisverfahren. Danach haben die Vertragsstaaten bezüglich der Regelung ihres Straf- und Beweisverfahrens einen weiten Beurteilungsspielraum und auch – was für das später näher zu untersuchende Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen von Relevanz ist – mit Blick auf den Zeugenbeweis ist es ihre Angelegenheit, die allgemeinen Regeln des Beweisverfahrens hinsichtlich der Zulassung und Vernehmung von Zeugen niederzulegen.
336
„… The Court recalls that the admissibility of evidence is primarily a matter for regulation by national law and that as a general rule it is for the national courts to assess the evidence before them. The Court’s task under the Convention is not to give a ruling on whether statements of witnesses were properly admitted as evidence, but rather to ascertain whether the proceedings as a whole, including the way in which evidence was taken, were fair …“1104
337
Aufgabe des Gerichtshofes sei es weder, die nationalen Gerichtsentscheidungen mit Blick auf ihre Rechtmässigkeit oder die Richtigkeit ihrer Tatsachenfeststellungen zu untersuchen noch die Beweiswürdigung der zuständigen 1103
1104
226
EGMR, SCHENK v. SWITZERLAND, 12.07.1988, A140, § 45, dies bezogen auf Art. 6 EMRK, konkretisierend heisst es anschliessend in §§ 46, 47, dabei bezugnehmend auf das Recht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren und die für jenes zu achtenden Verteidigungsrechte des Angeklagten: „… While Article 6 (art. 6) of the Convention guarantees the right to a fair trial, it does not lay down any rules on the admissibility of evidence as such, which is therefore primarily a matter for regulation under national law. The Court therefore cannot exclude as a matter of principle and in the abstract that unlawfully obtained evidence of the present kind may be admissible. It has only to ascertain whether Mr. Schenk’s trial as a whole was fair ... Like the Commission it notes first of all that the rights of the defence were not disregarded ...“ (§§ 46, 47), (Hervorhebung Demko). EGMR, P.S. v. GERMANY , 20.12.2001, Application No. 33900/96, § 19; siehe auch EGMR, VIDAL v. BELGIUM, 22.04.1992, A235-B, § 33: „… As a general rule, it is for the national courts to assess the evidence before them as well as the relevance of the evidence which defendants seek to adduce …“, (Hervorhebung Demko); EKMR, UNTERPERTINGER v. AUSTRIA, 11.10.1984, Series B No. 93, §§ 77, 78.
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
nationalen Gerichte auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen und diese durch eine eigene Würdigung des Gerichtshofs zu ersetzen.1105 Vielmehr heisst es in ständiger Rechtsprechung zu dem Verhältnis zwischen EGMR und den nationalen Staaten und vorliegend insbesondere den nationalen Gerichten, dass die Zulassung von Beweisen in erster Linie bzw. vorrangig eine durch das nationale Recht zu regelnde Angelegenheit sei und als allgemeine Regel bzw. grundsätzlich gelte, dass es den innerstaatlichen Gerichten zukomme, die ihnen vorliegenden Beweise zu würdigen.1106 Die Aufgabe des Gerichtshofs nach der Konvention sei es nicht zu entscheiden, ob Aussagen von Zeugen ordnungsgemäss als Beweise zugelassen und gewürdigt wurden, sondern 1105
1106
EGMR, SCHENK v. SWITZERLAND, 12.07.1988, A140, §§ 45, 46; EGMR, KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 20.11.1989, A166, § 39; EGMR, BARBERÀ, MESSEGUÉ AND JABARDO v. SPAIN, 06.12.1988, A146, § 68; EGMR, WINDISCH v. AUSTRIA, 27.09.1990, A186, § 25; EGMR, DOORSON v. THE NETHERLANDS, 26.03.1996, Reports 1996-II, § 67; deutlich auch EGMR, N.F.B. v. GERMANY, 18.10.2001, Reports 2001-XI, S. 7: „… The admissibility of evidence is primarily a matter for regulation by national law and, as a rule, it is for the national courts to assess the evidence before them. It is not the Court’s task to substitute its own assessment of the facts for that of the domestic courts or to give a ruling as to whether statements of witnesses were properly admitted as evidence. Its task is to ascertain whether the proceedings considered as a whole, including the way in which evidence was taken, were fair …“ (Hervorhebung Demko); EGMR, ASCH v. AUSTRIA, 26.04.1991, A203, § 26. Siehe dazu etwa EGMR, HAAS v. GERMANY, 17.11.2005, Application No. 73047/01, S. 14: „… The Court reiterates that the admissibility of evidence is primarily a matter for regulation by national law and as a general rule it is for the national courts to assess the evidence before them. The Court’s task is to ascertain whether the proceedings as a whole, including the way in which evidence was taken, were fair …“; deutlich auch bereits EGMR, KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 20.11.1989, A166, § 39: „… It has to be recalled at the outset that the admissibility of evidence is primarily a matter for regulation by national law … Again, as a general rule it is for the national courts to assess the evidence before them … In the light of these principles the Court sees its task in the present case as being not to express a view as to whether the statements in question were correctly admitted and assessed but rather to ascertain whether the proceedings considered as a whole, including the way in which evidence was taken, were fair … This being the basic issue, and also because the guarantees in paragraph 3 of Article 6 … are specific aspects of the right to a fair trial set forth in paragraph 1 … the Court will consider the applicant’s complaints from the angle of paragraphs 3 (d) and 1 taken together …“, (Hervorhebung Demko). Zur Frage der Abweichung von diesen Grundsätzen im Zusammenhang mit dem die Beweiswürdigungsebene betreffenden Erfordernis, dass die unter Beschränkungen des Konfrontationsrechts zustande gekommene belastende Zeugenaussage nicht das einzige oder entscheidende Beweismittel für die Verurteilung des Angeklagten sein darf, siehe näher bei den Ausführungen zum Konfrontationsrecht unter Kap. 5.
227
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
vielmehr zu überprüfen und festzustellen, ob das Strafverfahren insgesamt, einschliesslich der Art, in der die Beweise aufgenommen wurden, dem durch Art. 6 EMRK gesetzten menschenrechtsschützenden Massstab entsprechend fair gewesen sei: 338
„… The admissibility of evidence is primarily governed by the rules of domestic law, and as a general rule it is for the national courts to assess the evidence before them. The Court’s task is to ascertain whether the proceedings, considered as a whole, including the way in which the evidence was submitted, were fair …“1107
339
Aus Art. 6 EMRK weder Vorgaben generell für einen bestimmten Verfahrenstyp noch Vorgaben für bestimmte Formen bzw. eine bestimmte Art und Weise der Durchführung und Gestaltung des Strafverfahrens erhebend, ist die EMRK durch eine Offenheit für das «Wie» der Umsetzung ihrer menschenrechtsschützenden Konventionsbestimmungen gekennzeichnet,1108 wenn und solange nur1109 – und dies legt sie ihren Mitgliedsstaaten als verbindlich auf – durch die Mitgliedstaaten gewährleistet ist, «dass» diese die in der EMRK festgeschriebenen und durch den EGMR ausdifferenzierten Menschenrechte wahren. Erkennbar ist hier mithin eine Verknüpfung zwischen einer verbindlichen Vorgabe zum «Ob» bzw. «Dass» des von den Mitgliedstaaten zu gewährleistenden Schutzes der in der EMRK geregelten Menschenrechte einerseits und einer Offenheit für das «Wie», für den Weg bzw. die Art und Weise jenes von den Mitgliedstaaten zu wahrenden Menschenrechtsschutzes andererseits. Dieser spezielle Verknüpfungszusammenhang zwischen dem «Dass» und «Wie» spiegelt sich auch wider in der vom EGMR wiederholt betonten, grundsätzlich den Mitgliedstaaten zustehenden Entscheidung darüber, wie diese ihr Strafverfahren einschliesslich des Beweisverfahrens ausgestalten, auf welche Art und Weise sie die Beweiszulassung, -erhebung und -würdigung regeln, welche Beweismittel sie zulassen und wie sie die sich im Strafverfahren gegenüberstehenden vielfältigen Verfahrensinteressen in einen Ausgleich bringen möchten.1110
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EGMR, LÜDI v. SWITZERLAND, 15.06.1992, A238, § 43 (Hervorhebung Demko); siehe auch EGMR, VIDAL v. BELGIUM, 22.04.1992, A235-B, § 33: „… The task of the European Court is to ascertain whether the proceedings in issue, considered as a whole, were fair as required by paragraph 1 (art. 6-1) …“ (Hervorhebung Demko); EGMR, P.S. v. GERMANY, 20.12.2001, Application No. 33900/96 , § 19. Siehe auch GOLLWITZER, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR, S. 320 f. N 65, S. 402 ff. N 216 ff.; GAEDE, S. 462 ff. Siehe nur EGMR, SCHENK v. SWITZERLAND, 12.07.1988, A140, §§ 45, 46, 47: „…unless and in so far ...“ (§ 45). Siehe zum Beispiel EGMR, KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 20.11.1989, A166, § 39; EGMR, BARBERÀ, MESSEGUÉ AND JABARDO v. SPAIN, 06.12.1988, A146, § 68.
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
Diese Offenheit der EMRK und des EGMR für das «Wie», mithin zum einen für verschiedene Verfahrenstypen überhaupt sowie zum anderen für bestimmte Formen der Verfahrensgestaltung im Einzelnen, der eine insoweit – also für die Frage des «Wie» der Umsetzung der Konventionsgarantien – für die Mitgliedsstaaten bestehende Gestaltungsfreiheit an die Seite gestellt ist, findet aber ihre Grenze an der von den Mitgliedstaaten zu erfüllenden Verpflichtung, «dass» diese die in den Konventionsbestimmungen niedergelegten Menschenrechte wirksam zu wahren haben:1111 Genau bei dieser den Mitgliedstaaten obliegenden «Dass»-Verpflichtung beginnt und prägt sich die Prüfung(-spflicht) des EGMR aus. Ist es nicht seine Aufgabe vorzugeben, «wie», d.h. auf welchem Wege die menschenrechtsschützenden Konventionsbestimmungen national wirksam umzusetzen sind, so hat er jedoch zu prüfen, «ob» die in der EMRK enthaltenen Menschenrechte in den nationalen Rechtsordnungen geschützt, und zwar praktisch wirksam1112 geschützt sind.
340
„… On several occasions the Court has observed that the Contracting States enjoy considerable freedom in the choice of the means of ensuring that their legal system satisfies the requirements of Article 6 … Its task is to determine whether the method chosen by them in this connection leads to results which, in the cases which come before it, are consistent with the requirements of the Convention …“1113
341
Eben dies zeigt sich auch bezogen auf das dem Angeklagten in Art. 6 EMRK garantierte Menschenrecht auf ein faires Strafverfahren, indem der EGMR formuliert, dass es Aufgabe des Gerichtshofes sei „… to ascertain whether the proceedings considered as a whole, including the way in which evidence was taken, were fair …“.1114 Auch im Fall BARBERÀ, MESSEGUÉ AND JABARDO v. SPAIN heisst es hierzu:
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Siehe auch eingehend GAEDE, S. 462 ff., wonach „… in der Regel das Mittel der wirksamen Umsetzung, nicht aber die Umsetzung selbst“ (S. 464) frei gestellt sei. Zu dieser in ständiger Spruchpraxis des EGMR wiederholten Betonung der Gewährleistung tatsächlich wirksamer Rechte und insbesondere auch wirksamer Verteidigungsrechte vgl. etwa EGMR, ARTICO v. ITALY, 13.05.1980, A37, § 33: „… The Court recalls that the Convention is intended to guarantee not rights that are theoretical or illusory but rights that are practical and effective; this is particularly so of the rights of the defence in view of the prominent place held in a democratic society by the right to a fair trial, from which they derive ...“ (Hervorhebung Demko). EGMR, QUARANTA v. SWITZERLAND, 24.05.1991, A205, § 30 (Hervorhebung Demko); siehe zudem EGMR, HADJIANASTASSIOU v. GREECE, 16.12.1992, A252, § 33; EGMR, SCHENK v. SWITZERLAND, 12.07.1988, A140, § 45. EGMR, KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 20.11.1989, A166, § 39 (Hervorhebung Demko), wo es insgesamt heisst: „… It has to be recalled at the outset that the admissibility of evidence is primarily a matter for regulation by national law … Again, as a general rule it is for the national courts to assess the evidence before them ... In the light of these principles the Court sees its task in the present case as being
229
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht „… As a general rule, it is for the national courts, and in particular the court of first instance, to assess the evidence before them as well as the relevance of the evidence which the accused seeks to adduce ... The Court must, however, determine – and in this it agrees with the Commission – whether the proceedings considered as a whole, including the way in which prosecution and defence evidence was taken, were fair as required by Article 6 para. 1 ...“1115
343
(3)
Das Menschenrecht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren nach Art. 6 EMRK und dessen spezifischen Einzelgarantien in Art. 6 I, II und III EMRK
344
Mit Blick auf das sich in Art. 6 EMRK ausformende Menschenrecht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren, auf dessen Wahrung hin der EGMR die nationalen Strafverfahren in den ihm vorliegenden konkreten Einzelfällen überprüft, spricht ausdrücklich nur der Absatz 1 des Art. 6 EMRK von dem Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren («is entitled to a fair …hearing»). Der mit der Fairness des Verfahrens verbundene menschenrechtliche Ausgangs- und Ansatzpunkt des Art. 6 EMRK drückt sich zudem in der Spruchpraxis des EGMR aus:
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„… In any event, Article 6 of the Convention does not guarantee an applicant the right not to be prosecuted. It guarantees him the right to a fair procedure in the determination of the charges brought against him …“1116
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In Art. 6 II und III EMRK ist zwar nicht ausdrücklich von dem Recht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren die Rede. Jedoch werden die in den Absätzen 2 und 3 des Art. 6 EMRK benannten und darüber hinaus die vom EGMR entwickelten unbenannten Einzelrechte vom Gerichtshof als – und zwar konstituierende – Elemente («constituent elements»1117) und spezielle Ausprägungen, spezifische Aspekte («specific aspects»1118) des Rechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren verstanden. Begriffen ist das Recht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren mithin als ein Gesamtrecht, das alle einzelnen strafprozessualen Verfahrensrechte des Art. 6 EMRK in sich
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not to express a view as to whether the statements in question were correctly admitted and assessed but rather to ascertain whether the proceedings considered as a whole, including the way in which evidence was taken, were fair …“ (Hervorhebung Demko). EGMR, BARBERÀ, MESSEGUÉ AND JABARDO v. SPAIN, 06.12.1988, A146, § 68 (Hervorhebung Demko). EGMR, I.J.L., G.M.R. AND A.K.P. v. THE UNITED KINGDOM, 19.09.2000, Reports 2000-IX, § 101 (Hervorhebung Demko). Siehe etwa EGMR, DEWEER v. BELGIUM, 27.02.1980, A35, § 56; EGMR, BÖNISCH v. AUSTRIA, 06.05.1985, A92, § 29. Siehe beispielsweise EGMR, ISGRÒ v. ITALY, 19.02.1991, A194-A, § 31.
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
aufnimmt und einschliesst.1119 Zu den benannten Einzelgarantien gehören u.a. die in Art. 6 I EMRK genannte Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichts und die Öffentlichkeit des Verfahrens, die in Art. 6 II EMRK geregelte Unschuldsvermutung sowie die in den Buchstaben a. - e. des Art. 6 III EMRK aufgeführten und ausdrücklich als «minimum rights»1120 bezeichneten Verteidigungsrechte des Angeklagten. Als nicht abschliessend aufgezählt1121 verstandene Mindestrechte des Angeklagten sind in Art. 6 III EMRK das Recht des Angeklagten auf Unterrichtung über die Beschuldigung (Buchst. a), auf ausreichende Vorbereitung der Verteidigung (Buchst. b), auf Verteidigung in eigener Person oder durch einen Verteidiger (Buchst. c), auf Befragung von Belastungszeugen und Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen (Buchst. d) und auf unentgeltliche Beiordnung eines Dolmetschers (Buchst. e) genannt. Diesen, in das sie einende Ziel einer wirksamen Verteidigung des Angeklagten eingestellten1122 benannten spezifischen Einzelrechten des Angeklagten hat der EGMR weitere, aus dem Gesamtrecht auf ein faires Strafverfahren abgeleitete unbenannte spezifische Einzelrechte an die Seite gestellt. Zu diesen unbenannten spezifischen Einzelrechten gehören etwa das Recht des Angeklagten auf Anwesenheit und Teilnahme am Verfahren,1123 das Recht auf Akteneinsicht,1124 das Recht zu schweigen und sich nicht selbst belasten zu müssen1125 sowie das rechtliche Gehör1126 und das Rechtsprinzip der Waffengleichheit.1127 1119 1120
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In diesem Sinne auch GAEDE, S. 159 ff., 290 ff. Art. 6 III S. 1 EMRK, Hervorhebung Demko; siehe auch VOGLER, ZStW 1977, S. 787: „Mindeststandard“. Vgl. etwa EGMR, DEWEER v. BELGIUM, 27.02.1980, A 35, § 56: „… The presumption of innocence embodied in paragraph 2 ... and the various rights of which a non-exhaustive list appears in paragraph 3 ... ("minimum rights", "notamment") are constituent elements, amongst others, of the notion of a fair trial in criminal proceedings ...“ (Hervorhebung Demko); siehe auch bereits die Ausführungen der EKMR zum Verhältnis zwischen Art. 6 I EMRK und Art. 6 II, III EMRK in EKMR, JESPERS v. BELGIUM, 14.12.1981, Application No. 8403/78, Report of the Commission, S. 17 N 54; EKMR, NIELSEN v. DENMARK, 15.03.1961, Application No. 343/57, Report of the Commission, S. 79 N 52; VOGLER, ZStW 1977, S. 787: „nicht erschöpfend“. Siehe dazu sogleich unter Kap. 3 B. III. 1. b) cc) (4) und Kap. 4; siehe auch GRABENWARTER, S. 361 N 60 sowie S. 379 N 97: „Alle diese Garantien sind vom Gedanken der Effektivität der Verteidigung geprägt …“ (Hervorhebung Demko). Dazu etwa KÜHNE, in: Karl (Hrsg.), IntKommEMRK, 11. Lieferung, April 2009, Art. 6 N 383 ff.; GAEDE, S. 294 ff.; VILLIGER, S. 303 f.; HAEFLIGER/SCHÜRMANN, S. 183 f.; PEUKERT, in: Frowein/Peukert, Art. 6 N 94 ff. Dazu etwa ESSER, S. 424 ff.; GAEDE, S. 243 ff., 828 ff.; siehe auch HAEFLIGER/SCHÜRMANN, S. 188. Dazu etwa ESSER, S. 520 ff.; GAEDE, S. 312 ff.; GRABENWARTER, S. 389 f.; VILLIGER, S. 321 f.; HAEFLIGER/SCHÜRMANN, S. 185.
231
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht 347
Der EGMR prüft die Wahrung des als übergeordnetes Gesamtrecht angesehenen Rechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren im Wege einer von ihm in ständiger Rechtsprechung wiederholten sog. Gesamtbetrachtung,1128 mit der er auf seine Ansicht zum Verhältnis zwischen der allgemeinen Fairnessgarantie des Art. 6 I 1 EMRK und den speziellen, in Art. 6 I, II und III EMRK gewährleisteten benannten und unbenannten Einzelgarantien verweist: Letztere als spezifische Ausprägungen der in Art. 6 I 1 EMRK enthaltenen allgemeinen Garantie eines fairen Verfahrens begreifend,1129 betrachtet der Gerichtshof insbesondere auch die in Art. 6 III EMRK geregelten strafprozessualen Verteidigungsrechte des Angeklagten als – und zwar nicht in erschöpfender Weise aufgezählte – spezifische Aspekte und besondere Ausformungen («specific aspects», «specific applications») sowie als konstituierende Elemente («constituent elements»1130) eines fairen Strafverfahrens. Die benannten und unbenannten Verteidigungsrechte des Angeklagten erweisen sich mithin als spezifische Teilrechte des Gesamtrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren und konkretisieren die allgemeine Fairnessgarantie,1131 indem sie jeweils bestimmte besondere inhaltliche Einzelaspekte eines 1126
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Dazu etwa KÜHNE, in: Karl (Hrsg.), IntKommEMRK, 11. Lieferung, April 2009, Art. 6 N 364 ff.; GAEDE, S. 301 ff.; VILLIGER, S. 312 ff.; HAEFLIGER/SCHÜRMANN, S. 187 ff.; PEUKERT, in: Frowein/Peukert, Art. 6 N 72 ff. Dazu etwa KÜHNE, in: Karl (Hrsg.), IntKommEMRK, 11. Lieferung, April 2009, Art. 6 N 372 ff.; GAEDE, S. 305 ff.; VILLIGER, S. 307 ff.; HAEFLIGER/SCHÜRMANN, S. 185 ff.; PEUKERT, in: Frowein/Peukert, Art. 6 N 83 ff. Siehe zur Gesamtbetrachtung des EGMR und zu den zu dieser geäusserten befürwortenden und/oder kritisierenden Stimmen im Schrifttum etwa GAEDE, S. 326 ff., 383 ff., 428 ff.; SCHLEIMINGER, S. 7 ff., 21 ff.; WALTHER, GA 2003, S. 218 f.; siehe dazu auch SCHADEN, S. 217 ff. Siehe etwa EGMR, BARBERÀ, MESSEGUÉ AND JABARDO v. SPAIN, 06.12.1988, A146, § 67: „… The Court recalls that the guarantees in paragraphs 2 and 3 (d) ... are specific aspects of the right to a fair trial set forth in paragraph 1 ... it will therefore have regard to them when examining the facts under paragraph 1 ...“ (Hervorhebung Demko). Siehe etwa EGMR, DEWEER v. BELGIUM, 27.02.1980, A35, § 56; EGMR, BÖNISCH v. AUSTRIA, 06.05.1985, A92, § 29. Siehe aus der umfangreichen Spruchpraxis (z.B.): zur Öffentlichkeit: EGMR, DIENNET v. FRANCE, 26.09.1995, A325-A, § 33: „… The Court reiterates that the holding of court hearings in public constitutes a fundamental principle enshrined in paragraph 1 of Article 6 … By rendering the administration of justice transparent, publicity contributes to the achievement of the aim of Article 6 para. 1 …, namely a fair trial, the guarantee of which is one of the fundamental principles of any democratic society, within the meaning of the Convention …“, EGMR, SCHULER-ZGRAGGEN v. SWITZERLAND, 24.06.1993, A263, § 58; zur Unschuldsvermutung: EGMR, ALLENET DE RIBEMONT v. FRANCE, 10.02.1995, A308, § 35: „… The presumption of innocence enshrined in paragraph 2 of Article 6 … is one of the elements of the fair
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
fairen Strafverfahrens zum Ausdruck bringen, die es zu dessen Verwirklichung auf der Ausübungsebene zu verwirklichen gilt.1132 „… The Court further points out that these two paragraphs (art. 6-2, art. 6-3) represent specific applications of the general principle stated in paragraph 1 of the Article (art. 6-1). The presumption of innocence embodied in paragraph 2 (art. 6-2) and the various rights of which a non-exhaustive list appears in paragraph 3 (art. 6-3) ("minimum rights", "notamment") are constituent elements, amongst others, of the notion of a fair trial in criminal proceedings ...“1133
348
Die benannten und unbenannten Verteidigungsrechte des Angeklagten nicht nur als blosse, gar beliebig aufgezählte oder beliebig untereinander austauschbare Beispielsfälle für die Fairnessbeurteilung eines Strafverfahrens ansehend, sondern diese in Art. 6 EMRK ausdrücklich garantierten („express guarantees“1134) spezifischen Teilrechte des Angeklagten als Konstituenten eines fairen Strafverfahrens auffassend,1135 spricht der Gerichtshof – wie nachfolgend näher aufgezeigt wird – jenen spezifischen Verteidigungsrechten des Angeklagten im Rahmen der Beurteilung der Fairness eines Strafverfahrens eine besondere Bedeutung zu.1136 Die spezifischen benannten wie unbe-
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criminal trial that is required by paragraph 1 …“; siehe zu Art. 6 III EMRK beispielsweise die Entscheidungen EGMR, ARTICO v. ITALY, 13.05.1980, A37, § 32: „… Paragraph 3 of Article 6 ... contains an enumeration of specific applications of the general principle stated in paragraph 1 of the Article ... The various rights of which a non-exhaustive list appears in paragraph 3 reflect certain of the aspects of the notion of a fair trial in criminal proceedings ... When compliance with paragraph 3 is being reviewed, its basic purpose must not be forgotten nor must it be severed from its roots ...“, EGMR, PAKELLI v. GERMANY, 25.04.1983, A64, § 42: „… the Court would recall that the provisions of Article 6 para. 3 (c) ... represent specific applications of the general principle of a fair trial, stated in paragraph 1 ... Accordingly, the question whether paragraph 1 ... was observed has no real significance in the applicant’s case; it is absorbed by the question whether paragraph 3 (c) ... was complied with. The finding of a breach of the requirements of paragraph 3 (c) ... dispenses the Court from also examining the case in the light of paragraph 1 ...“, EGMR, PHAM HOANG v. FRANCE, 25.09.1992, A243, § 39, EGMR, GODDI v. ITALY, 09.04.1984, A76, § 28, EGMR, COLOZZA v. ITALY, 12.02.1985, A89, § 26, EGMR, FERRANTELLI AND SANTANGELO v. ITALY, 07.08.1996, Reports 1996-III, § 51, EGMR, BÖNISCH v. AUSTRIA, 06.05.1985, A92, § 29, EGMR, WINDISCH v. AUSTRIA, 27.09.1990, A186, § 23, (Hervorhebung Demko). Siehe zur Unterscheidung zwischen Inhalts- und Ausübungsebene auch unter Kap. 4 B. EGMR, DEWEER v. BELGIUM, 27.02.1980, A35, § 56 (Hervorhebung Demko). EGMR, AL-KHAWAJA AND TAHERY v. THE UNITED KINGDOM, 20.01.2009, Application Nr. 26766/05 ; 22228/06, § 34 (Hervorhebung Demko). Dies ebenso herausarbeitend und betonend GAEDE, S. 160. Dazu sogleich unter Kap. 3 B. III. 1. b) cc) (4) und unter Kap. 4.
233
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
nannten Verteidigungsrechte des Angeklagten sind als eingebettet in ihre „Wurzel“1137 («roots»1138) des Rechts auf ein faires Strafverfahren zu verstehen und leiten sich entsprechend von jenem Recht auf ein faires Strafverfahren als ihrem «Mutterrecht» ab:1139 350
„… considers it necessary however that the restrictions on private conversations between the applicant and his lawyer during the preliminary investigation be seen in the context of the criminal proceedings as a whole … in order to determine whether or not the applicant had a fair trial in accordance with Article 6(1) of the Convention. This provision constitutes the roots ("tronc commun") to which the rights specified in paragraph 3 are attached …“1140
351
Als unerlässliche Elemente für die Konstituierung eines fairen Strafverfahrens ist auch diesen Verteidigungsrechten des Angeklagten – wie Gaede zutreffend herausgearbeitet hat1141 – die bedeutende Wertschätzung zugesprochen, die der Gerichtshof mit Blick auf das Recht auf ein faires Strafverfahren und den diesem zukommenden herausragenden Platz («prominent place») in einer demokratischen Gesellschaft wiederholt betont:
352
„… In a democratic society within the meaning of the Convention, the right to a fair administration of justice holds such a prominent place that a restrictive interpretation of Article 6 para. 1 (art. 6-1) would not correspond to the aim and the purpose of that provision ...“1142
353
Diesen dem Recht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren in einer demokratischen Gesellschaft zukommenden herausragenden Platz auch auf die Verteidigungsrechte des Angeklagten übertragend, welche sich aus eben 1137 1138
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GAEDE, S. 161. EGMR, ARTICO v. ITALY, 13.05.1980, A37, § 32; EKMR, X. v. PORTUGAL, 13.12.1982, D.R. 31, 204, 208 f. Siehe dazu näher EGMR, ARTICO v. ITALY, 13.05.1980, A37, § 32: „… Paragraph 3 of Article 6 ... contains an enumeration of specific applications of the general principle stated in paragraph 1 of the Article ... The various rights of which a nonexhaustive list appears in paragraph 3 reflect certain of the aspects of the notion of a fair trial in criminal proceedings ... When compliance with paragraph 3 is being reviewed, its basic purpose must not be forgotten nor must it be severed from its roots ...“ (Hervorhebung Demko). EKMR, X. v. PORTUGAL, 13.12.1982, D.R. 31, 204, 208 f. (Hervorhebung Demko), auf EGMR, ARTICO v. ITALY Bezug nehmend. Siehe näher GAEDE, S. 161 f. EGMR, DELCOURT v. BELGIUM, 17.01.1970, A11, § 25 (Hervorhebung Demko); siehe ebenso beispielsweise EGMR, PRETTO AND OTHERS v. ITALY, 08.12.1983, A71, §§ 21 f.; EGMR, MOREIRA DE AZEVEDO v. PORTUGAL, 23.10.1990, A189, § 66; EGMR, COLOZZA v. ITALY, 12.02.1985, A89, § 32; EGMR, ADOLF v. AUSTRIA, 26.03.1982, A49, § 30; zu weiteren Rechtsprechungsnachweisen siehe GAEDE, S. 161 FN 18.
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
diesem Recht auf ein faires Strafverfahren als ihrer Wurzel («roots») ableiten, heisst es in der Spruchpraxis des EGMR: „… The Court recalls that the Convention is intended to guarantee not rights that are theoretical or illusory but rights that are practical and effective; this is particularly so of the rights of the defence in view of the prominent place held in a democratic society by the right to a fair trial, from which they derive ...“1143
354
Dabei wurden vom EGMR im Laufe seiner Rechtsprechung für jedes der in Art. 6 III EMRK genannten sowie für die vom EGMR entwickelten unbenannten Verteidigungsrechte spezifische Kriterien zu Inhalt, Umfang und Einschränkungsvoraussetzungen entwickelt, was aber nicht bedeutet, dass der Gerichtshof diese Verteidigungsrechte als vom allgemeinen Recht auf ein faires Strafverfahren nach Art. 6 I 1 EMRK streng getrennt und isoliert zu prüfende Einzelgarantien begreift: Verstanden als unselbständige Einzelgarantien eines insgesamt fairen Strafverfahrens1144 bringt der Gerichtshof vielmehr für seine Beurteilung, ob dem Angeklagten in einem konkreten Einzelfall ein insgesamt faires Strafverfahren gewährleistet worden ist, das Recht auf ein faires Strafverfahren in eine enge Verknüpfung mit seinen spezifischen, zu einem fairen Verfahren gezählten Einzelgarantien und prüft dementsprechend die dem Angeklagten zustehenden benannten und unbenannten Einzelgarantien aus den Absätzen 1, 2 und 3 des Art. 6 EMRK nach ständiger Spruchpraxis zusammen („taken together“1145) mit Art. 6 I EMRK:
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EGMR, ARTICO v. ITALY, 13.05.1980, A37, § 33 (Hervorhebung Demko); siehe zudem EGMR, COEME AND OTHERS v. BELGIUM, 22.06.2000, Reports 2000VII, § 98; mit Bezug auf Art. 6 III d EMRK vgl. auch EGMR, KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 20.11.1989, § 44: „… Although the growth in organised crime doubtless demands the introduction of appropriate measures, the Government’s submissions appear to the Court to lay insufficient weight on what the applicant’s counsel described as "the interest of everybody in a civilised society in a controllable and fair judicial procedure". The right to a fair administration of justice holds so prominent a place in a democratic society … that it cannot be sacrificed to expediency …“ (Hervorhebung Demko); EGMR, ZANA v. TURKEY, 25.11.1995, Reports 1997-VII, § 73; EGMR, VEEBER v. ESTONIA, 07.11.2002, Application No. 37571/97, § 70; siehe zu weiteren Rechtsprechungsnachweisen GAEDE, S. 162 FN 19. Siehe auch GOLLWITZER, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR, S. 325 N 70: „unselbständige Einzelausprägungen“ (im Original fettgedruckt). EGMR, KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 20.11.1989, A166, § 39 (Hervorhebung Demko); siehe auch beispielsweise EGMR, F.C.B. v. ITALY, 28.08.1991, A208-B, § 29: „… as the requirements of paragraph 3 of Article 6 … are to be seen as particular aspects of the right to a fair trial guaranteed by paragraph 1 …, the Court will examine the complaint from the point of view of these two provisions in conjunction …“; EGMR, ISGRÒ v. ITALY, 19.02.1991, A194-A, § 31: „… The Court’s task is to ascertain whether the proceedings considered as a whole, including the way in which evidence was taken, were fair … As this is the fundamental point at issue and
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Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht 356
„… because the guarantees in paragraph 3 of Article 6 … are specific aspects of the right to a fair trial set forth in paragraph 1 … the Court will consider the applicant’s complaints from the angle of paragraphs 3 (d) and 1 taken together …“1146
357
Entscheidend ist für die Prüfung des EGMR, ob dem Angeklagten ein Strafverfahren gewährleistet wurde, das sich «als Ganzes» als ein faires (oder eben als ein nicht faires) Strafverfahren erweist.1147
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„… The Court’s task is to ascertain whether the proceedings considered as a whole, including the way in which evidence was taken, were fair … As this is the fundamental point at issue …“1148
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Mit Blick auf diese für den Gerichtshof massgebende und unter Zugrundelegung einer Gesamtschau sämtlicher Verfahrensvorgänge1149 zu beantwortende Frage stellt der EGMR die spezifischen Einzelgarantien in eine Beziehung zueinander sowie zu ihrem ihre Herleitung bewirkenden «Mutterrecht» in Gestalt des Gesamtrechts auf ein faires Strafverfahren.1150 Im Rahmen dieser
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since the guarantees in paragraph 3 of Article 6 … are specific aspects of the right to a fair trial set forth in paragraph 1 … the Court will consider the complaint under the two provisions taken together …“; EGMR, UNTERPERTINGER v. AUSTRIA, 24.11.1986, A110, § 29; EGMR, BRICMONT v. BELGIUM, 07.07.1989, A158, § 75: „… It seems appropriate in the instant case to look at the applicants’ complaints from the points of view of paragraphs 1 and 3 of Article 6 … taken together, especially as the guarantees in paragraph 3 (art. 6-3) represent aspects of the concept of a fair trial contained in paragraph 1 (art. 6-1) …“, (Hervorhebung Demko). EGMR, KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 20.11.1989, A166, § 39 (Hervorhebung Demko). Siehe etwa EGMR, ISGRÒ v. ITALY, 19.02.1991, A194-A, § 31; EGMR, ALLAN v. THE UNITED KINGDOM, 05.11.2002, Reports 2002-IX, § 42: „… It is not the role of the Court to determine, as a matter of principle, whether particular types of evidence – for example, unlawfully obtained evidence – may be admissible or, indeed, whether the applicant was guilty or not. The question which must be answered is whether the proceedings as a whole, including the way in which the evidence was obtained, were fair …“, (Hervorhebung Demko); vgl. auch die Ausführungen von GAEDE, S. 163. EGMR, ISGRÒ v. ITALY, 19.02.1991, A194-A, § 31 (Hervorhebung Demko). Siehe beispielsweise EGMR, PRETTO AND OTHERS v. ITALY, 08.12.1983, A71, § 27: „… account must be taken of the entirety of the proceedings …“; EGMR, DELCOURT v. BELGIUM, 17.01.1970, A11, § 25: „… Criminal proceedings form an entity …“; EGMR, BULUT v. AUSTRIA, 22.02.196, Reports 1996-II, § 40; EGMR, SCHENK v. SWITZERLAND, 12.07.1988, A140, § 46: „… trial as a whole was fair ...“; EGMR, GRANGER v. THE UNITED KINGDOM, 28.03.1990, A174, § 46; EGMR, , ISGRÒ v. ITALY, 19.02.1991, A194-A, § 31; (Hervorhebung Demko); siehe weitere Rechtsprechungsnachweise bei GAEDE, S. 162 FN 23. Siehe zum nicht beziehungslosen Nebeneinanderstehen der Einzelgarantien auch GAEDE, S. 162 f. mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen, siehe auch S. 290: „Ge-
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
Prüfung des Art. 6 I EMRK «in Verbindung mit» den spezifischen Verteidigungsrechten nach Art. 6 III EMRK gilt es nach der Rechtsprechung des EGMR, sowohl die Einzelgarantien des Art. 6 III EMRK und ihre jeweils besonderen Regelungsinhalte zu berücksichtigen als auch zu beachten, den alle Verteidigungsrechte einenden grundlegenden Zweck («basic purpose»), das eigentliche Grundanliegen bzw. das „Kernstück“1151 des Art. 6 EMRK nicht aus den Augen zu verlieren, welcher/s ist, dem Angeklagten ein insgesamt faires Strafverfahren zu gewährleisten: „… Paragraph 3 of Article 6 (art. 6-3) contains an enumeration of specific applications of the general principle stated in paragraph 1 of the Article (art. 6-1). The various rights of which a non-exhaustive list appears in paragraph 3 reflect certain of the aspects of the notion of a fair trial in criminal proceedings ... When compliance with paragraph 3 is being reviewed, its basic purpose must not be forgotten nor must it be severed from its roots ...“1152
(4)
Die spezifischen benannten und unbenannten Verteidigungsrechte des Angeklagten und dessen «Recht auf wirksame Verteidigung» als essentielle Elemente des Menschenrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren
Wurde bisher von «den» Verteidigungsrechten gesprochen, so ist wichtig hervorzuheben, dass mit diesen spezifischen Verteidigungsrechten, seien es die benannten oder die unbenannten, jeweils bestimmte einzelne Facetten bzw. spezifische Ausschnitte des Moments angesprochen sind, um das es allen spezifischen Verteidigungsrechten – trotz ihrer bezogen auf die Ausübungsebene bestehenden «Verschiedenheit im Besonderen» – im Rahmen eines fairen Strafverfahrens mit Bezug auf den Angeklagten in der Sache (d.h. auf der Inhaltsebene) geht bzw. zu gehen bestimmt ist: dem Angeklagten im Strafverfahren eine «wirksame Verteidigung» zu garantieren. Diese durch die verschiedenen benannten und unbenannten spezifischen Verteidigungsrechte dem Angeklagten zu sichernde «wirksame Verteidigung» im Strafverfahren ist das, was als inhaltlich Gemeinsames, als tragende materielle «Essenz», als ihren Wesensgehalt ansprechende Grundaussage, mithin als ihr inhaltlicher Wesensgehalt hinter den verschiedenen (benannten und unbenannten) spezifischen Verteidigungsrechten des Art. 6 EMRK steht1153 und
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samtrecht“ und „integrales Menschenrecht“; zudem SUMMERS, S. 65 ff. zur Frage der Verbindung von Defence Rights und Fairness. GOLLWITZER, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR, S. 318 N 64. EGMR, ARTICO v. ITALY, 13.05.1980, A37, § 32 (Hervorhebung Demko). Siehe auch GRABENWARTER, S. 361 N 60 sowie S. 379 N 97: „Alle diese Garantien sind vom Gedanken der Effektivität der Verteidigung geprägt …“ (Hervorhebung Demko); GAEDE, S. 389 ff.: „Teilhabe am Prozess des Richtens“ (S. 389, siehe auch
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Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
diese eint. Die zwar auf der Ausübungsebene verschiedenen einzelnen Verteidigungsrechte lassen sich mit Blick auf eben dieses ihnen wesensgemäss gemeinsame inhaltliche Grundstreben, mithin auf der Inhaltsebene zu «dem» Recht des Angeklagten auf «wirksame Verteidigung» im Strafverfahren zusammenführen.1154 362
Zeigt das Recht auf «wirksame Verteidigung» den Wesensgehalt aller (benannten und unbenannten) spezifischen Verteidigungsrechte an, so prägen diese ihrerseits jeweils bestimmte spezifische Ausübungsaskepte aus, um mittels dieser ihrem Wesensgehalt einer wirksamen Verteidigung des Angeklagten im Strafverfahren zur Erfüllung und Verwirklichung zu verhelfen. Die nachfolgenden, die Spruchpraxis des EGMR näher erörternden Darstellungen werden zugleich sichtbar machen, dass sich das Recht des Angeklagten auf «wirksame Verteidigung» – und ebenso die diesem Recht auf «wirksame Verteidigung» auf der Ausübungsebene zur Verwirklichung verhelfenden spezifischen (Einzel-)Verteidigungsrechte – seinerseits als notwendiges Element und erforderlicher Grundbaustein des (Gesamt-)Rechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren erweist.
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Der vom EGMR betonten Forderung nach einer wirksamkeitsverpflichteten Auslegung der EMRK und dementsprechend der Forderung nach einer in jedem Einzelfall praktisch wirksamen, nicht nur theoretisch und illusorisch bleibenden Gewährleistung der in der EMRK enthaltenen Menschenrechte geschuldet sind hierbei folgende Gesichtspunkte:1155 Die in Art. 6 III EMRK benannten und die vom Gerichtshof entwickelten unbenannten spezifischen (Einzel-)Verteidigungsrechte erschöpfen sich nicht in einer bzw. geben sich nicht zufrieden mit einer nur rein formalen Erfüllung der in ihnen jeweils enthaltenen besonderen Regelungsanliegen. Es genügt danach nicht, dass der Angeklagte rein formal betrachtet z.B. über die Beschuldigung rechtzeitig unterrichtet wurde, einen Zeugen befragen konnte oder einen unentgeltlichen Dolmetscher erhielt, wenn und solange sich diese zwar (formal) ausübbaren
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S. 390), die „im Strafverfahren notwendig Verteidigung“ (S. 391) ist und „wirksam sein muss“ (S. 391); siehe auch KÜHNE, in: Karl (Hrsg.), IntKommEMRK, 11. Lieferung, April 2009, Art. 6 N 357: „Anspruch, seine Sache dem Gericht in angemessener Weise und unter nicht wesentlich ungünstigeren Bedingungen als der Prozessgegner vortragen zu können“; WALTHER, GA 2003, S. 222: „Grundrecht auf effektive Verteidigung im Strafprozess“ (Hervorhebung Demko); BRUNHÖBER, ZIS 2010, S. 767: „Recht auf eine effektive Verteidigung des Beschuldigten (ist) Kernbestand des Anspruchs auf ein faires Verfahren“ (Hervorhebung Demko). Siehe zu dem «Menschenrecht auf Verteidigung» näher unter Kap. 4. Siehe zu jenem wirksamkeitsverpflichteten Auslegungsgrundsatz des EGMR aus dem Schrifttum etwa GAEDE, S. 89 ff.
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
Verteidigungsrechte in der Sache als nur „inhaltsleere(n) Form“1156 erweisen. Zu der in ständiger Spruchpraxis des EGMR betonten Forderung nach einer nicht nur theoretischen und illusorischen, sondern einer in jedem Einzelfall praktisch wirksamen Auslegung und Wahrung der Verteidigungsrechte des Angeklagten heisst es in der Entscheidung ARTICO v. ITALY : „… The Court recalls that the Convention is intended to guarantee not rights that are theoretical or illusory but rights that are practical and effective; this is particularly so of the rights of the defence in view of the prominent place held in a democratic society by the right to a fair trial, from which they derive …“1157
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Die benannten und unbenannten spezifischen (Einzel-)Verteidigungsrechte des Angeklagten bilden auf der Ausübungsebene besondere Einzelaspekte, prägen mithin bestimmte Ausübungsmomente bzw. genauer bestimmte Ausübungsrechte für das aus, für das diese «in der Sache» und hier die Wesensgehalts-, die Inhaltsebene betreffend übereinstimmend Sorge zu tragen haben: nämlich in jedem Einzelfall eine (im materiellen Sinne zu verstehende) praktisch wirksame Verteidigung des Angeklagten im Strafverfahren zu sichern. Eingestellt sind die spezifischen einzelnen Verteidigungsrechte des Angeklagten als Ausübungsrechte mit Bezug auf deren Inhaltsebene in «das» Recht des Angeklagten auf «wirksame Verteidigung», welches dem wirksamkeitsverpflichteten Auslegungsgrundsatz des EGMR entsprechend in einem materiellen Sinne zu verstehen ist und nach einer zu gewährleistenden praktisch wirksamen Verteidigung des Angeklagten im Strafverfahren verlangt. Dies hat zur Folge, dass auch die für die Erfüllung jenes Rechts auf praktisch wirksame Verteidigung des Angeklagten im Strafverfahren erforderlichen einzelnen spezifischen Verteidigungsrechte des Angeklagten an der Forderung nach materieller, in jedem Einzelfall praktisch-wirksamer Erfül-
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BVerfGE 64, 135, S. 144; siehe auch BVerfG, 2 BvR 2299/09 vom 16.01.2010, wonach sich das Grundrecht auf rechtliches Gehör nicht darin erschöpfe, dass dem Betroffenen die Gelegenheit gewährt werde, „überhaupt gehört“ (N 30) zu werden, sondern dass diesem vielmehr die Gelegenheit zu geben ist, sich „zum Gegenstand des Verfahrens sowie zum Verfahren selbst – insbesondere auch zu allen entscheidungserheblichen Tatsachen, zum Vortrag der übrigen Beteiligten, zu Ergebnissen sowie entscheidungserheblichen Rechtsfragen“ (N 30) zu erklären und „sich zu dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt zu äuβern, also grundsätzlich zu jeder dem Gericht zur Entscheidung unterbreiteten Stellungnahme der Gegenseite“ (N 30), und zwar „sachgemäβ, zweckentsprechend und erschöpfend“ (N 30), (Hervorhebung Demko). EGMR, ARTICO v. ITALY, 13.05.1980, A37, § 33 (Hervorhebung Demko); vgl. auch die weiteren Rechtsprechungsnachweise in der nachfolgenden Fussnote.
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Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
lung – ihrer selbst und dadurch letztlich «des» Verteidigungsrechts des Angeklagten – teilzunehmen haben.1158 366
Bei den spezifischen (Einzel-)Verteidigungsrechten und «dem» Recht auf wirksame Verteidigung ist mithin auf die Unterscheidung, aber auch Zusammenführung von Form und Inhalt bzw. von Ausübung(sebene) und Wesensgehalt(sebene) zu achten: Die spezifischen (Einzel-)Verteidigungsrechte stellen sich einerseits als Ausübungsformen dar, die das «Wie» der Wahrung einer wirksamen Verteidigung des Angeklagten im Strafverfahren betreffen, indem sie regeln, was an bestimmten einzelnen Sachmomenten – wie etwa die ausreichende Unterrichtung des Angeklagten über die gegen ihn erhobene Beschuldigung, die Selbst- und Wahlverteidigung oder auch das Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen – in welcher Art und Weise dem Angeklagten im Strafverfahren zu gewährleisten ist, um ihm dadurch in der Sache, mithin die Wesensgehalts- bzw. Inhaltsebene betreffend ein (materiell) wirksames Verteidigungsrecht im Strafverfahren zu sichern. Jedoch erschöpfen sich die spezifischen (Einzel-)Verteidigungsrechte nicht darin, blosse „inhaltsleere(n) Form“1159 zu sein, sondern diese nehmen vielmehr den Bezug zu ihrer Inhaltsebene ansprechend selbst zugleich an der vom EGMR geforderten wirksamkeitsverpflichteten Auslegung teil: Zu begreifen sind die spezifischen (Einzel-)Verteidigungsrechte dementsprechend als «inhaltsgefüllte Form», welche nach einer in jedem Einzelfall gesicherten praktisch wirksamen Gewährleistung ihrer selbst und dadurch letztlich «des» Verteidigungsrechts des Angeklagten verlangen.1160
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Auch wenn der Gerichtshof bisher weder eine allgemeine Definition des Fairnessbegriffs überhaupt noch – speziell auf die Person des Angeklagten bezogen – eines (Menschen-)Rechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren ausformuliert hat,1161 so zeigt sich in seiner umfangreichen Rechtspre1158
1159 1160 1161
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Zur Betonung der wirksamkeitsverpflichteten Auslegung auch für die Verteidigungsrechte des Angeklagten siehe aus der Spruchpraxis des EGMR beispielsweise EGMR, BRENNAN v. THE UNITED KINGDOM, 16.10.2001, Reports 2001-X; EGMR, CZEKALLA v. PORTUGAL, 10.10.2002, Reports 2002-VIII, § 60; EGMR, S. v. SWITZERLAND, 28.11.1991, § 48; EGMR, IMBRIOSCIA v. SWITZERLAND, 24.11.1993, A275, § 38; siehe auch JUNG, StV 1990, S. 515 zur „wirkungsorientierten“ Interpretation der Konventionsgarantien. BVerfGE 64, 135, S. 144. Siehe dazu im Einzelnen auch unter Kap. 4. Siehe EKMR, JESPERS v. BELGIUM, 14.12.1981, Application No. 8403/78, Report of the Commission, S. 17 N 54: „… As the Commission has long previously pointed out, Article 6 does not define the notion of a fair trial in criminal cases …“ (Hervorhebung Demko); EKMR, NIELSEN v. DENMARK, 15.03.1961, Application No. 343/57, Report of the Commission, S. 79 N 52: „… Article 6 of the Convention does not define the notion of “fair trial“ in a criminal case“ (Hervorhebung Demko); siehe
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
chung zu Art. 6 EMRK und hier insbesondere zu den spezifischen (benannten wie unbenannten) (Einzel-)Verteidigungsrechten des Angeklagten, dass sich das Recht des Angeklagten auf «wirksame Verteidigung» im Strafverfahren als ein unverzichtbares Grundmoment, als ein essentieller Bestandteil im Sinne von konstituierender Grundbaustein des (Gesamt-)Rechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren darstellt:1162 Das Gesamtrecht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren, dessen Recht auf wirksame Verteidigung und die (benannten und unbenannten) spezifischen (Einzel-)Verteidigungsrechte des Angeklagten in eine Verbindung miteinander bringend, ist es das Gesamtrecht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren, das als «die» eigentliche Aussage bzw. als „Kernstück“1163 und grundlegender Zweck («basic purpose») den gesamten Art. 6 EMRK durchdringt und inhaltlich bestimmt. Das die Wesensgehalts- bzw. Inhaltsebene ansprechende dem Angeklagten zu gewährende Recht auf wirksame Verteidigung erweist sich – wie die nachfolgenden Darstellungen zur Rechtsprechung des EGMR im Einzelnen aufzeigen werden – als eine notwendige Voraussetzung, als ein konstituierendes Grundmoment für das Gesamtrecht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren. Die Gewährleistung dieses Rechts auf wirksame Verteidigung – und damit wiederum auch des Gesamtrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren – verlangt ihrerseits auf der Ausübungsebene nach Erfüllung der spezifischen (benannten und unbenannten) (Einzel-)Verteidigungsrechte als denjenigen «Formen», durch deren Ausübung bzw. als denjenigen «Wegen», durch deren Beschreiten sich das Verteidigungsrecht des Angeklagten materiell wirksam verwirklicht. Das Gesamtrecht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren, dessen Recht auf wirksame Verteidigung und dessen spezifische (Einzel-)Verteidigungsrechte in einem solchen aufeinander bezugnehmenden und sich gegenseitig bedingenden wie berührenden Sinne betrachtend, lassen sich diese – bildlich vorgestellt – im Rahmen des Art. 6 EMRK als drei sich berührende «Kreise unterschiedlicher Grösse» verstehen: Bildet das den gesamten Art. 6 EMRK mit all dessen Einzelausprägungen durchdringende Gesamtrecht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren den «grössten Kreis», um dessen Wah-
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dazu mit weiteren Verweisen auf die EKMR auch SPANIOL, S. 116 ff., vgl. auch S. 116: „definiere diesen Begriff … nicht“; vgl. ebenso GAEDE, S. 292: kein bewusster Versuch des EGMR, das faire Verfahren „allgemein zu definieren oder über Detailrechte und Detailfragen hinaus zu konkretisieren“ (Hervorhebung Demko), zudem mit weiteren Verweisen in FN 519; STAVROS, S. 43: „right to a fair hearing, which remains largely undefined“ (Hervorhebung Demko); siehe auch SCHAERZ, S. 52, wonach Art. 6 EMRK den „Begriff der Fairness nicht (definiert)“ (hier kursive, im Original fettgedruckte Hervorhebung). Siehe dazu unter Kap. 3 B. III. 1. b) cc) (4) und unter Kap. 4. GOLLWITZER, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR, S. 318 N 64.
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rung es letztlich bei Art. 6 EMRK geht, so formt sich das Recht auf wirksame Verteidigung durch dessen Bedeutung als konstituierender Teil und Grundbaustein des Gesamtrechts auf ein faires Strafverfahren als sozusagen «mittlerer Kreis» aus, den es innerhalb und für die Beachtung des Art. 6 EMRK zu wahren gilt. Diese zu wahrende wirksame Verteidigung des Angeklagten – und so ebenso der «grösste Kreis» in Gestalt des Gesamtrechts auf ein faires Strafverfahren – verlangt ihrerseits wiederum (und nunmehr auf der Ausübungsebene) nach Erfüllung von vielfältigen spezifischen (benannten und unbenannten) (Einzel-)Verteidigungsrechten, welche sich als vielzählige «kleine Kreise» vorstellen lassen, die es – jeweils die Ausübungsmöglichkeit spezifischer einzelner Sachmomente ansprechend – im Rahmen des Art. 6 EMRK und für dessen Beachtung zu gewährleisten gilt. 369
Oder, umgekehrt gesprochen – und nicht vom grössten Kreis zu den kleinen Kreisen, sondern von den kleinen Kreisen zu dem grössten Kreis blickend –, lässt sich die Verknüpfung der verschieden grossen Kreise auch dergestalt ausdrücken: Das inhaltlich bzw. wesensgehaltmässig gemeinsame Bestreben aller spezifischen (Einzel-)Verteidigungsrechte ist – trotz ihrer, sich auf die Ausübungsebene beziehenden «Verschiedenheit im Besonderen» – die wirksame Verteidigung des Angeklagten im Strafverfahren, mithin die Wahrung «des» Rechts des Angeklagten auf wirksame Verteidigung. Dieses zu wahrende Recht auf wirksame Verteidigung ist seinerseits – und dadurch zugleich sind es auch die auf eine wirksame Verteidigung des Angeklagten ausgerichteten spezifischen (Einzel-)Verteidigungsrechte des Angeklagten – wiederum in den allumfassenden, den gesamten Art. 6 EMRK bestimmenden grundlegenden Zweck («basis purpose») bzw. den letztlich entscheidenden «Kernzweck» des Art. 6 EMRK eingestellt, dem Angeklagten dessen Gesamtrecht auf ein insgesamt faires Strafverfahren zu gewähren.1164
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Jene eben aufgezeigte Verbindung zwischen dem Gesamtrecht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren, dessen Recht auf wirksame Verteidigung und dessen spezifischen (Einzel-)Verteidigungsrechten wird auch in der Spruchpraxis des EGMR deutlich:
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Es ist die dem Angeklagten einzuräumende Möglichkeit einer praktisch wirksamen und gleichberechtigten Teilnahme am Strafverfahren mit der dadurch vermittelten Möglichkeit einer tatsächlichen und gleichen Einflussnahme auf das Verfahren und Verfahrensergebnis,1165 was der EGMR für die Erfüllung 1164 1165
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Siehe dazu auch GOLLWITZER, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR, S. 318 ff. N 64, 65, 70. Siehe etwa EGMR, PAKELLI v. GERMANY, 25.04.1983, A 64, § 39: „… By refusing to provide him with a defence counsel, the Federal Court deprived him, during the oral stage of the proceedings, of the opportunity of influencing the outcome of the case, a possibility that he would have retained had the proceedings been conducted entirely in writing ...“ (Hervorhebung Demko).
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
des Rechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren einfordert. In der Entscheidung T. v. THE UNITED KINGDOM heisst es insofern prägnant: „… The Court notes that Article 6, read as a whole, guarantees the right of an accused to participate effectively in his criminal trial …“1166
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Bezug nimmt der EGMR dabei auf die frühere Entscheidung STANFORD v. THE UNITED KINGDOM, in der der EGMR zum Recht des Angeklagten auf eine effektive Verfahrensteilnahme bereits näher ausführte:
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„… Article 6 …, read as a whole, guarantees the right of an accused to participate ef- 374 fectively in a criminal trial. In general this includes, inter alia, not only his right to be present, but also to hear and follow the proceedings. Such rights are implicit in the very notion of an adversarial procedure and can also be derived from the guarantees contained in sub-paragraphs (c), (d) and (e) of paragraph 3 of Article 6 …“1167
Auch in der jüngeren Entscheidung S.C. v. THE UNITED KINGDOM aus dem Jahre 2004 sowie in der Entscheidung LAGERBLOM v. SWEDEN aus dem Jahre 2003 bekräftigt der Gerichtshof dieses Recht des Angeklagten auf eine effektive Teilnahme am Strafverfahren,1168 in der Entscheidung S.C. v. THE UNITED KINGDOM hierbei zudem die besonderen Anforderungen betonend, die es für minderjährige Angeklagte zu beachten gilt:
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„…“effective participation” in this context presupposes that the accused has a broad understanding of the nature of the trial process and of what is at stake for him or her, including the significance of any penalty which may be imposed. It means that he or she, if necessary with the assistance of, for example, an interpreter, lawyer, social worker or friend, should be able to understand the general thrust of what is said in court. The defendant should be able to follow what is said by the prosecution witnesses and, if represented, to explain to his own lawyers his version of events, point out any statements with which he disagrees and make them aware of any facts which should be put forward in his defence …“1169
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EGMR, T. v. THE UNITED KINGDOM, 16.12.1999, Application No. 24724/94 , § 83 (Hervorhebung Demko). EGMR, STANFORD v. THE UNITED KINGDOM, 23.02.1994, A282-A, § 26 (Hervorhebung Demko). EGMR, LAGERBLOM v. SWEDEN, 14.01.2003, Application No. 26891/95, § 49: „… The Court reiterates at the outset that, read as a whole, Article 6 of the Convention guarantees the right of an accused to participate effectively in a criminal trial. In general this includes not only the right to be present, but also the right to receive legal assistance, if necessary, and to follow the proceedings effectively. Such rights are implicit in the very notion of an adversarial procedure and can also be derived from the guarantees contained in sub-paragraphs (c) and (e) of Article 6 § 3 …“ (Hervorhebung Demko). EGMR, S.C. v. THE UNITED KINGDOM, 15.06.2004, Reports 2004-IV, § 29 (Hervorhebung Demko), siehe weiter §§ 29 ff.
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Jedoch ist es nicht eine Teilnahmemöglichkeit überhaupt oder zu irgendeinem beliebigen Zweck, mit der sich der EGMR begnügt, sondern es ist – was sich aus der besonderen Verfahrensrolle ergibt bzw. mit dieser notwendig zusammenhängt, die der Angeklagte im Strafverfahren einnimmt1170 – eine dem Angeklagten einzuräumende Möglichkeit einer wirksamen und gleichberechtigten Teilnahme am Strafverfahren zu seiner Verteidigung, die der EGMR verlangt1171 und in seiner wiederholt betonten, wenn auch teils unterschiedlich formulierten Forderung nach einer dem Angeklagten zu gewährleistenden Möglichkeit einer wirksamen Verteidigung im Strafverfahren zusammenführt und als Voraussetzung für ein faires Strafverfahren ausweist.1172 Das Recht des Angeklagten auf eine wirksame Verteidigung im Strafverfahren hat sich in der Rechtsprechung des EGMR als notwendig zu erfüllender Grundbaustein des weiterreichenden Gesamtrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren erkenntlich gezeigt.1173 Ebenso macht die Rechtsprechung des EGMR zu den in Art. 6 I, II und III EMRK geregelten Einzelgarantien deutlich, dass das Recht auf wirksame Verteidigung seinerseits für seine allumfassende und im Ergebnis praktisch wirksame Erfüllung nach Beachtung und ihrerseits praktisch wirksamer Gewährleistung der einzelnen
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Siehe zum dialektischen Charakter des Strafverfahrens sowie zu dem Sich-Gegenüberstehen der These der anklagenden Seite und der Antithese der angeklagten Seite bereits unter Kap. 2 B. II. 4. Siehe etwa EGMR, AIREY v. IRELAND, 09.10.1979, A32, § 24; vgl. zudem die Rechtsprechungsnachweise in den nachfolgenden Fussnoten. Siehe etwa EGMR, PAKELLI v. GERMANY, 25.04.1983, A64, § 31, wo es im Zusammenhang mit Art. 6 III c EMRK heisst: „… Having regard to the object and purpose of this paragraph, which is designed to ensure effective protection of the rights of the defence ...“ (Hervorhebung Demko). Siehe dazu sogleich unter Kap. 3 B. III. 1. b) cc) (4) sowie unter Kap. 4; siehe auch EGMR, G.B. v. FRANCE, 02.10.2001, Reports 2001-10, § 70: „… the requirements of a fair trial were infringed and the rights of the defence were not respected …“; EGMR, BORGERS v. BELGIUM, 30.10.1991, A214-B, § 24: „… It is, however, necessary to consider whether the proceedings before the Court of Cassation also respected the rights of the defence and the principle of the equality of arms, which are features of the wider concept of a fair trial …“; EGMR, ADOLF v. AUSTRIA, 26.03.1982, A49, § 30: „… The prominent place held in a democratic society by the right to a fair trial favours a "substantive", rather than a "formal", conception of the "charge" referred to by Article 6 (art. 6) … In particular, the applicant's situation under the domestic legal rules in force has to be examined in the light of the object and purpose of Article 6 (art. 6), namely the protection of the rights of the defence ...“, (Hervorhebung Demko).
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
spezifischen (benannten und unbenannten) Verteidigungsrechte des Art. 6 EMRK verlangt.1174 (4.1)
Die benannten spezifischen Verteidigungsrechte in ihrer Verbindung zur wirksamen Verteidigung des Angeklagten und zu dessen Recht auf ein faires Strafverfahren in der Rechtsprechung des EGMR
Sichtbar ist dieser – nunmehr näher zu belegende – Zusammenhang zwischen (erstens) den einzelnen spezifischen Verteidigungsrechten des Angeklagten, (zweitens) dessen Recht auf wirksame Verteidigung und (drittens) dessen Gesamtrecht auf ein faires Strafverfahren in der Rechtsprechung des EGMR zu den benannten Verteidigungsrechten des Art. 6 III EMRK.
378
In Bezug auf das Recht des Angeklagten auf Unterrichtung über die erhobene Beschuldigung nach Art. 6 III a EMRK zeigt der EGMR auf, dass eine wirksame Verteidigung des Angeklagten im Strafverfahren nach einer möglichst frühzeitigen und umfassenden Unterrichtung des Beschuldigten über die gegen ihn erhobenen Beschuldigungen verlangt und diese essentielle Voraussetzung für ein faires Strafverfahren ist. In mehreren Entscheidungen, etwa in den Fällen COLOZZA v. ITALY und SADAK AND OTHERS v. TURKEY verdeutlicht der EGMR, dass „…(T)he scope of Article 6 § 3 (a) must in particular be assessed in the light of the more general right to a fair hearing guaranteed by the first paragraph of Article 6 of the Convention …“.1175 Auch im Fall PÉLISSIER AND SASSI v. FRANCE heisst es:
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Siehe etwa im Zusammenhang mit Art. 6 III c EMRK die Ausführungen des Gerichtshofes in EGMR, IMBRIOSCIA v. SWITZERLAND, 24.11.1993, A275, § 38 : „… In this respect, it must be remembered that the Convention is designed to "guarantee not rights that are theoretical or illusory but rights that are practical and effective" and that assigning a counsel does not in itself ensure the effectiveness of the assistance he may afford an accused …“; EGMR, GRANGER v. THE UNITED KINGDOM, 28.03.1990, A174, § 47: „… On the other hand, the applicant, as was not contested, was not in a position fully to comprehend the pre-prepared speeches he read out … or the opposing arguments submitted to the court. It is also clear that, had the occasion arisen, he would not have been able to make an effective reply to those arguments or to questions from the bench …“; siehe deutlich auch EGMR, AIREY v. IRELAND, 09.10.1979, A32, § 24: „… The Convention is intended to guarantee not rights that are theoretical or illusory but rights that are practical and effective ... This is particularly so of the right of access to the courts in view of the prominent place held in a democratic society by the right to a fair trial ... It must therefore be ascertained whether Mrs. Airey’s appearance before the High Court without the assistance of a lawyer would be effective, in the sense of whether she would be able to present her case properly and satisfactorily ...“, (Hervorhebung Demko). EGMR, SADAK AND OTHERS v. TURKEY, 17.07.2001, Reports 2001-VIII, § 49 (Hervorhebung Demko); EGMR, COLOZZA v. ITALY, 12.02.1985, A89, § 26; vgl.
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Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht 380
„… The Court considers that in criminal matters the provision of full, detailed information concerning the charges against a defendant, and consequently the legal characterisation that the court might adopt in the matter, is an essential prerequisite for ensuring that the proceedings are fair … the Court considers that sub-paragraphs (a) and (b) of Article 6 § 3 are connected and that the right to be informed of the nature and the cause of the accusation must be considered in the light of the accused’s right to prepare his defence …“1176
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Das Recht des Angeklagten auf Einräumung ausreichender Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung seiner Verteidigung nach Art. 6 III b EMRK ist in die dem Angeklagten dadurch zu sichernde wirksame Verteidigung im Strafverfahren als Voraussetzung für die Annahme ein fairen Strafverfahrens ebenso eingestellt1177 wie es die drei in Art. 6 III c EMRK geregelten Verteidigungsformen sind, zu denen der Angeklagte in Gestalt der Selbstverteidigung, der Wahlverteidigung oder der Verteidigung durch einen unentgeltlichen, staatlich bestellten Verteidiger berechtigt ist.1178 Im Zusammenhang mit Art. 6 III c EMRK heisst es insoweit im Fall R.D. v. POLAND:
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zudem EGMR, DEWEER v. BELGIUM, 27.02.1980, A35, § 56; EGMR, ARTICO v. ITALY, 13.05.1980, A37, § 32; EGMR, GODDI v. ITALY, 09.04.1989, A76, § 28. EGMR, PÉLISSIER AND SASSI v. FRANCE, 25.03.1999, Reports 1999-II, §§ 52, 54 (Hervorhebung Demko); siehe auch EGMR, MATTOCCIA v. ITALY, 25.07.2000, Reports 2000-IX, §§ 59, 60: „… The Court considers that in criminal matters the provision of full, detailed information concerning the charges against a defendant is an essential prerequisite for ensuring that the proceedings are fair … the accused must at any rate be provided with sufficient information as is necessary to understand fully the extent of the charges against him with a view to preparing an adequate defence. In this respect, the adequacy of the information must be assessed in relation to sub-paragraph (b) of paragraph 3 of Article 6, which confers on everyone the right to have adequate time and facilities for the preparation of their defence, and in the light of the more general right to a fair hearing embodied in paragraph 1 of Article 6 …“ (Hervorhebung Demko); EGMR, DE SALVADOR TORRES v. SPAIN, 24.10.1996, Reports 1996-V, §§ 28 ff. Siehe im Zusammenhang mit Art. 6 III b EMRK etwa die Entscheidungen EGMR, TWALIB v. GREECE, 09.06.1998, Reports 1998-IV, § 40: „… There were therefore serious shortcomings in the fairness of the proceedings at first instance which may have adversely affected the position of the applicant …“ (Hervorhebung Demko); EGMR, KAMASINSKI v. AUSTRIA, 19.12.1989, A168, §§ 87, 88; EGMR, KREMZOW v. AUSTRIA, 21.09.1993, A268-B, § 52; EGMR, BARBERÀ, MESSEGUÉ AND JABARDO v. SPAIN, 06.12.1988, A146, § 70. Siehe im Zusammenhang mit Art. 6 III c EMRK etwa die Entscheidungen EGMR, IMBRIOSCIA v. SWITZERLAND, 24.11.1993, A275, §§ 37, 38: „… The right set out in paragraph 3 (c) of Article 6 … is one element, amongst others, of the concept of a fair trial in criminal proceedings contained in paragraph 1 … While it confers on everyone charged with a criminal offence the right to "defend himself in person or through legal assistance ...", Article 6 para. 3 (c) … does not specify the manner of
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht „… There is, however, a primary, indispensable requirement of the “interests of justice” that must be satisfied in each case. That is the requirement of a fair procedure before courts, which, among other things, imposes on the State authorities an obligation to offer an accused a realistic chance to defend himself throughout the entire trial. In the context of cassation proceedings, that means that the authorities must give an accused the opportunity of putting his case in the cassation court in a concrete and effective way …“1179
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Die für ein faires Strafverfahren vom EGMR als erforderlich angesehene wirksame Verteidigung des Angeklagten, die für deren Wirksamkeit immer auch eine im Verhältnis zur anklagenden Seite gleichberechtigte zu sein hat,1180 zeigt sich in ihrer Relevanz für das einen wichtigen Abschnitt des Strafverfahrens bildende Beweisverfahren und die Beweismittel des Weiteren gerade auch im Zusammenhang mit den in Art. 6 III d EMRK enthaltenen Anforderungen an den Zeugenbeweis und mit der hier vom EGMR entwickelten, bereits gegenwärtig umfangreichen und teilweise sehr ausdifferenzierten Spruchpraxis zum Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen sowie zu dessen Recht auf Ladung und Vernehmung der Entlastungszeugen:1181
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exercising this right. It thus leaves to the Contracting States the choice of the means of ensuring that it is secured in their judicial systems, the Court’s task being only to ascertain whether the method they have chosen is consistent with the requirements of a fair trial …“ (Hervorhebung Demko); EGMR, CAMPBELL AND FELL v. THE UNITED KINGDOM, 28.06.1984, A80, § 99; EGMR, GRANGER v. THE UNITED KINGDOM, 28.03.1990, A174, §§ 43 ff.; EGMR, PAKELLI v. GERMANY, 25.04.1983, A64, §§ 29 ff.; EGMR, QUARANTA v. SWITZERLAND, 24.05.1991, A205, §§ 32 ff.: „… did not therefore enable him to present his case in an adequate manner …“ (§ 36, Hervorhebung Demko); EGMR, PHAM HOANG v. FRANCE, 25.09.1992, A243, §§ 39 ff.; EGMR, BONER v. THE UNITED KINGDOM, 28.10.1994, A300-B, §§ 36 ff. EGMR, R.D. v. POLAND, 18.12.2001, Application Nr. 29692/96 ; 34612/97, § 49 (Hervorhebung Demko). Siehe zur Waffengleichheit näher unter Kap. 4 B. III. 2. Zu Entscheidungen bezüglich des Konfrontationsrechts des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen siehe die Angaben in den nachfolgenden Fussnoten sowie zudem die Ausführungen unter Kap. 5. Zudem siehe etwa EGMR, BRICMONT v. BELGIUM, 07.07.1989, A158, §§ 81 ff.: „… In the circumstances of the case, the exercise of the rights of the defence – an essential part of the right to a fair trial – required in principle that the applicants should have an opportunity to challenge any aspect of the complainant’s account during a confrontation or an examination, either in public or, if necessary, at his home. That would have made it possible to clarify certain facts …“ (§ 81, Hervorhebung Demko); EGMR, ENGEL AND OTHERS v. THE NETHERLANDS, 08.06.1976, A22, § 91: „… this provision does not require the attendance and examination of every witness on the accused's behalf. Its essential aim, as is indicated by the words "under the same conditions", is a full "equality of arms" in the
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Bei der Prüfung der Wahrung oder Verletzung des Rechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren in Fällen, die das Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen nach Art. 6 III d EMRK betreffen, greift der Gerichtshof in ständiger Spruchpraxis auf das Erfordernis der dem Angeklagten zu sichernden wirksamen Verteidigung im Strafverfahren zurück und erhebt dieses Erfordernis zu dem eigentlichen Bezugspunkt und inhaltlichen Massstab, an welchem die praktisch wirksame Gewährleistung des Konfrontationsrechts des Angeklagten zu messen ist.1182 Sichtbar wird dies nicht nur in jüngeren Entscheidungen, wie der Entscheidung AL-KHAWAJA AND TAHERY v. THE UNITED KINGDOM, sondern auch bereits in früheren Entscheidungen, wie beispielsweise im Fall UNTERPERTINGER v. AUSTRIA aus dem Jahre 1986:
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„… The Court recalls that the guarantees contained in paragraph 3 ... are specific aspects of the general concept of a fair trial set forth in paragraph 1 ... In the circumstances of the instant case, it will consider the applicant’s complaints from the angle of paragraph 1 ... taken together with the principles inherent in paragraph 3 (d) ... In itself, the reading out of statements in this way cannot be regarded as being inconsistent with Article 6 §§ 1 and 3 (d) ... of the Convention, but the use made of them as evidence must nevertheless comply with the rights of the defence, which it is the object and purpose of Article 6 ... to protect. This is especially so where the person "charged with a criminal offence", who has the right under Article 6 § 3 (d) ... to "examine or have examined" witnesses against him, has not had an opportunity at any stage in the earlier proceedings to question the persons whose statements are read out at the hearing ... but Mr. Unterpertinger was nevertheless convicted on the basis of "testimony" in respect of which his defence rights were appreciably restricted. That being so, the applicant did not have a fair trial and there was a breach of paragraph 1 of Article 6 ... of the Convention, taken together with the principles inherent in paragraph 3 (d) ...“1183
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Dies aufgreifend heisst es bestätigend und bestärkend in AL-KHAWAJA AND TAHERY v. THE UNITED KINGDOM:
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„… Article 6 § 3(d) is an aspect of the right to fair trial guaranteed by Article 6 § 1 … As with the other elements of Article 6 § 3, it is one of the minimum rights which must be accorded to anyone who is charged with a criminal offence. As minimum rights, the provisions of Article 6 § 3 constitute express guarantees and cannot be read
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matter. With this proviso, it leaves it to the competent national authorities to decide upon the relevance of proposed evidence insofar as is compatible with the concept of a fair trial which dominates the whole of Article 6 ...“ (Hervorhebung Demko); EGMR, PERNA v. ITALY, 06.05.2003, Reports 2003-V, §§ 31, 32; EGMR, VIDAL v. BELGIUM, 22.04.1992, A235-B, §§ 33 ff. Siehe dazu im Einzelnen unter Kap. 5. EGMR, UNTERPERTINGER v. AUSTRIA, 24.11.1986, A110, §§ 29, 31, 33 (Hervorhebung Demko); siehe zu weiteren Entscheidungen die Angaben in der nachfolgenden Fussnote sowie insgesamt unter Kap. 5.
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht … as illustrations of matters to be taken into account when considering whether a fair trial has been held … Equally, even where those minimum rights have been respected, the general right to a fair trial guaranteed by Article 6 § 1 requires that the Court ascertain whether the proceedings as a whole were fair. Hence, in Unterpertinger v. Austria …the Court held that the reading out of statements of witnesses without the witness being heard in a public hearing could not be regarded as being inconsistent with Article 6 §§ 1 and 3(d) of the Convention but it went on to emphasise that the use made of this in evidence had nevertheless to comply with the rights of the defence which it was the object and purpose of Article 6 to protect. This meant that, in principle, the accused had to be given a proper and adequate opportunity to challenge and question a witness against him either when the witness made the statement or at a later stage …“1184
Voraussetzung für ein faires Strafverfahren ist des Weiteren das in Art. 6 III e EMRK geregelte Recht des Angeklagten auf unentgeltliche Beiziehung eines Dolmetschers, das sich als ein eine wirksame Verteidigung eines sprachunkundigen Angeklagten überhaupt erst ermöglichendes spezifisches Verteidigungsrecht darstellt.1185 1184
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EGMR, AL-KHAWAJA AND TAHERY v. THE UNITED KINGDOM, 20.01.2009, Application No. 26766/05, 22228/06, § 34 (Hervorhebung EGMR: «Unterpertinger v. Austria», übrige Hervorhebung Demko); siehe auch EGMR, KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 20.11.1989, A166, § 41: „… to use as evidence such statements obtained at the pre-trial stage is not in itself inconsistent with paragraphs 3 (d) and 1 of Article 6 … provided the rights of the defence have been respected …“; EGMR, LÜDI v. SWITZERLAND, 15.06.1992, A238, § 47: „… all the evidence must normally be produced in the presence of the accused at a public hearing with a view to adversarial argument. There are exceptions to this principle, but they must not infringe the rights of the defence …“; EGMR, ASCH v. AUSTRIA, 26.04.1991, § 27; EGMR, EGMR, WINDISCH v. AUSTRIA, 27.09.1990, § 31: „… the use of this evidence involved such limitations on the rights of the defence that Mr Windisch cannot be said to have received a fair trial. There has thus been a violation of paragraph 3 (d), taken together with paragraph 1, of Article 6 …“; EGMR, DELTA v. FRANCE, 19.12.1990, A191-A, §§ 36, 37; EGMR, VAN MECHELEN AND OTHERS v. THE NETHERLANDS, 23.04.1997, Reports 1997-III, § 51; EGMR, ARTNER v. AUSTRIA, 28.08.1992, A242-A, § 24: „… the fact that it was impossible to examine her at the hearing did not, in the circumstances of the case, infringe the rights of the defence to such an extent that it constituted a breach of paragraphs 1 and 3 (d) of Article 6, taken together …“, (Hervorhebung Demko). Siehe zu Art. 6 III e EMRK beispielsweise die Entscheidungen EGMR, LUEDICKE, BELKACEM AND KOÇ v. GERMANY, 28.11.1978, A29, §§ 41 ff.; EGMR, KAMASINSKI v. AUSTRIA, 19.12.1989, A168, §§ 74 ff.: „… Neither is the Court satisfied that, despite the lack of written translations into English, the interpretation as provided led to results compromising his entitlement to a fair trial or his ability to defend himself …“ (§ 77); EGMR, CUSCANI v. THE UNITED KINGDOM, 24.09.2002, Application No. 32771/96, §§ 38 ff: „… the ultimate guardian of the fair-
249
388
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
(4.2)
Die unbenannten spezifischen Verteidigungsrechte in ihrer Verbindung zur wirksamen Verteidigung des Angeklagten und zu dessen Recht auf ein faires Strafverfahren in der Rechtsprechung des EGMR
389
Auch im Zusammenhang mit den vom EGMR entwickelten unbenannten spezifischen (Einzel-)Verteidigungsrechten ist die Verbindung zwischen diesen, dem Recht des Angeklagten auf wirksame Verteidigung und dessen Recht auf ein faires Strafverfahren sichtbar:
390
Der EGMR leitet aus dem Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren das Anwesenheitsrecht des Angeklagten ab, dessen Bedeutung für eine wirksame Verteidigung herausstellend und dieses über eine blosse physische Anwesenheit hinaus zu einem Recht des Angeklagten ausformend, am Strafverfahren effektiv teilnehmen zu können.1186
1186
250
ness of the proceedings was the trial judge who had been clearly apprised of the real difficulties which the absence of interpretation might create for the applicant. It further observes that the domestic courts have already taken the view that in circumstances such as those in the instant case, judges are required to treat an accused's interest with “scrupulous care” … Having regard to the above considerations, the Court concludes that there has been a violation of Article 6 § 1 of the Convention taken in conjunction with Article 6 § 3(e) …“ (§§ 39, 40); siehe näher auch KÜHNE, in: Karl (Hrsg.), IntKommEMRK, 11. Lieferung, April 2009, Art. 6 N 611 ff.; GAEDE, 287 ff. Siehe aus der Spruchpraxis des EGMR zum Recht auf Anwesenheit und effektive Verfahrensteilnahme etwa EGMR, COLOZZA v. ITALY, 12.02.1985, A89, §§ 27 ff.: „… Although this is not expressly mentioned in paragraph 1 of Article 6 ... the object and purpose of the Article taken as a whole show that a person "charged with a criminal offence" is entitled to take part in the hearing. Moreover, sub-paragraphs (c), (d) and (e) of paragraph 3 ... guarantee to "everyone charged with a criminal offence" the right "to defend himself in person", "to examine or have examined witnesses" and "to have the free assistance of an interpreter if he cannot understand or speak the language used in court", and it is difficult to see how he could exercise these rights without being present ...“ (§ 27); EGMR, EKBATANI v. SWEDEN, 26.05.1988, A134, § 25; EGMR, F.C.B. v. ITALY, 28.08.1991, A208-B, §§ 29 ff.; EGMR, KROMBACH v. FRANCE, 13.02.2001, Reports 2001-II, § 84 ff.; EGMR, S.C. v. THE UNITED KINGDOM, 15.06.2004, Reports 2004-IV, § 28 ff.: „… The right of an accused to effective participation in his or her criminal trial generally includes, inter alia, not only the right to be present, but also to hear and follow the proceedings … However, “effective participation” in this context presupposes that the accused has a broad understanding of the nature of the trial process and of what is at stake for him or her, including the significance of any penalty which may be imposed. It means that he or she, if necessary with the assistance of, for example, an interpreter, lawyer, social worker or friend, should be able to understand the general thrust of what is said in court. The defendant should be able to follow what is said by the prosecution witnesses and, if represented, to explain to his own lawyers his version of events, point out
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
Die dem Angeklagten zu sichernde wirksame Verteidigung im Strafverfahren betont der Gerichtshof zudem im Zusammenhang mit dem aus dem Recht auf ein faires Strafverfahren abgeleiteten Recht auf rechtliches Gehör und dem Rechtsprinzip der Waffengleichheit, die beide zu den Grundgarantien1187 eines fairen Strafverfahrens zählen und einfliessend in die spezifischen benannten wie unbenannten (Einzel-)Verteidigungsrechte ebenso für diese von richtungsweisender Bedeutung sind. Es sei ein grundlegender Aspekt («fundamental aspect») des Rechts auf ein faires Verfahren, dass „… criminal proceedings, including the elements of such proceedings which relate to procedure, should be adversarial and that there should be equality of arms between the prosecution and defence …“.1188 Mit der kontradiktorischen Natur der Verhandlung in Verbindung stehend verlange die für ein faires Verfahren erforderliche wirksame Verteidigung des Angeklagten mit Blick auf eine tatsächlich wirksame Einflussnahme auf das Verfahren und die Verfahrensentscheidung danach, dass der Angeklagte von wesentlichen Verfahrensgeschehnissen und Verfahrensbeiträgen der anderen Verfahrensbeteiligten wie auch von objektiven Dritten1189 Kenntnis erhalte und zu diesen Stellung neh-
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any statements with which he disagrees and make them aware of any facts which should be put forward in his defence …“ (§§ 28, 29); siehe deutlich auch bereits EGMR, STANFORD v. THE UNITED KINGDOM, 23.02.1994, A282-A, § 26; EGMR, LAGERBLOM v. SWEDEN, 14.01.2003, Application No. 26891/95, § 49: „… The Court reiterates at the outset that, read as a whole, Article 6 of the Convention guarantees the right of an accused to participate effectively in a criminal trial. In general this includes not only the right to be present, but also the right to receive legal assistance, if necessary, and to follow the proceedings effectively. Such rights are implicit in the very notion of an adversarial procedure and can also be derived from the guarantees contained in sub-paragraphs (c) and (e) of Article 6 § 3 …“, (Hervorhebung Demko). Siehe auch EGMR, EGMR, FITT v. THE UNITED KINGDOM, 16.02.2000, Reports 2000-II, § 44: „… fundamental aspect of the right to a fair trial …“; EGMR, BRANDSTETTER v. AUSTRIA, 28.08.1991, A211, §§ 66: „… fundamental right …“, (Hervorhebung Demko); siehe dazu aus dem Schrifttum u.a. GOLLWITZER, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR, S. 315 N 59; MILEJ, 46 ff.: „Zentrale Garantien“ (S. 46); siehe zum Recht auf rechtliches Gehör und zum Rechtsprinzip der Waffengleichheit näher unter Kap. 4 B. III. 1. und 2. EGMR, FITT v. THE UNITED KINGDOM, 16.02.2000, Reports 2000-II, § 44 (Hervorhebung Demko). EGMR, KRESS v. FRANCE, 07.06.2001, Reports 2001-VI, § 74: „… However, the concept of a fair trial also means in principle the opportunity for the parties to a trial to have knowledge of and comment on all evidence adduced or observations filed, even by an independent member of the national legal service, with a view to influencing the court’s decision …“ (Hervorhebung Demko); EGMR, MANTOVANELLI v. FRANCE, 18.03.1997, Reports 1997-II, § 33; EGMR, NIDERÖST-HUBER v. SWITZERLAND, 18.02.1997, Reports 1997-I, §§ 24 ff.; EGMR, F.R. v. SWITZER-
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Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
men könne,1190 und zwar auf eine wirksame («effectively») Weise.1191 In zahlreichen Entscheidungen bekräftigt der EGMR das, was er in den (hier bei-
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LAND, 28.06.2001, Application Nr. 37292/97, §§ 34 ff.: „… What is particularly at stake here is litigants’ confidence in the workings of justice, which is based on, inter alia, the knowledge that they have had the opportunity to express their views on every document in the file … Article 6 § 1 of the Convention is intended above all to secure the interests of the parties and those of the proper administration of justice …“ (§§ 39, 40, Hervorhebung EGMR: «inter alia», übrige Hervorhebung Demko); EGMR, ZIEGLER v. SWITZERLAND, 21.02.2002, Application No. 33499/96, §§ 33 ff.; siehe zudem EGMR, KRCMAR AND OTHERS v. THE CZECH REPUBLIC , 03.03.2000, Application No. 35376/97, §§ 40 ff. und dabei das Moment der Einflussnahme auf die Gerichtsentscheidung aufzeigend: „… The Court notes that the documentary evidence in issue which was produced at the request of the Constitutional Court was manifestly aimed at influencing the Constitutional Court’s decision …“ (§ 41, Hervorhebung Demko). Hinzu kommen das Erfordernis der vorurteilsfreien Zurkenntnisnahme und Prüfung des vom Angeklagten Vorgebrachten durch das Gericht sowie das Begründungserfordernis als sichtbare Bestätigung der Wahrung des rechtlichen Gehörs, siehe dazu im Einzelnen die Ausführungen zum rechtlichen Gehör unter Kap. 4 B. III. 1. Siehe zum betonten Moment der wirksamen, effektiven Wahrung des rechtlichen Gehörs u.a. EGMR, MANTOVANELLI v. FRANCE, 18.03.1997, Reports 1997-II, §§ 33 ff.: „… The Court notes that one of the elements of a fair hearing within the meaning of Article 6 para. 1 … is the right to adversarial proceedings; each party must in principle have the opportunity not only to make known any evidence needed for his claims to succeed, but also to have knowledge of and comment on all evidence adduced or observations filed with a view to influencing the court's decision … What is essential is that the parties should be able to participate properly in the proceedings before the "tribunal" …“ (§ 33), weiter heisst es: „… However, while Mr and Mrs Mantovanelli could have made submissions to the administrative court on the content and findings of the report after receiving it, the Court is not convinced that this afforded them a real opportunity to comment effectively on it … Mr and Mrs Mantovanelli could only have expressed their views effectively before the expert report was lodged. No practical difficulty stood in the way of their being associated in the process of producing the report … Mr and Mrs Mantovanelli were thus not able to comment effectively on the main piece of evidence. The proceedings were therefore not fair as required by Article 6 para. 1 of the Convention …“ (§ 36), Hervorhebung Demko; siehe auch EGMR, OCALAN v. TURKEY, 12.03.2003, Application No. 46221/99, §§ 166 ff.: „… it should ensure that the other party will be aware that observations have been filed and will get a real opportunity to comment thereon …“ (§ 166); EGMR, KRCMAR AND OTHERS v. THE CZECH REPUBLIC, 03.03.2000, Application Nr. 35376/97, § 42: „… From the record of the oral hearing before the Constitutional Court, it does not appear that the documentary evidence in issue was read out. The Court considers, however, that even if such evidence was submitted and read during the oral hearing, this would not have satisfied the right of the applicants to adversarial proceedings, given the character and importance of this
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
spielhaft genannten) Entscheidungen BRANDSTETTER v. AUSTRIA und KAMASINSKI v. AUSTRIA ausführt.1192 Im Fall BRANDSTETTER v. AUSTRIA heisst es: „… The principle of equality of arms is only one feature of the wider concept of a fair trial, which also includes the fundamental right that criminal proceedings should be adversarial … The right to an adversarial trial means, in a criminal case, that both prosecution and defence must be given the opportunity to have knowledge of and comment on the observations filed and the evidence adduced by the other party. Various ways are conceivable in which national law may secure that this requirement is met. However, whatever method is chosen, it should ensure that the other party will be aware that observations have been filed and will get a real opportunity to comment thereon …“1193
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Ebenso betont der EGMR mit Blick auf „the principle that contending parties should be heard (le principe du contradictoire), this being one of the principal guarantees of a judicial procedure”1194 im Fall KAMASINSKI v. AUSTRIA:
393
„… It is an inherent part of a "fair hearing" in criminal proceedings as guaranteed by Article 6 § 1 (art. 6-1) that the defendant should be given an opportunity to comment
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evidence. A party to the proceedings must have the possibility to familiarise itself with the evidence before the court, as well as the possibility to comment on its existence, contents and authenticity in an appropriate form and within an appropriate time, if need be, in a written form and in advance …“, (Hervorhebung Demko). Die Fälle MANTOVANELLI v. FRANCE und KRCMAR AND OTHERS v. THE CZECH REPUBLIC machen die wichtige Bedeutung der Teilnahme des Angeklagten schon an dem und der Einflussnahme des Angeklagten schon auf den Prozess der Herstellung eines Beweismittels als Erkenntnismittel für die anschliessend vom Gericht zu treffende strafrechtliche Entscheidung deutlich. Zu weiteren Entscheidungen siehe etwa EGMR, FITT v. THE UNITED KINGDOM, 16.02.2000, Reports 2000-II, §§ 44; EGMR, DOWSETT v. THE UNITED KINGDOM, 24.06.2003, Reports 2003-VII, §§ 41 ff.; EGMR, P.G. AND J.H. v. THE UNITED KINGDOM, 25.09.2001, Reports 2001-IX, § 67; EGMR, BULUT v. AUSTRIA, 22.02.1996, Reports 1996-II, § 46: „… The Commission, on the other hand, considered that it is inherently unfair for the prosecution to make submissions to a court without the knowledge of the defence and on which the defence has no opportunity to comment …“ (Hervorhebung Demko); EGMR, WERNER v. AUSTRIA, 24.11.1997, Reports 1997-VII, §§ 65 ff.; EGMR, MANTOVANELLI v. FRANCE, 18.03.1997, Reports 1997-II, §§ 33 ff., siehe näher dazu bereits in der vorherigen Fussnote; EGMR, OCALAN v. TURKEY, 12.03.2003, Application Nr. 46221/99, §§ 166 ff.; EGMR, NIDERÖST-HUBER v. SWITZERLAND, 18.02.1997, Reports 1997-I, §§ 24 ff. EGMR, BRANDSTETTER v. AUSTRIA, 28.08.1991, A211, §§ 66, 67 (Hervorhebung Demko). EGMR, KAMASINSKI v. AUSTRIA, 19.12.1989, A168, § 102 (Hervorhebung Demko).
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Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht on evidence obtained in regard to disputed facts even if the facts relate to a point of procedure rather than the alleged offence as such …“1195 395
An die ersten beiden Elemente des rechtlichen Gehörs in Gestalt der dem Angeklagten zu sichernden Kenntnisnahme und effektiven Stellungnahme, welche sich unmittelbar auf den Angeklagten (und/oder auf dessen Verteidiger) beziehen und seine aktiven Mitwirkungsmöglichkeiten im Strafverfahren ansprechen, schliesst sich zu deren Vervollkommnung ein drittes gerichtsbezogenes Element an, das nach vorurteilsfreier Zurkenntnissnahme und Prüfung des vom Angeklagten (und/oder vom Verteidiger) Vorgebrachten sowie nach Begründung der gerichtlichen Entscheidungen verlangt. Erst die Beachtung der angeklagtenbezogenen Elemente und des gerichtsbezogenen Elements kann dem Angeklagten ein praktisch wirksames Recht auf rechtliches Gehör vermitteln. Mit dem für eine wirksame Verteidigung erforderlichen Zusammenwirken von angeklagtenbezogenen und gerichtsbezogenen Elementen ist zugleich das Moment der «anerkannt gelebten Subjektivität» sichtbar gemacht, dessen grosse Bedeutung sich bereits in den philosophischen und psychologischen Begründungslinien für ein Menschenrecht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren zeigte.1196 Hinsichtlich des die „sichtbare Bestätigung“1197 der Wahrung des rechtlichen Gehörs darstellenden gerichtsbezogenen Elements heisst es – dabei, wenn auch nicht ausdrücklich, so doch in der Sache auch das Erfordernis eines Objektivität zu wahren habenden Strafverfahrens ansprechend1198 – etwa in der Entscheidung KRASKA v. SWITZERLAND:
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„… The effect of Article 6 para. 1 (art. 6-1) is, inter alia, to place the "tribunal" under a duty to conduct a proper examination of the submissions, arguments and evidence adduced by the parties, without prejudice to its assessment of whether they are relevant to its decision …“1199
1195
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EGMR, KAMASINSKI v. AUSTRIA, 19.12.1989, A168, § 102 (Hervorhebung Demko). Siehe dazu bereits näher unter Kap. 3 B. II. 1. und 2. GAEDE, S. 303; vgl. auch VILLIGER, S. 313 N 491; aus der Rechtsprechung des EGMR siehe beispielsweise EGMR, SUOMINEN v. FINLAND, 01.07.2003, Application No. 37801/97, § 37: „… The Court emphasises that a further function of a reasoned decision is to demonstrate to the parties that they have been heard … It is only by giving a reasoned decision that there can be public scrutiny of the administration of justice …“ (Hervorhebung Demko); zu der „Maxime Justice must not only be done, it must also be seen to be done“ (S. 303, Hervorhebung Gaede) siehe mit weiteren Angaben GAEDE, S. 303. Siehe dazu auch bereits unter Kap. 2 B. II. EGMR, KRASKA v. SWITZERLAND, 19.04.1993, A254-B, § 30 (Hervorhebung Demko); siehe auch EGMR, BARBERÀ, MESSEGUÉ AND JABARDO v. SPAIN, 06.12.1988, A146, § 68: „… whether the proceedings considered as a whole, includ-
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
Dies bestätigend und das für die praktisch wirksame Gewährleistung des rechtlichen Gehörs notwendige Zusammenspiel von angeklagtenbezogenen und gerichtsbezogenen Elementen des Rechts auf rechtliches Gehör aufzeigend, hebt der EGMR in der Entscheidung PEREZ v. FRANCE hervor:
397
„… The Court notes that the right to a fair trial as guaranteed by Article 6 § 1 of the Convention includes the right of the parties to the trial to submit any observations that they consider relevant to their case. The purpose of the Convention being to guarantee not rights that are theoretical or illusory but rights that are practical and effective … this right can only be seen to be effective if the observations are actually “heard”, that is duly considered by the trial court. In other words, the effect of Article 6 is, among others, to place the “tribunal” under a duty to conduct a proper examination of the submissions, arguments and evidence adduced by the parties, without prejudice to its assessment of whether they are relevant …“1200
398
Nicht zuletzt betont der EGMR hinsichtlich der für eine wirksame Verteidigung des Angeklagten im Strafverfahren erforderlichen verfahrensrechtlichen Gleichstellung des Angeklagten mit der anklagenden Seite, dass das aus dem Recht auf ein faires Verfahren fliessende Rechtsprinzip der Waffengleichheit («the principle of "equality of arms"») nach einer Verteidigung verlange,1201 die den Angeklagten im Vergleich zur Anklage substantiell nicht benachteili-
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1201
ing the way in which prosecution and defence evidence was taken, were fair as required by Article 6 para. 1 ...“ (Hervorhebung Demko); EGMR, VAN DE HURK v. THE NETHERLANDS, 19.04.1994, A288, §§ 59 ff.; EGMR, JOKELA v. FINLAND, 21.05.2002, Reports 2002-IV, §§ 72 ff.; EGMR, WIERZBICKI v. POLAND, 18.06.2002, Application No. 24541/94, §§ 39 ff. EGMR, PEREZ v. FRANCE, 12.02.2004, Reports 2004-I, § 80 (Hervorhebung Demko). EGMR, NEUMEISTER v. AUSTRIA, 27.06.1968, A8, § 22: „… the principle of "equality of arms" which the Commission, in several decisions and opinions, has rightly stated to be included in the notion of fair trial (procès équitable) mentioned in Article 6 (1) …“; EGMR, DELCOURT v. BELGIUM, 17.01.1970, A11, § 28: „… the principle known as "equality of arms". The Court, however, will examine the problem by reference to the whole of paragraph 1 of Article 6 ... The principle of equality of arms does not exhaust the contents of this paragraph; it is only one feature of the wider concept of fair trial by an independent and impartial tribunal ...“; EGMR, BORGERS v. BELGIUM, 30.10.1991, A214-B, § 24: „… It is, however, necessary to consider whether the proceedings before the Court of Cassation also respected the rights of the defence and the principle of the equality of arms, which are features of the wider concept of a fair trial …“; EGMR, EKBATANI v. SWEDEN, 26.05.1988, A134, § 30; EGMR, BÖNISCH v. AUSTRIA, 06.05.1985, A92, §§ 29 ff.: „… the principle of equality of arms inherent in the concept of a fair trial ... and exemplified in paragraph 3 (d) of Article 6 (art. 6-3-d) ("under the same conditions" ...) required equal treatment as between the hearing of the Director and the hearing of persons who were or could be called, in whatever capacity, by the defence ...“ (§ 32), (Hervorhebung Demko).
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Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
ge. Ausgewiesen ist diese verfahrensrechtliche Gleichstellung zwischen anklagender und angeklagter Seite als notwendiges Element der Wirksamkeit der Verteidigung des Angeklagten im Strafverfahren und von dessen Recht auf ein faires Strafverfahren: 1202 400
„… The Court reiterates that the principle of equality of arms relied on by the applicant – which is one of the elements of the broader concept of fair trial – requires each party to be given a reasonable opportunity to present his case under conditions that do not place him at a substantial disadvantage vis-à-vis his opponent …“1203
(5)
401
Menschenwürde und Autonomie als Grundlage des Menschenrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren und des Rechts auf wirksame Verteidigung
Die mit den spezifischen (benannten und unbenannten) (Einzel-)Verteidigungsrechten und der durch diese zu verwirklichenden wirksamen Verteidigung des Angeklagten im Strafverfahren verbundene, dem Angeklagten einzuräumende Möglichkeit einer auf das Verfahren und das Verfahrensergebnis einflussnehmenden Teilnahme am Strafverfahren verweist auf die Momente von menschlicher Freiheit und Autonomie, von Selbstbestimmung im Sein und Handeln sowie von Anerkennung auch des im spezifischen Handlungskontext «Strafverfahren» sich befindenden Angeklagten als (Prozess-)Subjekt. Verwiesen ist mithin auf aus der Menschenwürde fliessende Momente, auch wenn weder in der Präambel der EMRK noch in den nachfolgenden Konventionsbestimmungen ausdrücklich von der Menschenwürde gesprochen wird.1204 Das Fehlen einer expliziten Aufnahme des Begriffs «Menschenwür1202 1203
1204
256
Zur Waffengleichheit näher unter Kap. 4 B. III. 2. EGMR, G.B. v. FRANCE, 02.10.2001, Reports 2001-10, § 58 (Hervorhebung Demko), siehe auch § 70: „… the requirements of a fair trial were infringed and the rights of the defence were not respected …“ (Hervorhebung Demko); siehe auch EGMR, KRESS v. FRANCE, 07.06.2001, Reports 2001-VI, § 72; EGMR, FOUCHER v. FRANCE, 18.03.1997, Reports 1997-II, § 34; EGMR, BULUT v. AUSTRIA, 22.02.1996, Reports 1996-II, § 47; EGMR, KUOPILA v. FINLAND, 27.04.2000, Application No. 27752/95, §§ 37, 38: „… The Court recalls that under the principle of equality of arms, as a feature of the wider concept of a fair trial … each party must be afforded a reasonable opportunity to present one’s case in conditions that do not place him at a disadvantage vis-à-vis to his opponent … the Court finds that the procedure did not enable the applicant to participate properly and in conformity with the principle of equality of arms in the proceedings before the Court of Appeal. Accordingly, there has been a violation of Article 6 of the Convention …“ (Hervorhebung Demko). Siehe dazu auch BOROWSKY, in: MEYER, Charta der Grundrechte, Art. 1 N 1: „erstaunlicherweise ausgerechnet die EMRK verschlossen hat“; BERGMANN, S. 119; DICKE, S. 30.
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
de» in den Text der EMRK ist jedoch nicht dahin zu lesen, dass dieser «Urwert» eines jeden Menschen durch die EMRK nicht geschützt ist. Vielmehr lassen es nicht nur bereits Textbezüge schon in der Präambel der EMRK sowie historische Bezüge in der Entwicklung der EMRK zu, die Menschenwürde als auch von der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützt anzusehen. Darüber hinausgehend sprechen zudem und vor allem teleologische, den Sinn und Zweck von in den Konventionsbestimmungen geschützten Menschenrechten erörternde und in der Rechtsprechung des EGMR vertiefte Bezüge für einen von der EMRK erfassten Menschenwürdeschutz. Genauer ausgedrückt: Sichtbar machen diese verschiedenen (hier kurz aufgezählten und nachfolgend zu vertiefenden Wortlaut-, historischen und teleologischen) Bezüge, dass die Menschenwürde als ein der gesamten EMRK und allen in dieser geschützten Menschenrechten zugrundeliegender «Urwert» anzuerkennen ist, d.h. als Grundlage und Grund1205 zu begreifen ist, aus der/dem heraus sich alle menschenrechtlichen Garantien der EMRK überhaupt erst formen und spezifisch ausgestalten. Gleich im ersten Absatz der Präambel der EMRK ist der explizite Bezug zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte hergestellt, getragen von dem Ziel der Konvention, die völkerrechtlich nicht verbindlich garantierten Menschenrechte der AEMR in rechtsverbindliche Formen umzusetzen und deren Wahrung mittels des EGMR zu überwachen. Bezug genommen ist damit auf die dem Menschenwürde- und Menschenrechte-Schutz verpflichteten Bestrebungen der AEMR, die nicht nur im ersten und fünften Absatz der Präambel, sondern auch in ihrem Art. 1 AEMR ausdrücklich von der zu wahrenden Menschenwürde spricht, zudem die zu schützende Menschenwürde und die Menschenrechte zusammenführt und diese als Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt («the foundation of freedom, justice and peace in the world») ausweist.1206 Diese Verbindung von Grundfreiheiten und Menschenrechten mit Gerechtigkeit und Frieden in der Welt stellt auch Abs. 4 der Präambel der EMRK her, diese als Grundlage von Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bezeichnend («the foundation of justice and peace in the world») und zudem mit Blick auf deren «beste» («best») Siche1205
1206
Siehe dazu auch MEYER-LADEWIG, NJW 2004, S. 982 ff.: „Grundlage der Demokratie“ (S. 982 im Zusammenhang mit Kant), „zu Grunde liegender Grundsatz“ (S. 983), „liegt die Achtung der Menschenwürde allen menschenrechtlichen Garantien der Konvention zu Grunde“ (S. 982, siehe zudem S. 983), „Basis“ (S. 983); DICKE, S. 30 f. Siehe Abs. 1 und Abs. 5 der Präambel der AEMR, GA Res. 217 (III), S. 71 f.: „… recognition of the inherent dignity and of the equal and inalienable rights of all members of the human family is the foundation of freedom, justice and peace in the world“ (S. 71, Hervorhebnung Demko); siehe dazu auch MEYER-LADEWIG, NJW 2004, S. 981.
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Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
rung auf eine wahrhaft demokratische politische Ordnung («an effective political democracy») hinweisend.1207 Nicht nur bereits diese textlichen Bezugnahmen der EMRK auf die AEMR und auch der Gesichtspunkt der Konkordanz unter verschiedenen Menschenrechtskonventionen, sondern ebenso die häufige ausdrückliche Heranziehung der und die Berufung auf die zu schützende/n Menschenwürde während der travaux préparatoires verdeutlichen, dass die Menschenwürde – auch ohne explizite Nennung im Konventionstext – als von dem Schutz durch die Konvention umfasst angesehen wird.1208 403
Unterstützt und bekräftigt wird dies nicht zuletzt und vor allem durch den EGMR selbst, der in seiner Rechtsprechung nicht nur überhaupt, und zwar ausdrücklich von der zu wahrenden Menschenwürde und von den aus dieser fliessenden Momenten von zu schützender menschlicher Freiheit, Autonomie und Selbstbestimmung spricht,1209 sondern diese Momente und die Achtung 1207
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Dazu sowie zur Bezugnahme auf die Menschenwürde in weiteren nationalen und internationalen Rechtsinstrumenten siehe auch MEYER-LADEWIG, NJW 2004, S. 981. Siehe hierzu auch BERGMANN, S. 50, 64 ff., 91 ff., 117 ff. Siehe etwa EGMR, PRETTY v. THE UNITED KINGDOM, 29.04.2002, Reports 2002-III, §§ 52, 61, 65, ausdrücklich die Menschenwürde anführend: „… showing a lack of respect for, or diminishing, his or her human dignity …“ (§ 52, bei Prüfung des Art. 3 EMRK, Hervorhebung Demko) sowie ausdrücklich auf Selbstbestimmung und Autonomie eingehend: „… Although no previous case has established as such any right to self-determination as being contained in Article 8 of the Convention, the Court considers that the notion of personal autonomy is an important principle underlying the interpretation of its guarantees …“ (§ 61, bei Prüfung des Art. 8 EMRK, Hervorhebung Demko), siehe deutlich zu der das Wesen der Konvention ausmachenden Menschenwürde sodann in § 65 (bei Prüfung des Art. 8 EMRK); EGMR, CHRISTINE GOODWIN v. THE UNITED KINGDOM, 11.07.2002, Reports 2002VI, §§ 90, 91, wo im Rahmen der Prüfung des Art. 8 EMRK ausdrücklich auf die Menschenwürde und die Autonomie hingewiesen ist: „… to enable individuals to live in dignity and worth …“ (§ 91), siehe zudem § 90 zur Menschenwürde als das Wesen der Konvention ausmachend und zur Betonung der Autonomie: „… Under Article 8 of the Convention in particular, where the notion of personal autonomy is an important principle underlying the interpretation of its guarantees …“ (§ 90, Hervorhebung Demko); EGMR, VAN KUCK v. GERMANY, 12.06.2003, Reports 2003-VII, § 69, wo bei Prüfung des Art. 8 EMRK die Selbstbestimmung, Autonomie und Menschenwürde ausdrücklich betont sind; siehe auch bereits EKMR, EAST AFRICAN ASIANS v. THE UNITED KINGDOM, 14.12.1973, D.R. 78 A/B/5, S. 55 N 189, wo es im Zusammenhang mit Art. 3 EMRK heisst: „… that the general purpose of the provision is to prevent interferences with the dignity of man of a particularly serious nature …“ (Hervorhebung Demko); siehe ebenso EGMR, TYRER v. THE UNITED KINGDOM, 25.04.1978, A26, § 33, wo im Zusammenhang mit Art. 3 EMRK gesprochen wird von „… one of the main purposes of Article 3 (art. 3) to protect, namely a person’s dignity and physical integrity ...“ und wo ebenso von der Behandlung als Objekt die Rede ist: „... he was treated as an object in the power of the
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
der Menschenwürde darüber hinaus mit dem eigentlichen Wesen der (gesamten) Konvention selbst («(T)he very essence of the Convention») – und zwar in mehreren Entscheidungen – ausdrücklich in Verbindung setzt:1210 „… The very essence of the Convention is respect for human dignity and human freedom …“1211
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Den Schutz der Menschenwürde nicht in begrenzender Weise als nur von einzelnen Konventionsgarantien erfasst ansehend, bezieht der EGMR den Menschenwürdeschutz ausdrücklich auf die gesamte Konvention und betont explizit, dass der Menschenwürdeschutz als die grundlegenden Ziele und das Wesen «der» Konvention ausmachend zu verstehen ist.1212 Wie in den Entscheidungen PRETTY v. THE UNITED KINGDOM, CHRISTINE GOOD-
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authorities ...“ (Hervorhebung Demko); deutlich auch EGMR, KUDLA v. POLAND, 26.10.2000, Reports 2000-XI, § 94, wo es im Zusammenhang mit Art. 3 EMRK heisst: „… Nevertheless, under this provision the State must ensure that a person is detained in conditions which are compatible with respect for his human dignity …“ (Hervorhebung Demko); siehe bei der Prüfung des Art. 3 EMRK ebenso die ausdrückliche Hervorhebung der zu schützenden Menschenwürde in den Entscheidungen EGMR, RIBITSCH v. AUSTRIA, 04.12.1995, A336, § 38; EGMR, DIKME v. TURKEY, 11.07.2000, Reports 2000-VIII, § 90; EGMR, VAN DER VEN v. THE NETHERLANDS, 04.02.2003, Reports 2003-II, §§ 50, 62; siehe zur Menschenwürde, und zwar bei Prüfung des notstandsfesten Art. 7 EMRK näher EGMR, S.W. v. THE UNITED KINGDOM, 22.11.1995, § 44: „… the fundamental objectives of the Convention, the very essence of which is respect for human dignity and human freedom …“ (Hervorhebung Demko); zu weiteren Entscheidungen siehe die Nachweise bei SCHWEIZER/SPRECHER, S. 141 f. FN 106 ff.; siehe auch näher STIEGLITZ, S. 150 f. zum Schutz der Autonomie des Einzelnen gegen Willkür als Ausgangs- und Fixpunkt der Rechtsprechung des EGMR; BERGMANN, S. 65, 91, 119 ff., 254 f., 274, wonach der Mensch als „ein mit besonderer Würde und Freiheit ausgestattetes Wesen im Zentrum steht und dazu bestimmt erscheint, sich dieser seiner Würde gemäβ in Freiheit zu vervollkommnen“ (S. 91, Hervorhebung Bergmann); deutlich zudem BOROWSKY, in: MEYER, Charta der Grundrechte, Art. 1 N 3. Dies auch hervorhebend BOROWSKY, in: MEYER, Charta der Grundrechte, Art. 1 N 3. EGMR, PRETTY v. THE UNITED KINGDOM, 29.04.2002, Reports 2002-III, § 65 (Hervorhebung Demko); besonders deutlich ebenso in EGMR, S.W. v. THE UNITED KINGDOM, 22.11.1995, § 44; EGMR, CHRISTINE GOODWIN v. THE UNITED KINGDOM, 11.07.2002, Reports 2002-VI, § 90: „… the very essence of the Convention is respect for human dignity and human freedom …“; EGMR, VAN KUCK v. GERMANY, 12.06.2003, Reports 2003-VII, § 69, wo nach ausdrücklicher Betonung von Selbstbestimmung und Autonomie erneut explizit die das Wesen der Konvention ausmachende Menschenwürde und die menschliche Freiheit hervorgehoben werden: „… Moreover, the very essence of the Convention being respect for human dignity and human freedom …“; (Hervorhebung Demko). Siehe dazu auch STIEGLITZ, S. 100 zur Intention der EMRK als „Instrument eines umfassenden Menschenrechtsschutzes in Europa“.
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Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
WIN v. THE UNITED KINGDOM und VAN KUCK v. GERMANY heisst es auch bereits in der Entscheidung S.W. v. THE UNITED KINGDOM ausdrücklich und in einer deutlichen Weise: 406
„… above all, with the fundamental objectives of the Convention, the very essence of which is respect for human dignity and human freedom …“1213
407
Die Menschenwürde und die mit ihr verbundenen Momente von Selbstbestimmung,1214 Autonomie und Freiheit des Menschen anzusehen als der gesamten Konvention mit all den in ihr garantierten einzelnen Menschenrechten zugrundeliegend, lässt die Menschenwürde als den «Urwert», den (Ur-)Grund erkennen,1215 welcher der gesamten EMRK ihre massgebende «Grundfarbe» vermittelt und aus dem heraus sich die einzelnen verschiedenen Menschenrechte erheben und sich in ihren jeweils spezifischen «Farbaspekten» entwickeln und ausformen.1216 Auch Art. 6 EMRK und das dort garantierte Menschenrecht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren nimmt teil an diesem das Wesen der gesamten Konvention bestimmenden menschenwürdeschützenden Grundanliegen.1217 Es ist die Anerkennung des Angeklagten als Subjekt in jenem spezifischen Handlungskontext «Strafverfahren», es ist diese seine zu achtende Prozesssubjektivität im Rahmen des Objektivität zu wahren habenden Strafverfahrens, welche als Prämisse, als (Ur-)Grund den in Art. 6 EMRK dem Angeklagten eingeräumten Verteidigungsrechten vorausgeht und ihre Basis bildet:1218 1213 1214 1215
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EGMR, S.W. v. THE UNITED KINGDOM, 22.11.1995, § 44 (Hervorhebung Demko). Siehe dazu etwa ENDERS, S. 491 ff. Siehe auch die Ausführungen von ENDERS, S. 501 ff. zu dem „Recht auf Rechte“ (S. 502 f., Hervorhebung Enders) und dazu, Menschenwürde als „Grund, Kriterium, und Rechtfertigung …“ von allein aus dieser sich verstehenden Weisungen und als „… de(n) Rechtsgrund schlechthin“ (S. 503, Hervorhebung Enders) zu sehen. Siehe dazu auch SANDKÜHLER, S. 26 f.; deutlich ebenso BERGMANN, S. 274: Menschenwürde sei als „heimlicher Interpretationsmaβstab aller Rechtspositionen des einzelnen sowie als generelle, präpositive Wertvorgabe“ aufzufassen, welche als „überragender Wert in sämtliche Bereiche“ hineinstrahle und als „politischer Hintergrund und geistiger Gehalt“, „als wesentlicher Grundbegriff“ der Konvention zu verstehen sei (Hervorhebung Demko). Siehe etwa MEYER-LADEWIG, NJW 2004, S. 983; BERGMANN, S. 120, 274: Ausstrahlen der Menschenwürde als „überragender Wert in sämtliche Bereiche hinein“ (S. 274); siehe dazu auch BRUNHÖBER, ZIS 2010, S. 762, 764: Wahrung der „Subjektstellung des Beschuldigten“ (S. 764); zudem WOLTER, S. 494 f. zur „(g)rundrechtsgewährleistende(n)“ (S. 494, Hervorhebung Wolter) und „freiheits- und würdeschützende(n)“ (S. 494, Hervorhebung Demko) Funktion des Verfahrensrechts. Siehe dazu auch instruktiv GAEDE, S. 389 ff.; ZERBES, S. 379: „… als Subjekt des Verfahrens das Recht, sich wirksam zu verteidigen“ (Hervorhebung Zerbes); TRECHSEL, IsLR 1997, S. 100.
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
Die dem Angeklagten in Art. 6 EMRK garantierte, auf das Verfahren und Verfahrensergebnis tatsächlich Einfluss nehmen könnende Teilnahme am Strafverfahren zu seiner wirksamen Verteidigung, die auf die Achtung der Prozesssubjektivität des Angeklagten zurückgeht und diese zugleich zum Ausdruck bringt, findet ihre konkreten Einzelausgestaltungen bzw. Ausübungsformen1219 in den verschiedenen spezifischen benannten und unbenannten (Einzel-)Verteidigungsrechten des Art. 6 I, II, III EMRK. Diese auf eine wirksame Verteidigung des Angeklagten gerichteten spezifischen Verteidigungsrechte zeigen, dass für ein faires Strafverfahren der Angeklagte als ein handelndes bzw. handeln könnendes Prozesssubjekt von Art. 6 EMRK gleichsam von Anfang an mitgedacht, von Anfang an vorausgesetzt ist. Die spezifischen Verteidigungsrechte formen eben diese Prozesssubjektivität des Angeklagten auf der Ausübungsebene in (benannte und unbenannte) Berechtigungen zu unterschiedlichen aktiven Mitwirkungs- und Teilnahmemöglichkeiten, mithin in unterschiedliche spezifische Teilhabe-Berechtigungen des Angeklagten im Strafverfahren aus. Ihrerseits gestärkt werden diese spezifischen Verteidigungsrechte des Angeklagten durch ihnen an die Seite gestellte, schützende institutionelle «Rahmenelemente» bzw. durch Elemente eines sog. Teilhabe-Rahmens, welche dem Wirksamwerden der Prozesssubjektivität des Angeklagten ebenso zu helfen bestimmt sind.1220 Die im Rahmen der philosophischen und psychologischen Begründungslinien für ein Menschenrecht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren aufgezeigte Relevanz einer dem Angeklagten zu gewährenden «anerkannt gelebten Subjektivität» und das damit verbundene Moment eines zusammenwirkenden Rechts auf Teilhabe und eines Rechts auf einen Teilhaberahmen sind mithin auch in den normativen Verankerungen der EMRK sichtbar zum Ausdruck gebracht.
408
Der menschenwürde- und menschenrechteschützende Blick der EMRK auf das Strafverfahren unter Anknüpfung an den Angeklagten verdeutlicht die enge Verzahnung der Bewertung eines Strafverfahrens als fair mit der Person des Angeklagten und mit dessen Anerkennung als Prozesssubjekt. Es ist eine in der EMRK normativ verankerte, durch die Rechtsprechung des EGMR Bestätigung und Bekräftigung findende, aus der Menschenwürde fliessende prozesssubjektwahrende Teilnahme des Angeklagten am Strafverfahren zu seiner wirksamen Verteidigung, die sich als unverzichtbares und essentielles Grundmoment des Gesamtrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren ausweist.
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Zur Inhalts- und Ausübungsebene siehe bereits unter Kap. 3 B. III. 1. b) cc) (4) und unter Kap. 4 B. I. und II. Siehe zu dem Zusammenwirken zwischen aktiver Teilhabe und dem Teilhaberahmen näher unter Kap. 4.
261
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
2.
Verankerung des Menschenrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren in strafverfahrensrechtlichen Rechtsinstrumenten auf nationaler und internationaler Ebene
a)
Verankerung in Strafverfahrensordnungen auf nationaler Ebene
aa)
Das adversatorische Strafverfahren des common law und der Angeklagte als unverzichtbarer Grundgarant der parteizentrierten Wahrheitsermittlung
410
Das adversatorische Strafverfahren geht – wie bereits dargestellt wurde1221 – traditionell davon aus, dass der «beste» Weg hin zu einem wahren und gerechten Urteil der Weg einer Wahrheitsermittlung durch Widerstreit,1222 durch Auseinandersetzung1223 zwischen der anklagenden und angeklagten Partei ist: Mit der widerstreitenden parteiischen Präsentation von Belegen für die behaupteten Sachverhaltshypothesen und der „adversatorische(n) Entwicklung der Sachverhaltshypothesen – als dialektischer Prozess –“1224 sind die Leistung und Verantwortung für den einer Strafentscheidung zugrunde zu legenden Sachverhalt vorrangig in die Hände der Parteien gelegt und anders als im instruktorischen Strafverfahren des civil law nicht zuvörderst in die Hände des Gerichts. Diesem, die Beweisführungsstruktur des adversatorischen Strafverfahrens prägenden Ausgangspunkt, zu dem Gless zutreffend bemerkt, dass „… eben nicht der Richter Beweis, sondern die Parteien“1225 Beweis führen, entspricht es, dass dem Moment der auf Verfahren und Verfahrensergebnis wirksam und gleichberechtigt Einfluss nehmen könnenden Teilnahme von anklagender und angeklagter Partei am Strafverfahren von vornherein eine besondere Bedeutung zuerkannt ist.
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Das adversatorische Straf- und Beweisverfahren baut für seine Suche nach der Wahrheit gerade zuvörderst auf jener widerstreitenden Parteiteilnahme auf und infolgedessen stellt sich die auf Verfahren und Verfahrensergebnis Einfluss nehmen könnende Teilnahme der anklagenden wie der angeklagten Partei nicht nur überhaupt als unverzichtbares, sondern als unverzichtbares
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Siehe dazu bereits unter Kap. 2 B. I. 3. b). Siehe etwa GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 75. Siehe dazu etwa UGLOW, S. 212: „a debate (or maybe battle) between the two parties, namely the prosecution and the defence“; HERRMANN, Hauptverhandlung, S. 167: beherrscht „von der Idee der Wahrheitsermittlung durch Auseinandersetzung“, siehe auch S. 118 f., 152 ff. zum oft zu einseitig betonten Vergleich des angloamerikanischen Strafverfahrens mit einem Wettkampf, Zweikampf oder Boxkampf. GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 93 (Hervorhebung Demko). GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 75, 76; siehe dazu auch HERRMANN, ZStW 1968, S. 778 f.
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
Grundelement des adversatorischen Strafverfahrens dar:1226 Das adversatorische Strafverfahren als ein nicht „einspurige(s)“,1227 sondern „zweispuriges“1228 Verfahren stützt sich auf die von anklagender und angeklagter Seite „offen zutage“1229 tretend herausgearbeiteten, sich gegenüberstehenden Sachverhaltshypothesen1230 als selbständige Sachverhalts«bilder» und gründet sich geradezu auf die widerstreitende Parteimitwirkung. Das adversatorische Strafverfahren zeichnet von Anfang an das Bild eines „beteiligende(n) Verfahren(s)“1231 und weist der sich als „Garant“1232 für ein faires Verfahren darstellenden, Autonomie und Freiheit ausdrückenden und sich über verschiedene prozessuale Einzelgarantien verwirklichenden aktiven Teilnahme des Angeklagten am Strafverfahren zu dessen wirksamen Verteidigung und damit der Anerkennung des Angeklagten als eines selbständig und gleichberechtigt auftretenden Prozesssubjekts1233 einen entscheidenden Stellenwert für ein als fair angesehenes Strafverfahren zu.
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Siehe dazu auch GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 90, 91: „… Im Vordergrund steht … die optimale Beteiligung der an der Wahrheitssuche vorrangig interessierten Verfahrensbeteiligten durch entsprechende Verfahrensregeln …“, siehe auch näher S. 75 ff. und S. 89 ff.; GALLIGAN, S. 241 ff.; eingehend dazu HERRMANN, Hauptverhandlung, S. 167 ff.; ebenso und dabei den Vergleich zum deutschen Strafverfahren anführend HERRMANN, Strafprozess, S. 155 ff.; SCHMID, Strafverfahren, S. 139, 144; GAEDE, S. 347, 348; SCHLEIMINGER, S. 165; UGLOW, S. 210: „from both sides“; siehe zum Unterschied zum instruktorischen Strafverfahren, in dem der Angeklagte als unverzichtbarer Zusatzgarant fungiert, unter Kap. 3 B. III. 2. a) bb) (1). HERRMANN, Hauptverhandlung, S. 167. HERRMANN, Hauptverhandlung, S. 168. HERRMANN, Hauptverhandlung, S. 169. Dazu auch HERRMANN, Hauptverhandlung, S. 167. GAEDE, S. 346. GAEDE, S. 348 (Hervorhebung Demko). Siehe dazu auf Zachariae bezugnehmend HERRMANN, Hauptverhandlung, S. 56, 57: „daβ eine kontradiktorische Verhandlung zwischen zwei selbständig auftretenden und sich gleichberechtigt gegenüberstehenden Prozeβsubjekten stattfindet“ (Hervorhebung Demko), siehe auch S. 243: Kennzeichen des anglo-amerikanischen Strafverfahrens sei, dass der Angeklagte zusammen mit seinem Verteidiger „für seine Verteidigung sorgen muβ und aktiv an der Beweisaufnahme beteiligt ist“ (Hervorhebung Demko); HERRMANN, Strafprozess, S. 155 ff.: „gleichberechtigte und eigenverantwortliche Beteiligung des … Angeklagten“ (S. 155 f.), „Mitverantwortung des Angeklagten und des Verteidigers bei der Sachverhaltsermittlung“ (S. 157) im Gegensatz zu deren eher „untergeordnete(n) Rolle“ (S. 156) im deutschen Strafverfahren, das dem reformierten Inquisitionsprozess zugeordnet ist; WEISSMANN, S. 14, 15, 25 ff.: Im Zusammenhang mit dem Kreuzverhör heisst es, dass Staatsanwalt und Verteidiger „dann erst wirksame Organe in ihren Funktionen …“ würden, denn je vollkommener der Richter sein Vernehmungsrecht übe, „… desto mehr wird die sachliche Mitarbeit
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Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht 412
Das zu gewährleistende faire Strafverfahren ist im US-amerikanischen Strafverfahren mit der «due process»-Klausel und im englischen Strafverfahren mit der «natural justice»-Garantie verbunden, wird als sich aus diesen herleitend,1234 als ein Teil von ihnen,1235 mit diesen (fast) gleichgesetzt1236 und/oder als eng und untrennbar mit due process und natural justice verknüpft angesehen.1237 Trotz zu beachtender Unterschiede, die sich im Laufe der Fortentwicklung des amerikanischen und englischen Strafverfahrens im Einzelnen zwischen diesen beiden entwickelt haben, ist es ein wesentliches Element sowohl der «due process»-Klausel als auch der «natural justice»-Garantie, dass dem Angeklagten im Strafverfahren eine wirksame gleichberechtigte Teilnahme zu dessen Verteidigung zu gewährleisten ist und bereits früh wurde unter Bezugnahme auf das Alte Testament der grosse Stellenwert einer dem Angeklagten einzuräumenden Teilnahme und Verteidigung im Strafverfahren hervorgehoben:
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„… Even God himself did not pass sentence upon Adam before he was called upon to make his defence …“1238
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Bereits seit frühesten Entwicklungen seit der Magna Carta findet die zentrale Bedeutung, die der Achtung der Freiheit des Menschen und der Entwicklung von Freiheitsrechten,1239 und zwar auch von Freiheitsrechten im Strafverfahren, eingeräumt ist, ihren Ausdruck und ist als wesentliches Element sowohl der «due process»-Klausel als auch der «natural justice»-Garantie zu erken-
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der Parteien ausgeschlossen …“ (S. 25), „voll berechtigten Vertreter“ (S. 26), „zwei gleichberechtigte Parteien“ (S. 27), Hervorhebung Demko. Siehe etwa SCHMID, Strafverfahren, S. 139: „abgeleitet“; STEINER, S. 32. Siehe dazu die Zitierung des Obersten Gerichts in SCHMID, Strafverfahren, S. 139: „A fair trial in a fair tribunal is a basic requirement of due process“ (Hervorhebung Schmid). Siehe etwa DÖRR, S. 10, 11, 20, 21: Die «due process» – Klausel bedeute „… dem Grundsatz nach nicht mehr und nicht weniger als die Garantie eines fairen, gerechten oder rechtsstaatlichen Verfahrens …“ (S. 20, Hervorhebung Demko). Siehe etwa SCHMID, Strafverfahren, S. 139: „untrennbar miteinander verbunden“. Zitiert nach GAEDE, S. 347 (Hervorhebung Gaede) mit Bezug auf The King v. University of Cambridge (1723), 1 Str. 557, 567 (Fortescue J); siehe auch DÖRR, S. 52. Siehe dazu auch SCHMID, Strafverfahren, S. 97, 98; MILEJ, S. 34 zu den Worten des Richters Frankfurter zur Geschichte der Freiheit als zum grossen Teil „Geschichte der Beachtung prozessualer Garantien“; HERRMANN, Strafprozess, S. 143 ff.: „Eigenverantwortlichkeit des Beschuldigten“ (S. 143) als „wichtiges Strukturelement“ (S. 143) des amerikanischen Strafverfahrens, zu „Würde und … Selbstbestimmungsrecht des Beschuldigten“ (S. 144) siehe weiter S. 144, 145, „Eigenverantwortlichkeit und die Gestaltungsbefugnis des Angeklagten“ (S. 153), siehe zudem S. 156, 157 und S. 160 zu dem das amerikanische und deutsche Strafverfahren bestimmenden „Menschenbild und … Staatsverständnis“ (S. 160) und dem „richtigen Verhältnis zwischen Staat und Bürger“ (S. 160).
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
nen. Einen Anspruch auf einen «due process of law» ausdrücklich anführend heisst es bereits in den Gesetzen König Edwards von1354: „… No man of what estate or condition that he be, shall be put out of land or tenement, nor taken nor imprisoned, nor disinherited, nor put to death, without being brought in answer by due process of law …“1240
415
Mit dem in der amerikanischen Verfassung im 5. und 14. Amendment niedergeschriebenen Recht auf einen «due process of law», das auch als Recht auf ein ordnungsgemässes,1241 korrektes,1242 gehöriges,1243 rechtsstaatliches,1244 gerechtes1245 oder faires1246 Verfahren bezeichnet ist, wird der Anspruch auf ein fair trial als eng und untrennbar verknüpft angesehen,1247 auch wenn letzterer selbst nicht ausdrücklich in der Verfassung genannt ist.1248 Aus der «due process»-Klausel, hier gemeint in deren prozessualer Ausdeutung,1249 abgeleitet und einen wichtigen Bestandteil dieser ausmachend heisst es in der amerikanischen Spruchpraxis, dass „(A) fair trial in a fair tribunal is a basic requirement of due process“.1250 So, wie auch der Fairnessbegriff vom EGMR als ein das gesamte Verfahren umfassender und in abstrakter Weise nicht definierter Begriff ist,1251 wird auch die «due process»-Klausel als das Verfahren in dessen Gesamtheit erfassender, aber nicht abschliessend definierter1252 Begriff verstanden,1253 für dessen nähere inhaltliche Ausformung und Konkretisierung eine Vielzahl einzelner, jedoch nicht „starr fixiert(er)“1254 Strafver-
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Stat. 28 Edwards III, Cap. 3, 1354, entnommen bei SCHMID, Strafverfahren, S. 12 (Hervorhebung Demko). Siehe etwa SCHMID, Strafverfahren, S. 139, 242, 243; STEINER, S. 31. SCHMID, Strafverfahren, S. 139. DÖRR, S. 9. DÖRR, S. 20; SCHLEIMINGER, S. 148; STEINER, S. 31 FN 30. DÖRR, S. 20; SCHLEIMINGER, S. 148. DÖRR, S. 20; MILEJ, S. 35, 37 auch bezugnehmend auf die amerikanische Rechtsprechung S. 35 FN 58: bestimmte Fairnessstandards enthaltend (S. 35). Siehe dazu auch näher SCHMID, Strafverfahren, S. 139; DÖRR, S. 10, 20, 21. Dazu auch SCHMID, Strafverfahren, S. 139; Steiner, S. 32. Zur Unterscheidung zwischen procedural due process und substantive due process siehe die näheren Darstellungen bei DÖRR, S. 10 ff.; SCHLEIMINGER, S. 147. Entnommen von SCHMID, Strafverfahren, S. 139 (Hervorhebung Demko). Siehe zur EMRK unter Kap. 3 B. III. 1. b) cc); siehe auch SCHMID, Strafverfahren, S. 139, wonach ein fair trial „kein fest gefügter und deshalb auch unter systematischen Gesichtspunkten nicht klar einzureihender Begriff“ (Hervorhebung Demko) sei. Siehe dazu etwa SCHLEIMINGER, S. 147, 150; STEINER, S. 32. Siehe etwa DÖRR, S. 10, 11, wonach die «due process»-Klausel bedeute: „… Sie ist der Inbegriff aller Verfahrensregeln, die für ein Gerichtsverfahren angemessen und unerläβlich sind“ (S. 11), zur fehlenden Definition des Begriffs «due process» siehe auch S. 21. RZEPKA, S. 278; siehe dazu auch DÖRR, S. 45 ff.
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fahrensmaximen und Verfahrensrechte als Einzelgarantien entwickelt und in der Spruchpraxis vertieft wurden: 417
„… Due Process is not a mechanical instrument. It is not a yardstick. It is a process …“1255
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Als wichtiges und fundamentales Element und «Anwendungsfall»1256 der «due process»-Klausel und des mit dieser ausgesprochenen Rechts auf ein fair trial1257 ist das Recht des Angeklagten anerkannt, am Straf- und Beweisverfahren aktiv und gleichberechtigt teilnehmen und sich in diesem auf diese Weise wirksam verteidigen zu dürfen:1258 Als einer der beiden Parteien in dem adversatorischen „Zweiparteienverfahren(s)“1259 ist dem Angeklagten wirksam und gleichberechtigt1260 rechtliches Gehör einzuräumen1261 und es sind diesem darüber hinaus weitere Verfahrensrechte zu gewährleisten, die ihm seine das Verfahren und Verfahrensergebnis beeinflussen könnende aktive Mitwirkung am Strafverfahren sichern, wie sie auch im 6. Amendment der amerikanischen Verfassung niedergeschrieben sowie in der amerikanischen Rechtsprechung ausgeformt sind.1262
419
Die grosse Bedeutung gerade der aktiven gleichberechtigten Mitwirkungsmöglichkeit des Angeklagten am Strafverfahren („participate fully and fairly in the adversary factfinding process“1263) als „Garant“1264 für die Fairness des 1255
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Justice Frankfurter concurring in Joint Anti-Fascist Refugee Committee v. McGrath, 341 U.S. 123, 179 (1951), (Hervorhebung Demko), zitiert nach SCHLEIMINGER, S. 147 FN 228. Siehe auch SCHMID, Strafverfahren, S. 139: „Anwendungsfälle“. Siehe auch DÖRR, S. 10, 20, 21. Siehe auch SCHLEIMINGER, S. 150: due process als zwar „… unbestimmte(r) Rechtsbegriff …“, der „… aber auf jeden Fall die Gewährung der spezifischen, in den Amendment IV-VI garantierten Rechte des Angeklagten“ (S. 150, Hervorhebung Demko) bedinge. SCHMID, Strafverfahren, S. 141. Zur Waffengleichheit als „Teil des Zweiparteienverfahrens (adversary system)“ (S. 141) siehe SCHMID, Strafverfahren, S. 141 (Hervorhebung Schmid). Dazu näher DÖRR, S. 21. Das 6. Amendment lautet: „In all criminal prosecutions, the accused shall enjoy the right to a speedy and public trial, by an impartial jury of the State and district wherein the crime shall have been committed, which district shall have been previously ascertained by law, and to be informed of the nature and cause of the accusation; to be confronted with the witnesses against him; to have compulsory process for obtaining witnesses in his favor, and to have the Assistance of Counsel for his defence.“; siehe aus der Rechtsprechung auch treffend United States v. Cronic 466 U.S. 648, 655 (1984) per J Stevens: The „very premise of our adversary system … is that partisan advocacy on both sides of a case will best promote the ultimate objective that the guilty be convicted and the innocent go free“ (Hervorhebung Demko), zitiert nach GAEDE, S. 348. Herring v. New York 422 U.S. 853, 858 (1975), zitiert nach GAEDE, S. 348 FN 50.
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
Strafverfahrens, die die Anerkennung des Angeklagten als eines auch im Strafverfahren frei, autonom und selbstbestimmt handeln könnenden Menschen zum Ausdruck bringt,1265 zeigt sich dabei insbesondere mit Blick auf das Beweisverfahren und das dem Angeklagten im 6. Amendment garantierte Konfrontationsrecht («to be confronted with the witnesses against him»). Das Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen ist im Zusammenhang mit dem das adversatorische Strafverfahren prägende Kreuzverhör als „… zentrale Garantie eines „due process“ …“,1266 als ein für die Wahrheitsfindung fundamentales Element angesehen und wird als „… the greatest legal engine ever invented for the discovery of truth …“1267 bezeichnet. Hinzukommen weitere, im 6. Amendment enthaltene „Einzelgarantien“1268 bzw. „Mindestrechte“,1269 die dem Angeklagten als zu einem due process und fair trial gehörend zu gewährleisten sind und zu denen beispielsweise das Recht auf ein öffentliches Verfahren und das Recht auf eine unparteiische, unvoreingenommene Jury ebenso gehören wie – im Zusammenhang mit den Beweisrechten des Angeklagten und dessen Mitwirkung am Beweisverfahren – das Recht des Angeklagten auf Aufrufung und Einvernahme von Entlastungszeugen («to have compulsory process for obtaining witnesses in his favor»), das Recht auf Information über Art und Grund der Anklage und nicht zuletzt das Recht auf einen Verteidiger.1270 Sind für das US-amerikanische Strafverfahren die «due process»-Klausel und der fair trial auf das Engste und untrennbar miteinander verbunden, so kennzeichnet das englische Strafverfahren der ebenso enge und untrennbare Zusammenhang zwischen dem einen Bestandteil des common law bildenden «natural justice»-Rechtsgrundsatz und dem fair trial. Trotz Unterschieden zwischen der «due process»-Klausel und der «natural justice»-Klausel im Einzelnen lassen sich diese – wie auch das Moment der Rechtsstaatlichkeit des Strafverfahrens im instruktorischen Strafverfahrensmodell des civil law – als Ausdruck der „Idee“1271 des Art. 6 EMRK verstehen.1272 Auch der das englische Strafverfahren prägende, sich auf das gesamte Verfahren beziehen1264 1265 1266 1267
1268 1269 1270
1271 1272
GAEDE, S. 348. Siehe dazu auch SCHMID, Strafverfahren, S. 97 ff. RZEPKA, S. 282 (Hervorhebung Demko). California v. Green, 399 U.S. 158 (1970), zitiert nach SCHMID, Strafverfahren, S. 142 (Hervorhebung Demko); dazu auch DÖRR, S. 43, 44. DÖRR, S. 21. DÖRR, S. 45. Siehe zu diesen Einzelgarantien und dazu ergangener Rechtsprechung näher DÖRR, S. 22 ff.; SCHMID, Strafverfahren, S. 139 ff. DÖRR, S. 73. Siehe näher DÖRR, S. 73: „die gleiche Idee wie Art. 6 MRK zum Ausdruck bringen“ sowie „vergleichbar ist“; darauf verweisend auch RZEPKA, S. 277.
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de «natural justice»-Begriff ist – wie schon für die ebenso an das Verfahren als Gesamtheit angelegten, auf einer hohen Abstraktionsebene liegenden Begriffe der Fairness und des due process aufgezeigt – in einer allumfassenden Weise nicht definiert1273 und wird als Ausdruck von Gerechtigkeit,1274 von Rechtsstaatlichkeit, von Fairness und einem fairen Handeln und Behandeln im Strafverfahren verstanden.1275 Die «natural justice»-Garantie setzt sich aus zwei Grundsätzen – dem «nemo iudex in causa sua»-Grundsatz zum einen und dem «audi alteram partem»-Grundsatz zum anderen – zusammen, welche nicht nur die durch ein Strafverfahren zu verbürgende Objektivität bei der Ermittlung von Wahrheit und Gerechtigkeit, sondern ebenso die zu der prozeduralen Gerechtigkeitskomponente gehörende Prozesssubjektivität des Angeklagten zum Ausdruck bringen und welche – auch durch deren Anerkennung als die zwei Grundsätze, aus denen sich die «natural justice»Garantie zusammensetzt – erkennen lassen, dass beides für ein als insgesamt gerecht angesehenes Strafverfahren von grundlegender Bedeutung ist.1276 Formt der «nemo iudex in causa sua»-Grundsatz den Anspruch auf ein unabhängiges, neutrales, unvoreingenommenes Gericht aus,1277 ist durch den «audi alteram partem»-Grundsatz die jeder Partei einzuräumende Beteiligung am Strafverfahren durch Gewährung von rechtlichem Gehör sowie darüber hinaus von weiterreichenden, mit diesem verbundenen „verfahrensrechtliche(n) Mindestgarantien“1278 für die Wahrung eines «fair hearing» angesprochen.1279 421
Für die Verwirklichung eines fairen Strafverfahrens und der hierfür nötigen gleichberechtigten Mitwirkung des Angeklagten am Straf- und Beweisverfahren sind diesem für seine wirksame Verteidigung, abgeleitet aus dem «nemo iudex in causa sua»-Grundsatz sowie dem «audi alteram partem»-Grundsatz, im heutigen1280 englischen Strafverfahren eine Vielzahl verschiedener und 1273
1274 1275
1276 1277 1278 1279
1280
268
Siehe auch DÖRR, S. 51; siehe zum Fairnessbegriff auch UGLOW, S. 214: „But fairness itself is not a single or simple idea“. Dazu auch DÖRR, S. 51. Siehe auch DÖRR, S. 51: „faire Behandlung im Gerichtsverfahren“; RZEPKA, S. 283; siehe auch UGLOW, S. 209, 210, 214: „A fight model of dispute resolution requires rules of engagement, which are essentially based on the idea of fairness“ (S. 214, Hervorhebung Demko). Siehe dazu auch bereits die Ausführungen unter Kap. 2 B. II. und Kap. 3 A. III. GAEDE, S. 346: „Anspruch auf ein unvoreingenommenes Gericht“. RZEPKA, S. 283. Zur häufigen Übersetzung des «audi alteram partem»-Grundsatzes als fair hearing siehe näher DÖRR, S. 52 ff., siehe dort ebenso zur weitergehenden Bedeutung des «audi alteram partem»-Grundsatzes über das rechtliche Gehör hinaus, S. 52 ff., siehe zudem zu dem fair hearing-Begriff die Ausführungen von Dörr auf den S. 72, 73. Zur vermehrten Ausprägung von über das rechtliche Gehör hinausgehenden Verteidigungsrechten für den Angeklagten erst im 18. und 19. Jahrhundert siehe näher UGLOW, S. 209, 210; GAEDE, S. 347.
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über den Anspruch auf rechtliches Gehör hinausgehender prozessualer Einzelgarantien zugesprochen: Zu nennen sind beispielsweise das Recht auf Offenlegung der Beweismittel, das Recht auf Konfrontation mit den Belastungszeugen und auf Befragung der eigenen Entlastungzeugen, das Recht auf einen Verteidiger oder das Recht auf einen Dolmetscher.1281 Diese Rechte sind Ausdruck der dem Angeklagten für seine wirksame Verteidigung einzuräumenden autonomen, aktiven und die Waffengleichheit achtenden Teilnahme am Strafverfahren, welchen zudem weitere Elemente eines fairen Verfahrens, wie die Unschuldsvermutung,1282 die Öffentlichkeit des Verfahrens und die Unabhängigkeit des Gerichts/der Jury an die Seite gestellt sind.1283 Wie im US-amerikanischen gehört auch im englischen Strafverfahren die dem Angeklagten über das rechtliche Gehör und über – über das rechtliche Gehör hinausreichende – weitere Verteidigungsrechte zu gewährende eigenverantwortliche aktive Teilnahme des Angeklagten am Straf- und Beweisverfahren zu seiner Verteidigung zu den für die Fairness eines Strafverfahrens als unabdingbar und geradezu grundlegend angesehenen Elementen.1284 Denn es sind doch gerade und primär die sich konträr gegenüberstehenden Parteivorträge und -präsentationen1285 der anklagenden und angeklagten Seite – und es ist damit als Teil dieses Zweiparteienverfahrens die im Strafverfahren verwirklichte aktive Teilnahme des Angeklagten (selbst und/oder dessen Verteidiger) –, über die sich im Verlaufe des Strafverfahrens die sich widerstreitend gegenüberstehenden Sachverhaltshypothesen entwickeln und sich die Prozesssubjektivität und „adversare Freiheit“1286 der Parteien und so auch des Angeklagten als eines unverzichtbaren Grundgaranten1287 für die parteizentrierte Wahrheitsermittlung im adversatorischen Strafverfahren verwirklichen können.
1281 1282 1283
1284
1285 1286 1287
Dazu auch RZEPKA, S. 283, 284; DÖRR, S. 52 ff. Siehe dazu UGLOW, S. 215, 216. Siehe zu den prozessualen Einzelgarantien näher DÖRR, S. 52 ff.; SCHLEIMINGER, S. 157 f. Siehe dazu auch UGLOW, S. 217: „the accused`s rights are paramount“; HERRMANN, Strafprozess, S. 143 ff.: Eigenverantwortlichkeit des Beschuldigten als „wichtiges Strukturelement des amerikanischen Strafverfahrens“ (S. 143). Siehe auch SCHLEIMINGER, S. 164: „fair präsentieren“. SCHLEIMINGER, S. 164 (Hervorhebung Demko). Siehe im Unterschied dazu zum Angeklagten im instruktorischen Strafverfahren als unverzichtbarem Zusatzgaranten näher unter Kap. 3 B. III. 2. a) bb) (1).
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423
bb)
Das instruktorische Strafverfahren des civil law
(1)
Das instruktorische Strafverfahren und der Angeklagte als unverzichtbarer Zusatzgarant der behördenzentrierten Wahrheitsermittlung
Sich auf die objektive Ergebnisgerechtigkeit ausrichtend legte der ursprüngliche Inquisitionsprozess einen materiellen Wahrheitsbegriff zugrunde1288 und gestaltete sich als ein Prozess, in welchem der Angeklagte nicht als Subjekt, sondern als Objekt des Strafverfahrens, als „primär Objekt der Wahrheitserforschung“1289 angesehen wurde1290 und in welchem Richter- und Anklägerrolle als eine Einheit zusammenfielen.1291 Die Abkehr vom ursprünglichen Inquisitionsprozess und dessen Fortentwicklung zum heutigen reformierten «Inquisitions»prozess, der besser und vorzugswürdig als instruktorisches Strafverfahren bezeichnet werden sollte (und in dieser Abhandlung wird),1292 brachte mit dem damit einhergehenden neuen Wahrheits- und Gerechtigkeitsbegriff, für welchen sowohl materielle als auch prozedurale Komponenten an Relevanz gewannen,1293 auch ein neues „Prozessmodell“1294 mit sich: Kennzeichnete den ursprünglichen Inquisitionsprozess entsprechend dem damaligen absolutistischen Staatsverständnis eine Konzentration umfassender Macht bei dem Staat als Inquirent, welcher für das Verfahren und das Verfahrensergebnis allein verantwortlich war, so kam und kommt es im reformierten «Inquisitions»prozess zu einer Auf- und Verteilung der Rollen im Strafverfahren 1288
1289
1290
1291
1292
1293
1294
270
Dazu zum Beispiel GAEDE, S. 350; PIETH, Strafprozessrecht, S. 21 ff.; DONATSCH/ SCHWARZENEGGER/WOHLERS, S. 11 ff. PIETH, Strafprozessrecht, S. 71 mit dem Hinweis auf die Ambivalenz der inquisitorischen Wahrheitssuche; siehe auch DONATSCH/SCHWARZENEGGER/WOHLERS, S. 12: „nicht Subjekt des Verfahrens, sondern dessen (relativ) rechtloses Objekt“. Siehe dazu etwa VEST, Festschrift Trechsel, S. 789: „ausschliesslich Beweisobjekt ohne eigene Mitwirkungsrechte“; VON LISZT, StV 2001, S. 138: „der Inquisit ist nicht Prozeβsubjekt, sondern Inquisitionsobjekt“; GALLAS, ZStW 1934, S. 261: Zufallen der Rolle „eines bloβen Untersuchungsobjekts“; VARGHA, S. 270. Siehe ESER, Festschrift Tiedemann, S. 1457 FN 17, 1467, wonach mit «inquisitorial» „ursprünglich die Einheit von Ermittler und Richter“ (S. 1457 FN 17) gemeint gewesen sei: „dass ursprünglich der Richter zugleich als Ankläger fungierte“ (S. 1467); VEST, Festschrift Trechsel, S. 789, wonach der Untersuchende „«in einer Person Ankläger, Verteidiger und Richter»“ war. Siehe auch ESER, Festschrift Tiedemann, S. 1457 FN 17, 1467 ff.: „sachgerechter als »instruktorisch« zu bezeichnen“ (S. 1457 FN 17). Siehe dazu bereits die früheren Darstellungen zu den die Strafgerechtigkeit kennzeichnenden materiellen und prozeduralen Gerechtigkeitskomponenten unter Kap. 2 A. und Kap. 3 A. III. PIETH, Strafprozessrecht, S. 71, ebenfalls darauf hinweisend, dass sich mit dem neuen Menschenbild der „Wahrheitsbegriff und das Prozessmodell“ wandelte.
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auf verschiedene Personen, dabei geleitet auch von der Erkenntnis einer psychologischen Überforderung, zu der es bei einer Bündelung der Funktionen von Ankläger, Verteidiger sowie Untersuchungs- und Entscheidungsorgan in ein- und derselben Person – dem staatlichen Inquirenten – komme.1295 Beeinflusst durch die Philosophie der Aufklärung und durch die Kritik an dem ursprünglichen Inquisitionsverfahren durch die Vertreter der Aufklärung trat bei jener Rollenaufteilung auf verschiedene Verfahrensbeteiligte neben die anklagende Seite und die des Richters als weiterer Verfahrensbeteiligter die verteidigende Seite und der Angeklagte wurde als Prozesssubjekt, als Rechte innehabende Person auch im speziellen Handlungskontext «Strafverfahren» anerkannt.1296 Mit der Fairness eines Strafverfahrens verbundene menschenrechtsschützende Einzelgarantien, wie sie auf der Ebene der verschiedenen Menschenrechtskonventionen sichtbar sind – und oben dargelegt wurden – und für die EMRK eine ausdifferenzierte Ausformung durch die Rechtsprechung des EGMR gefunden haben, sind ebenso wie auch die Anerkennung eines fairen Strafverfahrens als «Recht» des Angeklagten – trotz unterschiedlicher Ausgestaltungen nationaler Strafverfahren im Einzelnen – in den heutigen instruktorischen Strafverfahren des civil law entwickelt: Als „Kernstück“1297 aller Verfahrensgarantien und „allgemeines, übergeordnetes Wertungsprinzip für das Verfahren in seiner Gesamtheit“1298 wird es als tragendes Element und Kennzeichen der Prozessmaxime der Fairness des Strafverfahrens angesehen, dass vom Strafverfahren betroffene Personen nicht zu blossen Objekten der strafprozessualen Entscheidungsfindung herabgewürdigt werden dürfen.1299 Jenem Verbot einer Herabwürdigung der vom Verfahren Betroffenen zu blossen Objekten des Strafverfahrens entsprechend, wird von einem «Anspruch» auf ein faires Strafverfahren gesprochen, der allen am Verfahren beteiligten und
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Siehe dazu auch HERRMANN, Strafprozess, S. 156; DONATSCH/SCHWARZENEGGER/ WOHLERS, S. 12, 14. Siehe etwa HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, S. 153 N 13; PIETH, Festschrift Trechsel, S. 427: Behandlung der „Person im Verfahren als Subjekt“; WOHLERS, Festschrift Trechsel, S. 825: Fairness des Verfahrens als „Kurzformel für die Notwendigkeit, auch im Strafverfahren den Status des Beschuldigten als Rechtssubjekt zu beachten“; KAHLO, KritV 1997, 189 ff.; GAEDE, S. 350 f.; DONATSCH/SCHWARZENEGGER/ WOHLERS, S. 14; VARGHA, S. 271. GOLLWITZER, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR, S. 318 N 64; DONATSCH/SCHWARZENEGGER/WOHLERS, S. 24. GOLLWITZER, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR, S. 320 N 65, DONATSCH/SCHWARZENEGGER/WOHLERS, S. 24. GOLLWITZER, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR, S. 318 N 64; DONATSCH/SCHWARZENEGGER/WOHLERS, S. 23.
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von diesem betroffenen Personen zuerkannt1300 und auch dem Angeklagten als „Anspruch“,1301 als „Recht“,1302 als „Verfahrensgrundrecht“,1303 als „Grundrecht(en) der demokratischen Gesellschaft“1304 oder auch als Prozessgrundrecht1305 zugesprochen ist. 425
Die Fairness des Verfahrens, die als Prozessmaxime für das Strafverfahren in seiner Gesamtheit und für alle Verfahrensbeteiligten gilt,1306 ist mit dem Erfordernis verbunden, dass „ein gerechtes Urteil nur auf dem Weg über ein gerechtes Verfahren ermöglicht werden kann“,1307 womit das notwendige Zusammenspiel von materieller und prozedualer Gerechtigkeitskomponente für ein insgesamt gerechtes Strafurteil angesprochen ist,1308 welches sich auch in der Rechtsprechung verdeutlicht: So heisst es etwa in BGE 101 Ia 169, 170 im Zusammenhang mit dem rechtlichen Gehör und den sich aus Art. 4 chBV(alt) ergebenden Verfahrensregeln, dass diese „… im Strafprozess vor allem den Zweck (verfolgen), die Wahrheitsfindung und Verwirklichung des materiellen Strafrechts in einer Weise herbeizuführen, die den Angeschuldigten gegen die Gefahr staatlichen Machtmissbrauchs durch behördliche oder richterliche Willkür und gegen die Beeinträchtigung seiner Verteidigungsrechte schützt …“.1309 Auch in BGE 95 I 1, 4 ist angeführt:
426
„… Prozessuale Formen sind unerlässlich, um die ordnungsgemässe und rechtsgleiche Abwicklung des Verfahrens sowie die Durchsetzung des materiellen Rechts zu gewährleisten. Im Strafprozess verfolgen sie vor allem den Zweck, die Wahrheitsfindung und Verwirklichung des materiellen Strafrechts in einer Weise herbeizuführen, 1300
1301 1302 1303
1304 1305
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1307 1308
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Siehe aus dem schweizerischen Schrifttum etwa DONATSCH/SCHWARZENEGGER/ WOHLERS, S. 23, 24; siehe zum schweizerischen Strafverfahren sogleich näher unter Kap. 3 B. III. 2. a) bb) (2). Siehe etwa DONATSCH/SCHWARZENEGGER/WOHLERS, S. 23 f. Vgl. etwa GOLLWITZER, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR, S. 318 N 64. GOLLWITZER, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR, S. 321 N 66; siehe auch BGE 113 Ia 412, 421: „… das Grundrecht des "fair trial" …“ (Hervorhebung Demko). HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, S. 262 N 1. Siehe etwa BVerfG 57, 250: „Anspruch des Angeklagten auf ein faires, rechtsstaatliches Strafverfahren … allgemeinen Prozeβgrundrecht(s)“ (III. 1. b)). Siehe etwa GOLLWITZER, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR, S. 320 N 65; deutlich auch HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, S. 262 N 1: Zu den „Grundrechten der demokratischen Gesellschaft“ gehörend sei der Grundsatz des fairen Strafverfahrens „eine Maxime der ganzen Rechtsordnung und gilt somit im ganzen Verfahrensablauf für alle Verfahrensbeteiligten auch im Strafprozess“ (Hervorhebung Demko). DONATSCH/SCHWARZENEGGER/WOHLERS, S. 24 (Hervorhebung Demko). Siehe dazu bereits die Ausführungen unter Kap. 2 A. und Kap. 3 A. III.; vgl. zu einem Teilaspekt der Verbindung zwischen materieller Wahrheits- und Gerechtigkeitskomponente und der Fairness des Verfahrens mit Bezug auf die Wahrheitspflicht der Behörden SCHMID, S. 91 N 271. BGE 101 Ia 169, S. 170 (Hervorhebung Demko); siehe auch BGE 96 I 617, S. 620.
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht die den Angeschuldigten gegen die Gefahr staatlichen Machtmissbrauchs durch behördliche und richterliche Willkür und gegen die Beeinträchtigung seiner Verteidigungsrechte schützt. Dieser Anspruch des Angeschuldigten auf ordnungsgemässe Wahrheits- und Rechtsfindung im Prozess ist gleichermassen bedroht durch die Missachtung der sie sichernden Formen wie durch einen übertriebenen Formalismus, der sich durch kein schutzwürdiges Interesse rechtfertigen lässt, zum blossen Selbstzweck wird und damit sowohl die Wahrheitsfindung wie die Ausübung der Verteidigungsrechte in unhaltbarer Weise erschwert oder gar verhindert …“1310
Die als Prozessmaxime für das gesamte Strafverfahren fungierende Fairness des Verfahrens zeigt mit dem als essentielles Element eines fairen Strafverfahrens angesehenen Verbot einer Objektivierung der vom Strafverfahren Betroffenen den Bezug zu individualgerechtigkeitsbezogenen Komponenten eines fairen Strafverfahrens auf:1311 Diese dabei auch auf den Angeklagten beziehend, hat sich die Anerkennung des Angeklagten als Prozesssubjekt wie im adversatorischen so auch im instruktorischen Strafverfahren als grundlegendes Element eines fairen Strafverfahrens durchgesetzt. Auch im instruktorischen Strafverfahren ist die Verbindung zwischen zu wahrender Menschenwürde des Angeklagten, dessen Recht auf wirksame Verteidigung und dessen Gesamtrecht auf ein faires Strafverfahren erkennbar und betont.1312 Im instruktorischen Strafverfahren ist der erkenntnistheoretische Ausgangspunkt im Vergleich zum adversatorischen Strafverfahren zwar ein anderer, indem die Wahrheitsermittlung nicht als primär in den Händen der Parteien liegend angesehen, sondern vielmehr davon ausgegangen wird, dass diese als in der Verantwortung des Staates liegend vom Gericht zu leisten ist und jene staats-
1310
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BGE 95 I 1, S. 4 (Hervorhebung Demko); siehe auch HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, S. 262 N 3. Siehe auch WIEDERKEHR, S. 185 ff., 301 ff. zu Komponenten einer „individuelle(n) Gerechtigkeit“ (S. 187, Hervorhebung Wiederkehr), hinsichtlich der auf die Wahrung der Würde und Subjektstellung des Individuums Bezug genommen wird (siehe etwa S. 186, 188): „Dem Grundsatz der Fairness kommt als Prinzip individueller Gerechtigkeit umfassende Geltung zu … Er ergänzt und korrigiert die Regel-, Gesetzes- oder Gleichheitsgerechtigkeit um Gehalte individueller Gerechtigkeit“ (S. 188), zur individuellen formellen und individuellen materialen Gerechtigkeit siehe zudem näher S. 304 ff. und S. 320 ff. Siehe etwa deutlich SCHMID, S. 77, wo es in der Überschrift des § 16 heisst: „Wahrung der Menschenwürde und die daraus abzuleitenden Prinzipien: Grundsätze des fairen Verfahrens, der Waffengleichheit und von Treu und Glauben. Grundsatz des rechtlichen Gehörs. Wahrheitspflicht“ (Hervorhebung Demko), siehe zudem deutlich S. 79 N 235: „… der Grundsatz eines faires Verfahrens mit Blick auf den dahinter liegenden zentraleren Grundsatz des menschenwürdigen Verfahrens …“ (Hervorhebung Demko).
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zentrierte, jene behörden- und gerichtszentrierte Wahrheitssuche den «besten» Weg zu Ermittlung der Wahrheit darstelle.1313 428
Diese Betonung der beim Staat selbst liegenden Verantwortung und Leistung bei der Wahrheitsermittlung, die schon den ursprünglichen Inquisitionsprozess ausmachte und als grundlegendes Merkmal auch weiterhin das heutige instruktorische Strafverfahren, wenn auch betreffend Form und Ausübungsweise abgeschwächt, prägt und bestimmt,1314 bedeutet im heutigen instruktorischen Strafverfahren im Gegensatz zum früheren «klassischen» Inquisitionsprozess jedoch keinen Ausschluss des Angeklagten als Prozesssubjekt aus dem Prozess der Wahrheitsermittlung. Die das heutige instruktorische Strafverfahren kennzeichnende Anerkennung des Angeklagten als Prozesssubjekt und das sich auch dort durchsetzende Recht des Angeklagten auf eine gleichberechtigte wirksame Teilnahme am Strafverfahren mit einer entsprechend wirksamen und gleichen Einflussnahmemöglichkeit auf das Verfahren und das Verfahrensergebnis zeigen vielmehr auf, dass trotz und neben der primär dem Gericht zugeschriebenen Verantwortung und Leistung für die Wahrheitsermittlung auch der Angeklagte und dessen stets zu achtende Prozesssubjektivität als im und für den strafprozessualen Erkenntnisprozess essentiell zu achtendes Moment anerkannt sind: Eine Anerkennung des Angeklagten als Prozesssubjekt im strafprozessualen Erkenntnisverfahren, die vorrangig1315 als Ausfluss der prozeduralen Gerechtigkeitskomponente angesehen wird und der Achtung von dessen Menschenwürde im Strafverfahren verpflichtet ist, losgelöst davon, ob die Teilnahmemöglichkeit des Angeklagten zu einer für ihn günstige(re)n Wahrheits- und Entscheidungsfindung führt oder nicht.1316 1313
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1316
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Siehe dazu PIETH, Strafprozessrecht, S. 26, 84: Ausgehen von einem „behördenzentrierten Prozess“ (S. 84); zudem DONATSCH/SCHWARZENEGGER/WOHLERS, S. 12. Dazu auch GAEDE, S. 351: „Streben nach materieller Wahrheit durch den Staat selbst wurde nicht aufgegeben, es bleibt vielmehr auch heute ein zentrales Element des Strafverfahrens kontinentaler Prägung“ (Hervorhebung Demko). DONATSCH/SCHWARZENEGGER/WOHLERS, S. 28; WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 3 N 34. DONATSCH/SCHWARZENEGGER/WOHLERS, S. 28; WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 3 N 34; vgl. dazu auch SCHMID, S. 84 N 252; siehe aus der schweizerischen Rechtsprechung und der dortigen Betonung des «persönlichkeitsbezogenen Mitwirkungsrechts» etwa BGE 106 Ia 4, S. 5 f.; BGE 112 Ia 1, S. 3; BGE 115 Ia 8, S. 11; BGE 118 Ia 17, S. 19; BGE 120 Ib 379, S. 383; BGE 122 I 53, S. 55: „… Das durch Art. 4 BV gewährleistete rechtliche Gehör dient der Sachaufklärung und garantiert dem Betroffenen ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht im Verfahren. Er soll sich vor Erlass des Entscheids zur Sache äussern, erhebliche Beweise beibringen, Einsicht in die Akten nehmen und an der Erhebung von Beweisen mitwirken oder sich zumindest zum Beweisergebnis äussern können, wenn dieses geeignet ist, den Entscheid zu beeinflussen …“ (Hervorhebung Demko); BGE 126 I 19, S. 24: „… ist die Möglichkeit zur Stellungnahme wegen der formellen Natur des An-
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Aber auch ein wenn auch als nur nachrangig angesehener Bezug zwischen materieller Gerechtigkeitskomponente und zu achtender Prozesssubjektivität des Angeklagten ist hergestellt und dessen Bedeutung für den strafprozessualen Erkenntnisprozess hervorgehoben. Betont wird hierzu, dass durch die aktive Teilnahme des Angeklagten als Prozessubjekt im Strafverfahren zugleich auch ein wichtiger Beitrag zur materiellen Wahrheitsermittlung geleistet werden könne1317 und der Angeklagte sich durch seine der anklagenden Seite entgegengestellten Prozessbeiträge als „zusätzlicher „dialektischer“ Garant“1318 für die Ermittlung von Wahrheit und materieller Gerechtigkeit erweist.1319 Die Anerkennung des Angeklagten als Prozesssubjekt stellt sich mithin im heutigen instruktorischen Strafverfahren und insofern mit dem adversatorischen Strafverfahren übereinstimmend als unverzichtbares und tragendes Grundelement eines als fair angesehenen Strafverfahrens dar. Ist der Angeklagte im adversatorischen Strafverfahren entsprechend dem dort vorherrschenden erkenntnistheoretischen Ausgangspunkt, dass der «beste» Weg der Wahrheitsermittlung ein primär in den Händen der Parteien liegender ist, als unverzichtbarer Grundgarant für die parteizentrierte Wahrheitsermittlung
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spruchs auf rechtliches Gehör … unabhängig davon zu gewähren, ob die Argumente, die der Angeklagte hätte vorbringen können, das Strafurteil voraussichtlich geändert hätten oder nicht …“ (Hervorhebung Demko); BGE 125 I 113, S. 118. Vgl. etwa WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 3 N 34: trägt „… auch dazu bei, den Sachverhalt aufzuklären und die materielle Wahrheit zu ermitteln …“ (Hervorhebung Demko); HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, S. 250 N 3: „ist auch geeignet“. GAEDE, S. 352 (Hervorhebung Gaede). Siehe dazu auch etwa KOHLBACHER, S. 72, wonach die Wahrheitsfindung im Strafprozess „durch die dialektische Auseinandersetzung der beiden Vertreter von These und Antithese (erfolgt), einer Auseinandersetzung, die begleitet sein muss von Spannungen und Gegensätzen“ (Hervorhebung Demko); MÜLLER, StV 1996, S. 359 zum dialogischen Wahrheitsermittlungsprozess: „Die Vernehmung sollte als dialogischer Prozeβ begriffen werden, »in dem Vergangenes rekonstruiert und Wahrheit geschaffen … wird. In fairer Weise geht das aber nur, wenn dem Beschuldigten die Möglichkeit gegeben wird, seine Position in das Verfahren einzubringen …«“ (Hervorhebung Demko: «dialogischer», übrige Hervorhebung Müller); MÜLLER, ZStR 1979, S. 169 zum dialektischen Charakter der Wahrheitsermittlung im Strafverfahren: Auch im Strafverfahren lasse sich wie „überall in kontroversen Situationen … die Wahrheit nie ausschliesslich auf der einen Seite finden. Der These, die der Ankläger aufstellt, steht die Antithese der Verteidigung gegenüber, und aus diesen gegensätzlichen Meinungen bildet der Richter seine Überzeugung auf dem Weg der Synthese. Das ist angewandte Dialektik …“ (Hervorhebung Demko); ERNESTI, JR 1982, S. 223: „Der Verteidiger hat … seinen festen dialektischen Anteil am Erkenntnisprozeβ. Er ist Glied eines auf zweckmäβige Wahrheitserforschung gerichteten Mechanismus … Rolle eines Gegenspielers …“
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angesehen,1320 indem jene Wahrheitsermittlung primär auf den Prozessbeiträgen von Ankläger und Angeklagtem fusst, so ist wegen des anderen erkenntnistheoretischen Ausgangspunktes einer behörden- bzw. gerichtszentrierten Wahrheitsermittlung im instruktorischen Strafverfahren dem Angeklagten mit Blick auf diese behörden-/gerichtszentrierte Wahrheitsermittlung hingegen die Rolle eines unverzichtbaren Zusatzgaranten zuerkannt.1321 Dieser bestehende Unterschied in Bezug auf die materielle Wahrheits- und Gerechtigkeitskomponente ändert aber nichts daran, dass die Achtung des Angeklagten als Prozesssubjekt sowohl im adversatorischen als auch im instruktorischen Strafverfahren als unverzichtbares und essentielles Moment eines als fair angesehenen strafprozessualen Erkenntnisverfahrens angesehen ist: Der prozeduralen Gerechtigkeitskomponente und der damit verbundenen Achtung der Menschenwürde des Angeklagten im Strafverfahren verpflichtet, ist übereinstimmend gefordert, dem Angeklagten zu seiner wirksamen Verteidigung die Möglichkeit einer aktiven und gleichberechtigten Teilnahme am Strafverfahren mit entsprechend wirksamer Einflussnahmemöglichkeit auf das Verfahren und Verfahrensergebnis einzuräumen.
1320 1321
276
Siehe dazu bereits die Ausführungen unter Kap. 3 B. III. 2. a) aa). Zu den Unterschieden bezüglich der Art und Weise der Wahrheitsermittlungswege siehe bereits unter Kap. 2 B. I. 3. b); siehe zudem etwa HERRMANN, Hauptverhandlung, S. 167 ff.: zum „einspurige(n)“ (S. 167) Verfahren, in dem zwar eine Einflussnahme von Staatsanwalt und Angeklagtem auf das vom Richter geführte Verfahren der Sachverhaltsfeststellung, aber eine ergänzende oder korrigierende (S. 167) möglich ist und ihre Mitwirkung „grundsätzlich nicht auf den Entwurf eines selbständigen Bildes vom Sachverhalt gerichtet (ist), das neben dem vom Vorsitzenden geschaffenen entsteht und möglicherweise in Konkurrenz zu diesem tritt“ (S. 167, Hervorhebung Demko); HERRMANN, Strafprozess, S. 156 f.: zur einspurigen und nicht dialektischen Sachverhaltsermittlung des Gerichts und der hier weitgehend „nur eine untergeordnete Rolle“ (S. 156, Hervorhebung Demko) spielenden Einflussnahme von Staatsanwalt und Angeklagten; siehe auch WEISSMANN, S. 14, 15: zur „dominierenden Stellung“ (S. 14) des Vorsitzenden und zu den „dem Richter untergeordneten Parteien“ (S. 14), die „lediglich Anschluβfragen und zusätzliche Beweisanträge“ (S. 14) stellen können, weiter heisst es, dass man den Parteien „ihre naturgemäβe Tätigkeit aus der Hand genommen“ (S. 15) habe sowie: „Ein eigentliches Mitwirken am Prozeβstoff sei ihnen nicht beschieden“ (S. 14), Hervorhebung Demko, siehe im Zusammenhang mit dem Kreuzverhör auch S. 25 ff.; GAEDE, S. 352; SCHÜNEMANN, StV 1993, S. 607 f. zu der „Kontrollkompetenz der Verteidigung“ (S. 607, Hervorhebung Demko) und dazu, „den Rollenantagonismus zu einer Kontrolle der ja allein beim Gericht liegenden Entscheidungsmacht einzusetzen“ (Hervorhebung Schünemann).
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
(2)
Das die Menschenwürde des Angeklagten wahrende faire Strafverfahren in der schweizerischen Strafverfahrensordnung
Die wie im adversatorischen so auch im instruktorischen Strafverfahren bestehende Verbindung zwischen zu wahrender Menschenwürde des Angeklagten, dessen Recht auf wirksame Verteidigung und dessen Gesamtrecht auf ein faires Strafverfahren ist – wenn auch in den einzelnen, dem instruktorischen Verfahrensmodell zugeordneten nationalen Strafverfahren auf jeweils unterschiedliche Weise gestaltet und ausformuliert – in gesetzlichen Bestimmungen und/oder der Rechtsprechung sowie im Schrifttum sichtbar gemacht und bekräftigt, was im Folgenden anhand des heutigen eidgenössischen schweizerischen Strafverfahrens dargestellt werden soll:1322
430
Im vereinheitlichten eidgenössischen schweizerischen Strafverfahrensrecht ist in Art. 3 StPO, der den Titel «Achtung der Menschenwürde und Fairnessgebot» trägt, nicht nur im sogleich ersten Absatz der Grundsatz der auch im Strafverfahren zu achtenden Menschenwürde, sondern mit dem in Abs. 2 lit. c geregelten Gebot der gleichen und gerechten Behandlung aller Verfahrensbeteiligten zudem der Anspruch auf ein faires Verfahren kodifiziert.1323
431
Mit den in den Art. 3–11 StPO niedergelegten Grundsätzen des Strafverfahrensrechts sind Prinzipien des Strafverfahrens aufgegriffen,1324 die zu einem wesentlichen Teil im übergeordneten Recht – insbesondere in der Bundesverfassung, der EMRK und dem IPbpR – geregelt sind. Hinsichtlich dieser das
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Siehe zur Einführung des reformierten Strafprozesses in der Schweiz u.a. DONATSCH/ SCHWARZENEGGER/WOHLERS, S. 14 f.; PIETH, Strafprozessrecht, S. 26: „Mischung von inquisitorischen und akkusatorischen Elementen“ sowie S. 31, wonach sich die neue Reformvorlage bezüglich des einheitlichen eidgenössischen Strafprozessrechts in das zuvor entwickelte historische Raster „nicht eindeutig“ (Hervorhebung Demko) einordnen lasse: Weder „ein «inquisitorisches» Verfahren …“ noch ein „… eindeutig modernes Verfahren im Sinne des «reformierten Parteienprozesses»“ müsse man es „… (A)m ehesten … als «post-modern» bezeichnen“ (kursive Hervorhebung: Demko; fettgedruckte Hervorhebung von «post-modern» im Originaltext von Pieth). Siehe dazu auch näher im nachfolgenden Text; zudem WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 3 N 20: „Anspruch auf ein faires Verfahren deklaratorisch bestätigt“; siehe zudem RÜTHERS, S. 20 f., 25 zu der „Würde und Freiheit der Person im Sinne eines Selbstbestimmungsrechtes des Einzelnen“ (S. 20, Hervorhebung Rüthers)) sowie der „Gleichheit aller Menschen in der Menschenwürde“ (S. 20) als Elemente der Gerechtigkeit. Siehe die klare Aussage in der Botschaft, S. 1128, wonach die in den Art. 3-11 chStPO aufgeführten Grundsätzen den im übergeordneten Recht geregelten Prinzipien des Strafverfahrensrechts „ohne inhaltliche Abweichungen“ entsprechen. Hinsichtlich der im übergeordneten Recht geregelten Prinzipien des Strafverfahrensrechts wird insbesondere verwiesen auf Art. 7-9 und 29-32 BV, Art. 5 und 6 EMRK und Art. 9, 11 und 14 IPbpR.
277
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
Strafverfahren und damit auch – als Teil des Strafverfahrens – das Beweisverfahren prägenden Grundsätze wird in der Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafverfahrensrechts der menschenrechtsschützende Bezug dieser Grundsätze betont, wonach jene Grundsätze zwar einerseits den Strafbehörden gewisse fundamentale Pflichten auferlegen, diese andererseits aber „den privaten Verfahrensbeteiligten, vor allem der beschuldigten Person, massgebliche Rechte“1325 zusichern. 433
Der menschenrechtsschützende Bezug spiegelt sich in Art. 3 StPO in klarer Weise wider: Jene Regelung ist an den Anfang der nachfolgend geregelten Grundsätze des Strafverfahrensrechts gestellt und hat – wie bereits in deren Titel formuliert ist – die «Achtung der Menschenwürde und (das) Fairnessgebot» zum Gegenstand. Laut Botschaft sollen „nicht der Staat und seine Ziele als Selbstzweck …“ im Zentrum des Staates und seiner Rechtsordnung stehen, sondern vielmehr eine Grundidee des modernen Staatsverständnisses aufgreifend „… das Wohlergehen und der Schutz des einzelnen Menschen“.1326 Nach Art. 3 Abs. 1 StPO haben die Strafbehörden «in allen Verfahrensstadien die Würde der vom Verfahren betroffenen Menschen» zu achten, wobei in der Botschaft wiederum betont wird, dass der Achtung der Menschenwürde gerade im Strafrecht und ihrer verfahrensmässigen Durchsetzung ein „besonderer Stellenwert …“ zukomme, da „… hier die staatliche Gemeinschaft die einschneidensten Zwangsmittel zur Durchsetzung ihrer Zwecke“1327 anwenden könne. Die in Art. 3 Abs. 1 StPO „klarstellend gesetzlich kodifiziert(e)“1328 Achtung der Menschenwürde ist bereits in Art. 7 BV geregelt1329 und wird zudem als verankert angesehen in den das Folterverbot regelnden Art. 3 EMRK und Art. 7 IPbpR, in dem Art. 10 IPbpR betreffend der Behandlung von Gefangenen sowie in den die Unschuldsvermutung regelnden Art. 6 Abs. 2 EMRK und Art. 14 Abs. 2 IPbpR.1330
434
Betont sei mit dem Gebot der zu achtenden Menschenwürde die „rechtsstaatliche Selbstverständlichkeit“,1331 wonach die Achtung der Menschenwürde als ein „zentraler Grundsatz jeglichen staatlichen Handelns auch im Rahmen rechtsstaatlicher Strafverfolgung zu beachten“1332 ist. Die Achtung der Würde 1325 1326 1327 1328 1329
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Botschaft, S. 1128. Botschaft, S. 1128. Botschaft, S. 1128. DONATSCH/SCHWARZENEGGER/WOHLERS, S. 23. DONATSCH/SCHWARZENEGGER/WOHLERS, S. 23; WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 3 N 1. DONATSCH/SCHWARZENEGGER/WOHLERS, S. 23, 24. WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 3 N 1 (Hervorhebung Demko). WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 3 N 3 (kursive Hervorhebung: Demko; fettgedruckte Hervorhebung von «zentraler Grundsatz jeglichen staatlichen Handelns» im Originaltext: Wohlers); siehe auch HAUSER/SCHWERI/HARTMANN,
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
des Menschen ist dabei nicht allein dem Angeklagten, sondern allen durch das Strafverfahren betroffenen natürlichen Personen, also den am Verfahren beteiligten Privatpersonen sowie den durch das Verfahren und die Massnahmen der Strafverfolgungsbehörden betroffenen Privatpersonen zuerkannt. Eingeschlossen von der erforderlichen Achtung der Menschenwürde sind mithin neben dem Angeklagten beispielsweise auch der Geschädigte, Zeugen oder Auskunftspersonen, mit Blick auf welche das Gebot gegeben ist, diese nicht als Objekte des Strafverfahrens zu behandeln, sondern als „mit eigenen Rechten ausgestattete Subjekte des Verfahrens“.1333 Die bestehende Verbindung zwischen zu wahrender Menschenwürde des Angeklagten im Strafverfahren und dessen Anspruch auf ein faires Strafverfahren lassen dabei nicht nur die Überschrift des Art. 3 StPO sowie die beiden Regelungen im selben Artikel – die Achtung der Menschenwürde in Art. 3 Abs. 1 StPO und der Anspruch auf ein faires Strafverfahren in Art. 3 Abs. 2 lit. c StPO – explizit erkennen, sondern auch in der schweizerischen Rechtsprechung und im Schrifttum wird diese Verbindung betont. Viele der strafprozessualen Prinzipien und Grundsätze und dabei „insbesondere der Anspruch auf ein faires Verfahren und auf Gewährung des rechtlichen Gehörs“1334 seien als „Ausfluss dieses Anspruchs“1335 auf Achtung der Menschenwürde zu erachten und zudem seien die zu achtende Menschenwürde und der Anspruch auf ein faires Strafverfahren mit dem Anspruch auf zu respektierende Subjektstellung und Autonomie des Angeklagten sowie auf ihm zu gewährende wirksame Teilhabe am Strafverfahren verknüpft:1336 Eine wirksame Teilhabe des Angeklagten am Strafverfahren, die als in einem fairen Strafverfahren enthaltend als dessen wichtiger Teilaspekt angesehen
1333 1334 1335 1336
S. 250 zum rechtlichen Gehör als zu den „Grundsätzen des Rechtsstaates“ (Hervorhebung Demko) gehörend, vgl. zudem S. 264 N 12 mit dem Bezug auf die beachtete „Justizförmigkeit“; deutlich ebenso SCHMID, S. 78 N 233: die Menschenwürde als „(Z)entrale(n) Ausgangspunkt jeder Rechtsordnung …“ und zudem deren Verbindung zur EMRK („aufgrund der EMRK“) sowie deren verfassungsrechtliche Absicherung in Verbindung mit den Freiheitsrechten betonend; siehe auch bereits BGE 113 Ia 412, S. 421, wonach mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens „… dem Gehalte nach im wesentlichen die vom Bundesgericht in seiner Rechtsprechung zu Art. 4 BV entwickelten Prinzipien eines rechtsstaatlichen Verfahrens …“ gemeint seien und wo zudem ausgeführt ist, dass der Grundsatz des fairen Verfahrens im früheren „… schweizerischen Verfassungsrecht zwar nicht ausdrücklich, jedoch der Sache nach garantiert …“ (Hervorhebung Demko) war und auf den früheren Art. 4 chBV(alt), nunmehr auf Art. 29 I chBV gestützt wurde/wird. DONATSCH/SCHWARZENEGGER/WOHLERS, S. 23. DONATSCH/SCHWARZENEGGER/WOHLERS, S. 23. DONATSCH/SCHWARZENEGGER/WOHLERS, S. 23. Siehe etwa PIETH, Strafprozessrecht, S. 46.
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435
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
wird1337 und mit Konkretisierungen in Gestalt (etwa) des Anspruchs auf rechtliches Gehör, aktiver Mitwirkungs- und Verteidigungsrechte für eine effektive Verteidigung im Strafverfahren sowie der Waffengleichheit einhergeht.1338 436
Auch bereits in der Botschaft ist auf diese Verbindungen ausdrücklich hingewiesen: Das in Art. 3 Abs. 2 lit.c StPO geregelte «Gebot, alle Verfahrensbeteiligten gleich und gerecht zu behandeln und ihnen rechtliches Gehör zu gewähren», enthalte den „fundamentalen Grundsatz des fairen Verfahrens“,1339 welcher bereits in Art. 29 Abs. 1 BV, Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 14 Abs. 1 IPbpR geregelt ist und in Art. 3 Abs. 2 lit. c StPO seine deklaratorische Bestätigung findet.1340 Den Zusammenhang zwischen dem Anspruch auf ein faires Verfahren und der Menschenwürde herausstellend, heisst es in der Botschaft weiter, dass aus dem Fairnessgebot folge, dass die Behörden die Verfahrensbetroffenen „korrekt und unter Beachtung der Menschenwürde …“ zu behandeln haben, wobei namentlich der Beschuldigte den Strafverfolgungsbehörden „… in besonderer Weise unterworfen …“ sei und … deshalb des Schutzes“1341 bedürfe, sowie, dass mit dem sich „nicht abstrakt umschreiben“1342 lassenden Fairnessgebot – worauf in der Botschaft aus-
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PIETH, Strafprozessrecht, S. 46, 49: „… soll der faire Prozess die Teilhabe der Parteien garantieren …“ (S. 46, fettgedruckte Hervorhebung von «Teilhabe» im Originaltext: Pieth), „Neben dem Prinzip der Autonomie enthält der faire Prozess auch den Grundsatz der Teilhabe …“ (S. 49, kursive Hervorhebung: Demko; fettgedruckte Hervorhebung von «Teilhabe» im Originaltext: Pieth). Siehe etwa PIETH, Strafprozessrecht, S. 49, 50, 51; deutlich auch SCHMID, S. 29 N 236 mit Bezug auf die Menschenwürde, die Waffengleichheit und die Fairness des Verfahrens: Den Massstab in der konkreten Verfahrenssituation liefere die „… aus Gründen der Menschlichkeit geforderte Fairness …“ (Hervorhebung Demko); zudem WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 3 N 20 ff., 30 ff.; DONATSCH/ SCHWARZENEGGER/WOHLERS, S. 23 ff. Botschaft, S. 1128. Siehe auch WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 3 N 20. Botschaft, S. 1129. Botschaft, S. 1129; ebenso HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, S. 262 N 3; siehe zudem SCHMID, S. 79 f., wonach die Fairness des Verfahrens mit dem Einsatz der zur Durchsetzung des Strafanspruches dienenden staatlichen Instrumente „nur in korrekter, der besonderen Stellung des rechtsunterworfenen Beschuldigten und dem Ernst des Zieles entsprechender Weise …“ (S. 79 N 237, Hervorhebung Demko; Zitat im Originaltext von Schmid: fettgedruckt) und mit einem Verfahren in einem Rahmen verbunden sei, der neben „… «Ernst und Ruhe» von einer gewissen Würde geprägt“ (S. 80 N 239, Hervorhebung Schmid) sei sowie zudem mit einem den Betroffenen Gegenübertreten durch die Strafverfolgungsorgane in in Ton und Gehabe absoluter Korrektheit und sachlicher Distanziertheit sowie unter Wahrung von deren Privatsphäre verbunden sei (S. 80 N 239).
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
drücklich verwiesen wird – der Anspruch der Verfahrensbeteiligten auf rechtliches Gehör eng verbunden ist.1343 Der die Grundsätze eines rechtsstaatlichen Verfahrens beinhaltende1344Anspruch auf ein faires Verfahren, der „alle(n) am Verfahren beteiligten Privatpersonen“1345 und damit neben dem Angeklagten etwa auch dem Opfer1346 zuerkannt ist, verweist nach zutreffender Ansicht von Schmid „auf den dahinter liegenden zentraleren Grundsatz des menschenwürdigen Verfahrens“,1347 nach welchem der Angeklagte nicht zum Objekt des Strafverfahrens herabgewürdigt werden dürfe.1348 Der Anspruch auf ein faires Strafverfahren enthalte – wie es zuvor bereits kurz angeführt wurde und in Rechtsprechung und Schrifttum betont ist – zur Gewähr jener Garantie „wichtige Teilgehalte“:1349 1343 1344
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1349
Botschaft, S. 1129. Siehe HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, S. 262 N 2; WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 3 N 20, wo unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung zudem hingewiesen wird auf darüber hinausgehende Teilgehalte, die über die Grundsätze eines rechtsstaatlichen Verfahrens hinausreichen; vgl. auch BGE 103 V 190, S. 192 f., in dem es zu Art. 6 EMRK heisst: „… Art. 6 der Konvention enthält verschiedene Garantien, die nach bisherigem schweizerischem Verfassungsrecht zum Teil im Willkürverbot des Art. 4 BV (und der dazu entwickelten Rechtsprechung), zum Teil in der Garantie des verfassungsmässigen Richters von Art. 58 BV und zum Teil in ungeschriebenen rechtsstaatlichen Grundsätzen enthalten sind, zum Teil aber auch über diese Grundsätze hinausgehen und so für die Schweiz neues Recht schaffen …“ (Hervorhebungen Demko; Anmerkung: angesprochen sind hier die Artikel der altBV). DONATSCH/SCHWARZENEGGER/WOHLERS, S. 24; vgl. auch WOHLERS, in: DONATSCH/ HANSJAKOB/LIEBER, Art. 3 N 21; HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, S. 264 N 16; siehe auch BGE 120 Ia 101, S. 109 f. DONATSCH/SCHWARZENEGGER/WOHLERS, S. 24; vgl. auch WOHLERS, in: DONATSCH/ HANSJAKOB/LIEBER, Art. 3 N 21; HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, S. 264 N 16: „sinngemäss auch für den Geschädigten“. SCHMID, S. 79 N 235 (Hervorhebung Demko). Siehe ausdrücklich DONATSCH/SCHWARZENEGGER/WOHLERS, S. 23, 24; vgl. aus der Rechtsprechung etwa auch BGE 133 IV 324, S. 327 im Zusammenhang mit dem Verteidigungsrecht aus Art. 6 III 3 EMRK; BGE 109 Ia 273, S. 289, 297 zu Menschenwürde und Rechtsstaat sowie rechtlichem Gehör und Verteidigungsrechten; siehe zu dem «persönlichkeitsbezogenen Mitwirkungsrecht» des Angeklagten zur Verhinderung einer Herabwürdigung des Angeklagten zu einem blossen Objekt des Strafverfahrens etwa BGE 106 Ia 4, S. 5 f.; BGE 112 Ia 1, S. 3; BGE 115 Ia 8, S. 11; BGE 118 Ia 17, S. 19; BGE 120 Ib 379, S. 383; BGE 122 I 53, S. 55; siehe zum Zusammenhang von Menschenwürde und rechtlichem Gehör auch HAUSER/SCHWERI/ HARTMANN, S. 250 N 3, siehe zudem S. 262 N 1 und S. 264 N 12 zum Zusammenhang zwischen Menschenwürde und dem dem Angeklagten zu gewährenden fairen Verfahren. WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 3 N 22; vgl. ebenso DONATSCH/ SCHWARZENEGGER/WOHLERS, S. 24.
281
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Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
Als „zentraler Teilgehalt“1350 des Anspruchs auf ein faires Verfahren ist der Anspruch auf rechtliches Gehör betont,1351 der bereits durch Art. 29 Abs. 2 und Art. 32 Abs. 2 S. 2 BV, Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 14 IPbpR gewährleistet und in Art. 3 Abs. 2 lit. c StPO deklaratorisch wiederholt,1352 welcher selbst „Ausfluss des Prinzips der Wahrung der Menschenwürde“1353 und welcher des Weiteren mit dem Anspruch auf Teilhabe an der Beweiserhebung verbunden ist:1354 438
„… Das rechtliche Gehör dient einerseits der Sachaufklärung, andererseits stellt es ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht beim Erlass eines Entscheides dar, welcher in die Rechtsstellung des Einzelnen eingreift … Dazu gehört insbesondere das Recht des Betroffenen, sich vor Erlass eines in seine Rechtsstellung eingreifenden Entscheids zur Sache zu äussern, erhebliche Beweise beizubringen, Einsicht in die Akten zu nehmen, mit erheblichen Beweisanträgen gehört zu werden und an der Erhebung wesentlicher Beweise entweder mitzuwirken oder sich zumindest zum Beweisergebnis zu äussern, wenn dieses geeignet ist, den Entscheid zu beeinflussen …“1355
439
Verknüpft mit dem Anspruch auf ein faires Verfahren sind es zudem die für eine „wirksame Verteidigung“1356 des Angeklagten zu gewährleistenden „ef-
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DONATSCH/SCHWARZENEGGER/WOHLERS, S. 26; siehe auch PIETH, Strafprozessrecht, S. 49 f. Auch der Anspruch auf rechtliches Gehör stehe, wie von HAUSER/SCHWERI/ HARTMANN, S. 250 betont ist, jedem Bürger zu, der von einer Entscheidung oder Anordnung der Strafrechtspflege nachteilig betroffen werden könne (S. 250 N 2), ist aber „vor allem“ (S. 250 N 1) für den Angeklagten bedeutend, denn er habe „alles Interesse, eine ungerechtfertigte Verfolgung oder gar Bestrafung rechtzeitig abzuwenden“ (S. 250 N 1), Hervorhebung Demko. WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 3 N 33, siehe dort auch die weiteren Rechtsprechungsverweise; DONATSCH/SCHWARZENEGGER/WOHLERS, S. 26. SCHMID, S. 84 N 252 (Hervorhebung Demko; Zitat im Originaltext von Schmid: fettgedruckt). Siehe aus der Rechtsprechung etwa BGE 115 Ia 8, S. 11; BGE 114 Ia 97, S. 99; BGE 106 Ia 161, S. 162; BGE 101 Ia 169, S. 170; BGE 96 I 617, S. 620; vgl. aus dem Schrifttum etwa DONATSCH/SCHWARZENEGGER/WOHLERS, S. 27; WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 3 N 30 ff.; SCHMID, S. 85 N 255. BGE 115 Ia 8, S. 11 (Hervohebung Demko). BGE 113 Ia 218, S. 222 (Hervorhebung Demko), wo die enge Verbindung zwischen dem Anspruch auf ein faires Verfahren und auf wirksame Verteidigung deutlich aufgezeigt ist, indem vom dem „… Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren und auf wirksame Verteidigung …“ gesprochen wird, hinsichtlich dessen das Gericht zu sorgen verpflichtet ist, „… dass der Angeklagte diese Rechte auch wirklich wahrnehmen kann …“ (S. 222, Hervorhebung Demko); siehe auch DONATSCH/ SCHWARZENEGGER/WOHLERS, S. 25: „Gewährleistung effektiver Teilhabe und Verteidigungsrechte“ (Hervorhebung Demko).
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
fektive(n) Teilhabe- und Verteidigungsrechte“,1357 der „Anspruch auf Teilhabe am Beweisverfahren“1358 sowie die Waffengleichheit,1359 die mit Blick auf eine wirksame und gleichberechtigte Einwirkungsmöglichkeit des Angeklagten auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens1360 als wichtige Teilgehalte des Anspruchs des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren in der schweizerischen Rechtsprechung und im Schrifttum genannt werden und denen weitere Teilgehalte, wie etwa die Unschuldsvermutung, der Anspruch auf ein unabhängiges, unparteiliches und unvoreingenommenes Gericht oder die prozessuale Fürsorgepflicht an die Seite gestellt sind.1361 b)
Verankerung in Strafverfahrensordnungen auf internationaler Ebene
aa)
Einleitende Bemerkungen
Das Moment der Fairness des Strafverfahrens spielte und spielt auch in den internationalen Strafverfahren ein grosse Rolle, war als an das Strafverfahren normativ angelegtes und zu gewährleistendes Erfordernis bereits in der geschichtlichen Entwicklung – angefangen von den Nürnberger Prozessen über die ad hoc-Straftribunale – der internationalen Strafverfahren zu erkennen und prägt sich als unverzichtbar und essentiell auch in dem gegenwärtig geltenden Strafverfahren des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) aus. Der Gesichtspunkt, «dass» man sich auf das an das Strafverfahren normativ angelegte Erfordernis zu gewährleistender Fairness des Strafverfahrens bereits seit den Nürnberger Prozessen bezieht, darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Unterschiede zwischen den Strafverfahren der Nürnberger Prozesse, des ICTY und des ICC betreff der Frage des «Wie» bestehen: Angesprochen sind Unterschiede mit Blick auf die Fragen, wie und in welchem Ausmass das Fairnesserfordernis für das Strafverfahren seine normative Verankerung findet, wie sich die tatsächliche Umsetzung des normativ angelegten Fairnesserfordernisses in jenen Strafverfahren gestaltet(e) und wie sich die an jene Strafverfahren von aussen angelegte (z.T. nachträgliche) Bewertung der Strafverfahren als (mehr oder weniger) fair oder unfair ausformte.
1357
1358 1359
1360 1361
WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 3 N 22, siehe dazu näher N 30 ff. sowie Art. 147 N 1 ff.; siehe auch PIETH, Strafprozessrecht, S. 49; vgl. aus der Rechtsprechung etwa BGE 113 Ia 218, S. 222, 223. WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 3 N 30. PIETH, Strafprozessrecht, S. 50; DONATSCH/SCHWARZENEGGER/WOHLERS, S. 31 f.; WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 3 N 23. Siehe dazu näher DONATSCH/SCHWARZENEGGER/WOHLERS, S. 31 f. Siehe zu diesen und weiteren wichtigen Teilgehalten des Anspruchs auf ein faires Verfahren die Zusammenstellung bei WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 3 N 22; siehe auch HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, S. 263 f.
283
440
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht 441
Wird zwar auch für die Nürnberger Prozesse festgestellt, dass diese mit dem Anspruch, faire Strafverfahren zu sein, normativ verbunden waren, so konnten sich im Strafverfahren des ICTY und sodann in einem weiteren (Fort-) Schritt im Strafverfahren des ICC wichtige Verbesserungen verwirklichen, und zwar nicht nur, was die normative Verankerung, sondern auch, was die tatsächliche Verwirklichung des Fairnesserfordernisses betrifft. Als ein entscheidendes Element für ein faires Strafverfahren wurden, und dies auch bereits seit den Nürnberger Prozessen, eine für den Angeklagten bestehende wirksame Verteidigung und dem Angeklagten dafür entsprechend einzuräumende Verteidigungsrechte angesehen. Aber auch hinsichtlich dieser bereits seit Nürnberg hergestellten Verknüpfung zwischen der Fairness des Strafverfahrens und einer wirksamen Verteidigung des Angeklagten bestehen zwischen den Strafverfahren von Nürnberg, des ICTY und des ICC wiederum Unterschiede in Bezug auf Fragen des «Wie»: Unterschiede in Bezug darauf, welche Verteidigungsrechte dem Angeklagten in welcher Art und Weise normativ eingeräumt sowie tatsächlich gewährleistet wurden/werden. Auch hier bezüglich dieser Verteidigungsrechte und deren Verankerung und Umsetzung lässt sich – bei einer vergleichenden Bewertung der Strafverfahren von Nürnberg, des ICTY und des ICC – eine stetige Verbesserung seit Nürnberg verzeichnen.
442
Schon im Rahmen der Darstellungen der nationalen Strafverfahren zeigte sich, dass die Fairness des Strafverfahrens und die damit verknüpfte, dem Angeklagten einzuräumende wirksame Verteidigung als grundlegende Momente sowohl des instruktorischen als auch des adversatorischen Strafverfahrens angesehen werden.1362 Gerade nun die Entwicklungen des Strafverfahrens auf internationaler Ebene – ausgehend von einer anfänglich vorrangigen Anlehnung an das adversatorische Strafverfahren des common law über eine zunehmend vermehrte Integration von Elementen des instruktorischen Strafverfahrens des civil law hin zur Entwicklung eines Strafverfahrens sui generis1363 – verdeutlich(t)en, dass es nicht eine bestimmte Form, nicht eine bestimmte Verfahrensart ist, mit der allein sich die Gewährleistung des Fairnesserfordernisses und des Erfordernisses der wirksamen Verteidigung des Angeklagten verknüpfen lassen, während es anderen Formen im Sinne von anderen Verfahrensarten (angeblich) per se abzusprechen ist, das Erfordernis von Fairness und wirksamer Verteidigung des Angeklagten gewährleisten zu können: Vielmehr ist trotz der im Laufe der Entwicklung der internationalen Strafverfahren sich verändernden Formen, d.h. trotz der Veränderungen hinsichtlich der Zusammenführung von common law- und civil law-Elementen, stets das zu gewährleistende Erfordernis der Fairness des Strafverfahrens unter Beachtung der Verteidigungsrechte des Angeklagten gesehen und als 1362 1363
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Siehe dazu die vorangehenden Ausführungen unter Kap. 3 B. III. 2. a). Siehe dazu AMBOS, ICLR 2003, S. 6: „a sui generis model“ (Hervorhebung Ambos).
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
vom Strafverfahren zu erfüllende Forderung normativ an dieses angelegt worden.1364 Dies macht deutlich, dass die Fairness des Strafverfahrens mit der zu ihr gehörenden wirksamen Verteidigung des Angeklagten ein Erfordernis ist, das ein jedes Strafverfahren zu erfüllen hat, unabhängig davon, welche Form und/oder welche einzelnen Formelemente (etwa aus dem adversatorischen oder instruktorischen Strafverfahren) es dabei für sich auswählt. bb)
Das internationale Strafverfahren vor dem Internationalen Militärgerichtshof von Nürnberg
Der Internationale Militärgerichtshof von Nürnberg (IMG) stand vor der Herausforderung, ohne bis dahin bestehende geschichtliche Vorbilder eine Verfahrensordnung und Verfahrensstrukturen für einen „multinationalen“1365 Gerichtshof zu entwickeln, die sowohl von den Ländern anglo-amerikanischer als auch den Ländern kontinental-europäischer Tradition anerkannt werden1366 als solche, mittels welcher ein faires, ein gerechtes Verfahren und eine entsprechende Verurteilung gewährleistet werden.1367 Diese Herausforderung, die sich beim Aufeinandertreffen der unterschiedlichen Rechtstraditionen anglo-amerikanischer und kontinental-europäischer Prägung bereits – und mangels historischer Vorbilder noch in gesteigertem Masse – in Nürnberg stellte, ist eine Herausforderung, die es in der gesamten Entwicklung des internationalen Strafverfahrens(rechts) seit Nürnberg – über die ad hocStraftribunale bis hin zum heutigen Verfahren des ICC – zu bewältigen galt und gilt. Treffend formulierte U.S.-Generalankläger Robert Jackson zu den in die Verfahrensordnung des IMG eingegangenen beweis- und verfahrensbezogenen Kompromissen:
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„… The only problem was that a procedure that is acceptable as a fair trial in countries accustomed to the Continental system of law may not be regarded as a fair trial in common-law counties. What is even harder for Americans to recognize is that trials which we regard as a fair and just may be regarded in Continental countries as not
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Zu den Unterschieden und zu verzeichnenden Fortschritten hinsichtlich der normativen Verankerung und der tatsächlichen Umsetzung siehe die nachfolgenden Ausführungen. KAMARDI, S. 27. Siehe dazu auch KAMARDI, S. 27. Siehe Art. 1 des Statuts des IMG: „there shall be established an International Military Tribunal (hereinafter called "the Tribunal") for the just and prompt trial and punishment of the major war criminals of the European Axis“; Überschrift IV des Statuts des IMG: „Fair trial for defendants“ und Art. 16 des Statuts des IMT: „In order to ensure fair trial for the Defendants …“, Hervorhebung Demko; siehe zur geschichtlichen Entwicklung auch BANTEKAS, S. 384 ff.
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Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht only inadequate to protect society but also as inadequate to protect the accused individual …“1368 445
Entwickelt wurde für den IMG ein „gemischt inquisitorisch-adversarisches“1369 Verfahren, das Elemente sowohl der amerikanischen und englischen Common Law-Tradition als auch der in Frankreich und der Sowjetunion praktizierten Civil Law-Tradition zusammenführte, wobei – nicht ganz unbestritten, jedoch überwiegend – ein Dominieren der Elemente des adversatorischen Verfahrenssystems der Common Law-Tradition bejaht wird.1370 In den nur 30 Artikeln des Statuts des IMG, die nicht nur wegen dieser ihrer geringen Anzahl als „nur äuβerst rudimentäre(s) System von prozessualen Regeln“,1371 sondern auch wegen ihrer zum Teil (zu) vagen und (zu) flexiblen Formulierungsweise Kritik ausgesetzt waren/sind,1372 ist eine durch die Mischung von Elementen des common law und des civil law „völlig neue Form“1373 eines Strafverfahrens auf internationaler Ebene entwickelt worden. Dieses hier neu geformte Strafverfahren sollte – wie mehrere Stellen des Statuts sichtbar machen – ein gerechtes sowie schnelles Verfahren sichern.1374
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Ist in Art. 1 des Statuts des IMG ausdrücklich der Bezug zur bezweckten gerechten (und schnellen) Aburteilung und Bestrafung hergestellt, so spricht 1368
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Report of Robert H. Jackson, United States Representative to the International Conference on Military Trials, U.S. Govt. Prt. Office, 1949, pp. x-xi, zitiert aus SCHARF, S. 7 (Hervorhebung Demko). KAMARDI, S. 30. Siehe dazu aus dem Schrifttum etwa FAIRLIE, ICLR 2004, S. 260 ff.; AHLBRECHT, S. 91; CALVO-GOLLER, S. 10 und S. 11 FN 31; KAMARDI, S. 30 ff.; ROGGEMANN, S. 28: „Dominanz des anglo-amerikanischen Prozeβrechts“; STADELMAIER, S. 10; ZAPPALA, S. 18; MAY/WIERDA, S. 18 f.; hingegen vorsichtiger formuliert SCHARF, S. 7; zu dem sich dem IMG stellenden Problem, unterschiedliche Verfahrenssysteme in Einklang zu bringen siehe auch TAYLOR, S. 80, 85 ff.; siehe zur adversarischen Grundstruktur des Verfahrens vor dem IMG auch Art. 24 des Statuts des IMG zum Verfahrensverlauf. KAMARDI, S. 32 f. Siehe dazu sogleich nachfolgend im Rahmen der erhobenen Kritikpunkte an dem IMG, den Statutbestimmungen und ihrer tatsächlichen Anwendung. KAMARDI, S. 27; siehe dazu auch FAIRLIE, ICLR 2004, S. 265. Siehe Art. 1 des Statuts des IMG: „there shall be established an International Military Tribunal (hereinafter called "the Tribunal") for the just and prompt trial and punishment of the major war criminals of the European Axis“; Überschrift IV des Statuts des IMT: „Fair trial for defendants“ und Art. 16 des Statuts des IMG: „In order to ensure fair trial for the Defendants …“; zur Betonung des zu sichernden schnellen Strafverfahrens siehe deutlich Art. 18 a) und b) des Statuts des IMG: „strictly to an expeditious hearing“ „strict measures to prevent any action which will cause unreasonable delay“, Art. 19 des Statuts des IMG: „It shall adopt and apply to the greatest possible extent expeditious“, Hervorhebung Demko.
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
nicht nur die Überschrift des IV. Abschnitts des Statuts des IMG, sondern auch der Art. 16 S. 1 des Statuts des IMG ausdrücklich von dem zu sichernden «fair trial», und zwar genauer von dem zu sichernden «fair trial for defendants»1375 und dem «fair trial for the defendants».1376 Ebenso ist in der Rechtsprechung zu den Nürnberger Verfahren vom „Recht“1377 der Angeklagten, dass „ihnen in tatsächlicher und rechtlicher Beziehung eine [sic] gerechtes Verfahren zuteil wird“1378 sowie von der Durchführung „ordentliche(r) und faire(r) Verfahren“1379 unter Beachtung von dem Angeklagten im Verfahren zu gewährleistenden Rechten die Rede.1380 Nicht nur überhaupt ist damit im Statut des IMG sowie in der Rechtsprechung zu den Nürnberger Verfahren eine Verbindung zwischen der Fairness des Strafverfahrens und dem Angeklagten hergestellt und sichtbar gemacht, sondern diese Verbindung wird durch die dem Angeklagten in den Buchstaben a) - e) des Art. 16 des Statuts des IMG eingeräumten Verteidigungsrechte zudem konkretisiert, indem ein Verfahren eingeschlagen werden solle («the following procedure shall be followed»), in dem dem Angeklagten diese Verteidigungsrechte zur Sicherung eines fairen Strafverfahrens zu gewährleisten sind.1381 Wenn Art. 16 des Statuts des IMG ausdrücklich auch weniger Verteidigungsrechte benennt als dem Angeklagten im Verfahren vor dem ICTY und ICC eingeräumt sind,1382 so kommt dennoch bereits in Art. 16 a) - e) des Statuts des IMG und den hier formulierten Rechten des Angeklagten („the right“1383) das für ein faires Strafverfahren zu gewährleistende Erfordernis einer Mitwir-
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Siehe die Überschrift des IV. Abschnitts des Statuts des IMG: «Fair trial for defendants». Siehe Art. 16 S. 1 des Statuts des IMG: «In order to ensure fair trial for the Defendants …». HEINZE/SCHILLING, S. 23 N 115 (Hervorhebung Demko). Entnommen aus HEINZE/SCHILLING, S. 23 N 115 (Hervorhebung Demko). HEINZE/SCHILLING, S. 23 N 118 (Hervorhebung Demko). Siehe zur ausdrücklichen Nennung einzelner solcher dem Angeklagten zu gewährleistenden Verfahrensrechte die Rechtsprechungsverweise in HEINZE/SCHILLING, S. 23 N 118, 26 N 128, 28 N 137. Siehe dazu auch etwa CALVO-GOLLER, S. 11; ZAPPALÀ, S. 19, dort zudem S. 19 f. – auch verbunden mit Kritik – zu anderen Statutbestimmungen, wie Art. 17 des Statuts des IMG, mit „… indirect effect of protecting the right of the accused to a fair trial …“ (S. 19). Siehe auch ROGGEMANN, S. 176, wonach die im Statut des ICC formulierten Rechte des Angeklagten „umfassender sind als die vergleichbaren Bestimmungen in Art. 16 des Statuts“ des IMG. Siehe ausdrücklich Art. 16 b), d), e) des Statuts des IMG (Hervorhebung Demko).
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Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
kung(smöglichkeit) des Angeklagten an dem Strafverfahren zu dessen Verteidigung zum Ausdruck:1384 448
Nach Art. 16 b) des Statuts des IMG ist der Angeklagte berechtigt, auf jede der gegen ihn erhobenen Beschuldigungen eine erhebliche Erklärung abzugeben.1385 Nach Art. 16 e) des Statuts des IMG hat er das Recht, persönlich oder durch seinen Verteidiger Beweismittel zur Unterstützung seiner Verteidigung vorzubringen («the right through himself or through his Counsel to present evidence at the Trial in support of his defense»).1386 Insbesondere mit Blick auf die nachfolgende Untersuchung des Konfrontationsrechts des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen von Bedeutung ist auch der zweite Teil des Art. 16 e) des Statuts des IMG, in dem dem Angeklagten das Recht eingeräumt ist, jeden von der Anklagebehörde geladenen Zeugen im Kreuzverhör zu vernehmen: «A defendant shall have the right … to cross-examine any witness called by the Prosecution». Sichtbar gemacht ist hier nicht nur die dem Angeklagten auch im Beweisverfahren – und hier konkret bezogen auf das Zeugenbeweisverfahren – zu gewährleistende Mitwirkungsmöglichkeit überhaupt. Vielmehr – und dies gilt es insbesondere mit Blick auf den Unterschied zwischen Art. 16 e) des Statuts des IMG einerseits und den Bestimmungen des Art. 6 III d EMRK sowie denen der Verfahrensordnungen des ICTY und des ICC andererseits hervorzuheben1387 – interessant ist zudem, dass über die an sich bzw. überhaupt bestehende Möglichkeit einer Mitwirkung des Angeklagten durch Ausübung des Konfrontationsrechts gegenüber 1384
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Dazu auch ROGGEMANN, S. 176, wonach das Statut des IMG das „Recht des Angeklagten auf einen fairen Prozess“ garantiere und ihm in Art. 16 des Statuts des IMG formulierte Rechte einräume; HOFSTETTER, S. 88 ff. zu den Verteidigungsrechten vor dem IMG; siehe auch FAIRLIE, ICLR 2004, S. 262; WALLACH, ColJTL 1999, 868. Siehe dazu HOFSTETTER, S. 88. Siehe zu weiteren Verfahrensrechten des Angeklagten näher HEINZE/SCHILLING, S. 23 N 118 zum Recht des Angeklagten auf Vorbereitungzeit, auf Verteidigerbestellung nach eigener Wahl und auf Führung von Entlastungszeugen, S. 26 N 128 zur Annahme der Unschuld, zu dem zweifelsfreien Beweis des angeklagten Verbrechens als Voraussetzung für die Verurteilung und dem Recht des Angeklagten auf Beratung und Verteidigung durch einen Anwalt sowie S. 28 N 137 zum dem Angeklagten zu gewährenden rechtlichen Gehör. Siehe dort zudem zu den den beschuldigten Personen zu gewährenden „gewisse(n) Schutzmaβnahmen“ (S. 26 N 128), welche als „Grundsätze für eine faire Prozeβführung“ (S. 126 N 28, Hervorhebung Demko) gelten. Vergleiche des Weiteren, hier auf die Eröffnungsrede des amerikanischen Chefanklägers Jackson vor dem Gerichtshof Bezug nehmend, TAYLOR, S. 737. Im Unterschied zu Art. 16 e) des Statuts des IMG heisst es in Art. 6 III d EMRK ohne eine ausdrückliche Nennung des Kreuzverhörs: «to examine or have examined witnesses against him». Ebenso heisst es in Art. 21 Abs. 4 e) des Statuts des ICTY: «to examine, or have examined, the witnesses against him» sowie in Art. 67 Abst. 1 e) des Statuts des ICC: «(t)o examine, or have examined, the witnesses against him or her».
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
Belastungszeugen hinausgehend zusätzlich auch eine bestimmte Form dieses Mitwirkungsrechts, und zwar ein Formelement des adversatorischen Strafverfahrens vom Statut des IMG zugleich mitvorgegeben ist: Art. 16 e) des Statuts des IMG und zudem Art. 24 g) des Statuts des IMG sprechen von der Vernehmung des Zeugen im Kreuzverhör («cross-examine»1388).1389 Ist mit den in den Buchstaben b) und e) sowie den weiteren in den Buchstaben a), c) und d) des Art. 16 des Statuts des IMG aufgeführten Verteidigungsrechten des Angeklagten zwar die Verbindung von dem Angeklagten zu gewährleistenden Verteidigungsrechten und der Fairness des Strafverfahrens als in der Verfahrensordnung des IMG an sich normativ verankert zu erkennen,1390 so darf dies jedoch nicht über die sich gleichwohl stellende und auch gestellte sowie kontrovers diskutierte Frage hinwegtäuschen, ob sich die Verfahren vor dem IMG tatsächlich als faire Verfahren dargestellt haben: Angesprochen sind die Kritikpunkte, die den Strafverfahren vor dem IMG mit Blick auf die Frage nach deren Fairness entgegengehalten werden und welche eine Kritik sowohl an dem normativen Moment, d.h. schon an den Verfahrensbestimmungen des Statuts des IMG, als auch an dem Moment der tatsächlichen Verwirklichung eines fairen Strafverfahrens vor dem IMG einschliessen.1391
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Neben dem Kritikpunkt der Siegerjustiz1392 ist es mit Blick auf die geschaffene Verfahrensordnung der Gesichtspunkt, dass das Statut des IMG nur wenige Verfahrensbestimmungen enthält1393 und diese zudem teilweise sehr (oder
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Art. 16 e) des Statuts des IMG: «to cross-examine any witness called by the Prosecution», Art. 24 g) des Statuts des IMG: «The Prosecution and the Defense shall interrogate and may cross-examine any witnesses and any Defendant who gives testimony.». Siehe dazu auch HOFSTETTER, S. 98 f. Siehe auch ROGGEMANN, S. 176 zu dem normativen Moment, dass das Statut des IMG das „Recht des Angeklagten auf einen fairen Prozess“ garantiere, wenn auch im Statut des ICC die Rechte des Angeklagten „umfassender sind als die vergleichbaren Bestimmungen in Art. 16 des Statuts“ des IMG; MAIER, Nürnberg, S. 264 dazu, dass die Regelungen „grundsätzlich geeignet wären, ein faires Verfahren zu garantieren …“, jedoch „… insbesondere in Nürnberg … in der Praxis … Bedenken hinsichtlich der Wahrung dieser Garantie berechtigt sind“. Siehe zu dieser Unterscheidung mit weiteren Ausführungen auch ZAPPALÀ, S. 21: „Two issues, however, must be distinguished: on the one hand, the question of the fairness of the rules of procedure in abstract; on the other, their concrete application …“; zu Kritikpunkten siehe auch MAIER, Nürnberg, S. 264 ff. Siehe dazu etwa BASSIOUNI, in: HANKEL/STUBY, S. 16 f.; KAMARDI, S. 32 mit weiteren Verweisen; CALVO-GOLLER, S. 15; ESER, in: REGINBOGIN, S. 54; TAYLOR, S. 206; MERKEL, in: Nürnberger Menschenrechtszentrum, S. 79 f.; ZAPPALÀ, S. 17; MAY/ WIERDA, S. 29. Siehe dazu KAMARDI, S. 30 f.: Beschränkung auf „Festlegung der Grundstrukturen“ (S. 30); ROGGEMANN, S. 181 zu den „sehr einfach(en)“ 11 Verfahrens- und Beweisre-
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Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
auch zu) offen und flexibel formuliert sind und damit Raum für missbräuchliche Anwendungen zu lasten des Angeklagten öffnen,1394 welcher einem fairen Strafverfahren unter Wahrung der Verteidigungsrechte des Angeklagten schon auf normativer Ebene hindernd entgegenstehen kann. Auf tatsächlicher Ebene betrifft die sich gerade auf das Beweisverfahren beziehende Kritik an der Fairness der Verfahrens vor dem IMG (u.a.) die Kritikpunkte,1395 dass die Waffengleichheit zwischen anklagender und angeklagter Seite aus verschiedenen Gründen nicht hinreichend gewahrt wurde1396 und dass der Schwerpunkt auf den Urkundenbeweis unter Vernachlässigung des Zeugenbeweises gelegt war.1397 Insbesondere die Art der Beweismittelgewinnung bei der Einführung der schriftlichen Zeugenaussagen, der ex parte affidavits1398 als in Abwesenheit der Verteidigung aufgenommener, schriftlicher aussergerichtlicher eidesstattlicher Erklärungen sowie sonstiger Urkunden stellte eine hinreichende Gewährleistung des Konfrontationsrechts des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen – welches gerade im Beweisverfahren des adversatorischen Strafverfahrens als grundlegend angesehen ist1399 und für welches Art. 16 e) des Statuts des IMG sogar die Ausübungsform des Kreuzverhörs mitbenennt – auf den Prüfstand.1400
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geln der Verfahren vor dem IMG im Unterschied zu den „(U)mfangreiche(n)“ Verfahrens- und Beweisregeln für die Verfahren vor dem ICC; ZAPPALÀ, S. 19 mit dem Hinweis, dass der IV. Abschnitt des Statuts des IMG mit dem Titel «Fair trial for defendants» „… contained only one provision, Article 16 …“ (Hervorhebung Demko). Siehe dazu auch CALVO-GOLLER, S. 16; besonders deutlich WALLACH, ColJTL 1999, S. 882, 869: „flexible … beyond the bounds of fairness as well. This is not to say that they could not be and were not applied fairly; they usually were. Rather, the underlying problem, which becomes apparent from an examination of how these too malleable rules were applied, is that they were open to abuse because they were so flexible” (S. 869, Hervorhebung Demko); siehe dazu auch ZAPPALÀ, S. 20 f.; MAY/WIERDA, S. 22 f. Zu weiteren Kritikpunkten siehe etwa HOFFSTETTER, S. 89; KAMARDI, S. 32 ff.; CALVO-GOLLER, S. 11 ff.; WALLACH, ColJTL 1999, S. 882; MERKEL, in: Nürnberger Menschenrechtszentrum, S. 80 ff.; ZAPPALÀ, S. 18 f. Dazu HOFSTETTER, S. 89, 100 ff.; AHLBRECHT, S. 91 zur Beschränkung des Spielraums der Verteidigung infolge der zur Straffung des Verfahrens geschaffenen Regeln, zum Informationsvorsprung der Anklagebehörde und dazu, dass das angloamerikanische Verfahren den deutschen Strafverteidigern unbekannt war; deutlich kritisch auch ESER, in: REGINBOGIN, S. 54; STADELMAIER, S. 12 f.; siehe auch TAYLOR, 730 f.; ZAPPALÀ, S. 18, 20 f.; MAY/WIERDA, S. 70 f., 147. Dazu ROGGEMANN, S. 181; KAMARDI, S. 33; ZAPPALÀ, S. 20; MAY/WIERDA, S. 71 f. Näher dazu MAY/WIERDA, ColJTL 1999, S. 749 ff.; HOFSTETTER, S. 98; KAMARDI, S. 33; CALVO-GOLLER, S. 12; ZAPPALÀ, S. 18. Siehe zum Angeklagten als Grundgaranten der parteizentrierten Wahrheitsermittlung im adversatorischen Strafverfahren bereits unter Kap. 3 B. III. 2. a) aa). Deutlich auch KAMARDI, S. 33; siehe auch MAY/WIERDA, S. 72.
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
Trotz dieser Kritikpunkte an den Verfahren vor dem IMG sind diese überwiegend als faire Strafverfahren bewertet worden,1401 dies jedoch zugleich unter Betonung, dass die Beurteilung der Fairness der Nürnberger Verfahren unter Beachtung der rechtlichen und tatsächlichen Situation zu der damaligen Zeit vorzunehmen sei:1402 Ohne historische Vorbilder für einen „multinationalen“1403 Strafgerichtshof und noch am Beginn der rechtlichen Verankerungen der zu schützenden Menschenrechte im Strafverfahren stehend,1404 sind zwar die erst anschliessend auf nationaler und internationaler Ebene sich entwickelnden höheren Standards für ein faires, die Rechte des Angeklagten sicherndes Strafverfahren in den Nürnberger Verfahren nicht im selben Masse verwirklicht wie in den nachfolgenden und heutigen nationalen und internationalen Strafverfahren.1405 Dies ändert aber nichts an der wichtigen Wegbereiter- und Fortschrittsfunktion1406 der Nürnberger Verfahren für die Entwicklung des Völkerstrafrechts und des Völkerstrafverfahrens(rechts) und der sich hier erstmals herausbildenden „neue(n) Form“1407 eines common law- und civil law-Verfahrenselemente zusammenführenden internationalen Strafverfahrens. Ebenso ändern die sich später entwickelten höheren Standards für ein faires internationales Strafverfahren nichts daran, dass auch bereits die Nürnberger Verfahren in die an sie als Anspruch angelegte Bestimmung eines 1401
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Siehe etwa BASSIOUNI, in: HANKEL/STUBY, S. 19 f.: „im wesentlichen fair“ (S. 20), „wesentliche gesetzliche und verfahrenstechnische Grundlage …, die … weitestgehende Gerechtigkeit zu gewährleisten schien; daβ das Tribunal fair handelte und daβ die Verfahren in einem von Würde geprägten gerichtlichen Rahmen stattfanden“ (S. 20); ROGGEMANN, S. 176; KAMARDI, S. 34: „im Wesentlichen fair“; CALVOGOLLER, S. 13: „generally fair“; HARRIS, S. 527 f.: „fairen Prozess, in dem die Rechte der Angeklagten respektiert werden, in dem ihnen eine angemessene Verteidigung zugestanden wird“; zu den im Vergleich zum IMG vermehrt ausgesprochenen Zweifeln an der Fairness der Verfahren des Tokioter IMTFE siehe etwa CALVO-GOLLER, S. 13 ff. Deutlich etwa BASSIOUNI, in: HANKEL/STUBY, S. 19; CALVO-GOLLER, S. 16: „trials are held and must be judged in the light of the principles and the context of their time“; KAMARDI, S. 35; ebenso deutlich auch ZAPPALÀ , S. 21. KAMARDI, S. 27. Siehe auch KAMARDI, S. 35 zu dem damaligen niedrigeren Niveau der rechtsstaatlichen Standards; AHLBRECHT, S. 91 f. zum fehlenden Vorbild für das IMT und zu fehlenden „völkerstrafrechtlichen Prozeβ- und Verfahrensprinzipien“ (S. 92); FAIRLIE, ICLR 2004, S. 266 f.; MERKEL, in: Nürnberger Menschenrechtszentrum, S. 86; HARRIS, S. 483, 525; ZAPPALÀ, S. 21 f. Siehe dazu etwa CALVO-GOLLER, S. 16: „in view of the development of international human rights law, be unacceptable at present“; KAMARDI, S. 35. Im Einzelnen dazu und zum institutionellen, juristischen und moralisch-ethischen Vermächtnis näher BASSIOUNI, in: HANKEL/STUBY, S. 17, 18 ff.; ROGGEMANN, S. 167: „gröβte Fortschriftt“; CALVO-GOLLER, S. 16; FAIRLIE, ICLR 2004, S. 272; KAMARDI, S. 36; MERKEL, in: Nürnberger Menschenrechtszentrum, S. 86, 90; HARRIS, S. 525. KAMARDI, S. 27.
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Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
Gerechtigkeit sichernden Verfahrens eingestellt waren1408 und hierbei wichtige (wenn auch in normativer und tatsächlicher Hinsicht verbesserungsbedürftige) Grundmomente und Grundbausteine für ein faires, die Verteidigungsrechte des Angeklagten beachtendes Verfahren ausprägten.1409 cc) 452
Die Entwicklung der internationalen Strafverfahren beim ICTY und beim ICC
Auch in den den Nürnberger Verfahren nachfolgenden internationalen Strafverfahren – von denen an dieser Stelle die vor dem ICTY und dem ICC näher ausgeführt werden – haben sich der an das Strafverfahren angelegte Anspruch auf ein faires Strafverfahren und die enge Verbindung mit dafür zu wahrenden Verteidigungsrechten des Angeklagten ausgeformt. Das internationale Strafverfahren sowohl vor dem ICTY als auch vor dem ICC ist heute durch das Zusammenführen und zu gewährleistende Miteinander-in-EinklangBringen von Elementen der Rechtstradition des common law und des civil law gekennzeichnet,1410 wobei die Entwicklung eines Strafverfahrenssystems sui generis betont,1411 zugleich und jedenfalls für das Strafverfahren vor dem ICTY und hier zumindest in Bezug auf dessen Anfänge häufig aber auch das Dominieren der adversatorischen Strafverfahrenselemente festgestellt wird.1412 1408
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Vgl. schon Art. 1 des Statuts des IMG; dies auch betonend BASSIOUNI, in: HANKEL/STUBY, S. 20; KAMARDI, S. 35; siehe auch auf die Worte Jacksons Bezug nehmend TAYLOR, S. 206. Siehe dazu etwa BASSIOUNI, in: HANKEL/STUBY, S. 19 f.; ROGGEMANN, S. 176. Siehe auch prägnant AMBOS, ICLR 2003, S. 5: „… today there is a general agreement that the procedure before the ICTY and ICC is a mixed one in that it contains structural elements or building blocks of both the “adversarial” and the “inquisitorial” system“ (Hervorhebung Demko). Dazu näher etwa KNOOPS, S. 160; siehe auch die vorsichtigere Formulierung bei BOAS, S. 21: „to a slightly lesser extent“; ZAPPALA, S. 24; siehe auch MAY/WIERDA, S. 18 zur Entwicklung von Nürnberg und Tokio – „almost entirely adversarial“ – über die ad hoc Tribunale bis hin zum ICC: „a more nuanced approach“, siehe zudem zum ICC S. 49 und S. 145 f.; siehe dazu näher AMBOS, ICLR 2003, S. 5 ff.: „finally led to the convergence of both systems in the ICC Statute and the Rules“ (S. 7); siehe dazu auch ESER, Festschrift Jung, S. 180 f.; ESER, Festschrift Tiedemann, S. 1457 f.: „Mischsystem“ (S. 1457); SADOGHI, ZfRV 2007, S. 234: Mischsystem, wobei die ad hoc-Tribunale „verfahrenstechnisch eher am adversatorischen System orientiert sind …“, während die Verfahrensordnung beim ICC „… dem Mischsystem stärker angepasst“ sei. Siehe etwa BOAS, S. 21 und auch S. 286; siehe näher auch ZAPPALA, S. 22 ff.; KRESS/WANNEK, S. 247: „ursprünglich weithin in den Bahnen des adversatorischen Modells“.
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
Trotz unterschiedlicher Verteilung und Gewichtung von instruktorischen und adversatorischen Verfahrenselementen erheben beide internationale Strafverfahren, sowohl das vor dem ICTY als auch das vor dem ICC, den Anspruch, faire Strafverfahren unter Wahrung der Rechte des Angeklagten zu sein:1413 Sie bringen auf diese Weise zum Ausdruck, dass es nicht eine bestimmte (Verfahrens-)Form oder bestimmte Formelemente nur eines bestimmten Verfahrensmodells als solche bzw. an sich sind, mit denen die angestrebte Wahrung von Fairness und Verteidigungsrechten des Angeklagten untrennbar und notwendig einhergeht, während die Anwendung von Form(en) und Formelementen aus anderen Verfahrensmodellen Fairness und Verteidigungsrechte (angeblich) per se nicht gewähren können.1414 Nicht nur (zum Ersten) die Zusammenführung von adversatorischen und instruktorischen Verfahrenselementen überhaupt in den internationalen Strafverfahren und die damit ausgesprochene Loslösung von den «klassischen» (adversatorischen und instruktorischen) nationalen Verfahrens«traditionen», sondern zudem (zum Zweiten) die Unterschiedlichkeit in der Verteilung und Gewichtung dieser adversatorischen und instruktorischen Verfahrenselemente im Laufe der Entwicklungen der internationalen Strafverfahren – von einem anfänglich überwiegend adversatorisch geprägten Strafverfahren vor dem ICTY hin zu einer Schritt für Schritt vermehrten Einbeziehung von instruktorischen Verfahrenselementen in die internationalen Strafverfahren – zeigt,1415 dass es nicht (nur bestimmte) Form(en) und Formelemente sind, die als Gewähr für die Fairness des Strafverfahrens unter Wahrung der Verteidungsrechte des Angeklagten stehen. Zutreffend hebt Ambos hervor:
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„… Thus, it is not important whether a rule is either adversarial or “inquisitorial” but whether it assists “the Tribunals in accomplishing their tasks …” and whether it complies with fundamental fair trial standards …“1416
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Siehe dazu auch CALVO-GOLLER, S. 17, 217; ZAPPALA, S. 6 hinsichtlich der auch in den internationalen Strafverfahren zu beachtenden „due process rights“. Siehe auch FAIRLIE, ICLR 2004, S. 289: „… one must take care not to assume that the presence of such a model represents, in and of itself, a guarantee that the rights of the accused will be protected …“ (Hervorhebung Demko); siehe auch MAY/WIERDA, S. 98 im Zusammenhang mit „the form of the evidence“, welche „does not, in itself, determine the fairness of trials“. Siehe auch die Ausführungen von AMBOS, ICLR 2003, S. 5 ff. zu den Entwicklungen bei dem ICTY und ICC hin zu einem „mixed procedure“ (S. 6) und „sui generis model“ (S. 6, Hervorhebung Ambos); zum „strukturell dem angloamerikanischen adversatorischen Parteiverfahren“ (S. 1446) folgenden Verfahren vor dem ICTY siehe näher AMBOS, NJW 1998, S. 1445 f.; dazu siehe zudem KIRSCH, StV 2003, S. 637 f.; FORSTER, S. 320 zur starken Beeinflussung der Verfahrensregeln des ICTY vom angloamerikanischen common law. AMBOS, ICLR 2003, S. 35 (Hervorhebung Demko).
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Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht 455
Zu beachten gilt, was auch die Entwicklungen auf internationaler Strafverfahrensebene zeigen: Die Fairness des Strafverfahrens ist nicht an die Form eines Strafverfahrens anzuknüpfen und nicht nur mit einer bestimmten Form des Strafverfahrens zu verknüpfen, sondern die normativ beanspruchte Fairness ist vielmehr an das Strafverfahren selbst anzubinden, was sich auch dergestalt formulieren lässt, dass nicht die (und nur eine bestimmte) Form, sondern das Strafverfahrens als solches und damit ein jedes Strafverfahren (unabhängig von dessen Form) den von ihm zu erfüllenden Anspruch auf ein faires Strafverfahren zu erheben hat. Das ist das, was die Loslösung von den traditionellen (adversatorischen und instruktorischen) Verfahrensmodellen auf internationaler Strafverfahrensebene – aber ebenso die auch auf nationaler Ebene sich vollziehenden, sich von den traditionellen Verfahrensmodellen loslösenden Entwicklungen – deutlich macht: Es gilt, Fairness nicht als «Garantie der Form», sondern als beanspruchte «Garantie des Strafverfahrens an sich» zu erkennen, welche wiederum in ganz unterschiedlichen Formen und mittels ganz unterschiedlicher Formelemente verwirklicht werden kann.1417
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Nicht missverstanden werden darf dies natürlich im Sinne von Beliebigkeit, Willkür oder gar völliger Irrelevanz der Form und Formelemente. Vielmehr umgekehrt gilt es, für diesen vom Strafverfahren als solchem erhobenen Anspruch auf Fairness diejenige(n) Form und Formelemente zu wählen, die die Verwirklichung eines fairen Strafverfahrens unter Wahrung der Verteidigungsrechte des Angeklagten am besten gewähren: Angesprochen ist eine Forderung, die sich auf nationaler Ebene, aber eben auch auf internationaler Strafverfahrensebene stellt, wenn es hier darum geht, sich auf der Suche nach dem speziell für das internationale Strafverfahren bestmöglich-funktionierenden Verfahrensmodell zur Gewährleistung der Fairness des Verfahrens und der hierfür nötigen Wahrung der Verteidigungsrechte des Angeklagten mit den klassischen (adversatorischen und instruktorischen sowie weiteren) Verfahrenstypen auseinanderzusetzen und diese auf ihre Geeignetheit gerade für das internationale Strafverfahren hin zu untersuchen.1418 1417
1418
294
Siehe auch die Ausführungen von AMBOS, ICLR 2003, S. 34 f.: „At the level of international criminal procedure, the traditional common-civil law divide has been overcome“ (S. 34); siehe zudem die Ausführungen von SUMMERS, S. 104 im Zusammenhang mit Art. 6 EMRK: „… implicit belief that systems need not be procedurally identical to be fair …“; siehe auch SANDERMANN, S. 15, wo die Fragestellung aufgeworfen ist, ob der Fairnessbegriff der EMRK im Sinne der Vorstellungen des „angelsächsischen Rechtskreises“ oder im „untechnischen Sinne“ zu verstehen ist. Dazu auch AMBOS, ICLR 2003, S. 35, wo zutreffend auf „an issue-oriented approach“ verwiesen ist: „In assessing whether one system is better suited than the other to be applied in international criminal proceedings, one should, following an issue-oriented approach …“ (Hervorhebung Demko); siehe zudem die Ausführungen von DAMAŠKA, S. 3 ff., insbesondere S. 5.
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
Es ist nicht ein einfaches Festhalten(dürfen) an den klassischen Verfahrensformen, sondern eben das Entwickeln eines sui generis-Systems für das internationale Strafverfahren unter Kombination und Miteinander-In-BalanceBringen1419 von einzelnen adversatorischen, instruktorischen oder auch anderen sowie völlig neuen Formelementen, das sich auf internationaler Strafverfahrensebene zur Gewährung eines fairen, eine wirksame Verteidigung des Angeklagten wahrenden (internationalen) Strafverfahrens als erforderlich erweist.1420 Eben diese Suche nach der «besten» Form und dem «besten» Zusammenführen der verschiedenen Formelemente kennzeichnet(e) die Entwicklungen auf der internationalen Strafverfahrensebene des ICTY und des ICC,1421 bestimmt von dem Bestreben, die speziell und gerade für ein internationales Strafverfahren mit dessen Besonderheiten «funktionierende», und zwar bestmöglich «funktionierende» Verfahrensform für die Gewährleistung eines fairen, die Verteidigungsrechte des Angeklagten wahrenden Strafverfahrens zu finden bzw. besser: zu entwicklen.1422 Bei Boas heisst es mit Blick auf die sich auf internationaler Strafverfahrensebene vollziehende Entwicklung eines „sound and permanent sui generis legal system“1423 zutreffend:
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Siehe auch ZAPPALA, S. 25 ff. zu „the need to strike a balance between adversarial and inquisitorial elements, for fair and expeditious international criminal proceedings“ (Hervorhebung Zappala); MAY/WIERDA, S. 18: „a hybrid“; AMBOS, ICLR 2003, S. 34 ff.; SADOGHI, ZfRV 2007, S. 234: „Strafprozessharmonisierungstendenzen auf internationaler Ebene“. Siehe dazu auch ZAPPALA, S. 24: „… the adversarial model is generally considered to be more protective of the rights of the accused. However, whilst conceding that this is true at national level, it is less certain at international level. The unique features of international criminal justice make both necessary and desirable some changes that, whilst not in perfect accord with the abstract model, are indeed essential in ensuring effective protection of the rights of the accused …“ (Hervorhebung Demko), siehe zudem die weiteren Ausführungen auf S. 24 ff.; KRESS/WANNEK, S. 248 dazu, dass beim ICC „bereits die grundsätzliche Zuordnung zu einem der beiden Grundmodelle des Strafverfahrens schwer (fällt)“ und zu Unterschieden zwischen den ad hoc-Tribunalen und dem ICC auf S. 248 ff.; siehe zudem AMBOS, ICLR 2003, S. 35 f.; FAIRLIE, ICLR 2004, S. 291 ff.; ESER, Festschrift Tiedemann, S. 1467 ff. zu Strukturreformen. Siehe zu einzelnen dabei diskutierten Aspekten auch CALVO-GOLLER, S. 47 ff., 147 ff. Siehe auch ZAPPALA, S. 2 sowie auf S. 15 ff., 24 deutlich zu der Frage verschiedener Verfahrensmodelle bzw. -formen für die internationale Strafverfahrensebene: „(a)t least since the creation of UN ad hoc Tribunals, respect for the rights of defendants has been one of the distinctive traits of international criminal justice“ (S. 2, Hervorhebung «ad hoc»: Zappala; weitere Hervorhebung: Demko); „a model of international criminal trial“ (S. 15) sowie zudem hervorhebend, dass „… a merely adversarial procedure does not fit perfectly into a system of international criminal justice …“ (S. 16). BOAS, S. 287 (Hervorhebung Boas).
295
457
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht 458
„… it is in fact time to abandon the preoccupation of international criminal courts and tribunals with this dichotomy and embrace the newly created system of international criminal law as a jurisdiction in its own right … Freedeom from preoccupation with the common and civil law approach to legal and procedural problem-solving in international criminal law will facilitate a more clear application of principle developed in the context of that legal system and encourage lawyers and judges to look at these issues in their context, rather than through the lens of their own domestic legal experience …“1424
459
Den auch in den internationalen Strafverfahren vor dem ICTY und ICC erhobenen Anspruch auf ein faires, die Verteidigungsrechte des Angeklagten sicherndes Strafverfahren – „procedural fairness is a paramount consideration in international criminal trials“1425 – gilt es dabei eingestellt in die Entwicklungen und Verbesserungen auf der Ebene des Menschenrechtsschutzes zu beachten, welche nach den Nürnberger Verfahren ihren Fortgang und Fortschritt fanden und welche die Ausformungen des prozeduralen Menschenrechtsschutzes in den internationalen Strafverfahren vor dem ICTY und dem ICC und hier insbesondere auch die zu schützenden Menschenrechte des Angeklagten wesentlich mitbeeinflussten.1426 Gerade die Bezugnahme auf den IPbpR und auch auf die EMRK in der Rechtsprechung der internationalen Strafgerichte zeigt den grossen Stellenwert, der dem Menschenrechtsschutz für die internationalen Strafverfahren zugesprochen wird.1427 Dabei sind es 1424
1425 1426
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296
BOAS, S. 287 mit weiteren Ausführungen (Hervorhebung Demko); siehe auch FAIRLIE, ICLR 2004, S. 269 zum ICTY unter Bezugnahme auf Schabas: „… ICTY is ʻmandated to provide a model of enlightened justiceʼ …“; CALVO-GOLLER, S. 24; AMBOS, ICLR 2003, S. 37: „knowledge of both common and civil law and are able to look beyond their own legal system“. MAY/WIERDA, S. 259 (Hervorhebung Demko). Siehe dazu auch schon die Worte des Richters Murphy des U.S. Supreme Court in dem Strafverfahren gegen General Yamashita: „… the immutable rights of the individual … belong to every person in the world, victor or vanquished, whatever may be his race, color, or beliefs … No exception is made as to those who are accused of war crimes or as to those who possess the status of an enemy belligerent. Indeed, such an exception would be contrary to the whole philosophy of human rights …“ (Hervorhebungen Demko), In re Yamashita, 327 U.S. 1, per J. Murphy, 1946, 26, entnommen von KNOOPS, S. 157, siehe auch die Worte von Knoops selbst auf S. 159: „… human rights law turns out to be an important source for the proliferation of the concept of due process and provides additional procedural guarantees and relevant rights of an accused facing trial at ICT.“ (Hervorhebung Demko); siehe dazu auch näher BOAS, S. 69 ff.; ZAPPALA, S. 12 ff., 25; MAY/WIERDA, S. 265 f.; SAFFERLING, S. 33 ff. und S. 53 ff. Deutlich KNOOPS, S. 160: „… the ICC RPE primarily aim to afford human rights protection …“ (Hervorhebung Demko); siehe dazu auch SAFFERLING, S. 36 ff.; BOAS, S. 16 f., 69 ff.; das ICTY brachte in einer seiner frühen Entscheidungen mit Verweis auf die besonderen Herausforderungen, die vom ICTY zu bewältigen seien, sowie auf
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
dessen sui generis-Charakter seine Skepsis gegenüber einer strikten Bindung an die Auslegung der Regelungen in Art. 14 IPbpR und in Art. 6 EMRK zum Ausdruck, siehe dazu ICTY, Prosecutor v. Duško Tadić, Decision on the Prosecutor`s Motion Requesting Protective Measures for Victims and Witnesses, Case No. IT-94-1-T, 10.08.1996, paras. 27 ff.: „… As such, the interpretation given by other judicial bodies to Article 14 of the ICCPR and Article 6 of the ECHR is only of limited relevance in applying the provisions of the Statute and Rules of the International Tribunal, as these bodies interpret their provisions in the context of their legal framework, which do not contain the same considerations. In interpreting the provisions which are applicable to the International Tribunal and determining where the balance lies between the accused`s right to a fair and public trial and the protection of victims and witnesses, the Judges of the International Tribunal must do so within the context of its own unique legal framework … The interpretation of Article 6 of the ECHR by the European Court of Human Rights are meant to apply to ordinary criminal … adjudications. By contrast, the International Tribunal is adjudicating crimes which are considered so horrific as to warrant universal jurisdiction. The International Tribunal is, in certain respect, comparable to a military tribunal, which often has limited rights of due process and more lenient rules of evidence … the International Tribunal must interpret its provisions within its own context and determine where the balance lies between the accussed`s right to a fair and public trial and the protection of victims and witnesses within its unique legal framework …“ (paras. 27, 28, 30, Hervorhebung Demko); zu dieser von Wannek als „fragwürdige(n) These“ bezeichneten Auffassung des ICTY siehe näher WANNEK, S. 32; das ICTY wandte sich in dieser Entscheidung Prosecutor v. Duško Tadić sowie insbesondere in späteren Entscheidungen, in denen das Tribunal immer wieder auf Art. 14 IPbpR und Art. 6 EMRK und die Rechtsprechung des EGMR Bezug nahm, jedoch nicht überhaupt gegen die Beachtung dieser zu wahrenden menschenrechtlichen Anforderungen an ein faires Strafverfahren, sondern machte vielmehr deutlich, dass diese heranzuziehenden menschenrechtlichen Normierungen in dem speziellen rechtlichen Rahmen bzw. im speziellen Kontext des sui generis-Rechtssystems des ICTY auszulegen und anzuwenden seien, siehe schon ICTY, Prosecutor v. Duško Tadić, Decision on the Prosecutor`s Motion Requesting Protective Measures for Victims and Witnesses, Case No. IT-94-1-T, 10.08.1996, para. 30.: „within its own context“ (para. 30) und „While the jurisprudence of other international judicial bodies is relevant when examining the meaning of concepts such as ”fair trial“, whether or not the proper balance is met depends on the context of the legal system in which the concepts are being applied …“ (para. 30); siehe zu der wiederholten Bezugnahme auf Art. 6 EMRK und die dazu ergangene Rechtsprechung des EGMR in der nachfolgenden Spruchpraxis des ICTY etwa ICTY, Prosecutor v. Galić, Decision on Interlocutory Appeal Concerning Rule 92 bis (C), IT-98-29-AR73.2, 07.06.2002, para. 12 FN 34; ICTY, Prosecutor v. Blaškić, Decision on the Standing Objection of the Defence to the Admission of Hearsay with no Inquiry as to its Reliability, Case No. IT-95-14-T, 21.01.1998, paras. 4, 8; ICTY, Prosecutor v. Zejnil Delalić et al., Decision on the Motions by the Prosecution for Protective Measures for the Prosecution Witnesses Pseudonymed “B” Through to “M”, Case No. IT-96-21-T, 28.04.1997, paras. 54, 55; siehe dazu auch KAMARDI, S. 143.
297
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
insbesondere die Bezugnahmen auf Art. 14 und 15 IPbpR sowie auf Art. 6 und 7 EMRK,1428 die die Verbindung zwischen zu gewährleistender Fairness des internationalen Strafverfahrens und dafür notwendigerweise zu wahrenden Verteidigungsrechten des Angeklagten, von „due process rights“1429 aufzeigen.1430 Schon im Rahmen des Entstehungsprozesses des ICTY ist die Bedeutung der dem Angeklagten einzuräumenden Rechte unter Bezugnahme auf den von dem internationalen Straftribunal zu beachtenden internationalen Menschenrechtsschutz deutlich herausgestellt worden: 460
„… It is axiomatic that the International Tribunal must fully respect internationally recognized standards regarding the rights of the accused at all stages of its proceedings. In the view of the Secretary-General, such internationally recognized standards are, in particular, contained in article 14 of the International Covenant on Civil and Political Rights …“1431
461
Das Einfliessen des Menschenrechtsschutzes als vorrangiges1432 Ziel internationaler Strafverfahren kommt ebenfalls in der internationalen Rechtspre1428
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Dies auch hervorhebend KNOOPS, S. 160: „The starting point of the due process rights within the ICC system are the safeguards of Articles 14 and 15 of the … ICCPR“ (Hervorhebung Demko); siehe aus der internationalen Rechtssprechung etwa ICTY, Prosecutor v. Milan Kovačević, Decision stating reasons for appeals chamber`s order of 29.05.1998, IT-97-24-AR73, 02.07.1998, paras. 28, 30 mit ausdrücklichen Bezugnahmen auf Art. 14 IPbpR und Art. 6 EMRK; ICTY, Prosecutor v. Galić, Decision on Interlocutory Appeal Concerning Rule 92 bis (C), IT-98-29-AR73.2, 07.06.2002, para. 12 FN 34 zur Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen schriftliche Zeugenaussagen mit Art. 21 Abs. 4 e ICTY-Statut sowie mit anderen menschenrechtlichen Regelungen, wie zum Beispiel mit Art. 6 III d EMRK vereinbar sind sowie unter Aufführung zahlreicher Urteile des EGMR; ICTY, Prosecutor v. Blaškić, Decision on the Standing Objection of the Defence to the Admission of Hearsay with no Inquiry as to its Reliability, Case No. IT-95-14-T, 21.01.1998, paras. 4, 8 zur Zulassung von Zeugnissen vom Hörensagen; ICTY, Prosecutor v. Zejnil Delalić et al., Decision on the Motions by the Prosecution for Protective Measures for the Prosecution Witnesses Pseudonymed “B” Through to “M”, Case No. IT-96-21-T, 28.04.1997, paras. 54, 55 mit Bezugnahme auf Art. 14 IPbpR, Art. 6 EMRK, die Confrontation Clause des 6. Amendment to the United States Constitution sowie unter Aufführung der Urteile des EGMR Kostovski v. The Netherlands und Unterpertinger v. Austria sowie der Entscheidung des United States Supreme Court Delaware v. Fensterer. KNOOPS, S. 160 (Hervorhebung Demko) mit weiteren Ausführungen; siehe auch ICTY, Prosecutor v. Duško Tadić, Decision on the Prosecutor`s Motion Requesting Protective Measures for Victims and Witnesses, Case No. IT-94-1-T, 10. 08.1996, para. 28: „… rights of due process ...“ (Hervorhebung Demko). Eingehend dazu KNOOPS, S. 160. Report of the Secretary-General Pursuant to Paragraph 2 of Security Counsel Resolution 808 (1993), S/25704, 3. Mai 1993, S. 27 (Hervorhebung Demko). Siehe auch Knoops, S. 160: „primarily aim“ und „starting point“.
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
chung zum Ausdruck. Auf Art. 14 IPbpR Bezug nehmend heisst es (beispielsweise) beim ICTY im Fall PROSECUTER v. DUŠKO TADIĆ: „… The fair trial guarantees in Article 14 of the International Covenant on Civil and Political Rights have been adopted almost verbatim in Article 21 of the Statute. Other fair trial guarantees appear in the Statute and the Rules of Procedure and Evidence …“1433
462
Die Fairness, die als solche auch auf internationaler Strafverfahrensebene nicht in einem allumfassenden und abstrakten Sinne definiert wurde,1434 ist – wie man es von den adversatorischen Strafverfahren kennt1435 – häufig zusammen mit einer due process-Gewährleistung genannt1436 und wird zu recht als eine allen Verfahrensbeteiligten – also neben dem Angeklagten etwa auch den Opfern und Zeugen – zukommende Garantie verstanden:1437
463
„… The Trial Chamber cannot ignore such an obvious conflict between the rights of the accused and the protection of the witnesses in the trial. The balancing of different interests is inherent in the notion of a fair trial. A fair trial means not only fair treatment to the accused but also to the prosecution witnesses …“1438
464
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1435 1436
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ICTY, Prosecutor v. Duško Tadić, Decision of the defence motion for interlocutory appeal on jurisdiction, IT-94-1-AR72, 02.10.1995, para. 46 (Hervorhebung Demko). Siehe auch KNOOPS, S. 160 f.: „… in the area of ICT has not yet been formulated into an overall definition and meaning …“ (Hervorhebung Demko). Siehe dazu bereits unter Kap. 3 B. III. 2. a) aa). Siehe näher etwa KNOOPS, S. 157 ff.: „Fair Trial as Exponent of Due Process before ICT“ (S. 160); BOAS, S. 16: „… due process (or the package of fair trial rights) is a fundamental protection belonging to the individual …“ (Hervorhebung Demko). Siehe dazu etwa ICTY, Prosecutor v. Milan Milutinović, Decision denying prosecution`s request for certification of rule 73bis issue for appeal, IT-05-87-T, 30.08.2006, para. 10: „… Although use of the word “fairness” in the context of a criminal trial might commonly refer to fairness for an accused, the Prosecution undouptedly is entitled to a fair opportunity to presend its case. The Statute of the Tribunal obligates each Trial Chamber to “ensure that a trial is fair and expeditious …, with full respect for the rights of the accused”, and does not provide that only an accused is entitled to be treated equitably …“; ICTY, Prosecutor v. Zejnil Delalić et al., Decision on the Motions by the Prosecution for Protective Measures for the Prosecution Witnesses Pseudonymed “B” Through to “M”, Case No. IT-96-21-T, 28.04.1997, para. 53; zu weiterer Rechtsprechung des ICTR sowie Ausführungen siehe auch TOCHILOVSKY, S. 276; MAY/WIERDA, S. 262: „to conceive of fairness in an international criminal trial as fairness to both parties and not just to the accused“; siehe dazu auch den Hinweis von ESER, Festschrift Jung, S. 171 und FN 20. Prosecutor v. Zejnil Delalić et al., Decision on the Motions by the Prosecution for Protective Measures for the Prosecution Witnesses Pseudonymed “B” Through to “M”, Case No. IT-96-21-T, 28.04.1997, para. 53 (Hervorhebung Demko).
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Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht 465
Dabei sind es nun insbesondere die dem Angeklagten für ein faires Strafverfahren zu sichernden Verteidigungsrechte, die einen – im Vergleich zu den Verfahren vor dem IMG verbesserten1439 – ausdifferenzierten Eingang nicht nur in das Statut des ICTY und des ICC sowie ihre Verfahrens- und Beweisregeln («rules of procedure and evidence») als „Magna Carta of the accused“1440 gefunden haben.1441 Vielmer werden diese auch in der Rechtsprechung der internationalen Strafgerichte sowie im internationalen Schrifttum als fundamentale Rechte („a fundamental right“1442 ) und äusserst wichtiger Teil („a crucial part of a criminal proceeding“1443) eines Strafverfahrens erkannt und in ihrer Bedeutung als essentielle Erfordernisse für die Verwirklichung eines fairen internationalen Strafverfahrens betont.1444
466
„… In the domain of international criminal procedural law, the ICTY is the first international Tribunal that has had to give concrete meaning to legal standards of fairness in international criminal trials and to ensure the respect of these standards regarding the rights of the accused …“1445
467
Die in Art. 21 ICTY-Statut und in Art. 67 ICC-Statut geregelten Mindestgarantien („minimum guarantees“1446) zeigen die auch auf internationaler Strafverfahrensebene anerkannte Verbindung zwischen dem Angeklagten für seine 1439
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Dies hervorhebend auch ZAPPALA, S. 25: „From Nuremberg to Rome there has been an incredible improvement in the level of protection of the rights of defendants in international criminal proceedings …“ (Hervorhebung Demko); siehe dazu auch ESER, Festschrift Widmaier, S. 158 f. CALVO-GOLLER, S. 148 (Hervorhebung Calvo-Goller). Siehe für das ICTY: Art. 21 ICTY-Statut und aus den ICTY-Regeln beispielsweise die Regeln 42, 66, 68, 78, 84bis, 85, 87; für den ICC: Art. 67 ICC-Statut und aus den ICC-Regeln beispielsweise die Regeln 27, 67, 68, 73, 76, 77; siehe dazu und zu „fair trial rights“ (S. 20) auch BOAS, S. 15, 20 ff. Siehe etwa ICTY, Prosecutor v. Jadranko Prlić et al., Decision on Joint Defence Interlocutory Appeal against the Trial Chamber's Oral Decision of 8 May 2006 Relating to Cross-Examination by Defence and on Association of Defence Counsel's Request for Leave to File an Amicus Curiae Brief, Case No. IT-04-74-AR73.2., 04.07.2006, S. 2. ICTY, Prosecutor v. Zejnil Delalić et al., Decision on the Motions by the Prosecution for Protective Measures for the Prosecution Witnesses Pseudonymed “B” Through to “M”, Case No. IT-96-21-T, 28.04.1997, para. 53. Siehe deutlich etwa BOAS, S. 16 ff.; TOCHILOVSKY, S. 276; CALVO-GOLLER, S. 17, 53, 148: „Seen from the aspect of the rights of the accused, a fair hearing is one where the accused`s rights are upheld“ (S. 53), „The Rome Statute and the Rules of Procedure and Evidence are the Magna Carta of the accused“ (S. 148, Hervorhebung CalvoGoller); ZAPPALA, S. 5 ff.; MAY/WIERDA, S. 259 ff.; ESER, Festschrift Widmaier, S. 148 ff. CALVO-GOLLER, S. 17. Art. 21 Abs. 4 S. 1 ICTY-Statut und Art. 67 Abs. 1 S. 1 ICC-Statut.
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
wirksame Verteidigung zu gewährleistenden Rechten („Rights of the accused“1447) als „exponents of due process rigths“1448 und einem fairen Strafverfahren auf.1449 Als für ein faires Strafverfahren – in Bezug auf welches in der Spruchpraxis einmal von „requirements“1450 des fairen Strafverfahrens, das andere Mal aber auch vom Recht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren („the accused`s right to a fair … trial“1451) zu lesen ist – zu garantierende Erfordernisse sind auch auf internationaler Strafverfahrensebene (etwa) die Waffengleichheit,1452 die Unschuldsvermutung,1453 die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des ein öffentliches Verfahren gewährenden Gerichts1454 und die einzelnen, in Art. 21 ICTY-Statut und Art. 67 ICC-Statut aufgezählten spezifischen Verteidigungsrechte des Angeklagten1455 anerkannt. Diese 1447
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Überschrift des Art. 21 ICTY-Statut und des Art. 67 ICC-Statut, siehe zudem «shall be entitled» in Art. 21 Abs. 2 und 4 ICTY-Statut und in Art. 67 Abs. 1 ICC-Statut. KNOOPS, S. 164. Siehe auch BOAS, S. 13, 15 ff. zu den einzelnen „Fair Trial Rights“ (S. 15): „… Fair trial rights … belong to an accused and are applied as a guarantee to ensure he or she receives a fair trial …“ (S. 13); siehe auch die explizite Betonung der Angeklagtenrechte in Art. 20 Abs. 1 ICTY-Statut: „… The Trial Chambers shall ensure that a trial is fair and expeditious and that proceedings are conducted in accordance with the rules of procedure and evidence, with full respect for the rights of the accused …“ (Hervorhebung Demko). ICTY, Prosecutor v. Slobodan Milošević, Decision on Prosecution`s Request to have Written Statements Admitted Under Rule 92 bis, Case No. IT-02-54-T, 21.03.2002, para. 25: „... in the view of the Trial Chamber the requirements of a fair trial demand that the accused be given the right to cross-examine the witnesses in order to fully test the Prosecution`s case ...“ (Hervorhebungen Demko). ICTY, PROSECUTOR V. DUŠKO TADIĆ, Decision on the Prosecutor`s Motion Requesting Protective Measures for Victims and Witnesses, Case No. IT-94-1-T, 10.08.1996, para. 27; siehe aus dem Schrifttum etwa TOCHILOVSKY, S. 278: „right of an accused to a fair trial”; CALVO-GOLLER, S. 147, 217, 227: „rights of the defendants to a fair trial“ (S. 147), „rights of the accused to a fair trial“ (S. 217) und „first and foremost the right to a fair, public, and impartial trial“ (S. 227). Siehe dazu etwa ICTY, PROSECUTOR V. DARIO KORDIĆ & MARIO ČERKEZ, Decision on application by Mario Čerkez for extension of time to file his respondent`s brief, IT95-14/2-A, 11.09.2001, para. 5; mit weiteren Ausführungen und Rechtsprechungsverweisen siehe TOCHILOVSKI, S. 277: „… One of the minimum guarantees for the accused in Article 21 (4)e is equality of arms, which is the most important criteria of a fair trial …“; MAY/WIERDA, S. 266 ff. Siehe dazu Art. 21 Abs. 3 ICTY-Statut, Art. 66, 67 (1) g und i ICC-Statut; siehe dazu etwa CALVO-GOLLER, S. 54 ff.; MAY/WIERDA, S. 289: „a cardinal principle“; SAFFERLING, S. 287 ff. Siehe dazu auch Art. 13, 21 Abs. 2 ICTY-Statut, Art. 67 Abs. 1 ICC-Statut; näher dazu TOCHILOVSKY, S. 287 ff. mit weiteren Rechtsprechungsverweisen. Siehe dazu mit Rechtsprechungsverweisen TOCHILOVSKY, S. 280, 301 ff., 324 ff.; CALVO-GOLLER, S. 56 ff., 226 ff.; MAY/WIERDA, S. 273 ff.
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Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
Verteidigungsrechte des Art. 21 ICTY-Statut und des Art. 67 ICC-Statut lehnen sich in ihrer Formulierungsweise eng an die des Art. 14 IPbpR und des Art. 6 EMRK an1456 und bringen jeweils verschiedene (Ausübungs-1457)Aspekte für die dem Angeklagten einzuräumende prozesssubjektwahrende Teilnahme am Strafverfahren zu seiner wirksamen Verteidigung zum Ausdruck,1458 um dem Angeklagten das praktisch wirksame Vor- und Einbringen «seines Falles» in das Strafverfahren („the accused (was) permitted a fair opportunity to present his case“1459) zu gewährleisten.1460
C.
Zusammenfassung
468
Die Fairness des Strafverfahrens ist in den vorangehenden Darstellungen zum Ersten aus der Ganzheitsperspektive des Strafverfahrens untersucht worden und konnte als ein Verfahrensprinzip auf höchster Ebene unter Anlegung an das Strafverfahren als «Gesamtheit» ausgewiesen werden: Die Fairness des Strafverfahrens hat sich hier als ein Ganzheitsbegriff sichtbar gemacht, der einen Bezug zur Qualität der Ganzheit eines Strafverfahrens herstellt und ausformt.
469
Unter Hinzunahme der menschenrechtlichen Bedeutungsebene ist die Fairness des Strafverfahrens zum Zweiten in einem erfolgten Blickwechsel von der Ganzheitsebene hin zur einer Teilebene dieses Ganzen in eine Verknüpfung mit dem Menschenrecht auf Fairness, genauer mit dem Menschenrecht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren eingestellt worden. Die individual-menschenrechtsschützenden Bedeutungsmomente in das Zentrum der Untersuchungen stellend, interessiert hier die Frage nach speziellen Inhaltsaspekten, welche sich gerade mit dem Menschenrecht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren verbinden, wobei zur Ermittlung dieser Inhaltsaspekte sowohl philosophische als auch psychologische Begründungslinien für das 1456
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1460
302
Siehe dazu auch BOAS, S. 15 f.: „largely verbatim repetition“ und dabei auf den IPbpR und die Menschenrechtskonventionen Bezug nehmend. Zur Unterscheidung zwischen Inhalts- und Ausübungsebene siehe auch unter Kap. 3 B. III. 1. b) cc) (4) und Kap. 4. Siehe dazu auch FAIRLIE, ICLR 2004, S. 290; deutlich zu einer wirksamen Verfahrensteilnahme CALVO-GOLLER, S. 148, 150, zum Fragerecht des Angeklagten und dessen Zusammenhang zum Beweisverfahren, S. 228 ff.: „… to allow the accused to participate in the proceedings …“ (S. 229). ICTY, PROSECUTOR V. MILOMIR STAKIĆ, Judgement, IT-97-24-A, 22.03.2006, para. 149 mit weiteren Ausführungen (Hervorhebung Demko). Siehe auch CALVO-GOLLER, S. 150: „a essential part of his defence“; ZAPPALA, S. 27: „the defence is effective and duly safeguarding the rights and interests“ of the accused.
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
Menschenrecht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren vorgestellt wurden. Trotz zwar im Einzelnen unterschiedlicher philosophischer Zugänge liessen die hier untersuchten philosophischen Begründungslinien von Kant, Hegel, Rawls, Luhmann und der Diskurstheorien erkennen, dass es die «anerkannt gelebte Subjektivität» ist, welche dem Angeklagten für eine wirksame Teilnahme am Strafverfahren als Voraussetzung für ein ihm gewährtes faires Strafverfahren einzuräumen ist. Gezeigt hat sich eine zu achtende Prozesssubjektivität des Angeklagten, die in Form einer dem Angeklagten einzuräumenden tatsächlich wirksamen Einflussnahme auf das Straf- und Beweisverfahren nach Verwirklichung verlangt. Die schon bei den philosophischen Begründungslinien sichtbare «anerkannt gelebte Subjektivität», welche dem Angeklagten für ein faires Strafverfahren zu gewährleisten ist, und ebenso die damit in Zusammenhang stehenden Anknüpfungspunkte für ein dem Angeklagten für ein faires Strafverfahren einzuräumendes Recht auf Teilhabe und auf einen Teilhaberahmen liessen sich zudem in den psychologischen Begründungslinien für ein Menschenrecht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren herausarbeiten. Den individual-menschenrechtsschützenden Blick auf das Strafverfahren unter Bezug auf die Person des Angeklagten beibehaltend, wurde in den sich anschliessenden Darstellungen sodann nach den normativen Verankerungen des Menschenrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren zum einen in internationalen und regionalen Menschenrechtsinstrumenten – unter Schwerpunktsetzung auf die Europäische Menschenrechtskonvention und die Rechtsprechung des EGMR – und zum anderen in strafverfahrensrechtlichen Rechtsinstrumenten gefragt. In die Untersuchung zu den strafverfahrensrechtlichen Rechtsinstrumenten sind dabei auf nationaler Ebene das adversatorische Strafverfahren des common law und das instruktorische Strafverfahren des civil law sowie zudem verschiedene Strafverfahren auf internationaler Ebene – angefangen beim Strafverfahren des Internationalen Militärgerichtshofs von Nürnberg über das vor dem ICTY bis hin zum ICC – eingeflossen und in einen Vergleich eingestellt worden. Die bei den philosophischen und psychologischen Begründungslinien für das Menschenrecht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren sichtbar gewordene «anerkannt gelebte Subjektivität» hat sich in den menschenrechtlichen und strafverfahrensrechtlichen Normierungen auf nationaler, regionaler und internationaler Ebene und in der dazu ergangenen Spruchpraxis – wenn auch im Einzelnen in unterschiedlicher und zum Teil verbesserungsbedürftiger Ausgestaltung – in Gestalt einer dem Angeklagten einzuräumenden, aus seiner Menschenwürde fliessenden Prozesssubjektivität in einem für ihn fairen Strafverfahren zu erkennen gegeben: Einher geht mit dieser Prozesssubjektivität des Angeklagten eine ihm für sein Menschenrecht auf ein faires Strafverfahren zu gewährende wirksame Einflussnahmemöglichkeit auf das Strafverfahren zu seiner Verteidigung, welche 303
470
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
die Beachtung eines Rechts auf Teilhabe und eines Rechts auf einen Teilhaberahmen einfordert. Die menschenrechtlichen und strafverfahrensrechtlichen Rechtsinstrumente bringen nicht nur die Ausformung der Fairness als ein Menschenrecht zum Vorschein, sondern zeigen zudem die Verknüpfungen auf, die zwischen der Fairness des Strafverfahrens, der Menschenwürde des Angeklagten, seiner Prozesssubjektivität, seiner wirksamen Verteidigung und den dazu erforderlichen verfahrens- und institutionenbezogenen Verfahrenselementen einschliesslich der vielzähligen Einzelverteidigungsrechte des Angeklagten bestehen. Sichtbar machen insbesondere der Vergleich unterschiedlicher Strafverfahrensformen adversatorischer, instruktorischer und gemischter Natur sowie die Entwicklungen auf internationaler Strafverfahrensebene des Weiteren, dass die normativ beanspruchte Fairness des Strafverfahrens nicht an eine bestimmte Form eines Strafverfahrens anzulegen und nicht nur auf diese eine bestimmte Form eines Strafverfahrens begrenzt, sondern vielmehr an das Strafverfahren als solches anzulegen ist: Einem Angeklagten ist in einem jeden Strafverfahren, d.h. unabhängig davon, welche Verfahrensform (sei es etwa die adversatorische, instruktorische oder gemischte) ein Strafverfahren für sich gewählt hat, sein Menschenrecht auf ein faires Strafverfahren zu gewähren. Dies verlangt, wie ebenso aufgezeigt werden konnte und besondere Betonung fand (sowie weitere Vertiefungen im Kapitel 4 finden wird), dass in einem jeden Strafverfahren, das als ein faires anerkannt werden möchte, die engen Verbindungen zwischen dem Gesamtmenschenrecht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren, dem – auf die Inhaltsebene verweisenden – Recht des Angeklagten auf «wirksame Verteidigung» im Strafverfahren und den – die Ausübungsebene ansprechenden – spezifischen Einzelverteidigungsrechten des Angeklagten eine sowohl rechtlich-normative Beachtung also auch tatsächlich wirksame Umsetzung im konkreten Einzelfall finden. 471
Auf der individual-menschenrechtsschützenden Ebene nach den speziellen Inhaltsaspekten des Menschenrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren suchend, zeigen die Begründungslinien der Philosophie und Psychologie sowie die normativen Verankerungen in menschenrechtlichen und strafverfahrensrechtlichen Rechtsinstrumenten auf nationaler, regionaler und internationaler Ebene auf, dass sich das spezifisch-inhaltliche Kern- bzw. Grundmoment des Menschenrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren in der Gestalt einer prozesssubjektwahrenden wirksamen Teilnahme des Angeklagten im Strafverfahren zu dessen Verteidigung zu erkennen gibt und dass diese dem Angeklagten im Strafverfahren zu gewährende wirksame Teilnahme zu seiner Verteidigung wiederum auf der Ausübungsebene nach Konkretisierungen (u.a.) durch verschiedene Einzelverteidigungsrechte des Angeklagten verlangt. Das Aufzeigen der bestehenden Verbindungslinien zwischen dem (Gesamt-)Menschenrecht des Angeklagten auf ein faires Straf304
Kapitel 3: Fairness des Strafverfahrens als höchstes Verfahrensprinzip und Menschenrecht
verfahren und – als dessen Kern- bzw. Grundmoment – der Wahrung einer wirksamen Teilnahme des Angeklagten im Strafverfahren zu seiner Verteidigung führt zu den sich nunmehr anschliessenden vertiefenden Untersuchungen zur Bedeutung und Ausgestaltung eines «Menschenrechts auf Verteidigung» und seiner Inhalts- und Ausübungsstrukturen (in Kapitel 4): Aufbauend auf den vorangehenden Darstellungen soll im Folgenden ein dem Angeklagten einzuräumendes «Menschenrecht auf Verteidigung» als das Kernmoment seines (Gesamt-)Menschenrechts auf ein faires Strafverfahren in den Mittelpunkt gerückt und im Einzelnen ausdifferenziert werden.
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Kapitel 4 «Menschenrecht auf Verteidigung» als Kernmoment des Menschenrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren Die vorangehenden Ausführungen zu den philosophischen und psychologischen Begründungslinien für ein Menschenrecht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren zum einen und zu dessen Verankerung in menschenrechtlichen und strafverfahrensrechtlichen Rechtsinstrumenten zum anderen haben zur Erkenntnis geführt, dass es die aus der Menschenwürde des Angeklagten fliessende Achtung von dessen Prozesssubjektivität im Strafverfahren und mit dieser die dem Angeklagten zu gewährende prozesssubjektwahrende wirksame Teilnahme zu dessen Verteidigung im Strafverfahren sind, welche sich als der spezifische Inhalt bzw. genauer als das spezifisch-inhaltliche Kernmoment des Menschenrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren ausweisen. Anknüpfend an jene herausgearbeitete Erkenntnis gilt es im Folgenden, diese zu vertiefen und hierbei unter Zusammenführung der Erkenntnisse zur dialektischen Natur des strafprozessualen Erkenntnisverfahrens auf der einen Seite und zu seinem menschenwürde- und menschenrechtsschützenden Anspruch auf der anderen Seite nach der Inhaltsebene bzw. dem Wesensgehalt eines dem Angeklagten im Strafverfahren einzuräumenden «Menschenrechts auf Verteidigung» zu fragen. Zu untersuchen ist, ob sich das Menschenrecht auf Verteidigung inhaltlich als ein dem Angeklagten zu gewährendes «Menschenrecht auf Antithese» verstehen lässt sowie zudem, welche Ausübungsstrukturen und Ausübungselemente für eine wirksame Gewährleistung des Menschenrechts auf Verteidigung von diesem gleichsam mit gefordert sind.
472
Zugrunde gelegt ist den folgenden Darstellungen zu Inhalts- und Ausübungsmomenten des Menschenrechts auf Verteidigung im Strafverfahren und insbesondere im strafprozessualen Beweisverfahren – sowie ebenso den Darstellungen zur Konkretisierung dieses Menschenrechts auf Verteidigung in Gestalt des Konfrontationsrechts des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen1461 – eine individual-menschenrechtsschützende Blickrichtung auf das Strafverfahren unter Anbindung an die Person des Angeklagten, wobei als menschenrechtsschützendes Referenzsystem1462 die Europäische Menschen-
473
1461 1462
Siehe dazu die Ausführungen unter Kapitel 5. Siehe dazu auch HECKER, in: MARAUHN, S. 36 zur EMRK als „Grundlage für die inhaltliche Ausgestaltung des europäischen Referenzsystems“.
307
Kapitel 4: «Menschenrecht auf Verteidigung»
rechtskonvention einschliesslich der Rechtsprechung des EGMR gewählt ist.1463 Auch die EMRK betrachtet die Fairness des Strafverfahrens unter einer individual-menschenrechtsschützenden Perspektive, und zwar (in Art. 6 EMRK) anknüpfend an die Person des Angeklagten, und hat hierbei einen hohen Standard für den Menschenrechtsschutz im Strafverfahren entwickelt, der sich in seiner Bedeutung nicht nur für die nationalen Vertragsstaaten der EMRK, sondern auch für die internationale Strafgerichtsbarkeit zeigt.1464 474
Nachzugehen ist im Folgenden zunächst der Frage, welche inhaltlichen normativen Vorgaben sich der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR mit Bezug auf das strafprozessuale Beweisverfahren und das Beweisrecht entnehmen lassen und ob sich hier – trotz dessen, dass es sich bei der EMRK nicht um eine «europäische Strafverfahrensordnung» handelt – von einem durch die EMRK und den EGMR ausgeformten «menschenrechtlichen Kernstandard eines als fair zu bewertenden strafprozessualen Beweisverfahrens» sprechen lässt.1465 Diese durch die EMRK und den EGMR gesetzten menschenrechtlichen Kernstandards für ein faires Beweisverfahren gilt es sodann in ihrer Bedeutung und Verbindlichkeit für die nationalen und internationalen Strafverfahren zu untersuchen.1466 Anknüpfend an das für die nationalen und internationalen Strafverfahren bedeutsame menschenrechtsschützende Referenzsystem der EMRK wird anschliessend das dem Angeklagten im Strafund Beweisverfahren zu gewährende Menschenrecht auf Verteidigung mit Blick auf dessen Inhalts- bzw. Wesensgehaltsebene sowie in Bezug auf dessen Ausübungsebene zu vertiefen und auszudifferenzieren sein.1467 Herauszuarbeiten ist dabei zudem die Bedeutung des Rechts des Angeklagten auf rechtliches Gehör und des Rechtsprinzips der Waffengleichheit als der «Kernausübungselemente» des Menschenrechts des Angeklagten auf Verteidigung im Strafverfahren,1468 womit zugleich eine Grundlage für die – im Anschluss zu untersuchende – konkretisierende Ausformung des Menschenrechts auf Verteidigung in Gestalt des Konfrontationsrechts des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen1469 gelegt ist.
1463 1464 1465 1466 1467 1468 1469
308
Siehe dazu unter Kap. 4 A. Siehe dazu unter Kap. 4 A. II. Siehe dazu unter Kap. 4 A. I. Siehe dazu unter Kap. 4 A. II. Siehe dazu unter Kap. 4 B. I. und II. Siehe dazu unter Kap. 4 B. III. Siehe dazu unter Kap. 5.
Kapitel 4: «Menschenrecht auf Verteidigung»
A.
Die EMRK als Referenzsystem für ein menschenrechtsschützendes Straf- und strafprozessuales Beweisverfahren
I.
Die menschenrechtlichen Vorgaben der EMRK für das strafprozessuale Beweisverfahren(srecht)
Zu bejahen ist die Frage, ob der von der EMRK gesetzte und vom EGMR ausdifferenzierte menschenrechtsschützende Standard für ein insgesamt faires Strafverfahren auch speziell für das Beweisverfahren zu beanspruchen ist und ebenso von der EMRK und dem EGMR beansprucht wird.1470 Denn das Beweisverfahren mit der ihm eigenen Tatsachenfeststellung stellt einen unverzichtbaren Bestandteil eines jeden der Wahrheitssuche verpflichteten Strafverfahrens1471 und – nach den häufig zitierten Worten von Alsberg – das Beweisproblem stellt „schlechthin das Zentralproblem des Strafprozesses“1472 dar. Den dem Angeklagten für das Strafverfahren in Art. 6 EMRK eingeräumten Menschenrechten würde mithin ihre Wirksamkeit genommen, wenn diese nicht auch speziell im strafprozessualen Beweisverfahren als dem für die Tatsachenermittlung gerade grundlegenden Abschnitt eines jeden Strafverfahrens gelten würden.1473 Stavros führt zutreffend aus:
475
„… The assessment of evidence is the central element of the “determination of a criminal charge” and the area par excellence where unfairness may occur. The human rights instruments under examination contain several specific rules to regulate this process: Art 6 (3)(d) of the European Convention … concern the examination of witnesses …In addition, the human rights organs have derived a number of principles of relevance for the evidence taking process from the more general rights to a “fair hearing” and to be “presumed innocent until proved guilty in accordance with the law” …“1474
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Auch der Gerichtshof selbst betont in ständiger Rechtsprechung das Einstellen des Beweisverfahrens als Teil des Strafverfahrens in die vom EGMR vorzunehmende Prüfung, ob das Strafverfahren insgesamt fair war1475 und
477
1470 1471 1472 1473
1474
1475
Siehe dazu auch ESSER, in: MARAUHN, S. 42 ff.; GAEDE, S. 319. Siehe dazu etwa STAVROS, S. 222; GAEDE, S. 319. ALSBERG/NÜSE/MEYER, Vorwort zur ersten Auflage, S. VII. Deutlich auch GAEDE, S. 319: „vorherige Gewährung von Verteidigungsrechten selbst entwertet sein“. STAVROS, S. 222 (Hervorhebung Stavros: «par excellence»; übrige Hervorhebung: Demko). Siehe dazu auch ESSER, in: MARAUHN, S. 55 zum Verhältnis von (un)fairer Beweiserhebung und abschliessender Gesamtfairness-Prüfung.
309
Kapitel 4: «Menschenrecht auf Verteidigung»
erhebt damit die Fairness zum auch für das strafprozessuale Beweisverfahren massgebenden normativen Qualitätsmoment:1476 478
„... Its task is to ascertain whether the proceedings considered as a whole, including the way in which evidence was taken, were fair …“1477
479
Durch die die gesamte EMRK auszeichnende menschenrechtsschützende Blickrichtung im Allgemeinen1478 und die menschenrechtsschützende Sicht unter spezieller Anbindung an die Person des Angeklagten in Art. 6 EMRK im Besonderen1479 sind die in Art. 6 EMRK normierten Sachmomente eines fairen Strafverfahrens dabei nicht verstanden als abstrakte, sich allgemein an das Gericht richtende Strafverfahrensgrundsätze1480 bzw. als „abstrakte Verfahrensprinzipien“.1481 Nicht die Entwicklung einer europäischen „Modellstrafprozessordnung“,1482 betrachtet aus einer strafverfolgenden Richtung einer Rechtsgemeinschaft, sondern ein ganz anderer «Fokus», nämlich der des Menschenrechtsschutzes und in Art. 6 EMRK speziell des Menschenrechtsschutzes unter Anknüpfung an den Angeklagten im Strafverfahren, prägt den Charakter eben der schon in dieser Weise bezeichneten Konvention für
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1477
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1480 1481 1482
310
Siehe dazu auch GOLLWITZER, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR, S. 318 f. N 64; siehe auch BENZING, S. 116, 118 zur besonderen Bedeutung des Rechts auf ein faires Verfahren im Beweisrecht; zudem PACHE, EuGRZ 2000, S. 601 zum fairen gerichtlichen Verfahren als „Grundpfeiler(n) der … gemeineuropäischen Verfassungsordnung …“, als „… Kernelement des europäischen Verständnisses von Rechtsstaatlichkeit …“ und als „die wichtigste verfahrensrechtliche Garantie des Grundrechtskataloges …“ (Hervorhebung Demko). EGMR, N.F.B. v. GERMANY, 18.10.2001, Reports 2001-XI, S. 7; siehe auch etwa EGMR, P.S. v. GERMANY , 20.12.2001, Application No. 33900/96, § 19; EGMR, HAAS v. GERMANY, 17.11.2005, Application No. 73047/01, S. 14: „… The Court’s task is to ascertain whether the proceedings as a whole, including the way in which evidence was taken, were fair …“ (Hervorhebung Demko); EGMR, KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 20.11.1989, A166, § 39. Siehe dazu auch GOLLWITZER, MRK Einf./IPBPR Einf., S. 104 N 8, 106 N 13, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR, S. 287 N 1 ff.; JUNG, Festschrift Lüke, S. 333: „menschenrechtliche Orientierung“. Siehe auch die zutreffende Hervorhebung von ESSER, in: MARAUHN, S. 42: „Garantie, die an die Person des Beschuldigten anknüpft“ sowie „Die EMRK ist eine Konvention von Menschenrechten, die an die Person und den Status ihres Trägers anknüpft“ (Hervorhebung Demko), ebenso betont auf S. 62. Dazu auch ESSER, in: MARAUHN, S. 42. ESSER, in: MARAUHN, S. 48. ESSER, in: MARAUHN, S. 42; dazu auch WARNKING, S. 41; JUNG, Festschrift Lüke, S. 333: „keine bestimmte Prozeβordnung kanonisiert“.
Kapitel 4: «Menschenrecht auf Verteidigung»
Menschenrechte aus.1483 Mit der EMRK ist weder eine allumfassende Strafverfahrensordnung für das gesamte Strafverfahren noch – für den sich auf die Tatsachenermittlung beziehenden Abschnitt des Strafverfahrens in Gestalt des Beweisverfahrens – eine allumfassende strafprozessuale Beweisordnung erschaffen. Eben solche aus der strafverfolgenden Blickrichtung entwickelten allumfassenden Strafverfahrens- und Beweisordnungen können von der EMRK aufgrund des gänzlich anders gewählten Ausgangspunktes ihres Regelungsbestrebens – nämlich aufgrund eines sich an eine bestimmte Person und ihren Menschenrechtsschutz anknüpfenden Regelungsbestrebens – auch nicht geschaffen werden:1484 Nicht die Regelung des Strafverfahrens und Beweisverfahrens überhaupt, wie es die Aufgabe von «echten» Strafverfahrensordnungen ist, bestimmt das Anliegen der EMRK, sondern ein ganz anderes Bestreben, nämlich das des Menschenrechtsschutzes, ist von Anfang an bestimmendes Regelungsziel der EMRK, durchdringt die gesamte Konvention und legt auch bei Art. 6 EMRK mit den dort normierten Menschenrechten des Angeklagten im Strafverfahren eine streng individualschützende bzw. genauer eine streng individual-menschenrechtsschützende Ausgangs- und Blickrichtung fest, mittels der auf das Straf- und Beweisverfahren zu schauen ist. Der Gesichtspunkt nun, dass die EMRK keine umfassende Strafverfahrensund Beweisordnung ausformt und ausformen kann, bedeutet jedoch nicht, dass die EMRK überhaupt nichts zu Elementen und Aspekten einer Strafverfahrens- und Beweisordnung sagt. Vielmehr haben sich durch den gewählten menschenrechtsschützenden Ausgangspunkt der EMRK, d.h. dadurch, dass sozusagen durch eine «menschenrechtsschützende Brille» hindurch auf das Straf- und Beweisverfahren gesehen wird, bestimmte menschenrechtliche Kern- bzw. Mindeststandards für die im Straf- und Beweisverfahren zu wahrenden Menschenrechte des Angeklagten entwickelt, die ihrerseits Rückwirkung1485 entfalten für das Sichtbarwerden eines – schon in der EMRK selbst 1483
1484
1485
Siehe auch GOLLWITZER, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR, S. 320 f. N 65 dazu, dass die EMRK keinen bestimmten Verfahrenstyp und keine bestimmten Formen der Verfahrensgestaltung vorschreibt. Dies ebenso deutlich hervorhebend ESSER, in: MARAUHN, S. 62: „Da alle Beweis- und Verfahrensgrundsätze der EMRK an den Beschuldigtenstatus – bzw. an die Rechte Dritter – anknüpfen, werden niemals sämtliche Fragestellungen einer rechtsstaatlichen Grundsätzen entsprechenden Beweiserhebung durch die EMRK beantwortet werden können“ (Hervorhebung Demko); WARNKING, S. 41 zur Anknüpfung der EMRK „an die Person und ihren Status“. Siehe auch die Formulierungen von ESSER, in: MARAUHN, S. 42: „nur mittelbar als ein an das erkennende Gericht adressierter Verfahrensgrundsatz“ und „aus den Beschuldigtenrechten des Art. 6 EMRK … zu formulieren“ (Hervorhebung Demko); GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 190: Vorgaben der EMRK, „die (mittelbar) auf die strafprozessuale Beweisführung einwirken“ (Hervorhebung Demko).
311
480
Kapitel 4: «Menschenrecht auf Verteidigung»
angelegten sowie vom EGMR bereits heute ausdifferenzierten und in Zukunft immer mehr auszudifferenzierenden – «menschenrechtsschützenden Kerngehaltes» einer europäischen Strafverfahrens- und Beweisordnung.1486 In im Vergleich zu «echten» Strafverfahrensordnungen geradezu umgedrehter Reihenfolge und anders als in diesen sind in der EMRK mithin zwar keine abstrakten strafverfolgenden Regelungen unmittelbar zu Ablauf und Gestaltung des Straf- und Beweisverfahrens geregelt,1487 sondern es sind vielmehr umgekehrt unmittelbar Menschenrechte des Angeklagten im Strafverfahren normiert, aus welchen sich jedoch – in einem Folgeschritt – ein „menschenrechtliche(r) Rahmen für den Ablauf des Strafprozesses im Allgemeinen und die strafprozessuale Beweisgewinnung und -verwertung im Besonderen“1488 herleiten und erarbeiten lässt und auch vom EGMR erarbeitet wird.1489 Zwar dienen – eben weil die EMRK keine europäische Strafverfahrens- und Beweisordnung ist – die bereits in der bisherigen Rechtsprechung des EGMR sichtbar gewordenen Grundsätze für ein insgesamt faires Strafverfahren und auch speziell für ein faires Beweisverfahren weder einem puren Selbstzweck1490 noch einem „allgemeinen Verfahrenszweck“.1491 Sie zeigen aber durch ihre notwendige Anbindung an die Person des Angeklagten – dessen Menschenrechtsschutz „einzig und allein“1492 bezweckt ist – und «vermittelt» durch eben diese Anbindung an den Angeklagten und seinen Menschenrechtsschutz einen menschenrechtsschützenden Kerngehalt einer von allen Mitgliedsstaaten des Europarats zu beachtenden europäischen Strafverfahrens- und Beweisordnung auf.1493 481
Für die Beurteilung des Beweisverfahrens als auf die Tatsachenfeststellung gerichteter Teil des Strafverfahrens und die Frage, ob dem Angeklagten im strafprozessualen Beweisverfahren seine Verteidigungsrechte wirksam gewahrt worden sind, legt der Gerichtshof das von ihm für das gesamte Strafverfahren als massgebend erkannte Qualitätsmoment der Fairness des Straf1486
1487 1488 1489 1490
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1493
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Siehe auch HECKER, in: MARAUHN, S. 36 zur EMRK als „Grundlage“ für ein „einheitliche(s) europäische(s) Referenzsystem(s)“ für die rechtmässige Beweiserhebung im Rahmen eines „europäischen Beweiszulassungsverfahrens“; siehe EHLERS, S. 43 zur EMRK als „Mindestgrundrechtsstandard in Europa“. Siehe auch näher ESSER, in: MARAUHN, S. 42, 45, 48. ESSER, in: MARAUHN, S. 42 (Hervorhebung Demko). Siehe dazu die sich anschliessenden Ausführungen unter Kap. 4 A. I. Siehe auch GAEDE, S. 818 zur Rechtsprechung des EGMR: Zurückweisung der „Entwicklung von Einzelvorgaben als Selbstzweck“. ESSER, in: MARAUHN, S. 42. ESSER, in: MARAUHN, S. 42; WARNKING, S. 41 zur Anbindung der EMRK „an die Person und ihren Status“. Siehe auch die Formulierung von GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 190 zu den Vorgaben der EMRK, „die (mittelbar) auf die strafprozessuale Beweisführung einwirken“ (Hervorhebung Demko).
Kapitel 4: «Menschenrecht auf Verteidigung»
verfahrens als Ganzes an, wenn er formuliert, dass es Aufgabe des Gerichtshofes sei „… to ascertain whether the proceedings considered as a whole, including the way in which evidence was taken, were fair …“.1494 „… As a general rule, it is for the national courts, and in particular the court of first instance, to assess the evidence before them as well as the relevance of the evidence which the accused seeks to adduce ... The Court must, however, determine – and in this it agrees with the Commission – whether the proceedings considered as a whole, including the way in which prosecution and defence evidence was taken, were fair as required by Article 6 para. 1 ...“1495
482
Es sind „keine verbindlichen „harten“ Vorgaben“,1496 die die EMRK und der EGMR in einer umfassenden Weise für die Beweiserhebung, Beweisverwertung und Beweiswürdigung aufstellen, sondern es ist eben dieses – nach den Worten von Esser – vom EGMR gewählte „… „weiche“ Instrument der Verfahrensfairness“,1497 mittels welchem die mit dem Menschenrechtsschutz des Angeklagten verknüpften Fragen zum strafprozessualen Beweisverfahren beantwortet werden.1498 Ausgangspunkt des Gerichtshofs ist es, dass, wie der EGMR in ständiger Rechtsprechung betont, das Beweisverfahren – wozu die Beweiserhebung, die Beweisverwertung und die Beweiswürdung gehören – grundsätzlich bzw. in erster Linie in den Händen der nationalen Staaten liegt:1499 Die zur Beweiserhebung und Beweisverwertung gehörenden Fragen, wie die Zulässigkeit von Beweisen und Beweismitteln («admissibility of evi-
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1496 1497 1498 1499
EGMR, KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 20.11.1989, A166, § 39 (Hervorhebung Demko), wo es insgesamt heisst: „… It has to be recalled at the outset that the admissibility of evidence is primarily a matter for regulation by national law … Again, as a general rule it is for the national courts to assess the evidence before them ... In the light of these principles the Court sees its task in the present case as being not to express a view as to whether the statements in question were correctly admitted and assessed but rather to ascertain whether the proceedings considered as a whole, including the way in which evidence was taken, were fair …“ (Hervorhebung Demko). EGMR, BARBERÀ, MESSEGUÉ AND JABARDO v. SPAIN, 06.12.1988, A146, § 68 (Hervorhebung Demko). ESSER, in: MARAUHN, S. 62. ESSER, in: MARAUHN, S. 62. Dazu auch GOLLWITZER, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR, S. 318 f. N 64. Siehe aus der Rechtsprechung des EGMR etwa EGMR, KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 20.11.1989, A166, § 39: „primarily“ und „as a general rule“; EGMR, P.S. v. GERMANY , 20.12.2001, Application No. 33900/96, § 19; EGMR, VIDAL v. BELGIUM, 22.04.1992, A235-B, § 33: „… As a general rule, it is for the national courts to assess the evidence before them as well as the relevance of the evidence which defendants seek to adduce …“ (Hervorhebung Demko); EKMR, UNTERPERTINGER v. AUSTRIA, 11.10.1984, Series B No. 93, §§ 77, 78.
313
Kapitel 4: «Menschenrecht auf Verteidigung»
dence»1500), der Ablauf und die Art und Weise der Beweiserhebung («taking of evidence»1501), die Beurteilung der Relevanz von zu erhebenden Beweismitteln («the relevance of the evidence»1502) und die Verwertbarkeit oder Unverwertbarkeit von erhobenen Beweisen, sind solche, die in erster Linie den nationalen Strafverfolgungsbehörden und nationalen Gerichten obliegen. Ebenso liegt die sich anschliessende Würdigung («to assess the evidence»1503) der erhobenen verwertbaren Beweise zur Feststellung der Tatschuld des Angeklagten in erster Linie in den Händen der nationalen Gerichte und es ist nicht Sache des Gerichtshof, die nationalen Beweiswürdigungen durch eine eigene zu ersetzen.1504 1500
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Siehe etwa EGMR, P.S. v. GERMANY, 20.12.2001, Application No. 33900/96, § 19; EGMR, SCHENK v. SWITZERLAND, 12.07.1988, A140, §§ 46, 47: „… While Article 6 (art. 6) of the Convention guarantees the right to a fair trial, it does not lay down any rules on the admissibility of evidence as such, which is therefore primarily a matter for regulation under national law. The Court therefore cannot exclude as a matter of principle and in the abstract that unlawfully obtained evidence of the present kind may be admissible. It has only to ascertain whether Mr. Schenk’s trial as a whole was fair ... Like the Commission it notes first of all that the rights of the defence were not disregarded ...“ (Hervorhebung Demko); EGMR, HAAS v. GERMANY, 17.11.2005, Application No. 73047/01, S. 14. Siehe etwa EGMR, KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 20.11.1989, A166, § 39: „the way in which evidence was taken“. Siehe etwa EGMR, VIDAL v. BELGIUM, 22.04.1992, A235-B, § 33: „… As a general rule, it is for the national courts to assess the evidence before them as well as the relevance of the evidence which defendants seek to adduce …“ (Hervorhebung Demko). Siehe etwa EGMR, P.S. v. GERMANY, 20.12.2001, Application No. 33900/96, § 19; siehe auch EGMR, VIDAL v. BELGIUM, 22.04.1992, A235-B, § 33: „… As a general rule, it is for the national courts to assess the evidence before them as well as the relevance of the evidence which defendants seek to adduce …“ (Hervorhebung Demko); EGMR, HAAS v. GERMANY, 17.11.2005, Application No. 73047/01, S. 14. Siehe etwa EGMR, SCHENK v. SWITZERLAND, 12.07.1988, A140, §§ 45, 46; EGMR, KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 20.11.1989, A166, § 39; EGMR, BARBERÀ, MESSEGUÉ AND JABARDO v. SPAIN, 06.12.1988, A146, § 68; EGMR, WINDISCH v. AUSTRIA, 27.09.1990, A186, § 25; EGMR, DOORSON v. THE NETHERLANDS, 26.03.1996, Reports 1996-II, § 67; EGMR, N.F.B. v. GERMANY, 18.10.2001, Reports 2001-XI, S. 7; EGMR, ASCH v. AUSTRIA, 26.04.1991, A203, § 26; siehe auch bereits die Ausführungen in EKMR, ALBERTI v. ITALIE, 10.03.1989, Application No. 12013/86, D.R. No. 59, S. 111 zu den grundsätzlich in den Händen der nationalen Gerichte liegenden Fragen des Beweisverfahrens: „… The Commission also stresses that the question of the admissibility of evidence and of its probative value falls essentially within the ambit of domestic law … It is therefore not required to decide on the question of whether the domestic courts correctly assessed the evidence …“ (Hervorhebung Demko).
Kapitel 4: «Menschenrecht auf Verteidigung» „… The admissibility of evidence is primarily a matter for regulation by national law and, as a rule, it is for the national courts to assess the evidence before them. It is not the Court’s task to substitute its own assessment of the facts for that of the domestic courts or to give a ruling as to whether statements of witnesses were properly admitted as evidence. Its task is to ascertain whether the proceedings considered as a whole, including the way in which evidence was taken, were fair …“1505
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Diese vom EGMR betonte Zuweisung des Beweisverfahrens und seiner einzelnen Aspekte der Beweiserhebung, -verwertung und -würdigung in die Hände der nationalen Staaten1506 bedeutet aber nicht, dass sich der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR überhaupt keine An- und Vorgaben zum Beweisverfahren entnehmen lassen, hat sich der Gerichtshof durch seine einschränkenden Formulierungen «grundsätzlich» und «in erster Linie» doch schon scheinbar selbst eine Tür offen lassen wollen,1507 durch die er im Ausnahmefall gehen und hier sodann menschenrechtsschützende Regelungen auch für das Beweisverfahren und seine einzelnen Aspekte aufstellen kann.1508
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Zwar gibt es in der EMRK und in der Rechtsprechung des EGMR keine allumfassend normierte Gesamtregelung zum strafprozessualen Beweisverfahren.1509 Jedoch sind bestimmte, und zwar mit der Person des Angeklagten verbundene menschenrechtsschützende Kernstandards und Grundelemente zur Beweiserhebung, -verwertung und -würdigung schon in der EMRK selbst angelegt und wurden zudem in der Rechtsprechung des EGMR in fortschreitender und vertiefender Weise entwickelt.1510 Zu denken ist neben den Arti-
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EGMR, N.F.B. v. GERMANY, 18.10.2001, Reports 2001-XI, S. 7 (Hervorhebung Demko). Dazu auch SCHROEDER, GA 2003, S. 295. Siehe auch die Formulierung von ESSER, S. 623 f.: „offensichtlich den Rücken freihalten“; GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 178 dazu, dass die EMRK „aber gleichwohl – auch nach dem Verständnis des EGMR – nicht neutral gegenüber der Ausgestaltung des Beweisrechts in den nationalen Rechtsordnungen“ (Hervorhebung Demko) ist. Siehe auch die Formulierungen des Gerichtshofs in EGMR, SCHENK v. SWITZERLAND, 12.07.1988, A140, §§ 45, 46, 47: „… unless and in so far ...“ (§ 45); siehe auch bereits EKMR, ALBERTI v. ITALIE, 10.03.1989, Application No. 12013/86, D.R. No. 59, S. 111: „… In particular , it is not competent to deal with an application alleging that errors of law or fact have been committed by domestic courts, except where it considers that such errors might have involved a possible violation of any of the rights and freedoms set out in the Convention …“ (Hervorhebung Demko); siehe dazu auch näher ESSER, S. 623 f. Siehe auch ESSER, in: MARAUHN, S. 41 ff.: „lediglich einen äuβeren Rahmen“ (S. 41), „keine Aussage zum Ablauf der Beweiserhebung“ (S. 42), Art. 6 III d EMRK als „keine Beweisvorschrift im engeren Sinne“ (S. 42), „kein abgeschlossener Katalog zulässiger Beweismittel“ (S. 45). Siehe auch ESSER, in: MARAUHN, S. 44: „zentrale(n) Standards“.
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Kapitel 4: «Menschenrecht auf Verteidigung»
keln 3, 8 und 10 EMRK und den damit verbundenen Fragen etwa zu Behandlungsverboten, zum Verhältnismässigkeitgrundsatz und dem Gesetzlichkeitsprinzip1511 an die Normierungen in Art. 6 EMRK, die in dessen Absätzen 1, 2 und 3 die Verteidigungsrechte des Angeklagten mit dem strafprozessualen Beweisverfahren in vielfältiger Weise verknüpfen: 487
Folgt aus der Unschuldsvermutung in Art. 6 II EMRK und dem sich daraus herleitenden Zweifelsgrundsatz die Verpflichtung des Staates, die Tatschuld des Angeklagten in dem Strafverfahren unter Ausschliessen vernünftiger Zweifel überzeugend zu beweisen,1512 so sind auch dem Art. 6 I EMRK mit der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichts sowie der Öffentlichkeit des Strafverfahrens wichtige «Rahmenbedingungen» für die wirksame Ausübung der Verteidigungsrechte des Angeklagten im strafprozessualen Beweisverfahren zu entnehmen.1513 Zudem normiert Art. 6 III EMRK gerade auch für das strafprozessuale Beweisverfahren grundlegende und wichtige Verteidigungsrechte des Angeklagten, von denen speziell für den Zeugenbeweis das Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen und das Laderecht in Bezug auf Entlastungszeugen nach Art. 6 III d EMRK zu nennen sind. Als für das strafprozessuale Beweisverfahren wichtige Verteidigungsrechte des Angeklagten sind zudem (etwa) das Recht auf Selbst-, Wahl- oder Pflichtverteidigung nach Art. 6 III c EMRK sowie das Recht auf einen kostenlosen Dolmetscher nach Art. 6 III e EMRK anzuführen.1514
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Diese schon der EMRK selbst zu entnehmenden benannten menschenrechtlichen Mindeststandards für die Beweiserhebung1515 haben eine vertiefende Ausformung in der Rechtsprechung des EGMR gefunden, in deren Rahmen neben den benannten Verteidigungsrechten zudem weitere, das strafprozessuale Beweisverfahren ebenso berührende unbenannte menschenrechtliche Mindeststandards in Form von Verteidigungsrechten des Angeklagten vom 1511 1512
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Dazu auch ESSER, in: MARAUHN, S. 44. Siehe etwa EGMR, CASE OF BARBERÀ, MESSEGUÉ AND JABARDO v. SPAIN, 06.12.1988, A 146, § 77: „… Paragraph 2 (art. 6-2) embodies the principle of the presumption of innocence. It requires, inter alia, that when carrying out their duties, the members of a court should not start with the preconceived idea that the accused has committed the offence charged; the burden of proof is on the prosecution, and any doubt should benefit the accused ...“ (Hervorhebung Demko); siehe dazu auch STAVROS, S. 222 ff.; GAEDE, S. 320; GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 178. Siehe zur Unterscheidung zwischen Teilhabe und Teilhaberahmen näher unter Kap. 4 B. II. 2.; zum „Teilhaberahmen“ (S. 403) siehe auch GAEDE, S. 403 ff. Zur Bezugnahme auf Art 6 III c, d und e EMRK siehe auch etwa EGMR, CASE OF COLOZZA v. ITALY, 12.02.1985, A 89, § 27. Siehe auch ESSER, in: MARAUHN, S. 44 zu den „alles in allem relativ konkrete(n) Vorgaben für die Erhebung von Beweisen“ (Hervorhebung Esser) durch die Garantien der EMRK.
Kapitel 4: «Menschenrecht auf Verteidigung»
EGMR entwickelt worden sind: Als gerade auch für das strafprozessuale Beweisverfahren bedeutend ist etwa an das vom EGMR aus der Fairness des Strafverfahrens abgeleitete Anwesenheitsrecht des Angeklagten und dessen Weiterentwicklung zum Recht auf effektive Verfahrensteilhabe, an das rechtliche Gehör und die Waffengleichheit sowie zudem an die Selbstbelastungsfreiheit und das Schweigerecht des Angeklagten zu denken.1516 Mit Bezug auf ein menschenrechtsschützendes strafprozessuales Beweisverfahren bringen sich in den (eben angeführten) in Art. 6 I, II und III EMRK normierten benannten Einzelgarantien eines fairen Strafverfahrens sowie in der – diese Einzelgarantien näher ausformenden und um weitere unbenannte Einzelgarantien erweiternden – Rechtsprechung des EGMR zum Ersten dem Angeklagten einzuräumende Verteidigungsrechte, mittels der dieser im Rahmen der Beweiserhebungsphase aktiv am Verfahren teilnehmen kann, sowie zum Zweiten ein zugleich zu gewährender «institutioneller Rahmen» für die wirksame Gewährung der Verteidigungsrechte des Angeklagten zum Ausdruck:1517 Die Bedeutung einer wirksamen Teilnahme des Angeklagten gerade auch im strafprozessualen Beweisverfahren, und zwar genauer in der Beweiserhebungsphase, und hierbei die Wichtigkeit des rechtlichen Gehörs, der Waffengleichheit und der effektiven Verfahrensteilhabe bei der Beweiserhebung sichtbar machend, betont der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung, dass sämtliche zur Verurteilung des Angeklagten führenden Beweise grundsätzlich in Anwesenheit des Angeklagten («in the presence of the accused»), in einer öffentlichen Verhandlung («at a public hearing») und im Rahmen eines kontradiktorischen Verfahrens («adversarial») zu erheben sind. Im Fall BARBERÀ, MESSEGUÉ AND JABARDO v. SPAIN heisst es:
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„... the object and purpose of Article 6 (art. 6), and the wording of some of the subparagraphs in paragraph 3 (art. 6-3), show that a person charged with a criminal offence "is entitled to take part in the hearing and to have his case heard" in his presence by a "tribunal" ... The Court infers ... that all the evidence must in principle be produced in the presence of the accused at a public hearing with a view to adversarial argument ...“1518
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Siehe zu diesen aus dem Recht auf ein faires Strafverfahren vom EGMR abgeleiteten unbenannten Verteidigungsrechten etwa GAEDE, S. 290 ff.; zum rechtlichen Gehör und zur Waffengleichheit siehe unter Kap. 4 B. III. 1. und 2. Siehe zur Unterscheidung zwischen Teilhabe und Teilhaberahmen näher unter Kap. 4 B. II. 2. EGMR, CASE OF BARBERÀ, MESSEGUÉ AND JABARDO v. SPAIN, 06.12.1988, A 146, § 78 (Hervorhebung Demko); siehe zudem EGMR, CASE OF COLOZZA v. ITALY, 12.02.1985, A 89, §§ 27, 32: „… Although this is not expressly mentioned in paragraph 1 of Article 6 ... the object and purpose of the Article taken as a whole show that a person "charged with a criminal offence" is entitled to take part in the hearing. Moreover, sub-paragraphs (c), (d) and (e) of paragraph 3 ... guar-
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Kapitel 4: «Menschenrecht auf Verteidigung» 491
Ebenso betont der Gerichtshof im Fall P.S. v. GERMANY:
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„… All the evidence must normally be produced at a public hearing, in the presence of the accused, with a view to adversarial argument. There are exceptions to this principle, but they must not infringe the rights of the defence …“1519
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Anknüpfend an die Offenheit der EMRK für die unterschiedlichen Strafverfahrensformen der Mitgliedstaaten, ist dieser Rechtsprechung des EGMR weder eindeutig die Forderung des formellen Unmittelbarkeitsgrundsatzes, wie er etwa in der deutschen Strafverfahrensordnung ausgeprägt ist,1520 noch mit dem gewählten Begriff «adversarial» die Forderung zu entnehmen, dass die Beweisaufnahme nach dem speziellen common law-Verfahrensstil zu erfolgen habe.1521 Nicht – was bekräftigt wird durch die die EMRK kennzeichnende Offenheit für die verschiedenen Verfahrensformen bzw. -modelle ihrer Vertragsstaaten – ein bestimmter (hier etwa der common law-) Verfahrenstyp oder eine bestimmte Verfahrensform ist mit dem «adversarial»Verfahrenserfordernis vom EGMR gemeint und explizit verlangt. Vielmehr ist mit diesem vom EGMR geforderten Kontradiktorischen des Strafverfahrens eine bestimmte materielle Qualität des Erkennens(prozesses) des Strafund insbesondere des tatsachenfeststellenden Beweisverfahrens angesprochen, die sich wiederum in unterschiedlichen Verfahrensformen – sei dies in Form der civil law- oder der common law-Rechtstradition – verwirklichen
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antee to "everyone charged with a criminal offence" the right "to defend himself in person", "to examine or have examined witnesses" and "to have the free assistance of an interpreter if he cannot understand or speak the language used in court", and it is difficult to see how he could exercise these rights without being present ...“ (§ 27, Hervorhebung Demko); EGMR, CASE OF KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 20.11.1989, A 166, § 41: „… In principle, all the evidence must be produced in the presence of the accused at a public hearing with a view to adversarial argument …“; EGMR, CASE OF P.S. v. GERMANY, 20.12.2001, Application No. 33900/96 , § 21. EGMR, CASE OF P.S. v. GERMANY, 20.12.2001, Application No. 33900/96 , § 21 (Hervorhebung Demko); siehe auch bereits EKMR, ALBERTI v. ITALIE, 10.03.1989, Application Nr. 12013/86, D.R. No. 59, S. 111: „… the evidence must in principle be produced in the presence of the accused at a public hearing with a view to adversarial argument …“ Dies ebenso betonend ESSER, in MARAUHN, S. 52 f.: „nicht identisch“ (S. 53) mit dem formellen Unmittelbarkeitsgrundsatz des deutschen Strafverfahrens; ebenso ESSER, S. 626: „nur scheinbar identisch“; siehe dazu auch TRECHSEL, AJP 2000, 1369 f.; GAEDE, S. 320 FN 696. Dies ebenso betonend MAFFEI, S. 71: „… The term adversarial … does not refer to the proof-taking style of the common law tradition. In fact, ECHR law does not consider the opposing inquisitorial style – which is applied by the vast majority of Member States – as contrary to the text and spirit of the Convention …“ (Hervorhebung Maffei: «adversarial», übrige Hervorhebung: Demko).
Kapitel 4: «Menschenrecht auf Verteidigung»
kann. Auch bereits die EKMR hat die grosse Bedeutung dieses «adversarial»-Verfahrenserfordernisses für das Straf- und Beweisverfahren herausgehoben, wenn es im Fall ALBERTI v. ITALIE heisst: „… The Commission also notes that the applicant does not deny that the charges against him were presented and debated adversarially before both the trial judges and the Court of Cassation …“1522
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Dieses vom EGMR betonte «adversarial»-Verfahrenserfordernis erweist sich für das strafprozessuale Beweisverfahren als ein gerade dialektisches Erkenntnisverfahren von grosser Wichtigkeit.1523 Das «adversarial»-Verfahrenserfordernis zeigt insbesondere in der Zusammenschau mit den angeklagtenbezogenen Betonungen des Gerichtshofs zur effektiven Verfahrensteilnahme, zum rechtlichen Gehör und zur Waffengleichheit, dass es verbunden mit dem geforderten kontradiktorischen Charakter und damit mit einer besonderen Qualität des Erkennens(prozesses) des Straf- und Beweisverfahrens an sich zudem zusätzlich immer auch um eine ganz bestimmte Qualität der Teilnahme des Angeklagten an diesem kontradiktorisch geführten strafprozessualen Beweisverfahren und gesamten Strafverfahren zu gehen hat, damit von einer eine wirksame Verteidigung gewährenden Teilnahme des Angeklagten am Beweis- und Strafverfahren gesprochen und ein faires Beweis- und Strafverfahren bejaht werden kann: Angesprochen ist mit der besonderen Qualität der Teilnahme speziell des Angeklagten am Beweis- und Strafverfahren der Gesichtspunkt, dass es nicht um «irgendeine» Art von prozesssubjektwahrender Teilnahme, sondern gerade um eine dem Angeklagten wirksam zu gewährende prozesssubjektwahrende antithetische Teilnahme am Beweis- und Strafverfahren zu seiner Verteidigung geht.1524
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Über diese an die Person des Angeklagten und seine Menschenrechte im strafprozessualen Beweisverfahren angelegten Mindestvorgaben der EMRK und des EGMR für die Beweiserhebung hinaus, lassen sich der Rechtsprechung des Gerichtshof zudem erste menschenrechtsbezogene Kernstandards auch für Fragen der Beweisverwertung und Beweiswürdigung entnehmen. Zwar liegen, wie der Gerichtshof als Ausgangspunkt wiederholt betont, auch die Fragen der Beweisverwertung und -würdigung im Grundsatz in den Händen der nationalen Gerichte und der Gerichtshof hat weder ein ausdifferenziertes System an Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsverboten entwi-
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EKMR, ALBERTI v. ITALIE, 10.03.1989, Application No. 12013/86, D.R. No. 59, S. 112 (Hervorhebung Demko). Zum Strafverfahren als dialektisches Erkenntnisverfahren siehe die Ausführungen unter Kap. 2 B. II. 4. und 5. Siehe dazu näher unter Kap. 4 B. I.
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Kapitel 4: «Menschenrecht auf Verteidigung»
ckelt1525 noch Fragen der Beweiswürdigung in umfassender Weise geregelt.1526 Mehr noch als bezüglich der Verfahrensphase der Beweiserhebung an sich hält sich der Gerichtshof in Bezug auf Fragen nach Beweiserhebungsund vor allem Beweisverwertungsverboten bisher noch eher zurück,1527 hat aber dennoch auch hier erste menschenrechtliche Grundstandards für die Unverwertbarkeit von erhobenen Beweisen gesetzt.1528 Ebenso ist eine Einflussnahme des Gerichtshofs auf die Beweiswürdigung zu verzeichnen: Zwar betont er als Ausgangspunkt stets, dass die Beweiswürdigung in erster Linie Sache des nationalen Gerichts sei und er diese nicht durch seine eigene ersetzen dürfe. Dies hindert(e) den EGMR aber nicht daran, auch für die Beweiswürdigung bestimmte menschenrechtliche Kernstandards festzulegen.1529 Zu
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Siehe auch ESSER, S. 628 f. zur „bisher enttäuscht(en)“ (S. 628) Erwartung der strafprozessualen Praxis an die Herleitung von Beweisverwertungsverboten aus der EMRK, zu dem „noch in den Kinderschuhen“ (S. 629) - Stecken, was die Beweisverwertungsverbote betrifft, sowie zu den „noch rudimentärer(en)“ (S. 629) Versuchen des EGMR zur Abgrenzung von Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsverboten; siehe zudem die näheren Untersuchungen und eigenen differenzierten Ableitungen von ESSER, in: MARAUHN, S. 56 ff.; siehe auch GAEDE, S. 804 ff. zur „zurückhaltende(n)“ (S. 805) Rechtsprechung des EGMR und zu entsprechender Kritik, insbesondere S. 807: „Maβstablosigkeit“ (S. 807), Durchgreifen der Kritik an dem EGMR „zugunsten der Anerkennung strikterer Ausschlussregeln“ (S. 807). Siehe auch die Frage von ESSER, in: MARAUHN, S. 45: „Die Beweiswürdigung – eine menschenrechtliche Tabuzone?“ (Hervorhebung Eser). Siehe auch GAEDE, S. 809 zum „heute noch“ (Hervorhebung Gaede) vorsichtigen Zurückhalten des EGMR bei der Entwicklung spezieller Beweisrechtsvorgaben; siehe dazu auch GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 191; WARNKING, S. 44 ff., 50 ff., 59. GAEDE, S. 809: trotz noch vorsichtiger Zurückhaltung des EGMR sieht er „sich aber doch nicht gehindert“ (Hervorhebung Gaede) an der Entwicklung spezieller Beweisrechtsvorgaben, siehe zudem S. 322 ff. zu „wesentliche(n) Problemfelder(n)“ (S. 322), in denen vom EGMR bereits heute nähere Vorgaben zur Verwertung und Würdigung von Beweisen gemacht worden sind; zum Sichtbarwerden und Ableiten (S. 56: „abzuleiten“) von Vorgaben des EGMR zur Erhebung und Verwertung von Beweisen siehe des Weiteren im Einzelnen ESSER, in: MARAUHN, S. 53 ff., dort auch zu vom EGMR formulierten „verbindlichere(n) Vorgaben“ (S. 60) für die Beweisverwertung „(i)n einigen wenigen Fällen“ (S. 60), unter Bezugnahme auf die Urteile SCHENK v. SWITZERLAND, BARBERÀ, MESSEGUÉ AND JABARDO v. SPAIN und TEIXEIRA DE CASTRO v. PORTUGAL; dazu ebenso ESSER, S. 629, wonach in diesen Entscheidungen des EGMR „so etwas wie“ (Hervorhebung Demko) Beweisverwertungsverbote formuliert worden seien, jedoch unter Offenlassen von „allgemeine(n) Kriterien und Voraussetzungen für ihre Annahme“; GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 191: „EGMR-Rechtsprechung hat dazu – wenngleich nur wenige – Ansätze ausgearbeitet“. Deutlich auch GAEDE, S. 809: „kategorialen Sprung … längst getan“.
Kapitel 4: «Menschenrecht auf Verteidigung»
denken ist an die Möglichkeit des Indizienbeweises,1530 an das Erfordernis ausreichender Beweise («to adduce evidence sufficient to convict him»)1531 sowie zudem an das bei dem belastenden Zeugenbeweis aufgestellte Erfordernis bestätigender Hauptbeweismittel.1532 Wenn der Gerichtshof auch keine europäische strafprozessuale Beweislehre in einem allumfassenden Sinne etabliert hat, so sind doch erste Kernstandards einer an die Person des Angeklagten und sein Menschenrecht auf ein faires Strafverfahren angelegten „menschenrechtliche(n) Beweislehre“1533 auf europäischer Ebene deutlich festgestellt. Die Bedeutung der dem Angeklagten 1530
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Siehe dazu bereits die Ausführungen in EKMR, ALBERTI v. ITALIE, 10.03.1989, Application No. 12013/86, D.R. No. 59, S. 110 ff.: „… Il recalls further that the use of indirect evidence is not ruled out in itself by Article 6 para. 1 of the Convention … but that the judges, at the time of taking their decision, may convict only on the basis of direct or indirect evidence that suffices in the eyes of the law to establish the guilt of the accused … In this case, the Commission notes that in the absence of direct evidence, the trial judges established that the order to execute Mr . J . had been given by the applicant. To reach this conclusion, they relied on a whole body of indirect evidence, such as …“ (S. 111 f., Hervorhebung Demko); auf diesen Entscheid der EKMR hinweisend VILLIGER, S. 311 N 486. Siehe bereits EKMR, ALBERTI v. ITALIE, 10.03.1989, Application No. 12013/86, D.R. No. 59, S. 111: „… the judges, at the time of taking their decision, may convict only on the basis of direct or indirect evidence that suffices in the eyes of the law to establish the guilt of the accused …“ (Hervorhebung Demko); EGMR, CASE OF BARBERÀ, MESSEGUÉ AND JABARDO v. SPAIN, 06.12.1988, A 146, §§ 77, 78: „… Paragraph 2 (art. 6-2) embodies the principle of the presumption of innocence. It requires, inter alia, that when carrying out their duties, the members of a court should not start with the preconceived idea that the accused has committed the offence charged; the burden of proof is on the prosecution, and any doubt should benefit the accused. It also follows that it is for the prosecution to inform the accused of the case that will be made against him, so that he may prepare and present his defence accordingly, and to adduce evidence sufficient to convict him ...“ (§ 77, Hervorhebung Demko); dazu auch ESSER, S. 625; GAEDE, S. 324. Siehe dazu näher unter Kap. 5 B. II. 2. ESSER, in: MARAUHN, S. 51: „Verfahrensfairness … durchaus eine wichtige Quelle für die menschenrechtliche Beweislehre …“ (S. 51), welche hingegen „erhebliche Schwierigkeiten für die Etablierung einer „festen“, verlässlichen Beweislehre auf der Grundlage der EMRK“ (S. 50) bereitet; siehe auch zutreffend GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 190 f. zur EMRK als durchaus das Potential bietend, „als europäisches Referenzsystem zu fungieren – aber nur beschränkt auf einen bestimmten Bereich“ (S. 190, Hervorhebung Demko), wobei die Vorgaben der EMRK zum fair trial „kein umfassendes Konzept für den Ausgleich aller möglichen Konflikte im Laufe eines strafprozessualen Beweisverfahrens“ (S. 190 f.) statuieren, siehe auch S. 173 zur EMRK als „Referenzsystem für ein (vereinheitlichtes) »europäisches Strafverfahrensrecht«“.
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Kapitel 4: «Menschenrecht auf Verteidigung»
gerade auch im Rahmen des strafprozessualen Beweisverfahrens zu garantierenden Menschenrechte ist damit sichtbar, wobei aber regelmässig nur verbindliche Vorgaben dafür gesetzt sind, dass die beweisrechtlichen Kernstandards der EMRK zu verwirklichen sind, während der Weg bzw. die Art und Weise, wie die nationalen Mitgliedstaaten die beweisrechtlichen Zielvorgaben der EMRK und des EGMR zu erreichen haben, durch die gerade von einer Offenheit1534 für die verschiedenen Strafverfahrensformen der nationalen Mitgliedstaaten gekennzeichnete EMRK nicht mit vorgegeben ist.1535 Als „Grundrechtsverfassung Europas“1536 und grundrechtsschützende „objektive Ordnung“1537 mit Verfassungscharakter1538 ist mit der EMRK einschliesslich der Rechtsprechung des EGMR mithin „das zentrale menschenrechtliche Instrument“1539 überhaupt des gesamteuropäischen Strafverfahrensrechts und insbesondere auch des gesamteuropäischen strafprozessualen Beweisrechts geschaffen, welches die menschenrechtlichen Mindest- bzw. Kernstandards für ein europäisches Beweis- und Strafverfahren setzt.1540
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Die Bedeutung der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR für die nationalen und internationalen Strafverfahren
Für ihre Vertragsstaaten sind die durch die EMRK gesetzten und vom EGMR aus der „Quelle“1541 der Fairness des Strafverfahrens, welche als entschei-
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Dazu näher GAEDE, S. 461 ff.: „Modelloffenheit“ (S. 461). Dies ebenso zutreffend herausarbeitend GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 177, 183, 191: „die EMRK … regelmäβig nur das Ziel vorschreibt (insbesondere Gewährleistung des »fair trial«), nicht aber den Weg dorthin“ (S. 191), „lediglich Lösungsziele zum Ausgleich kollidierender Interessen“ (S. 191). AMBOS, Internationales Strafrecht 2008, S. 358 N 9; siehe auch AMBOS, Internationales Strafrecht 2011, S. 403 N 8: EMRK als „Grundrechtsverfassung“ mit „gesamteuropäische(r), ja weit über Europa hinausreichende(r) Bedeutung“; EGMR, CASE OF LOIZIDOU v. TURKEY, 23.03.1995, A 310, § 75: „… the Convention as a constitutional instrument of European public order (ordre public) …“, siehe zu dieser Entscheidung auch PETERS, Menschenrechtskonvention, S. 12 ff. PETERS, Menschenrechtskonvention, S. 12; siehe auch AMBOS, Internationales Strafrecht 2011, S. 403 N 8: „autonome objektive Rechtsordnung“. Näher dazu PETERS, Menschenrechtskonvention, S. 12 f. AMBOS, Internationales Strafrecht 2011, S. 403 N 8 (Hervorhebung Ambos). Siehe auch die Formulierung von AMBOS, Internationales Strafrecht 2011, S. 403 N 8: „den rechtsstaatlichen Mindeststandard für ein europäisches Strafverfahren“ (Hervorhebung Ambos). ESSER, in: MARAUHN, S. 51: Verfahrensfairness als „wichtige Quelle für die menschenrechtliche Beweislehre“.
Kapitel 4: «Menschenrecht auf Verteidigung»
dender Massstab auch für das strafprozessuale Beweisverfahren gilt,1542 hergeleiteten menschenrechtlichen Kernstandards für die Beweiserhebung, Beweisverwertung und Beweiswürdigung verbindlich: Mit der Ratifizierung der EMRK als eines völkerrechtlichen Vertrages durch die Vertragsstaaten erlangt die Konvention für diese Verbindlichkeit (Art. 59 EMRK) und die Vertragsstaaten sind unmittelbar verpflichtet, den ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die Rechte aus der Konvention zu sichern (Art. 1 EMRK).1543 Die Schweiz hat die EMRK am 28. November 1974 ratifiziert.1544 Die Konvention selbst macht keine Vorgaben zu ihrem innerstaatlichen Rang und ihrer Wirkungsweise im nationalen Recht der Vertragsstaaten, sondern bestimmt wird dies durch das nationale Recht der Vertragsstaaten, welche jeweils unterschiedliche Festlegungen zum innerstaatlichen Rang der Konvention getroffen haben.1545 In der Schweiz, in der die Beurteilung des innerstaatlichen Rangs der Konvention als Gesetzes-, Übergesetzes- oder gar Verfassungsrang nicht einheitlich ist,1546 wird die EMRK häufig als im Rang 1542
Siehe dazu auch GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 182 f., 189, 192; ESER, in: MAS. 47 f., 55, 62. Dazu näher MEYER-LADEWIG, EMRK-Kommentar, Art. 1 N 3 ff.; siehe dazu auch bereits BISCHOFBERGER, S. 29 ff.; zu Rang und Bedeutung der EMRK siehe auch WARNKING, S. 9 ff. Siehe dazu VILLIGER, S. 21 ff.; die EMRK ist gemäss Art. 59 II EMRK nach Hinterlegung der erforderlichen zehn Ratifikationsurkunden am 03. September 1953 in Kraft getreten; zur Entstehungsgeschichte siehe GRABENWARTER, S. 1 ff.; zum aktuellen Ratifikationsstand siehe http://conventions.coe.int. Siehe etwa VILLIGER, S. 41 N 52; FROWEIN, in: FROWEIN/PEUKERT, Einführung, S. 4 N 6; GOLLWITZER, Einf. MRK/Einf. IPBPR, S. 114 N 38; zu der Einteilung der innerstaatlichen Stellung der EMRK in drei Gruppen – EMRK im Rang der Verfassung, im Rang zwischen Gesetz und Verfassung sowie im Rang des Gesetzes – siehe im Einzelnen GRABENWARTER, S. 15 ff. Siehe zu der bestehenden Diskussion zum Gesetzes-, Übergesetzes- oder gar Verfassungsrang der EMRK im schweizerischen Recht näher VILLIGER, S. 43 ff. N 57 ff.; zur „Sonderstellung der EMRK“ (S. 16 N 3) mit Bezugnahme auf das Schweizerische Bundesgericht siehe GRABENWARTER, S. 16 N 3; siehe auch PETERS, Völkerrecht, S. 198 ff.; HÄFELIN/HALLER/KELLER, S. 575 N 1926 a, 1926 b: „In der Rangfrage nimmt die EMRK eine spezielle Stellung ein …“ (N 1926 a); siehe auch bereits BISCHOFBERGER, S. 34 ff.; TRECHSEL, ZStW 1988, S. 671; VILLIGER, EuGRZ 1991, S. 82 f.; siehe aus der schweizerischen Rechtsprechung etwa BGE 117 I b 367, S. 371, in der zwar die Rangfrage nicht eindeutig entschieden, aber die grosse Bedeutung der EMRK innerhalb der Schweiz herausgestellt ist, indem die „besondere Natur der durch die Konvention geschützten Rechte“ betont und von dem „ihrer Natur nach verfassungsrechtlichen Inhalt“ der Grundrechte verbürgenden Konventionsgarantien gesprochen wird: „… Die Konvention garantiert einen Mindeststandard an Grundrechten, welche die Verfassungen zahlreicher Staaten enthalten oder welche die Mitgliedstaaten als ungeschriebene Verfassungsrechte anerkennen. Das Bundesgericht RAUHN,
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unterhalb der Verfassung, aber über den einfachen Gesetzen stehend angesehen1547 und es wird zudem eine jedenfalls faktische Anerkennung eines Verfassungsranges diskutiert und angenommen.1548 499
Was die Wirkung der Urteile des EGMR auf die Vertragsparteien der EMRK betrifft, tritt neben die Rechtskraftwirkung nach Art 46 EMRK und die damit verbundene rechtliche Verbindlichkeit eines EGMR-Urteils für den verurteilten Vertragsstaat1549 zugleich eine „indirekte(n)“1550 Wirkung in Form einer Appell- und Orientierungswirkung1551 für alle anderen, im konkreten Fall
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hat aus dieser inhaltlichen Beziehung der durch die Konvention geschützten Rechte mit den verfassungsmässigen Rechten … den Verfahrensgrundsatz hergeleitet, dass die Verletzung der in der Konvention enthaltenen Rechte verfahrensmässig gleich zu rügen sei wie die Verletzung verfassungsmässiger Rechte …“ (Hervorhebung Demko); siehe auch etwa BGE 125 II 417, S. 424 ff.; BGE 128 IV 201, S. 205 f. Dazu im Einzelnen HAEFLIGER/SCHÜRMANN, S. 39 ff.; SCHWEIZER, ZSR 1993, S. 628 f.: „Nach heute vorherrschender Meinung kommt der EMRK Übergesetzesrang, ja faktisch und m.E. auch rechtlich Verfassungsrang zu“ (S. 628); NAY, ZSR 2005, S. 100 ff.; KOHLBACHER, S. 8; siehe dazu zudem HÄFELIN/HALLER/KELLER, S. 575 N 1926 a, 1926 b; zur Einordnung der Schweiz in die Gruppe der Vertragsstaaten, die die EMRK im innerstaatlichen Rang zwischen Gesetz und Verfassung einordnet, siehe GRABENWARTER, S. 16 f. N 3; vgl. zudem PETERS, Völkerrecht, S. 198 ff. Siehe etwa VILLIGER, S. 45: „faktisch gewiss Verfassungsrang zukommen“ (Hervorhebung Villiger); FROWEIN, in: FROWEIN/PEUKERT, Einführung, S. 4 N 6: „ihr Rang der Verfassung zumindest nahe steht“; PETERS, Völkerrecht, S. 200 N 35: „QuasiVerfassungsgerichtsbarkeit“ (im Original fettgedruckte Hervorhebung); RHINOW/ SCHEFER, S. 731 N 3644: „… nach schweizerischer Praxis Verfassungsrang“, dazu auch näher S. 212 ff. N 1047 ff.; HÄFELIN/HALLER/KELLER, S. 575 N 1926 a, 1926 b: „Funktional kommt der EMRK die Rolle einer völkerrechtlichen Nebenverfassung zu …“ (N 1926 a, Hervorhebung Häfelin/Haller/Keller); GIEGERICH, Konkordanzkommentar, Kap. 2 N 40. Siehe näher zur Rechtkraftwirkung und zu den einzelnen vom verurteilten Vertragsstaat zu beachtenden Aspekten der rechtlichen Verbindlichkeit des EGMR-Urteils GRABENWARTER, S. 92 ff.; ESSER, S. 834 ff. GRABENWARTER, S. 98 N 9 mit Verweis auf Frowein/Villiger; siehe auch ESSER, S. 841: „mittelbare Zwang zur Rezeption“; SOMMER, StraFo 2002, S. 310. Siehe zu dieser faktischen Wirkung in Form der Appell- und Orientierungswirkung der Urteile des EGMR für alle und damit auch die nicht verurteilten Vertragsstaaten etwa GRABENWARTER, S. 98 f. N 9; ESSER, S. 835, 839 ff.: „faktische(n) Zwangsbzw. Appellwirkung“ (S. 835), „Orientierungsfunktion“ (S. 839); deutlich und zutreffend auch AMBOS, Internationales Strafrecht 2011, S. 403 N 8: „jedenfalls eine faktische Orientierungswirkung oder Appellfunktion für alle Vertragsstaaten der EMRK im Sinne einer erga-omnes-intra-partes-Wirkung“ (hier kursive, im Originaltext fettgedruckte Hervorhebung: Ambos) sei heute nicht mehr zu bestreiten; siehe dazu auch WARNKING, S. 12 ff., 21 ff.; SOMMER, StraFo 2002, S. 310: „normative Leitfunktion“ mit „faktisch verbindlich(er)“ Darstellung.
Kapitel 4: «Menschenrecht auf Verteidigung»
nicht verurteilten Vertragsstaaten der EMRK. Auch wenn das EGMR-Urteil letztere nicht unmittelbar rechtlich bindet, sind die nichtverurteilten Vertragsstaaten dennoch (zum Ersten) in ihre rechtliche Bindung an die EMRK selbst eingestellt und unterstehen (zum Zweiten) einem jedenfalls faktischen Zwang,1552 zur Vermeidung einer zukünftigen Feststellung einer EMRKVerletzung infolge der Nichtbefolgung der in dem Urteil des EGMR konkretisierten menschenrechtlichen Garantien zu überprüfen, ob und in welcher Weise eventuell notwendige Anpassungen und Veränderungen auch innerhalb ihrer nationalen Rechtsordnung vorzunehmen sind, um dem durch das Urteil des EGMR konkretisierten und ausdifferenzierten Geltungsgehalt der EMRKGarantien zu entsprechen.1553 Auch wenn eine ebensolche formelle (Rechts-)Verbindlichkeit der EMRK, wie sie für ihre Vertragsstaaten besteht, für die internationale Strafgerichtsbarkeit – infolge fehlender Stellung als Vertragspartei der Konvention – nicht gegeben ist,1554 übt die EMRK dennoch auch auf die Spruchpraxis der internationalen Strafgerichte eine äusserst wichtige Leit- und Appellwirkung1555 aus. Nicht aber nur die EMRK als solche, sondern ebenso die Bedeutung der Rechtsprechung des EGMR als Rechtserkenntnisquelle für die internationale Strafgerichtsbarkeit ist auch im Bereich des Strafverfahrensrechts und der hier zu schützenden prozessualen Menschenrechte sichtbar gemacht.1556 Eine 1552 1553
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So auch ESSER, S. 835, 841; AMBOS, Internationales Strafrecht 2008, S. 362 N 12. Dazu auch GRABENWARTER, S. 98 N 9: „rechtliche(n) Bindung an die Konvention in der durch den EGMR konkretisierten Wirkung“ (Hervorhebung Demko). Siehe auch ZAPPALÀ, S. 9; SAFFERLING, EMRK, S. 157, 159: „… der ICC keine Vertragspartei der EMRK ist“ (S. 159) und eine „unmittelbare Bindung des ICC an die EMRK würde eine Mitgliedschaft des Gerichts im Europarat voraussetzen. Das ist weder für den ICC noch für die beiden UN-Tribunale der Fall …“ (S. 157). Zur Leit- und Appellfunktion der Rechtsprechung des EGMR mit Bezug auf die nationalen (nicht Prozessparteien seienden) Vertragsstaaten siehe ESSER, S. 839 ff.; AMBOS, Internationales Strafrecht 2011, S. 403 N 8; siehe zur Anleitungsfunktion der Rechtsprechung des EGMR für die Auslegung und Anwendung der für das ICTY geltenden Regelungen etwa KAMARDI, S. 148 f.; zudem SAFFERLING, EMRK, S. 157 ff. zu Fragen verschiedener (rechtlicher und faktischer) Bindungs- und Einflusswirkungen der EMRK auf das Völkerstrafprozessrecht, zur EMRK als „Erkenntnisquelle“ (S. 159) und zu deren Bedeutung im Rahmen der „menschenrechtskonformen Auslegung“ (S. 160): „einzigartige Informations- und Erkenntnisquelle“ (S. 160). Zu den für das Völkerstrafrecht bedeutenden Rechts- und Rechtserkenntnisquellen nach Art. 38 IGH-Statut sowie der für den ICC aufgestellten Hierarchie in Art. 21 ICC-Statut siehe etwa AMBOS, Internationales Strafrecht 2011, S. 95 ff.; WERLE, S. 59 ff.; siehe auch DEMKO, Kanonisierung, S. 133 ff.; zu gerichtlichen Entscheidungen als „subsidiäre Rechtserkenntnisquelle“ (S. 88, Hervorhebung Benzing) auch näher BENZING, S. 88 ff.; siehe auch KNOOPS, S. 163, der mit Bezug auf Art. 21 Abs. 1 b ICC-Statut u.a. auf die EMRK und den IPbpR hinweist; siehe zudem den, wenn auch
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klare und eindeutige Zuordnung der internationalen Menschenrechtsinstrumente, wie des IPbpR und der EMRK, zu den Rechtsquellen des Art. 38 IGHStatut ist in der Rechtsprechung der internationalen Strafgerichte bisher zwar nicht erfolgt,1557 jedoch ist die wichtige Bedeutung der EMRK und der zu dieser ergangenen Rechtsprechung des EGMR mit Blick auf ihre Auslegungsfunktion («guidance» bzw. «assistance in applying and interpreting») auch für die internationalen Strafgerichte (an)erkannt1558 und wird durch wiederholte Bezugnahmen der internationalen Strafgerichte auf die Spruchpraxis des EGMR in besonderer Weise betont.1559
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nur kurzen Hinweis von WERLE, S. 72 FN 348 auf Art. 21 Abs. 3 ICC-Statut, wonach die Anwendung und Auslegung des Rechts nach diesem Artikel mit den international anerkannten Menschenrechten vereinbar sein muss und dies „vor allem auch für die Rechte des Angeklagten“ bedeutsam sei; zu Fragen nach ius cogens und Völkergewohnheitsrecht vgl. etwa BOAS, S. 17 f.; SAFFERLING, S. 37 ff.; siehe zudem ZAPPALÀ, S. 5 f., 9; zur Bedeutung der EMRK als Rechtserkenntnisquelle im Zusammenhang mit den Gemeinschaftsgrundrechten siehe näher STIEGLITZ, S. 108 ff. Dazu auch KAMARDI, S. 148; siehe die Ausführungen zu den Rechtquellen etwa in ICTY, Prosecutor v. Duško Tadić, Decision on the Prosecutor`s Motion Requesting Protective Measures for Victims and Witnesses, Case No. IT-94-1-T, 10.08.1996, paras. 17 ff. Siehe aus dem Schrifttum KAMARDI, S. 148 f., 163; siehe auch die Ausführungen von AMBOS, Internationales Strafrecht 2011, S. 99 N 9 zu der dreifachen Bedeutung der Rechtsprechung im Rahmen des Art. 38 IGH-Statut mit Blick auf Art. 38 Abs. 1 b), Abs. 1 c) sowie Abs. 1 d) IGH-Statut. Siehe etwa die Bezugnahme des ICTY auf Art. 6 III d EMRK und auf eine Vielzahl von zu dieser menschenrechtlichen Regelung („… human rights norms (for example, Article 6 (3)(d) of the European Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms …) …“) ergangenen Entscheidungen des EGMR in ICTY, Prosecutor v. Galić, Decision on Interlocutory Appeal Concerning Rule 92 bis (C), IT-98-29-AR73.2, 07.06.2002, para. 12 FN 34: Angeführt sind hier die Entscheidungen des EGMR in den Fällen Unterpertinger v. Austria, Kostovski v. The Netherlands, Vidal v. Belgium, Lüdi v. Switzerland, Artner v. Austria, SaÏdi v. France, Doorson v. The Netherlands, Van Mechelen v. The Netherlands, A.M. v. Italy, Lucà v. Italy, Solacov v. Former Yugoslav Republic of Macedonia; siehe auch ICTY, Prosecutor v. Blaškić, Decision on the Standing Objection of the Defence to the Admission of Hearsay with no Inquiry as to its Reliability, Case No. IT-95-14-T, 21.01.1998, paras. 4, 8 zur Zulassung von Zeugnissen vom Hörensagen: Genannt sind hier die Entscheidungen des EGMR in den Fällen Kostovski v. The Netherlands, Windisch v. Austria, Delta v. France und Unterpertinger v. Austria; ICTY, Prosecutor v. Zejnil Delalić et al., Decision on the Motions by the Prosecution for Protective Measures for the Prosecution Witnesses Pseudonymed “B” Through to “M”, Case No. IT-96-21-T, 28.04.1997, paras. 54, 55 mit Bezugnahme auf Art. 14 IPbpR und Art. 6 EMRK sowie unter Aufführung der Urteile des EGMR Kostovski v. The Netherlands und Unterpertinger v. Austria; siehe ebenso zur betonten Bedeutung der Rechtsprechung des EGMR
Kapitel 4: «Menschenrecht auf Verteidigung»
Neben der Bezugnahme auf internationale Menschenrechtsinstrumente, wie etwa die AMRK und die Afrikanische Banjulcharta, sind es insbesondere immer wieder der IPbpR – dessen Regelungen in Art. 14 IPbpR als Ausgangspunkt1560 der entsprechenden, die IPbpR-Regelungen spiegelnden («mirror») Bestimmungen für das ICTY in Art. 20, 21 ICTY-Statut angesehen sind1561 – sowie die als Vorbild dienende Europäische Menschenrechtskonvention, die in ihrer Bedeutung für die internationalen Strafverfahren vor dem ICTY betont werden.1562 Die sich in jenen Menschenrechtsinstrumenten – durch die Rechtsprechung (bezogen auf die EMRK durch den EGMR) näher – ausgeformten normativen Ansprüche an ein menschenrechtswahrendes faires Strafverfahren unter Beachtung der Verteidigungsrechte des Angeklagten dienen dem ICTY als Unterstützung und Anleitung für die Auslegung und Anwendung von Regelungen des ICTY-Statuts («guidance as to how to interpret») und für die Beantwortung der Frage, was an menschenrechtlich normierten Standards auch in dem sui generis-Verfahrensrechtssystem internationaler Strafgerichte zu beachten ist.1563 In diesem Sinne führt das ICTY etwa im Fall Prosecutor v. Milan Kovačević aus:
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in ICTY, Prosecutor v. Zdravko Mucić, Hazim Delić and Ezad Landžo, Judgment on Sentence Appeal, IT-96-21-Abis, 08.04.2003, para. 49. Siehe etwa ICTY, Prosecutor v. Duško Tadić, Decision on the Prosecutor`s Motion Requesting Protective Measures for Victims and Witnesses, Case No. IT-94-1-T, 10.08.1996, para. 25: „source“. Siehe etwa ICTY, Prosecutor v. Milan Kovačević, Decision stating reasons for appeals chamber`s order of 29.05.1998, IT-97-24-AR73, 02.07.1998, para. 28: „… the right of the accused to a fair and expeditious trial, as enshrined under Article 20, paragraph 1, and Article 21, sub-paragraph 4(c), of the Statute. These statutory provisions mirror the protection offered under Article 14(3) of the International Covenant on Civil and Political Rights …“ (Hervorhebung Demko); siehe auch ICTY, Prosecutor v. Zejnil Delalić et al., Decision on the Motions by the Prosecution for Protective Measures for the Prosecution Witnesses Pseudonymed “B” Through to “M”, Case No. IT-96-21-T, 28.04.1997, para. 55: „… Article 6 of the ECHR and Article 14 ICCPR which are nearly identical to Article 21 (4)(e) of the Statute of the International Tribunal are relevant ... “ (Hervorhebung Demko). Siehe dazu auch die Ausführungen von KAMARDI, S. 142, 148. Siehe zum sui generis-Rechtssystem des ICTY aus der Rechtsprechung des ICTY etwa ICTY, Prosecutor v. Blaškić, Decision on the Standing Objection of the Defence to the Admission of Hearsay with no Inquiry as to its Reliability, Case No. IT-95-14T, 21.01.1998, para. 5: „… The International Tribunal is, in fact, a sui generis institution with its own rules of procedure which do not merely constitute a transposition of national legal systems. The same holds for the conduct of the trial which … is not similar to an adversarial trial, but is moving towards a more hybrid system …“ (Hervorhebung ICTY); ausführlicher dazu auch ICTY, Prosecutor v. Duško Tadić, Decision on the Prosecutor`s Motion Requesting Protective Measures for Victims and
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„… The right of an accused to be informed promptly of the nature and cause of the charges against him, enshrined in similar terms in Article 6 (3)(a) of the ECHR, Article 14 (3)(a) of the ICCPR and Article 21, sub-paragraph 4(a) of the Statute of the International Tribunal, constitutes one element of the general requirement of fairness that is a fundamental aspect of a right to a fair trial. The following common general principles which may be derived from the practice of the European Court of Human Rights in relation to Article 6 of the ECHR provide some guidance as to how to interpret the requirements set out in Article 21, sub-paragraphs 4(a) and (c) of the Tribunal`s Statute: firstly, that the accused`s right to be informed promptly of the charges against him has to be assessed in light of the general requirement of fairness to the accused; secondly, that the information provided to the accused must enable him to prepare an effective defence …“1564
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Ebenso betont Richter David Hunt in seiner Dissenting Opinion im Fall Prosecutor v. Nikola Šainović&Dragoljub Ojdanić die Bedeutung der Rechtsprechung des EGMR als überzeugende, zur Nachahmung empfohlene Autorität («persuasive authority»), welche als Hilfe für die Anwendung und Auslegung («assistance in applying and interpreting») des für das ICTY anwendbaren Rechts dienen kann:
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„… This Tribunal is not a European Court, and it is not bound by the jurisprudence of the ECHR, although it will always have due regard to it, and to the European Convention and all other relevant human rights treaties – the jurisprudence as persuasive authority which may be of assistance in applying and interpreting the Tribunal`s applicable law, and the treaties as authoritative evidence of customary international law in relation to some of their provisions …“1565
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Gerade die – auch wechselseitigen – Bezugnahmen zwischen dem ICTY und dem EGMR sowie ebenso die Berücksichtigung von Rechtsregelungen und Rechtsfiguren aus nationalen Rechtsordnungen (etwa des Common Law-, aber ebenso des Civil Law-Rechtskreises1566) machen die besondere Bedeutung der
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Witnesses, Case No. IT-94-1-T, 10.08.1996, paras. 18 ff., insbesondere paras. 18, 22, 23, 27. ICTY, Prosecutor v. Milan Kovačević, Decision stating reasons for appeals chamber`s order of 29.05.1998, IT-97-24-AR73, 02.07.1998, para. 30 (Hervorhebung Demko), siehe zudem die ausdrückliche Bezugnahme auf Art. 14 Abs. 3 IPbpR in para. 28. ICTY, Prosecutor v. Nikola Šainović&Dragoljub Ojdanić, Appeals Chamber, IT-9937-AR65, 30.10.2002, Dissenting Opinion of Judge David Hunt on Provisional Release, S. 42 N 75 (Hervorhebung Demko); siehe dazu auch BOAS, S. 74 f. Siehe etwa ICTY, Prosecutor v. Zejnil Delalić et al., Decision on the Motions by the Prosecution for Protective Measures for the Prosecution Witnesses Pseudonymed “B” Through to “M”, Case No. IT-96-21-T, 28.04.1997, para. 55, wo neben der Bezugnahme auf Art. 14 IPbpR und Art. 6 EMRK auch auf die „confrontation clause of the Sixth Amendment to the United States Constitution“ sowie auf die Entscheidung des United States Supreme Court Delaware v. Fensterer hingewiesen wird. Neben der häufigen Bezugnahme des ICTY auf Elemente des common law-Rechtskreises wird
Kapitel 4: «Menschenrecht auf Verteidigung»
(Straf-)Rechtsvergleichung als eines eigenständigen Auslegungscanons für die internationale Strafgerichtsbarkeit sowie die unverzichtbare und wertvolle Rolle der (Straf-)Rechtsvergleichung für das internationale Strafrecht und Strafprozessrecht und die hier erforderliche Entwicklung einer „autonomen völkerstrafrechtlichen, transnationalen Begrifflichkeit“1567 sichtbar.1568 Es erweist sich das die EMRK auszeichnende Moment der Offenheit für die verschiedenen Strafverfahrens«formen» bzw. -systeme ihrer Vertragsstaaten zudem auch für die internationalen Strafgerichte mit dem ihre Strafverfahren kennzeichnenden eigenständigen sui-generis-Charakter als relevant und wertvoll: Gerade diese die EMRK auszeichnende Offenheit bezüglich der Frage, wie bzw. auf welche Art und Weise ihre menschenrechtlichen Garantien in
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mit Hinweis auf den das internationale Strafrecht kennzeichnenden eklektischen Charakter aber ebenso zum Ausdruck gebracht, dass nationalen Rechtsquellen und Elementen aus den nicht dem common law-Rechtskreis angehörenden Ländern aber nicht weniger Bedeutung und Gewicht zukomme, siehe etwa ICTY, Prosecutor v. Duško Tadić, Decision on the Prosecutor`s Motion Requesting Protective Measures for Victims and Witnesses, Case No. IT-94-1-T, 10.08.1996, para. 22: „… utilization of both common law and civil law aspects … the International Tribunal constitutes an innovative amalgam of these two systems …“ (Hervorhebung Demko); ICTY, Dražen Erdemović, Joint Separate Opinion of Judge McDonald and Judge Vohrah, IT-96-22-A, 07.10.1997, para. 46: „… the essentially eclectic character of international criminal law, borrowing, as it does, from various legal systems, often haphazardly …“ (Hervorhebung Demko); zur Kritik an der häufigen Bezugnahme des ICTY auf Elemente des common law-Rechtskreises siehe etwa KAMARDI, S. 164 f. STUCKENBERG, Vorsatz und Irrtum, S. 31. Siehe zur wichtigen Rolle der Strafrechtsvergleichung auch die Ausführungen von AMBOS, Internationales Strafrecht 2011, S. 98 f. N 8.; zum kontrovers diskutierten Gesichtspunkt der Bedeutungserstarkung der (Straf-)Rechtsvergleichung zu einem eigenständigen Auslegungscanon siehe etwa BURGHARDT, S. 235, wonach die Rechtsvergleichung in der völkerstrafrechtlichen Rechtsprechung einen „prominenteren Platz“ einnimmt als in der deutschen Rechtsprechung; JUNG, GA 2005, S. 6 f. zur sog. „rechtsvergleichende(n) Auslegungsmethode“ (S. 6, Hervorhebung Jung); SCHRAMM, S. 177 unter Verweis auf die sich auf das Verfassungsrecht beziehende Forderung von Häberle, welche „ohne weiteres auch für die strafrechtliche Methodenlehre erhoben werden“ könne; zu Häberles Forderung im Einzelnen siehe HÄBERLE, JZ 1989, S. 916 ff.: „Die „Kanonisierung“ der Rechtsvergleichung als „fünfter“ Auslegungsmethode …“ (S. 917); TSCHENTSCHER, JZ 2007, S. 813: „gerechtfertigt, sie als eigenständiges Element anzusehen und … als „fünfte Methode“ neben die übrigen treten zu lassen“ (Hervorhebung Demko); Bedenken gegen eine Erstarkung zu einem eigenständigen fünften Auslegungscanon werden hingegen angeführt etwa von VOGEL, S. 206; STARCK, JZ 1997, S. 1024: „Überspitzt und daher miβverständlich … in Wirklichkeit ist sie ein Element der Teleologie“.
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Kapitel 4: «Menschenrecht auf Verteidigung»
den verschiedenen Strafverfahrenssystemen umgesetzt werden,1569 trägt ein vertrauensbildendes und vertrauensstärkendes Potential in sich, die menschenrechtlichen Garantien der EMRK auch in dem sui generis-Rechtssystem der internationalen Strafgerichte anwenden zu können, ohne dabei gleichzeitig der erforderlichen Beachtung der Besonderheiten dieses sui generisRechtssystems verlustig zu gehen. Verknüpft ist dieses mit dem Moment der „Modelloffenheit“1570 der EMRK einhergehende vertrauensbildende und vertrauensstärkende Potential der Konvention zudem mit der Chance, auch den Willen und die Bereitschaft der internationalen Strafgerichte zu stärken, im Rahmen der von ihnen zu beachtenden internationalen Menschenrechtsstandards neben etwa dem IPbpR und anderen regionalen Menschenrechtskonventionen auch die menschenrechtlichen Garantien der EMRK zu beachten und diese, und zwar eben unter Berücksichtigung der Besonderheiten ihres eigenständigen sui generis-Rechtssystems, in ihre internationalen Strafverfahren einfliessen zu lassen.1571 Mehr noch ist es insbesondere diese Offenheit der EMRK für verschiedene Strafverfahrens«formen» und damit auch eine Offenheit für ein sich herausbildendes sui generis-Rechtssystem, welche es schon von der Sache her nicht gestatten würde, einen Rückzug auf die Eigenheiten und Spezifika – eines Strafverfahrenssystems im Allgemeinen sowie sodann auch im Besonderen – des sui generis-Rechtssystems der internationalen Strafverfahren als schlichte Argumentationsbasis und Begründung dafür heranzuziehen, die internationalen Menschenrechtsgarantien (etwa auch der EMRK) angeblich nicht anwenden zu können und entsprechend nicht anzuwenden.1572
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Siehe zu den Zielvorgaben der EMRK hinsichtlich dessen, dass die EMRK-Garantien eingehalten werden, jedoch unter der Offenheit der EMRK dafür, wie die Zielvorgaben in den Vertragsstaaten umgesetzt werden, etwa GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 177, 183, 191: „die EMRK … regelmäβig nur das Ziel vorschreibt (insbesondere Gewährleistung des »fair trial«), nicht aber den Weg dorthin“ (S. 191); ESSER, S. 836; GAEDE, S. 463 f. GAEDE, S. 461, der diese Modelloffenheit der EMRK in Bezug auf die Vertragsparteien der EMRK näher ausführt, siehe S. 461 ff. Dass dieses Potential der EMRK tatsächliche Wirkung entfaltet, zeigt sich an der wiederholten Bezugnahme des ICTY auf vielzählige Rechtsprechungsentscheidungen des EGMR, siehe dazu die Angaben in den vorangehenden Fussnoten. Dazu in Bezug auf die Vertragsstaaten der EMRK näher GAEDE, S. 462 ff.: „Verweis auf ein bestimmtes nationales Modell … tatsächlich keine tragfähige Argumentationsgrundlage für eine Ausnahme bzw. für eine Absenkung …“ (S. 462).
Kapitel 4: «Menschenrecht auf Verteidigung»
B.
Inhalt und Ausübungsstrukturen des Menschenrechts auf Verteidigung im Straf- und strafprozessualen Beweisverfahren
In einer Zusammenführung der dialektischen Betrachtung des «Erkenntnisverfahrens: Strafverfahren» einerseits mit der ebenso an das Strafverfahren angelegten menschenrechtlichen bzw. menschenrechtsschützenden Bedeutungsebene – genauer der sich auf den Angeklagten beziehenden menschenrechtlichen Bedeutungsebene – andererseits gilt es nun, das «Menschenrecht auf Verteidigung» als das Kernmoment des (Gesamt-)Menschenrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren in Hinblick auf seinen spezifischen Inhalt und auf seine inhaltsverwirklichenden Ausübungsstrukturen näher zu untersuchen. Zum Ersten werden dieser Untersuchung die gewonnenen Erkenntnisse zum dialektischen Charakter des Strafverfahrens und zum Erfordernis von im strafverfahrensrechtlichen Erkenntnisverfahren zu beachtender These und Antithese zugrunde gelegt. Es kommen als Untersuchungsgrundlage zum Zweiten die gewonnenen Erkenntnisse aus den philosophischen und psychologischen Begründungslinien und aus den normativen Verankerungen des Menschenrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren in menschenrechtlichen und strafverfahrensrechtlichen Rechtsinstrumenten hinzu. Zum Dritten wird eine Anknüpfung speziell an das menschenrechtsschützende Referenzsystem1573 der EMRK einschliesslich der Rechtsprechung des EGMR gewählt, bei welchem sich eine an das Strafverfahren angelegte individual-menschenrechtsschützende Sicht – und bei Art. 6 EMRK noch dazu speziell unter Anbindung an den Angeklagten und seinen Menschenrechtsschutz – gezeigt hat.
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Unter Beachtung und Einbezug dieser Untersuchungsgrundlagen ist es Ziel der folgenden Darstellungen, die dialektischen Erkenntnisse mit den menschenrechtlichen Erkenntnissen zum Strafverfahren zu verbinden, um auf diese Weise den spezifischen Inhalt des Menschenrechts auf Verteidigung sichtbar zu machen. Zu beantworten ist hierbei die Frage: Könnte der spezifische Kerninhalt des Menschenrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren in einem Menschenrecht auf Verteidigung liegen, welches sich – in einer Verknüpfung von menschenrechtlichen und dialektischen Erkenntnissen – als ein «Menschenrecht auf Antithese» ausprägt?1574
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Der herauszuarbeitende spezifische Inhalt bzw. – es liesse sich auch sprechen von dem – Wesensgehalt des Menschenrechts auf Verteidigung ist sodann mit seiner Ausübungsebene zu verbinden: Es ist hier zu untersuchen, was es an
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1573 1574
Siehe dazu auch HECKER, in: MARAUHN, S. 36. Siehe dazu unter Kap. 4 B. I.
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Kapitel 4: «Menschenrecht auf Verteidigung»
Ausübungsrechten und Ausübungselementen braucht und in welcher Art und Weise diese durch die EMRK und den EGMR normativ geformt sind, um dem Menschenrecht auf Verteidigung auch zur praktischen Wirksamkeit, d.h. in einem jeden Einzelfall eines Strafverfahrens auch zur tatsächlich konkreten und praktischen Verwirklichung zu verhelfen.1575
I. 509
Das Menschenrecht auf Verteidigung und dessen Inhaltsebene
Das Strafverfahren einschliesslich des sich auf die Tatsachenfeststellung beziehenden strafprozessualen Beweisverfahrens weist sich als ein wahrheitsgerichtetes Erkenntnisverfahren aus, welches auf seinem Weg zur Ermittlung der Wahrheit als ein Objektivität zu wahren habendes dialektisches Erkenntnisverfahren zu charakterisieren und hierbei vom dem zu erfüllenden Erfordernis der Beachtung von These und Antithese geprägt ist.1576 Dem Angeklagten ist hierbei das Erfordernis der Antithese zugewiesen, mit der er sich gegen die strafverfolgende These der anklagenden Seite stellen bzw. sich in Widerspruch zu dieser stellen kann.1577 Den Blick von der Ganzheitsebene, der Strafverfahrensebene, sodann auf eines ihrer Teile, nämlich die Person des Angeklagten, richtend, sucht die Frage nach dem Inhalt eines Menschenrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren danach, welche Bedeutung gerade dem Angeklagten in diesem die Erfordernisse von These und Antithese zu wahren habenden wahrheitsgerichteten Strafverfahren nun vom Recht, und zwar von den menschenrechtlichen und strafverfahrensrechtlichen Rechtsinstrumenten normativ zugesprochen ist. Gestützt durch philosophische und psychologische Begründungslinien und auf der Grundlage normativer Verankerungen eines Menschenrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren auf nationaler, europäischer und internationaler Menschenrechts- und Strafverfahrensrechtsebene hat sich das aus der Menschenwürde des Angeklagten und dessen Anerkennung als Prozesssubjekt ableitende Menschenrecht des Angeklagten auf eine aktive und wirksame Teilnahme am Straf- und strafprozessualen Beweisverfahren zu seiner Verteidigung als das entscheidende Grundmoment seines Menschenrechts auf ein faires Strafverfahren erkenntlich gezeigt.1578 1575 1576 1577
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Siehe dazu unter Kap. 4 B. II. und III. Siehe dazu bereits unter Kap. 2 B. I. und II. Siehe dazu auch HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, S. 168 N 22; MÜLLER, ZStrR 1979, S. 169; dazu auch bereits unter Kap. 2 B. II. 4. Siehe zu den philosophischen und psychologischen Begründungslinien unter Kap. 3 B. II. und zu den Verankerungen in menschenrechtlichen und strafverfahrensrechtlichen Rechtsinstrumenten unter Kap. 3 B. III.; siehe auch etwa KOHLBACHER, S. 125: „Möglichkeit …, das Verfahren aktiv mitzugestalten und zu beeinflussen“; siehe zu-
Kapitel 4: «Menschenrecht auf Verteidigung»
Diese gewonnenen Ausgangserkenntnisse gilt es im Folgenden zusammenzuführen:1579 Bei dem dem Angeklagten wirksam einzuräumenden Teilnahmerecht geht es nicht um eine Teilnahme an «irgendeinem» Verfahren, sondern eingestellt in das Straf- und Beweisverfahren gerade um eine Teilnahme an dem strafprozessualen Wahrheitsermittlungsweg,1580 an dem Prozess der Wahrheitsermittlung selbst und – noch genauer werdend – an dem Dialektischen dieses Wahrheitsermittlungsprozesses. Zu ermöglichen ist, wenn von einem Recht des Angeklagten auf Teilnahme am Straf- und Beweisverfahren als Prozesssubjekt gesprochen wird, eine Teilnahme an dieser von einem dialektischen Straf- und Beweisverfahren zu gewährenden Einheit von These und Antithese. Im Rahmen der Ausführungen zur Charakterisierung des Strafund Beweisverfahrens als dialektisches Erkenntnisverfahren wurde (bewusst) vom Erfordernis von These und Antithese gesprochen und es ist noch keine Verbindung zu einer menschenrechtlichen Bedeutungsebene zum Strafverfahren hergestellt worden. Die vertiefende Herausarbeitung einer solchen menschenrechtlichen Bedeutungsebene, und zwar unter Anknüpfung speziell an die Person des Angeklagten, ist erst im Rahmen der Untersuchungen zu den philosophischen und psychologischen Begründungslinien und den normativen Verankerungen des Menschenrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren in den Menschenrechts- und Strafverfahrensrechtsinstrumenten erfolgt. Gezeigt hat sich hier das dem Angeklagten normativ zugesprochene Menschenrecht auf ein faires Strafverfahren in seiner engen Verknüpfung mit dem dem Angeklagten für dessen wirksame Verteidigung einzuräumenden, aus dessen Menschenwürde fliessenden Recht auf Teilnahme als Prozesssubjekt am Straf- und Beweisverfahren.
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Diese zwei unterschiedlichen – einmal die Verfahrens- als Ganzheitsebene und einmal das Verfahren aus der noch dazu menschenrechtsschützenden Sicht eines seiner Teile, nämlich der Person des Angeklagten, betrachtenden1581 – Sichtweisen auf das Strafverfahren machen mit dem dialektischen
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dem SUMMERS, S. 73 ff.: „presence and potential for participation of the person who is the subject of the criminal charge“ (S. 73), „to challenge the evidence against them“ (S. 73), „no longer seen just as an individual, but rather as, in the context of 'the defence', a party to the proceedings“ (S. 75). Siehe auch KÜHNE, Kommunikationsproblem, S. 59 ff. zu der Wahrheitsfindung und dem Individualschutz als Voraussetzungen für Gerechtigkeit. Siehe auch MÜLLER-DIETZ, ZStW 1981, S. 1181 zur Verortung des Beschuldigten im Verfahren und zu dem Zusammenhang von Verfahrenszielen, Verfahrensstrukturen und Rollenzuweisungen: „Rahmen des sozialen Handlungsfeldes …, in dem die Beteiligten agieren (sollen und dürfen)“ (Hervorhebung Demko). Siehe auch WIEDERKEHR, S. 302 f. zur Hinzunahme der „Perspektive des potentiell Betroffenen“ (S. 303) bezogen auf den Prozess der Normerzeugung sowie zu dessen Ausführungen zur individuellen Gerechtigkeit, S. 185 ff., 301 ff. im Unterschied zur Hintergrundgerechtigkeit, S. 65 ff.; BOTTKE, Verfahrensgerechtigkeit, S. 61, wonach
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Charakter des Strafverfahrens als Erkenntnisverfahren und mit dem an das Strafverfahren (normativ) angelegten Anspruch, ein menschenwürde- und menschenrechtswahrendes Strafverfahren zu sein, die zwei Anforderungen sichtbar, die es für ein faires Strafverfahren zu verbinden gilt: 512
Bei einem dem Angeklagten zu gewährenden fairen Strafverfahren hat es (erstens) um ein eben jene erforderliche Einheit von These und Antithese gewährendes Straf- und Beweisverfahren zu gehen, was seinem Charakter als dialektisches Erkenntnisverfahren geschuldet ist und was sich – auch wenn der EGMR nicht ausdrücklich von der Dialektik des Strafverfahrens spricht – auch in der Rechtsprechung des EGMR mit dessen Forderung nach einem kontradiktorischen, nach einem «adversarial» Strafverfahren widerspiegelt.1582 Der EGMR betont gerade auch in Bezug auf das strafprozessuale Beweisverfahren die notwendige Wahrung dieses «adversarial»-Verfahrenserfordernisses und hinzu kommt seine Rechtsprechung zur Waffengleichheit, welche das materiell gleichberechtigte Einbringen von den Angeklagten Belastendem und Entlastendem – womit das Thesen- und Antithesenhafte angesprochen ist – verlangt.1583 Zu diesem Recht des Angeklagten auf ein kontradiktorisches, das Thesen- und Antithesenhafte gleichermassen einfliessen lassende Straf- und Beweisverfahren kommt (zweitens) aus der zu achtenden Menschenwürde des Angeklagten folgend hinzu, dass diese dialektisch erforderliche Einheit von These und Antithese nicht ohne den Angeklagten allein durch das Gericht und die anderen Verfahrensbeteiligten verwirklicht werden darf. Vielmehr erfordern der Menschenwürde- und Menschenrechtsschutz, dass gerade der Angeklagte als Prozesssubjekt Teil hat an und Teil ist dieser Einheit von These und Antithese, indem er selbst als Prozesssubjekt in wirksamer Weise das Antithetische im Strafverfahren zur Geltung und Ausübung bringen kann.1584
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ein faires Verfahren „bereitwillig die Würde und Personenautonomie des Beschuldigten (ehrt)“. Siehe dazu unter Kap. 4 A. I.; PIETH, Beweisantrag, S. 284: „dialektische Struktur des Prozesses“. Siehe zur Waffengleichheit unter Kap. 4 B. III. 2. Dazu auch PIETH, Beweisantrag, S. 290, 297: „Nur die Beteiligung am effektiven Prozess, d.h., an den Phasen, in denen Hypothesen gebildet und überprüft, vor allem aber die massgeblichen Protokolle erstellt werden, rechtfertigt es, den Beschuldigten als Prozesssubjekt zu bezeichnen“ (S. 290, Hervorhebung Demko), zur Verbindung von Dialektik und Menschenwürde zudem instruktiv S. 297, wonach die „Dialektik, und zwar nicht das innere Zwiegespräch des Richters mit sich selbst, sondern die reale Auseinandersetzung möglichst “interessierter“ Rollenträger … also nicht nur unverzichtbares Erkenntnisprinzip (ist), sie ist auch ein Gebot der Menschenwürde“ (S. 297, Hervorhebung Pieth: «reale», «Menschenwürde», übrige Hervorhebung Demko); VELTEN, S. 169: „Anerkennung der Würde einer Person gebietet zugleich die
Kapitel 4: «Menschenrecht auf Verteidigung»
Es geht um die dem Angeklagten wirksam zu gewährende aktive Mitwirkungsmöglichkeit bei dem Einführen antithetischer Momente in den strafprozessualen Wahrheitsermittlungsprozess,1585 mithin um das ihm einzuräumende Recht auf eine wirksame antithetische Teilnahme als Prozesssubjekt am Straf- und Beweisverfahren, das sich aus der Verbindung von dialektischer und menschenrechtlicher Erkenntnis zum Strafverfahren für den Angeklagten und dessen Menschenrecht auf ein faires Strafverfahren herauskristallisiert. Nicht nur überhaupt ein Recht auf «irgendeine» Art von Teilnahme als Prozesssubjekt macht das Menschenrecht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren aus, sondern unter Betonung gerade des dialektischen Charakters des Straf- und Beweisverfahrens1586 und der hier zu wahrenden Einheit von These und Antithese kennzeichnet und konkretisiert sich dieses Recht des Angeklagten auf Teilnahme am Strafverfahren als Prozesssubjekt gerade als
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Achtung ihrer Argumentationsfähigkeit, also auch ihrer Argumente. Läβt man eine Person nicht „zu Wort kommen“, räumt man ihr keine Subjektstellung ein …“ (Hervorhebung Demko); KÜHNE, Kommunikationsproblem, S. 11, 69 f. zur „doppelte(n) Funktion“ (S. 11) der „Anerkennung des nicht länger rechtlosen Individuums“ (S. 11): Wahrung der Würde des Menschen und das dem Individuum Ermöglichen der Beteiligung an der Ermittlung, siehe zudem die Ausführungen zum rechtlichen Gehör S. 69 f., wonach sich Kommunikation als „konstituierende(s) Merkmal in der Wahrheitserforschung“ (S. 69) darstellt, der Beschuldigte, dem rechtliches Gehör eingeräumt wird, „in die Rolle des aktiv Kommunizierenden“ (S. 69) überwechselt und der Beschuldigte „das kommunikative Geschehen initiativ beeinflussen und die übrigen Verfahrensbeteiligten zwingen (kann), seinen Kommunikationsstil – sei es auch nur in ablehnender Form – aufzugreifen, sich ihm zu stellen“ (S. 70, Hervorhebung Demko); ZIPPELIUS, Festschrift Larenz, S. 298: „handelnde Prozeβsubjekte“; HASSEMER, Grundlagen, S. 139 ff.: „Möglichkeit des Betroffenen, sich einzumischen und den Verstehensprozeβ argumentativ zu beeinflussen“ (S. 139), „Recht auf Intervention, auf Mit-Steuerung der Fallherstellung“ (S. 141, Hervorhebung Hassemer: «Intervention», übrige Hervorhebung Demko); THEILE, S. 323 ff. zur „(G)leichberechtigte(n) und effektive(n) Partizipation“ (S. 329) als Fairnesskriterium und als das „maβgebliche inhaltliche Bestimmungsmerkmal für den Begriff der Fairness“ (S. 329), „wenn es um das Wie strafprozessualer Regulierung“ (S. 329, Hervorhebung Theile) gehe; instruktiv zudem FENNER, AZP 2007, S. 149, wonach Würde „mit Seinsmächtigkeit (zu tun) (hat); sie ist deren Darstellung … Das ethische und juristische Gebot der Achtung der unantastbaren Menschenwürde verlange …, „jene Bedingungen zu schaffen, die eine möglichst vollkommene Entfaltung der würdekonstitutiven Fähigkeiten ermöglichen“; also letztlich die „Bedingungen einer gelungenen Selbstdarstellung“ ...“ (Hervorhebung Demko). Siehe auch NIEMÖLLER/SCHUPPERT, AöR 1982, S. 427: „Mitwirkungsrechte … durch deren Gebrauch er Einfluβ auf die Wahrheitsermittlung zu nehmen vermag“. Siehe auch KOHLBACHER, S. 50: „dialektische Wahrheitsfindung“, in der These, Antithese und Synthese in den Funktionen von Anklage, Verteidigung und Richter ihren Ausdruck finden.
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Kapitel 4: «Menschenrecht auf Verteidigung»
ein Recht auf antithetische Teilnahme am Strafverfahren als Prozesssubjekt bzw. kurz ausgedrückt als ein «Recht auf Antithese»: Wird im Straf- und Beweisverfahren die (Hypo-)These, dass der Angeklagte der Täter der ihm vorgeworfenen Straftat ist bzw. sein könnte, von der anklagenden Seite hervorgebracht,1587 so muss der angeklagten Seite der dialektische Widerspruch bzw. der Gegensatz zu dieser These, eben in Form der von ihr wirksam ausübbaren Antithese, dass der Angeklagte nicht der Täter der ihm vorgeworfenen Straftat ist, möglich sein.1588 514
Dieses Recht auf Antithese – oder, genauer, dieses prozesssubjektwahrende Menschenrecht des Angeklagten auf eine antithetische Teilnahme am Strafverfahren – ist es, das seinem Teilnahmerecht die spezifische Inhaltsrichtung vermittelt: Nicht nur überhaupt eine menschenwürde- und subjektwahrende Teilnahme am Strafverfahren, wie sie einem jeden Verfahrensbeteiligten (etwa auch den Zeugen und Opfern) zuzusprechen ist, sondern eben gerade eine antithetische Teilnahme am Strafverfahren und bezogen auf das Beweisverfahren an dem strafprozessualen Wahrheitsermittlungsweg – mit der sich 1587
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Dazu auch KOHLBACHER, S. 50, wonach es zwar übertrieben sei, den Staatsanwalt als „Ueberführungssüchtigen“ zu bezeichnen, aber dieser gleichwohl zu erkennen ist als „berufsmässig Gegner des Verdächtigen“ (Hervorhebung Demko). Siehe auch PIETH, Beweisantrag, S. 26, 31, 282 mit der zutreffenden Frage zur Mitwirkung des Beschuldigten als „effektives Gegengewicht“ (S. 26): „Ist nicht die Mitwirkung des konkret betroffenen Beschuldigten in den Phasen der eigentlichen Weichenstellung das Korrektiv, nach dem wir suchen?“ (S. 26), siehe zur Mitwirkung des Beschuldigten als „(r)echtliche Gegensteuerung“ (S. 31) auch das Schema auf S. 31, „(e)s komme … darauf an, dass sich der Angeklagte beim prozessualen Ringen um Wahrheit kompetent darstellen könne“ (S. 282); siehe auch KOHLBACHER, S. 50, wonach vor dem Richter die „entgegengesetzten Funktionen von Anklage und Verteidigung … als These und Antithese aufeinander (treffen), und er hat in sachlicher Abwägung der Argumente eine echte Synthese zu finden“ (Hervorhebung Demko); siehe auch GRÖSCHNER, S. 81 zur „Vermittlerrolle des Richters“; BERKEMANN, JR 1989, S. 222 f. zur „Partizipation als kommunikatives Grundbedürfnis“ (S. 222, Hervorhebung Berkemann) und zur „Kommunikative(n) „Teilhabe“ …“ (S. 225, Hervorhebung Berkemann): „Der Mensch will angehört werden …“ (S. 223), „Kommunikation schafft die Möglichkeit der Partizipation“ (S. 225), „Fairneβ als Rechtsprinzip Heisst hier, dem Angeklagten jede Möglichkeit zu geben, zu vermeiden, daβ er verurteilt wird, obwohl er objektiv unschuldig ist“ (S. 226, Hervorhebung Demko); BOTTKE, Verfahrensgerechtigkeit, S. 61, 64: „angemessene Gegenrechte“ (S. 61), „effiziente Beteiligungs- und Gegenrechte“ (S. 64, Hervorhebung Demko), „Gegengewichtreicher …“ (S. 64, Hervorhebung Demko); siehe zur „Dialogik von Beweis und Gegenbeweis“ (S. 239) auch GRÖSCHNER, S. 239, wonach „letzterer … nicht erst gelungen (ist), wenn ersterer „objektiv“ widerlegt ist, sondern schon dann, wenn die Überzeugung des Gerichts hinsichtlich des Hauptbeweises erschüttert ist“; zum Einbringen des Widerspruchs und der sich entgegengesetzten Standpunkte von Anklage und Verteidigung siehe zudem ARNDT, NJW 1959, S. 1301.
Kapitel 4: «Menschenrecht auf Verteidigung»
der Angeklagte gegen die gegen ihn hervorgebrachte These, möglicherweise Täter der vorgeworfenen Straftat zu sein, wirksam wehren, sich wirksam gegen diese These stellen,1589 d.h. sich wirksam gegen die anklagende These verteidigen kann – macht den speziellen Inhaltsgehalt des prozesssubjektwahrenden Teilnahmerechts des Angeklagten aus.1590 Es ist das Recht des Angeklagten auf wirksame Teilnahme am Strafverfahren zu seiner Verteidigung,1591 mithin das Recht des Angeklagten auf wirksame Verteidigung im Strafverfahren, wie es auch vom EGMR in ständiger Rechtsprechung als Grundvoraussetzung für ein dem Angeklagten eingeräumtes faires Strafverfahren verlangt wird, das mit dem Recht des Angeklagten auf antithetische Teilnahme am Strafverfahren als Prozesssubjekt seinen spezifischen Ausdruck findet.1592 Das sich als Kern-, als Grundmoment des Menschenrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren erweisende Menschenrecht auf Verteidigung, mit dem eben jenes Recht des Angeklagten auf eine wirksame Verteidigung im Strafverfahren gemeint ist, zeigt sich damit in einer Zusam1589
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Siehe dazu auch MEYER, Dialektik, S. 93: „die Achtung vor der Persönlichkeit des anderen (gebietet) ein Anhören und Be-achten seiner Gegenargumente“ ([sic] für «Be-achten»); PIETH, Beweisantrag, S. 20 zu den dem Beschuldigten eröffneten Chancen zu „alternativer Sachverhaltsdarstellung“; ARNDT, NJW 1959, S. 1301; Schmid, AJP 2002, S. 619, 621: materielle Verteidigungsrechte als „Summe der rechtlichen Möglichkeiten, die den Beschuldigten im Strafverfahren zur Durchsetzung seiner Standpunkte zur Verfügung stehen“ (S. 619, Hervorhebung Demko), Verteidigungsrechte als „Gegengewichte“ (S. 621, Hervorhebung Demko). Siehe auch KOHLBACHER, S. 49 f.: „der energischen Strafverfolgung durch den Staat eine wirksame Verteidigung entgegenzusetzen“ (S. 49, Hervorhebung Demko); HEISS, S. 29 zur Dialektik als „Kunst, ein Streitgespräch zu führen, einen Standpunkt gegen einen anderen zu verteidigen“ (Hervorhebung Demko). Siehe auch mit Bezug auf Art. 6 III EMRK BERKA, S. 466 N 839: „Im Zentrum der besonderen Verteidigungsrechte des Art. 6 Abs 3 EMRK … steht das Recht des Angeklagten auf eine wirksame Verteidigung“ (im Originaltext fettgedruckte, hier kursive Hervorhebung Berka). Siehe auch PIETH, Beweisantrag, S. 311 zur Präzisierung der zu fordernden Mitwirkung des Beschuldigten: „Der Beschuldigte muss Gelegenheit erhalten, seine Sachverhaltsdarstellung auf derselben konkreten Ebene zu präsentieren, die die behördliche Schuldvermutung für sich in Anspruch nehmen kann: die konkrete Beweisführung. Nur durch ein Recht, den Umfang der Beweiserhebungen zu beeinflussen, hat der Beschuldigte eine reale Chance, das stets bereits vorliegende und sich naturgemäss festigende Beweisergebnis zu erschüttern“ (Hervorhebung Pieth: «derselben konkreten Ebene», übrige Hervorhebung Demko). Jene Aussage ist sowohl von Bedeutung für das von Pieth zutreffend genannte und in seiner Abhandlung untersuchte Beweisantragsrecht (S. 311) als auch für das in dieser Abhandlung näher untersuchte Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen als eines der spezifischen Mitwirkungs- bzw. Teilnahmerechte des Angeklagten an der «konkreten Beweisführung». Siehe zudem ARNDT, NJW 1959, S. 1301.
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Kapitel 4: «Menschenrecht auf Verteidigung»
menführung von dialektischer und menschenrechtsschützender Bezugsebene des Strafverfahrens in seiner spezifischen Bedeutung als ein prozesssubjektwahrendes Recht des Angeklagten auf wirksame antithetische Teilnahme am Strafverfahren1593 und bezogen auf das Beweisverfahren als Recht auf wirksame antithetische Teilnahme am strafprozessualen Wahrheitsermittlungsweg. 515
Zusammenfassend gilt es zu betonen: Nur dann, wenn – was das erste Erkenntnismoment unter Anbindung an die Dialektik des Straf- und Beweisverfahrens anspricht – dem Gericht in gleichberechtigter Weise das Thesen- und Antithesenhafte zu dem in Frage stehenden und vom Gericht aufzuklärenden Tatvorwurf und der Täterschaft des Angeklagten vorgetragen sind, mithin das Für und Wider, das Ja und Nein vorliegen, welche für bzw. gegen die Täterschaft des Angeklagten sprechen, ist eine die Dialektik eines jeden Erkenntnisverfahrens wahrende strafprozessuale Wahrheitsermittlung auf einer umfassenden, alle be- und entlastenden Momente zusammentragenden Beweisgrundlage ermöglicht und ist damit jenes Kontradiktorische gewahrt, das auch der EGMR für ein faires Straf- und Beweisverfahren verlangt. Zudem – was das zweite Erkenntnismoment unter Anbindung an die Person des Angeklagten und dessen menschenwürde- sowie menschenrechtswahrende Bezugsebene zum Strafverfahren anspricht – nur dann, wenn dem Angeklagten ein Sich-wirksam-Einbringen in diesen Thesen und Antithesen zusammentragenden Wahrheitsermittlungsprozess ermöglicht ist, indem er selbst als Prozesssubjekt die antithetischen Momente in das Straf- und Beweisverfahren einzuführen berechtigt ist und zugleich vom Gericht mit dieser seiner antithetischen Teilnahme auch beachtet und anerkannt wird,1594 handelt es sich nicht nur um ein wahrheitsgerichtetes Straf- und Beweisverfahren unter Beachtung von seinem dialektischen Charakter, sondern zudem auch um ein die Menschenwürde des Angeklagten wahrendes wahrheitsgerichtetes dialektisches Straf- und Beweisverfahren: Es liegt dann ein menschenwürdewahrendes wahrheitsgerichtetes dialektisches Straf- und Beweisverfahren vor, das das 1593
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Dazu auch WIEDERKEHR, S. 13, 17 ff.; zur Präzisierung des Fairnessbegriffs durch Betonung der zu achtenden Subjekt-Stellung des Beschuldigten siehe RANSIEK, S. 54 f.: „Fair ist ein Verfahren dann, wenn es dem Beschuldigten die Chance zu eigenen Entscheidungen über seine Verteidigung läβt“ (S. 55), „kommunikative Teilnahme am Strafprozeβ“ (S. 55), „Gelegenheit …, durch seine Aussage Einfluβ auf das Verfahrensergebnis zu nehmen … zu dem Tatvorwurf Stellung zu nehmen, sich zu verteidigen … Handlungsmöglichkeiten …“ (S. 55); ARNDT, NJW 1959, S. 1301 zum Zusammenhang zwischen fair trial und Wahrung der „Einfluβrechte …“ der Verfahrensbeteiligten „… am Rechtsdenken des Richters“ und der „Position eines Beteiligten als einfluβberechtigtes Subjekt des Verfahrens“. Zu der hier bereits anklingenden Unterscheidung zwischen der Beweiserhebungs- und Beweiswürdigungsebene siehe auch unter Kap. 4 B. II. 2.
Kapitel 4: «Menschenrecht auf Verteidigung»
sich in dem Menschenrecht auf Verteidigung ausdrückende Menschenrecht des Angeklagten auf eine wirksame antithetische Teilnahme als Prozesssubjekt am Straf- und Beweisverfahren als das zentrale und spezifische inhaltliche Kernmoment seines Menschenrechts auf ein faires Straf- und Beweisverfahren ausweist.
II.
Das Menschenrecht auf Verteidigung und dessen Ausübungsebene
Ist der Wesensgehalt und mit diesem die spezifische Inhaltsebene des Menschenrechts auf Verteidigung als Recht des Angeklagten auf wirksame antithetische Teilnahme am Straf- und Beweisverfahren herausgearbeitet worden, so gilt es im Folgenden, diese Inhaltsebene mit der Ausübungsebene des Menschenrechts auf Verteidigung in Bezug zu setzen. 1.
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Das Wechselverhältnis zwischen Inhaltsebene und Ausübungsebene des Menschenrechts auf Verteidigung
Das Menschenrecht auf Verteidigung verlangt für dessen materiell zu beurteilende wirksame Gewährleistung – mithin, um in den Worten des EGMR zu sprechen, dafür, bei einer Betrachtung des Strafverfahrens in dessen Gesamtheit sagen zu können, dass der Angeklagte sich tatsächlich wirksam verteidigen konnte („provided the rights of the defence have been respected“1595) – nach einer Vielzahl unterschiedlicher Ausübungsformen, für die auf der Grundlage des Art. 6 EMRK vom EGMR verschiedene einzelne (benannte wie auch unbenannte) spezifische Verteidigungsrechte des Angeklagten ausgeprägt worden sind.1596 Zu denken ist hier etwa an die in Art 6 III EMRK genannten spezifischen Verteidigungsrechte, zu denen auch das Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen zählt, sowie ebenso an das vom EGMR als unbenanntes spezifisches Verteidigungsrecht herausgearbeitete Recht des Angeklagten auf Anwesenheit und effektive Verfahrensteilhabe sowie das Recht des Angeklagten auf rechtliches Gehör.
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Die notwendige Unterscheidung zwischen Inhalt und Form bedeutet dabei: Das Menschenrecht auf Verteidigung «ist» nicht seine Ausübungsform(en), d.h. es ist nicht identisch zu setzen mit seinen Ausübungsformen, eben weil hier jeweils verschiedene Sachebenen, das eine Mal die Inhaltsebene und das
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EGMR, KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 20.11.1989, A166, § 41 (Hervorhebung Demko). Siehe dazu unter Kap. 3 B. III. 1. b) cc).
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Kapitel 4: «Menschenrecht auf Verteidigung»
andere Mal die Ausübungsebene, angesprochen sind. Zu formulieren ist daher korrekter, dass das Menschenrecht auf Verteidigung für seine wirksame Gewährleistung nach entsprechenden Ausübungsformen verlangt bzw. eben solche benötigt.1597 519
Nicht nur überhaupt sind solche spezifischen Ausübungsformen in Gestalt der benannten und unbenannten spezifischen Verteidigungsrechte nun in Art. 6 EMRK normativ gesetzt und vom EGMR näher ausdifferenziert, und zwar solche, welche nach Ansicht der europäischen (Menschen-)Rechtsgemeinschaft als erforderlich angesehen werden, um dem Angeklagten ein faires, ihm eine wirksame Verteidigung gewährendes Strafverfahren einzuräumen. Aufgestellt sind vielmehr auch bestimmte normative Anforderungen an die Art und Weise der uneingeschränkten und eingeschränkten Ausübung dieser spezifischen Verteidigungsrechte: Ist – was die Rechtsprechung des EGMR zu den spezifischen Verteidigungsrechten des Art. 6 EMRK im Einzelnen aufgezeigt hat – für einen anzustrebenden «besten» bzw. optimalen Menschenrechtsschutz im Strafverfahren zwar grundsätzlich nach einer uneingeschränkten Ausübungsmöglichkeit der spezifischen Verteidigungsrechte verlangt, so werden diese spezifischen Verteidigungsrechte in ihrer Ausübbarkeit aber auch als einschränkbar angesehen, für eben solche Einschränkungen jedoch zugleich verschiedene Rechtmässigkeitsvoraussetzungen auf der Beweiserhebungs- und Beweiswürdigungsebene aufgestellt. Die hervorgehobene Unterscheidung zwischen Inhalt und Form macht insofern deutlich, dass es die spezifischen Verteidigungsrechte, mithin die Ausübungsformen für das Menschenrecht auf Verteidigung sind, die unter bestimmten Rechtsmässigkeitsvoraussetzungen und ihre Ausübung betreffend einschränkbar sind, was aber nichts daran ändert und nicht damit zu verwechseln ist, dass auch bei nur eingeschränkt ausübbaren spezifischen Verteidigungsrechten dem Angeklagten stets eine – anhand eines materiellen Beurteilungsmassstabes zu bewertende – wirksamen Verteidigung als Voraussetzung für ein faires Strafverfahren zu gewähren ist.
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Diese Unterscheidung zwischen Inhalt und Form findet sich, auch wenn der EGMR selbst nicht ausdrücklich auf diese eingeht, in der Sache ebenso durch seine Spruchpraxis zur Einschränkung der Ausübung der spezifischen Vertei1597
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Siehe dazu auch KAHLO, Festschrift Wolff, S. 170 ff.: „… so wahr ist diese durch konstitutive Grundrechte … anzuerkennen“ (Hervorhebung Kahlo), „differenziert sich dieser Daseins- und Handlungsfreiheitsraum dann weiter aus in die speziellen Einzelgrundrechte …“ (S. 172); MÜLLER-DIETZ, ZStW 1981, S. 1207: „… manifestiert sich die Subjektstellung des Beschuldigten … darin, daβ dem Beschuldigten Rechte eingeräumt werden, die es ihm ermöglichen, sich gegen den Tatvorwurf frühzeitig und angemessen zur Wehr zu setzen und auf den Ablauf des Verfahrens einzuwirken“ (Hervorhebung Demko); RZEPKA, S. 386: „Subjektstellung des Beschuldigten kann nur über Verfahrensrechte gewährleistet werden“ (Hervorhebung Rzepka).
Kapitel 4: «Menschenrecht auf Verteidigung»
digungsrechte bestätigt, verlangt der Gerichtshof für ein faires Strafverfahren doch in ständiger Rechtsprechung, dass dem Angeklagten stets – und zwar auch bei und trotz nur eingeschränkt ausübbaren spezifischen Verteidigungsrechten – eine wirksame Verteidigung im Strafverfahren gewährleistet worden ist. Mit der dem Angeklagten als Voraussetzung für ein faires Strafverfahren stets einzuräumenden wirksamen Verteidigung, auf die der EGMR Rückgriff nimmt und welche er zum Beurteilungsmassstab für die Rechtmässigkeit einer Einschränkung eines spezifischen Verteidigungsrechts erhebt,1598 ist mithin die Wesensgehalts- bzw. spezifische Inhaltsebene des Menschenrechts auf Verteidigung angesprochen, von der trotz aller Einschränkungen auf der Ausübungsebene der spezifischen Verteidigungsrechte nicht abgewichen werden darf. Die spezifischen Verteidigungsrechte nun mit der Ausübungsebene des Menschenrechts auf Verteidigung in Verbindung zu bringen, heisst dabei zwar, diese in ihrer Bedeutung als eben Ausübungs- bzw. Formelemente, hierbei jedoch nicht als inhaltsleere, sondern vielmehr als «Inhalt-gefüllte Formelemente» zu erkennen: Nicht – in einem inhaltsleeren Sinne – um eine blosse Ausübbarkeit dieser spezifischen Verteidigungsrechte um ihrer selbst willen und in einem nur formellen Sinne, mithin nicht allein um die Wahrung der Form kann und darf es bei diesen gehen, sondern vielmehr ist – in einem Inhalt-gefüllten Sinne – eine Ausübbarkeit zum Zwecke der (materiellen) Wahrung der wirksamen Verteidigung des Angeklagten für das ihm zu gewährende faire Strafverfahren verlangt.1599 Mit diesem inhaltlichen Einstellen der Ausübungselemente in den übergreifenden materiellen Gehalt der wirksamen Verteidigung des Angeklagten im Strafverfahren ist die Teilhabe der spezifischen Verteidigungsrechte an der vom EGMR in ständiger Rechtsprechung betonten wirksamkeitsverpflichteten Auslegung angesprochen, welche nach einer in jedem Einzelfall gesicherten tatsächlich wirksamen Wahrung der spezifischen (Einzel-)Verteidigungsrechte selbst und der durch sie im Ergebnis zu gewährleistenden konkreten und praktisch wirksamen Verteidigung des Angeklagten im gesamten Strafverfahren verlangt.1600
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Die wirksame Verteidigung des Angeklagten als Voraussetzung für ein faires Strafverfahren bedeutet und fordert dabei mit Blick auf die Inhaltsebene eine sich auf das gesamte Strafverfahren beziehende und anhand eines materiellen
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Siehe dazu auch im Zusammenhang mit dem Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen unter Kap. 5 B. II. 1. b) aa). Siehe dazu auch KAHLO, Festschrift Wolff, S. 172: „Diese (und alle anderen) lebensbereichsspezifischen Einzelgrundrechte sind Ausdruck der verfassungspositiven Anerkennung rechtssubjektiver Selbstbestimmung, für die die Menschenwürde als ein heuristisches Prinzip leitend geworden ist …“. Zur wirksamkeitsverpflichteten Auslegung des EGMR siehe etwa GAEDE, S. 89 ff., 103 ff.
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Kapitel 4: «Menschenrecht auf Verteidigung»
Beurteilungsmassstabes zu bewertende wirksame antithetische Teilnahmemöglichkeit des Angeklagten. Diese wiederum hat sich auf der Ausübungsebene sodann in der Gestalt einer Vielzahl von verschiedenen, konkret ausübbaren antithetischen Teilnahmehandlungen des Angeklagten zu verwirklichen:1601 Nicht nur einmal im Strafverfahren ist dem Angeklagten eine konkret ausübbare antithetische Teilnahmehandlung zu ermöglichen, um von einer wirksamen Verteidigung im gesamten Strafverfahren sprechen zu können, sondern vielmehr ist dem Angeklagten hinsichtlich jeder einzelnen der für die Wahrheitsermittlung zusammengetragenen Erkenntnisse und hinsichtlich jedes einzelnen der dafür herangezogenen Beweismittel eine konkret ausübbare antithetische Teilnahmehandlung zu gewährleisten. Die materiell zu verstehende antithetische Teilnahmemöglichkeit des Angeklagten verlangt für deren Wirksamkeit mithin auf der Ausübungsebene eine Umsetzung in Gestalt einzelner konkreter antithetischer Teilnahmehandlungen und – bezogen auf das Strafverfahren insgesamt – eine Umsetzung in Gestalt einer «Gesamtheit konkreter antithetischer Teilnahmehandlungen». Erst wenn dem Angeklagten auf der Ausübungsebene zu jeder (Einzel-)Erkenntnis und jedem (einzelnen) Beweis(mittel) eine konkret ausübbare antithetische Teilnahmehandlung eingeräumt und ihm damit – sich auf das gesamte Strafverfahren erstreckend – durchgängig1602 eine «Gesamtheit von konkret ausübbaren antithetischen Teilnahmehandlungen» ermöglicht worden ist, 1603 ist die Grundlage dafür geschaffen, um – nunmehr auf die Inhaltsebene wechselnd und einen materiellen Beurteilungsmassstab anlegend – von einer dem Angeklagten insgesamt gewährleisteten wirksamen Verteidigung im Sinne einer (materiell zu verstehenden) wirksamen antithetischen Teilnahmeberechtigung im gesamten Strafverfahren sprechen zu können. 2.
523
Ausübungserfordernisse in der Beweiserhebungs- und Beweiswürdigungsphase des Strafverfahrens
Eine weiterer wichtiger Gesichtspunkt geht mit der Unterscheidung zwischen Inhalts- und Ausübungsebene einher, der mit der Trennung zwischen straf1601
1602
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342
Siehe auch MÜLLER-DIETZ, ZStW 1981, S. 1216: „Subjektposition kommt … in Mitwirkungs- und Verteidigungsrechten … zum Ausdruck“. So auch BOTTKE, Verfahrensgerechtigkeit, S. 64: „Durchgängig gewährtes rechtliches Gehör und effektive Rechtsbehelfe …“ (Hervorhebung Demko). Dazu auch ähnlich GAEDE, S. 415, 416: „konkrete Prozessteilhabe …, die sich in hinreichenden Rechten praktisch wirksam niederschlägt. Prozesssubjektivität kann so allein ein umfassendes Recht auf Teilhaberechte bedeuten: Alle für die wirksame Teilhabe mitentscheidenden Mitwirkungsbefugnisse sind zu gewähren …“ (Hervorhebung Gaede).
Kapitel 4: «Menschenrecht auf Verteidigung»
prozessualer Beweiserhebungsphase einerseits und Beweiswürdigungsphase andererseits verbunden ist und als Anknüpfungspunkt für die wirksam zu gewährende Verteidigung einmal den Angeklagten und das andere Mal das Gericht wählt: Es ist die strafprozessuale Beweiserhebungsphase, in der sämtlichen am Strafverfahren Beteiligten und damit neben dem Gericht und dem Ankläger auch dem Angeklagten (verstanden als Einheit von Angeklagtem und Verteidiger) eine aktive und unmittelbare Mitwirkung ermöglicht ist. In der Beweiserhebungsphase wird dem Angeklagten eine prozesssubjektwahrende aktive antithetische Teilnahme am Wahrheitsermittlungsprozess ermöglicht: Es ist diese Phase der Erhebung der Beweise, in der er sich als aktiv handelndes und sprechendes Prozesssubjekt in den Prozess der Wahrheitsermittlung unvermittelt eingeben kann, in dem er (selbst und/oder sein Verteidiger) eigene, ihn entlastende Beweise vorbringen und ihn belastende Beweise in aktiver Weise bestreiten und erschüttern, mithin am Wahrheitsund Entscheidungsfindungsprozess durch das Einbringen antithetischer Erkenntnismomente aktiv teilnehmen kann.1604 Dieses aktiv und unvermittelt Ausübbare der spezifischen Verteidigungsrechte durch den Angeklagten (und/oder seinen Verteidiger) in der strafprozessualen Beweiserhebungsphase endet sodann mit Beginn der strafprozessualen Beweiswürdigungsphase, an der allein das Gericht beteiligt, hingegen der anklagenden sowie der angeklagten Seite eine aktive und unmittelbare Teilnahme von vornherein versagt ist. Hier in der Beweiswürdigungsphase werden dem Angeklagten (und seinem Verteidiger) zwar keine aktiv wahrnehmbaren spezifischen Verteidigungsrechte eingeräumt, was aber nicht bedeutet, dass die Beweiswürdigungsphase mit Blick auf die dem Angeklagten zu gewährende wirksame Verteidigung im Strafverfahren bedeutungslos ist. Vielmehr ist hier sozusagen in «vermittelter Form», und zwar unter Anknüpfung (nicht an einen aktiv handeln könnenden Angeklagten, sondern) an das Gericht jener dem Angeklagten zu gewährenden wirksamen Verteidigung gerecht zu werden, indem das Gericht im Rahmen seiner Beweisbewertung und -würdigung (auch) der dem Angeklagten zuvor in der Beweiserhebungsphase eingeräumten aktiven Teilnahme Beachtung zu schenken hat und hierbei die 1604
Siehe auch etwa SWOBODA, ZIS 2010, S. 103 zum festen Platz der „konkurrierenden Wahrheitsversionen … im Verfahrensdiskurs“; siehe auch BOTTKE, Verfahrensgerechtigkeit, S. 33: „irrtumskontrollierende, effektive Teilhabe des oder der Betroffenen am Zustandekommen bestands- oder rechtskräftiger Konfliktentscheidungen …: ,Verfahrensteilhabeʻ …“; siehe auch LÜDERSSEN, Menschenwürde, S. 104: „Würde aufgrund seines eigenen selbstbestimmten Verhaltens“, „Subjekt ihres Handelns“ (Hervorhebung Demko); JUNG, Richterbilder, S. 79 f., 88 zur Unterscheidung zwischen dem Entscheidungsvorgang bzw. -prozess, an dem die Beteiligten aktiv mitwirken können müssen, und der „End-Entscheidung“ (S. 79) und dem „Schlusswort“ (S. 88) des Gerichts, an dem sie nicht beteiligt sind.
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524
Kapitel 4: «Menschenrecht auf Verteidigung»
vom Angeklagten in den Wahrheitsermittlungsprozess eingebrachten antithetischen Erkenntnismomente in die gerichtliche Beweiswürdigung einfliessen lassen muss.1605 Denn: Dem Angeklagten zwar in der Beweiserhebungsphase eine aktive unvermittelte Teilnahme zu seiner Verteidigung einzuräumen, dieser und den dadurch hervorgebrachten antithetischen Erkenntnisse sodann jedoch in der Beweiswürdigungsphase seitens des Gerichts keinerlei Beachtung zu geben, hiesse, die zunächst gewährte aktive antithetische Teilnahmemöglichkeit des Angeklagten in der Beweiserhebungsphase im Ergebnis «ins Leere laufen», diese mithin nutz- und sinnlos werden zu lassen und dem Angeklagten damit letztendlich keine (materiell) wirksame Verteidigung eingeräumt zu haben. 525
Für die Frage der dem Angeklagten zu gewährenden wirksamen Verteidigung im Strafverfahren ist Anknüpfungspunkt in der Beweiswürdigungsphase mithin nicht der (zu keiner aktiven Teilnahme an der Beweiswürdigung selbst berechtigte) Angeklagte, sondern vielmehr das Gericht, weshalb sich auch von einer gerichtsvermittelten Wahrung einer wirksamen Verteidigung für den Angeklagten sprechen und sich diese bezogen auf die Beweiswürdigungsphase als ein Recht des Angeklagten auf eine faire Beweiswürdigung ausformen lässt: Ist es für die strafprozessuale Beweiserhebungsphase der Anspruch des Angeklagten auf eine aktive unvermittelte antithetische Teilnahme, der dem Angeklagten mit Blick auf die ihm einzuräumende (materiell) wirksame Verteidigung zu gewähren ist, so ist es für die strafprozessuale Beweiswürdigungsphase der Anspruch des Angeklagten auf Beachtung, Prüfung und Bewertung des durch ihn in der vorherigen Beweiserhebungsphase Ausgeführten und des durch ihn an antithetischen Erkenntnissen in den Wahrheitsermittlungsprozess Eingebrachten durch das Gericht,1606 welcher 1605
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Siehe dazu auch HASSEMER, Grundlagen, S. 139 f.; SWOBODA, ZIS 2010, S. 103, wonach ein Strafurteil „die alternativen Versionen des Geschehens diskutieren und begründet widerlegen“ müsse; STRAUCH, S. 479, wonach der Gerichtssaal ein „Kommunikationsraum eigener Art“ sei, in dem „Geschichten, Tatsachen- und Rechtsbehauptungen, also Argumente, mit denen Rechtspositionen begründet oder zurückgewiesen werden sollen“, kommuniziert werden, mit denen auf „die „Wahrheitssuche“ des Richters Einfluss“ genommen werden soll: „Dieser muss sie als Argumente aufnehmen, sie in einen vorhandenen juristischen Argumentationsraum einordnen und sie dann – in den Entscheidungsgründen – argumentativ an die Parteien zurückspielen“ (Hervorhebung Demko). Dazu auch HASSEMER, Grundlagen, S. 139 f.: natürlich brauche der Richter dem Vorbringen des Beschuldigten „nicht inhaltlich zu folgen; es darf aber erwartet werden, daβ sein Verstehen sich dem Einfluβ des Vorgebrachten faktisch nicht wird entziehen können“ (S. 140); GOTTWALD, ZZP 1985, S. 121, 122, 127: „… müssen in die Entscheidungsgründe alle wesentlichen Argumente eingehen, die im Verfahren vorgetragen wurden …“ (S. 127); siehe dazu zudem BOTTKE, Verfahrensgerechtigkeit, S. 38.
Kapitel 4: «Menschenrecht auf Verteidigung»
für eine (materiell) wirksame Verteidigung des Angeklagten im Strafverfahren zu erfüllen ist.1607 Auch wenn der EGMR selbst nicht explizit von einem Recht des Angeklagten auf aktive unvermittelte antithetische Teilnahme an der Beweiserhebungsphase und einem bezogen auf die Beweiswürdigungsphase bestehenden Recht des Angeklagten auf faire Beweiswürdigung spricht, zeigt sich jene Unterscheidung zwischen Beweiserhebungs- und Beweiswürdigungsphase mit den jeweils anderen Anknüpfungen einmal an den Angeklagten und das andere Mal an das Gericht in der Sache auch in der Rechtsprechung des Gerichtshofs: Zu denken ist etwa an die unterschiedlichen Einzelanforderungen, die der EGMR für die Wahrung des Rechts des Angeklagten auf rechtliches Gehör aufstellt, welche sich – bezogen auf die Beweiserhebungsphase – einerseits an den Angeklagten richten und welche andererseits – und hier die Beweiswürdigungsphase ansprechend – das Gericht in den Blick nehmen.1608 Auch bei dem Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen nach Art. 6 III d EMRK stellt der Gerichtshof (Einschränkungs-)Voraussetzungen auf, von denen einige die Beweiserhebungsphase, andere hingegen die Beweiswürdigungsphase ansprechen.1609 Unter Beachtung der Unterscheidung zwischen Beweiserhebungs- und Beweiswürdigungsphase lässt sich für das für ein faires Strafverfahren erforderliche Recht des Angeklagten auf eine (materielle) wirksame Verteidigung mithin auf der Ausübungsebene trennen und differenzieren zwischen einem Recht des Angeklagten auf eine aktive unvermittelte antithetische Teilnahme an der strafprozessualen Beweiserhebung einerseits und einem sich auf die strafprozessuale Beweiswürdigungsphase beziehenden Recht des Angeklagten auf eine faire Beweiswürdigung seitens des Gerichts andererseits.
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Zu betrachten ist diese Unterscheidung zwischen Beweiserhebungs- und Beweiswürdigungsebene dabei eingestellt in die für Art. 6 EMRK sichtbar werdende und im Schrifttum – etwa von Gaede – herausgearbeitete zweigliedrige „(i)nnere Struktur des Teilhaberechts des Art. 6 EMRK“,1610 nach welcher zwischen der «Teilhabe» und dem «Teilhaberahmen» zu differenzieren ist.1611
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Siehe auch VIDMAR, ZfRSoz 1993, S. 39 zur Unterscheidung zwischen den zwei Stadien einer Konfliktbewältigung, dem „Verfahrensstadium“ und dem „Entscheidungsstadium“: Während die Streitenden über das Verfahrensstadium die „persönliche Kontrolle“ haben möchten zur Sicherstellung, dass „ihre eigene Position richtig erklärt wurde“, ist das Entscheidungsstadium „in die Hände eines neutralen Dritten“ gelegt. Siehe dazu im Einzelnen unter Kap. 4 B. III. 1. Siehe dazu im Einzelnen unter Kap. 5 B. II. 1. und 2. GAEDE, S. 402 (kursive Hervorhebung als Titelüberschrift: Gaede). Siehe dazu im Einzelnen GAEDE, S. 387 ff., 402 ff.; siehe zudem zum Gewährleistungsinhalt des Art. 6 EMRK die Unterscheidung von GRABENWARTER, S. 343 ff. zwischen „Organisationsgarantien“ (S. 343, Hervorhebung Demko), dem Recht auf
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Kapitel 4: «Menschenrecht auf Verteidigung»
Die in Art. 6 EMRK normierten menschenrechtlichen Anforderungen für die Gewährleistung einer eine wirksame Verteidigung ermöglichenden Teilnahme des Angeklagten sind, was die strafprozessuale Beweiserhebungsphase betrifft, sowohl mit Blick auf den Angeklagten als auch mit Blick auf den institutionellen, vor allem den gerichtlichen Rahmen aufgestellt: Ist für den Angeklagten eine aktive unmittelbare Teilnahme an der Erarbeitung der Entscheidungsgrundlagen gefordert und sind ihm hierfür eine Vielzahl spezieller (benannter wie unbenannter) Verteidigungsrechte eingeräumt, so ist diese aktive „Teilhabe durch Verteidigung“1612 des Angeklagten in der strafprozessualen Beweiserhebungsphase zugleich in einen in dieser Beweiserhebungsphase ebenso zu gewährleistenden „Teilhaberahmen“1613 eingestellt, welcher all die institutionellen Rahmenbedingungen – wie etwa die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichts und die Unschuldsvermutung1614 – anspricht und umfasst, welche nötig sind, damit die aktive Teilhabe des Angeklagten auch konkrete und praktische Wirksamkeit entfaltet.1615 Diese von Art. 6 EMRK gesetzten Anforderungen an ein eine wirksame Verteidigung des Angeklagten gewährendes Strafverfahren setzen sich mit Bezug auf die strafprozessuale Beweiswürdigungsphase nun zwar anknüpfend an die Person des Angeklagten nicht dergestalt fort, dass ihm auch in der Beweiswürdigungsphase selbst eine aktive Teilnahme ermöglicht ist. Jedoch geht es hier – wie bereits ausgeführt – um eine durch das Gericht «vermittelte» Gewährleistung des eine wirksame Verteidigung ermöglichenden antithetischen Teilnahme-
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Zugang zu Gericht und den „Verfahrensgarantien im engeren Sinn (Grundsatz des fairen Verfahrens)“ (S. 343, Hervorhebung Demko); siehe zur „Fairness des Rahmens“ (S. 65) und der „Hintergrundgerechtigkeit“ (S. 65) auch WIEDERKEHR, S. 65 ff.; RAWLS, Gerechtigkeit als Fairneβ, S. 89 f.: „»Hintergrund-Verfahrensgerechtigkeit«“ (S. 89); zudem zum „materielle(n) Fairnessprinzip als Ausfluss individueller Gerechtigkeit“ (S. 187, Hervorhebung Wiederkehr) siehe näher WIEDERKEHR, S. 185 ff.; instruktiv zudem GIESE, S. 100 ff.: „sicheren Verhaltensrahmen“ (S. 101), „Kommunikationen und Situationen“ (S. 101). GAEDE, S. 408 (Hervorhebung Demko), siehe auch die weiteren Ausführungen dazu auf S. 389 ff., 408 ff; zur Einflussnahme des von einem Verfahren Betroffenen auf Gang und Ergebnis des Verfahrens „zur Wahrung seiner Würde“ (S. 186) siehe im Rahmen der Ausführungen von Wiederkehr zur individuellen Gerechtigkeit näher WIEDERKEHR, S. 185 ff.; GIESE, S. 100: „situative Einfluβchance auf das Verfahren“. GAEDE, S. 403 (Hervorhebung Demko), dazu näher auch S. 388, 392, 403 ff.; GIESE, S. 101 zum Sorgetragen für Kommunikation und Situation. Siehe zu diesen und weiteren von Gaede zu dem Teilhaberahmen gezählten Elementen GAEDE, S. 403 ff. Ebenso die Hervorhebungen von GAEDE, S. 392: „institutionelle(r) Verfahrensrahmen, der die Gesamtheit derjenigen Bedingungen beschreibt, unter denen eine aktive Teilhabe durch Verteidigung sinnvoll möglich ist …“ sowie der Hinweis, dass ohne solche institutionellen Rahmenbedingungen die aktive Teilhabe „abstrakt“ sowie ein „sinnentleertes Ritual“ bleibe (Hervorhebung Demko).
Kapitel 4: «Menschenrecht auf Verteidigung»
rechts des Angeklagten, indem auch für die Beweiswürdigungsphase nach «institutionellen Rahmenbedingungen» im Sinne von für das Gericht bestehenden Verpflichtungen zu einer vorurteils- und willkürfreien Beachtung, Prüfung und Bewertung aller be- und entlastenden Beweismomente und damit auch der vom Angeklagten eingebrachten antithetischen Erkenntnismomente verlangt ist.1616
III.
Die «Kernausübungselemente» des Menschenrechts des Angeklagten auf Verteidigung im Strafverfahren
Die in der Unterscheidung zwischen Inhalts- und Ausübungsebene des Menschenrechts des Angeklagten auf wirksame Verteidigung im Straf- und strafprozessualen Beweisverfahren herausgearbeiteten Momente spiegeln sich auf konkretisierende Weise bei den einzelnen (benannten und unbenannten) spezifischen Verteidigungsrechten des Angeklagten und hier auch bei «dem» spezifischen Grund- bzw. Kernverteidigungsrecht in Gestalt des Rechts des Angeklagten auf rechtliches Gehör wieder. Diesem ist mit dem Rechtsprinzip der Waffengleichheit ein zusätzlicher Qualitätsaspekt an die Seite gestellt und beide, das rechtliche Gehör und die Waffengleichheit, formen sich in ihrem Zusammenwirken als die «Kernausübungselemente» des Menschenrechts des Angeklagten auf wirksame Verteidigung im Straf- und Beweisverfahren aus.1617 1.
Das Recht des Angeklagten auf rechtliches Gehör
Das in der EMRK nicht ausdrücklich geregelte Recht des Angeklagten auf rechtliches Gehör gehört zu den vom EGMR entwickelten unbenannten Verteidigungsrechten und wird vom Gerichtshof als Teil, und zwar als grundlegender Teil des Rechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren nach Art. 6 EMRK angesehen.1618 Das Recht des Angeklagten auf rechtliches Ge1616 1617 1618
528
Dazu im Zusammenhang mit dem rechtlichem Gehör unter Kap. 4 B. III. 1. Siehe dazu auch MÜLLER-DIETZ, ZStW 1981, S. 1208: „Kerngerüst oder die Essenz“. Siehe aus der Rechtsprechung etwa EGMR, KAMASINSKI v. AUSTRIA, 19.12.1989, A 168, § 102: „… the principle that contending parties should be heard (le principe du contradictoire), this being one of the principal guarantees of a judicial procedure …“ (Hervorhebung Demko), siehe auch „It is an inherent part of a "fair hearing" in criminal proceedings …“ (Hervorhebung Demko); aus dem Schrifttum siehe etwa PEUKERT, in: FROWEIN/PEUKERT, Art. 6 N 72: „Grundlegendes Erfordernis“; ESSER, S. 406: zu den „grundlegenden Garantien“ gehörend; MEYER-LADEWIG, EMRK-Kommentar, Art. 6 N 101: „als Ausfluss der Garantie eines fairen Verfahrens“; GAEDE, S. 301: „Teilrecht“; WACKE, JA 1980, S. 594: „Eckpfeiler fairen gerichtlichen Verfahrens“.
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Kapitel 4: «Menschenrecht auf Verteidigung»
hör zeigt hierbei in einer konkretisierenden Weise die zwei – oben dargestellten1619 – an ein faires Straf- und Beweisverfahren angelegten Anforderungen auf, welche die Qualität des dialektischen Charakters des Strafverfahrens zum einen und die Qualität des menschenwürde- und menschenrechtswahrenden Charakters des Strafverfahrens zum anderen zusammenführen: 530
Hergeleitet ist das Recht des Angeklagten auf rechtliches Gehör aus dem kontradiktorischen Wesenszug des Strafverfahrens und es steht damit in unmittelbarer Verbindung mit dem «adversarial»-Verfahrenserfordernis,1620 das der EGMR in ständiger Rechtsprechung für das Straf- und insbesondere auch Beweisverfahren betont.1621 Dieses Einstellen des rechtlichen Gehörs in die «adversarial» Natur des Straf- und Beweisverfahrens zeigt dessen Einbindung in die vom Straf- und Beweisverfahren als einem dialektischen Erkenntnisverfahren zu erfüllende Gewährleistung von Thesen- und Antithesenhaftem. Nimmt das rechtliche Gehör des Angeklagten teil an dieser von einem fairen Straf- und Beweisverfahren unter dialektischen Gesichtspunkten zu leistenden erforderlichen Einheit von These und Antithese und stellt sich hierbei als eines ihrer Teile, und zwar als der sich auf das Antithesenhafte beziehende Teil, dar, so kommt zu dieser dialektischen Bezugsebene nun die an ein faires Strafverfahren ebenso angelegte menschenrechtsschützende Bezugsebene hinzu. Letztere verlangt, dass gerade der Angeklagte – aus seiner Menschenwürde1622 und seiner Anerkennung als Prozesssubjekt folgend – 1619 1620
1621 1622
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Siehe dazu unter Kap. 2 II. 4., 5. und Kap. 3 B. EGMR, KAMASINSKI v. AUSTRIA, 19.12.1989, A 168, § 102: „le principe du contradictoire“; EGMR, BELZIUK v. POLAND, 25.03.1998, Reports 1998-II, § 37: „… the fundamental right that criminal proceedings should be adversarial. The right to an adversarial trial …“; EGMR, FITT v. THE UNITED KINGDOM, 16.02.2000, Reports of Judgments and Decisions 2000-II, § 44: „… It is a fundamental aspect of the right to a fair trial that criminal proceedings, including the elements of such proceedings which relate to procedure, should be adversarial and that there should be equality of arms between the prosecution and defence. The right to an adversarial trial means, in a criminal case …“, (Hervorhebung Demko); aus dem Schrifttum siehe etwa ESSER, S. 406; GAEDE, S. 301. Siehe dazu bereits unter Kap. 4 A. I. Siehe auch ARNDT, NJW 1959, S. 6, wonach der „höchste Wert, dem das Gebot des rechtlichen Gehörs dient, die Menschenwürde“ sei; WACKE, JA 1980, S. 594; WIEDERKEHR, S. 20; siehe auch BGE 127 I 6, S. 13 f.: „Einen Bezug zur Menschenwürde weist weiter der Anspruch auf rechtliches Gehör auf; es stellt ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht dar und garantiert, dass der Einzelne nicht bloss Objekt der behördlichen Entscheidung ist, sondern sich eigenverantwortlich an ihn betreffenden Entscheidprozessen beteiligen kann“; siehe zum Anspruch auf rechtliches Gehör zudem COTTIER, recht 1984, S. 1 ff.: Verkörperung der Vorstellung des „mündigen Menschen, der den Behörden als ein ebenbürtiger und geachteter Gesprächspartner gegenübertritt“ (S. 1), „Entfaltung des Gehörs zu einem umfassenderen Partizipations-
Kapitel 4: «Menschenrecht auf Verteidigung»
diesen antithetischen Teil des dialektischen Erkenntnisverfahrens in aktiver und unmittelbarer Weise in das Straf- und Beweisverfahren einzubringen berechtigt ist: Die prozesssubjektwahrende antithetische Teilnahme des Angeklagten am Straf- und Beweisverfahren in Gestalt des rechtlichen Gehörs prägt sich im Rahmen der strafprozessualen Beweiserhebungsphase als sein (Ausübungs-)Recht auf Stellungnahme in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zu allen ins Verfahren eingebrachten Vorbringen und Geschehnissen aus,1623 welche den gerichtlichen Entscheidungsfindungsprozess möglicherweise beeinflussen können.1624 Der Gerichtshof verbindet mit dem rechtlichen
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1624
recht“ (S. 2); siehe zudem die Ausführungen von RÜPING, S. 124 ff. sowie ebenso RÜPING, ZStW 1979, S. 353 f.: „eigenverantwortliches Prozeβsubjekt“ (S. 353), „besitzt … einen Eigenwert und gründet sich letztlich auf die Selbstbehauptung des Betroffenen im Prozeβ“ (S. 354). Siehe auch die Betonung bei ESSER, S. 406: „sämtlichen“ (Hervorhebung Esser); aus der Rechtsprechung siehe EGMR, VERMEULEN v. BELGIUM, 20.02.1996, Reports 1996-I, § 33: „… to have knowledge of and comment on all evidence adduced or observations filed …“; EGMR, KRESS v. FRANCE, 07.06.2001, Reports of Judgments and Decisions 2001-VI, § 74; EGMR, NIDERÖST-HUBER v. SWITZERLAND, 18.02.1997, Reports 1997-I, § 24, siehe auch § 29: „… What is particularly at stake here is litigants' confidence in the workings of justice, which is based on, inter alia, the knowledge that they have had the opportunity to express their views on every document in the file …“; EGMR, KRCMAR AND OTHERS v. THE CZECH REPUBLIC, 03.03.2000, Application No. 35376/97, §§ 40 ff: „… the concept of a fair hearing also implies the right to adversarial proceedings, according to which the parties must have the opportunity not only to make known any evidence needed for their claims to succeed, but also to have knowledge of, and comment on, all evidence adduced or observations filed, with a view to influencing the court’s decision …“ (§ 40), (Hervorhebung Demko). Zu dem massgebenden Gesichtspunkt schon der Möglichkeit der Beeinflussung des gerichtlichen Entscheidungsfindungsprozesses durch die Vorbringen der anklagenden Seite oder objektiver Justizbehörden siehe etwa EGMR, BELZIUK v. POLAND, 25.03.1998, Reports 1998-II, §§ 37 ff., insbesondere § 39; EGMR, NIDERÖSTHUBER v. SWITZERLAND, 18.02.1997, Reports 1997-I, §§ 24 ff.; EGMR, REINHARDT AND SLIMANE-KAÏD v. FRANCE, 31.03.1998, Reports 1998-II, §§ 105 ff.: „… The advocate-general is not a member of the court hearing the appeal. His role is to ensure that the law is correctly applied when it is clear and correctly construed when ambiguous. He “advises” the judges on the solution in each individual case and, through the authority of his office, he may influence their decision in a way that is either favourable or runs counter to the case put forward by appellants … Given the importance of the reporting judge’s report … the advocate-general’s role and the consequences of the outcome of the proceedings for Mrs Reinhardt and Mr Slimane-Kaïd, the imbalance thus created by the failure to give like disclosure of the report to the applicants’ advisers is not reconcilable with the requirements of a fair trial …“ (§ 105, Hervorhebung Demko); deutlich auch EGMR, KRCMAR AND OTHERS v. THE CZECH REPUBLIC, 03.03.2000, Application No. 35376/97, §§ 40 ff.
349
Kapitel 4: «Menschenrecht auf Verteidigung»
Gehör das Recht des Angeklagten, von sämtlichen eingebrachten Vorbringen der am Verfahren Beteiligten,1625 von vorgelegten Beweisen und Beweismitteln1626 sowie auch von Verfahrensvorbringen1627 Kenntnis zu nehmen und seinerseits zu diesen in einer ausreichenden und effektiven, mithin praktisch wirksamen Weise Stellung zu nehmen: 531
„… both prosecution and defence must be given the opportunity to have knowledge of and comment on the observations filed and the evidence adduced by the other party. Various ways are conceivable in which national law may secure that this requirement is met. However, whatever method is chosen, it should ensure that the other party is aware that observations have been filed and gets a real opportunity to comment thereon …“1628
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Siehe etwa EGMR, BELZIUK v. POLAND, 25.03.1998, Reports 1998-II, § 37: „… the opportunity to have knowledge of and comment on the observations filed and the evidence adduced by the other party …“; EGMR, FITT v. THE UNITED KINGDOM, 16.02.2000, Reports of Judgments and Decisions 2000-II, § 44; zum sich auch auf Rechtsausführungen erstreckenden Recht auf rechtliches Gehör siehe etwa EGMR, BORGERS v. BELGIUM, 30.10.1991, § 27: „… In the present case the hearing … before the Court of Cassation concluded with the avocat général’s submissions to the effect that Mr Borger’s appeal should not be allowed … At no time could the latter reply to those submissions: before hearing them, he was unaware of their contents because they had not been communicated to him in advance; thereafter he was prevented from doing so by statute … The Court cannot see the justification for such restrictions on the rights of the defence. Once the avocat général had made submissions unfavourable to the applicant, the latter had a clear interest in being able to submit his observations on them before argument was closed. The fact that the Court of Cassation’s jurisdiction is confined to questions of law makes no difference in this respect …“, (Hervorhebung Demko); siehe auch KÜHNE, in: Karl (Hrsg.), IntKommEMRK, 11. Lieferung, April 2009, Art. 6 N 364. Siehe etwa EGMR, KAMASINSKI v. AUSTRIA, 19.12.1989, A 168, § 102: „an opportunity to comment on evidence obtained in regard to disputed facts …“; EGMR, KRCMAR AND OTHERS v. THE CZECH REPUBLIC, 03.03.2000, Application Nr. 35376/97, §§ 40 ff: „… the concept of a fair hearing also implies the right to adversarial proceedings, according to which the parties must have the opportunity not only to make known any evidence needed for their claims to succeed, but also to have knowledge of, and comment on, all evidence adduced or observations filed, with a view to influencing the court’s decision …“ (§ 40), (Hervorhebung Demko). Siehe auch EGMR, KAMASINSKI v. AUSTRIA, 19.12.1989, A 168, § 102: „… that the defendant should be given an opportunity to comment on evidence obtained in regard to disputed facts even if the facts relate to a point of procedure rather than the alleged offence as such …“ (Hervorhebung Demko). EGMR, BELZIUK v. POLAND, 25.03.1998, Reports 1998-II, § 37 (Hervorhebung Demko); ebenso EGMR, BRANDSTETTER v. AUSTRIA, 28.08.1991, A 211, §§ 66, 67.
Kapitel 4: «Menschenrecht auf Verteidigung»
Es sind diese beiden Berechtigungen – zum Ersten die Berechtigung zur Kenntnisnahme und zum Zweiten die Berechtigung zum anschliessenden (in einem weiten Sinne zu verstehenden, ein ausreichendes und effektives SichÄussern-Können in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht und ein Vorbringen von Beweisen einschliessendes) Stellungnehmen des Angeklagten zu allen Verfahrensausführungen und -geschehnissen –, durch welche dem Angeklagten eine aktive und unvermittelte Teilnahme an der Wahrheitsermittlung in der strafprozessualen Beweiserhebungsphase zu ermöglichen ist. Das Zusammenspiel dieser beiden Berechtigungen ermöglicht es dem Angeklagten, mit Hilfe seiner kenntnisgefüllten Stellungnahme die in dieser enthaltenen und vom Angeklagten sprachlich ausgedrückten antithetischen Erkenntnismomente in das Strafverfahren einzubringen1629 und auf diese Weise auf den Gang und das Ergebnis der gerichtlichen Entscheidungsfindung (materiell) wirksam Einfluss zu nehmen („with a view to influencing the court's decision“1630).
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Unter Anknüpfung an die sich gerade in Sprache verfassende Qualität der Stellungnahme geht es bei der Berechtigung des Angeklagten, mit seiner kenntnisgefüllten Stellungnahme auf aktive Weise antithetische Erkenntnismomente in den strafprozessualen Wahrheitsermittlungsprozess einzuführen, um ein dem Angeklagten zu gewährendes «Recht auf Gegenrede»: Dieses Moment der Gegenrede als ein besonderer Aspekt des Antithetischen, welches gerade die kommunikative Qualität der menschlichen Wahrheitsermittlung hervorhebt und welches die Dialektik des Erkenntnisverfahrens als eine gerade kommunikativ zu gewährende Einheit von Rede und Gegenrede betont, hat sich bereits im Zusammenhang mit den Ausführungen zum dialektischen Erkenntnisverfahren näher ausgewiesen.1631 Im Rahmen des Rechts des Angeklagten auf rechtliches Gehör – das als das „prozessuale „Urrecht“ des Menschen …, als Rechtssubjekt ernstgenommen zu werden“,1632 bezeichnet wird – findet sich dieses (dialektische) Moment der Gegenrede nun bezo-
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1631 1632
Siehe auch MEYER-LADEWIG, EMRK-Kommentar, Art. 6 N 101: „zu allen erheblichen Tatsachen und rechtlichen Fragen ausreichend zu äuβern und Beweise anzubieten“ (Hervorhebung Meyer-Ladewig); HAEFLIGER/SCHÜRMANN, S. 186: „seine Sache dem Richter vortragen, für seine Darstellung die Beweise beantragen und seinen Standpunkt wirksam geltend machen kann“ (Hervorhebung Demko); BERKA, S. 462 N 830; siehe auch bereits BISCHOFBERGER, S. 91 f.; WIEDERKEHR, S. 20. EGMR, EGMR, VERMEULEN v. BELGIUM, 20.02.1996, Reports 1996-I, § 33 (Hervorhebung Demko); EGMR, KRESS v. FRANCE, 07.06.2001, Reports of Judgments and Decisions 2001-VI, § 74. Siehe zu unter Kap. 2 B. II. 5. RZEPKA, S. 272 (Hervorhebung Demko); WIEDERKEHR, S. 21: „zentraler Gehalt des Fairnessprinzips“.
351
Kapitel 4: «Menschenrecht auf Verteidigung»
gen auf die strafprozessuale Beweiserhebungsphase in einer konkretisierenden Weise, und zwar ausgeformt als ein «Recht auf Gegenrede», wieder. 534
Dass das Recht des Angeklagten auf rechtliches Gehör sich, was seinen Geltungsumfang im Vergleich zum Rechtsprinzip der Waffengleichheit betrifft, zu einem Teil mit dem Geltungsbereich der Waffengleichheit überschneidet,1633 zu einem anderen Teil aber auch über letzteren hinausreicht,1634 unterstützt und bekräftigt die zu gewährleistende antithetische Einflussnahmemöglichkeit des Angeklagten in Bezug auf ihre tatsächlich wirksame, weil umfassende Verwirklichung, indem dem Angeklagten die Berechtigung zu einer aktiven Stellungnahme nicht nur zu Ausführungen und Beweisvorbringen der «echten Verfahrensgegner» in Gestalt der anklagenden Seite eingeräumt ist,1635 sondern zudem auch zu Ausführungen und Beiträgen von sog. „objektiven Dritten“1636 und hier etwa von objektiven Justizbehörden.1637 Nicht allein genügt es jedoch, dass der Angeklagte im Strafverfahren nur formal angehört wird.1638 Vielmehr ist das Recht auf rechtliches Gehör (wie 1633 1634
1635
1636 1637
1638
352
KÜHNE, in: Karl (Hrsg.), IntKommEMRK, 11. Lieferung, April 2009, Art. 6 N 372. Darauf ebenso hinweisend GAEDE, S. 302; siehe zudem die Ausführungen von ESSER, S. 407 ff. zu den Erklärungen einer zur Objektivität verpflichteten Justizbehörde. Siehe aus der Rechtsprechung etwa EGMR, BRANDSTETTER v. AUSTRIA, 28.08.1991, A 211, § 67: „by the other party“; EGMR, FITT v. THE UNITED KINGDOM, 16.02.2000, Reports of Judgments and Decisions 2000-II, § 44. GAEDE, S. 302. Siehe aus der Rechtsprechung etwa EGMR, VERMEULEN v. BELGIUM, 20.02.1996, Reports 1996-I, § 33: „… all evidence adduced or observations filed, even by an independent member of the national legal service …“; EGMR, KRESS v. FRANCE, 07.06.2001, Reports of Judgments and Decisions 2001-VI, § 74: „… even by an independent member of the national legal service …“; siehe zudem deutlich in EGMR, NIDERÖST-HUBER v. SWITZERLAND, 18.02.1997, Reports 1997-I, §§ 24 ff. bei Stellungnahmen des Vorgerichts; siehe zu Erklärungen objektiver Justizbehörden auch die näheren Ausführungen von ESSER, S. 407 ff. Deutlich auch die Ausführungen in der zivilrechtlichen Entscheidung EGMR, WINTERWERP v. THE NETHERLANDS, die in der Sache aber ebenso für ein tatsächlich wirksames und nicht nur formal gewährtes Recht auf rechtliches Gehör im Strafverfahren Anwendung finden dürften, EGMR, WINTERWERP v. THE NETHERLANDS, 24.10.1979, A 33, §§ 61, 73, 74, 75: „… As to the particular facts, the applicant was never associated, either personally or through a representative, in the proceedings leading to the various detention orders made against him: he was never notified of the proceedings or of their outcome; neither was he heard by the courts or given the opportunity to argue his case …“ (§ 61); auf diese ebenso verweisend ESSER, S. 406 FN 86; siehe auch die Betonung des EGMR in EGMR, BELZIUK v. POLAND, 25.03.1998, Reports 1998-II, § 37: „… However, whatever method is chosen, it should ensure that the other party is aware that observations have been filed and gets a real opportunity to comment thereon …“; ebenso EGMR, BRANDSTETTER v. AUSTRIA, 28.08.1991, A 211, § 67: „a real opportunity“, siehe auch § 68 zum
Kapitel 4: «Menschenrecht auf Verteidigung»
die anderen spezifischen Verteidigungsrechte auch) in die der praktischen Wirksamkeit verpflichtete Auslegung der EMRK-Garantien eingestellt: Verlangt ist, dass der Angeklagte in konkret und praktisch wirksamer Weise1639 zu allen den gerichtlichen Entscheidungsfindungsprozess möglicherweise beeinflussen könnenden Verfahrensgeschehnissen und Vorbringen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht Stellung nehmen und seine Sicht zum Fall unter Einschluss seiner Beweise zur Sprache bringen kann,1640 um auf diese Weise seinerseits einen tatsächlich wirksamen Einfluss auf den gerichtlichen Entscheidungsfindungsprozess zu erhalten. Auch hier zeigt sich die (oben bereits ausgeführte) zu beachtende Unterscheidung zwischen der Inhalts- und der Ausübungsebene: Das rechtliche Gehör ist – was dessen Inhaltsebene betrifft – ebenso wie die anderen spezifischen Verteidigungsrechte in das dem Angeklagten für ein faires Strafverfahren zu
1639
1640
Nichtgenügen einer nur „… indirect and purely hypothetical possibility for an accused to comment on prosecution arguments …“, (Hervorhebung Demko). Siehe auch KÜHNE, in: Karl (Hrsg.), IntKommEMRK, 11. Lieferung, April 2009, Art. 6 N 367: „sinnvoll teilzunehmen“ (Hervorhebung Demko); siehe zu mit dem Erfordernis eines praktisch wirksam gewährten rechtlichen Gehörs verbundenen Anforderungen etwa zum Recht auf eine direkte – und nicht nur indirekte und nur hypothetische – Prüfung und Erwiderung auf bzw. Gegenäusserung zu Äusserungen der anklagenden Seite näher EGMR, BRANDSTETTER v. AUSTRIA, 28.08.1991, A 211, §§ 67 ff.: „… An indirect and purely hypothetical possibility for an accused to comment on prosecution arguments included in the text of a judgment can scarcely be regarded as a proper substitute for the right to examine and reply directly to submissions made by the prosecution …“ (§ 68, Hevorhebung Demko); siehe zur für ein praktisch wirksam gewährtes rechtliches Gehör notwendigen Anforderung ausreichender Zeit und Gelegenheit etwa EGMR, KREMZOW v. AUSTRIA, 21.09.1993, A268-B, §§ 45 ff.: „…The Commission found that the procedure was not fair in this respect and that the defence had not been granted "adequate time and facilities" to prepare and submit its arguments under conditions which ensured that they could effectively be taken into account by the Supreme Court … “ (§ 47) und zur Beurteilung des Gerichtshof: “… It considers that this period afforded the applicant and his lawyer sufficient opportunity to formulate their reply in time for the oral hearing … the Court considers that, although the applicant may have been to some extent disadvantaged in the preparation of his defence, he nevertheless had "adequate time and facilities" to formulate his response to the croquis …“ (§§ 48, 50); siehe auch deutlich EGMR, KRCMAR AND OTHERS v. THE CZECH REPUBLIC, 03.03.2000, Application Nr. 35376/97, § 42: „… A party to the proceedings must have the possibility to familiarise itself with the evidence before the court, as well as the possibility to comment on its existence, contents and authenticity in an appropriate form and within an appropriate time, if need be, in a written form and in advance …“, (Hervorhebung Demko). Siehe auch EGMR, NIDERÖST-HUBER v. SWITZERLAND, 18.02.1997, Reports 1997-I, § 29: „… the opportunity to express their views on every document in the file …“ (Hervorhebung Demko).
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Kapitel 4: «Menschenrecht auf Verteidigung»
gewährende Recht auf wirksame Verteidigung eingestellt, mit welchem dem Angeklagten eine (materiell) wirksame antithetische Teilnahmemöglichkeit am Straf- und Beweisverfahren und mit dieser die Möglichkeit einer tatsächlichen Einflussnahme auf den gerichtlichen Entscheidungsfindungsprozess – und zwar sowohl bezogen auf dessen Verlauf als auch dessen Ergebnis – zu geben ist. Auf seiner Ausübungsebene wiederum formt sich das rechtliche Gehör in die (Ausübungs-)Rechte in Gestalt des Rechts auf Kenntniserlangung von und des Rechts auf Stellungnahme zu allen den gerichtlichen Entscheidungsfindungsprozess beeinflussen könnenden Verfahrensgeschehnissen und -vorbringen aus.1641 536
Bezogen auf die Ausübungsebene prägt sich mithin im Recht auf rechtliches Gehör mit seinem Kenntnis- und Stellungnahmerecht – durch welches der Angeklagte seine Auffassung zu den den Entscheidungsfindungsprozess berührenden Fragen im wahrsten Sinne des Wortes zur Sprache bringen und hierdurch antithetische Erkenntnismomente in den gerichtlichen Erkenntnisprozess kommunikativ einführen darf – eine Art von «Mindestausübungsrecht» bzw. «Kernausübungsrecht» des Angeklagten aus. Dieses «Mindestausübungsrecht» findet sich als Grundelement auch in denjenigen spezifischen Verteidigungsrechten – wie etwa dem Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen – wieder, die aus dem rechtlichen Gehör abgeleitet werden, wobei diese spezifischen Verteidigungsrechte sodann jedoch, was ihre Ausübungsebene betrifft, über das rechtliche Gehör und dessen (Mindest-)Ausübungselemente hinausreichen.1642
537
Sind es das Recht auf Kenntniserlangung von und das Recht auf Stellungnahme zu allen Verfahrensgeschehnissen und -vorbringen, die dem Angeklagten seine aktive unvermittelte Teilnahme im Rahmen der strafprozessualen Beweiserhebungsphase vermitteln,1643 so treten als weitere, vom EGMR für 1641
1642 1643
354
Zwar unterscheidet Arndt nicht – wie hier im Haupttext – ausdrücklich zwischen der Inhalts- und der Ausübungsebene der Menschenrechte, jedoch deutet sich diese zu beachtende Unterscheidung zwischen diesen beiden Sachebenen auch in seinen Worten an, siehe näher ARNDT, NJW 1959, S. 1301, wonach sich der Anspruch auf rechtliches Gehör „nicht in einem Äuβerungsrecht (erschöpft)“, was die Ausübungsebene anspricht. Vielmehr verbürge der Anspruch auf rechtliches Gehör „eine in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht volle Befugnis des Beteiligten, selbständig und als ein Subjekt des Verfahrens auf den Rechtsgang Einfluβ zu nehmen. Darin findet im Gerichtsverfahren die Personalität des Menschen ihren Ausdruck“ (Hervorhebung Demko), womit die Inhaltsebene des Anspruchs auf rechtliches Gehör angesprochen ist. Siehe dazu näher unter Kap. 5 A. I. Siehe zur Unterscheidung zwischen Beweiserhebungs- und Beweiswürdigungsebene bereits näher unter Kap. 4 B. II. 2.; siehe auch BISCHOFBERGER, S. 91: „Die Aeusserungsmöglichkeit ist ja Voraussetzung der Anhörung. Wer sich nicht äussern kann, kann auch kein Gehör finden“.
Kapitel 4: «Menschenrecht auf Verteidigung»
ein wirksam gewahrtes rechtliches Gehör betonte Erfordernisse solche hinzu, die sich in der Sache auf den institutionellen Teilhabenrahmen1644 beziehen und diejenigen Momente betonen, die nicht die aktiven und unmittelbaren Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten selbst betreffen, sondern sich vielmehr als Verpflichtungen an das Gericht wenden:1645 Mit der vom EGMR für die wirksame Wahrung des rechtlichen Gehörs aufgestellten Würdigungspflicht des Gerichts zum einen und der Begründungspflicht des Gerichts zum anderen hat der EGMR bezogen auf den gerichtlichen Teilhaberahmen zwei Verpflichtungen für das Gericht aufgestellt, um die vom Angeklagten vorgebrachten kenntnisgefüllten Stellungsnahmen auch tatsächlich wirksam werden und nicht «ins Leere» laufen zu lassen. Hinsichtlich der Würdigungspflicht des Gerichts betont der EGMR die Verpflichtung des Gerichts, die Ausführungen und Beweisvorbringen des Angeklagten zur Kenntnis zu nehmen und diese angemessen und vorurteilsfrei zu prüfen.1646 Die Begründungspflicht des Gerichts1647 ist u.a.1648 mit der sichtbaren Bestätigung der Wahrung des Rechts des Angeklagten auf rechtliches Gehör verbunden1649 1644
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Siehe zur Unterscheidung zwischen der Teilhabe und dem Teilhaberahmen unter Kap. 4 B. II. 2. Dazu ebenso BISCHOFBERGER, S. 92: „Dem Recht des Betroffenen, sich im Verfahren zu äussern, entspricht die Pflicht der Behörde zur Entgegennahme und Beachtung des Geäusserten“ (Hervorhebung Demko); dazu auch ARNDT, NJW 1959, S. 7 f.: „Pflicht des Gerichts …“ (S. 7); WIEDERKEHR, S. 21 f.: „… die Behörden verpflichtet werden …“ (S. 21). Siehe etwa EGMR, KRASKA v. SWITZERLAND, 19.04.1993, A254-B, §§ 30 ff.: „… a duty to conduct a proper examination of the submissions, arguments and evidence adduced by the parties, without prejudice to its assessment of whether they are relevant to its decision …“ (§ 30, Hervorhebung Demko); EGMR, VAN DE HURK v. THE NETHERLANDS, 19.04.1994, A288, § 59; EGMR, VAN KUCK v. GERMANY, 12.06.2003, Reports 2003-VII, §§ 48 ff.; siehe auch BISCHOFBERGER, S. 92, wonach rechtliches Gehör „nicht nur ein Hören, sondern ein Anhören …, d.h. ein Entgegennehmen und In-Erwägung-Ziehen des Geäusserten“ (Hervorhebung Demko) sei. Siehe etwa EGMR, VAN DE HURK v. THE NETHERLANDS, 19.04.1994, A288, § 61: „… Article 6 para. 1 (art. 6-1) obliges courts to give reasons for their decisions, but cannot be understood as requiring a detailed answer to every argument …“ (Hervorhebung Demko). Zu weiteren Funktionen der Begründungspflicht siehe etwa EGMR, SUOMINEN v. FINLAND, 01.07.2003, Application No. 37801/97, § 37: „… Moreover, a reasoned decision affords a party the possibility to appeal against it, as well as the possibility of having the decision reviewed by an appellate body. It is only by giving a reasoned decision that there can be public scrutiny of the administration of justice …“; siehe mit weiteren Verweisen und Ausführungen zu Elementen der Begründungspflicht GAEDE, S. 303 f.; HAEFLIGER/SCHÜRMANN, S. 189. Siehe auch EGMR, SUOMINEN v. FINLAND, 01.07.2003, Application No. 37801/97, § 37: „… The Court emphasises that a further function of a reasoned deci-
355
Kapitel 4: «Menschenrecht auf Verteidigung»
und nimmt damit teil an dem vom Gerichtshof anerkannten Grundsatz «Justice must not only be done, it must also be seen to be done».1650 538
Erst durch die Beachtung beider «Seiten» des rechtlichen Gehörs – zum einen der an den Angeklagten und seine eigenen Handlungsmöglichkeiten anknüpfenden «unvermittelten» aktiven Teilhabe durch kenntnisgefüllte Stellungnahme und zum anderen der «vermittelten» Teilhabe infolge Berücksichtigung der vom Angeklagten in das Strafverfahren eingeführten antithetischen Erkenntnismomente durch einen entsprechenden gerichtsbezogenen Teilhaberahmen – kann ein in der Sache wirksames rechtliches Gehör gegeben sein: Angesprochen ist hier ein eine materiell wirksame Verteidigung ermöglichendes rechtliches Gehör, welches dem Angeklagten eine tatsächliche antithetische Teilnahmemöglichkeit an und auf diese Weise eine tatsächliche Einflussnahmemöglichkeit auf Gang und Ergebnis des gerichtlichen Entscheidungsfindungsprozesses einräumt. 2.
539
Das Rechtsprinzip der Waffengleichheit
An die Seite gestellt ist dem Recht des Angeklagten auf rechtliches Gehör das ebenfalls ein grundlegendes Element eines fairen Strafverfahrens darstellende Rechtsprinzip der Waffengleichheit,1651 welches mit seiner Forderung nach «Gleichheit der Verfahrensgegner vor Gericht»1652 einen auch die (materielle) Wirksamkeit der Gewährleistung des rechtlichen Gehörs sowie der anderen spezifischen Verteidigungsrechte betreffenden Aspekt zum Ausdruck bringt. Denn ein dem Angeklagten zwar eingeräumtes, jedoch im Vergleich zum Verfahrensgegner nur mit wesentlichen Benachteiligungen eingeräumtes rechtliches Gehör kann kein solches sein, das sich im Ergebnis als ein «tatsächlich wirksam» gewährtes bezeichnen lässt.
1650
1651
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356
sion is to demonstrate to the parties that they have been heard …“ (Hervorhebung Demko). Siehe dazu EGMR, CAMPBELL AND FELL v. THE UNITED KINGDOM, 28.06.1984, A80, § 81: „… bearing in mind the importance in the context of Article 6 (art. 6) of the maxim "justice must not only be done: it must also be seen to be done" ...“ (Hervorhebung Demko); darauf hinweisend auch ESSER, S. 400; GAEDE, S. 303. Siehe etwa KÜHNE, in: Karl (Hrsg.), IntKommEMRK, 11. Lieferung, April 2009, Art. 6 N 372: „geradezu als die Essenz“ des Rechts auf ein fair trial bezeichnet, dabei bezugnehmend auf EGMR, OFNER and HOPFINGER v. AUSTRIA. Siehe auch PEUKERT, in: FROWEIN/PEUKERT, Art. 6, S. 220 N 83: „Gleichheitsgedanke“; MÜLLER, NJW 1976, S. 1064: Bestimmung des Verhältnisses der beiden Prozesssubjekte zum Gericht „auf dem Boden der Gleichberechtigung“.
Kapitel 4: «Menschenrecht auf Verteidigung»
Selbst inhaltlich keine originären Verfahrensrechte einräumend,1653 knüpft das Rechtsprinzip der Waffengleichheit an die spezifischen Verteidigungsrechte, (und hier auch an das rechtliche Gehör) an und verlangt für die Art und den Umfang ihrer Ausübung nach einer bestimmten Qualität,1654 nämlich nach einer im Vergleich zum Verfahrensgegner gleichgestellten Ausübungsberechtigung. Das Rechtsprinzip der Waffengleichheit lässt sich mit Bezug auf seine die Qualität der Ausübung als eine gerade verfahrensrechtlich gleichgestellte1655 Ausübung der Verteidigungsrechte bestimmende Funktion auch als ein zusätzlicher Qualitätsaspekt des Rechts auf rechtliches Gehör erkennen, dessen Erfüllung es für ein im Ergebnis tatsächlich wirksam gewährtes rechtliches Gehör notwendigerweise bedarf.
540
Nicht nur überhaupt ist dem Angeklagten die Berechtigung zur Kenntnisnahme von und zur Stellungnahme zu allen Vorbringen und Beweisen des Verfahrensgegners einzuräumen. Vielmehr hat dies in einer die anklagende und angeklagte Seite verfahrensrechtlich gleichstellenden Art und Weise zu geschehen,1656 was es sowohl in Bezug auf eine formelle als auch auf eine tatsächliche gegnerische Verfahrensstellung zu beachten gilt.1657 Für die beiden Verfahrensgegner ist nach einer hinsichtlich ihrer Effektivität jedenfalls gleichwertigen Möglichkeit einer Beeinflussung des Entscheidungsfindungsprozesses verlangt,1658 so dass – die dialektische Natur des Straf- und Beweisverfahrens aufgreifend – Thesen- und Antithesenhaftes in gleichberechtigter
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Darauf auch hinweisend GOLLWITZER, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR, S. 315 N 59: „Strukturprinzip“; dazu auch SUMMERS, S. 111. Siehe auch GOLLWITZER, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR, S. 315 N 59, S. 317 N 62: nicht „(w)elche Einzelbefugnisse …“, sondern dass „… bei allen Befugnissen … die gleichen Chancen für deren wirksame Geltendmachung“ (N 62, kursive, im Originaltext fettgedruckte Hervorhebung: Demko) für die Vertreter gegenläufiger Interessen bestehen. Siehe auch VILLIGER, S. 307 N 480: „… im Strafprozessrecht (sollen) der Beschuldigte und die Strafverfolgungsbehörde verfahrensrechtlich gleichgestellt sein …“ (Hervorhebung Villiger); siehe auch GRABENWARTER, S. 361 f. N 61 f. Siehe etwa EGMR, EGMR, BRANDSTETTER v. AUSTRIA, 28.08.1991, A 211, §§ 67 f.; EGMR, BELZIUK v. POLAND, 25.03.1998, Reports 1998-II, § 37: „… both prosecution and defence must be given the opportunity to have knowledge of and comment on the observations filed and the evidence adduced by the other party …“ (Hervorhebung Demko); EGMR, BULUT v. AUSTRIA, 22.02.1996, Reports 1996-II, § 47. Dazu mit näheren Ausführungen und Rechtsprechungsverweisen GAEDE, S. 307 f. Dazu auch GOLLWITZER, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR, S. 315 f. N 59 f.: „gleiche oder zumindest in der Effektivität gleichwertige Befugnisse …“ (N 59, kursive, im Originaltext fettgedruckte Hervorhebung: Demko); „gleichwertige Möglichkeiten der Einwirkung auf die Entscheidungsfindung“ (N 60 kursive, im Originaltext fettgedruckte Hervorhebung: Demko).
357
Kapitel 4: «Menschenrecht auf Verteidigung»
Weise in das gerichtliche Erkenntnisverfahren eingeführt sind. Keine formelle Gleichheit bezüglich ihrer Verfahrensberechtigungen, sondern eine in der Sache materiell gleichwertige1659 Einflussnahme auf den gerichtlichen Entscheidungsfindungsprozess („fair balance“1660) unter Vermeidung substanzieller Benachteiligungen („substantial disadvantage “1661) im Vergleich zum Verfahrensgegner ist der anklagenden und der angeklagten Verfahrensseite bzw. den Verfahrensgegnern (trotz ihrer zu beachtenden unterschiedlichen Verfahrensaufgaben, -stellungen und ihrer daraus resultierenden unterschiedlichen Verfahrensberechtigungen) einzuräumen: 542
„… the principle of equality of arms relied on by the applicant – which is one of the elements of the broader concept of fair trial – requires each party to be given a reasonable opportunity to present his case under conditions that do not place him at a substantial disadvantage vis-à-vis his opponent …“1662
543
Die durch das Rechtsprinzip der Waffengleichheit an ein faires Strafverfahren angelegte Anforderung, dem Angeklagten im Rahmen des zu gewährenden 1659
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358
GOLLWITZER, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR, S. 316 N 60: nicht notwendig seien „identische Rechte im gesamten Verfahren …“, aber erforderlich sei ein „… Gleichgewicht in den Möglichkeiten zur Vertretung der Verfahrensinteressen“ (Hervorhebung Demko) im Verlauf des als Gesamtheit zu würdigenden Verfahrens; HAEFLIGER/ SCHÜRMANN, S. 185: keine Privilegierung der Staatsanwaltschaft gegenüber dem Angeklagten; KÜHNE, in: Karl (Hrsg.), IntKommEMRK, 11. Lieferung, April 2009, Art. 6 N 372: „gleiche Handlungschancen“ bei der gerichtlichen Interessensvertretung der Prozessparteien sowie „Waffengleichheit im Strafverfahren zielt … nicht auf Gleichheit, sondern auf eine vernünftige Balance zwischen Befugnissen der Anklage und der Verteidigung“; siehe auch EGMR, DOMBO BEHEER B.V. v. THE NETHERLANDS, 27.10.1993, A274, § 33: „… the requirement of "equality of arms", in the sense of a "fair balance" between the parties …“ EGMR, DOMBO BEHEER B.V. v. THE NETHERLANDS, 27.10.1993, A274, § 33 (Hervorhebung Demko). EGMR, G.B. v. FRANCE, 02.10.2001, Reports 2001-X, § 58 (Hervorhebung Demko). EGMR, G.B. v. FRANCE, 02.10.2001, Reports 2001-X, § 58 (Hervorhebung «vis-àvis»: EGMR, übrige Hervorhebung: Demko); siehe auch EGMR, NIDERÖSTHUBER v. SWITZERLAND, 18.02.1997, Reports 1997-I, § 23; EGMR, BULUT v. AUSTRIA, 22.02.1996, Reports 1996-II, § 47: „… under the principle of equality of arms, as one of the features of the wider concept of a fair trial, each party must be afforded a reasonable opportunity to present his case under conditions that do not place him at a disadvantage vis-à-vis his opponent … In this context, importance is attached to appearances as well as to the increased sensitivity to the fair administration of justice …“, siehe dort auch zum massgeblichen Moment der Vermeidung des äusseren Eindrucks einer Benachteiligung, § 49; zu letzerem mit weiteren Verweisen auch GAEDE, S. 305 f.; VILLIGER, S. 307 N 480: abzustellen sei nicht nur auf tatsächliche Vorteilsausnützung, sondern auf vermittelten „Anschein“.
Kapitel 4: «Menschenrecht auf Verteidigung»
adversarial Verfahrens eine in ihrer Effektivität gleichwertige Einflussnahmemöglichkeit auf den strafprozessualen Wahrheitsermittlungsprozess einzuräumen,1663 prägt eine für die Fairness des Strafverfahrens erforderliche besondere Qualität der antithetischen Teilnahme des Angeklagten am Strafund Beweisverfahren aus: Das Rechtsprinzip der Waffengleichheit knüpft an das antithetische Teilnahmerecht des Angeklagten normativ diejenige besondere Qualität, wonach es nicht genügt, wenn der Angeklagte seine antithetischen Erkenntnismomente überhaupt in das Straf- und Beweisverfahren einbringen kann, sondern wonach es mit Blick auf eine materiell wirksame Verteidigung notwendig ist, dass der Angeklagte seine antithetischen Erkenntnismomente gerade in einer den thetischen Erkenntnismomenten gleichberechtigt gegenüberstehenden Weise in das Straf- und Beweisverfahren einzubringen befugt ist. Diese dem Angeklagten für seine wirksame Verteidigung einzuräumende gleichwertige Einflussnahmemöglichkeit auf das Straf- und Beweisverfahren erlangt über das rechtliche Gehör hinaus auch für die anderen spezifischen Verteidigungsrechte des Angeklagten und im Zusammenhang mit dem Zeugenbeweis insbesondere für das Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen nach Art. 6 III d EMRK grosse Bedeutung.1664
C.
Zusammenfassung
Das Menschenrecht auf Verteidigung als das Kernmoment des (Gesamt-) Menschenrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren ist auf der Grundlage einer Zusammenführung der Erkenntnisse zur dialektischen Natur des Strafverfahrens einerseits und seines menschenrechtsschützenden Anspruchs andererseits in seine spezifischen Inhalts- und Ausübungselemente ausdifferenzert worden. Das hierbei gewählte Referenzsystem der EMRK einschliesslich der Rechtsprechung des EGMR mit seiner individualmenschenrechtsschützenden Sicht, die für ein faires Strafverfahren nach Art. 6 EMRK an die Person des Angeklagten anknüpft, prägt sich zwar nicht als eine gesamteuropäische Strafverfahrens- und Beweisordnung aus. Durch die bereits heute entwickelten normativen (Mindest-)Vorgaben der EMRK und der Spruchpraxis des EGMR für die Beweiserhebung, Beweisverwertung 1663
1664
Siehe auch KOHLBACHER, S. 140: Ausgleich der vorgegebenen Übermacht des Staatsanwalts und Schaffung eines „Prozessgleichgewicht(s)“ im Rahmen des ganzen Verfahrens; MÜLLER, NJW 1976, S. 1064: dadurch, dass der Beschuldigte die „Wohltat eines Gegners erhielt …“, werde er „… selbst zum Mitwirkenden im Verfahren“ (Hervorhebung Demko). Siehe zur Waffengleichheit im Zusammenhang mit dem Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen unter Kap. 5 A. I.
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und Beweiswürdigung hat sich jedoch ein menschenrechtsschützender Kernstandard eines als fair zu bewertenden strafprozessualen Beweisverfahrens und Strafverfahrens insgesamt entwickelt. Erste tragende Kern- bzw. Grundkonturen einer durch die EMRK normierten und durch den EGMR konkretisierten menschenrechtsschützenden strafprozessualen Beweislehre sind deutlich sichbar, welche bezüglich des «Ob» ihrer Beachtung verbindlich vorgegeben sind, während sich die EMRK bezüglich des «Wie» ihrer Umsetzung durch eine Offenheit für die verschiedenen Strafverfahrensformen auszeichnet. 545
Aufgezeigt wurden des Weiteren die verschiedenen Bedeutungsfacetten der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR für die nationalen und internationalen Strafverfahren. Betonung fand zudem die Relevanz der Strafrechtsvergleichung auch für den Bereich der menschenrechtsschützenden nationalen und internationalen Strafverfahren. Das Moment der Offenheit der EMRK für verschiedene Strafverfahrensformen hat sich als bedeutsam nicht nur für die verschiedenen nationalen Strafverfahren in Europa, sondern auch für die internationalen Strafverfahren erwiesen, ermöglicht doch gerade dieses Moment der Offenheit eine Beachtung der menschenrechtsschützenden Kernstandards der EMRK auch in den sui generis-Rechtssystemen der internationalen Strafverfahren.
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Bei der Suche nach dem Wesensgehalt bzw. dem spezifischen Inhalt des Menschenrechts auf Verteidigung ist die Frage nach dessen Ausprägung als ein «Menschenrecht auf Antithese» ins Zentrum gerückt, getragen von der Zusammenführung der Erkenntnisse zum dialektischen und menschenrechtsschützenden Charakter eines fairen Beweis- und Strafverfahrens. Das das dialektische Erkenntnismoment ansprechende Recht des Angeklagten auf ein kontradiktorisches Straf- und Beweisverfahren, das das Thesen- und Antithesenhafte gleichermassen einbezieht, verbindet sich mit dem menschenwürdewahrenden Recht des Angeklagten, als Prozesssubjekt am Straf- und Beweisverfahren teilzunehmen und hier als Prozesssubjekt das Antithetische in das Straf- und Beweisverfahren einzubringen und in diesem zur Sprache zu bringen. Als spezifisches Inhaltsmoment des Menschenrechts auf Verteidigung hat sich auf diese Weise das Menschenrecht des Angeklagten auf eine wirksame antithetische Teilnahme als Prozesssubjekt am Straf- und Beweisverfahren zu erkennen gegeben, welches sich in kurzer Audrucksweise auch als ein «Menschenrecht auf Antithese» bezeichnen lässt.
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Für ein tatsächliches Wirksamwerden des Menschenrechts auf Verteidigung bedarf es in einer zu beachtenden Differenzierung zwischen Inhalts- und Formebene entsprechender Ausübungsstrukturen, und zwar sowohl in der Beweiserhebungsphase als auch in der Beweiswürdigungsphase des Beweisund Strafverfahrens. Für die Gewährleistung einer (materiell) wirksamen Verteidigung bedeutet dies mit Bezug auf die Beweiserhebungsphase, dass 360
Kapitel 4: «Menschenrecht auf Verteidigung»
dem Angeklagten hier das Recht auf eine unvermittelte aktive antithetische Teilnahme einzuräumen ist sowie die institutionellen Rahmenbedingungen zur wirksamen Entfaltung der aktiven Teilnahme des Angeklagten zu erfüllen sind. An der Beweiswürdigungsphase selbst nimmt der Angeklagte zwar nicht mehr aktiv teil, jedoch ist die ihm zu gewährende (materiell) wirksame Verteidigung hier in gerichtsvermittelter Form durch Wahrung institutioneller Rahmenbedingungen dergestalt zu gewährleisten, dass dem Angeklagten ein Recht auf eine «faire Beweiswürdigung» durch das Gericht eingeräumt ist. Bei den «Kernausübungselementen» des Menschenrechts auf Verteidigung in Gestalt des Rechts des Angeklagten auf rechtliches Gehör und des Rechtsprinzips der Waffengleichheit findet die Differenzierung zwischen der Inhalts- und der Ausübungsebene ihre konkretisierende Fortsetzung. Als «Mindestausübungsrecht» ermöglicht das Recht auf rechtliches Gehör dem Angeklagten, seine antithetischen Erkenntnismomente in das Straf- und Beweisverfahren einzubringen und hier durch sein Stellungnahmerecht im wahrsten Sinne des Wortes zur Sprache zu bringen, wodurch sich das Recht auf rechtliches Gehör auch als ein Recht auf Gegenrede zu erkennen gibt. Die Zweigliedrigkeit eines antithetischen Teilnahmerechts des Angeklagten in Unterscheidung zwischen dem Recht auf Teilhabe und auf einen Teilhaberahmen erlangt bei dem Recht auf rechtliches Gehör einen konkretisierten Ausdruck: Gefordert sind hier zum einen ein Kenntnisnahmerecht und Stellungnahmerecht des Angeklagten, welche ihm eine aktive unvermittelte Verfahrensteilname ermöglichen, und zum anderen die Würdigungs- und Begründungspflicht des Gerichts als zu beachtender gerichtlicher Teilhaberahmen. Mit dem Rechtsprinzip der Waffengleichheit ist für das antithetische Teilnahmerecht des Angeklagten ein besonderes Qualitätsmoment angesprochen: Dieses verlangt nach einer in ihrer Effektivität gleichwertigen Einflussnahmemöglichkeit der Verfahrensgegner auf das Straf- und Beweisverfahren und hier nach einem gleichberechtigten Zum-Ausdruck-Bringen-Können der thetischen und antithetischen Erkenntnisse im Straf- und Beweisverfahren, um dem Angeklagten ein materiell wirksames Menschenrecht auf Verteidigung gewähren zu können.
361
548
Kapitel 5 Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen als konkretisierte Ausformung des «Menschenrechts auf Verteidigung» A.
Der Wesensgehalt des Konfrontationsrechts des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
I.
Begründung, Natur und Wesensgehalt des Konfrontationsrechts des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen nach Art. 6 III d EMRK
1.
Wesensgehalt und Natur des Konfrontationsrechts
Bereits im Rahmen der Ausführungen zum Recht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren nach Art. 6 I EMRK wurde die mit den zu «wahrenden Verteidigungsrechten» angesprochene, dem Angeklagten zu gewährleistende «wirksame Verteidigung» im Straf- und Beweisverfahren als Grundelement eines dem Angeklagten eingeräumten fairen Strafverfahrens aufgezeigt sowie die zu beachende Unterscheidung zwischen Inhalts- und Ausübungsebene – mithin zwischen «dem» Verteidigungsrecht des Angeklagten als Ausdruck von dessen Recht auf eine wirksame Verteidigung einerseits und den spezifischen (benannten und unbenannten) Verteidigungsrechten als Ausübungsformen andererseits – betont.1665 Sichtbar ist geworden, dass dieses Verteidigungsrecht des Angeklagten nach einer prozesssubjektwahrenden, praktisch wirksamen antithetischen Teilnahmeberechtigung des Angeklagten an dem Strafverfahren und bezogen auf das Beweisverfahren an dem strafprozessualen Wahrheitsermittlungsprozess verlangt.1666
549
Genau dieses dem Angeklagten für eine wirksame Verteidigung im Beweisverfahren einzuräumende antithetische Teilnahmerecht an dem strafprozessualen Wahrheitsermittlungsprozess findet auch für das Konfrontationsrecht des Angeklagten nach Art. 6 III d EMRK seine Bestätigung und aber auch Konkretisierung als das den Wesensgehalt des Konfrontationsrechts bestimmende Moment, geht es – was die Rechtsprechung des EGMR deutlich macht – doch auch hier um eine dem Angeklagten einzuräumende wirksame
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Siehe dazu unter Kap. 3 B. III. 1. b) cc) und Kap. 4. Siehe dazu unter Kap. 4.
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
antithetische Teilnahme an dem sich auf den konkreten Belastungszeugen beziehenden Wahrheitsermittlungsprozess. Verlangt eine wirksame Verteidigung im strafprozessualen Beweisverfahren eine antithetische Teilnahmemöglichkeit des Angeklagten im gesamten Wahrheitsermittlungsprozess, so bedeutet dies zugleich, dass dem Angeklagten in konkretisierender Weise bezogen auf jede einzelne Erkenntnis und jeden einzelnen Beweis einschliesslich jedes Beweismittels eine antithetische Teilnahme zu ermöglichen ist. Ein eben solches sich konkretisierendes antithetisches Teilnahmerecht an dem Wahrheitsermittlungsprozess formt das Konfrontationsrecht nach Art. 6 III d EMRK nun bezogen auf den belastenden Zeugenbeweis und die Frage aus, ob das durch den Belastungszeugen Ausgesagte wahr oder unwahr ist. Es geht mithin um ein konkretisiertes antithetisches Teilnahmerecht des Angeklagten an dem sich auf den belastenden Zeugenbeweis beziehenden Wahrheitsermittlungsprozess, in welchem es um die Ermittlung der Wahrheit der belastenden Zeugenaussage geht und an welchem der Angeklagte als Prozesssubjekt in wirksamer antithetischer Weise zu beteiligen ist. 551
Die Verbindung der antithetischen Teilnahmemöglichkeit des Angeklagten mit dem sich auf den Belastungszeugen und seine Aussagen beziehenden Wahrheitsermittlungsprozess ist zu betrachten in ihrem Eingestelltsein in die Zusammenführung derjenigen zwei Momente, die ein dem Angeklagten zu gewährendes faires Strafverfahren kennzeichnen, nämlich in die Zusammenführung des Charakters des Straf- und Beweisverfahrens als dialektisches Erkenntnisverfahren und seines Anspruchs, dabei zugleich ein menschenwürde- und menschenrechtswahrendes Strafverfahren zu sein.1667 Zum Ausdruck gebracht ist auf diese Weise zudem, das Konfrontationsrecht als «Teil» des strafprozessualen Wahrheitsermittlungsprozesses und hierbei zugleich aber in dessen Bedeutung als eigenständiges Verteidigungsrecht zu erkennen, was sich nicht gegenseitig ausschliesst, sondern unter Zusammenführung der Ebenen der materiellen und der prozeduralen Gerechtigkeit1668 vielmehr zusammengehört:1669 1667 1668
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Siehe dazu bereits näher unter Kap. 4. Siehe zur Zusammenführung der materiellen und prozeduralen Gerechtigkeit als die zwei Momente der Strafgerechtigkeit bereits näher unter Kap. 2 A. und Kap. 3 A. III. Zur zutreffenden Betonung beider Momente, das des Verteidigungsrechts wie auch das der Wahrheitsermittlung, siehe etwa KRAUSS, V-Leute, S. 89, 97: „… zum einen, die Subjektstellung des Beschuldigten zu gewährleisten, soll aber zum anderen auch die Wahrheitsfindung fördern …“ (S. 97, Hervorhebung Demko); ebenso TRECHSEL, AJP 2000, S. 1366 f.: „Art. 6 Ziff. 3 d) dient zwei Zielen: Einerseits soll der Verteidigung ermöglicht werden, die Glaubwürdigkeit des Zeugen auf die Probe zu stellen; andererseits dient das Fragerecht aber auch der Wahrheitsfindung …“; GOLLWITZER, Gedächtnisschrift Meyer, S. 147 f.; DONATSCH/LIEBER, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, § 14 N 5, 6: „Das Teilnah-
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Sich nicht in der Bedeutung einer schlichten „Beweisregel“1670 erschöpfend,1671 sondern sich vielmehr als ein sich aus der zu wahrenden Menschen-
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me- und Fragerecht als Teil der Mitwirkungsrechte des Angesch. stellt ein zentrales kontradiktorisches Element der spezifisch prozessualen Wahrheits- und Rechtsfindung dar …“ (N 5); siehe auch zum rechtlichen Gehör und dessen Einbindung sowohl in die Sachaufklärung als auch in die Menschenwürde, die das rechtliche Gehör als ein «persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht» ausweist, näher die Rechtsprechung des BG etwa in BGE 118 Ia 17 S. 19: „… Das rechtliche Gehör dient einerseits der Sachaufklärung, andererseits stellt es ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht beim Erlass eines Entscheids dar, welcher in die Rechtsstellung des Einzelnen eingreift. Dazu gehört insbesondere das Recht des Betroffenen, sich vor Erlass eines in seine Rechtsstellung eingreifenden Entscheids zur Sache zu äussern, erhebliche Beweise beizubringen, Einsicht in die Akten zu nehmen, mit erheblichen Beweisanträgen gehört zu werden und an der Erhebung wesentlicher Beweise entweder mitzuwirken oder sich zumindest zum Beweisergebnis zu äussern, wenn dieses geeignet ist, den Entscheid zu beeinflussen …“ (Hervorhebung Demko), ebenso deutlich BGE 116 Ia 94 S. 99; siehe zu dieser Betrachtung des rechtlichen Gehörs auch näher HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, S. 250 N 3: „Wahrung der menschlichen Würde im Verfahren“ und mittels der Mitwirkungsrechte Verhinderung, dass der Einzelne zum Objekt staatlichen Handelns wird, sowie „auch geeignet, den Sachverhalt abzuklären und so zur Verwirklichung der materiellen Wahrheit … beizutragen“; DONATSCH/ SCHWARZENEGGER/WOHLERS, S. 28; SPANIOL, S. 216 f.: „… das rechtliche Gehör (dient) nicht nur der allseitigen Sachaufklärung, zu der es zweifellos beitrage, sondern beruht daneben auf der „Würde des Rechtsgenossen“ …“ (S. 217, Hervorhebung Demko); anders aber und für das Konfrontationsrecht das Moment der strafprozessualen Wahrheitsfindung ablehnend oder zumindest zurückhaltend anführend etwa KRAUSBECK, S. 28 f.; SCHLEIMINGER, S. 17 f., 241 f.; WALTHER, HRRS 2004, S. 316 f. mit der Unterscheidung „… (Z)wischen "der Wahrheitsfindung dienen" und "der Wahrheitsfindung nutzen" …“ (S. 317, Hervorhebung Walther); zu der ebenso beim rechtlichen Gehör bestehenden „Doppelfunktion“ (S. 22, Hervorhebung Demko) siehe WIEDERKEHR, S. 22: Sicherstellung der Stellung des Einzelnen als „Subjekt“ des Verfahrens und „zugleich“ (Hervorhebung Demko) Beitrag zur Verbesserung der „Wahrheitsfindung und Sachverhaltsaufklärung“; MATT, S. 25; dazu auch BGE 127 I 54, S. 56: „Das rechtliche Gehör dient einerseits der Sachaufklärung, anderseits stellt es ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht beim Erlass eines Entscheids dar, welcher in die Rechtsstellung des Einzelnen eingreift“ (Hervorhebung Demko); BGE 122 I 53, S. 55; BGE 121 V 150, S. 152; BGE 117 V 153, S. 158. SCHLEIMINGER, S. 183, siehe näher S. 183 ff.; siehe auch WALTHER, HRRS 2004, S. 310 zur „Verzahnung von (subjektivem) Konfrontationsrecht und (objektivem) Beweisrecht“ und den Zuverlässigkeitsindizien für den „Zuverlässigkeitstest“; MAHLER, S. 31 ff. Siehe dazu mit Blick auf die Bedeutung des Konfrontationsrechts in den Vereinigten Staaten von Amerika und insbesondere zu der mit der Entscheidung Crawford v. Washington (2004) verbundenen, sich von der früheren Rechtsprechung in der Entscheidung Ohio v. Roberts (1980) mit deren «Zuverlässigkeitstest» lösenden Recht-
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
würde des Angeklagten begründendes eigenständiges prozesssubjektwahrendes Verteidigungsrecht ausformend,1672 ist dem Angeklagten für seine Verteidigung mit dem Konfrontationsrecht das wirksam zu gewährende Recht auf eine aktive antithetische Teilnahme am Straf- und Beweisverfahren und mit diesem das Recht auf eine wirksame Einflussnahme auf den Prozess und das Ergebnis der strafprozessualen Wahrheitsermittlung einzuräumen.1673 Dabei darf, ebenso wie auch das Strafverfahren(srecht) nicht nur als reiner Diener des Strafrechts und der materiellen Gerechtigkeit angesehen werden darf,1674 auch das Konfrontationsrecht nicht auf die Bedeutung eines «blossen Dieners» der strafprozessualen Wahrheitsermittlung reduziert werden.1675 Denn eine solche reduzierende, (zu) einseitige Sichtweise, welche die der prozeduralen Gerechtigkeitsebene zugehörige Eigenständigkeit des Konfrontationsrechts als Verteidigungsrecht ausblendet, könnte zu verschiedenen fehlerhaften Annahmen führen: Einerseits könnte fehlerhafterweise angenommen werden, dass das Konfrontationsrecht nur dann zu gewähren sei, wenn es vom Angeklagten auch tatsächlich wahrheitsförderlich ausgeübt wird, oder dass der Angeklagte gar zu einem aktiven Wahrheitsbeitrag verpflichtet ist.1676 Andererseits könnte fehlerhafterweise angenommen werden, dass das Konfrontationsrecht dem Angeklagten dann nicht einzuräumen sei, wenn das Gericht die Wahrheit auch ohne Ausübung des Konfrontationsrechts findet bzw. genauer, gefunden zu haben glaubt.1677 Eine solche reduzierende, rein dienende Sichtweise auf das Konfrontationsrecht zu legen, würde (zu) einsei-
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sprechungsänderung die weiterführenden Darstellungen etwa von WALTHER, HRRS 2004, S. 310 ff.; MAHLER, S. 31 ff.; SCHLEIMINGER, S. 183 ff.; zur Entscheidung Crawford v. Washington (2004) siehe auch HRRS 2004, S. 303 f. Zum Konfrontationsrecht als Verteidigungsrecht siehe etwa KRAUSBECK, S. 29 ff.; siehe auch ALSBERG, GA 1916/1917, S. 99, wonach das Fragerecht neben dem Antragsrecht „das wichtigste Parteirecht des Strafprozesses“ ist. Siehe auch DONATSCH/LIEBER, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, § 14 N 5, 6: „Möglichkeit zur Beeinflussung des Entscheides“ (S. 6). Siehe dazu bereits unter Kap. 2 A. Sich gegen eine Reduzierung auf ein, gegen eine Erschöpfung in einem Mittel zur Wahrheitsermittlung aussprechend siehe im Zusammenhang mit dem rechtlichen Gehör auch SPANIOL, S. 216 f. Siehe dazu auch näher KRAUSBECK, S. 28 f.; GOLLWITZER, Gedächtnisschrift Meyer, S. 148; VALERIUS, GA 2005, S. 462 f.; siehe dazu im Zusammenhang mit dem rechtlichen Gehör auch BGE 126 I 19, S. 24: „… unabhängig davon zu gewähren, ob die Argumente, die der Angeklagte hätte vorbringen können, das Strafurteil voraussichtlich geändert hätten oder nicht …“ Siehe dazu auch näher KRAUSBECK, S. 28 f.; SCHLEIMINGER, S. 17 f.; NEUMANN, ZStW 1989, S. 69; PERRON, ZStW 1996, S. 133 für das Beweisantragsrecht; SPANIOL, S. 216 f.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
tig allein die Ebene der materiellen Gerechtigkeit in den Blick nehmen, hingegen die für die Strafgerechtigkeit ebenso wichtige und notwendige prozedurale Gerechtigkeitsebene und die mit dieser einhergehende eigenständige Bedeutung des Konfrontationsrechts als aus der Menschenwürde des Angeklagten fliessendes prozesssubjektwahrendes1678 Verteidigungsrecht vernachlässigen.1679 Gerade die Betonung auch dieser Eigenständigkeit des Konfrontationsrechts als (eben nicht nur Beweisregel, sondern) Verteidigungsrecht löst das Konfrontationsrecht aus der fälschlichen Sicht einer Begrenzung auf die blosse Funktion, tatsächlich wahrheitsdienlich im Sinne von wahrheitsnützlich sein zu müssen,1680 um dem Angeklagten gewährt werden zu können. 1678
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Siehe dazu im Zusammenhang mit dem rechtlichen Gehör auch die Ausführungen des BG, die für das mit dem rechtlichen Gehör in einem Herleitungszusammenhang stehende Konfrontationsrecht ebenso gelten, etwa in BGE 116 Ia 94, S. 99: Das rechtliche Gehör „… dient einerseits der Sachaufklärung, andererseits stellt es ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht beim Erlass eines Entscheides dar, welcher in die Rechtsstellung des Einzelnen eingreift. Dazu gehört insbesondere das Recht des Betroffenen, sich vor Erlass eines in seine Rechtsstellung eingreifenden Entscheids zur Sache zu äussern, erhebliche Beweise beizubringen, Einsicht in die Akten zu nehmen, mit erheblichen Beweisanträgen gehört zu werden und an der Erhebung wesentlicher Beweise entweder mitzuwirken oder sich zumindest zum Beweisergebnis zu äussern, wenn dieses geeignet ist, den Entscheid zu beeinflussen … Der Anspruch auf rechtliches Gehör gründet in der Auffassung, dass der Bürger in einem staatlichen Verfahren nicht blosses Objekt sein darf, sondern Prozessubjekt ist und in dieser Eigenschaft durch aktives Mitwirken seine Rechte zur Geltung bringen kann …“ (Hervorhebung Demko); BGE 127 I 6 S. 13, 14: „… Einen Bezug zur Menschenwürde weist weiter der Anspruch auf rechtliches Gehör auf; es stellt ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht dar und garantiert, dass der Einzelne nicht bloss Objekt der behördlichen Entscheidung ist, sondern sich eigenverantwortlich an ihn betreffenden Entscheidprozessen beteiligen kann …“ (Hervorhebung Demko); siehe auch DONATSCH/SCHWARZENEGGER/WOHLERS, S. 28, wonach das rechtliche Gehör zur Ermittlung der materiellen Wahrheit beitrage, aber die „vorrangige Funktion“ darin bestehe, „ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht im Verfahren zu gewährleisten und so zu verhindern, dass der Einzelne zum blossen Objekt staatlichen Handelns wird“ (Hervorhebung Donatsch/Schwarzenegger/Wohlers). Siehe zur Beachtung von materieller und prozeduraler Gerechtigkeitskomponente unter Kap. 2 A. und Kap. 3 A. III.; zur Betonung der „eigenständigen Funktion“ (S. 216) im Zusammenhang mit dem rechtlichen Gehör und sich gegen dessen „Reduktion … als Mittel der Sachaufklärung“ (S. 216) aussprechend siehe auch SPANIOL, S. 216 f.; siehe dazu auch die Ausführungen von RZEPKA, S. 237 f., 319: die aus der Subjektstellung fliessenden Rechte „bestehen um ihrer selbst willen, unabhängig davon, ob sie gleichzeitig auch der materiellen Wahrheit und der Herbeiführung einer gerechten Entscheidung dienen“ (S. 319). Siehe auch KRAUSBECK, S. 30: „ausräumen könnte“ (Hervorhebung Krausbeck); HUG, Kassationsgericht, S. 394 f.: „hätte erschüttern können“ (Hervorhebung Demko).
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen 553
Die wichtige Betonung der Eigenständigkeit des Konfrontationsrechts als Verteidigungsrecht kann und darf zugleich aber auch wiederum nicht bedeuten, das Konfrontationsrecht aus dem Prozess der strafprozessualen Wahrheitsermittlung völlig herauslösen zu wollen und damit einhergehend – unter (auch hier wieder zu) einseitiger Betrachtung allein der prozeduralen Gerechtigkeitsebene – die Ebene der materiellen Gerechtigkeit vollkommen zu vernachlässigen:1681 Denn ein einseitiges Betrachten nur der prozeduralen Gerechtigkeitsebene und hier des Verfahrens mit seinen Elementen, wie den Verteidigungsrechten, würde verkennen, warum und mit Blick worauf dieses Verfahren überhaupt durchgeführt wird, nämlich nicht als reiner Selbstzweck, sondern gerade eingestellt in das das gesamte Strafverfahren überhaupt erst rechtfertigende Ziel der Ermittlung der (materiellen) Wahrheit und Gerechtigkeit. Daher erweisen sich die zu dem Strafverfahren als einem gerade wahrheitsgerichteten Erkenntnisverfahren gehörenden Elemente und hier auch die Verteidigungsrechte – und mit diesen ebenso das Konfrontationsrecht – als, wenn auch nicht «rein und nur» dienende, so aber doch jedenfalls als Teile dieses strafprozessualen Wahrheitsermittlungsprozesses.1682
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Das Konfrontationsrecht zutreffend in dessen Bedeutung als Verteidigungsrecht zu sehen, kann und darf also nicht bedeuten, es von dem strafprozessualen Wahrheitsermittlungsprozess, dessen Teil es nun einmal ist, komplett zu lösen zu versuchen. Denn dem Angeklagten soll mit seinem Konfrontationsrecht doch ein Verteidigungsrecht nicht im Rahmen von «irgendetwas», sondern gerade eingestellt in und mit wirksamem antithetischen Einfluss auf den strafprozessualen Wahrheitsermittlungsprozess eingeräumt werden. Auch hier für das Konfrontationsrecht, das unter Zusammenführung der materiellen und prozeduralen Gerechtigkeitsebene zu betrachten ist, gilt das, was bereits im Rahmen der Ausführungen zu dem materiellen und formellen Wahrheitsverständnis des Strafverfahrens ausgeführt wurde und ein Verfahren unter
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Fraglich daher etwa die Stimmen im Schrifttum, die das Konfrontationsrecht ausschliesslich als Verteidigungsrecht verstehen, hingegen nicht auch der strafprozessualen Wahrheitsfindung zuordnen möchten, siehe etwa KRAUSBECK, S. 28 ff., der das Konfrontationsrecht „ausschlieβlich als Verteidigungsrecht“ (S. 29) versteht. Zur Betonung auch des Gesichtspunktes der strafprozessualen Wahrheitsermittlung siehe etwa KRAUSS, V-Leute, S. 89, 97: „nicht nur die Subjektstellung des Beschuldigten garantieren, sondern ebenso die Wahrheitsfindung absichern“ (S. 89, Hervorhebung Demko); ebenso TRECHSEL, AJP 2000, S. 1366 f.; siehe dazu auch TRECHSEL, Human Rights, S. 293; GOLLWITZER, Gedächtnisschrift Meyer, S. 147 f.: „zugleich Bedeutung für die erschöpfende Sachaufklärung“; DONATSCH/LIEBER, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, § 14 N 5, 6: „liegt es im Interesse der Wahrheitsfindung“ (N 6).
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Ausblenden seines Ziels zu einem blinden, jedoch bei einer alleinigen Betrachtung seines Ziels zu einem leeren Verfahren werden lässt.1683 Die Zusammenführung des Moments der antithetischen Teilnahmemöglichkeit des Angeklagten mit dem sich auf den Belastungszeugen und dessen Aussagen beziehenden Wahrheitsermittlungsprozess kommt auch in der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 III d EMRK deutlich zum Ausdruck. Für das antithetische Moment des Infragestellenkönnens des belastenden Zeugenbeweismittels und seines Wahrheitsgehaltes durch den Angeklagten wird vom EGMR – wenn auch in einer nicht immer einheitlichen Art und Weise – sowohl an die Zeugenperson als auch an die Zeugenaussage betreffende Momente angeknüpft. Zudem nimmt der EGMR mit den von ihm bezogen auf die «Wahrheit» der Aussage des Belastungszeugen verwendeten Begriffen – wie dem der Glaubwürdigkeit des Zeugenbeweismittels – auf aus der Aussagepsychologie bekannte Begrifflichkeiten Rückgriff:
555
Dass es bei Art. 6 III d EMRK um eine dem Angeklagten zu gewährende konkretisierte antithetische Teilnahme an dem sich auf die belastende Zeugenaussage beziehenden Wahrheitsermittlungsprozess und der Beurteilung als glaubhafte oder unglaubhafte Zeugenaussage geht, beschäftigte nicht erst den EGMR, sondern auch bereits die EKMR und ihre Kommissionsmitglieder. Im Fall UNTERPERTINGER v. AUSTRIA fragt Trechsel als damaliges Kommissionsmitglied nach der Bedeutung des Konfrontationsrechts und verweist auf das absolute Recht des Angeklagten, Fragen an die Belastungszeugen zu stellen, ihre Glaubwürdigkeit auf die Probe bzw. auf den Prüfstand zu stellen («to put their credibility to the test»),1684 Ergänzungen der bereits vorhandenen Informationen für eine vollständige Tatsachenaufklärung zu veranlassen und für ihn sprechende Elemente vorzubringen, womit Art. 6 III d EMRK einen besonderen Aspekt des Rechts auf rechtliches Gehör aufführe:
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„… What, then, is the meaning of this guarantee? In my view, it can only be this : The defendant has an absolute right to question witnesses against him, to put their credibility to the test, to provoke complements to the information already given in an attempt to establish a full picture of the facts and to bring forward elements which are in his favour . Art. 6 (3)(d), in other words, sets out a particular aspect of the right to be heard …“1685
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Die dem Angeklagten einzuräumende Möglichkeit, den durch das Zeugenbeweismittel vorgebrachten, den Angeklagten belastenden (thetischen) Erkennt-
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Siehe dazu bereits näher unter Kap. 2 B. Siehe auch EGMR, D. v. FINLAND, 07.07.2009, Application Nr. 30542/04, § 50: „an effective opportunity to contest E.’s account“ (Hervorhebung Demko). Abweichende Meinung des Kommissionsmitgliedes Trechsel in EKMR, UNTERPERTINGER v. AUSTRIA, 11.10.1984, Report (31), Series B, no. 93, S. 22 (Hervorhebung Demko).
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
nismomenten antithetische Erkenntnismomente zur Entlastung des Angeklagten entgegenstellen zu können und hierbei das (Belastungs-)Zeugenbeweismittel mit Blick auf dessen Glaubwürdigkeit in Zweifel ziehen zu können, kommt auch im Fall ALDRIAN v. AUSTRIA zum Ausdruck, in welchem zudem das dem Angeklagten zu gewährende Antithetische mit Blick auf alle Arten des mündlichen Beweises («all types of oral evidence») hervorgehoben ist: 559
„… By giving the defence a right to put questions and to present its evidence under the same conditions as the prosecution this provision indeed specifies the particular procedural means which are appropriate in respect of all types of oral evidence in order to secure the effective implementation of the principle of equality of arms. Despite their special professional qualifications and their duty to adopt an objective approach, the evidence of experts, as that of witnesses, requires to be checked by questions and to be confronted, where contested, with other conflicting evidence. It is only in this way that there is a chance for the defence to present its case in a fair way and to ensure that all relevant aspects of the case will thus emerge …“1686
560
Auch in der Rechtsprechung des EGMR findet sich immer wieder das mit einer antithetischen Teilnahme des Angeklagten verbundene Moment, den belastenden Zeugenbeweis auf den Prüfstand stellen und diesen und dessen Wahrheitsgehalt in Frage stellen zu können. Für dieses Moment hebt der Gerichtshof mit Blick auf das Überprüfen- und In-Zweifel-Ziehen-Können der Glaubwürdigkeit des belastenden Zeugenbeweises einmal mehr auf die Zeugenperson und das andere Mal mehr auf die Zeugenaussage selbst ab.1687 Die hierbei vom Gerichtshof benutzte Begrifflichkeit der «Glaubwürdigkeit» ist eine zur Bestimmung des Wahrheitsgehaltes eines Zeugenbeweises auch in der Aussagepsychologie verwendete Begrifflichkeit,1688 wobei der EGMR selbst aber keine abstrakten Ausführungen zur Aussagepsychologie und zu den durch diese entwickelten Kriterien und Methoden zur Bestimmung des Wahrheitsgehaltes von Zeugenbeweisen macht. Mit dieser fehlenden expliziten Auseinandersetzung des EGMR mit der Aussagepsychologie einhergehend lässt der EGMR auch nicht klar erkennen, ob er die Zeugenperson und die Zeugenaussage in einem bestimmten (Rang-)Verhältnis zueinander stehend – und wenn, in welchem – betrachtet. Jedoch macht der EGMR durch sein – wenn eben auch nicht immer einheitliches – Abstellen auf die die Zeugenperson wie auch die Zeugenaussage betreffenden Glaubwürdigkeitsmomente deutlich, dass er beide – sowohl die Zeugenperson als auch die Zeugenaussage – als heranzuziehende Anknüpfungspunkte für eine Glaubwürdig1686
1687 1688
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EKMR, ALDRIAN v. AUSTRIA, 17.03.1989, Report (30), Application No. 10532/83, unter «THE LAW», bezugnehmend auf ihren «Report in the Bönisch case» (Hervorhebung Demko). Siehe dazu die nachfolgend angeführten Entscheidungen des EGMR. Siehe dazu näher unter Kap. 5 A. II.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
keitsüberprüfung des belastenden Zeugenbeweismittels ansieht, welche zudem von Relevanz auch für das antithetische Teilnahmerecht des Angeklagten sind. In ständiger Rechtsprechung und so etwa auch im Fall KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS heisst es, dass die zu wahrenden Verteidigungsrechte im Zusammenhang mit dem Konfrontationsrecht danach verlangen,1689 dass „… an accused should be given an adequate and proper opportunity to challenge and question a witness against him …“.1690 Explizit betont sind das Überprüfen- und In-Zweifel-Ziehen-Können der Glaubwürdigkeit des Zeugen («permitting it to test the author’s reliability or cast doubt on his credibility»1691) sowie die dafür auf der Ausübungsebene notwendigen – und in dem vorliegenden Fall nicht hinreichend gegebenen – Anknüpfungspunkte der Kenntnis der Zeugenidentität («awareness of the identity of the person»1692), der Wahrnehmung des Zeugen(verhaltens) während der Befragung („observing their demeanour under questioning“1693) sowie des Stellen-Könnens von Fragen an den Belastungszeugen („to question“1694). Insbesondere mit Blick auf die aufgrund der Zeugenanonymisierung hier nicht eingeräumte Kenntnis der Zeugenidentität bringt der EGMR zum Ausdruck, dass infolge entsprechend 1689
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EGMR, KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 02.11.1989, A166, § 41:„… the rights of the defence have been respected. As a rule, these rights require that …“ (Hervorhebung Demko). EGMR, KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 02.11.1989, A166, § 41 (Hervorhebung Demko). EGMR, KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 02.11.1989, A166, § 42 (Hervorhebung Demko), siehe auch § 43; EGMR, DELTA v. FRANCE, 19.12.1990, A191-A, § 37; EGMR, WINDISCH v. AUSTRIA, 27.09.1990, A 186, §§ 27, 28: „an opportunity to examine witnesses“ (§ 27) und „permitting it to test the witnesses’ reliability or cast doubt on their credibility“ (§ 28); EGMR, UNTERPERTINGER v. AUSTRIA, 24.11.1986, A 110, § 32: „to put his former wife’s and step-daughter’s credibility in doubt“, Hervorhebung Demko. EGMR, KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 02.11.1989, A166, § 42, wo es dem Angeklagten infolge der Zeugenanonymität an dieser Kenntnis der Identität des Zeugen gerade fehlt: „… the defence is unaware of the identity of the person it seeks to question …“ (Hervorhebung Demko), dies wirkte sich mangels Informationen über die Zeugenperson auch auf ein entsprechend nur eingeschränkt mögliches Stellenkönnen von Fragen an den anonymen Belastungszeugen aus, siehe dazu § 42 sowie sogleich im Haupttext; siehe auch EGMR, WINDISCH v. AUSTRIA, 27.09.1990, A 186, § 28. EGMR, KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 02.11.1989, A166, § 43 (Hervorhebung Demko). EGMR, KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 02.11.1989, A166, § 42 (Hervorhebung Demko); dem Recht, in wirksamer Weise Fragen an den Belastungszeugen zu stellen, wurde auch in WINDISCH v. AUSTRIA eine grosse Bedeutung eingeräumt, siehe näher EGMR, WINDISCH v. AUSTRIA, 27.09.1990, A 186, § 28.
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
fehlender Informationen auch das Vorbringen antithetischer Erkenntnisse durch das Stellenkönnen von Fragen an den anonymen Belastungszeugen zur Erschütterung von dessen Glaubwürdigkeit im vorliegenden Fall eingeschränkt sei und es dem Angeklagten infolge fehlender Informationen kaum möglich sei, eine möglicherweise bestehende Voreingenommenheit, Feindseligkeit oder Unglaubwürdigkeit der befragten Person sowie vorsätzlichunwahre oder einfach irrig-fehlerhafte Zeugenaussagen oder andere, den Angeklagten beschuldigende Erklärungen ans Licht zu bringen («to bring this to light»): 562
„… the nature and scope of the questions it could put in either of these ways were considerably restricted by reason of the decision that the anonymity of the authors of the statements should be preserved … The latter feature of the case compounded the difficulties facing the applicant. If the defence is unaware of the identity of the person it seeks to question, it may be deprived of the very particulars enabling it to demonstrate that he or she is prejudiced, hostile or unreliable. Testimony or other declarations inculpating an accused may well be designedly untruthful or simply erroneous and the defence will scarcely be able to bring this to light if it lacks the information permitting it to test the author’s reliability or cast doubt on his credibility. The dangers inherent in such a situation are obvious …“1695
563
Auch in den folgenden, aus der umfangreichen Rechtsprechung des EGMR exemplarisch herausgegriffenen Entscheidungen ist es immer wieder die Möglichkeit, den belastenden Zeugenbeweis mit Blick auf dessen Wahrheitsgehalt auf den Prüfstand und in Zweifel ziehen zu können, auf welche der Gerichtshof Rückgriff nimmt und die er mit den Ausübungsrechten zur Verwirklichung dieses Wesensgehaltes des Konfrontationsrechts in Verbindung setzt.
564
Die Verbindung zwischen dem Recht auf Kenntnis der Zeugenidentität und einem wirksamen Fragen-Stellen-Können an den Belastungszeugen zum InZweifel-Ziehen von dessen Glaubwürdigkeit ist wie im Fall KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS auch im Fall WINDISCH v. AUSTRIA betont, in dem es heisst:
565
„… the nature and scope of the questions that could be put in either of these ways were, in the circumstances of the case, considerably restricted by reason of the decision to preserve the anonymity of these two persons … Being unaware of their identity, the defence was confronted with an almost insurmountable handicap: it was deprived of the necessary information permitting it to test the witnesses’ reliability or cast doubt on their credibility …“1696
1695
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372
EGMR, KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 02.11.1989, A166, § 42 (Hervorhebung Demko). EGMR, WINDISCH v. AUSTRIA, 27.09.1990, A 186, § 28 (Hervorhebung Demko).
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Neben dem Recht auf Kenntnis der Zeugenidentität ist es das Recht auf Wahrnehmung des Zeugen(verhaltens) während der Befragung, auf welches für eine Glaubwürdigkeitserschütterung im Fall VAN MECHELEN AND OTHERS v. THE NETHERLANDS abgestellt ist:
566
„… In the present case, the police officers in question were in a separate room with the investigating judge, from which the accused and even their counsel were excluded. All communication was via a sound link. The defence was thus not only unaware of the identity of the police witnesses but were also prevented from observing their demeanour under direct questioning, and thus from testing their reliability … It is true … that the anonymous police officers were interrogated before an investigating judge, who had himself ascertained their identity and had, in a very detailed official report of his findings, stated his opinion on their reliability and credibility as well as their reasons for remaining anonymous. However these measures cannot be considered a proper substitute for the possibility of the defence to question the witnesses in their presence and make their own judgment as to their demeanour and reliability.“1697
567
Das erforderliche In-Frage-Stellen-Können des Wahrheitsgehaltes des Zeugenbeweises trotz eingeschränkter Fragemöglichkeit ist im Fall UNTERPERTINGER v. AUSTRIA zum Ausdruck gebracht, in welchem dem Angeklagten das Einbringen von Beweisen zum In-Zweifel-Ziehen der Glaubwürdigkeit des Belastungszeugen («to put his former wife’s and step-daughter’s credibility in doubt») verweigert wurde:
568
„… By refusing to give evidence in court, they prevented the applicant from examining them or having them examined on their statements. Admittedly, he was able to submit his comments freely during the hearing, but the Court of Appeal refused to admit the evidence he sought to adduce in order to put his former wife’s and stepdaughter’s credibility in doubt ...“1698
569
Ebenso heisst es im Fall DELTA v. FRANCE mit Blick auf das erforderliche wirksame In-Zweifel-Ziehen-Können des belastenden Zeugenbeweises:
570
„… neither the applicant nor his counsel ever had an adequate opportunity to examine witnesses whose evidence, which had been taken in their absence and later reported by a policeman who had not witnessed the attack in the underground, was taken into account by the courts responsible for trying the facts – decisively at first instance
571
1697
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EGMR, VAN MECHELEN AND OTHERS v. THE NETHERLANDS, 23.04.1997, Reports 1997-III, §§ 59, 62 (Hervorhebung Demko); siehe auch EGMR, P.S. v. GERMANY, 20.12.2001, Application Nr. 33900/96, § 26: „… The Court notes that at no stage of the proceedings has S. been questioned by a judge, nor did the applicant have any opportunity of observing the demeanour of this witness under direct questioning, and thus from testing her reliability …“, Hervorhebung Demko. EGMR, UNTERPERTINGER v. AUSTRIA, 24.11.1986, A 110, § 32 (Hervorhebung Demko).
373
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen and on appeal, as the file contained no other evidence. They were therefore unable to test the witnesses’ reliability or cast doubt on their credibility …“1699 572
Das Erfordernis eines wirksamen Einbringen-Könnens antithetischer Erkenntnismomente gegen die thetische Belastung des Angeklagten durch den Belastungszeugen, das trotz eingeschränkter Fragemöglichkeit gegeben sein kann und die Verteidigungsrechte als gewahrt ansehen lässt, drückt sich deutlich im Fall ASCH v. AUSTRIA aus, indem dort das sprachlich vermittelte Einbringen-Können der antithetischen Erkenntnismomente durch Vortragen der eigenen Version betont ist:
573
„… Mr Asch had the opportunity to discuss Mrs J.L.’s version of events and to put his own, first to the police and later to the court. However, on each occasion he gave a different version, which tended to undermine his credibility … The fact that it was impossible to question Mrs J.L. at the hearing did not therefore, in the circumstances of the case, violate the rights of the defence; it did not deprive the accused of a fair trial. Accordingly, there has been no breach of paragraphs 1 and 3 (d) of Article 6 … taken together …“1700
574
Dass es für ein (materiell) wirksam gewährtes Konfrontationsrecht darum geht, dass der Angeklagte der durch den belastenden Zeugenbeweis ausgedrückten, den Angeklagten belastenden These in wirksamer Weise seine Antithese entgegenstellen und auf diesem Wege den Wahrheitsgehalt des belastenden Zeugenbeweises erschüttern und In-Zweifel-Ziehen kann, kommt nicht zuletzt im Fall LÜDI v. SWITZERLAND in klar erkennbarer Weise zum Ausdruck, und zwar sowohl in den Ausführungen des Gerichtshofs selbst als auch in der Stellungnahme des Richters Matscher. Der EGMR führt aus:
575
„… In the Commission’s opinion, with which the Court agrees, Mr Lüdi first made admissions after he had been shown the transcripts of the telephone interceptions, and he was deprived throughout the proceedings of any means of checking them or casting doubt on them … neither the investigating judge nor the trial courts were able or willing to hear Toni as a witness and carry out a confrontation which would enable Toni’s statements to be contrasted with Mr Lüdi’s allegations; moreover, neither Mr Lüdi nor his counsel had at any time during the proceedings an opportunity to question him and cast doubt on his credibility …“1701
1699 1700 1701
374
EGMR, DELTA v. FRANCE, 19.12.1990, A191-A, § 37 (Hervorhebung Demko). EGMR, ASCH v. AUSTRIA, 26.04.1991, A203, §§ 29, 31 (Hervorhebung Demko). EGMR, LÜDI v. SWITZERLAND, 15.06.1992, A 238, §§ 46, 49 (Hervorhebung Demko), siehe auch § 42: „… By their refusal to hear Toni as a witness the Swiss courts had deprived the applicant of the possibility of clarifying to what extent Toni’s actions had influenced and determined his behaviour, a question which according to the Federal Court … was nevertheless an essential one and was in dispute. The failure to call Toni had prevented the courts from forming their own opinion on the latter’s credibility …“, Hervorhebung Demko.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
In der Stellungnahme von Richter Matscher wird die dem Angeklagten einzuräumende Möglichkeit, das Zeugenbeweismittel in Zweifel ziehen («to challenge their (written) statements») und in angemessener Weise dem Gericht alle Argumente der Verteidigung vortragen zu können («the opportunity to put forward before the court, in a reasonable manner, all the arguments of the defence»), ebenfalls klar hervorgehoben und mit diesen Betonungen das sich wirksam Entgegenstellen-Können des Angeklagten gegen die durch das belastende Zeugenbeweismittel ausgedrückte These mittels Einbringen-Können antithetischer Erkenntnismomente angesprochen:
576
„… I am as concerned as the majority are for the rights of the defence, which can be infringed as a result of the intervention of "anonymous witnesses" who are then not called to testify before the court, so that the defendant is deprived of his right to challenge their (written) statements under Article 6 para. 3 (d) … Of course even a criminal who is caught by one of the methods just described has the right to a fair trial, one of the essential elements of which is the opportunity to put forward before the court, in a reasonable manner, all the arguments of the defence …“1702
577
Hervorzuheben mit Blick auf das vom EGMR nicht einheitliche1703 Miteinander-In-Bezug-Setzen des Glaubwürdigkeitsbegriffs mit den Begriffen der Zeugenperson, der Zeugenaussage und/oder des Zeugenbeweises ist insbesondere der Fall DOORSON v. THE NETHERLANDS. Wird der Glaubwürdigkeitsbegriff in der Rechtsprechung des Gerichtshofs einmal mit dem Begriff der Zeugenperson sprachlich verknüpft,1704 so finden sich das andere Mal aber ebenso Verknüpfungen mit dem Begriff der Zeugenaussage1705 so-
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Partly Dissenting Opinion of Judge Matscher, EGMR, LÜDI v. SWITZERLAND, 15.06.1992, A 238, S. 20 (Hervorhebung Demko). Zur nicht einheitlichen Verwendung des Glaubwürdigkeitsbegriffs siehe auch näher unter Kap. 5 A. II. Siehe EGMR, UNTERPERTINGER v. AUSTRIA, 24.11.1986, A 110, § 32: „to put his former wife’s and step-daughter’s credibility in doubt“; EGMR, DELTA v. FRANCE, 19.12.1990, A191-A, § 37: „to test the witnesses’ reliability or cast doubt on their credibility“; EGMR, WINDISCH v. AUSTRIA, 27.09.1990, A 186, § 28: „to test the witnesses’ reliability or cast doubt on their credibility“; EGMR, KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 02.11.1989, A166, § 42: „If the defence is unaware of the identity of the person it seeks to question, it may be deprived of the very particulars enabling it to demonstrate that he or she is prejudiced, hostile or unreliable“ sowie „to test the author’s reliability or cast doubt on his credibility“; EGMR, P.S. v. GERMANY, 20.12.2001, Application Nr. 33900/96, § 29: „S.’s credibility“, Hervorhebung Demko. Siehe etwa EGMR, KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 02.11.1989, A166, § 42: „Testimony or other declarations inculpating an accused may well be designedly untruthful or simply erroneous and the defence will scarcely be able to bring this to light …“; EGMR, LÜDI v. SWITZERLAND, 15.06.1992, A 238, § 49: „a confrontation which would enable Toni’s statements to be contrasted with Mr Lüdi’s allegations“;
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
wie mit dem des Zeugenbeweises.1706 Auch im Fall DOORSON v. THE NETHERLANDS ist der Glaubwürdigkeitsbegriff sowohl mit dem Begriff der Zeugenperson als auch mit dem Begriff der Zeugenaussage und darüber hinaus zudem mit dem Begriff des Zeugenbeweises verbunden: Unter Verknüpfungen mit dem Begriff der Zeugenaussage ist etwa die Rede davon, dass „(T)he defence challenged the reliability of the statements made by the various witnesses …“1707 und es ist zu lesen von „to cast doubt on the reliability of their statements“.1708 Mit Bezugnahme auf den Begriff der Zeugenperson ist an anderer Stelle von „the credibility of the witnesses“1709 und davon zu lessen, dass „(N)ot knowing the identity of the persons concerned, he could not himself cross-examine them to test their credibility“.1710 Und nicht zuletzt ist unter Verknüpfung mit dem Begriff des Zeugenbeweises die Rede von „the reliability of the evidence given by Y.15 and Y.16“1711 sowie von „to have enabled the defence to challenge the evidence of the anonymous witnesses“.1712 579
Gerade die vom EGMR hergestellte Bezugnahme des Glaubwürdigkeitsbegriffs auf die Zeugenaussage und den Zeugenbeweis verdeutlicht, dass es dem EGMR nicht um die Prüfung und Feststellung einer allgemeinen Glaubwürdigkeit der Zeugenperson, noch dazu als reiner Selbstzweck gehen kann.1713 Sichtbar ist vielmehr, dass der Wahrheitsgehalt der durch die Zeugenperson zur Sprache gebrachten Zeugenaussage in Bezug auf die von dem Strafverfahren gerade zu beantwortende Frage nach der Strafbarkeit des An-
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siehe zudem Partly Dissenting Opinion of Judge Matscher, EGMR, LÜDI v. SWITZERLAND, 15.06.1992, A 238, S. 20: „right to challenge their (written) statements“, Hervorhebung Demko. Siehe etwa EGMR, P.S. v. GERMANY, 20.12.2001, Application Nr. 33900/96, § 29: „… enabled the defence to challenge the evidence of S. …“ (Hervorhebung Demko). EGMR, DOORSON v. THE NETHERLANDS, 26.03.1996, Reports 1996-II, § 33 (Hervorhebung Demko). EGMR, DOORSON v. THE NETHERLANDS, 26.03.1996, Reports 1996-II, § 75, siehe auch § 54: „… Nor could the possibility of mistakes be ruled out …“, womit Fehler der Zeugenaussage angesprochen zu sein scheinen, Hervorhebung Demko. EGMR, DOORSON v. THE NETHERLANDS, 26.03.1996, Reports 1996-II, § 54 (Hervorhebung Demko). EGMR, DOORSON v. THE NETHERLANDS, 26.03.1996, Reports 1996-II, § 54 (Hervorhebung Demko). EGMR, DOORSON v. THE NETHERLANDS, 26.03.1996, Reports 1996-II, § 54, siehe auch § 73: „the reliability of their evidence“, Hervorhebung Demko. EGMR, DOORSON v. THE NETHERLANDS, 26.03.1996, Reports 1996-II, § 75 (Hervorhebung Demko). Siehe zur allgemeinen Glaubwürdigkeit der Zeugenperson unter Kap. 5 A. II.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
geklagten wegen der angeklagten Straftat als das entscheidende Moment der Glaubwürdigkeitsüberprüfung des Zeugenbeweises im Vordergrund steht.1714 Hinsichtlich der aufgezeigten und erforderlich zu beachtenden Unterscheidung zwischen der Inhalts- bzw. Wesensgehaltsebene einerseits und der Ausübungsebene andererseits gilt es dabei die vom EGMR stetig verwendete Grundsatz-Ausnahme-Formulierung zu kritisieren, welche eben diese nötige Unterscheidung nicht klar genug zum Ausdruck bringt. In jene GrundsatzAusnahme-Formulierung eingestellt, heisst es, dass die Verteidigungsrechte in der Regel danach verlangen, dass dem Angeklagten eine angemessene und ausreichende Gelegenheit auf Infragestellung, auf In-Zweifel-Ziehen («to challenge») des sowie auf Befragen des, auf Fragen-Stellen an den Zeugen («to question») einzuräumen ist, entweder in dem Zeitpunkt, in dem der Zeuge seine Aussage ablegt oder zu einem späteren Zeitpunkt des Verfahrens.
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„… All the evidence must in principle be produced in the presence of the accused at a public hearing with a view to adversarial argument. However, the use as evidence of statements obtained at the pre-trial stage is not always in itself inconsistent with paragraphs 3(d) and 1 of Article 6 …, provided the rights of the defence have been respected. As a rule, these rights require that the defendant be given an adequate and proper opportunity to challenge and question a witness against him, either when he was making his statement or at a later stage of the proceedings …“1715
581
In dieser, als nicht sehr glücklich gewählt zu kritisierenden Formulierung stellt der EGMR, ohne dass dies von ihm selbst näher erklärt und ausdifferenziert wird, mit «to challenge» und «to question» einen die Inhaltsebene und einen die Ausübungsebene betreffenden Aspekt des Konfrontationsrechts in einem Satz schlicht zusammen und schlicht nebeneinander,1716 und zwar – und dies ist das weitere Problem – in einem Satz, mit welchem dasjenige ausgedrückt werden soll, was die Verteidigungsrechte grundsätzlich, in der Regel verlangen. Fordert der Gerichtshof jedoch für ein faires Strafverfahren eine dem Angeklagten eingeräumte (materiell) wirksame Verteidigung, zu
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Siehe zur spezifischen Glaubwürdigkeit bzw. Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage unter Kap. 5 A. II. EGMR, WINDISCH v. AUSTRIA, 27.09.1990, A 186, § 26 (Hervorhebung Demko); siehe auch EGMR, ASCH v. AUSTRIA, 26.04.1991, A203, § 27; EGMR, VAN MECHELEN AND OTHERS v. THE NETHERLANDS, 23.04.1997, Reports 1997-III, § 51: „… In addition, all the evidence must normally be produced at a public hearing, in the presence of the accused, with a view to adversarial argument. There are exceptions to this principle, but they must not infringe the rights of the defence; as a general rule, paragraphs 1 and 3 (d) of Article 6 … require that the defendant be given an adequate and proper opportunity to challenge and question a witness against him, either when he makes his statements or at a later stage …“ (Hervorhebung Demko); EGMR, P.S. v. GERMANY, 20.12.2001, Application No. 33900/96, § 21. Darauf ebenso hinweisend WALTHER, GA 2003, S. 215 FN 58.
377
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
welcher auf der Inhalts- bzw. Wesensgehaltsebene ein wirksames Infragestellen-Können («to challenge») der gegen den Angeklagten vorgebrachten, ihn belastenden Thesen gehört, so hat ein solches Infragestellen-Können im Strafverfahren stets und ausnahmslos – und nicht nur grundsätzlich – gegeben zu sein, um von tatsächlich wirksam gewahrten Verteidigungsrechten sprechen zu können. Allein und nur, was die Ausübungsformen für dieses Infragestellen-Können betrifft, kann und darf von einer Grundsatz-AusnahmeRegelung gesprochen werden und hier ist dann auch die Ausübungsform «to question» einzuordnen, welche mit Blick auf die «optimale», weil uneingeschränkte Ausübungsmöglichkeit des Konfrontationsrechts dem Angeklagten eben grundsätzlich einzuräumen ist, von der aber ausnahmsweise Einschränkungen möglich sind.1717 583
Mithin gilt und diese klare Differenzierung zwischen der Inhalts- bzw. Wesensgehaltsebene und den Ausübungselementen zur Verwirklichung des Wesensgehaltes wäre in den Formulierungen des EGMR zu wünschen gewesen:1718 Nicht das den Wesensgehalt des Konfrontationsrechts betreffende Infragestellen-Können des Zeugenbeweises, welches sich durch ganz unterschiedliche Ausübungsformen verwirklichen lässt, sondern vielmehr allein das Fragen-Stellen-Können als «Ausübungsrecht» sowie ebenso die anderen zur Ausübungsebene des Konfrontationsrechts zählenden «Ausübungsrechte», wie das Recht auf Wahrnehmung des Zeugen(verhaltens) und auf Kenntnis der Zeugenidentität, welche dem Angeklagten grundsätzlich uneingeschränkt zu gewähren sind, können ausnahmsweise unter Beachtung von vom EGMR aufgestellten Rechtmässigkeitsvoraussetzungen eingeschränkt werden.1719
584
Die Rechtsprechung des EGMR verdeutlicht das, was auch vom Schrifttum bei der Suche nach dem Wesensgehalt des Konfrontationsrechts zutreffend hervorgehoben ist: Es geht um die dem Angeklagten mit dem Konfrontationsrecht einzuräumende Möglichkeit einer wirksamen Überprüfung und Infragestellung der Glaubwürdigkeit des belastenden Zeugenbeweises, um dessen wirksames (Aus-)Testen- und auf die Probestellen-Können.1720 Das Konfron1717
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Zu den ausnahmsweise möglichen Einschränkungen der grundsätzlich uneingeschränkten Ausübung des Konfrontationsrechts und zu hierbei zu beachtenden Einschränkungsvoraussetzungen siehe näher unter Kap. 5 B. In diese Richtung und hier zutreffend zwischen dem Recht auf Infragestellung und dem Fragerecht unterscheidend auch WALTHER, GA 2003, S. 215. Siehe zu den vom EGMR aufgestellten Einschränkungsvoraussetzungen unter Kap. 5 B. II. Siehe auch EGMR, D. v. FINLAND, 07.07.2009, Application No. 30542/04, § 50: „an effective opportunity to contest E.’s account“ (Hervorhebung Demko); siehe aus dem Schrifttum etwa WALTHER, GA 2003, S. 206, 210, 212, 214 f., 217, 222: „kritische Durchleuchtung einer belastenden Zeugenaussage auf ihre Verlässlichkeit und
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
tationsrecht prägt sich in seinem Wesen als ein Recht auf wirksame Examinierung und Infragestellung des belastenden Zeugenbeweises und dessen Glaubwürdigkeit aus1721 und ist damit Ausdruck des dem Angeklagten zu gewährenden Rechts auf eine wirksame antithetische Teilnahme an dem sich auf den belastenden Zeugenbeweis beziehenden Wahrheitsermittlungsprozess.1722 Verlangt das Menschenrecht auf Verteidigung und die damit angesprochene wirksame Verteidigung im strafprozessualen Beweisverfahren eine antithetische Teilnahmemöglichkeit des Angeklagten im gesamten Wahrheitsermittlungsprozess, so formt sich mit dem Konfrontationsrecht ein konkretisiertes antithetisches Teilnahmerecht des Angeklagten an dem sich auf den belastenden Zeugenbeweis beziehenden Wahrheitsermittlungsprozess aus. Diese drei untrennbar zusammengehörenden Momente, das Moment der Infragestellung, der Glaubwürdigkeit des belastenden Zeugenbeweises und des konkretisierten antithetischen Teilnahmerechts, sind dabei diejenigen Momente, die den Wesensgehalt des Konfrontationsrechts betreffen und aufzeigen, in welcher Weise sich das Menschenrecht auf Verteidigung im Zusammenhang mit einem belastenden Zeugenbeweis konkret ausformt. 2.
Begründungszusammenhang des Konfrontationsrechts in Differenzierung zwischen Inhalts- und Ausübungsebene
Das Konfrontationsrecht als ein sich aus der zu wahrenden Menschenwürde des Angeklagten begründendes und damit prozesssubjektwahrendes Verteidi-
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Glaubhaftigkeit“ (S. 206), „adversarisch, in eigener Regie auf Herz und Nieren zu prüfen“ (S. 214), „nicht bloβ ein schwächliches Fragerecht, sondern ein geharnischtes Recht auf Infragestellung“ (S. 215, Hervorhebung Walther), „umfassend testen können“ (S. 222), „rigorose(s) Testverfahren“ (S. 223); WALTHER, JZ 2004, S. 1107; KRAUSBECK, S. 31; GOLLWITZER, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR, S. 399 N 210: Ausschöpfen des Wissens der Zeugen auch für die Verteidigung und Hinterfragen ihrer Glaubwürdigkeit; GAEDE, S. 278, 623 f. Siehe auch KRAUSBECK, S. 31: Möglichkeit des Angeklagten zur Examinierung des Zeugen und seiner Aussage; WALTHER, GA 2003, S. 212; GAEDE, S. 278: „wirkliche Examinierung“. In diese Richtung auch WALTHER, GA 2003, S. 214 f.: Verteidigungsinstrumente, die „zur Erschütterung der Anklage effektiv taugen“ (S. 214, Hervorhebung Demko), „Kern des Verteidigungsrechts darauf, die eigene Position darzustellen und gegen die Beweise der Anklage Einwendungen zu erheben“ (S. 215, Hervorhebung Demko), Konfrontationsrecht im Sinne eines „Rechts auf adversarische »Gegenüberstellung«“ (S. 215, Hervorhebung Demko); siehe instruktiv auch die Ausführungen von NIEHAUS, ZfRSoz 2003, S. 84 f. zum dialektischen Disput, die sich auf die Befragung des Belastungszeugen durch die Angeklagten übertragen lassen.
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
gungsrecht1723 weist sich auf der den Wesensgehalt ansprechenden Inhaltsebene als ein sich auf den belastenden Zeugenbeweis beziehendes «Recht auf Antithese» und mit diesem auf Infragestellung der Glaubwürdigkeit des Belastungszeugenbeweises aus. Auf der Ausübungsebene – mit ihren Ausübungsrechten des Fragerechts im engen Sinne, des Identitätskenntnisrechts und des Wahrnehmungsrechts – stellt sich das Konfrontationsrecht als eine Erweiterung und Ausdehnung des «Mindestausübungsrechts» des Angeklagten in Gestalt seines Rechts auf rechtliches Gehör dar: 587
Mit dem dem Angeklagten als das „fundamentale(s) Verteidigungsrecht“1724 zu gewährenden rechtlichen Gehör ist bezogen auf dessen Wesensgehaltsbzw. Inhaltsebene das Recht des Angeklagten auf eine wirksame antithetische Teilnahme am Straf- und Beweisverfahren angesprochen,1725 wobei es bei dem rechtlichen Gehör als dem Ur- bzw. Mindestausausübungsrecht – bringt man die Inhalts- und die Ausübungsebene zusammen – um ein Recht auf «Infragestellung durch Sagen» geht. Über diese Urausübungsform des Infragestellens durch «Sagen» im Sinne von Stellungnehmen1726 geht das Konfrontationsrecht auf seiner Ausübungsebene – mit ihren Ausübungsrechten und hier insbesondere ihrem Hauptausübungsrecht des Fragerechts im engen Sinne – hinaus: In einer Zusammenführung von Inhalts- und Ausübungsebene lässt sich insofern von einem Konfrontationsrecht als einem Recht auf «Infragestellung durch Fragen (und Sagen)» sprechen.
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Im Schrifttum wird das Konfrontationsrecht zutreffend als Ausdruck des und sich herleitend aus dem rechtlichen Gehör(s) verstanden,1727 was zwischen 1723
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1725
1726 1727
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Siehe im Zusammenhang mit dem rechtlichen Gehör auch GAEDE, S. 614: „ein mit der Menschenwürde verbundenes Fundamentalgrundrecht“; zu den philosophischen und psychologischen Begründungslinien und den menschenrechtlichen und strafverfahrensrechtlichen Verankerungen und zu dem hier sichtbaren Bezug zur Menschenwürde und (Prozess-)Subjektivität siehe näher unter Kap. 3 B. GAEDE, S. 614; siehe auch WALTHER, GA 2003, S. 220: „Prozessgrundrecht allerhöchsten Ranges“. Siehe auch GAEDE, S. 613 ff. zu dem rechtlichen Gehör als „Ausgangspunkt der Teilhabe durch Verteidigung“ (S. 613). Siehe zum Recht des Angeklagten auf rechtliches Gehör unter Kap. 4 B. III. 1. Siehe dazu aus dem Schrifttum etwa WALTHER, HRRS 2004, S. 317: „Ausprägung des Urgrundrechts auf Gewährleistung rechtlichen Gehörs“; deutlich ebenso WALTHER, GA 2003, S. 220: „Zuordnung zum »rechtlichen Gehör« … Absolut ja“; siehe auch die abweichende Meinung des Kommissionsmitgliedes Trechsel in EKMR, UNTERPERTINGER v. AUSTRIA, 11.10.1984, Report (31), Series B, no. 93, S. 22: „… What, then, is the meaning of this guarantee? In my view, it can only be this : The defendant has an absolute right to question witnesses against him, to put their credibility to the test, to provoke complements to the information already given in an attempt to establish a full picture of the facts and to bring forward elements which are in his favour . Art. 6 (3)(d), in other words, sets out a particular aspect of the right to be
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Inhalts- und Ausübungsebene differenzierend nun dahingehend zu konkretisieren ist, dass beide, das rechtliche Gehör und das Konfrontationsrecht, auf der Inhaltsebene als dem Angeklagten eine wirksame antithetische Teilnahme am Strafverfahren ermöglichende Verteidigungsrechte zu verstehen sind,1728 welche sich aus der dem Angeklagten zu wahrenden Menschenwürde begründen und Ausdruck der ihm einzuräumenden Prozesssubjektivität sind.1729 Erst auf der Ausübungsebene zeigt sich das Hinausgehen des Konfrontationsrechts über das rechtliche Gehör, indem dem Urausübungsrecht des Stellungnehmen-Könnens mit dem Konfrontationsrecht – wie auch mit den anderen spezifischen (benannten und unbenannten) Verteidigungsrechten des Art. 6 III EMRK – spezifische Erweiterungen auf der Ausübungsebene an die Seite gestellt sind.1730 Das Konfrontationsrecht steht mithin auf der Ausübungsebene in einem Herleitungs- und Erweiterungszusammenhang mit dem rechtlichen Gehör: Beide Verteidigungsrechte prägen bestimmte und hier jeweils unterschiedliche Ausübungsformen für das aus, was dem Angeklagten – nunmehr auf die Inhaltsebene wechselnd – von beiden übereinstimmend ermöglicht werden soll, nämlich eine prozesssubjektwahrende wirksame antithetischen Teilnahme am Straf- und Beweisverfahren. Der vom Schrifttum zu recht ebenso hervorgehobenen Verbindung zwischen dem Konfrontationsrecht und dem Prinzip der Waffengleichheit1731 ist insofern zuzustimmen, als eine tatsächlich wirksame Teilnahme am Strafverfahren als „konkretisierendes Teilerfordernis“1732 immer auch zwingend nach
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1732
heard …“ (Hervorhebung Demko); VILLIGER, S. 312 N 488: „Damit verwandt …“; GAEDE, S. 623: „Ausprägungen des Teilhabe bewirkenden rechtlichen Gehörs“. Siehe dazu auch GAEDE, S. 613 ff., 623: Gewährung der „Einwirkung auf die Urteilsgrundlage“ (S. 623). Siehe dazu im Zusammenhang mit dem rechtlichen Gehör auch die Ausführungen des BG, die für das mit dem rechtlichen Gehör in einem Herleitungszusammenhang stehende Konfrontationsrecht gleichermassen gelten, etwa in BGE 116 Ia 94, S. 99; BGE 127 I 6 S. 13, 14: „… Einen Bezug zur Menschenwürde weist weiter der Anspruch auf rechtliches Gehör auf; es stellt ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht dar und garantiert, dass der Einzelne nicht bloss Objekt der behördlichen Entscheidung ist, sondern sich eigenverantwortlich an ihn betreffenden Entscheidprozessen beteiligen kann …“ (Hervorhebung Demko); siehe dazu auch etwa GAEDE, S. 614 f. Siehe auch GAEDE, S. 615 ff.: „spezifische Ausprägungen und Erscheinungsformen“ (S. 615). Siehe aus dem Schrifttum etwa GRABENWARTER, S. 385 N 112; MEYER-LADEWIG, EMRK-Kommentar, Art. 6 N 241, der die Verbindung mit dem rechtlichen Gehör und der Waffengleichheit hervorhebt; GOLLWITZER, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR, S. 398 f. N 210; HAEFLIGER/SCHÜRMANN, S. 239; SPANIOL, S. 115, 127 f.; KRAUSS, V-Leute, S. 91 ff.; siehe zur Waffengleichheit auch näher KOHLMANN, S. 311 ff. und die Abhandlung von SANDERMANN; TRECHSEL, ZStrR 1979, S. 367; LÖHR, S. 175. GAEDE, S. 648.
381
589
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
einer gleichberechtigten Teilnahme verlangt und im strafprozessualen Erkenntnisverfahren mithin thetischen und antithetischen Erkennntnismomenten in gleichberechtigter Weise Raum zu geben ist. Ein vorrangiger oder gar alleiniger Bezug des Konfrontationsrechts auf das Prinzip der Waffengleichheit unter Nichtberücksichtigung des rechtlichen Gehörs würde aber das – oben näher dargestellte – besondere Verhältnis der zwei Kernausübungselemente des Menschenrechts auf Verteidigung übersehen:1733 Nach diesem knüpft das Prinzip der Waffengleichheit an das rechtliche Gehör – wie auch an die weiteren spezifischen Verteidigungsrechte – erst an und weist sich sodann als ein zusätzlicher Qualitätsaspekt aus. Dieser zusätzliche Qualitätsaspekt ist dem rechtlichen Gehör wie auch den anderen spezifischen Verteidigungsrechten zu deren Konkretisierung an die Seite gestellt und fordert von diesen eine bestimmte Qualität ihrer Ausübung, nämlich eine gerade verfahrensrechtlich gleichgestellte Ausübung.1734
590
II.
Die Aussagepsychologie als interdisziplinäre Begründungslinie zur Bestimmung von Wesens- und Ausübungsgehalt des Konfrontationsrechts des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
1.
Zum Begriff der «Glaubwürdigkeit» des belastenden Zeugenbeweises
Sowohl auf menschenrechtlicher Ebene in der Rechtsprechung des EGMR zur Auslegung des Art. 6 III d EMRK1735 als auch auf strafverfahrensrechtlicher Ebene innerhalb der untersuchten nationalen und internationalen Strafverfahrensordnungen1736 ist, was die Ausführungen zum Wesensgehalt des Konfrontationsrechts des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen deutlich machen, der Wahrheitsermittlungsprozess einschliesslich seines Ergebnisses in Gestalt «der Wahrheit» des den Angeklagten belastenden Zeugenbeweises in einen engen Bezug zum Konfrontationsrecht des Angeklagten eingestellt. 1733
1734 1735 1736
382
Mit Blick auf die Waffengleichheit insofern ebenso auf Zurückhaltung hinweisend KRAUSBECK, S. 30 f.: „nicht überbetont werden“ (S. 30); WALTHER, GA 2003, S. 219 f.; SAFFERLING, NStZ 2004, S. 187; siehe auch die Diskussionsbeiträge von Schroeder und Fuchs auf der Strafrechtslehrertagung 2003 in JULIUS, ZStW 2003, S. 691 f.; siehe zudem die Ausführungen von GAEDE, S. 616, 624 ff.: „nicht der umfassende Ausgangspunkt“ (S. 616). Siehe zur Waffengleichheit bereits näher unter Kap. 4 B. III. 2. Siehe dazu bereits unter Kap. 5 A. I. Siehe dazu die folgenden Ausführungen unter Kap. 5 C. II. 1. zum internationalen Strafverfahren vor dem ICTY und zum nationalen Strafverfahren in der Schweiz.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Für ein (materiell) wirksames Konfrontationsrecht ist es eine sich auf den Belastungszeugen konkretisierende wirksame antithetische Teilnahmemöglichkeit am Wahrheitsermittlungsprozess und es ist ein hier dem Angeklagten einzuräumendes wirksames Auf-den-Prüfstand-Stellen-Können, ein InZweifelziehen-Können, mithin ein Infragestellen-Können des Wahrheits- und Beweiswertes des belastenden Zeugenbeweises, was sich als den Wesensgehalt des Konfrontationsrechts kennzeichnend zu erkennen gibt. Mit dem Bezug von Wahrheit und Wahrheitsermittlungsprozess auf den Belastungszeugen, die belastende Zeugenaussage und/oder den Belastungszeugenbeweis unter Verwendung der Begrifflichkeiten von Glaubwürdigkeit und/oder Glaubhaftigkeit ist hierbei auf Begrifflichkeiten der Aussagepsychologie Rückgriff genommen, welche Eingang auch in das strafverfahrensrechtliche Denken und Begriffsvokabular gefunden haben. Gegenstand der folgenden Ausführungen soll es sein zu untersuchen, was die Aussagepsychologie als eine interdisziplinäre Begründungslinie zur Bestimmung des Wesensgehalts, aber auch des Ausübungsgehalts des Konfrontationsrechts des Angeklagten an bestätigenden, korrigierenden sowie weiteren zusätzlichen Erkenntnissen hinzufügen kann. Nicht um eine Darstellung der aussagepsychologischen Erkenntnisse zur Glaubwürdigkeitsbeurteilung von Zeugenaussagen als solche soll es hierbei gehen, sondern vielmehr darum, was sich aus den aussagepsychologischen Erkenntnissen für den Inhalt sowie die Ausübung des Konfrontationsrechts des Angeklagten rückschliessen lässt.1737 Denn die aussagepsychologischen Forschungen zur Glaubwürdigkeitsbeurteilung von Zeugenaussagen setzen für diese Glaubwürdigkeitsbeurteilung an einem vorliegenden «Ergebnis» in Gestalt einer gegebenen Zeugenaussage einer Zeugenperson an: Diese gegebene Zeugenaussage einer Zeugenperson stellt den Untersuchungsgegenstand für die nunmehr vorzunehmende Glaubwürdigkeitsbeurteilung dar und wird mit Hilfe in der Aussagepsychologie entwickelter „kriteriologische(r)“1738 bzw. „kriteriumsorientierte(r)“1739 Systeme auf ihre Glaubwürdigkeit untersucht. Keine direkten
1737
1738 1739
Siehe ähnlich auch BARTON, Strafverteidigung, S. 367 N 26 zur Bedeutung der (Er-) Kenntnisse der Aussagepsychologie für die Strafjuristen und hier auch für die Verteidigung mit Blick darauf, „welche Aufgaben sich für die Verteidigung im Rahmen des Zeugenbeweises stellen und welche Fragetechniken anzulegen sind“, siehe zudem S. 375 ff. zu dem Verhalten des Verteidigers und den „Fragetechniken aus rechtspsychologischer Sicht“ (S. 379 N 56) in Abhängigkeit von dem (entlastend/belastend die Wahrheit sagenden, sich irrenden oder lügenden) Zeugen; siehe zudem BARTON, Fragwürdigkeiten des Zeugenbeweises, S. 45. KÖHNKEN, Glaubwürdigkeit, S. 100 (Hervorhebung Demko). KÖHNKEN, Glaubwürdigkeit, S. 100 (Hervorhebung Köhnken): Die Verwendung des Begriffs des kriteriumsorientierten Ansatzes, etwa von Arntzen und Undeutsch,
383
591
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Aussagen sind hierbei zwar getroffen zum Konfrontationsrecht des Angeklagten, welches Teil des «Prozesses», des «Weges» hin zu diesem «Ergebnis» einer vorliegenden Zeugenaussage ist. Die sich auf das «Ergebnis» beziehenden aussagepsychologischen Erkenntnisse zur Glaubwürdigkeit(sbeurteilung) von vorliegenden Zeugenaussagen1740 erlauben jedoch Rückschlüsse – bzw. genauer «Vor»schlüsse – auch auf den dem «Ergebnis» vorangehenden «Prozess» des Zustandekommens der Zeugenaussage, indem sich aus den ergebnisbezogenen aussagepsychologischen Erkenntnissen prozessbezogene Erkenntnisse ableiten lassen, welche von Bedeutung sind auch für die Bestimmung des Wesens- und Ausübungsgehaltes des Konfrontationsrechts als eines der Teile jenes «Prozesses» des Zustandekommens der sodann auf ihre Glaubwürdigkeit hin zu beurteilenden Zeugenaussage. 592
Die Aussagepsychologie hat zu der sich heute durchgesetzten Erkenntnis geführt, dass mit Blick auf die Beurteilung des Wahrheitsgehaltes einer Zeugenaussage nicht auf die allgemeine Glaubwürdigkeit der Zeugenperson als ein stabiles Persönlichkeitsmerkmal abzustellen ist,1741 sondern dass es vielmehr um die sog. spezielle Glaubwürdigkeit im Sinne von Glaubhaftigkeit der konkreten Zeugenaussage der Zeugenperson,1742 mithin um den Wahrheitsgehalt einer bestimmten Zeugenaussage einer Zeugenperson geht.1743 Wie in den Untersuchungen zur Rechtsprechung des EGMR und zu den nationalen und internationalen Strafverfahren sichtbar ist,1744 gestalten sich die Verwendung der Begriffe von Glaubwürdigkeit und Glaubhaftigkeit sowie deren Bezugnahme einmal auf die Zeugenperson, das andere Mal auf die Zeugenaussage und/oder nicht zuletzt auf den Zeugenbeweis auf eine uneinheitliche Weise. Diese unklare, „auβerordentlich schillernd(e)“1745 und Verwirrung
1740
1741 1742 1743 1744 1745
384
nimmt Köhnken hier zur Erklärung des prozeβorientierten Ansatzes von Trankell vor, siehe dazu die näheren Erklärungen auf S. 100, 105. Siehe auch NIEHAUS, ZfRSoz 2003, S. 73: „… Aussagepsychologie beziehungsweise … Aussageanalyse, die sich nicht mit der Beschreibung der Verfahren zur Hervorbringung von wahren Aussagen beschäftigt, sondern mit der Entwicklung von Analysekriterien zur „Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Aussagen“ … beziehungsweise dem „Realitätsgehalt von Zeugenaussagen“ …, die bereits vorliegen und also gleichsam als ein Fertigprodukt behandelt werden …“ (Hervorhebung Niehaus: «Aussagepsychologie», «Aussageanalyse» , «Hervorbringung», übrige Hervorhebung: Demko); siehe dazu auch CHRISTEN, S. 9 zur Teilnahme des Beschuldigten an der Rekonstruktion des Geschehenens, „um auf die Entstehung der Aussagen einwirken zu können, denn der Inhalt der Aussage bildet letztlich den Gegenstand der Glaubhaftigkeitsprüfung resp. der Aussageanalyse (Hervorhebung Demko). Dazu sogleich näher im nachfolgenden Haupttext. Dazu auch BARTON, Strafverteidigung, S. 367 N 27. Siehe dazu näher im nachfolgenden Haupttext. Siehe dazu unter Kap. 5 A. I. und C. II. 1. KÖHNKEN, Glaubwürdigkeit, S. 5.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
stiftende1746 Begriffsverwendung setzt sich nicht nur im Rahmen der umgangssprachlichen, sondern auch der Verwendung jener Begriffe in anderen Wissenschaften fort.1747 Köhnken verweist infolge schlichten Fehlens einer „ausreichenden Eindeutigkeit der verfügbaren Termini“1748 zutreffend auf das scheinbar „hoffnungslose(s) Unterfangen, durch eine spitzfindige Begriffsverwendung verschiedene Sachverhalte eindeutig bezeichnen zu wollen“.1749 Ist es nicht ein blosser Begriff, sondern das, was mit diesem gemeint sein und an Inhalt ausgedrückt werden soll, was es als massgebend klar zu erkennen gilt, so wird im Folgenden der Begriff der Glaubwürdigkeit verwendet.1750 Gemeint ist mit diesem Glaubwürdigkeitsbegriff jedoch nicht die allgemeine Glaubwürdigkeit der Zeugenperson im Sinne eines stabilen Persönlichkeitsmerkmals,1751 sondern vielmehr die spezielle Glaubwürdigkeit der bestimmten Zeugenaussage einer bestimmten Zeugenperson: Es geht, wenn von der Glaubwürdigkeit gesprochen wird, um den zu ermittelnden Wahrheitsgehalt einer bestimmten Zeugenaussage einer bestimmten Zeugenperson,1752 mithin um das, was heute (häufig) auch als Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage bezeichnet wird.1753 Hervorzuheben ist, dass mithin für den Glaubwürdigkeitsbegriff und die Glaubwürdigkeitsbeurteilung die Zeugenaussage im Zentrum steht und dass es die Frage nach der Wahrheit/Unwahrheit dieser bestimmten Zeugenaussage – und nicht die Frage nach einer allgemeinen Wahrhaftigkeit als einer stabilen Eigenschaft einer Zeugenperson – ist, welche es als «die»
1746
1747
1748 1749
1750
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1753
Dazu auch KÖHNKEN, Glaubwürdigkeit, S. 5; siehe dazu auch SCHEIDEGGER, S. 277 ff. Siehe dazu unter Anführung von Beispielen aus anderen Wissenschaften, wie der Psychologie, näher KÖHNKEN, Glaubwürdigkeit, S. 4 f. KÖHNKEN, Glaubwürdigkeit, S. 5. KÖHNKEN, Glaubwürdigkeit, S. 5; siehe auch MÖLLER/MAIER, SJZ 2000, S. 250 zur Aufgabe der Unterscheidung von Glaubhaftigkeit und Glaubwürdigkeit; zudem MAIER/MÖLLER, AJP 2002, S. 683; GREUEL, MschrKrim 2000, S. 59 f.: Glaubhaftigkeitsbegriff als „eine Art sprachliches Kürzel für das Vorhandensein der aussagepsychologischen Konstrukt-Trias“ (Hervorhebung Greuel). Gefolgt wird hier Köhnken und seiner Verwendung des Glaubwürdigkeitsbegriffs, siehe dazu näher KÖHNKEN, Glaubwürdigkeit, S. 5. Siehe dazu etwa GREUEL, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, S. 4; KÖHNKEN, Glaubwürdigkeit, S. 82; KÖHNKEN, Münchener AnwaltsHandbuch Strafverteidigung, § 62 N 8; dazu auch BENDER, SIZ 1985, S. 55; WEGENER, AJP 1992, S. 1117. Siehe auch KÖHNKEN, Münchener AnwaltsHandbuch Strafverteidigung, § 62 N 1: „Die zentrale Frage einer aussagepsychologischen Begutachtung lautet, ob bzw. in welchem Ausmaβ eine Aussage einen Sachverhalt korrekt beschreibt“; siehe dazu auch NACK, StV 1994, S. 556. Dazu etwa GREUEL, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, S. 4.
385
593
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
heute als entscheidend angesehene Frage für die Glaubwürdigkeitsbeurteilung zu beantworten gilt.1754 594
Ist die Zeugenaussage der massgebende Mittelpunkt des Glaubwürdigkeitsbegriffs, so darf dies jedoch nicht zu der Fehlannahme führen, die zu beurteilende Zeugenaussage von derjenigen Person trennen zu wollen und zu können,1755 die diese Aussage getroffen hat, ist doch die Zeugenaussage nicht eine «einfach vorliegende» Gegebenheit und kein schlicht sachliches, sondern vielmehr ein von einem Menschen hervorgebrachtes «Produkt» im Sinne eines menschlichen, eines menschlich erzeugten Erkenntnis-, Handlungs- und Sprachprodukts: Diese auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfende bestimmte Zeugenaussage wurde nur und einzig von dieser bestimmten Zeugenperson als Urheber der Zeugenaussage getroffen und ist insofern einzigartig. Für die Ermittlung des Wahrheitsgehaltes der Zeugenaussage, welcher das entscheidende Moment der Glaubwürdigkeitsbeurteilung darstellt, ist mithin beides, die bestimmte Zeugenaussage und die diese hervorbringende bestimmte Zeugenperson, zu beachten:1756 Die bestimmte Zeugenaussage und die bestimmte Zeugenperson gehören untrennbar zusammen und sind für die Ermittlung des Wahrheitsgehaltes der Zeugenaussage mithin stets zusammen und als «Einheit» zu denken, da und indem es eben um die Wahrheitsermittlung einer von einer bestimmten Zeugenperson geäusserten bestimmten Zeugenaussage geht.1757 Um dieses Zusammengehören von Zeugenaussage und Zeugenperson zu betonen und nicht der Fehlannahme zu erliegen, die Zeugenaussage ohne die sie erzeugende Zeugenperson betrachten zu können, liesse sich insofern auch von der Glaubwürdigkeit des «Zeugenbeweises» sprechen: In den «Zeugenbeweis» fliessen als seine untrennbar zusammengehörende Elemente die Zeugenaussage und die Zeugenperson ein und in dem «Zeugenbeweis» als eine Einheit zusammen. Als entscheidendes Moment der Glaubwürdigkeitsbeurteilung ist dabei auch hier, wenn von der «Glaubwürdigkeit des Zeugenbeweises» die Rede ist (ebenso wie bei der Rede von der Glaubwürdigkeit der 1754
1755 1756
1757
386
Dies betonend etwa GREUEL, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, S. 4; KÖHNKEN, Glaubwürdigkeit, S. 82 f.: „Unbrauchbarkeit“ (S. 83) der allgemeinen Glaubwürdigkeit; KÖHNKEN, Münchener AnwaltsHandbuch Strafverteidigung, § 62 N 8; dazu auch ARNTZEN, S. 115; zur Geschichte der Entwicklung der Glaubwürdigkeitskriterien und der forensischen Glaubwürdigkeitsbeurteilung, geprägt beispielsweise durch Arntzen, Undeutsch, Trankell und Köhnken, siehe näher GREUEL, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, S. 89 f.; KÖHNKEN, Glaubwürdigkeit, S. 84 ff. Siehe dazu auch ARNTZEN, S. 115 F. Siehe dazu GREUEL, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, S. 55: „nur in Relation zu … den individuellen Charakteristika des zu begutachtenden Zeugen“ und der Berücksichtigung der „individuellen Leistungsbesonderheiten des Zeugen“ (Hervorhebung Greuel) könne die Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen beurteilt werden. Siehe dazu auch NIEHAUS, Handbuch der Rechtspsychologie, S. 316.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Zeugenaussage oder ihrer Glaubhaftigkeit), die Wahrheitsbeurteilung der Zeugenaussage, genauer, die Beurteilung der Wahrheit einer bestimmten Zeugenaussage einer bestimmten Zeugenperson angesprochen und gemeint. 2.
Die hypothesengeleitete Glaubwürdigkeitsbeurteilung und deren Bedeutung für das Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Für die Beurteilung des Wahrheitsgehaltes einer Zeugenaussage sind in der aussagepsychologischen Forschung wissenschaftliche Standards zur Vorgehensweise bei der Glaubwürdigkeitsbeurteilung entwickelt worden, welche die Glaubwürdigkeitsbeurteilung der Zeugenaussage als eine „hypothesengeleitete“1758 erkennen lassen1759 bzw. genauer als eine solche, die sich in einem ständigen Wechselspiel zwischen «Hypothese und (allen) Gegenhypothesen» vollzieht.1760 Der die mögliche Annahme der Wahrheit der Zeugenaussage betreffenden hypothetischen Frage sind vielzählige (genauer: sind alle) Gegenhypothesen entgegengestellt – welche es zu untersuchen gilt –, aus denen sich ergeben könnte, dass ein möglicher Schluss auf die Wahrheit der Zeugenaussage nicht mit hinreichender Sicherheit gezogen werden kann, eben weil zumindest eine der Gegenhypothesen nicht ausschliessbar ist.1761 Diese Vorgehensweise der aussagepsychologischen Glaubwürdigkeitsbeurteilung zwischen «Hypothese und Gegenhypothesen» verweist auf den dialekti1758 1759
1760
1761
GREUEL, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, S. 50 (Hervorhebung Demko). Siehe dazu näher etwa NIEHAUS, Handbuch der Rechtspsychologie, S. 311: „hypothesengeleitete(r) diagnostische(r) Prozess“; GREUEL, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, S. 50; eingehend dazu KÖHNKEN, Fehlerquellen, S. 3; KÖHNKEN, Münchener AnwaltsHandbuch Strafverteidigung, § 62 N 20 ff. Dazu GREUEL, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, S. 50: „Berücksichtigung aller denkbaren Erklärungsmodelle“ und „möglichst umfassende Alternativhypothesen“; KÖHNKEN, Fehlerquellen, S. 4: „systematische Generierung und Überprüfung aller in Frage kommenden Hypothesen zur Quelle einer Aussage“ (Hervorhebung Demko), siehe zu dem damit verbundenden konfirmatorischen Hypothesentesten die nachfolgenden Ausführungen im Haupttext unter Kap. 5 A. II. 5.; KÖHNKEN, Münchener AnwaltsHandbuch Strafverteidigung, § 62 N 1: „die potenziellen Ursachen unzutreffender Angaben“ sind zu klären; KÖHNKEN, Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Kinderaussagen, S. 26 ff.; BENDER/NACK, Bd. I, S. 279 ff.: „Ausschluss aller Alternativen“ (S. 281 N 489). Eingehend dazu KÖHNKEN, Fehlerquellen, S. 3 f.; siehe auch BARTON, Strafverteidigung, S. 367 N 40: „alle sich aufdrängenden Hypothesen für eine Falschaussage des Belastungszeugen zu prüfen und zu verwerfen“, siehe zudem S. 373 N 41: „erst alle relevanten Unwahrheitshypothesen ausschlieβt, bevor er die Wahrheitshypothese annehmen darf“.
387
595
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
schen Charakter eines Erkenntnisprozesses, der – wie bereits ausgeführt1762 – den gesamten strafprozessualen Wahrheitsermittlungsprozess bestimmt und sich in Bezug auf jede einzelne in Frage stehende und zu beweisende Tatsache und jedes einzelne Beweismittel und mithin auch mit Blick auf den zu beurteilenden Zeugenbeweis zu konkretisieren hat, in dem alles Für und Wider, alles «Ja» und «Nein» zusammenzutragen und einander entgegenzustellen ist. 596
Dieses Erforschen und Beurteilen der Glaubwürdigkeit der Zeugenaussage in einem unaufhörlichen Prozess des Hin- und Herschauens zwischen Hypothese und Gegenhypothesen bestätigen dabei zugleich den «Platz» und die Bedeutung, welche(r) dem Konfrontationsrecht des Angeklagten in diesem dialektischen Wechselspiel für ein faires Strafverfahren zuzusprechen ist: Denn es ist doch eben diese wirksame antithetische, Zweifel an dem Wahrheitsgehalt der belastenden Zeugenaussage einbringende1763 Teilnahmemöglichkeit des Angeklagten an dem Wahrheitsermittlungsprozess der belastenden Zeugenaussage und es ist mithin das dadurch angesprochene, dem Angeklagten einzuräumende (materiell) wirksame Einbringen- und zur Sprache-BringenKönnen von Gegenhypothesen, welche für eine tatsächlich dialektisch geführte Glaubwürdigkeitsbeurteilung einer belastenden Zeugenaussage unter Beachtung der aus der Menschenwürde fliessenden Prozesssubjektivität des Angeklagten zu gewährleisten ist.1764 Bereits bei Alsberg ist treffend formuliert zu lesen:
597
„Den hochgemuten, voreiligen Griff nach der Wahrheit hemmen will der Kritizismus des Verteidigers!“1765
1762
1763
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1765
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Siehe zum dialektischen Charakter des strafprozessualen Wahrheitsermittlungsprozesses bereits unter Kap. 2 B. II. 4., 5. Ebenso BARTON, Fragwürdigkeiten des Zeugenbeweises, S. 58 zur Aufgabe der Verteidigung, „Zweifel an dem Realitätsgehalt der Zeugenaussage zu wecken. Dies kann insbesondere durch Einbringen der Erkenntnisse der Aussagepsychologie in das konkrete Strafverfahren erfolgen.“ (Hervorhebung Demko), zudem S. 59: „argumentative(r) Angriff gegen eine Zeugenaussage“. Siehe dazu weiterführend die sogleich folgenden Ausführungen im Zusammenhang mit dem konfirmatorischen Hypothesentesten unter Kap. 5 A. II. 5. ALSBERG, Philosophie der Verteidigung, S. 328; siehe auch SCHREIBER, S. 81, wonach der Angeklagte „zur Sprache kommen, seine Situation, seine Ansichten muβ er in den Prozeβ einbringen können“.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
3.
Die Glaubwürdigkeitskriterien in deren Bedeutung für das Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Nicht nur die hypothesengeleitete Vorgehensweise der Glaubwürdigkeitsbeurteilung von Zeugenaussagen, sondern darüber hinaus und an diese anknüpfend sind es zudem die in der Aussagepsychologie entwickelten Kriterien für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit einer Zeugenaussage, die im Wege einer Vermittlung wertvolle Rückschlüsse1766 auf den Inhalt des Konfrontationsrechts und die für ein (materiell) wirksames Konfrontationsrecht notwendigen Ausübungselemente zu ziehen gestatten. Für die „Gesamtbewertung der Glaubhaftigkeit“1767 einer Zeugenaussage werden in den „(methodo)logischen“1768 und als „integrativ und mehrdimensional“1769 zu charakterisierenden Ansatz der aussagepsychologischen Begutachtung der Glaubwürdigkeit von Zeugenaussagen Befunde einbezogen, die „auf unterschiedlichen Dimensionen“1770 erhoben sind und hier sowohl an die Zeugenaussage als auch an die Zeugenperson anknüpfen. Als massgebliches Moment jener Gesamtbewertung,1771 ob eine Zeugenaussage als glaubwürdig zu beurteilen ist, hat sich dabei in der Aussagepsychologie die Analyse der Qualität und der Charakteristika der Zeugenaussage und ihres Aussageinhalts mittels der sog. „inhaltsorientierte(n) Glaubwürdigkeitsbeurteilung“1772 bzw. der sog. „merkmalsorientierten Inhaltsanalyse“1773 durchgesetzt.
1766
1767
1768 1769 1770 1771
1772 1773
Zwischen dem Kommunikationsergebnis, an welches sich die Glaubwürdigkeitsbeurteilung anknüpft, und der vorangehenden Kommunikation zwar ebenso unterscheidend, KÜHNE, Kommunikationsproblem, S. 106. Nicht näher geht Kühne dann jedoch auch auf das vermittelte Rückschliessen-Können ein, das ausgehend von den aussagepsychologischen Erkenntnissen zur Glaubwürdigkeitsbeurteilung eines Kommunikationsergebnisses (wie etwa einer zustande gekommenen Zeugenaussage) mit Blick auf Erkenntnisse zum vorangehenden Kommunikationsprozess (hier auf den Prozess des Zustandekommens der Zeugenaussage, in welchem sich auch das Konfrontationsrecht des Angeklagten entfaltet) möglich ist: „Beurteilung der Glaubwürdigkeit (ist) kein Bestandteil der Kommunikation, sondern vielmehr ein gesonderter Akt der Bewertung von Kommunikationsergebnissen“. GREUEL, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, S. 203 (im Originaltext als Überschrift fettgedruckt, kursive Hervorhebung: Demko). GREUEL, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, S. 203. GREUEL, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, S. 203. GREUEL, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, S. 203 (Hervorhebung Demko). Siehe auch NIEHAUS, Handbuch der Rechtspsychologie, S. 311, 315: „komplexe(r) Begutachtungsprozess(es)“. KÖHNKEN, Glaubwürdigkeit, S. 83 (Hervorhebung Köhnken). NIEHAUS, Handbuch der Rechtspsychologie, S. 311 (Hervorhebung Demko).
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598
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen 599
Im Zentrum der Glaubwürdigkeitsbeurteilung stehen mithin die Zeugenaussage und hier deren Inhalt und Qualität und es ist die Prüfung und Beurteilung von „aussageimmanenten Qualitätsmerkmale(n)“,1774 von „inhaltliche(n) Glaubhaftigkeitsmerkmale(n)“,1775 welche als wichtiger und unverzichtbarer „Teil eines komplexen Begutachtungsprozesses“1776 ausgewiesen sind und in den Vordergrund rücken. Nicht jedoch wird – worauf mit der zu beachtenden «Einheit» von Zeugenaussage und Zeugenperson bereits hingewiesen wurde1777 – der Zeugenaussageinhalt allein und isoliert betrachtet: Vielmehr sind diesem, wenn auch entscheidenden inhaltsanalytischen Teil des komplexen Gesamtbeurteilungsprozesses der Glaubwürdigkeit einer Zeugenaussage als weitere Teile die Prüfung und Beurteilung „externe(r) wie interne(r) Rahmenbedingungen der Aussage“,1778 von „individuelle(n) und kontextuelle(n) Rahmenbedingungen“1779 der Aussage an die Seite gestellt, bei denen mit Blick auf die vorzunehmende Glaubwürdigkeitsbeurteilung sowohl an die Zeugenaussage – und zwar hier an das Moment der Aussageentstehung einschliesslich etwaiger Beeinflussungen der Zeugenaussage – als auch an die Zeugenperson – und hier etwa an ihre Aussagetüchtigkeit, ihre psychologischen Besonderheiten und auch ihre Aussagemotivationen – angeknüpft wird. Niehaus führt die Teile dieses komplexen Gesamtbeurteilungsprozesses der Glaubwürdigkeit einer Zeugenaussage prägnant zusammen, indem sie ausführt:
600
„… Derzeit erfolgt die Beurteilung des Erlebnisgehaltes von Zeugenaussagen inhaltsbezogen und in einem hypothesengeleiteten diagnostischen Prozess, dessen Bestandteil neben einer Prüfung der … Aussagetüchtigkeit des Zeugen, der Entstehungsgeschichte der Aussage mit Blick auf mögliche Fehlerquellen (… Suggestion) sowie fallbezogener Alternativhypothesen die Analyse der Qualität der Aussage mittels der merkmalsorientierten Inhaltsanalyse ist …“1780
601
Diese an die Zeugenaussage und die Zeugenperson anknüpfenden Momente – die Zeugenaussage mit Blick auf ihren Aussageinhalt und ihre Aussageentstehung und die Zeugenperson – lassen sich als die Ausgangspunkte für die aussagepsychologische Glaubwürdigkeitsbeurteilung einer Zeugenaussage 1774 1775
1776 1777 1778 1779 1780
390
GREUEL, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, S. 91 (Hervorhebung Greuel). NIEHAUS, Handbuch der Rechtspsychologie, S. 315 (Hervorhebung Demko); siehe auch BENDER, SIZ 1985, S. 56. NIEHAUS, Handbuch der Rechtspsychologie, S. 315. Siehe dazu bereits unter Kap. 5 II. 1. GREUEL, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, S. 165 (Hervorhebung Demko). GREUEL, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, S. 165 (Hervorhebung Demko). NIEHAUS, Handbuch der Rechtspsychologie, S. 311 (Hervorhebung Niehaus: «Aussagetüchtigkeit», «merkmalsorientierten Inhaltsanalyse»; übrige Hervorhebung: Demko); zu Wertungskriterien der Glaubwürdigkeit siehe auch PLAUT, S. 185 ff.; zu den Wahrheitswert von Aussagen bestimmenden Bedingungen siehe WALDER, ZStrR 1972, S. 364 ff.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
erkennen und charakterisieren. Sind es aber diese Momente, welche für die Glaubwürdigkeitsbeurteilung der Zeugenaussage seitens der Aussagepsychologie zugrundegelegt und auch von dem Gericht mit Blick auf die Beurteilung des Wahrheitsgehaltes einer Zeugenaussage herangezogen sowie mit Blick auf ihren thetischen/antithetischen Gehalt beurteilt werden, so haben es auch genau diese Ausgangspunkte für die Glaubwürdigkeitsbeurteilung einer Zeugenaussage zu sein, die es in ihrer Bedeutung ebenso für ein wirksam ausübbares Konfrontationsrecht zu erkennen und heranzuziehen gilt:1781 Werden der Zeugenaussageinhalt und die Aussageentstehung bei der aussagepsychologischen Glaubwürdigkeitsbeurteilung als wichtige Glaubwürdigkeitskriterien herangezogen und werden eben diese auch vom (über) die Wahrheit der Zeugenaussage letztlich (be)urteilenden und entscheidenden Gericht zugrundegelegt, so muss es um eine dem Angeklagten einzuräumende Möglichkeit gehen, sich gegen die sich im Aussageinhalt ausdrückenden sowie mit der Aussagegeschichte verbundenen, den Angeklagten belastenden Thesen in wirksamer antithetischer Weise zur Wehr setzen zu können. Ebenso gilt dies in Hinblick auf die mit der Zeugenperson verknüpften, den Angeklagten belastenden Thesen, welche in die aussagepsychologische Glaubwürdigkeitsbeurteilung einfliessen und seitens des Gerichts für seine Beurteilung des Wahrheitsgehaltes der Zeugenaussage herangezogen werden und welchen daher der Angeklagte in wirksamer antithetischer Weise entgegentreten können muss. Diese an die Zeugenaussage und die Zeugenperson anbindenden Ausgangsbzw. Anknüpfungspunkte für die Glaubwürdigkeitsbeurteilung einer Zeugenaussage, die das Gericht – sich den aussagepsychologischen Erkenntnissen anschliessend – seiner Wahrheitsbeurteilung einer Zeugenaussage zugrundelegt und welche es, dem dialektischen Charakter des Erkenntnisprozesses entsprechend, auf ihren thetischen und antithetischen Gehalt hin zu beurteilen hat, stellen sich mithin auch als diejenigen dar, denen ebenso der Angeklagte antithetisch entgegentreten und welche er in Zweifel ziehen, in Frage stellen können muss. In ähnlicher Weise heisst es bei Barton:
602
„… Es reicht … vollauf, wenn es „nur“ gelingt, beim Gericht berechtigte Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage zu wecken … Dabei können dem Verteidiger die Erkenntnisse der Aussagepsychologie … wichtige Dienste leisten. Der Verteidiger wird deshalb – ähnlich wie ein Glaubhaftigkeitsgutachter – die Aussage des Zeugen einer kritischen Aussage-, Kompetenz- und Motivationsanalyse zu unterziehen haben … Das Abstellen auf die Kriterien der Aussagepsychologie bringt … weitere Vorteile: Es ist so nämlich möglich, statt persönlicher und verletzender Angriffe auf den Zeu-
603
1781
Ähnlich auch BARTON, Strafverteidigung, S. 382 N 61.
391
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen gen sachlich begründete Zweifel an der Glaubhaftigkeit einer Aussage anzubringen …“1782 604
Zusammengefasst ausgedrückt: Genau die «Wahrheitskriterien» bzw. – sprachlich konkreter – genau die Glaubwürdigkeitskriterien, die den aussagepsychologischen Erkenntnissen folgend seitens des Gerichts für die Beurteilung des Wahrheitsgehaltes einer Zeugenaussage herangezogen werden, weisen sich (erstens, die Inhaltsebene betreffend) auch als diejenigen Anknüpfungspunkte aus, die mit Blick auf ein wirksam ausübbares Konfrontationsrecht und die dadurch verwirklichte antithetische, Zweifel an dem Wahrheitsgehalt der belastenden Zeugenaussage einbringende Teilnahmemöglichkeit des Angeklagten an dem Wahrheitsermittlungsprozess der belastenden Zeugenaussage entscheidend sind. Genau aus diesen Glaubwürdigkeitskriterien lassen sich (zweitens, die Ausübungsebene betreffend) darüber hinaus zudem die einzelnen «Ausübungselemente» bzw. Teilrechte herleiten, welche das Konfrontationsrecht auf seiner Ausübungsebene eben mit Blick auf seine (materiell) wirksame Ausübbarkeit erforderlich zu enthalten hat.
605
Angesprochen sind mit diesen «Ausübungselementen» das Fragerecht im engen Sinne, das Identitätskenntnisrecht und das Wahrnehmungsrecht als die Teilrechte des Konfrontationsrechts auf dessen Ausübungsebene, die auch in den strafrechtsvergleichenden Untersuchungen zum Konfrontationsrecht sichtbar gemacht sind:1783 Das Fragerecht im engen Sinne ist mit dem Zeugenaussageinhalt sowie der Zeugenaussageentstehung auf eine unmittelbare Weise verknüpft, indem dem Angeklagten mit seinen Fragen an den Belastungszeugen die Möglichkeit einer Einflussnahme auf Entstehung sowie Bewertung der Zeugenaussage in direkter Weise eingeräumt ist. Ebenso ist diese Verbindung der Zeugenaussage mit dem Identitätskenntnisrecht und dem Wahrnehmungsrecht, wenn auch in einer über die Zeugenperson vermittelten bzw. auf eine mittelbare Weise, hergestellt, indem mit Hilfe1784 von Kenntnissen über die Zeugenperson und der Wahrnehmung des Verhaltens der Zeugenperson während der Zeugenbefragungen Erkenntnisse auch in den Entste1782
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BARTON, Strafverteidigung, S. 382 N 61 (Hervorhebung Demko); siehe auch BARTON, Fragwürdigkeiten des Zeugenbeweises, S. 45. Siehe zur Rechtsprechung des EGMR unter Kap. 5 A. I. und B. I. 3. sowie zu dem internationalen Strafverfahren vor dem ICTY und dem nationalen Strafverfahren in der Schweiz unter Kap. 5 C. Siehe dazu auch KÖHNKEN, Glaubwürdigkeit, S. 105, wonach entscheidend der Aussageinhalt und die inhaltsorientierte Glaubwürdigkeitsbeurteilung seien, hingegen die quellen- und kontextorientierte sowie die i.e.S. verhaltensorientierte Glaubwürdigkeitsbeurteilung „nur einen geringen Stellenwert“ haben: Die Kenntnisse über die Aussageperson beispielsweise dienen „als Hintergrund“, vor dem die einzelnen Aussagemerkmale zu bewerten seien, nicht jedoch komme ihnen eine „eigenständige Bedeutung“ zu (Hervorhebung Demko).
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
hungs- und Bewertungsprozess der Zeugenaussage eingebracht werden können. a)
Die sich auf den Inhalt und die Entstehung der Zeugenaussage beziehenden Glaubwürdigkeitskriterien in deren Bedeutung für das Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Die im Zentrum der Glaubwürdigkeitsbeurteilung von Zeugenaussagen stehende merkmalsorientierte Inhaltsanalyse untersucht den Inhalt der Zeugenaussage mit Blick auf das Enthalten/Nichtenthalten von (u.a.) allgemeinen, speziellen und insbesondere deliktspezifischen Inhalten sowie von etwaigen inhaltlichen Besonderheiten der Aussage.1785 Zur Überprüfung, Bewertung und Infragestellung solcher Inhaltsaspekte einer Zeugenaussage kann auch das im Konfrontationsrecht enthaltene Ausübungsrecht in Gestalt des Fragerechts im engen Sinne beitragen, indem dem Angeklagten mittels seines Fragen-Stellens an den Belastungszeugen (sowie seines Stellungnehmens zur belastenden Zeugenaussage) die Möglichkeit gegeben ist, das Fehlen und/oder die Mangelhaftigkeit von bestimmten Inhaltsaspekten der Zeugenaussage aufzuzeigen, mithin Zweifel am Inhalt und an der Qualität der Zeugenaussage in den gerichtlichen Wahrheitsermittlungsprozess einzuführen.
606
Aber auch Zweifel, was die Zeugenaussageentstehung1786 und hier insbesondere die Frage nach möglicherweise gegebenen suggestiven Beeinflussungen der Zeugenaussage1787 – wie sie durch die Art und den Inhalt der durchgeführten Zeugenvernehmungen und -befragungen entstehen können – betrifft, können durch das im Konfrontationsrecht enthaltene Fragerecht im engen Sinne in den gerichtlichen Wahrheitsermittlungsprozess eingebracht werden. Gerade mit letzterem Gesichtspunkt ist auch verwiesen auf Situationen, in denen
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Siehe zur inhaltlichen Glaubwürdigkeitsbeurteilung und zu den hierfür entwickelten Kriterien des Zeugenaussageinhaltes im Einzelnen KÖHNKEN, Glaubwürdigkeit, S. 82 ff. unter Darstellung der Glaubwürdigkeitskriterien von Arntzen, S. 87 ff., von Undeutsch, S. 92 ff., von Littmann und Szewczyk, S. 95 ff. und von Trankell, S. 99 ff.; KÖHNKEN, Münchener AnwaltsHandbuch Strafverteidigung, § 62 N 52 ff.; NIEHAUS, Handbuch der Rechtspsychologie, S. 312 ff.; VOLBERT/STELLER, S. 821 ff.; BENDER/NACK, S. 98 ff.; DITTMANN, Jugend und Strafrecht, S. 244 ff.; MÖLLER/MAIER, SJZ 2000, S. 251 f.; ARNTZEN, S. 25 ff. Dazu deutlich KÖHNKEN, MschKrim 1997, S. 297, wonach die Analyse der Entstehungsgeschichte einer Aussage „eine entscheidende Bedeutung im Rahmen der Glaubwürdigkeitsbegutachtung“ erhält; siehe dazu auch KÖHNKEN, Münchener AnwaltsHandbuch Strafverteidigung, § 62 N 86 ff.; siehe insbesondere zu suggestiven Einflüssen VOLBERT/STELLER, S. 831 ff. sowie zur Rekonstruktion von Entstehung und Entwicklung der Aussage S. 843. Dazu etwa KÖHNKEN, MschKrim 1997, S. 290 ff.; siehe auch DITTMANN, plädoyer 1997, S. 31 zum „wechselseitig(en) Aufeinandereinwirken“.
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
die Zeugenbefragungen unter Einschränkungen des Konfrontationsrechts des Angeklagten durchgeführt worden sind: Bei Zeugenbefragungen, welche nur oder in einer im Vergleich zum Angeklagten zumindest «besseren» Weise der anklagenden Seite und dem Gericht möglich waren, welche dem Angeklagten jedoch nicht oder lediglich in einem eingeschränkteren Masse ermöglicht wurden, ist die Aufmerksamkeit (auch mittels des Konfrontationsrechts) u.a. darauf zu lenken, ob es infolge von nicht ausgewogenen im Sinne von nicht völlig gleichgestellten Befragungsmöglichkeiten eventuell zu bewussten oder unbewussten Einseitigkeiten in der Wahrheitsermittlung des Zeugenbeweises gekommen ist bzw. dies nicht ausgeschlossen werden kann. 608
Dieses für die Wahrheitsbeurteilung einer Zeugenaussage wichtige Moment der Zeugenaussageentstehung spricht zudem den auch für das Konfrontationsrecht des Angeklagten bedeutenden Gesichtspunkt an, dass eine Zeugenaussage nicht das Produkt einzig und allein des aussagenden Zeugen ist, sondern vielmehr das Produkt und Ergebnis all der Personen, die an dem Prozess der Entstehung der Zeugenaussage in irgendeiner Weise, sei dies vernehmend, fragend oder antwortend, teilnehmen.1788 Alles, was Personen auf der «befragenden Seite» – wie beispielsweise das Gericht, die Polizei, der Ankläger, der Verteidiger und der Angeklagte, um nur die Verfahrensbeteiligten zu nennen, die (neben zahlreichen weiteren Personen ausserhalb des Strafverfahrens) auf den Zeugen im Strafverfahren einwirken – an den zu befragenden Zeugen herantragen, und zwar sowohl in inhaltlicher Hinsicht als auch durch die Art und Weise des Vernehmens und Befragens,1789 «wirkt» sich auf die Zeugenperson aus und fliesst in ihre Zeugenaussagen ein.
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„… Eine Zeugenaussage … ist ein Interaktionsprozess zwischen Zeugen und Vernehmenden, in den befragungsleitende Hypothesen eingehen … Von Fragen geht ein „Konformitätsdruck“ aus …“1790
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Siehe dazu etwa GREUEL, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, S. 155: „Kommunikationssituation“ und „Interaktionssituation“; deutlich BARTON, Strafverteidigung, S. 363 f.: Aussage als eine Leistung zugleich des Aussageempfängers, die in einem Interaktionsprozess zwischen Zeugen und Vernehmenden entsteht; siehe auch die Ausführungen zu einem Strafverfahren als einem Kommunikations- und Interaktionssystem bei SCHREIBER, S. 73 f. unter Auseinandersetzung mit Luhmann; zu Folgen und Fragen für die Zeugenbefragung siehe auch KLEMM, AJP 2000, S. 1377 ff.: „Verteidiger muss die Kunst der Beweiserhebung beherrschen … Verteidiger muss vertraut sein mit Grundsätzen der Vernehmungstechnik und der Aussagepsychologie“ (S. 1379, Hervorhebung Klemm). Siehe auch BARTON, Fragwürdigkeiten des Zeugenbeweises, S. 39. BARTON, Strafverteidigung, S. 363 f. N 15, 16 (Hervorhebung Demko), siehe zudem S. 366 N 23, wonach „Skepsis … nicht nur den Zeugen, sondern auch allen Vernehmenden …“ gebühre insofern, als sie „… zwangsläufig einen gewissen Anteil an der Genese der (fehlerhaften) Zeugenaussage haben“ (Hervorhebung Demko); zu sugges-
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Das Beweismittel der Zeugenaussage lässt sich – wie überhaupt ein jedes persönliches Beweismittel als ein von einem Menschen in Sprache ausgedrücktes – als ein «unfertiges» Beweismittel bezeichnen, das im Gegensatz zu etwaigen sachlichen Beweismitteln (wie z.B. einem geschossenen Foto) nicht von Anfang an einen feststehenden und unveränderbaren Inhalt hat. Vielmehr ist das Beweismittel der Zeugenaussage veränderbar, formbar und inhaltlich «auffüllbar», indem dieser durch jede neue Frage an den Zeugen und/oder jede neue Art der Frageformulierung auch neue Inhalte und ergänzende und/oder korrigierende Inhaltselemente hinzugefügt werden können (wenn auch nicht müssen). Peters führte dazu prägnant aus:
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„… Die Aussage ist zugleich eine Leistung des Aussageempfängers. Damit wird die Aussage zu einem doppelseitigen subjektiven Akt …“1791
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Dieses «Unfertige» einer für inhaltliche Veränderungen und Erweiterungen offenen Zeugenaussage ist nun von Bedeutung auch für das Konfrontationsrecht des Angeklagten. Denn es geht bei einer Zeugenbefragung zur Ermittlung der Wahrheit über das in Frage stehende strafbare Verhalten des Angeklagten darum, dass an den Zeugen in gleichwertiger Weise thetische und antithetische Fragemomente durch die befragende Seite (wie das Gericht, die anklagende und die angeklagte Seite) herangetragen werden, um auf diese Weise auch in der Antwort des aussagenden Zeugen etwaig gegebene thetische und/oder antithetische Erkenntnismomente ans Licht bringen bzw. zur Sprache bringen zu können: Nur wenn auf der befragenden Seite (hier das Gericht, die anklagende wie die angeklagte Seite umfassend) in gleichwertiger Weise nach thetischen und antithetischen Erkenntnismomenten gefragt werden kann und damit ein ausgewogenes Einwirken auf den Zeugen mittels Fragen nach Be- und Entlastendem gewährleistet ist, besteht auch die Möglichkeit, dass der Zeuge sich in seiner Antwort zu allen thetischen und antithetischen Inhalten in gleicher Weise äussern wird.1792 Mit dem Konfrontationsrecht und hier dem Fragerecht im engen Sinne ist dem Angeklagten infolgedessen das Recht eingeräumt, mittels seiner sich auf antithetische, den Angeklagten entlastende Erkenntnismomente beziehenden Befragungen auf den Entstehungsprozess der Zeugenaussage einzuwirken, indem durch die antithetischen Fragen des Angeklagten auch antithetische Inhaltsmomente – soweit gegeben – in den Antworten des Zeugen ans Licht gebracht werden können, welche ohne ein Nachfragen seitens des Angeklagten nach ihn Ent-
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tiven Einflüssen bei Befragungen von Kindern siehe näher NEVERMANN-JASKOLLA, S. 120 ff. PETERS, Strafprozeβ, S. 402 (im Originaltext fettgedruckte Hervorhebung von Peters: «Leistung des Aussageempfängers», übrige Hervorhebung Demko). Siehe auch BARTON, Fragwürdigkeiten des Zeugenbeweises, S. 45 zum Raum-LassenMüssen „für das Einbringen divergenter Wirklichkeitsperspektiven“.
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
lastendem in der Zeugenausage vielleicht nicht zur Sprache gekommen wären. 613
Nicht aber nur ein Einfluss auf die Entstehung der Zeugenaussage ist dem Angeklagten durch sein Konfrontationsrecht eingeräumt, sondern auch – und dies in einem jeden Fall, d.h. sowohl bei uneingeschränkter optimaler Ausübbarkeit als auch bei nur eingeschränkter Ausübbarkeit des Konfrontationsrechts – ein Einfluss auf die Bewertung der Zeugenaussage als glaubwürdig oder nicht glaubwürdig. Denn das Konfrontationsrecht gibt dem Angeklagten die Möglichkeit, die zur Glaubwürdigkeitsbeurteilung herangezogenen, an die Zeugenaussage und die Zeugenperson anknüpfenden Glaubwürdigkeitskriterien auf den Prüfstand zu stellen und in Zweifel zu ziehen, was das Gericht auf diese Weise veranlasst und verpflichtet, den durch den Angeklagten eingebrachten antithetischen Erkenntnismomenten im Rahmen des gerichtlichen Wahrheitsermittlungsprozesses – in dem Thetisches und Antithetisches in gleicher Weise zu berücksichtigen ist1793 – Aufmerksamkeit zu schenken und diese in gleichwertiger Weise zu beachten, zu prüfen und zu beurteilen.1794
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Neben der dem Angeklagten mittels seines Konfrontationsrecht gegebenen Möglichkeit, selbst in aktiver Weise auf Entstehung und Bewertung der Zeugenaussage einwirken zu können, tritt (u.a. mittels des mit dem Konfrontationsrecht verbundenen Rechts auf Anwesenheit bei der kontradiktorischen Zeugenbefragung) zudem die Möglichkeit, die Einwirkungen auf die Zeugenperson (sei es durch den Inhalt der Fragen oder die Art und Weise der Befragung) durch die anderen an der Zeugenbefragung Beteiligten, wie etwa durch das Gericht oder die anklagende Seite, zur Überprüfung zu stellen: Angesprochen ist hier die dem Angeklagten einzuräumende Möglichkeit, etwaige Zweifel an einer tatsächlich ausgewogenen Einflussnahme auf Entstehung und Bewertung der Zeugenaussage durch alle an der Zeugenbefragung Beteiligten vorbringen zu können und hierbei auch etwa die Frage nach (bewussten oder unbewussten) suggestiven Einflussfaktoren, welche einseitig zu lasten des Angeklagten gehen, auf den Prüfstand stellen zu lassen.
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Dazu auch BARTON, Fragwürdigkeiten des Zeugenbeweises, S. 47, wonach von der Tätigkeit des Verteidigers nicht erwartet werde, dass „diese unmittelbar Wahrheit schafft …“, sondern durch die „… gegensätzlichen Standpunkte von Anklage und streng einseitiger Verteidigung (soll) psychologisch-kommunikativ wie auch funktional betrachtet (durch die kontradiktorischen Elemente der StPO) der Richter ein Optimum an Informationen über den »Fall« erhalten und darauf dann sein umfassendes Urteil, das der Wahrheits- und Gerechtigkeitsidee möglichst nahe kommen soll, gründen“ (Hervorhebung Demko). Siehe dazu auch BARTON, Fragwürdigkeiten des Zeugenbeweises, S. 45 zur Möglichkeit des Beschuldigten, „aus seiner Sicht auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluβ zu nehmen (Hervorhebung Barton).
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
b)
Die sich auf die Zeugenperson beziehenden Glaubwürdigkeitskriterien in deren Bedeutung für das Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Neben der durch das Konfrontationsrecht ermöglichten antithetischen Einflussnahme auf den Inhalt und die Entstehung der Zeugenaussage ist es ebenso das In-Zweifel-Ziehen-Können von mit der Zeugenperson verbundenen Glaubwürdigkeitskriterien, das dem Angeklagten durch das Konfrontationsrecht und hier insbesondere vermittelt durch die Ausübungsrechte in Gestalt des Rechts auf Kenntnis der Zeugenidentität und des Rechts auf Wahrnehmung des Zeugenverhaltens während der Befragung eingeräumt ist: Mittels der Kenntnis der Zeugenidentität ist es dem Angeklagten nicht nur möglich, z.B. etwaige Befangenheiten, Voreingenommenheiten oder gar Feindseligkeiten des Zeugen gegenüber dem Angeklagten, etwaige zwischenmenschliche Verbindungen des Zeugen zum Angeklagten oder zu sonstigen Personen und damit einhergehende emotional-affektive Einstellungen des Zeugen zu von der Zeugenaussage Betroffenen sowie weitere, die Aussagemotivation des Zeugen betreffende Umstände zur Überprüfung stellen zu lassen.1795 Vielmehr wird dem Angeklagten durch die Kenntnis der Zeugenidentität auch das InFrage-Stellen etwaiger kognitiver Kenntnisse und Fähigkeiten der Zeugenperson1796 eingeräumt. Der Angeklagte kann auf diese Weise mit Blick auf die Aussagetüchtigkeit der Zeugenperson1797 die Fähigkeiten der Zeugenperson in Zweifel ziehen, den zur Aufklärung stehenden strafrechtlich relevanten Sachverhalt zuverlässig wahrgenommen, diesen sodann in der Zwischenzeit zwischen dem wahrgenommenen Geschehen und der Befragung zuverlässig in
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1796 1797
Dazu auch GREUEL, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, S. 171; siehe zu Problemen und Fehlerquellen im Zusammenhang mit der Motivanalyse KÖHNKEN, Fehlerquellen, S. 13 ff.: „Aussageanalyse zum Zwecke der Glaubhaftigkeitsbeurteilung ist Leistungsdiagnostik und nicht Gesinnungsdiagnostik“ (S. 15, Hervorhebung Demko); siehe zudem KÖHNKEN, Münchener AnwaltsHandbuch Strafverteidigung, § 62 N 2 ff. zu dem unbeabsichtigten Irrtum und der beabsichtigten Falschaussage als mögliche Ursachen unrichtiger Zeugenaussagen, welche sich hinsichtlich der Motivation des Zeugen definitorisch voneinander unterscheiden; zu motivationalen Voraussetzungen auch VOLBERT/STELLER, S. 829 f.; zum Zusammenhang von Zeugenidentität und Glaubwürdigkeitsüberprüfung siehe MEYER, Zeugenschutz, S. 106; dazu, dass die Personalien des Zeugen vor dem Verteidiger grundsätzlich nicht geheim gehalten werden dürfen, auch WASSERBURG, S. 299: „geht das Gesetz als selbstverständlich davon aus …“ (Hervorhebung Wasserburg). Siehe dazu etwa VOLBERT/STELLER, S. 829. Siehe zur Aussagetüchtigkeit der Zeugenperson näher GREUEL, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, S. 79 ff.
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Erinnerung behalten sowie nicht zuletzt auch in zuverlässiger Weise bei der Befragung wiedergegeben zu haben.1798 616
Verbunden mit dem Recht auf Wahrnehmung des Zeugenverhaltens während der Zeugenbefragung wird dem Angeklagten ermöglicht, etwaigen (beispielsweise mimischen, gestischen oder stimmlichen) Auffälligkeiten im Zeugenverhalten während der Zeugenbefragung – welche z.B. beim Stellen von Fragen nach bestimmten Inhalten auftreten – näher nachzugehen bzw. das Gericht zu veranlassen, diese Auffälligkeiten und Abweichungen im Zeugenverhalten zum Anlass zu nehmen, sie durch weitere Befragungen genauer zu überprüfen: Angesprochen ist eine sich an Verhaltensauffälligkeiten der Zeugenperson anschliessende Überprüfung mit Blick auf die massgebende Frage, ob sich mit diesen Verhaltensauffälligkeiten der Zeugenperson auch tatsächlich Zweifel an dem Glaubwürdigkeitsgehalt der Zeugenaussage verbinden. Auch hier gibt die Aussagepsychologie mit ihren Erkenntnissen zu den geeigneten und entscheidenden Kriterien für die Glaubwürdigkeitsbeurteilung von Zeugenaussagen erneut Bedeutendes für das Verständnis des Konfrontationsrechts vor. Denn herausgestellt ist durch die aussagepsychologische Forschung, dass es sich bei den nonverbalen Merkmalen des Zeugenverhaltens nicht um «Lügensignale»,1799 mithin nicht um «Unwahrheit signalisierende und gleichsam garantierende Zeichen» handelt:
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„… Alles deutet darauf hin, daβ es ein einheitliches und universelles “Lügensyndrom“, aus dem man bei allen Personen und unter allen Umständen den Wahrheitsgehalt einer Darstellung erschlieβen könnte, nicht gibt! … Entgegen weit verbreiteter Stereotype sind z.B. Mimik und Blickverhalten nicht nur keine besonders verläβlichen und aufschluβreichen Glaubwürdigkeitsindikatoren, sondern im Gegenteil sogar noch irreführender als andere Verhaltensbereiche! …“1800
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Allein aus einem bestimmten nonverbalen Verhalten,1801 sei es in der Mimik, in der Gestik oder etwa in der Stimme des Zeugen wahrnehmbar, lässt sich eine hier automatisch und zwingend vorliegende (etwa durch Lüge oder Irrtum des Zeugen bedingte) Unwahrheit der Zeugenaussage nicht – jedenfalls nicht in einer wissenschaftlich zuverlässigen Weise – «ablesen». Die aussa1798
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Zu Wahrnehmungs-, Erinnerungs- und Wiedergabefehlern siehe im Einzelnen BENDER/NACK, S. 2 ff.; siehe auch SPORER, S. 389 ff.; VOLBERT/STELLER, S. 829; BARTON, Strafverteidigung, S. 360 ff.; BARTON, Fragwürdigkeiten des Zeugenbeweises, S. 30 ff.; REBMANN, S. 87 ff.; siehe zudem zu Glaubwürdigkeitsfragen im Zusammenhang mit Sexualstraftaten an Frauen näher STEFFEN, S. 265 ff. Dazu näher KÖHNKEN, Glaubwürdigkeit, S. 46, 143; BENDER, SIZ 1985, S. 56: „wenig treffsicher“; WALDER, AJP 1992, S. 1112: „mehrdeutig“. KÖHNKEN, Glaubwürdigkeit, S. 143 (Hervorhebung Köhnken: «nicht»; übrige Hervorhebung Demko). Siehe im Einzelnen zu der verhaltensorientierten Glaubwürdigkeitsbeurteilung KÖHNKEN, Glaubwürdigkeit, S. 9 ff.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
gepsychologischen Erkenntnisse üben an dieser Stelle mithin eine korrigierende Wirkung aus auf bestehende Fehlvorstellungen und Überbewertungen in Bezug auf nonverbales Verhalten, wie sie nicht nur in der Allgemeinheit, sondern auch und immer noch selbst in der juristischen Praxis zu beobachten sind. In den strafrechtsvergleichenden Untersuchungen wurde/wird deutlich, dass der Wahrnehmung von Mimik, Gestik und Stimme des Zeugen eine grosse Bedeutung für die Wahrheitsermittlung seitens des Gerichts sowie für die Beteiligung des Angeklagten an dieser zugesprochen ist und dass Einschränkungen betreff der Wahrnehmung des Zeugen(verhaltens) nur ausnahmsweise zugelassen werden. Die Beachtung der aussagepsychologischen Erkenntnisse trägt dazu bei, das nonverbale Zeugenverhalten in der strafverfahrensrechtlichen Praxis nicht als Ausdruck von dadurch (angeblich) erkennbaren «Unwahrheitsgarantien» der Zeugenaussage misszuverstehen,1802 sondern dieses nonverbale Zeugenverhalten in einer korrekten Weise als das einzuordnen, was es ist: Nonverbale Verhaltensmerkmale zeigen unmittelbar einzig und allein einen aktuell bestehenden physischen und psychischen Zustand der Zeugenperson an,1803 dem wiederum eine Vielzahl von Ursachen zugrunde1802
1803
Siehe auch KÖHNKEN, Glaubwürdigkeit, S. 46, wonach es „das universelle „Wahrheits- oder Lügensignal“ im Sinne eines Verhaltensmusters, das konsistent, d.h. personen- und situationsübergreifend die Klassifizierung einer Darstellung als “wahr“ oder “gelogen“ erlauben würde, … mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht (gibt)“ (Hervorhebung Köhnken), zudem näher S. 143; KÖHNKEN, Münchener AnwaltsHandbuch Strafverteidigung, § 62 N 12 f.: „Körperliche Symptome und Verhaltensauffälligkeiten sind ... als Indikatoren für den Realitätsgehalt einer Aussage nicht geeignet“ (N 13) sowie „zwar gewisse Zusammenhänge zwischen Täuschungsmotivation und nonverbalem Verhalten … Diese sind jedoch zu inkonsistent und meistens auch zu schwach, um die Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer Zeugenaussage darauf stützen zu können“ (N 14). Siehe dazu näher GREUEL, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, S. 144 ff., wonach – auf Köhnken verweisend – Ausdrucksverstehen „bestenfalls zu einem zutreffenden Erfassen aktueller psychischer Zustände bei einem Zeugen“ (S. 145) führe, jedoch der Schluss aus diesen auf die Glaubhaftigkeit einer Aussage „offen (bleibt)“ (S. 145), „relative Unsicherheit der Ausdruckswahrnehmung und des Ausdrucksverstehens“ (S. 146), „Ausdrucksverstehen nur Rückschlüsse auf psychische Zustände der berichtenden Person gestattet, nicht aber unmittelbar Rückschlüsse auf die Glaubhaftigkeit ihrer Aussage“ (S. 152, Hervorhebung Demko), siehe auch S. 149 f. zu dem geringen Beitrag der Wahrnehmung nonverbalen Verhaltens für die Glaubhaftigkeitsbeurteilung der Aussage im Gegensatz zu den sich insofern überschätzenden subjektiven Überzeugungen der Beurteilenden, Täuschungen anhand nonverbalen Verhaltens erkennen zu können. Insbesondere zum nicht-aussagebegleitenden Ausdrucksverhalten siehe S. 156 f: Enden der Interpretation des Ausdrucksverhaltens „beim Verständnis des dem Ausdruck zugrundeliegenden aktuellen psychischen Zustands oder Gefühls
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
liegen können, welchem aber nicht unbedingt und zwingend die Unwahrheit der Zeugenaussage zugrundeliegen muss.1804 Nonverbales Zeugenverhalten, das unmittelbar allein die sich auf die Zeugenperson beziehende Wahrnehmungsebene betrifft, ist mithin als ein «(Anlass-)Zeichen» zu erkennen,1805 das selbst nicht automatisch die Unwahrheit der Zeugenaussage bedeutet, das aber Anlass gibt bzw. geben kann, durch sich nun anschliessende und vertiefende Befragungen und Ermittlungen nach der Ursache für diese Verhaltensauffälligkeiten und hierbei auch nach einer möglichweise bestehenden Unwahrheit der Zeugenaussage als der Ursache für die Verhaltensauffälligkeiten weiter zu suchen. 620
Diese aussagepsychologischen Erkenntnisse zu dem nonverbalen Zeugenverhalten sind relevant auch für das Konfrontationsrecht und hier für das Verhältnis seiner Ausübungsrechte zueinander: Die aussagepsychologische Forschung sagt nicht, dass die nonverbalen Merkmale des Zeugenverhaltens überhaupt nicht bedeutsam und daher nicht zu beachten sind,1806 sondern zeigt vielmehr ihre korrekte «Einordnung», sozusagen ihren «Stellenwert» in Bezug auf die Beurteilung des Wahrheitsgehaltes der Zeugenaussage auf. Die Aussagepsychologie gibt das nonverbale Zeugenverhalten als «Anlasszeichen», als «Hilfsquelle» zu erkennen und betont damit dessen Bedeutung, Anlass für ein Weitersuchen nach der (Un-)Wahrheit der Zeugenaussage und für ein entsprechendes Vertiefen der Zeugenbefragungen zu sein bzw. sein zu
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… Alle weiteren Schluβfolgerungen sind Spekulation“ (S. 157, Hervorhebung Demko). Dazu auch KÖHNKEN, Fehlerquellen, S. 5 f.: von einer Verhaltensauffälligkeit auf eine stattgefundene Straftat sei ein „zuverlässiger Schluss … nicht möglich“ (Hervorhebung Demko), da Verhaltensauffälligkeiten „unspezifisch“ (S. 6) seien in dem Sinne, dass sie nicht ausschliesslich im Zusammenhang mit einer stattgefundenen Straftat als deren Ursache auftreten, sondern auch auf andere Ursachen zurückgeführt werden können; siehe auch KÖHNKEN, Münchener AnwaltsHandbuch Strafverteidigung, § 62 N 12 ff.; WALDER, ZStrR 1980, S. 284 ff.; siehe zudem HUG, ZStrR 2000, S. 20 zur Untauglichkeit von Floskeln wie (z.B.) denen, der Zeuge habe seine Aussage „«sicher» oder «mit grosser Bestimmtheit»“ vorgetragen; dazu auch BENDER, SIZ 1985, S. 54; CHRISTEN, S. 10 ff.: „mehrdeutig interpretierbar“ (S. 11). Siehe auch GREUEL, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, S. 155: „Hinweise …“; BENDER, SIZ 1985, S. 56: Sichtbarwerden eines „«Strukturbruch(s)»“; CHRISTEN, S. 12: „Anlass zu Ergänzungsfragen geben kann“. Dazu auch GREUEL, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, S. 145, wonach die nonverbalen Verhaltensmerkmale zwar mit zu berücksichtigen seien – „nicht möglich, auf die Wahrnehmung von Ausdrucksverhalten … zu verzichten“ –, dies „jedoch noch nicht impliziert, daβ aus dem Ausdrucksverhalten Hinweise auf die Glaubhaftigkeit einer Aussage zu entnehmen sind“; siehe auch KÖHNKEN, Münchener AnwaltsHandbuch Strafverteidigung, § 62 N 14: „zwar gewisse Zusammenhänge …“, welche „… jedoch zu inkonsistent und meistens auch zu schwach“ seien.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
können.1807 Dieser Gesichtspunkt nun, dass nonverbales Verhalten zwar im Rahmen der Glaubwürdigkeitsbeurteilung von Zeugenaussagen auch mitzuberücksichtigt ist, jedoch selbst nicht gleichsam ein «Wahrheitszeichen» oder «Lügenzeichen» darstellt, sondern vielmehr (nur) ein «Anlasszeichen» für ein nachfolgendes Vertiefen des Befragens des Zeugen, ist von Relevanz für das Konfrontationsrecht und seinen sachlichen Schutzbereich und hier für das Verhältnis der Ausübungsrechte in Gestalt des Rechts des Angeklagten auf Wahrnehmung des Zeugen(verhaltens) während der Zeugenbefragung und des Fragerechts im engen Sinne: Sichtbar wird hier zum einen die enge Verknüpfung, die zwischen diesen beiden Ausübungsrechten besteht, aber zum anderen wird auch die (nur) unterstützende, helfende Funktion des Wahrnehmungsrechts erkennbar, welche das Wahrnehmungsrecht mit Blick auf ein wirksam ausübbares Fragerecht im engen Sinne als das massgebende Hauptausübungsrecht des Konfrontationsrechts zu erfüllen hat. c)
Zusammenfassung der Erkenntnisse zu der Bedeutung der sich auf den Inhalt und die Entstehung der Zeugenaussage sowie der sich auf die Zeugenperson beziehenden Glaubwürdigkeitskriterien für das Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Das sich in der Aussagepsychologie heute durchgesetzte Erkennen der Zeugenaussage in ihrer Qualität und ihrem Inhalt als das entscheidende Moment für die Glaubwürdigkeitsbeurteilung einer Zeugenaussage1808 ist zusammen mit der Betonung der aussagezentrierten Glaubwürdigkeitskriterien – wie etwa der Inhaltsmerkmale der Zeugenaussage, der Entstehungsgeschichte der Zeugenaussage oder der sich aus der Kenntnis der Zeugenidentität ergebenden und in die Zeugenaussage und ihre Bewertung einfliessenden Beurteilungsgesichtspunkte – von Bedeutung auch für das Verständnis des Konfrontationsrechts und des Verhältnisses seiner Ausübungsrechte zueinander: Es hat sich ein Ausübungsrecht als das im Zentrum stehende Hauptausübungsrecht gezeigt, dem die anderen Ausübungsrechte zur Unterstützung und Hilfe an die Seite gestellt sind.1809 1807
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Siehe dazu auch CHRISTEN, S. 10 ff.: „kaum etwas abgewonnen werden kann“ (S. 12) und „Anlass zu Ergänzungsfragen“ (S. 12, Hervorhebung Demko); SCHEIDEGGER, S. 238: „keinerlei Stellenwert“ und „zu spezifischen Ergänzungsfragen veranlassen“. Siehe weiter differenzierend auch GREUEL, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, S. 161f. zu „Mindestanforderungen in jeder erlebnisgestützten Aussage“ (S. 161) und der Differenzierung zwischen „Ausschluβmerkmale(n)“ (S. 162) und „Qualifizierungsmerkmale(n)“ (S. 162), Hervorhebung Greuel; siehe dazu auch VOLBERT/ STELLER, S. 824. Deutlich auch KÖHNKEN, Glaubwürdigkeit, S. 105, wonach entscheidend der Aussageinhalt und die inhaltsorientierte Glaubwürdigkeitsbeurteilung seien, hingegen die
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen 622
Mit dem Fragerecht im engen Sinne ist die unmittelbare Bezugslinie zum Inhalt der Zeugenaussage sowie zu ihrer Entstehung und Bewertung angesprochen. Es ist dieses auf der Ausübungsebene des Konfrontationsrechts im Mittelpunkt stehende Teil(ausübungs)recht, zu dessen wirksamer Verwirklichung es unterstützend auch der Teil(ausübungs)rechte auf Kenntnis der Zeugenidentität und auf Wahrnehmung des Zeugen(verhaltens) bedarf.
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Für die materiell wirksame Gewährung des Konfrontationsrechts sind (zum Ersten) dieses Verhältnis des notwendigen Zusammenwirkens und Zusammenspiels der Ausübungsrechte sowie (zum Zweiten) das Verhältnis ihrer Ein- und Zuordnung zueinander als Haupt- und Hilfsausübungsrechte von Relevanz: Allein eine aussagende Zeugenperson nur ansehen oder hören zu dürfen und/oder nur Kenntnis von ihrer Identität erhalten zu dürfen, ohne jedoch auch einen Bezug zu dem herstellen zu können, was für die Wahrheitsermittlung eines Zeugenbeweises massgebend ist – nämlich dazu, was die Zeugenperson aussagt –, würde zum einen verkennen, dass die Zeugenperson kein «Augenscheinsobjekt» ist, welches allein schon durch schlichtes Betrachten und Wahrnehmen die Wahrheit zu erkennen gibt. Zum anderen würde verkannt, dass sich die sog. allgemeine Glaubwürdigkeit der in ihrer Identität bekannten Zeugenperson – nach der als ein stabiles Persönlichkeitsmerkmal ein Mensch (angeblich) entweder immer Lügner oder immer Wahrheitssprechender sei – für die Bestimmung des Wahrheitsgehaltes einer konkreten Zeugenaussage als ungeeignet und nicht hinreichend erwiesen hat.1810 Es ist das Fragerecht im engen Sinne, dem mit den Erkenntnissen der aussagezentrierten und inhaltsorientierten Glaubwürdigkeitsbeurteilung der Aussagepsychologie einhergehend die Bedeutung als Hauptausübungsrecht des Konfrontationsrechts zukommt und zu dessen wirksamer Gewährung es nicht nur einer Beachtung dieses Hauptausübungsrechts selbst bedarf, sondern auch der dieses Fragerecht im engen Sinne unterstützenden Ausübungsrechte des Zeugenidentitätskenntnis- und Wahrnehmungsrechts.
1810
402
quellen- und kontextorientierte sowie die i.e.S. verhaltensorientierte Glaubwürdigkeitsbeurteilung „nur einen geringen Stellenwert“ besitzen: Die Kenntnisse (etwa) über die Aussageperson dienen „als Hintergrund“, vor dem die einzelnen Aussagemerkmale zu bewerten seien, nicht jedoch haben sie eine „eigenständige Bedeutung“, Hervorhebung Demko. Siehe etwa GREUEL, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, S. 4, wonach heute nicht mehr auf die allgemeine Glaubwürdigkeit der Zeugenperson abgestellt wird, sondern „in einem Gerichtsverfahren letztlich nur die Glaubhaftigkeit der jeweiligen Aussage entscheidend ist“.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
4.
Die Glaubwürdigkeitsbeurteilung als nicht quantitäts-, sondern qualitätsgeleiteter Gesamtbeurteilungsprozess und dessen Bedeutung für das Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Eine weitere wichtige Erkenntnis wird von der Aussagepsychologie mit Blick darauf hervorgehoben, dass die für die Glaubwürdigkeitsbeurteilung herangezogenen Glaubwürdigkeitskriterien allzu leicht missdeutet werden als schlicht quantitativ zusammen zu addierende Kriterien, welche ab einer bestimmten Quantität an vorhandenen Kriterien die Glaubwürdigkeit verbürgen würden.1811 Nicht die Quantität und mithin keine mathematische Betrachtung der Glaubwürdigkeitsmerkmale sind aber,1812 sondern vielmehr ein qualitativer Massstab ist an den komplexen Gesamtbeurteilungsprozess, an seine einzelnen Beurteilungskriterien und ihr Zusammenwirken anzulegen. Zudem ist diese qualitative Gesamtbewertung der Glaubwürdigkeit der Aussage „immer nur auf dem Hintergrund der einzelfallspezifischen Besonderheiten“1813 vorzunehmen.1814
624
Die Betonung der Qualität, auf die es für die Gesamtbewertung einer Zeugenaussage als glaubwürdig oder unglaubwürdig ankommt, führt Wichtiges an Erkenntnisses auch an mit Blick auf die Frage, wonach zu beurteilen ist, ob dem Angeklagten ein hinreichendes In-Zweifel-Ziehen der einzelnen Glaubwürdigkeitskriterien und im Ergebnis der Gesamtbeurteilung der Zeu-
625
1811
1812
1813 1814
Zu solchen Missverständnissen siehe etwa näher GREUEL, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, S. 203. Deutlich GREUEL, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, S. 159, 161: keine „reinen “Checklisten-Diagnostik“ …“ sowie keine „… Aufsummierung oder andere mathematische Verknüpfungen“ (S. 159), siehe auch S. 161 zur „Faustregel“ von Arntzen, nach der mindestens drei Glaubwürdigkeitsmerkmale vorliegen müssen, und zu dem Hinweis, dass diese „Quantifizierung dennoch beliebig“ bleibe; ebenso NIEHAUS, Handbuch der Rechtspsychologie, S. 315: keine „Checklistendiagnostik“; VOLBERT/STELLER, S. 825: „Fokussierung allein auf die Anzahl erfüllter Qualitätsmerkmale ist … irreführend …“; ebenso BENDER/NACK, S. 271 N 471: kein Degenerieren zu einer mathematischen Aufgabe. GREUEL, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, S. 203. Näher dazu GREUEL, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, S. 203 f., wonach es „keine wie auch immer gearteten, allgemeingültigen Verknüpfungsregeln geben kann. Forderungen nach der Festlegung eines konkreten „cut-off-points“, der eine sichere Differenzierung zwischen glaubhaften und nicht glaubhaften Aussagen ermöglichen …, gehen letztlich am Problem vorbei“ (S. 203) sowie explizit darauf hinweisend, dass „erhöhte Anforderungen an die Aussage gerade nicht im Hinblick auf die Quantität erfüllter Merkmale des Erlebnisbezugs, sondern vielmehr auf das Vorliegen spezifischer Merkmalskomplexe, also die qualitative Struktur der Gesamtaussage zu stellen sind“ (S. 204, Hervorhebung Greuel).
403
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
genaussage als glaubwürdig ermöglicht wurde: Auch dieses – eine tatsächlich gegebene antithetische Teilnahmemöglichkeit des Angeklagten zum Ausdruck bringende – materiell wirksame In-Zweifel-Ziehen-Können des Zeugenbeweises und seines Wahrheitsgehaltes durch den Angeklagten ist nicht rein mathematisch durch blosse Summierung der vom Angeklagten vorbringbaren «Zweifelspunkte» zu bestimmen, sondern auch hier ist ein qualitativer Massstab anzulegen. Zu prüfen ist, ob es dem Angeklagten – auch trotz etwaiger Einschränkungen in Bezug auf die Ausübungsrechte des Konfrontationsrechts – ermöglicht war, sich den thetischen, den Angeklagten belastenden Erkenntnismomenten des Zeugenbeweises in einer materiell wirksamen Weise entgegenzustellen, d.h. in einer Weise, der tatsächlich die Qualität eines («echten») Gegengewichtes, eines Gegenübers, eben einer Antithese zukommt. Auch in der Rechtsprechung des EGMR ist dieser anzulegende qualitative Massstab sichtbar, wird doch für die Prüfung der Wahrung der Verteidigungsrechte eine Gesamtbeurteilung des konkreten Einzelfalles zugrundegelegt und sind es die jeweils gegebenen spezifischen Besonderheiten der Einzelfalles, die in die qualitative Bewertung der Annahme einer dem Angeklagten gewährten (materiell) wirksamen Verteidigung und eines insgesamt fairen Strafverfahrens einfliessen.1815 5.
626
Die aussagepsychologischen Erkenntnisse zum «konfirmatorischen Hypothesentesten» und deren Bedeutung für das Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Dass es für die Gesamtbewertung einer Zeugenaussage als glaubwürdig darauf ankommt, in qualitativ gleichwertiger Weise alle thetischen und antithetischen Erkenntnismomente in den Beurteilungsprozess einzuführen und einseitige, eingeengte Wahrheitsermittlungen – bei denen nur bestimmten Hypothesen nachgegangen, das Aufspüren und Verfolgen von etwaigen Gegenhypothesen hingegen (bewusst oder unbewusst) vernachlässigt wird – zu vermeiden, wird in besonderer Weise auch durch das in der Aussagepsychologie untersuchte sog. konfirmatorische Hypothesentesten1816 zum Ausdruck gebracht. Dieses konfirmatorische Hypothesentesten erlaubt es – ebenso wie die zuvor aufgezeigten aussagepsychologischen Erkenntnisse zu den Glaubwürdigkeitskriterien –, Bedeutendes an Erkenntnissen für das Konfrontationsrecht und seine (materiell) wirksame Gewährleistung abzuleiten. 1815 1816
404
Siehe dazu bereits die Ausführungen in Kap. 4. Dazu eingehend VOM SCHEMM/DREGER/KÖHNKEN, ForensPsychiatrPsycholKriminol 2008, S. 20 ff.; VOM SCHEMM/KÖHNKEN, Handbuch der Rechtspsychologie, S. 322 ff.; dazu auch SCHOLZ, NStZ 2001, S. 573 f.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Zum Ausgang nehmend, dass eine Aussage „immer das Resultat einer Interaktion zwischen den Reproduktionsbemühungen der befragten Person einerseits und dem Verhalten der befragenden Person andererseits“1817 ist und dass eine suggestive Beeinflussung1818 der Aussage nicht nur durch (etwa) Frageformulierungen oder -intonationen, sondern durch eine Vielzahl von weiteren mit einer Befragung einhergehenden Beeinflussungsfaktoren1819 verursacht sein kann,1820 wird eine Befragung beschrieben als „eine Methode zum Testen einer oder mehrerer sozialer Hypothesen“.1821 Bei einem solchen in einer Befragung vorgenommenen Prüfen bzw. Testen sozialer Hypothesen – wie etwa der sich auf den Tatverdacht stützenden Hypothese, dass sich der Angeklagte wegen der in Rede stehenden Straftat schuldig gemacht haben könnte – kann es zu zu einer „Pseudobestätigung falscher Ausgangshypothesen“1822 führenden systematischen Fehlern und Verzerrungen kommen, was u.a. darauf zurückzuführen ist, dass die den Angeklagten entlastenden Gegenhypothesen bzw. „Alternativhypothese(n)“1823 nicht oder nicht im gleichen Masse in den Beurteilungsprozess einfliessen und/oder hier Beachtung finden.1824 In ursächlicher Verbindung steht dies mit der sog. „Selbstbestätigungstendenz …, dem so genannten „Confirmation Bias“ …“,1825 wonach die befragenden Personen, die hinsichtlich des Auftretens eines Ereignisses „bestimmte Voreinstellungen … haben, die Befragung so formen, dass die befragte Person Aussagen macht, die die Voreinstellung bestätigen“.1826 1817
1818
1819 1820
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VOM SCHEMM/DREGER/KÖHNKEN, ForensPsychiatrPsycholKriminol 2008, S. 20; siehe auch GREUEL, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, S. 150, 155. Zu suggestiven Beeinflussungen siehe näher VOLBERT, S. 331 ff.; KÖHNKEN, MschrKrim 1997, S. 294; KÖHNKEN, Münchener AnwaltsHandbuch Strafverteidigung, § 62 N 86 ff. Siehe etwa zum Problem des Zeugen-Coaching KÖHNKEN, Fehlerquellen, S. 21 f. Siehe zu Formen und Effekten suggestiver Beeinflussungen im Einzelnen VOM SCHEMM/DREGER/KÖHNKEN, ForensPsychiatrPsycholKriminol 2008, S. 22 f.; siehe auch SCHOLZ, NStZ 2001, S. 572 ff. zur Aussagebeeinflussung durch Gestaltungselemente der Befragungssituation und durch das Gesprächsverhaltens der befragenden Person; KÜHNE, NStZ 1985, S. 255. VOM SCHEMM/DREGER/KÖHNKEN, ForensPsychiatrPsycholKriminol 2008, S. 21. VOM SCHEMM/DREGER/KÖHNKEN, ForensPsychiatrPsycholKriminol 2008, S. 20. VOM SCHEMM/DREGER/KÖHNKEN, ForensPsychiatrPsycholKriminol 2008, S. 24. Siehe dazu auch KÖHNKEN, Fehlerquellen, S. 3 f.: „Tendenz, einseitig Informationen zu sammeln, die zu den bereits vorgefassten Überzeugungen konsistent sind und Befunde so (umzu-)deuten, dass die Erwartungen immer bestätigt werden“ (Hervorhebung Demko); KÖHNKEN, MschrKrim 1997, S. 294. VOM SCHEMM/DREGER/KÖHNKEN, ForensPsychiatrPsycholKriminol 2008, S. 22 (Hervorhebung Demko); siehe auch KÖHNKEN, MschrKrim 1997, S. 293 f. VOM SCHEMM/DREGER/KÖHNKEN, ForensPsychiatrPsycholKriminol 2008, S. 22 (Hervorhebung Demko); siehe dazu auch NACK, StV 1994, S. 560 zum sog. Pygmali-
405
627
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen 628
Wird bei den tatverdachtsgestützten Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörden und bei im Rahmen dieser durchgeführten Befragungen von Zeugen bedingt durch verschiedene Ursachen1827 die Aufmerksamkeit (bewusst oder unbewusst) in selektiver Weise auf die zu testende Ausgangshypothese – mithin auf den Tatverdacht und mit diesem einhergehend auf die den Angeklagten belastenden Erkenntnismomente – gelenkt, während mögliche, den Angeklagten entlastende Alternativhypothesen und alternative Erklärungen nicht in gleichem Masse berücksichtigt und untersucht werden, führt dies zu vorschnellen Verengungen oder gar Einseitigkeiten bei der Wahrheitsermittlung,1828 indem die tatverdachtsgestützte, den Angeklagten belastende Ausgangshypothese „die Art der Fragen und die Wahl der Worte … insofern beeinflussen (kann), dass die Frageformen bevorzugt Antworten in Richtung der Voreinstellung der Interviewenden auslösen …“.1829 Allein eine – und dies ist die von der Aussagepsychologie betonte Konsequenz aus den Erkenntnissen zum konfirmatorischen Hypothesentesten für die Praxis1830 – „durchgehende“1831 und „systematische Einbeziehung alternativer Hypothesen“1832 könne solche konfirmatorischen Prozesse bei Zeugenbefragungen „zumindest deutlich verringern“.1833 Genau dies nun zeigt auch den Ansatzpunkt auf für die grosse Bedeutung der antithetischen Teilnahme des Ange-
1827
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1833
406
on-Effekt, welcher besagt, dass eine bereits zu Ermittlungsbeginn „aufgestellte eingleisige Ermittlungshypothese die Gefahr in sich birgt, daβ sich das Ermittlungsergebnis, insbesondere die Aussagen, tendenziell der Hypothese anpassen und diese schlieβlich bestätigen“ (Hervorhebung Demko); siehe dazu zudem SCHÜNEMANN, StV 1993, S. 608 zum Trägheits- und Schulterschlusseffekt. Siehe dazu im Einzelnen VOM SCHEMM/DREGER/KÖHNKEN, ForensPsychiatrPsycholKriminol 2008, S. 22 ff. Siehe auch KÖHNKEN, Fehlerquellen, S. 3: „Zu nicht aufgestellten Hypothesen werden auch keine Informationen gesucht!“; KÖHNKEN, MschrKrim 1997, S. 293 f.: „Alternativhypothesen … wurde nicht mehr nachgegangen“. VOM SCHEMM/DREGER/KÖHNKEN, ForensPsychiatrPsycholKriminol 2008, S. 25 (Hervorhebung Demko), siehe auch näher S. 25; siehe auch zu ungeeigneten Befragungsformen und -techniken, welche zu einer Beeinträchtigung des Auftretens möglicher Realkennzeichen führen können, näher KÖHNKEN, Münchener AnwaltsHandbuch Strafverteidigung, § 62 N 112 ff. Siehe näher zu den „Konsequenzen für die Praxis“ (S. 6) VOM SCHEMM/DREGER/ KÖHNKEN, ForensPsychiatrPsycholKriminol 2008, S. 25 f; VOM SCHEMM/KÖHNKEN, Handbuch der Rechtspsychologie, S. 328 f. VOM SCHEMM/DREGER/KÖHNKEN, ForensPsychiatrPsycholKriminol 2008, S. 24. VOM SCHEMM/DREGER/KÖHNKEN, ForensPsychiatrPsycholKriminol 2008, S. 26; dazu auch BENDER/NACK, S. 279 ff. VOM SCHEMM/DREGER/KÖHNKEN, ForensPsychiatrPsycholKriminol 2008, S. 26; siehe auch KÖHNKEN, Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Kinderaussagen, S. 26 ff., wonach entscheidend ist, dass „alle in der gegebenen Konstellation relevanten Hypothesen aufgestellt und sorgfältig geprüft werden“ (S. 28).
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
klagten am gerichtlichen Wahrheitsermittlungsprozess und ihrer Konkretisierung bei dem Belastungszeugenbeweis in Gestalt des Konfrontationsrechts. Das, was in den aussagepsychologischen Forschungen zum konfirmatorischen Hypothesentesten betont wird, gilt im besonderen Masse angewendet auf die Person des Angeklagten und sein antithetisches Teilnahmerecht, wenn es dort heisst, dass, wenn „man ausdrücklich auf eine alternative Hypothese hin(weist), so reduziert sich die Präferenz für hypothesenkonsistente Informationen“.1834 Zum Ausdruck gebracht ist damit das, was ebenso Bender/Nack herausstellen: „… denn „es gibt immer nur die Tatsachen, nach denen wir fragen“ …“1835
629
Ebenso führen vom Schemm/Dreger/Köhnken unter Verweis auf weitere Forschungen und Forscher – und hier für das nachfolgende Zitat auf die Forderung von Haubl Bezug nehmend – aus:
630
„... „Organisiere Deine Hypothesen und die ihnen zugeordneten Beobachtungs- und Befragungsmittel so, dass sie gezielt streuen und Dich zwingen, Pro- und ContraBelege zu sammeln“. Dies bedeutet u.a., dass man gezielt nach alternativen Erklärungen für die erhobenen Befunde oder die von anderen präsentierten Fakten suchen muss. Dafür stelle man sich die Frage: „Welche anderen Erklärungen kann es für dieses Verhalten geben?“ …“1836
631
Wenn auch die Strafverfolgungsbehörden und das Gericht selbst sowohl belastenden als auch entlastenden Erkenntnismomenten nachzugehen haben, mithin sowohl ihre tatverdachtsgestützte Ausgangshypothese als auch mögliche, den Angeklagten entlastende Alternativhypothesen zu prüfen zu haben, so ist Ausgangs- und Orientierungspunkt ihrer Ermittlungen und Zeugenbefragungen nun einmal der den Angeklagten belastende Tatverdacht und verknüpft damit besteht die Gefahr von sich fortsetzenden, den Angeklagten belastenden „Selbstbestätigungstendenzen“.1837 Um eben diesen Selbstbestätigungstendenzen bei Zeugenbefragungen entgegenzuwirken oder diese jedenfalls zu vermindern und auf diese Weise eine qualitativ gleichwertige Prüfung von thetischen und antithetischen Erkenntnismomenten im Zusammenhang mit dem Zeugenbeweis zu bewirken, ist die grosse Bedeutung des Konfrontationsrechts des Angeklagten unmittelbar einsichtig. Denn ein (materiell) wirksam gewährtes Konfrontationsrecht ermöglicht es dem Angeklagten, durch die von ihm vorgebrachten Zweifel an den und die Infragestellungen
632
1834 1835 1836
1837
VOM SCHEMM/DREGER/KÖHNKEN, ForensPsychiatrPsycholKriminol 2008, S. 26. BENDER/NACK, S. 279 f. N 486. VOM SCHEMM/DREGER/KÖHNKEN, ForensPsychiatrPsycholKriminol 2008, S. 26 (Hervorhebung vom Schemm/Dreger/Köhnken). VOM SCHEMM/DREGER/KÖHNKEN, ForensPsychiatrPsycholKriminol 2008, S. 25 (Hervorhebung Demko); dazu auch KÖHNKEN, MschrKrim 1997, S. 293 f.; siehe zudem BARTON, Fragwürdigkeiten des Zeugenbeweises, S. 59.
407
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
der Glaubwürdigkeitskriterien der Zeugenaussage auf mögliche, ihn entlastende Alternativhypothesen und alternative Erklärungen ausdrücklich zu verweisen. Auf diesem Wege findet der Angeklagte Anerkennung als prozesssubjektwahrender Teil eines gerichtlichen Wahrheitsermittlungsprozesses: Angesprochen ist ein gerichtlicher Wahrheitsermittlungsprozess, in welchem nicht nur überhaupt (dem dialektischen Charakter des Straf- und Beweisverfahrens geschuldet) thetische und antithetische Erkenntnismomente zu berücksichtigen sind, sondern in dem (und hier nun zugleich dem Anspruch verpflichtet, ein menschenwürde- und menschenrechtswahrendes wahrheitsgerichtetes dialektisches Straf- und Beweisverfahren zu sein) es gerade auch dem Angeklagten als Prozesssubjekt ermöglicht ist, das Antithetische in qualitativ gleichwertiger und aktiv handelnder Weise im Erkenntnisverfahren zu Geltung und – im wahrsten Sinne des Wortes – zur Sprache zu bringen.1838
III. 633
Zusammenfassung
Das Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen weist sich als ein mit Blick auf einen belastenden Zeugenbeweis konkretisiertes antithetisches Teilnahmerecht des Angeklagten aus, welches die eine wirksame Verteidigung ermöglichende Einflussnahme des Angeklagten auf den sich auf einen belastenden Zeugenbeweis beziehenden Wahrheitsermittlungsprozess betrifft. In einer Beachtung und Zusammenführung der materiellen und prozeduralen Gerechtigkeitsebene ist das Konfrontationsrecht nicht auf die Bedeutung einer blossen Beweisregel zu reduzieren, sondern als eigenständiges prozesssubjektwahrendes Verteidigungsrecht zu erkennen. Für eine im Zusammenhang mit einem belastenden Zeugenbeweis dem Angeklagten zu gewährende materiell wirksame Verteidigung ist es dem Angeklagten zu ermöglichen, den durch den Belastungszeugen vorgebrachten, den Angeklagten belastenden thetischen Erkenntnismomenten antithetische Erkenntnismomente zur Entlastung des Angeklagten in einer gleichberechtigten und praktisch wirksamen Weise entgegenzustellen: Ein wirksam gewahrtes Konfrontationsrecht hat dem Angeklagten auf seiner Wesensgehalts- bzw. Inhaltsebene zu ermöglichen, den belastenden Zeugenbeweis in Bezug auf seinen Wahrheitsgehalt auf den Prüfstand zu stellen und in Zweifel zu ziehen. Als Wesensgehaltsmomente des Konfrontationsrechts lassen sich mithin die Momen-
1838
408
Siehe zur Zusammenführung des dialektischen Charakters des Straf- und Beweisverfahrens mit seinem Anspruch, hierbei zugleich ein die Menschenwürde und die Menschenrechte des Angeklagten wahrendes Straf- und Beweisverfahren zu sein, bereits näher unter Kap. 4 B. I.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
te der Infragestellung, der Glaubwürdigkeit des belastenden Zeugenbeweises und des konkretisierten antithetischen Teilnahmerechts benennen. Zur Verwirklichung dieses Wesensgehaltes erweisen sich – was die Ausführungen zur Rechtsprechung des EGMR und zur Aussagepsychologie darlegen – auf der Ausübungsebene die Ausübungsrechte in Gestalt des Rechts auf Kenntnis der Zeugenidentität, des Rechts auf Wahrnehmung des Zeugen(verhaltens) und des Fragerechts im engen Sinne als bedeutsam. Die Möglichkeit einer wirksamen Überprüfung und Infragestellung der Glaubwürdigkeit des belastenden Zeugenbeweises bezieht sich hierbei – wie es sich ebenso sowohl in der Rechtsprechung des EGMR als auch in den aussagepsychologischen Forschungen zeigt – nicht auf eine allgemeine Glaubwürdigkeit der Zeugenperson, sondern vielmehr stellt sich der Wahrheitsgehalt der durch die Zeugenperson zur Sprache gebrachten Zeugenaussage als massgebliches Moment dar.
634
Geht es sowohl dem sich auf einen belastenden Zeugenbeweis beziehenden Konfrontationsrecht als auch dem Recht des Angeklagten auf rechtliches Gehör um die Wahrung einer wirksamen antithetischen Teilnahme am Strafund Beweisverfahren, so stellt sich das Konfrontationsrecht auf der Ausübungsebene zur Verwirklichung dieses Wesensgehaltes als eine Erweiterung des Rechts auf rechtliches Gehör dar: Nicht mehr allein ein «Infragestellen durch Sagen», wie es die Ausübungsrechte des kenntnisgefüllten Stellungnehmen-Könnens beim rechtlichen Gehör ermöglichen, sondern darüber hinausgehend ein «Infragestellen durch Fragen (und Sagen)» formt sich durch die Ausübungsrechte – in Gestalt insbesondere des Fragerechts im engen Sinne – des Konfrontationsrechts aus.
635
Die aussagepsychologischen Erkentnisse zur Glaubwürdigkeitsbeurteilung von Zeugenaussagen erlauben im Wege eines «Rückschliessens» eine Vertiefung der Erkenntnisse zur Inhalts- und Ausübungsebene des Konfrontationsrechts. Als bedeutsame Quelle für weitere konkretisierende Erkenntnisse zum Konfrontationsrecht haben sich hier insbesondere die aussagepsychologischen Forschungsergebnisse zur hypothesengeleiteten und inhaltsorientierten Glaubwürdigkeitsbeurteilung, zur Glaubwürdigkeitsbeurteilung als einem qualitätsgeleiteten Gesamtbeurteilungsprozess und zum konfirmatorischen Hypothesentesten erwiesen. In die zu ermittelnde Glaubwürdigkeit des Zeugenbeweises finden die zusammengehörenden Elemente des Zeugenbeweises in Gestalt der Zeugenaussage und der Zeugenperson Eingang, wobei sich aber – wie bereits angeführt – nicht eine allgemeine Glaubwürdigkeit der Zeugenperson, sondern vielmehr der Wahrheitsgehalt einer bestimmten Zeugenaussage einer bestimmten Zeugenperson als das entscheidende und zentrale Moment der Glaubwürdigkeitsbeurteilung zeigt. Die sich auf die Zeugenaussage und die Zeugenperson beziehenden verschiedenen Glaubwürdigkeitskriterien bilden wichtige Anknüpfungspunkte für den Inhaltsgehalt des und für die
636
409
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Einordnung der Ausübungsrechte des Konfrontationsrechts. Deutlich ist nicht nur, dass es gerade diejenigen Anknüpfungspunkte für die Glaubwürdigkeitsbeurteilung des Zeugenbeweises sein müssen, die von der Aussagepsychologie als entscheidende angesehen und die (sich den aussagepsychologischen Erkenntnissen anschliessend) vom Gericht der Wahrheitsbeurteilung zugrunde gelegt werden, welche sich auch für die Ausgestaltung des Konfrontationsrechts auf seiner Inhalts- und Ausübungsebene als die relevanten Anknüpfungspunkte erweisen. Vielmehr offenbaren die aussagepsychologischen Forschungsergebnisse darüber hinaus das für ein materiell wirksam gewährtes Konfrontationsrecht notwendig zu beachtende Zusammenwirken der Ausübungsrechte, wobei sie zudem das Zuordnungsverhältnis zwischen dem Hauptausübungsrecht – dem Fragerecht im engen Sinne – und den unterstützenden (Hilfs-)Ausübungsrechten – dem Zeugenidentitätskenntnisrecht und dem Wahrnehmungsrecht – sichtbar machen.
637
B.
Menschenrechtliche Garantien zum Ausübungsgehalt des Konfrontationsrechts des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen nach Art. 6 III d EMRK und der Rechtsprechung des EGMR
I.
Menschenrechtliche Vorgaben in Bezug auf den Schutzbereich des Konfrontationsrechts
1.
Aktiver und passiver persönlicher Schutzbereich des Konfrontationsrechts
a)
Der aktive persönliche Schutzbereich des Konfrontationsrechts: «Die Verteidigung» als «Einheit von Angeklagtem und Verteidiger»
Für die aktive Ausübung des Konfrontationsrechts werden Angeklagter und Verteidiger – u.a. unter Abstellen auch auf den Wortlaut des Art. 6 III d EMRK «to examine or have examined»1839 – als Einheit und wird das Konfrontationsrecht als „Recht der Verteidigung insgesamt“1840 begriffen,1841
1839
1840 1841
410
Siehe zur Bezugnahme auf diesen Wortlaut aus dem Schrifttum etwa KÜHNE, in: Karl (Hrsg.), IntKommEMRK, 11. Lieferung, April 2009, Art. 6 N 581; GOLLWITZER, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR, S. 405 N 221. GOLLWITZER, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR, S. 405 N 221 (Hervorhebung Gollwitzer). Siehe dazu aus dem Schrifttum etwa KÜHNE, in: Karl (Hrsg.), IntKommEMRK, 11. Lieferung, April 2009, Art. 6 N 581; HAEFLIGER/SCHÜRMANN, S. 240; GOLLWITZER,
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
wonach es nach der Rechtsprechung des EGMR hinreichend ist, dass das Konfrontationsrecht entweder durch den Angeklagten selbst oder durch seinen Verteidiger ausgeübt werden kann.1842 Im Fall DANKOVSKY v. GERMANY führt der Gerichtshof insoweit an: „… The Court considers that generally a defendant, for the purposes of Article 6 § 3 (d), must be identified with the counsel who acted on his behalf, and cannot, therefore, attribute to the respondent State any liability for his counsel’s decisions in the exercise of defence rights … Likewise, in order to determine whether the rights secured by Article 6 § 3 were respected, it is not sufficient to consider the situation in which the accused himself is placed: consideration must also be given to the situation in which the defence as a whole is placed …“1843
638
Konkretisierend ist dem hinzuzufügen, dass es bei dieser den Angeklagten und seinen Verteidiger zu «der Verteidigung» als einer Einheit zusammenführenden Betrachtung den dem Art. 6 EMRK und insbesondere den in Art. 6 III EMRK geregelten Verteidigungsrechten zugrundeliegenden Ausgangspunkt zu beachten gilt, dass es um Menschenrechte gerade des Angeklagten geht,1844 deren Schutz in Art. 6 EMRK normiert ist. Der Angeklagte – und nicht der Verteidiger – steht im Zentrum des Menschenrechtsschutzes des Art. 6 EMRK und es ist damit auch der Angeklagte, der das Zentrum, den Fokus dieser «die Verteidigung» bildenden Einheit von Angeklagtem und Verteidiger ausmacht. Dies bedeutet, dass der Angeklagte und sein Verteidiger für dieses dem EGMR genügende «Entweder-Oder» betreff der Ausübung des Konfrontationsrechts nicht schlicht beliebig ersetzbar nebeneinander ste-
639
1842
1843
1844
Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR, S. 405 f. N 221; WOHLERS, ZStrR 2005, S. 164; WANNEK, S. 92 f.; PEUKERT, in: FROWEIN/PEUKERT, Art. 6 N 201; WARNKING, S. 325 f. Siehe aus der Rechtsprechung etwa EGMR, DOORSON v. THE NETHERLANDS, 26.03.1996, Reports 1996-II, § 74: „… While it would clearly have been preferable for the applicant to have attended the questioning of the witnesses, the Court considers, on balance, that the Amsterdam Court of Appeal was entitled to consider that the interests of the applicant were in this respect outweighed by the need to ensure the safety of the witnesses. More generally, the Convention does not preclude identification – for the purposes of Article 6 para. 3 (d) (art. 6-3-d) – of an accused with his counsel …“ (Hervorhebung Demko); EGMR, KAMASINSKI v. AUSTRIA, 19.12.1998, A168, § 91: „… For the purposes of Article 6 § 3 (d) (art. 6-3-d) Mr Kamasinski must be identified with the counsel who acted on his behalf …“ (Hervorhebung Demko); EGMR, ISGRÒ v. ITALY, 19.02.1991, A194-A, § 36; EGMR, N.F.B. v. GERMANY, 18.10.2001, Reports 2001-XI, S. 7 f.; EGMR, DANKOVSKY v. GERMANY, 29.06.2000, Application Nr. 36689/97, S. 6. EGMR, DANKOVSKY v. GERMANY, 29.06.2000, Application No. 36689/97, S. 6, Hervorhebung Demko. Dies betont auch GAEDE, S. 495 f., 519 f.: „allein Rechte des Angeklagten“ (S. 495), „das Menschenrecht des Angeklagten (ist) der grundlegende und qualitative Vorgaben aufweisende Maβstab“ (S. 519); vgl. zudem ESSER, S. 468.
411
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
hen.1845 Vielmehr ist stets zu fragen, ob gerade dem Angeklagten eine auch materiell wirksame Verteidigung, eine materiell wirksame antithetische Teilnahme im Straf- und Beweisverfahren im Zusammenhang mit dem Belastungszeugenbeweis gewährleistet worden ist, sei es, indem er selbst und/oder sein Verteidiger die zu dem Konfrontationsrecht gehörenden Ausübungsrechte hat wahrnehmen können. 640
Die für das (Innen-)Verhältnis zwischen Angeklagtem und seinem Verteidiger zu beachtende Fokussetzung auf die Person des Angeklagten, um dessen Menschenrechtsschutz es in Art. 6 EMRK geht, und die damit zu verbindende Frage, ob gerade dem Angeklagten ein materiell wirksames Konfrontationsrecht gewährleistet wurde, ermöglichen es, dieses Innenverhältnis funktional näher zu bestimmen und hierbei den Verteidiger in dessen Funktion als „Prozesssubjektsgehilfe“1846 des Angeklagten zu erkennen. Kann es dem Angeklagten u.U. eher oder gar allein möglich sein, Fragen tatsächlicher Natur in die Zeugenbefragung einzubringen,1847 so ist das Einbringen der für das Strafverfahren wichtigen rechtlichen Erkenntnismomente (sowohl derjenigen, die das materielle Strafrecht betreffen, als auch der verfahrensbezogenen) hingegen eher oder allein dem Verteidiger möglich:1848 Gerade diese hier sichtbare schützende1849 Tätigkeit des Verteidigers kann dem Angeklagten ein tatsächlich wirksam gewährtes Konfrontationsrecht überhaupt erst ermöglicht.1850 Ist es umgekehrt allein dem Angeklagten – und nicht dem Verteidiger – möglich, ein bestimmtes Sachwissen mittels Fragen tatsächlicher Art (etwa zum Tatort und Tatgeschehen) in die Zeugenbefragung einzubringen und/oder hierbei etwaige Auffälligkeiten und Ungereimtheiten in der Zeugenaussage zu erkennen,1851 so kann sich eine Zeugenbefragung allein durch den Verteidiger als u.U. nicht ausreichend für ein wirksam gewährtes Konfrontationsrecht erweisen.
641
Geht es um das Erfordernis eines dem Angeklagten materiell wirksam gewährten Konfrontationsrechts, welches als massgebende Frage auch an die «Einheit» von Angeklagtem und Verteidiger anzulegen ist, so kann dies abhängig von den konkreten Umständen des Einzelfalles sowohl bedeuten, dass eine wirksame Gewähr des Konfrontationsrechts danach verlangt, dass dieses 1845
1846 1847 1848 1849
1850
1851
412
Zum Verhältnis zwischen Angeklagtem und Verteidiger siehe mit weiteren Nachweisen GAEDE, S. 502 ff. GAEDE, S. 504 (Hervorhebung Demko), siehe dazu näher S. 502 ff. Siehe dazu auch TRECHSEL, AJP 2000, S. 1370. Siehe dazu auch TRECHSEL, AJP 2000, S. 1370 f. Deutlich und näher dazu auch GAEDE, S. 502 ff.: „Schutzinstrument für konkret und wirksam verstandene Verteidigungsrechte des Angeklagten“ (S. 503). Ebenso GAEDE, S. 503: „Der Verteidiger stellt überhaupt erst sicher, dass die Rechte des Art 6 EMRK für den Beschuldigten mehr sind als nur abstrakte Garantien …“ Dazu auch TRECHSEL, AJP 2000, S. 1370.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
vom Angeklagten und seinem Verteidiger ausgeübt werden kann,1852 als auch, dass die Ausübung durch den Verteidiger oder den Angeklagten genügt. Gerade das aufgezeigte, bei der Wahrheitsermittlung im strafprozessualen Beweisverfahren im Allgemeinen und bei Zeugenbefragungen im Besonderen notwendig zu beachtende Zusammenspiel von das Sachwissen betreffenden tatsächlichen Erkenntnismomenten einerseits – welche u.U. allein vom Angeklagten erkennbar sind – und von rechtlichen, aber auch (fach)sprachlichen Erkenntnismomenten andererseits – welche von einem Verteidiger aufgrund seiner rechtlichen Kenntnisse und seines geschulteren Umgangs mit der Rechts- und Gerichtssprache u.U. kompetenter ausgeübt werden können – zeigt mit Blick auf die Bedeutung dieser wichtigen «Einheit von Angeklagtem und Verteidiger» an, dass für eine bestmögliche Gewährleistung des Konfrontationsrechts hinsichtlich seines aktiven persönlichen Schutzbereichs von einer im Grundsatz zu gewährleistenden Ausübungsmöglichkeit des Konfrontationsrechts durch den Angeklagten und den Verteidiger ausgegangen werden sollte.1853 b)
Der passive persönliche Schutzbereich des Konfrontationsrechts: Der Begriff des «Belastungszeugen» im Sinne des Art. 6 III d EMRK
aa)
Die autonome und zweckorientierte Auslegung des Begriffs des Belastungszeugen
Betreff des Begriffs des Belastungszeugen des Art. 6 III d EMRK legt der EGMR von Anfang an eine autonome und zweckorientierte Auslegungsmethode an,1854 wenn sich auch eine ausdrückliche nähere Auseinandersetzung mit der autonomen Interpretation des Zeugenbegriffs erst seit dem Fall KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS,1855 seither aber als ständige Rechtsprechung des EGMR, in seinen Entscheidungen wiederfindet.
1852
1853
1854 1855
Siehe dazu TRECHSEL, AJP 2000, S. 1370 f., wo es bezüglich der aufgeworfenen Frage, ob das Fragerecht nur vom Angeschuldigten, nur vom Verteidiger oder von beiden ausgeübt werden kann, heisst: „Völlig befriedigend ist nur die letzte dieser Varianten“ (S. 1370) und wo auf den Grundsatz verwiesen wird, „das Fragerecht sollte vom (bzw. in Anwesenheit des ) Angeklagten und seinem Verteidiger ausgeübt werden können“ (S. 1371). Dies wird auch von Trechsel betont, wonach von der Variante der Ausübung des Konfrontationsrechts durch den Angeklagten und Verteidiger als „Normalfall“ (S. 1371) und „Grundsatz“ (S. 1371) ausgegangen werden sollte, siehe näher TRECHSEL, AJP 2000, S. 1371. Siehe etwa bereits EGMR, BÖNISCH v. AUSTRIA, 06.05.1985, A 92, §§ 31 f. Siehe EGMR, KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 20.11.1989, A 166, § 40: „… in view of the autonomous interpretation to be given to this term … both authors
413
642
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen 643
Auch ohne eine ausdrückliche Herausstellung des autonom zu interpretierenden Zeugenbegriffs des Art. 6 III d EMRK kommt jene Auslegungsmethode von der Sache her bereits in den Fällen BÖNISCH v. AUSTRIA und UNTERPERTINGER v. AUSTRIA zur Anwendung:
644
Im Fall BÖNISCH v. AUSTRIA ging es um die Frage, ob der Zeugenbegriff des Art. 6 III d EMRK auch die vom betreffenden Vertragsstaat als Sachverständige eingesetzten Personen umfasst. Vom Ergebnis her liess der EGMR die Frage nach der direkten Geltung des Art. 6 III d EMRK für den Sachverständigenbeweis offen und zog die besonderen Garantien des Art. 6 III EMRK, insbesondere des Art. 6 III d EMRK, auf analoge Weise im Rahmen der Prüfung des Art. 6 I EMRK heran. Er führte aus, dass sich wörtlich genommen Art. 6 III d EMRK nicht auf Sachverständige beziehe,1856 und es zudem dem EGMR nicht zufalle, von einer innerstaatlichen Definition des Sachverständigen abzuweichen.1857 Ist der EGMR damit zwar nicht für die rein innerstaatlichen Begriffsdefinitionen und ihre Bedeutung im nationalen Regelungsbereich zuständig, so hat der EGMR jedoch zugleich hervorgehoben, dass für die Beurteilung der Rolle, die ein Sachverständiger in einem Strafverfahren spielt, nicht allein die im nationalen Recht verwendete Terminologie ausschlaggebend sei, sondern dass vielmehr die prozessuale Stellung („the procedural position he occupied …“), die der Sachverständige einnehme, sowie die Art und Weise, in der er seine Funktion erfülle („… the manner in which he performed his function“1858), heranzuziehen seien. Unter Betrachtung der konkreten Verfahrensverhältnisse rückte im Fall BÖNISCH v. AUSTRIA nach Ansicht des EGMR der nach österreicherischem Recht zum Sachverständigen bestellte Direktor der Bundesanstalt für Lebensmitteluntersuchung dem Anschein nach in die Nähe eines Belastungszeugen, weil es seine Anzeige und das von ihm verfasste Anzeigegutachten waren, welche zur Einleitung des Strafverfahrens geführt hatten. Hinzu kamen weitere Umstände – wie etwa das festgestellte Ungleichgewicht zwischen dem Direktor als gerichtlichem Sachverständigen einerseits und dem sachverständigen Zeugen der Verteidigung andererseits in Bezug auf ihre unterschiedlichen Stellungen und Einflussnahmemöglichkeiten im Verfahren –, die die entscheidende Rolle des gerichtlichen Sachverständigen verdeutlichten und einen Eindruck von ihm erweckten, der dem eines Zeugen der Anklage geglichen
1856
1857
1858
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should be so regarded for the purposes of Article 6 § 3 (d) … of the Convention …“ (Hervorhebung Demko). EGMR, BÖNISCH v. AUSTRIA, 06.05.1985, A 92, § 29: „Read literally, subparagraph (d) of paragraph 3 (art. 6-3-d) relates to witnesses and not experts ...“ EGMR, BÖNISCH v. AUSTRIA, 06.05.1985, A 92, § 31: „As far as domestic law is concerned, it is not for the Court to depart from the definition which the Government have furnished of the notion of "expert" ...“ EGMR, BÖNISCH v. AUSTRIA, 06.05.1985, A 92, § 31 (Hervorhebung Demko).
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
habe. In diesem Zusammenhang hob der Gerichtshof insbesondere den Neutralitätsgesichtspunkt („neutrality“1859) als ein den Sachverständigen vom Zeugen trennendes Merkmal hervor: „… It is easily understandable that doubts should arise, especially in the mind of an accused, as to the neutrality of an expert when it was his report that in fact prompted the bringing of a prosecution. In the present case, appearances suggested that the Director was more like a witness against the accused ...“1860
645
Dieser im Fall BÖNISCH v. AUSTRIA vom EGMR angesprochene Gesichtspunkt der Neutralität findet sich in späteren Entscheidungen des EGMR ebenfalls wieder und verweist auf einen der Grundaspekte, nämlich auf den Aspekt der Belastung des Angeklagten durch die Aussage eines anderen Menschen, die für den konventionsrechtlichen Begriff des Belastungszeugen von Wichtigkeit sind.1861
646
Auch im Fall UNTERPERTINGER v. AUSTRIA machte der EGMR keine weitergehenden ausdrücklichen Ausführungen zur Definition des Zeugenbegriffs des Art. 6 III d EMRK. Dennoch legte er seiner Entscheidung (auch hier) die autonome Interpretationsmethode zugrunde, indem er den Beschwerdeführer jedenfalls auf der Grundlage von Zeugenaussagen verurteilt sah („but Mr. Unterpertinger was nevertheless convicted on the basis of "testimony" in respect of which his defence rights were appreciably restricted“1862), die zwei Angehörige des Beschwerdeführers vor der Gendarmerie – und zwar seine Ehefrau und seine Stieftochter – machten.1863 Obwohl die Angehörigen des Angeklagten nach anwendbarem österreichischen Recht ihre Aussagen vor der Gendarmerie gerade nicht als Zeugen im formellen Sinne tätigten und ihre Aussagen im Rahmen der nachfolgenden Verlesung und Verwertung in der Hauptverhandlung nicht einem Zeugenbeweis, sondern
647
1859 1860 1861 1862
1863
EGMR, BÖNISCH v. AUSTRIA, 06.05.1985, A 92, § 32 (Hervorhebung Demko). EGMR, BÖNISCH v. AUSTRIA, 06.05.1985, A 92, § 32 (Hervorhebung Demko). Siehe dazu sogleich näher unter Kap. 5 B. I. 1. b) bb). EGMR, UNTERPERTINGER v. AUSTRIA, 24.11. 1986, A110, § 33 (Hervorhebung Demko). Zwar wurde die Ehefrau auch noch vom Untersuchungsrichter tatsächlich als Zeugin vernommen und beide Angehörige als Zeugen vor Gericht geladen. Da sich beide jedoch in der Hauptverhandlung auf ihr Aussageverweigerungsrecht nach § 152 öStPO beriefen, konnte sie das Gericht weder vernehmen noch die Zeugenaussage der Ehefrau vor dem Untersuchungsrichter verlesen, § 252 Abs. 1 öStPO. Hingegen mussten auf Antrag der Staatsanwaltschaft die Aussagen, die beide Angehörige vor der Gendarmerie gemacht hatten, verlesen werden, da diese nach der österreichischen Gerichtspraxis als Schriftstücke i.S.des § 252 Abs. 2 öStPO galten, welche zu verlesen sind, wenn nicht beide Parteien darauf verzichten.
415
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
eher einer Art Urkundenbeweis glichen,1864 sprach der EGMR – wie auch schon zuvor die EKMR1865 – ohne nähere Problematisierung schlicht von einer Verurteilung des Angeklagten aufgrund von Zeugenaussagen („Mr. Unterpertinger was nevertheless convicted on the basis of "testimony" …“1866). Dies macht, auch wenn ausdrückliche Ausführungen des Gerichtshofs dazu in UNTERPERTINGER v. AUSTRIA noch fehlen, in der Sache bereits deutlich, dass der EGMR sowohl das formale Kriterium der Zugehörigkeit einer Person zum technischen Zeugenbegriff des innerstaatlichen Rechts als auch die Art und Weise, in der das nationale Gericht auf die Aussagen jener Personen Rückgriff nimmt, als nicht massgebend für den Zeugenbegriff des Art. 6 III d EMRK erachtet. 648
Ausdrückliche und klarere Worte fand insofern die Kommission im Fall UNTERPERTINGER v. AUSTRIA, wonach der Zeugenbegriff in Art. 6 III d EMRK (wie andere Konventionsbegriffe auch) einer autonomen Auslegung unterstehe, welche unter Umständen weiter sein könne als ein innerstaatliches Begriffsverständnis des Zeugen im technischen Sinne.1867 Weder sei entscheidend gewesen, dass die Angehörigen des Angeklagten ihre Aussagen vor der Gendarmerie nicht als Zeugen im formellen Sinne gemacht haben, noch, dass ihre Aussagen in einer Art Urkundenbeweis in das Gerichtsverfahren eingeflossen sind. Vielmehr könne in der Sache nicht in Abrede gestellt werden, dass diese Personen Aussagen gegen den Beschwerdeführer getätigt haben und dass diese Aussagen vom Gericht als eine Grundlage für die Verurteilung des Beschwerdeführers benutzt wurden, so dass diese gegen den Angeklagten aussagenden Personen als Zeugen („were in fact "witnesses" in
1864
1865
1866
1867
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Siehe EKMR, UNTERPERTINGER v. AUSTRIA, 11.10.1984, Series B, No. 93, § 71: „… Therefore it cannot be decisive in the present case that according to the applicable Austrian law the applicant's relatives did not act as witnesses in the formal sense when they made their statements before the police, and that these statements were not recognised as evidence given by witnesses, but rather as somekind of documentary evidence, when they were subsequently used in court …“ (Hervorhebung Demko). Siehe EKMR, UNTERPERTINGER v. AUSTRIA, 11.10.1984, Series B, No. 93, §§ 71, 72, 73. EGMR, UNTERPERTINGER v. AUSTRIA, 24.11. 1986, A110, § 33 (Hervorhebung Demko). Siehe EKMR, UNTERPERTINGER v. AUSTRIA, 11.10.1984, Series B, No. 93, § 70: „… the Commission recalls its opinion expressed in the Bönisch case … according to which as other terms of the Convention the term "witnesses" (témoins) in Art. 6 (3) (d) must be understood as having an autonomous meaning which may be wider than that of "witnesses" in the technical sense as understood in the domestic legal system …“ (Hervorhebung Demko).
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
the sense of Art . 6 (3) (d) of the Convention“1868), und zwar als Belastungszeugen im Sinne des Art. 6 III d EMRK („they must be considered as "witnesses against" the applicant“1869), anzusehen seien: „… In substance, it cannot be denied that these persons made depositions against the applicant, and that these depositions were used in court as a basis for the applicant's conviction. The Commission further observes that at least one of these persons, namely the applicant's wife, was in fact examined as a "witness" by the investigating judge ("Zeugenvernehmung"), and that both were summoned to appear as "witnesses" in court … In these circumstances, the Commission considers that these two persons were in fact "witnesses" in the sense of Art . 6 (3) (d) of the Convention … In view of the fact that the statements of these persons, which contained clear allegations against the applicant, were submitted and relied on by the prosecution, they must be considered as "witnesses against" the applicant …“1870
bb)
649
Zwei Grundaspekte des Begriffs des Belastungszeugen
Damit sprach die Kommission bereits früh für den Zeugenbegriff des Art. 6 III d EMRK massgebende Kriterien an, die in ähnlicher Weise auch vom EGMR selbst seit dem Fall KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS in ständiger Rechtsprechung als wesentlich für die autonome und zweckorientierte Definition des Zeugenbegriffs des Art. 6 III d EMRK hervorgehoben sind. Zwar fehlt es bisher an einer klaren, alle Aspekte des Begriffs des Belastungszeugen eindeutig zusammenführenden Definition durch den EGMR. Jedoch sind in ständiger Rechtsprechung des EGMR gefestigte Grundzüge des konventionsrechtlichen Zeugenbegriffs herausgearbeitet, von denen einige bereits sehr deutlich erkennen lassen, was dem Gerichtshof wichtig oder auch weniger wichtig ist, wohingegen andere noch nach einer Konkretisierung seitens der Gerichtshofs verlangen.
650
Es sind zwei Grundaspekte, die für den Begriff des Belastungszeugen im Sinne des Art. 6 III d EMRK kumulativ zusammenkommen müssen und welche sich – wenn auch einmal mehr, einmal weniger deutlich – sowohl in Ausführungen der EKMR1871 als auch in der Rechtsprechung des EGMR seit KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS zu erkennen ergeben: Zum Ersten ist ein – und zwar ein objektiv und materiell zu bestimmendes – Gegebensein
651
1868
1869
1870
1871
EKMR, UNTERPERTINGER v. AUSTRIA, 11.10.1984, Series B, No. 93, § 72 (Hervorhebung Demko). EKMR, UNTERPERTINGER v. AUSTRIA, 11.10.1984, Series B, No. 93, § 73 (Hervorhebung Demko). EKMR, UNTERPERTINGER v. AUSTRIA, 11.10.1984, Series B, No. 93, §§ 71, 72, 73 (Hervorhebung Demko). Siehe nur EKMR, UNTERPERTINGER v. AUSTRIA, 11.10.1984, Series B, No. 93, §§ 71, 72, 73.
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
einer Belastung des Angeklagten in Form einer Aussage eines anderen Menschen erforderlich.1872 Hinzuzukommen hat als zweites kumulatives Erfordernis das Einführen dieser belastenden Aussage in das Strafverfahren, d.h. das Erfordernis, dass diese belastende Aussage dem Gericht für seine Entscheidungsfindung tatsächlich vorliegt. Dabei kann es aber – entgegen der insoweit noch zu konkretisierenden, scheinbar engeren Ansicht des EGMR1873 – nicht auf eine tatsächliche Verwertung dieser belastenden Aussage durch das Gericht ankommen.1874 Vielmehr ist erforderlich, aber auch ausreichend, dass diese den Angeklagten belastende Aussage dem Gericht im Rahmen seiner Entscheidungsfindung tatsächlich vorgelegen hat, denn bereits schon mit diesem Vorliegen der belastenden Aussage vor dem Gericht ist ihre potentielle Verwertbarkeit seitens des Gerichts verbunden.1875 Grabenwarter führt dazu zutreffend aus:
1872
1873 1874
1875
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Siehe schon EKMR, UNTERPERTINGER v. AUSTRIA, 11.10.1984, Series B, No. 93, §§ 71, 73: „… In substance, it cannot be denied that these persons made depositions against the applicant … In view of the fact that the statements of these persons, which contained clear allegations against the applicant, were submitted and relied on by the prosecution, they must be considered as "witnesses against" the applicant …“ (Hervorhebung Demko). Siehe dazu näher unter Kap. 5 B. I. 1. b) bb). Dies wird auch von Stimmen im Schrifttum zu recht betont, siehe deutlich ESSER, S. 630, wonach es für die Zeugeneigenschaft einer Person „lediglich darauf an(kommt), dass ihre (vor- oder auβerprozessuale) Aussage dem Gericht vorliegt, sei es in Schriftform, mittels Verlesung oder durch die Einvernahme einer Vernehmungsperson … Ob das Gericht die Aussage oder Angaben einer Person verwertet, kann für den Zeugenstatus eigentlich keine Rolle spielen. Der EGMR sollte daher nicht länger auf die Verwertung solcher Angaben abstellen …“; ebenso deutlich GOLLWITZEr, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR, S. 407 N 224 und FN 1167, wonach für den Begriff des Belastungszeugen das Einführen einer Aussage für die Entscheidungsfindung in die Hauptverhandlung (N 224), das Vorliegen einer den Angeklagten belastenden Aussage (FN 1167) massgebend sei, nicht hingegen, „ob sie im Endergebnis für die Urteilsfindung verwendet“ (N 224, ebenso betont in FN 1167) wird; siehe zudem deutlich GRABENWARTER, S. 386 N 113; scheinbar enger sah dies die EKMR im Fall UNTERPERTINGER v. AUSTRIA und scheint dies der EGMR zu sehen, siehe zu dessen Spruchpraxis sogleich im Haupttext unter Kap. 5 B. I. 1. b) bb); in EKMR, UNTERPERTINGER v. AUSTRIA, 11.10.1984, Series B, No. 93, § 71 hiess es: „… In substance, it cannot be denied that these persons made depositions against the applicant, and that these depositions were used in court as a basis for the applicant's conviction …“ (Hervorhebung Demko). Siehe dazu auch GOLLWITZER, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR, S. 407 N 224 und FN 1167: „ob eine in irgend einer Hinsicht in die Hauptverhandlung eingeführte und potentiell auch gegen den Angeklagten verwertbare also ihn möglicherweise belastende Aussage vorliegt …“ (Hervorhebung Demko); siehe zudem GRABENWARTER,
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen „… Ob ein Zeugenbeweis tatsächlich verwertet wird, kann … erst ex post beurteilt werden und daher kein verlässliches Kriterium für die verfahrensleitende Instanz abgeben. Es kommt ex ante bei der Frage nach der Einräumung eines Fragerechts auf die Verwertbarkeit der Zeugenaussage im Beweisverfahren an …“1876
(1)
Der erste Grundaspekt des objektiven Gegebenseins einer den Angeklagten belastenden Aussage eines anderen Menschen
Das erste Kriterium des objektiven Gegebenseins einer den Angeklagten belastenden Aussage – im weiten Sinne verstanden – eines anderen Menschen1877 deutete der EGMR bereits im Fall BÖNISCH v. AUSTRIA mit seinem hier betonten Gesichtspunkt der Neutralität („neutrality“1878) als einem einen Sachverständigen von einem Zeugen trennenden Merkmal an. Dieses Kriterium der Abgrenzung zwischen einem neutralen und einem nicht neutralen, sondern einem den Angeklagten belastenden Handeln eines Menschen fand sich klarer ausgesprochen auch in den Fällen ALDRIAN v. AUSTRIA und BRANDSTETTER v. AUSTRIA wieder. Sichtbar gemacht ist hier, dass nicht jeder Sachverständigenbeweis automatisch wie eine Zeugenaussage zu behandeln ist,1879 sondern dass eine Abgrenzung des Zeugen vom Sachverständigen unter Zugrundelegung der konkret im Verfahren gespielten Rolle und anhand der Kriterien der Neutralität und Objektivität zu erfolgen hat. Die Kommission betonte im Fall ALDRIAN v. AUSTRIA unter Bezugnahme auf den Fall BÖNISCH v. AUSTRIA, dass Art. 6 III d EMRK die besonderen Verfahrensgarantien enthalte, welche bei allen Arten des mündlichen Beweises („in respect of all types of oral evidence“1880) zur Sicherstellung des Grundsatzes der Waffengleichheit angemessen sind. Zudem wurde betont, dass trotz der besonderen beruflichen Qualifikation und der Pflicht von Sachverständigen zu einer objektiven Betrachtungsweise die Aussagen
1876
1877
1878 1879
1880
652
S. 386 N 113, wonach nicht die tatsächliche Verwertung, sondern die Verwertbarkeit massgebend sei. GRABENWARTER, S. 386 N 113 (Hervorhebung Grabenwarter: «ex post» und «ex ante»; übrige Hervorhebung: Demko). Ähnlich auch bereits DONATSCH, in: Donatsch/Schmid, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, Vorbem. §§ 128 ff. N 2: „alle Personen, deren Aussagen bzw. Angaben geeignet sind, den Angesch. zu belasten“. EGMR, BÖNISCH v. AUSTRIA, 06.05.1985, A 92, § 32 (Hervorhebung Demko). Siehe EKMR, ALDRIAN v. AUSTRIA, 15.12.1987, D.R. 54, unter «THE LAW»: „… Article 6 para. 3 (d) … refers only to witnesses and that expert evidence, in particular a written expert opinion submitted by a collective body such as a medical faculty, cannot automatically be assimilated to witnesses' evidence …“ (Hervorhebung Demko). EKMR, ALDRIAN v. AUSTRIA, 15.12.1987, D.R. 54, unter «THE LAW», Hervorhebung Demko.
419
653
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
von Sachverständigen ebenso wie auch diejenigen von Zeugen einer Kontrolle durch Fragen und einer Gegenüberstellung mit entgegenstehenden Beweisen („requires to be checked by questions and to be confronted, where contested, with other conflicting evidence“1881) bedürfen: 654
„… With regard to the facts of the present case, the Commission maintains and confirms its view that the term 'witness' in Article 6 para. 3 (d) (Art. 6-3-d) of the Convention must be understood as relating also to experts ('expert witnesses'). By giving the defence a right to put questions and to present its evidence under the same conditions as the prosecution this provision indeed specifies the particular procedural means which are appropriate in respect of all types of oral evidence in order to secure the effective implementation of the principle of equality of arms. Despite their special professional qualifications and their duty to adopt an objective approach, the evidence of experts, as that of witnesses, requires to be checked by questions and to be confronted, where contested, with other conflicting evidence. It is only in this way that there is a chance for the defence to present its case in a fair way and to ensure that all relevant aspects of the case will thus emerge …“1882
655
Der EGMR öffnete sich im Fall BRANDSTETTER v. AUSTRIA einer direkten Anwendung des Art. 6 III d EMRK auf Sachverständige, indem er im Unterschied zu BÖNISCH v. AUSTRIA nicht mehr nur eine Verletzung des Art. 6 I EMRK, sondern eine Verletzung des Art. 6 I in Verbindung mit Art. 6 III d EMRK prüfte.1883 Für die Frage einer Anwendung des Art. 6 III d EMRK sei es nötig, die Stellung des Sachverständigen während des gesamten Verfahrens und auch die Art und Weise, wie er seine Aufgabe erfüllte, zu berücksichtigen,1884 um anhand dessen zu erkennen, ob sich etwaige dem äusseren Anschein nach gegebene Bedenken und Zweifel, insbesondere des beschwerdeführenden Angeklagten, an der Neutralität und Objektivität des Sachverständigen („neutrality and objectivity“1885) auch als objektiv begründet („objectively justified“1886) erweisen: 1881
1882
1883
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1886
420
EKMR, ALDRIAN v. AUSTRIA, 15.12.1987, D.R. 54, unter «THE LAW», Hervorhebung Demko. EKMR, ALDRIAN v. AUSTRIA, 15.12.1987, D.R. 54, unter «THE LAW», Hervorhebung Demko. Siehe EGMR, BRANDSTETTER v. AUSTRIA, 28.08.1991, A 211, § 63: „… here also, there has been no violation of Article 6 para. 1 … taken in conjunction with Article 6 para. 3 (d) …“; siehe im Unterschied dazu in EGMR, BÖNISCH v. AUSTRIA, 06.05.1985, A 92, § 35: „there has been a breach of Article 6 para. 1 (art. 6-1). This conclusion dispenses the Court from giving a separate ruling on the alleged violation of paragraph 3 (d) of Article 6 (art. 6-3-d) ...“ Siehe EGMR, BRANDSTETTER v. AUSTRIA, 28.08.1991, A 211, § 59. EGMR, BRANDSTETTER v. AUSTRIA, 28.08.1991, A 211, § 61, siehe auch § 44: „proper neutrality“, Hervorhebung Demko. EGMR, BRANDSTETTER v. AUSTRIA, 28.08.1991, A 211, § 44, Hervorhebung Demko.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen „… What is decisive is whether the doubts raised by appearances can be held objectively justified ... Such an objective justification is lacking here …“1887
656
Prüft der EGMR damit das neutrale und objektive Auftreten des Sachverständigen zwar anhand der äusseren Umstände des konkreten Verfahrens, so lässt er dennoch nur gewisse (subjektive) Befürchtungen und Bedenken des Angeklagten an der neutralen Stellung des Sachverständigen allein nicht ausreichen: Zwar seien diese nicht ganz ohne Bedeutung, aber es komme auf diese nicht entscheidend an.1888 Vielmehr ist – wie angeführt – eine objektive Begründetheit („objectively justified“1889), sind mithin objektiv berechtigte Zweifel an der neutralen Sachverständigentätigkeit für die Eröffnung des Anwendungsbereichs des Art. 6 III d EMRK erforderlich.
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In den Fällen BÖNISCH v. AUSTRIA und BRANDSTETTER v. AUSTRIA hielt der EGMR eben solche objektiv gerechtfertigte Bedenken hinsichtlich der Neutralität in Bezug auf einen solchen Sachverständigen für gegeben, der in eigener Person den gegen den Beschwerdeführer bestehenden Tatverdacht begründet hatte und dessen persönliche Tätigkeit – sei es die Anzeige und das Anzeigegutachten in BÖNISCH v. AUSTRIA oder der informatorische Ergebnisbericht in BRANDSTETTER v. AUSTRIA – die Einleitung der Strafverfolgung und mit dieser eine Belastung gegen den Angeklagten veranlasste.1890 Hingegen lehnte der EGMR im Fall BRANDSTETTER v. AUSTRIA zugleich objektiv begründete Zweifel an der Neutralität eines solchen Sachverständigen ab, der zwar zu einer Behörde/Einrichtung gehörte, auf deren Bericht bzw. Anzeige hin die Strafverfolgung eingeleitet wurde, von dem aber persönlich jene tatverdachtsbegründende Anzeige nicht stammte. Die Umstände, und zwar sowohl der Umstand, dass ein Sachverständiger für die-
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EGMR, BRANDSTETTER v. AUSTRIA, 28.08.1991, A 211, § 44, Hervorhebung Demko, siehe dazu auch §§ 60, 61. Siehe EGMR, BRANDSTETTER v. AUSTRIA, 28.08.1991, A 211, § 44: „… Admittedly, the fact that Mr Bandion was a member of the staff of the Agricultural Institute which had set in motion the prosecution may have given rise to apprehensions on the part of Mr Brandstetter. Such apprehensions may have a certain importance, but are not decisive …“, Hervorhebung Demko. EGMR, BRANDSTETTER v. AUSTRIA, 28.08.1991, A 211, § 44, Hervorhebung Demko. Siehe EGMR, BÖNISCH v. AUSTRIA, 06.05.1985, A 92, § 32: „… It is easily understandable that doubts should arise, especially in the mind of an accused, as to the neutrality of an expert when it was his report that in fact prompted the bringing of a prosecution. In the present case, appearances suggested that the Director was more like a witness against the accused ...“; EGMR, BRANDSTETTER v. AUSTRIA, 28.08.1991, A 211, §§ 60, 61: „… In these circumstances the applicant’s apprehensions with regard to the neutrality and objectivity of the expert in question can be held to have been justified …“ (§ 61, Hervorhebung Demko).
421
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
selbe Behörde arbeitet wie der Kollege, dessen Gutachten die Grundlage für die Anklage bildete,1891 als auch der Umstand, dass ein Sachverständiger bis zu einem gewissen Grad seine ihm zugewiesene Funktion überschreitet, indem er in seinem Gutachten auf Fragen der Beweiswürdigung eingeht,1892 führen nicht zu objektiv berechtigten Zweifeln an der Neutralität des Sachverständigen und lassen damit nicht die Schlussfolgerung zu, dass der Sachverständige vor Gericht die Stellung eines Belastungszeugen einnimmt.1893 659
Das vom EGMR betonte Kriterium der Neutralität und das hinzugefügte Erfordernis, dass es objektiv begründete Zweifel an dieser Neutralität geben muss, um ein von einem anderen Menschen getätigtes Belastungsmoment für den Angeklagten annehmen zu können, lassen – auch wenn dies der EGMR bisher nicht ausdrücklich formuliert und entschieden hat – ebenso erkennen bzw. zumindest die Schlussfolgerung zu, dass es für die Annahme einer Person als eines Belastungszeugen nicht auf das Vorliegen von (noch dazu von bestimmten) belastenden subjektiven Motiven, Intentionen und anderen inneren Beweggründen diese Person ankommen kann. Als massgebend erweist sich vielmehr, ob objektiv ein den Angeklagten belastendes (sprachliches) Handeln einer anderen Person gegeben ist. Das Ausreichenlassen und die Massgeblichkeit eines solchen objektiven Massstabes für den Begriff des Belastungszeugen ermöglichen es, den Begriff des Belastungszeugen zum Schutz des Angeklagten und seiner menschenrechtswahrenden Verteidigung im Strafverfahren weit zu verstehen und so auch den Anwendungsbereich des Konfrontationsrechts weit zu fassen: Mit einem solchen als entscheidend anzusehenden objektiven Massstab wird einer Einengung des Begriffs des Belastungszeugen – und damit einer Einengung des Schutzes des Angeklagten durch sein Konfrontationsrecht – entgegengetreten, welche sich bei einem zusätzlich für erforderlich gehaltenen Abstellen auf den Angeklagten belastende subjektive Motive, Intentionen und Beweggründe der anderen Person ergeben würde.1894 1891
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Siehe dazu näher EGMR, BRANDSTETTER v. AUSTRIA, 28.08.1991, A 211, §§ 44, 45. Siehe dazu näher EGMR, BRANDSTETTER v. AUSTRIA, 28.08.1991, A 211, §§ 44, 45. Siehe dazu näher EGMR, BRANDSTETTER v. AUSTRIA, 28.08.1991, A 211, §§ 44, 45. Siehe zudem die Auseinandersetzung von WANNEK, S. 94 f. und S. 94 FN 9 zur im Schrifttum unterschiedlich beantworteten Frage, ob für den Zeugenbegriff eine Beschränkung auf Personen zu verlangen sei, welche „für die Zwecke des Strafverfahrens durch die Strafverfolgungsbehörden vernommen wurden“ (S. 94). Während Wannek ein solche Beschränkung zu recht ablehnt und anführt, dass es nicht auf den „formalen Grund“ (S. 95) ankommen könne, ob die betreffende Person „bereits im Rahmen des Verfahrens befragt wurde“ (S. 95), gehen andere Stimmen im Schrifttum
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
(2)
Der zweite Grundaspekt des tatsächlichen Vorliegens der belastenden Aussage vor Gericht
Hinsichtlich des zweiten Grundaspekts für den Begriff des Belastungszeugen heisst es in der Entscheidung KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS und in ähnlichen Formulierungen in nachfolgenden Entscheidungen des EGMR, dass für die Zeugendefinition beachtlich sei, dass die Aussagen der Personen tatsächlich dem Gericht vorlagen und von diesem in seine Erwägungen einbezogen wurden („since the statements of both of them, whether read out at the trial or not, were in fact before the court and were taken into account by it“1895). Obwohl es im Fall KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS wie auch in den Fällen WINDISCH v. AUSTRIA und DELTA v. FRANCE an einem persönlichen Zeugnis vor Gericht fehlte und die allein vor der Polizei und zum Teil vor dem Untersuchungsrichter direkt gemachten Aussagen nur über eine Vernehmung der Polizisten und Untersuchungsrichter als früheren Vernehmungsbeamten oder über eine Verlesung der von ihnen erstellten Vernehmungsberichte in die Hauptverhandlung eingeführt worden sind, seien nach Ansicht des EGMR auch jene nicht unmittelbar vor dem Gericht aussagenden Personen für die Zwecke des Art. 6 III d EMRK und seinen autonom zu interpretierenden Zeugenbegriff als Zeugen anzusehen, weil ihre Angaben in der Tat dem Gericht vorlagen, welches sie in seine Erwägungen miteinbezogen habe:
660
„… Although the victim of the offence and her friend did not testify in court in person, they are to be regarded for the purposes of Article 6 para. 3 (d) ... as witnesses – a term to be given an autonomous interpretation ... – since their statements, as reported orally by Police Constable Bonci at the Criminal Court hearing and as recorded in writing by Inspector Duban, were in fact before the court, which took them into account ...“1896
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1896
von einer Beschränkung des Zeugenbegriffs aus, siehe etwa GOLLWITZER, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR, S. 406 f. N 224, welcher einen „eigenen Bezug(s) zum Verfahren“ (S. 406 N 224) verlangt, welcher Personen fehle, die „selbst im Verfahren zu keiner Zeit vernommen wurden“ (S. 406 N 114, kursive, im Originaltext fettgedruckte Hervorhebung: Gollwitzer); siehe zudem RENZIKOWSKI, JZ 1999, S. 609 FN 42; siehe dazu auch unter Kap. 5 B. I. b) bb) (2). EGMR, KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 20.11.1989, A166, § 40 (Hervorhebung Demko). EGMR, DELTA v. FRANCE, 19.12.1990, A191-A, § 34 (Hervorhebung Demko); siehe ebenso EGMR, WINDISCH v. AUSTRIA, 27.09.1990, A186, § 23: „… Although the two unidentified persons did not give direct evidence in court, they are to be regarded for the purposes of Article 6 para. 3(d) … as witnesses – a term to be given an autonomous interpretation … – since their statements, as reported by the police officers, were in fact before the Regional Court, which took them into consideration …“ (Hervorhebung Demko); siehe aber auch die Formulierung in EGMR, LUCA v.
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen 662
Die vom EGMR vorgenommene Erwähnung des Vorliegens der belastenden Aussagen vor Gericht sowie ebenso des Einbeziehens dieser in seine Erwägungen lässt dabei nicht ganz deutlich erkennen, ob es dem EGMR massgeblich auf die tatsächliche Verwertung durch das Gericht ankommt oder er bereits das tatsächliche Vorliegen vor Gericht, mit welchem die potentielle Verwertbarkeit verbunden ist, als entscheidend – im Sinne von als erforderlich, aber auch ausreichend – erachtet. Im Falle des (scheinbaren) Vertretens einer engeren, jedoch insoweit vom EGMR nicht näher und nicht klar begründeten Ansicht ist einer solchen engeren Ansicht entgegenzuhalten, dass es richtigerweise (und daher die insoweit nicht ganz klare Rechtsprechung des EGMR konkretisierend) nicht auf die tatsächliche Verwertung der belastenden Aussage durch das Gericht ankommen kann, sondern dass es vielmehr schon als ausreichend anzusehen ist und entscheidend darauf anzukommen hat, dass die belastende Aussage dem Gericht zu seiner Entscheidungsfindung tatsächlich vorlag: Denn bereits dann ist eine potentielle Verwertbarkeit betreff jener belastenden Aussage gegeben, indem diese Eingang in und Einfluss auf den Wahrheitsermittlungsprozess des Gerichts gefunden hat oder eine solche (bewusste oder unbewusste) Einflussnahme auf den Wahrheitsermittlungsprozess des Gerichts zumindest nicht mit völliger Sicherheit ausgeschlossen werden kann.1897
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Was der Gerichtshof bezüglich des zweiten Grundaspektes des konventionsrechtlichen Begriffs des Belastungszeugen jedoch deutlich zu erkennen gibt, ist, dass es ihm neben einer Loslösung von etwaigen nationalen Zeugenbegriffen der Strafprozessordnungen der Vertragsstaaten1898 zudem auf die Art und
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424
ITALY, 27.02.2001, Reports 2001-II, § 41: „… Thus, where a deposition may serve to a material degree as the basis for a conviction, then … it constitutes evidence for the prosecution to which the guarantees provided by Article 6 §§ 1 and 3 (d) of the Convention apply …“ (Hervorhebung Demko). Siehe dazu ebenso die deutlichen Ausführungen von ESSER, S. 630, wonach es für die Zeugeneigenschaft einer Person „lediglich darauf an(kommt), dass ihre (vor- oder auβerprozessuale) Aussage dem Gericht vorliegt … Ob das Gericht die Aussage oder Angaben einer Person verwertet, kann für den Zeugenstatus eigentlich keine Rolle spielen. Der EGMR sollte daher nicht länger auf die Verwertung solcher Angaben abstellen …“ (Hervorhebung Demko); deutlich auch GOLLWITZER, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR, S. 407 N 224 und FN 1167, wonach für den Begriff des Belastungszeugen das Einführen einer Aussage in die Hauptverhandlung für die Entscheidungsfindung (N 224), das Vorliegen einer den Angeklagten belastenden Aussage (FN 1167) massgebend sei, nicht aber, „ob sie im Endergebnis für die Urteilsfindung verwendet“ (N 224, ebenso betont in FN 1167) wird; ebenso deutlich GRABENWARTER, S. 386 N 113. Siehe schon EKMR, UNTERPERTINGER v. AUSTRIA, 11.10.1984, Series B, No. 93, § 70: „… the Commission recalls its opinion expressed in the Bönisch case … according to which as other terms of the Convention the term "witnesses" (témoins) in
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Weise, in der die belastenden Aussagen Eingang in die gerichtliche Hauptverhandlung finden (sei es etwa über eine Vernehmung der früheren Vernehmungsbeamten als Zeugen vom Hörensagen oder über eine Verlesung früherer Vernehmungsberichte), nicht ankommt.1899 Des Weiteren lässt der EGMR infolge des von ihm angelegten weiten Auslegungsverständnisses des konventionsrechtlichen Zeugenbegriffs unterschiedlichste Personen unter diesen fallen, seien dies etwa Sachverständige,1900 Mitbeschuldigte1901 oder sich dem
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1901
Art. 6 (3) (d) must be understood as having an autonomous meaning which may be wider than that of "witnesses" in the technical sense as understood in the domestic legal system …“ (Hervorhebung Demko); EGMR, KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 20.11.1989, A 166, § 40. Siehe dazu aus der Rechtsprechung etwa EGMR, ASCH v. AUSTRIA, 26.04.1991, A 203, § 23: „… Although Mrs J.L. refused to testify at the hearing she should, for the purposes of Article 6 par. 3 (d) …be regarded as a witness – a term to be given an autonomous interpretation … – because her statements, as taken down in writing by Officer B. and then related orally by him at the hearing, were in fact before the court, which took account of them …“; EGMR, ARTNER v. AUSTRIA, 28.08.1992, A242A, § 19; siehe dazu auch näher ESSER, S. 630. Siehe dazu bereits die obigen näheren Ausführungen zu den Entscheidungen EGMR, BÖNISCH v. AUSTRIA, 06.05.1985, A 92, §§ 29 ff.; EGMR, BRANDSTETTER v. AUSTRIA, 28.08.1991, A 211, §§ 44, 45; siehe dazu auch bereits EKMR, ALDRIAN v. AUSTRIA, 15.12.1987, D.R. 54, unter «THE LAW». Nach Ansicht des EGMR schliesst eine Beteiligung einer Person an der dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Tat die Annahme der Zeugeneigenschaft des Art. 6 III d EMRK nicht per se aus. So sah der EGMR im Fall FERRANTELLI AND SANTANGELO v. ITALY einen unter dem anfänglichen Vorwurf der Tatbeteiligung stehenden früheren Mitbeschuldigten, der im Ermittlungsverfahren gegenüber der Polizei, einem Staatsanwalt und einem Untersuchungsrichter aussagte, dann jedoch verstarb, als Zeugen i.S.des Art. 6 III d EMRK an, indem er ohne weitergehende Problematisierung der Zeugeneigenschaft des früheren Mitbeschuldigten prüfte, ob Art. 6 III d dadurch verletzt worden sei, dass der Beschwerdeführer den Mitangeklagten vor dessen Tod zu keinem Zeitpunkt hat befragen können, siehe näher EGMR, FERRANTELLI AND SANTANGELO v. ITALY, 07.08.1996, Reports 1996-III, §§ 7-15, 30, 51, 52. Auch der Fall CARDOT v. FRANCE betraf frühere Mitangeklagte des Beschwerdeführers, die von der Kommission und dem EGMR als Zeugen i.S.des Art. 6 III d EMRK angesehen wurden. Zwar trat der EGMR wegen der Verfahrenseinrede mangelnder Rechtswegerschöpfung nicht in eine Sachentscheidung ein, ordnete jedoch die früheren Mitangeklagten ohne weiteres dem Zeugenbegriff des Art. 6 III d EMRK unter, indem er dem Beschwerdeführer vorwarf, er hätte in keiner Weise den Wunsch geäussert, dass seine früheren Mitangeklagten als Zeugen gehört werden sollten. Deutlicher formulierte die Kommission, dass die früheren Mitangeklagten nach der französischen Rechtslage zwar nicht Zeugen im engeren Sinne seien, dennoch seien jene Personen, welche bereits verurteilt waren und im Verfahren gegen den Beschwerdeführer nicht die Eigenschaft von Angeklagten hatten, als Belastungszeugen i.S.des Art 6 III d EMRK anzusehen, siehe näher EGMR, CARDOT v. FRANCE,
425
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Strafverfahren mit einem Schadensersatzanspruch anschliessende Privatbeteiligte.1902 Ebenso spielen die Anonymität der aussagenden Person sowie der Gesichtspunkt, ob die Angaben der aussagenden Person die aussschliessliche, entscheidende oder nur bestätigende Grundlage für die Verurteilung bilden, für die Definition des Zeugenbegriffs des Art. 6 III d EMRK selbst und damit für die Eröffnung des Schutzbereichs des Konfrontationsrechts keine Rolle,1903 sondern auf diese Gesichtspunkte greift der EGMR erst im Anschluss an die Eröffnung des Anwendungsbereichs des Konfrontationsrechts im
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19.03.1991, A 200, § 35 und EKMR, CARDOT v. FRANCE, 07.09.1989, D.R. No. 62, S. 19 ff.; siehe sodann deutlicher EGMR, LUCA v. ITALY, 27.02.2001, Reports 2001-II, § 41: „In that regard, the fact that the depositions were, as here, made by a co-accused rather than by a witness is of no relevance. In that connection, the Court reiterates that the term “witness” has an “autonomous” meaning in the Convention system … Thus, where a deposition may serve to a material degree as the basis for a conviction, then, irrespective of whether it was made by a witness in the strict sense or by a co-accused, it constitutes evidence for the prosecution to which the guarantees provided by Article 6 §§ 1 and 3 (d) of the Convention apply …“ (Hervorhebung Demko); EGMR, ISGRÒ v. ITALY, 19.02.1991, A194-A, § 33. Siehe dazu EGMR, KAMASINSKI v. AUSTRIA, 19.12.1989, A168, §§ 29, 93. Aus den Entscheidungen EGMR KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 20.11.1989, A 166, §§ 39 ff., EGMR, WINDISCH v. AUSTRIA, 27.09.1990, A186, §§ 23 ff. und EGMR, LÜDI v. SWITZERLAND, 15.06.1992, §§ 43 ff. ging hervor, dass der EGMR auch Personen, deren Anonymität vor Gericht gewahrt wurde, die Zeugeneigenschaft im Sinne des Art. 6 III d EMRK zusprach. In den Fällen KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS und WINDISCH v. AUSTRIA handelte es sich insofern um normale Bürger, die aus Angst vor Repressalien und aus Sicherheitsgründen anonym bleiben wollten und denen die Polizei bei ihrer Vernehmung daher zusicherte, dass ihre Anonymität gewahrt werden würde. Im Unterschied zu KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS und WINDISCH v. AUSTRIA handelte es sich bei der im Gerichtsverfahren anonym bleibenden Person im Fall LÜDI v. SWITZERLAND um einen beeideten Polizeibeamten, der in der Funktion eines Verdeckten Ermittlers zur Aufdeckung von Rauschgiftdelikten eingesetzt wurde. Zum Schutz der Identität des polizeilichen Informanten und aus der Notwendigkeit heraus, die Infiltration der Drogenszene aufrechtzuerhalten, verzichtete das Gericht auf eine persönliche Beweisaussage in der Hauptverhandlung. Dennoch sah ihn der EGMR als Zeuge im Sinne des Art. 6 III d EMRK an, wobei er betonte, dass die schriftlichen Berichte des Verdeckten Ermittlers für die Verurteilung, wenn auch keine ausschliessliche, so aber dennoch überhaupt eine Rolle spielten: „The Court notes in addition that while the Swiss courts did not reach their decisions solely on the basis of Toni’s written statements, these played a part in establishing the facts which led to the conviction“, EGMR, LÜDI v. SWITZERLAND, 15.06.1992, § 47 (Hervorhebung Demko).
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Rahmen der Prüfung des Vorliegens einer konventionsgemässen Gewähr oder Verletzung des Konfrontationsrechts zurück.1904 Ausgehend von diesem weiten Auslegungsverständnis des Zeugenbegriffs, dem der EGMR zumindest ausdrücklich kein weiteres Begrenzungskriterium hinzugefügt hat, lässt er in Folge zwar die unterschiedlichsten Personen unter den Zeugenbegriff des Art. 6 III d EMRK fallen.1905 Dennoch zeigt ein Vergleich der bisherigen Entscheidungen des EGMR ein übereinstimmendes Merkmal jener unterschiedlichen Personengruppen auf, nämlich, dass sie zumindest einmal in irgendeinem Stadium des Verfahrens vor einer Strafverfolgungsbehörde – sei es etwa eine polizeiliche oder eine gerichtliche – Aussagen gemacht haben. In keiner der bisherigen Entscheidungen musste sich der EGMR mit Sachverhalten auseinandersetzen, in denen es um rein private belastende Aussagen einer Person ging, die nicht gegenüber Strafverfolgungsbehörden und/oder zum Zwecke einer Vernehmung für ein Strafverfahren gemacht wurden, aber dennoch dem Gericht zur Entscheidungsfindung vorlagen oder gar tatsächlich verwertet wurden.1906 Es bleibt mithin abzuwarten, auf welche Weise der Gerichtshof hier seine Rechtsprechung konkretisieren wird, mithin, ob er entweder für den Zeugenbegriff des Art. 6 III d EMRK das einengende Zusatzerfordernis verlangt, dass es sich um belastende und dem Gericht vorliegende Aussagen handelt, die gegenüber Strafverfolgungsbehörden abgegeben wurden,1907 oder ob er auch hier seinem schon bisherigen weiten Zeugenbegriff-Verständnis weiterhin Rechnung trägt und auf jenes Zusatzkriterium einer Aussagetätigung gegenüber Strafverfolgungsbehörden verzichtet.
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Siehe zu den zu beachtenden Einschränkungsvoraussetzungen für eine konventionsgemässe Einschränkung des Konfrontationsrechts unter Kap. 5 B. II. Siehe zur Auseinandersetzung um einen formellen oder materiellen Zeugenbegriff auch die Ausführungen von KRAUSS, V-Leute, S. 99 ff.; MAHLER, S. 51 ff., siehe dort auch zur Diskussion um den Zeugenbegriff im Zusammenhang mit dem Konfrontationsrecht in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 33 ff. Darauf weisen ebenso hin WANNEK, S. 93 ff.; MAFFEI, S. 74: „No cases have so far considered the use of testimonial evidence reported in private documents (e.g. letters, diaries) or taken by counsel in a private investigation, yet there is no reason to believe that such evidence would fall outside the scope of Article 6(3)(d)“. Auf eine solche Beschränkung des Zeugenbegriffs verweist GOLLWITZER, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR, S. 406 f. N 224: „Personen, die selbst im Verfahren zu keiner Zeit vernommen wurden, können mangels jedes eigenen Bezugs zum Verfahren nicht Adressaten eines verfahrensinternen Fragerechts sein. Dies gilt auch, wenn eine Privatperson als Zeuge vom Hörensagen darüber berichtet, was ihr ein anderer erzählt hat“ (S. 406 N 224, kursive, im Originaltext fettgedruckte Hervorhebung: Gollwitzer); siehe zudem RENZIKOWSKI, JZ 1999, S. 609 FN 42.
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen 665
Bei einer belastenden Zeugenaussage handelt es sich um eine Aussage, die durch den Charakter des Unfertigen und Formbaren kennzeichnet ist und der – wie einer jeden menschlichen Aussage – Fehler anhaften können, angefangen von (etwa) Wahrnehmungs-, Erinnerungs- und Wiedergabefehlern und damit verbundenen Irrtümern der aussagenden (Zeugen-)Person über bewusste Falschaussagen, mithin Lügen, der aussagenden (Zeugen-)Person bis hin zu suggestiven Beeinflussungen der aussagenden (Zeugen-)Person durch andere Menschen mit der Folge entsprechend verfälschter Aussagen des Zeugen. Betrachtet man den herausgearbeiteten Wesensgehalt des Konfrontationsrechts – nach welchem dem Angeklagten eine antithetische Teilnahme am Wahrheitsermittlungsprozess einer belastenden Zeugenaussage eines anderen Menschen und hier das Infragestellen, das In-Zweifel-Ziehen der Glaubwürdigkeit dieser belastenden Zeugenaussage zu gewähren ist1908 – sowie die Besonderheit des Unfertigen1909 und Formbaren einer belastenden Zeugenaussage mit all ihren Fehleranfälligkeiten, die einer jeden menschlichen Aussage eigen sind, so macht es für den Angeklagten und die gegen ihn von einem anderen Menschen ausgedrückte Belastung wegen einer Straftat keinen Unterschied, ob diese belastende Aussage gerade gegenüber Strafverfolgungsbehörden oder nicht gegenüber diesen geäussert wurde: In beiden Fällen ist es eine menschliche sowie unfertige, formbare und mit den entsprechenden Fehleranfälligkeiten verbundene Aussage, mit der die tatverdachtsbegründende oder -verstärkende, mithin belastende These gegen den Angeklagten hervorgebracht und objektiv in der Welt ist, und zwar unabhängig davon, ob diese Aussage gegenüber oder nicht gegenüber Strafverfolgungsbehörden geäussert wurde.1910 In beiden Fällen können, eben weil es sich um menschliche Aussagen handelt, diese den Angeklagten belastenden Aussagen eines anderen Menschen nicht nur mit entsprechenden Fehleranfälligkeiten und damit mit möglichen Zweifeln an deren Glaubwürdigkeit verbunden sein. Vielmehr können zudem in beiden Fällen – mithin unabhängig davon, ob gegenüber oder nicht gegenüber Strafverfolgungsbehörden geäussert – diese den Angeklagten belastenden Aussagen eines anderen Menschen dem Gericht zur Kenntnis gelangen, ihm mithin tatsächlich vorliegen, mit der Folge, dass
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Siehe dazu unter Kap. 5 A. I. Siehe dazu bereits unter Kap. 5 A. I. und II. Siehe auch zutreffend WANNEK, S. 94 f., wonach es nicht auf den „formalen Grund …“ ankommen könne, dass die Person „… bereits im Rahmen des Verfahrens befragt wurde“ (S. 95, Hervorhebung Demko) sowie mit dem Hinweis: „(d)ies deutet darauf hin, dass dieser Status einer Person aufgrund ihres für das Verfahren relevanten Wissens zukommt“ (S. 94 f., Hervorhebung Demko); siehe auch MAFFEI, S. 74: „yet there is no reason to believe that such evidence would fall outside the scope of Article 6(3)(d)“.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
sich die Frage ihrer potentiellen Verwertbarkeit in beiden Fällen gleichermassen stellt. Geht es bei dem Konfrontationsrecht des Angeklagten nach Art. 6 III d EMRK jedoch darum, dass er sich gegenüber einer Belastung durch ein persönliches Beweismittel, d.h. durch ein (im Unterschied zu sachlichen Beweismitteln) durch einen Menschen zur Sprache gebrachtes Beweismittel, wirksam zur Wehr setzen können muss, indem ihm ein Einfluss auf die Entstehung und/oder Bewertung dieses unfertigen persönlichen Beweismittels eingeräumt wird, dann kann es keinen Unterschied machen, ob diese belastenden menschlichen Aussagen gerade gegenüber Strafverfolgungsbehörden getätigt wurden oder nicht:1911 In beiden Fällen steht eine durch einen Menschen geäusserte Belastung im Raum, welche, wenn sie dem Gericht tatsächlich vorliegt, zu einer Verurteilung des möglichweise unschuldigen Angeklagten führen kann, so dass es dem Angeklagten in beiden Fällen mittels seines Konfrontationsrechts ermöglicht werden muss, die Glaubwürdigkeit dieser belastenden menschlichen Aussagen in Frage zu stellen und in Zweifel zu ziehen.1912 Nur ein solchermassen anzulegendes weites Verständnis des Begriffs des Belastungszeugen eröffnet dem Angeklagten mittels seines Konfrontationsrechts einen umfassenden Schutz im Zusammenhang mit persönlichen Beweismitteln und ermöglicht es ihm, sich gegen alle durch Aussagen eines anderen Menschen zur Sprache gebrachte und dem Gericht tatsächlich vorliegende Belastungen mittels In-Frage-Stellen-Könnens von deren Glaubwürdigkeit wirksam antithetisch verteidigen zu können.
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Für den von GOLLWITZER, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR, S. 406 N 224 betonten Gesichtspunkt des eigenen Bezugs zum Verfahren (S. 406 N 224) ist nicht darauf abzustellen, ob die Person zu irgendeinem Zeitpunkt im Verfahren vernommen wurde, sondern vielmehr ist ein solcher Verfahrensbezug dann hergestellt, wenn diese (privat getätigten) Aussagen ins Strafverfahren eingeführt sind und dem Gericht tatsächlich vorliegen mit der Folge ihrer dann gegebenen potentiellen Verwertbarkeit. Zu diesem Ergebnis kommt ebenso WANNEK, S. 94 f., wonach es im Interesse der Verfahrensfairness liege, dass es der Verteidigung ermöglicht werde, „bezüglich einer belastenden Angabe, die nicht gegenüber Strafverfolgungsbehörden abgegeben wurde, aber zur Begründung eines Urteils herangezogen werden soll, durch eine Befragung des Verfassers dessen allgemeine persönliche Glaubwürdigkeit sowie die Glaubhaftigkeit seiner Aussage zu überprüfen“ (S. 94, Hervorhebung Demko). Zudem verweist Wannek auf den Wortlaut von „Belastungszeugen …“ und „… Entlastungszeugen“ (S. 94, Hervorhebung Wannek) und bezüglich letzterer darauf, dass „Personen, die in der Regel noch nicht im Rahmen des Verfahrens gehört wurden, … trotzdem als Entlastungszeugen bezeichnet (werden)“ (S. 94, Hervorhebung Wannek); ebenso MAFFEI, S. 74; siehe dazu auch KODEK, JBl 1988, S. 558.
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666
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
667
2.
Zeitlicher Schutzbereich des Konfrontationsrechts
a)
Die unter Anknüpfung an das Gesamtverfahren an den zeitlichen Schutzbereich anzulegende weite und materielle Sichtweise
Die vom EGMR gewählten Formulierungen, dass «normalerweise» („normally“1913) bzw. «grundsätzlich» („In principle“1914) alle Beweise in Anwesenheit des Angeklagten in einer öffentlichen Verhandlung in einem kontradiktorischen Verfahren zu erheben sind,1915 scheinen auf den ersten Blick darauf hinzudeuten, dass der Gerichtshof mit diesen einen für das Strafverfahren zu bevorzugenden Unmittelbarkeitsgrundsatz ansprechen wollte.1916 Einen eindeutigen Ausspruch des Gerichtshof für den Unmittelbarkeitsgrundsatz als ein gerade menschenrechtlich begründetes Erfordernis für ein faires Strafverfahren lässt sich seiner (jedenfalls) bisherigen Spruchpraxis zum Konfrontati1913 1914
1915
1916
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EGMR, ASCH v. AUSTRIA, 26.04.1991, A203, § 27 (Hervorhebung Demko). EGMR, KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 20.11.1989, A166, § 41 (Hervorhebung Demko). Siehe aus der reichhaltigen Rechtsprechung des EGMR etwa EGMR, KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 20.11.1989, A166, § 41; EGMR, ASCH v. AUSTRIA, 26.04.1991, A203, § 27; EGMR, BARBERÀ, MESSEGUÉ AND JABARDO v. SPAIN, 06.12.1988, A146, § 78; EGMR, ISGRÒ v. ITALY, 19.02.1991, A194-A, § 34; EGMR, COLOZZA v. ITALY, 12.02.1985, A89, §§ 27, 32; siehe zu diesem „Wortwechsel“ (S. 1369), bezüglich dessen jedoch ein entscheidender Unterschied nicht auszumachen sei, näher TRECHSEL, AJP 2000, S. 1369. Siehe dazu auch einige Stimmen im Schrifttum, darunter auch die der Verfasserin in einer früheren Publikation, in der sie auf die Grundsatz-Ausnahme-Formulierung des EGMR Bezug nimmt, siehe DEMKO, ZStrR 2004, S. 423 f.: „aufgrund der GrundsatzAusnahme-Formulierung des EGMR (lässt sich) … seine zumindest leichte Tendenz nicht völlig von der Hand weisen, dass er sich an jenes Prinzip der Unmittelbarkeit für eine sich idealerweise gestaltende Zeugenbefragung anlehnt“ (S. 424) bzw. sich an dieser Unmittelbarkeit der Beweisführung in der Hauptverhandlung „als zumindest anzustrebende Norm und Regel auszurichten“ (S. 424) scheint; siehe dazu auch TRECHSEL, AJP 2000, S. 1369: „Die Unmittelbarkeit der Beweisführung in der Hauptverhandlung ist die Norm, die Regel; Abweichungen von dieser Regel sind nicht ausgeschlossen, aber sie bedürfen einer Begründung, einer Rechtfertigung“ (Hervorhebung Demko) sowie S. 1370: „Grundsätzlich gilt das Unmittelbarkeitsprinzip; Ausnahmen sind zulässig.“ (Hervorhebung Demko); WEHRENBERG, S. 20: „verstärkte Ausrichtung der gerichtlichen Hauptverhandlung am Unmittelbarkeitsprinzip“; SCHADEN, S. 223; siehe auch die Formulierung bei HAEFLIGER/SCHÜRMANN, S. 239, welche im Anschluss an die Betonung, dass der Unmittelbarkeitsgrundsatz kein Prinzip sei, das in der EMRK verankert sei – dazu näher in der folgenden Fussnote –, ebenfalls auf die Grundsatz-Formulierung des EGMR verweisen: Der EGMR habe „allerdings erklärt“, dass die Beweisaufnahme „grundsätzlich“ vor dem Angeklagten in öffentlicher Verhandlung und in kontradiktorischem Verfahren durchzuführen sei, (Hervorhebung Demko); GOLLWITZER, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR, S. 404 N 219: „in der Regel“.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
onsrecht jedoch nicht entnehmen.1917 Vielmehr zeigt seine Rechtsprechung zum Konfrontationsrecht eine Offenheit1918 des EGMR sowohl für den Unmittelbarkeits- als auch für den Mittelbarkeitsgrundsatz an und mit dieser Offenheit zugleich die Erkenntnis, dass im Rahmen beider strafverfahrensstrukturierender Gestaltungsvorgaben1919 dem Angeklagten ein seine Verteidigungsrechte wahrendes faires Strafverfahren gewährleistet werden kann und auch – dies gebietet die für die Vertragsstaaten bestehende Verpflichtung zur Wahrung der Menschenrechte der EMRK – zu gewährleisten ist. Angesprochen ist eine Offenheit des Gerichtshofs, die sich zum einen dadurch zeigt, dass der EGMR als Fairness gewähren könnende Strafverfahren sowohl solche Strafverfahren von Vertragsstaaten der EMRK zulässt, in denen (wie z.B. in Deutschland) das Unmittelbarkeitsprinzip gilt, als auch solche Strafverfahren, in denen (wie z.B. in der Schweiz) das Mittelbarkeitsprinzip bzw. ein nur beschränktes Unmittelbarkeitsprinzip gilt.1920 Zum anderen offenbart sich diese Offenheit des Gerichtshofs dadurch, dass der EGMR für die Beurteilung eines wirksam gewährten Konfrontationsrechts das Gesamtverfahren in den Blick nimmt.1921 Es ist das Gesamtverfahren, auf das der EGMR als massgebenden Beurteilungsmassstab für die Prüfung, ob dem Angeklagten 1917
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Siehe auch ESSER, S. 626, wonach der Ansatz des EGMR mit dem „Prinzip der Unmittelbarkeit der Beweiserhebung (§ 250 StPO) nur scheinbar identisch“ sei (Hervorhebung Demko); ebenso ESSER, in: MARAUHN, S. 52 f.; HAEFLIGER/SCHÜRMANN, S. 239, wonach die EMRK nicht vorschreibe, dass die Zeugen „auf jeden Fall“ in der Hauptverhandlung vor dem Strafgericht anzuhören seien und der Unmittelbarkeitsgrundsatz „in diesem Sinn nicht ein in der Konvention verankertes Prinzip“ sei; GOLLWITZER, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR, S. 398 N 210, S. 404 FN 1143: Die „MRK legt keinen Unmittelbarkeitsgrundsatz fest …“ (S. 404 FN 1143). In diesem Sinne wohl auch ESSER, S. 626, 644; ESSER, in: MARAUHN, S. 52 f. Siehe auch die Formulierung von GAEDE, S. 834 zum Unmittelbarkeitsgrundsatz, welcher die „Rahmenbedingungen“ der Konfrontation auf den Stand der Hauptverhandlung bringe (Hervorhebung Demko). Siehe zur Geltung des beschränkten Unmittelbarkeitsprinzips im schweizerischen Strafverfahren näher unter Kap. 5 C. II. 2. b) bb); siehe dazu auch etwa HAURI, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 343 N 12; MATHYS, S. 134: Einführung der „beschränkte(n) Unmittelbarkeit …, die zwischen der reinen Unmittelbarkeit und der blossen Mittelbarkeit liegt“ (hier kursive, im Originaltext fettgedruckte Hervorhebung Mathys); PIETH, Strafprozessrecht, S. 44; ARQUINT/SUMMERS, plädoyer 2008, S. 41: „eingeschränkte Unmittelbarkeit“; TAG, S. 27 f.; DONATSCH/ CAVEGN, S. 55 f.; siehe zum Unmittelbarkeitsgrundsatz im deutschen Strafverfahren und zu seinen geschichtlichen Grundlagen etwa GEPPERT, S. 7 ff. Siehe dazu auch TRECHSEL, AJP 2000, S. 1370: „… immer wieder betont, dass das Verfahren als Ganzes anzusehen sei und erst im Lichte dieser integralen Prüfung festgestellt werden könne, ob es fair gewesen sei“ (Hervorhebung Trechsel: «fair»; Hervorhebung Demko: «als Ganzes» und «erst im Lichte dieser integralen Prüfung»).
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
im Zusammenhang mit seinem Konfrontationsrecht eine wirksame Verteidigung und ein faires Strafverfahren gewährt wurde, abstellt, dabei auch betonend, dass im Ermittlungsverfahren gewonnene Zeugenaussagen nicht per se eine Verletzung des Konfrontationsrechts und des fairen Strafverfahrens bedeuten, wenn und solange dem Angeklagten eine wirksame Verteidigung ermöglicht war. Im Fall KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS heisst es insoweit: 669
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„… In principle, all the evidence must be produced in the presence of the accused at a public hearing with a view to adversarial argument ...This does not mean, however, that in order to be used as evidence statements of witnesses should always be made at a public hearing in court: to use as evidence such statements obtained at the pre-trial stage is not in itself inconsistent with paragraphs 3 (d) and 1 of Article 6 ... provided the rights of the defence have been respected. As a rule, these rights require that an accused should be given an adequate and proper opportunity to challenge and question a witness against him, either at the time the witness was making his statement or at some later stage of the proceedings …“1922
Ebenso deutlich spricht der Gerichtshof im Fall ASCH v. AUSTRIA aus: „… All the evidence must normally be produced in the presence of the accused at a
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public hearing with a view to adversarial argument. This does not mean, however, that the statement of a witness must always be made in court and in public if it is to be admitted in evidence; in particular, this may prove impossible in certain cases. The use in this way of statements obtained at the pre-trial stage is not in itself inconsistent with paragraphs 3 (d) and 1 of Article 6 … provided that the rights of the defence have been respected. As a rule, these rights require that the defendant be given an adequate and proper opportunity to challenge and question a witness against him, either when he was making his statements or at a later stage of the proceedings …“1923 672
Die teleologische Betrachtung des Konfrontationsrechts bekräftigt diesen vom Gerichtshof gewählten offenen Ansatz sowohl für den Unmittelbarkeitsals auch für den Mittelbarkeitsgrundsatz und die dadurch ausgesprochene „Gleichwertigkeit der verschiedenen Stadien des Strafverfahrens“.1924 Denn mit dem Unmittelbarkeits-/Mittelbarkeitsgrundsatz ist die Ausübungsebene angesprochen, auf der ein faires Strafverfahren zu verwirklichen ist, ohne dass sich aber zugleich nur eine dieser zwei Gestaltungsvarianten eines Strafverfahrens als eine «automatische Garantie» eines materiell wirksamen Konfrontationsrechts und eines fairen Strafverfahrens darstellt, während der anderen Gestaltungsvariante jene wesensgehaltssichernde automatische Garantie per se abzusprechen wäre. Nicht jedoch die Form, die Art und Weise, «wie» das Konfrontationsrecht in den Vertragsstaaten zu verwirklichen ist, wird 1922
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EGMR, KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 20.11.1989, A166, § 41 (Hervorhebung Demko). EGMR, ASCH v. AUSTRIA, 26.04.1991, A203, § 27 (Hervorhebung Demko). ESSER, S. 644 (Hervorhebung Demko); siehe ebenso ESSER, in: MARAUHN, S. 52 f.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
durch Art. 6 III d EMRK und die Rechtsprechung des EGMR vorgegeben,1925 sondern «dass» das Konfrontationsrecht materiell wirksam zu verwirklichen ist, ist für die EMRK und den Gerichtshof mit ihrem Blick auf ein menschenrechtswahrendes Strafverfahren von Wichtigkeit: Keine formelle Sichtweise legt der EGMR an, nach welcher – je nach Entscheidung des Gerichtshofs für den Unmittelbarkeits- oder den Mittelbarkeitsgrundsatz – das Konfrontationsrecht stets in der Hauptverhandlung vor Gericht oder stets im vorangehenden Ermittlungsverfahren zu gewährleisten wäre. Vielmehr verfolgt der EGMR eine materiell menschenrechtswahrende Sichtweise und mit dieser verlangt er bezogen auf das Konfrontationsrecht, dass dem Angeklagten eine (materiell) wirksame antithetische Teilnahme an dem sich auf den belastenden Zeugenbeweis beziehenden Wahrheitsermittlungsprozess eingeräumt ist.1926 Ein Rückzug auf die Form bzw. genauer auf eine bestimmte Form – mithin entweder auf ein Strafverfahren mit Unmittelbarkeitsgrundsatz oder auf ein solches mit Mittelbarkeitsgrundsatz – wäre unter menschenrechtswahrender Sicht nur möglich und auch nötig (und entsprechend vom EGMR auszusprechen), wenn (nur) diese (eine) bestimmte Form zugleich eine «Garantie von Inhalt» wäre, d.h. mit einer Garantie des Wesensgehaltes, einer Garantie von materiell wirksam gewahrten Menschenrechten im Strafverfahren einhergehen würde. Dies ist bei den Gestaltungsvarianten eines Strafverfahrens in Gestalt des Unmittelbarkeitsgrundsatzes oder des Mittelbarkeitsgrundsatzes jedoch nicht der Fall, da beide Gestaltungsvarianten einen Rahmen für die mögliche (materiell wirksame) Verwirklichung der Menschenrechte des Angeklagten im Strafverfahren und hierbei auch für das Konfrontationsrecht gegenüber Belastungszeugen eröffnen und aber auch beide Gestaltungsvarianten jeweils eigene Vorteile sowie Nachteile bzw. Gefahren mit Blick auf eine materiell wirksame Gewähr des Konfrontationsrechts mit sich bringen:
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Ein Vorteil des Unmittelbarkeitsgrundsatzes ist, dass sich die für das Urteil entscheidende Beweiserhebung und hierbei ebenso die «Formung» der Zeugenaussage unmittelbar vor dem Gericht vollziehen, das anschliessend auch die Beweiswürdigung vornimmt und das Urteil spricht.1927 Als Nachteil bzw.
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Siehe in Bezug auf das faire Verfahren – zu dem das Konfrontationsrecht als eines seiner Teilelemente gehört – auch KÜHNE, in: Karl (Hrsg.), IntKommEMRK, 11. Lieferung, April 2009, Art. 6 N 359: keine Anweisungen der EMRK, „wie ein „fair hearing“ im Detail zu erreichen sei“, so dass „die prozessrechtliche Ausgestaltung des Grundsatzes den Vertragsstaaten überlassen“ bleibt (Hervorhebung Demko); GOLLWITZER, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR, S. 398 N 210: keine Festlegung von „Verfahrensgrundsätze(n) wie den Grundsatz der Unmittelbarkeit“ durch die Konvention. Siehe dazu bereits näher unter Kap. 4 B. I. und Kap. 5 A. I. Siehe zu den Vorteilen des Unmittelbarkeitsprinzips etwa HAUSER/SCHWERI/ HARTMANN, S. 231 N 9, 10: „persönliche(r), frische(r) Eindruck“ (N 9), „Gewinnung unmittelbar sinnlicher Wahrnehmungen ist ohne Zweifel am wichtigsten für die Tat-
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Gefahr ist aber u.a. anzuführen, dass eine dem Angeklagten u.U. erstmals und nur in der gerichtlichen Hauptverhandlung gewährte Zeugenkonfrontation den Angeklagten dadurch benachteiligen kann, dass infolge eines langen Zeitraumes zwischen vorgeworfener Tat und stattfindender Hauptverhandlung und damit einhergehenden Erinnerungseinbussen bei dem Belastungszeugen eine wirksame Zeugenbefragung nicht mehr möglich ist.1928 Eine wirksame Zeugenbefragung erstmals und nur in der Hauptverhandlung kann dem Angeklagten aber auch etwa deshalb nicht möglich sein, weil es im vorangehenden Ermittlungsverfahren zu ohne die angeklagte Seite stattgefundenen Zeugenbefragungen durch die Ermittlungsbehörden gekommen ist, in denen (bewusst oder unbewusst) mehr die angeklagtenbelastenden Sachmomente herausgehoben und auf diese Weise eingeengte Sachverhaltshypothe-
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sachen, welche Grundlage für das Urteil bilden, also bei der Beweisaufnahme“ (N 10), Unterrichtung des Richters „durch direkten Kontakt mit dem Angeklagten und den Zeugen“ (N 10) anstelle „der farblosen, wenig lebensnahen, vielleicht einseitig abgefassten Protokolle“ (N 10), zudem heisst es, was gerade mit Blick auf den Zeugenbeweis wichtig ist, dass beim „Personalbeweis … den Risiken, z.B. der Unzuverlässigkeit des Zeugen, entgegengewirkt werden (kann). Der persönliche Kontakt bietet Gelegenheit zu Fragen, Ermahnungen, Vorhalten und Gegenüberstellungen, womit Kontroll- und Korrekturmöglichkeiten geschaffen werden (N 10, Hervorhebung Demko); SCHMID, S. 64 N 183 ff., wo u.a. verwiesen wird auf die persönliche Wahrnehmung und den persönlichen Eindruck vom Zeugen und der Art und Weise seiner Aussagen sowie darauf, dass „Unklarheiten … durch Rückfragen, Konfrontationen usw. behoben werden (können)“ (N 185); siehe auch EGMR, HULKI GUNES v. TURKEY, 19.06.2003, Reports 2003-VII, § 95: „… In any event, as the witnesses in question did not appear before the trial court, the judges were unable to observe their demeanour under questioning and thus form their own impression of their reliability …“ (Hervorhebung Demko). Zu den Nachteilen des Unmittelbarkeitsprinzips siehe etwa HAUSER/SCHWERI/ HARTMANN, S. 232 N 12, wo es u.a. heisst, dass die „Zuverlässigkeit der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung … infolge der Öffentlichkeit der Sitzung … und des gegenüber der Untersuchung längeren Abstandes von den Ereignissen nicht immer die beste …(ist). Angeklagte, Zeugen und Sachverständige … vermögen sich nach längerer Zeit nicht mehr mit Genauigkeit an die Tatsachen zu erinnern“; SCHMID, S. 64 N 187 ff., wo beispielsweise angeführt wird, dass die Vorteile des Unmittelbarkeitsprinzips u.a. nur bei „kurzer zeitlicher Distanz zwischen inkriminiertem Ereignis und Hauptverhandlung durchzuschlagen“ (N 188) vermögen sowie mit Bezug auf den Zeugenbeweis darauf verwiesen wird, dass sich „(n)ach Jahr und Tag … die Zeugen … nicht mehr präzis an die Vorgänge zu erinnern“ (N 190) vermögen; zu dem Gesichtspunkt der langen Dauer des Verfahrens siehe auch BGE 122 IV 103, S. 112: „Wegen der besonderen Umstände der Untersuchung und insbesondere der langen Dauer des Verfahrens … hat das Bundesstrafgericht ein gewisses Verständnis für das Anliegen der Verteidigung und legt sich deshalb bei der Verwendung von in der Untersuchung angefertigten Protokollen Zurückhaltung auf …“
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
sen bzw. eingeengte Untersuchungsrichtungen für die weiteren Ermittlungen geschaffen wurden:1929 Durch solche im Vorfeld der Hauptverhandlung geschaffene eingeengte, weil angeklagtenbelastende Sachmomente verstärkt in den Vordergrund rückende Untersuchungsrichtungen besteht die Gefahr, dass der Blick auf etwaige angeklagtenentlastende Sachverhaltshypothesen von vornherein verschlossen ist, welcher dann auch dem Gericht und dem Angeklagten bei seiner Konfrontation in der gerichtlichen Hauptverhandlung verschlossen blieb. Umgekehrt ist dem Mittelbarkeitsgrundsatz zu Gute zu halten, dass mit der Schwerpunktlegung für die Beweiserhebung auf das Ermittlungsverfahren und auf das hier gewährte Konfrontationsrecht der Gefahr etwaiger Erinnerungseinbussen aufgrund grösserer zeitlicher Tatnähe der Zeugenbefragungen wirksamer begegnet werden kann. Ein weiterer Vorteil des Mittelbarkeitsgrundsatzes ist ebenso, dass dem Angeklagten schon in den frühen Stadien der Zeugenaussageentstehung und -formung im Ermittlungsverfahren ein wirksamer antithetischer Einfluss eingeräumt wird und dadurch vermieden oder zumindest vermindert werden kann, dass sich einseitige oder verengte, den Angeklagten belastende Sachverhaltshypothesen bilden oder, wenn gebildet, dass sich diese zu schnell verfestigen und dabei angeklagtenentlastende Momente von vornherein ausschliessen.1930 Damit im Zusammenhang stehend heisst es auch bei Trechsel:
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„Im Interesse der Wahrheitsfindung ebenso wie im Dienst einer wirksamen Verteidigung sollte das Fragerecht früh, wenn möglich bei der ersten Einvernahme, zur Verfügung stehen. Es ist dies eine alte Forderung, die ihre Berechtigung nicht zuletzt in der Beobachtung findet, dass Zeugen bei späteren Einvernahmen in erster Linie danach trachten werden, jeden Widerspruch zu einer früheren Aussage zu vermeiden.“1931
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Als Nachteil bzw. Gefahr des Mittelbarkeitsgrundsatzes bringt es dieser jedoch mit sich, dass das die Beweiswürdigung vornehmende und das Urteil sprechende Gericht sich keinen eigenen persönlichen Eindruck von dem Be-
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Siehe dazu auch im Zusammenhang mit dem konfirmatorischen Hypothesentesten die Ausführungen unter Kap. 5 A. II. 5. Siehe dazu auch KOHLBACHER, S. 129 f.: „von Anfang an korrigierend in die Zeugeneinvernahmen einzugreifen“ (S. 130); siehe auch im Zusammenhang mit den Nachteilen des Unmittelbarkeitsprinzips etwa HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, S. 232 N 12: „Angeklagte, Zeugen und Sachverständige … vermögen sich nach längerer Zeit nicht mehr mit Genauigkeit an die Tatsachen zu erinnern“; SCHMID, S. 64 N 190, wo es betreff des Zeugenbeweises heisst, dass sich „(n)ach Jahr und Tag … die Zeugen … nicht mehr präzis an die Vorgänge zu erinnern“ (N 190) vermögen, zu weiteren Nachteilen siehe N 187 ff. TRECHSEL, AJP 2000, S. 1370 (Hervorhebung Demko); siehe dazu auch KOHLBACHER, S. 129 f.
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
lastungszeugen macht und keine eigene Zeugenbefragung vornimmt.1932 Als weiterer Nachteil geht damit einher, dass unter Umständen etwaige weitere zusätzliche Aussagemomente, die bei einer gerichtlichen Zeugenbefragung – geleitet durch das Gericht als neuen fragenden Beteiligten an der Zeugenaussageentstehung – vielleicht noch ans Licht gekommen wären und zu einer Entlastung des Angeklagten geführt hätten, infolge nicht stattfindender Zeugenvernehmung in der gerichtlichen Hauptverhandlung nunmehr im Dunkeln bleiben könnten.1933 678
Als wichtig ist hervorzuheben: Diese hier nur kurze Gegenüberstellung von Vor- und Nachteilen, wie sie mit dem Unmittelbarkeits- und dem Mittelbarkeitsgrundsatz häufig verknüpft werden, sind bei genauerer Betrachtung solche, die in einem jeden Strafverfahren, sei es ein Strafverfahren mit Unmittelbarkeits- oder ein Strafverfahren mit Mittelbarkeitsgrundsatz, auftauchen können. Denn auch in einem Strafverfahren mit Unmittelbarkeitsgrundsatz kann das Gericht in der Hauptverhandlung etwaigen entlastenden Sachverhaltsmomenten – z.B. aufgrund verengter Sachverhaltshypothesen aus dem Ermittlungsverfahren, die Eingang in die Akten gefunden haben und vom Gericht aufgegriffen werden – nicht zu Genüge nachgehen. Ebenso kann es auch in einem Strafverfahren mit Mittelbarkeitsgrundsatz zu die Zeugenbefragungen beeinträchtigenden Erinnerungseinbussen oder einseitigen/verengten Sachverhaltsuntersuchungen schon während des Ermittlungsverfahrens kommen. Zu beachten ist also: Es ist nicht per se die Form des Unmittelbaren/Mittelbaren eines Strafverfahrens an sich, die (angeblich) stets und zwingend zu bestimmten Nachteilen und Gefahren führt, sondern es sind – und dies ist der entscheidende Gesichtspunkt für die Frage eines wirksam gewährten Konfrontationsrechts sowohl in Strafverfahren mit Unmittelbar1932
Siehe auch im Zusammenhang mit den Vorteilen des Unmittelbarkeitsprinzips HAUS. 231 N 9, 10: „persönlichen, frischen Eindruck“ (N 9), „Gewinnung unmittelbar sinnlicher Wahrnehmungen“ (N 10), „Urteilende gewinnt so eine plastische Vorstellung von den zu beurteilenden Tatsachen“ (N 10); SCHMID, S. 64 N 184, 185: „persönlichen Wahrnehmung“ (N 184) und „persönliche Eindruck“ (N 185); zu Nachteilen des Mittelbarkeitsprinzips siehe zudem PIETH, Strafprozessrecht, S. 180. Siehe dazu im Zusammenhang mit den Vorteilen des Unmittelbarkeitsprinzips auch etwa HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, S. 231 N 10: „Kontroll- und Korrekturmöglichkeiten“; SCHMID, S. 64 N 185: „Unklarheiten können durch Rückfragen, Konfrontationen usw. behoben werden“ und zudem der wichtige Hinweis von Schmid auf S. 65 N 191 zu dem „gewichtige(n) Nachteil“ (hier kursive, im Original fettgedruckte Hervorhebung) des Mittelbarkeitsprinzips, wonach „Fehler und Mängel in der Tatbestands- und Beweisaufnahme des Vorverfahrens mitgeschleppt und u.U. vom urteilenden Gericht nicht mehr behoben werden können“; siehe zudem GAEDE, S. 834, 836; zu Vorzügen und Nachteilen der Unmittelbarkeit auch näher HAUSER, ZStrR 1981, S. 172 f.; zum Unmittelbarkeitsprinzip zudem HEINE, ZStrR 1992, S. 56 ff. SER/SCHWERI/HARTMANN,
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
keits- als auch in Strafverfahren mit Mittelbarkeitsgrundsatz – eben diese (in einem jeden Strafverfahren eintreten könnenden) Nachteile und Gefahren selbst, denen für eine wirksame Zeugenkonfrontation in einem jeden Strafverfahren wirksam begegnet werden muss. Nicht also einer blossen «Form» eines Strafverfahrens als solcher gilt es für eine wirksame Zeugenkonfrontation entgegen zu treten, sondern vielmehr bestimmten, einer wirksamen Zeugenkonfrontation entgegenstehenden Nachteilen und Gefahren an sich: Nachteilen und Gefahren, wie sie zwar häufiger entweder mit dem Unmittelbarkeits- oder mit dem Mittelbarkeitsgrundsatz in Verbindung stehen oder zumindest mit diesen in Verbindung gebracht werden, welche aber bei einem genaueren Blick «hinter die Form» sozusagen formunabhängig in einem jeden Strafverfahren auftreten und eine wirksame Zeugenkonfrontation verhindern können. Die aussagepsychologischen Erkenntnisse haben gezeigt, dass es sich bei einer Zeugenaussage um ein «unfertiges», formbares Beweismittel handelt, für welches die Rahmenbedingungen der Entstehung der Zeugenaussage – u.a. die konkrete Entstehungssituation und die an der Entstehung der Zeugenaussage beteiligten Personen, seien es die fragenden oder auch andere nur anwesende Personen – von massgebender Bedeutung sind.1934 Dieser «Formungsprozess» einer Zeugenaussage vollzieht sich von dem ersten Entstehungszeitpunkt, der Geburtsstunde, der Aussage über alle weiteren Entwicklungsschritte, in denen der Zeuge innerhalb und ausserhalb eines Strafverfahrens über den in Rede stehenden Sachverhalt – sowohl gegenüber am Strafverfahren Beteiligten als auch etwa gegenüber Angehörigen, Freunden, Therapeuten – spricht, bis hin zu der letzten Zeugenaussage, welche vom Gericht als die abschliessende angesehen wird. Gestalt und Umsetzung gewinnt dieser «Formungsprozess» einer Zeugenaussage dabei sowohl in Strafverfahren mit Unmittelbarkeits- als auch in Strafverfahren mit Mittelbarkeitsgrundsatz. Von einem materiell wirksamen Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber einem Belastungszeugen zu sprechen, muss bedeuten, ihm auf diesen gesamten Formungsprozess einer Zeugenaussage – mithin durchgängig durch das gesamte Strafverfahren – einen wirksamen Einfluss einzuräumen, was einen Einfluss auf die Entstehung der Zeugenaussage und/oder jedenfalls auf die Bewertung der Zeugenaussage einschliesst und nach einem solchen verlangt. Dazu zählt auch, dass es dem Angeklagten möglich sein muss, mittels seiner Zeugenkonfrontation einer einseitig belastend durchgeführten Zeugenbefragung (im Ermittlungs-, Haupt- und Rechtsmittelverfahren) durch die anklagende Seite und das Gericht wirksam entgegenzutreten und/oder, dass der Angeklage dem Gericht jedenfalls aufzeigen können muss, dass es infolge (bewusst oder unbewusst) einseitig belastend geführter Zeu1934
Siehe dazu die näheren Ausführungen unter Kap. 5 II.
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genbefragungen (im Ermittlungs-, Haupt- und Rechtsmittelverfahren) durch die anklagende Seite und das Gericht zu sachverhaltsverengenden Ermittlungen unter nicht genügender Beachtung von angeklagtenentlastenden Sachverhaltsvarianten gekommen ist. Mitangesprochen sind hier zugleich die aussagepsychologischen Erkenntnisse zum konfirmatorischen Hypothesentesten.1935 680
Der EGMR spricht zwar davon, dass dem Angeklagten im Laufe des Gesamtverfahrens grundsätzlich nur eine einmalige Konfrontationsmöglichkeit einzuräumen ist.1936 Jedoch muss dem Angeklagten – nimmt der Gerichtshof seinen Anspruch auf materiell wirksam gewahrte Menschenrechte im Strafverfahren ernst – durch diese einmalig gewährte Zeugenkonfrontation im Ergebnis auch eine materiell wirksame Verwirklichung des Konfrontationsrechts gegeben worden sein.1937 Dieser Anspruch auf ein materiell wirksam gewahrtes Konfrontationsrecht ist es dabei auch, der sich als Ansatz- und Beurteilungspunkt für die Frage ausweist, ob sich über die gewährte einmalige Konfrontationsmöglichkeit hinaus weitere zusätzlich einzuräumende Konfrontationsmöglichkeiten für ein faires, eine wirksame Verteidigung wahrendes Strafverfahren als erforderlich erweisen und entsprechend dem Angeklagten zu gewähren sind, eben weil sich nachweisen lässt, dass die ursprünglich einmalige Konfrontation keine hinreichende Möglichkeit für eine tatsächlich materiell wirksame Infragestellung des belastenden Zeugenbeweises und seiner Glaubwürdigkeit geboten hat.1938 1935 1936
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Siehe dazu unter Kap. 5 A. II. 5. Siehe dazu stellungnehmend aus dem Schrifttum etwa VILLIGER, S. 305 N 477; ESSER, S. 646; GAEDE, S. 279, 833. Siehe dazu aus der Rechtsprechung etwa EGMR, BRICMONT v. BELGIUM, 07.07.1989, A158, § 79; besonders deutlich bringt dies BGE 116 Ia 289, S. 292 zum Ausdruck: „… Wenn auch die Rechtsprechung somit eine nur einmalige Gelegenheit zur Stellungnahme als genügend ansieht, so steht die Zulässigkeit dieser Beschränkung doch unter dem Vorbehalt, dass der Angeschuldigte mit dieser Gelegenheit seine Verteidigungsrechte auch tatsächlich wirksam ausüben konnte. Wie die übrigen in Ziff. 3 von Art. 6 EMRK gewährleisteten Garantien ist auch das in lit. d enthaltene Recht auf Befragung der Belastungszeugen Ausfluss und Konkretisierung des Anspruchs des Angeklagten auf ein faires Verfahren; es ist daher immer im Zusammenhang mit Art. 6 Ziff. 1 zu sehen …“ (Hervorhebung Demko); dies ist ebenso deutlich im Schrifttum hervorgehoben etwa von GAEDE, S. 833: „muss die einmalige Konfrontation stets geeignet und angemessen sein, sie muss sich als effektive Eröffnung des Konfrontationsrechts erweisen“ (Hervorhebung Demko); KRAUSS, V-Leute, S. 108 ff.; WOHLERS, GA 2005, S. 33; deutlich auch HAEFLIGER/SCHÜRMANN, S. 240: „so genügt das den Anforderungen der Konvention nur, wenn er dabei seine Verteidigungsrechte auch tatsächlich wirksam ausüben konnte“. Siehe zu dem Erfordernis von mehrfachen, wiederholten Konfrontationen etwa GAEDE, S. 833 ff., welcher drei mögliche Fallgruppen aufzeigt, in denen sich wiederholte
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Nimmt man das Unfertige und Formbare einer Zeugenaussage sowie die möglichen Wahrnehmungs-, Erinnerungs- und Wiedergabeeinbussen bei Zeugenbeweisen in den Blick, so hat es für ein wirksam gewährtes Konfrontationsrecht einerseits darum zu gehen, dass dem Angeklagten möglichst früh – im Idealfall bereits bei der allerersten Zeugenvernehmung – eine Konfrontation ermöglicht ist, um schon etwaigen falschen, weil einseitigen Weichenstellungen zu Beginn der Untersuchungen Einhalt zu gebieten und die noch frischen, möglichst unbeeinflussten Erinnerungen des Zeugen nutzen zu können. Andererseits geht es für ein wirksames Konfrontationsrecht aber auch darum, dass dem Angeklagten für den gesamten fortlaufenden Zeugenaussage-Formungsprozess im Ermittlungs-, Haupt- und Rechtmittelverfahren ein wirksames Infragestellen des belastenden Zeugenbeweises zu gewährleisten ist, was (auch) das Erfordernis von weiteren wiederholten Konfrontationsmöglichkeiten beim Auftauchen neuer belastender Aussagemomente anspricht. Ist der Formungsprozess einer Zeugenaussage mit der Möglichkeit inhaltlicher Erweiterungen und/oder Verengungen ein solcher, der sich über das gesamte Strafverfahren vollzieht oder sich vollziehen kann, so hat sich auch das Konfrontationsrecht für seine materiell wirksame Gewähr auf diesen Formungsprozess als «Gesamten» erstrecken zu können. Dies nun wiederum ist der entscheidende Beurteilungspunkt und mit diesem ist es die weite, das Gesamtverfahren in den Blick nehmende Sichtweise, wie sie auch vom EGMR repetiert wird, auf die es für die Frage eines materiell wirksamen Konfrontationsrechts massgeblich ankommt. Nicht hingegen ist es die formelle bzw. die blosse «Form»-Frage nach der Unmittelbarkeit oder Mittelbarkeit als den Gestaltungsvarianten des Strafverfahrens als solche, die allein schon als Antwort für ein materiell wirksames Konfrontationsrecht ausreichen kann: Denn allein die sich auf die Form beziehende Entscheidung für ein Strafverfahren entweder mit Unmittelbarkeits- oder mit Mittelbarkeitsgrundsatz führt nicht gleichsam automatisch und zwingend die Antwort für ein auch materiell wirksames Konfrontationsrecht mit sich, eben weil – wie gezeigt – in beiden Gestaltungsvarianten eines Strafverfahrens den ZeugenaussageFormungsprozess negativ beeinflussende Störfaktoren zu Tage treten können.
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Sichtbar machen die vorangehenden Ausführungen: Anzulegen ist für den zeitlichen Schutzbereich des Konfrontationsrechts – ebenso wie für den persönlichen und sachlichen Schutzbereich – eine weite und materielle Sichtwei-
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Konfrontationen als notwendig zeigen können; siehe auch ESSER, S. 646: erneute Konfrontation „jedenfalls dann erforderlich“, wenn eine Erhebung „neue(r) Vorwürfe gegen den Beschuldigten“ gegeben ist oder „neue belastende Angaben“ gemacht worden sind (Hervorhebung Demko); GOLLWITZER, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR, S. 405 N 219: kein Recht auf wiederholte Befragung bei „unveränderter Beweislage“.
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se, die sich auf das Gesamtverfahren sowie auf jedes1939 – ursprünglich neue wie auch neu hinzutretende – belastende Aussagemoment bezieht,1940 das in den strafprozessualen Wahrheitsermittlungsprozess eingeflossen ist und dem Gericht vorliegt und welchem daher auch der Angeklagte wirksam entgegentreten können muss.1941 Sowohl der Gefahr einer zu frühen Sachverhaltsverengung als auch der Gefahr späterer Sachverhaltsverengungen, mithin insgesamt der Gefahr von einseitig belastenden Sachverhaltsformungen durchweg durch das gesamte Strafverfahren, gilt es im Zusammenhang mit dem Zeugenbeweis durch das Konfrontationsrecht wirksam entgegenzutreten: So kann sich im Strafverfahren die Frage stellen, ob dem Angeklagten ein hinreichender und gleichwertiger Einfluss schon auf den anfänglichen Formungsprozess der Zeugenaussage – welcher zumeist im Ermittlungsverfahrens liegt, aber auch erst in der Hauptverhandlung liegen kann – eingeräumt wurde, ist doch bei einer erst späten oder gar zu späten Einräumung des Konfrontationsrechts (etwa erstmals in der Hauptverhandlung oder gar erstmals im Rechtsmittelverfahren) die Gefahr zu bedenken, dass der Formungsprozess der Zeugenaussage schon bezüglich der ursprünglichen Weichenstellung bzw. des Ausgangspunktes der Zeugenaussageentstehung einseitig angeklagtenbelastend geführt wurde, während etwaige angeklagtenentlastende Sachverhaltselemente von vornherein gar nicht oder zumindest nicht gleichwertig in den Blick genommen worden sind. Jener Gefahr einer zu frühen, den Angeklagten belastenden Sachverhaltsverengung durch ein nicht gleichwertiges Mitwirkenkönnen des Angeklagten an der Entstehung der allerersten sowie der weiteren «noch frischen» Zeugenaussagen (zumeist im Ermittlungsverfahren) steht eine weitere Gefahr zur Seite. Angesprochen ist die ebenso zu beachtende Gefahr von späteren Fortentwicklungen und Veränderungen der Zeugenaussage im Laufe des Strafverfahrens (etwa in der Hauptverhandlung oder im Rechtsmittelverfahren), bezüglich derer dem Angeklagten unter Berufung auf das bereits früher (etwa im Ermittlungsverfahren) einmalig gewährte Konfrontationsrecht eine gleichwertige Einflussnahme versagt bleiben würde, wenn er den Zeugen nicht noch einmal (etwa in der Hauptverhandlung oder im Rechtsmittelverfahren) befragen dürfte. Nicht zuletzt ist auch an die Gefahr zu denken, dass der im Ermittlungsverfahren ohne den Angeklagten 1939
1940
1941
440
Siehe aus der Rechtsprechung des EGMR etwa EGMR, BRICMONT v. BELGIUM, 07.07.1989, A158, §§ 79, 81, 83: „… the exercise of the rights of the defence – an essential part of the right to a fair trial – required in principle that the applicants should have an opportunity to challenge any aspect of the complainant’s account during a confrontation or an examination, either in public or, if necessary, at his home …“ (Hervorhebung Demko). Siehe auch die drei Fallgruppen, die Gaede mit Blick auf wiederholte Zeugenkonfrontationen entwickelt, GAEDE, S. 833 ff. Siehe dazu auch ESSER, S. 644.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
vernommene Belastungszeuge für die an sich vorgesehene spätere Zeugenkonfrontation durch den Angeklagten in der gerichtlichen Hauptverhandlung (z.B. aufgrund von Krankheit oder Tod) ausfällt und nicht mehr zur Verfügung steht, so dass der Angeklagte diesen Zeugen im Laufe des Gesamtverfahrens überhaupt nicht konfrontativ befragen konnte.1942 Diese hier nur beispielhaft angeführten Gefahren für frühe sowie spätere Sachverhaltsverengungen im Laufe des gesamten Strafverfahrens zeigen, dass und wie sowohl Strafverfahren mit Unmittelbarkeits- als auch Strafverfahren mit Mittelbarkeitsgrundsatz mit Nachteilen und Risiken für ein wirksam aussübbares Konfrontationsrecht verbunden sein können. Sämtlichen dieser Gefahren, die sich, wenn auch u.U. mit anderer Schwerpunktsetzung, in Strafverfahren mit sowohl dem Unmittelbarkeits- als auch dem Mittelbarkeitsgrundsatz ergeben können, gilt es für ein materiell wirksam gewahrtes Konfrontationsrecht entgegenzutreten: Für ein solches ist zu verlangen, dass dem Angeklagten bezüglich aller ihn belastenden, in das Strafverfahren eingeführten Aussagemomente1943 – seien es die allerersten der ursprünglichen Zeugenaussage oder seien es neue weitere, welche erst im Laufe des späteren Verfahrens zum Vorschein kommen – eine wirksame Zeugenkonfrontation einzuräumen ist. Das vom EGMR zu recht betonte Abstellen auf das Gesamtverfahren mit der anerkannten Gleichwertigkeit der verschiedenen Verfahrensabschnitte lässt mithin eine anzulegende weite Sichtweise erkennen,1944 welche nicht verengend (mit dem Unmittelbarkeitsgrundsatz) einseitig nur die gerichtliche Hauptverhandlung oder (mit dem Mittelbarkeitsgrundsatz) einseitig nur das Ermittlungsverfahren in den Blick nimmt und sich mit diesen einzelnen Verfahrensabschnitten jeweils begnügt. Vielmehr geht es darum, dass dem Angeklagten auf den gesamten Formungsprozess der Zeugenaussage, welcher sich im Laufe des gesamten Strafverfahrens vollziehen kann, ein wirksamer antithetischer Einfluss – sei es auf die Entstehung und/oder die Bewertung der Zeugenaussage – eingeräumt wird, was, je nachdem, wie und in welchen Verfahrensabschnitten sich diese Aussageformung vollzieht, nach einer oder auch nach mehreren Konfrontationsmöglichkeit(en) im Ermittlungsverfahren und/oder in der Hauptverhand-
1942 1943
1944
Dazu auch GOLLWITZER, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR, S. 410 N 227a. Der hier verwendete Begriff der neuen belastenden «Aussagemomente» wird in einem umfassenden Sinne verstanden und schliesst u.a. sowohl neue Tatvorwürfe als auch neue belastende Angaben und Aussagen wie auch neue Beurteilungs- und Bewertungslagen bezüglich der früheren Zeugenaussage und/oder der Zeugenperson ein; siehe in diese Richtung ebenso GAEDE, S. 833 ff. und ESSER, S. 646. In diese Richtung auch GOLLWITZER, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR, S. 408 N 225: „im Rahmen des Gesamtverfahrens“.
441
683
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
lung/im Rechtsmittelverfahren verlangen kann.1945 Jedes einzelne in das Strafverfahren eingeführte belastende Zeugenaussagemoment verlangt nach der Möglichkeit einer mittels des Konfrontationsrechts ausübbaren materiell wirksamen Infragestellung durch den Angeklagten. Dies bedeutet, dass eine einmalige Konfrontation genügen kann, wenn mit dieser alle belastenden Aussagemomente, die dem Gericht zur Urteilsfindung vorliegen, wirksam in Frage gestellt werden konnten, hingegen dann nicht genügt, wenn weitere neue Aussagemomente im Laufe des Verfahrens ans Licht kommen, welche vom Angeklagten mit seiner vorangegangenen Konfrontation nicht wirksam angezweifelt werden konnten und welche daher nach einer erneuten, wiederholten Konfrontationsmöglichkeit verlangen. b) 684
Das Protokollierungserfordernis in dessen Bedeutung für das Konfrontationsrecht
Das Konfrontationsrecht hinsichtlich des zeitlichen Schutzbereichs auf den Gesamtformungsprozess der Zeugenaussage zu beziehen und mit diesem auf das Gesamtverfahren zu erstrecken,1946 verweist auf einen weiteren für ein tatsächlich materiell wirksam gewährtes Konfrontationsrecht wichtigen Gesichtspunkt, nämlich auf den der Protokollierung der Zeugenvernehmungen und -befragungen. Wird dem Angeklagten entsprechend der ihm grundsätzlich nur einmal im Gesamtverfahren zu gewährenden Konfrontation des Belastungszeugen nicht die Teilnahme an einer bestimmten und an allen von den Strafverfolgungsbehörden1947 (möglicherweise mehrfach) durchgeführten Zeugenvernehmung(en) im Ermittlungs-, Haupt- und Rechtsmittelverfahren gestattet, dann bedeutet dies, dass der Angeklagte, aber auch das Gericht von diesen ohne den Angeklagten stattfindenden Zeugenvernehmungen nur über die Protokolle oder über anderweitige Aufzeichnungen erfahren. Kommt es im Anschluss an ohne den Angeklagten durchgeführte Zeugenvernehmungen durch die Strafverfolgungsbehörden – etwa durch die Polizei – zu einer Zeugenvernehmung, an der der Angeklagte teilnehmen und bei der er den Belas1945
1946
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442
Siehe auch VILLIGER, S. 305 N 477: keine wiederholte Zeugenkonfrontation im Rechtsmittelverfahren, „wenn das Gericht nicht auf neue belastende Aussagen abstellt“; GOLLWITZER, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR, S. 405 N 219. In diese Richtung siehe auch GRABENWARTER, S. 364 N 65: Möglichkeit der Infragestellung der Authentizität und Verwendung von Beweismitteln „in allen Verfahrensstadien“ (Hervorhebung Demko). Siehe dazu auch KÜHNE, in: Karl (Hrsg.), IntKommEMRK, 11. Lieferung, April 2009, Art. 6 N 580: „zu irgendeinem Zeitpunkt im Laufe des Verfahrens“, hingegen sei aus Art. 6 III d EMRK nicht ableitbar ein Recht auf Anwesenheit bei Zeugenvernehmungen im Ermittlungsverfahren oder bei einer polizeilichen Zeugenvernehmung; GOLLWITZER, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR, S. 407 N 225: „in irgend einem Stadium des Verfahrens sachgerecht ausgeübt“; dazu auch näher ESSER, S. 646.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
tungszeugen konfrontieren kann, dann kann ihm das Protokoll der früheren Zeugenvernehmungen wichtige Erkenntnisse zur Verfügung stellen und ihm als Wissensgrundlage dienen für seine an den Belastungszeugen gerichteten Fragen, etwa zur Aufdeckung von Aussagewidersprüchen, zur Aufdeckung von andere Zweifel am Wahrheitsgehalt der Zeugenaussage weckenden Umständen oder zur Aufdeckung von suggestiven und einseitig belastend geführten Befragungen der Strafverfolgungsbehörden. Dies aber eben nur, wenn dieses Protokoll die früheren Zeugenaussagen und auch die an den Belastungszeugen gerichteten Fragen vollumfänglich und lückenlos darstellt, gleichsam «eins zu eins» abbildet. Angesprochen sind das im Schrifttum seit langem betonte und für erforderlich gehaltene Wortprotokoll und/oder (u.U. sogar noch besser) eine Videoaufzeichnung der Zeugenvernehmung,1948 durch welche(s) Wort für Wort sowohl die an den Zeugen gerichteten Fragen1949 als auch dessen Antworten aufgenommen sowie die gesamte Vernehmungs- und Fragesituation lückenlos dargestellt werden: Denn nur eine solche «Eins zu Eins»-Wissensgrundlage ist eine solche, die dem Angeklagten alles das an Wissen vermittelt, was er seinerseits bei seinen späteren Zeugenkonfrontationen als Anknüpfungspunkt nutzen kann, um Zweifel an der früheren Entstehung des Zeugenaussageinhalts (etwa durch bewusste oder unbewusste suggestive Beeinflussungen des Zeugen infolge einseitig und konfirmatorisch geführter Zeugenbefragungen), um Zweifel an dem Zeugenaussageinhalt selbst und/oder um Zweifel an der Zeugenperson (etwa bezüglich der Wahrnehmungs-, Erinnerungs- und Wiedergabefähigkeit) zu wecken.1950
685
Dieses erforderliche umfassende Wissen zu allen Fragen und Antworten bei der Zeugenvernehmung und zu der gesamten Vernehmungs- und Fragesituation wird dem Angeklagten jedoch genommen, wenn auf Wortprotokolle und Videoaufzeichnungen verzichtet wird und wenn nur sogenannte wesentliche, entscheidende Inhalte der Zeugenaussage vom Protokollführer zusammengefasst1951 und – u.U. sogar verbunden mit möglichen Übersetzungen aus ande-
686
1948
1949 1950
1951
Siehe etwa BRÜSCHWEILER, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 78 N 4 ff.; siehe zudem die Ausführungen von DONATSCH, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, Vorbem. §§ 128 ff. N 69. Zutreffend dazu BRÜSCHWEILER, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 78 N 6. Zur wichtigen Bedeutung der Protokollierung „(g)erade bei der Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Aussagen“ (N 6, kursive, im Originaltext fettgedruckte Hervorhebung: Brüschweiler) siehe näher zutreffend BRÜSCHWEILER, in: DONATSCH/ HANSJAKOB/LIEBER, Art. 78 N 4 ff. Siehe etwa Art. 78 Abs. 2 und 3 chStPO: «wesentliche Aussagen» (Abs. 2), «entscheidende Fragen und Antworten» (Abs. 3); zur damit verbundenen Gefahr siehe zutreffend BRÜSCHWEILER, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 78 N 6, wonach es
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
ren Sprachen/Dialekten1952 – niedergeschrieben werden und/oder wenn sogar auf das Mitprotokollieren der Fragen verzichtet wird.1953 Durch eine solche Wissenslücken verursachende Protokollführung, wie sie mit dem Verzicht auf Wortprotokolle und Videoaufzeichnungen einhergeht, ist nicht nur schon dem Gericht selbst eine entscheidende Wissensgrundlage für seinen Wahrheitsermittlungsprozess und die Beurteilung der Glaubwürdigkeit des belastenden Zeugenbeweises genommen, sondern auch dem Angeklagten sind entscheidende Anknüpfungspunkte für ein In-Zweifel-Ziehen-Können der Glaubwürdigkeit des belastenden Zeugenbeweises vorenthalten: Dies bedeutet sowohl eine Einschränkung des sachlichen Schutzbereichs des Konfrontationsrechts, können doch ohne entsprechendes Wissen auch etwaig damit verbundene Fragen an den Zeugen nicht gestellt werden,1954 als auch schlägt sich dies eng damit verbunden auf den zu beachtenden zeitlichen Schutzbereich nieder. Denn kommt es im Anschluss an nicht wörtlich protokollierte und nicht videoaufgezeichnete Zeugenvernehmungen zu der dem Angeklagten grundsätzlich einmal im Gesamtverfahren zu gewährenden Zeugenkonfrontation (oder auch u.U. zu wiederholten Zeugenkonfrontationen im Gesamtverfahren), dann kann mehr als fraglich sein, ob diese dem Angeklagten tatsächlich ein materiell wirksames Konfrontationsrecht gewährt, wenn und da doch dem Angeklagten das dafür notwendige Wissen mangels «Eins zu Eins»-Protokollierungen oder Videoaufzeichnungen vorenthalten worden ist.1955
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1953
1954 1955
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auf der Hand liege, dass „nicht alle Beteiligten diesselben Fragen und Antworten als entscheidend qualifizieren“ werden. Siehe dazu BRÜSCHWEILER, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 78 N 4; DONATSCH, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, Vorbem. §§ 128 ff. N 69. Zu den damit verbundenen Gefahren siehe näher und deutlich BRÜSCHWEILER, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 78 N 6: da „die Antworten durch die Art und Weise der Fragestellung … massgeblich beeinflusst werden“, sei die Wiedergabe der Fragen im Protokoll „für das spätere Verständnis der Aussagen entscheidend“ sowie ebenso hinweisend auf den Schutz für die Strafverfolgungsbehörden vor dem Vorwurf einer nicht korrekt durchgeführten bzw. auf die befragte Person Druck ausübenden Einvernahme. Siehe dazu näher beim sachlichen Schutzbereich unter Kap. 5 B. I. 3. Siehe auch bereits die zutreffenden Hinweise von Donatsch für den Fall nicht wörtlicher Protokollierungen, DONATSCH, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, Stand: Juni 2000, Vorbem. §§ 128 ff. N 69: „unbewusst deren Inhalt zu verfremden“ und „dass das Protokoll nicht mit der Zeugenaussage gleichgesetzt werden darf, sondern häufig ein mehr oder weniger durch Auslassungen, Umformulierungen und semantische Implikationen subjektiv gefiltertes Abbild der Zeugenaussage darstellt“.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
3.
Sachlicher Schutzbereich des Konfrontationsrechts
a)
Das Konfrontationsrecht und dessen Teilrechte auf der Ausübungsebene in der Rechtsprechung des EGMR
In ständiger Rechtsprechung betont der EMGR, dass „… an accused should be given an adequate and proper opportunity to challenge and question a witness against him …“.1956 Seinen Ausführungen stellt der Gerichtshof die Formulierung voran, dass „… (I)n principle, all the evidence must be produced in the presence of the accused at a public hearing with a view to adversarial argument ...“,1957 und hebt hinsichtlich der stets zu wahrenden Verteidigungsrechte („provided the rights of the defence have been respected“1958) hervor:
687
„… As a rule, these rights require that an accused should be given an adequate and proper opportunity to challenge and question a witness against him, either at the time the witness was making his statement or at some later stage of the proceedings …“1959
688
Seine Ausführungen machen dabei eine Verknüpfung zwischen dem Wesensgehalt des Konfrontationsrechts und den zur Gewähr dieses Wesensgehaltes auf der Ausübungsebene erforderlichen Teilrechten bzw. Ausübungsrechten des Konfrontationsrechts sichtbar: Bereits im Rahmen der Ausführungen zum die Inhaltsebene betreffenden Wesensgehalt des Konfrontationsrechts wurde aufgezeigt, dass die hier betonte, dem Angeklagten zu gewährende Möglichkeit des Überprüfens, In-Zweifel-Ziehens und Infragestellens der Glaubwürdigkeit des belastenden Zeugenbeweises zu ihrer wirksamen Verwirklichung auf der Ausübungsebene danach verlangt, dass dem Angeklagten die Kenntnis von der Zeugenidentität («awareness of the identity of the person»1960), die Wahrnehmung des Zeugen(verhaltens) während der Befragung („observing
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1956
1957
1958
1959
1960
EGMR, KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 02.11.1989, A166, § 41 (Hervorhebung Demko). EGMR, KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 20.11.1989, A166, § 41 (Hervorhebung Demko). EGMR, KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 20.11.1989, A166, § 41 (Hervorhebung Demko). EGMR, KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 20.11.1989, A166, § 41 (Hervorhebung Demko). Siehe dazu EGMR, KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 02.11.1989, A166, § 42, wo es dem Angeklagten infolge der Zeugenanonymität an dieser Kenntnis der Identität des Zeugen gerade fehlt: „… the defence is unaware of the identity of the person it seeks to question …“ (Hervorhebung Demko). Dies wirkte sich mangels Informationen über die Zeugenperson auch auf ein entsprechend nur eingeschränkt mögliches Stellenkönnen von Fragen an den anonymen Belastungszeugen aus, siehe dazu § 42 sowie sogleich im Haupttext; siehe auch EGMR, WINDISCH v. AUSTRIA, 27.09.1990, A 186, § 28.
445
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
their demeanour under questioning“1961) sowie das Stellen-Können von Fragen an den Belastungszeugen („to question“1962) einzuräumen sind.1963 690
Die zwischen dem Recht auf Kenntnis der Zeugenidentität und dem Recht auf ein Fragen-Stellen-Können an den Belastungszeugen bestehende Verbindung und das Zusammenspiel dieser Ausübungsrechte mit dem materiell wirksamen In-Zweifel-Ziehen-Können der Glaubwürdigkeit des belastenden Zeugenbeweises kamen etwa in den Fällen KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS und WINDISCH v. AUSTRIA zum Ausdruck. Deutlich wurde, dass ohne hinreichendes Wissen in Gestalt fehlender Kenntnisse zur Identität der Zeugenperson auch das Recht, Fragen an diesen (unbekannten) Belastungszeugen zu stellen, eingeschränkt ist. In WINDISCH v. AUSTRIA heisst es insofern:
691
„… the nature and scope of the questions that could be put in either of these ways were, in the circumstances of the case, considerably restricted by reason of the decision to preserve the anonymity of these two persons … Being unaware of their identity, the defence was confronted with an almost insurmountable handicap: it was deprived of the necessary information permitting it to test the witnesses’ reliability or cast doubt on their credibility …“1964
692
Deutlich betont der EGMR ebenso im Fall KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS mit Blick auf die aufgrund der Zeugenanonymisierung hier nicht eingeräumte Kenntnis der Zeugenidentität, dass infolge entsprechend fehlender Informationen auch das Vorbringen antithetischer Erkenntnisse durch das Stellenkönnen von Fragen an den anonymen Belastungszeugen zur Erschütterung von dessen Glaubwürdigkeit eingeschränkt und es dem Angeklagten infolge jener mangelnden Informationen kaum möglich sei, eine möglicherweise bestehende Voreingenommenheit, Feindseligkeit oder Unglaubwürdigkeit der befragten Person sowie vorsätzlich-unwahre oder einfach irrigefehlerhafte Zeugenaussagen oder andere, den Angeklagten beschuldigende Erklärungen ans Licht zu bringen («to bring this to light»):
693
„… the nature and scope of the questions it could put in either of these ways were considerably restricted by reason of the decision that the anonymity of the authors of the statements should be preserved … The latter feature of the case compounded the difficulties facing the applicant. If the defence is unaware of the identity of the person
1961
1962
1963 1964
446
EGMR, KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 02.11.1989, A166, § 43 (Hervorhebung Demko). EGMR, KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 02.11.1989, A166, § 42 (Hervorhebung Demko); dem Recht, in wirksamer Weise Fragen an den Belastungszeugen zu stellen, wurde auch in WINDISCH v. AUSTRIA eine grosse Bedeutung eingeräumt, siehe näher EGMR, WINDISCH v. AUSTRIA, 27.09.1990, A 186, § 28. Siehe dazu bereits die näheren Ausführungen unter Kap. 5 A. I. EGMR, WINDISCH v. AUSTRIA, 27.09.1990, A 186, § 28 (Hervorhebung Demko).
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen it seeks to question, it may be deprived of the very particulars enabling it to demonstrate that he or she is prejudiced, hostile or unreliable. Testimony or other declarations inculpating an accused may well be designedly untruthful or simply erroneous and the defence will scarcely be able to bring this to light if it lacks the information permitting it to test the author’s reliability or cast doubt on his credibility. The dangers inherent in such a situation are obvious …“1965
Neben dem Recht auf Kenntnis der Zeugenidentität wurden das Recht auf Wahrnehmung des Zeugen(verhaltens) während der Befragung und dessen Verknüpfung mit dem Recht, dem Belastungszeugen Fragen stellen zu können, etwa im Fall VAN MECHELEN AND OTHERS v. THE NETHERLANDS als Teil(ausübungsrecht) des Konfrontationsrechts des Angeklagten betont:
694
„… In the present case, the police officers in question were in a separate room with the investigating judge, from which the accused and even their counsel were excluded. All communication was via a sound link. The defence was thus not only unaware of the identity of the police witnesses but were also prevented from observing their demeanour under direct questioning, and thus from testing their reliability … It is true … that the anonymous police officers were interrogated before an investigating judge, who had himself ascertained their identity and had, in a very detailed official report of his findings, stated his opinion on their reliability and credibility as well as their reasons for remaining anonymous. However these measures cannot be considered a proper substitute for the possibility of the defence to question the witnesses in their presence and make their own judgment as to their demeanour and reliability.“1966
695
Nicht zuletzt kommt die besondere1967 Bedeutung gerade des dem Angeklagten einzuräumenden Rechts, dem Belastungszeugen Fragen stellen zu können, nicht nur schon in der vom EGMR in ständiger Rechtsprechung repetierten Formulierung von der „adequate and proper opportunity to challenge and
696
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1967
EGMR, KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 02.11.1989, A166, § 42 (Hervorhebung Demko). EGMR, VAN MECHELEN AND OTHERS v. THE NETHERLANDS, 23.04.1997, Reports 1997-III, §§ 59, 62 (Hervorhebung Demko); siehe auch EGMR, P.S. v. GERMANY, 20.12.2001, Application Nr. 33900/96, § 26: „… The Court notes that at no stage of the proceedings has S. been questioned by a judge, nor did the applicant have any opportunity of observing the demeanour of this witness under direct questioning, and thus from testing her reliability …“ (Hervorhebung Demko); zur Auseinandersetzung mit dem Fall VAN MECHELEN AND OTHERS v. THE NETHERLANDS siehe näher auch ESSER, S. 668 ff. Zur dieser besonderen Bedeutung des Fragerechts im engen Sinne, die dieses als das Hauptausübungsrecht des Konfrontationsrechts ausweist, siehe sogleich unter Kap. 5 B. I. 3. b).
447
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
question a witness against him …“1968 zum Ausdruck.1969 Deutlich ausgedrückt ist diese besondere Bedeutung vielmehr ebenso mit dem vom EGMR betonten Erfordernis eines «direct questioning»1970 bzw. einer „possibility of the defence to question the witnesses in their presence“,1971 wie es nicht nur schon in den bereits beispielhaft angeführten Entscheidungen, sondern auch etwa in den Fällen ASCH v. AUSTRIA,1972 LÜDI v. SWITZERLAND und DOORSON v. THE NETHERLANDS1973 sichtbar und explizit ausgesprochen ist. In der Entscheidung LÜDI v. SWITZERLAND heisst es insofern: 697
„… In the Commission’s opinion, with which the Court agrees, Mr Lüdi first made admissions after he had been shown the transcripts of the telephone interceptions, and he was deprived throughout the proceedings of any means of checking them or casting doubt on them … neither the investigating judge nor the trial courts were able or will1968
1969
1970
1971
1972
1973
448
EGMR, KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 02.11.1989, A166, § 41 (Hervorhebung Demko). Zur Kritik an der vom EGMR gewählten Formulierung, welche die Möglichkeit zu «challenge» und zu «question» schlicht nebeneinander stellt, ohne zu differenzieren, dass der erste Gesichtspunkt die Inhalts- und der zweite Gesichtspunkt die Ausübungsebene betrifft, siehe bereits unter Kap. 5 A. I. 1. Siehe etwa EGMR, VAN MECHELEN AND OTHERS v. THE NETHERLANDS, 23.04.1997, Reports 1997-III, § 59; EGMR, P.S. v. GERMANY, 20.12.2001, Application Nr. 33900/96, § 26. EGMR, VAN MECHELEN AND OTHERS v. THE NETHERLANDS, 23.04.1997, Reports 1997-III, § 62 (Hervorhebung Demko). EGMR, ASCH v. AUSTRIA, 26.04.1991, A203, §§ 29, 31: „… Mr Asch had the opportunity to discuss Mrs J.L.’s version of events and to put his own, first to the police and later to the court. However, on each occasion he gave a different version, which tended to undermine his credibility … The fact that it was impossible to question Mrs J.L. at the hearing did not therefore, in the circumstances of the case, violate the rights of the defence; it did not deprive the accused of a fair trial. Accordingly, there has been no breach of paragraphs 1 and 3 (d) of Article 6 … taken together …“ (Hervorhebung Demko). EGMR, DOORSON v. THE NETHERLANDS, 26.03.1996, Reports 1996-II, §§ 7375: „… In the instant case the anonymous witnesses were questioned at the appeals stage in the presence of counsel by an investigating judge who was aware of their identity … even if the defence was not. She noted, in the official record of her findings dated 19 November 1990, circumstances on the basis of which the Court of Appeal was able to draw conclusions as to the reliability of their evidence … In this respect the present case is to be distinguished from that of Kostovski … Counsel was not only present, but he was put in a position to ask the witnesses whatever questions he considered to be in the interests of the defence except in so far as they might lead to the disclosure of their identity, and these questions were all answered … While it would clearly have been preferable for the applicant to have attended the questioning of the witnesses …“ (§§ 73, 74, Hervorhebung Demko); siehe zur Auseinandersetzung mit dem Fall DOORSON v. THE NETHERLANDS auch ESSER, S. 666 ff.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen ing to hear Toni as a witness and carry out a confrontation which would enable Toni’s statements to be contrasted with Mr Lüdi’s allegations; moreover, neither Mr Lüdi nor his counsel had at any time during the proceedings an opportunity to question him and cast doubt on his credibility …“1974
b)
Die mit den Ausübungsrechten des Konfrontationsrechts verbundenen Momente des Wissens, des Wahrnehmens und des sprachlichen Handelns in Gestalt des Fragens
Mit dem Recht auf Kenntnis der Zeugenidentität, dem Recht auf Wahrnehmung des Zeugen(verhaltens) während der Zeugenbefragung und dem Fragerecht im engen, eigentlichen Sinne, das das Stellen der Fragen an den Belastungszeugen an sich meint, sind wichtige Grundmomente des sachlichen Schutzbereichs des Konfrontationsrechts des Angeklagten angesprochen und jene Rechte geben sich als die – wenn auch nicht abschliessenden – die Ausübungsebene des Konfrontationsrechts betreffenden Teilrechte bzw. als Ausübungsrechte des Konfrontationsrechts zu erkennen.1975 Diese Ausübungsrechte verweisen dabei auf drei sich auf die Ausübungsebene des Konfrontationsrechts beziehende Grundmomente in Form des Grundmoments des Wissens, des Wahrnehmens und des sprachlichen Handelns in Gestalt des Fragens. Für ein optimal, d.h. uneingeschränkt gewährtes Konfrontationsrecht sind diese Ausübungsrechte nicht nur jeweils mit dem Erfordernis einer «Unvermitteltheit» und «Direktheit» verbunden,1976 sondern sind zugleich kumulativ zu gewähren, um das Konfrontationsrecht «am besten», «am wirkungsvollsten» ausüben zu können. Nimmt man das Innen-Verhältnis in den Blick, in welchem jene Ausübungsrechte auf der Ausübungsebene des Konfrontationsrechts zueinander stehen, so ist hier das Verhältnis einer Über- und Unterordnung zu erkennen: Das Fragerecht im engen Sinne weist sich als das für das Konfrontationsrecht auf der Ausübungsebene entscheidende bzw. als das Hauptausübungsrecht aus und zur wirksamen Ausübung dieses Fragerechts im engen Sinne haben die anderen Ausübungsrechte – wie (z.B.) das Recht auf Kenntnis der Zeugenidentität und das Recht auf Wahrnehmung des Zeugen(verhaltens) während der Zeugenbefragung – unterstützend, helfend und begleitend hinzuzutreten.
698
Mit dem Grundmoment der Wahrnehmung ist das Recht des Angeklagten erfasst, den Zeugen und sein gesamtes nonverbales Verhalten während der
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1974
1975
1976
EGMR, LÜDI v. SWITZERLAND, 15.06.1992, A 238, §§ 46, 49, Hervorhebung Demko. Siehe zu diesen Ausübungsrechten aus dem Schrifttum etwa WOHLERS, ZStrR 2005, 165 f.; GAEDE, S. 280; DEMKO, ZStrR 2004, S. 423. Zu dieser «Unvermitteltheit» und «Direktheit» siehe sogleich näher im nachfolgenden Haupttext.
449
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Zeugenbefragung, also etwa dessen Mimik, Gestik und Stimmführung, wahrzunehmen.1977 Nicht aber nur kann und darf sich dieses Wahrnehmungsrecht allein auf die Zeugenperson selbst beziehen, sondern es hat sich vielmehr darüber hinaus auf alle an der Zeugenbefragung beteiligten Personen und ihr verbales und nonverbales Verhalten sowie auf die gesamte Vernehmungsund Befragungssituation zu erstrecken. Denn eine Zeugenaussage ist – wie ausgeführt1978 – immer das Produkt, das Ergebnis der Kommunikations- und Interaktionssituation, in der sie entstanden ist, und dabei insbesondere das Produkt der Fragen und des mit diesen Fragen einhergehenden verbalen wie nonverbalen Frageverhaltens der an der Befragung beteiligten Personen. 700
Untrennbar verbunden mit dem Wahrnehmungsrecht – sowie mit den anderen Ausübungsrechten und hier insbesondere mit dem Fragerecht im engen Sinne – ist das Recht auf Anwesenheit des Angeklagten während der Zeugenbefragung („to take part in the hearing“,1979„right to be present, but also to hear and follow the proceedings“1980).1981 Es geht hier um das Recht des Angeklagten, im selben Raum wie die befragte Zeugenperson und die anderen an der Befragung Beteiligten physisch anwesend zu sein, so dass nicht nur die Befragung des Zeugen durch die anderen Beteiligten, sondern auch die Befra1977
Siehe dazu auch WOHLERS, ZStrR 2005, S. 165; DEMKO, ZStrR 2004, S. 423; WEHS. 67 ff.; JOSET/RUCKSTUHL, ZStrR 1993, S. 372 ff.; GAEDE, S. 280. Siehe dazu bereits unter Kap. 5 A. II. EGMR, COLOZZA v. ITALY, 12.02.1985, A89, § 27 (Hervorhebung Demko). EGMR, STANFORD v. THE UNITED KINGDOM, 23.02.1994, A282-A, § 26 (Hervorhebung Demko). Diese Verbindung ebenso herstellend SCHMID, S. 220 f. N 653, 653 a: „physisch anwesend sein“ (kursive, im Originaltext fettgedruckte Hervorhebung: Schmid); GAEDE, S. 280; ESSER, S. 721 ff.; GOLLWITZER, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR, S. 388 N 188, S. 404 N 219; VILLIGER, S. 303 N 473, S. 335 N 527; siehe aus der Rechtsprechung des EGMR etwa EGMR, COLOZZA v. ITALY, 12.02.1985, A89, § 27: „Although this is not expressly mentioned in paragraph 1 of Article 6 …the object and purpose of the Article taken as a whole show that a person "charged with a criminal offence" is entitled to take part in the hearing. Moreover, sub-paragraphs (c), (d) and (e) of paragraph 3 ... guarantee to "everyone charged with a criminal offence" the right "to defend himself in person", "to examine or have examined witnesses" and "to have the free assistance of an interpreter if he cannot understand or speak the language used in court", and it is difficult to see how he could exercise these rights without being present ...“ (Hervorhebung Demko); EGMR, STANFORD v. THE UNITED KINGDOM, 23.02.1994, A282-A, § 26: „… Nor is it in dispute that Article 6 (art. 6), read as a whole, guarantees the right of an accused to participate effectively in a criminal trial. In general this includes, inter alia, not only his right to be present, but also to hear and follow the proceedings. Such rights are implicit in the very notion of an adversarial procedure and can also be derived from the guarantees contained in subparagraphs (c), (d) and (e) of paragraph 3 of Article 6 …“ (Hervorhebung Demko). RENBERG,
1978 1979 1980
1981
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
gung des Zeugen durch den Angeklagten (und/oder dessen Verteidiger) in direkter physischer Gegenwart, in unmittelbarer Präsenz, eben im wahrsten Sinne des Wortes «face to face» durchgeführt werden kann.1982 Mit diesem Anwesenheitsrecht ist eine «Unvermitteltheit», ist eine «Direktheit» bezogen auf die räumliche physische Anwesenheitsebene verlangt, zu der – über diese unmittelbare physische Anwesenheit im selben Raum hinaus – mit dem Wahrnehmungsrecht aber eine weitere, sich auf die Wahrnehmungsebene beziehende «Unvermitteltheit» hinzutritt: Diese «Unvermitteltheit» betreff der Wahrnehmungsebene spricht den Gesichtspunkt an, dass der Angeklagte auch innerhalb des Raumes, in dem der Angeklagte, der Zeuge und die anderen Beteiligten physisch anwesend sind, die befragte Zeugenperson direkt wahrnehmen, d.h. ohne etwaige Abschirmungen und Verkleidungen sehen und ohne Stimmverzerrungen hören können muss. Zu dem Grundmoment des Wissens gehört als eines1983 der wichtigen Wissenselemente das Recht des Angeklagten auf Kenntnis der Zeugenidentität,1984 aber auch hier sind es weitere Wissenselemente, die für eine wirksame Zeugenbefragung über die Kenntnis der Zeugenidentität hinaus dem Angeklagten einzuräumen sind.1985 Erforderlich ist, dass dem Angeklagten alles an Wissen, das für ein tatsächlich wirksames In-Frage-Stellen-Können des Belastungszeugenbeweises und dessen Glaubwürdigkeit notwendig ist, zur Verfügung gestellt ist,1986 womit nicht nur zugleich das ihm einzuräumende Recht auf Akteneinsicht angesprochen ist,1987 sondern ebenso das Erfordernis von Wortprotokollierungen oder besser noch von Videoaufzeichnungen von Zeugenbe1982
1983
1984
1985 1986
1987
Siehe dazu auch ESSER, S. 669 in der Auseinandersetzung mit der Entscheidung VAN MECHELEN AND OTHERS v. THE NETHERLANDS, wonach der EGMR eine „direkte, unmittelbare Befragung des Zeugen durch und in Gegenwart des Beschuldigten oder seines Verteidigers („direct questioning“)“ verlange, Hervorhebung Demko. Siehe auch GAEDE, S. 280: „insbesondere“ sowie „Grundvoraussetzung“; WOHLERS, ZStrR 2005, S. 165: „(V)on zentraler Bedeutung …“ Siehe dazu bereits DONATSCH, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, Vorbem. §§ 128 ff. N 14 ff.; ESSER, S. 658, 664. Siehe dazu auch WALTHER, GA 2003, S. 217, 221 f. So auch GAEDE, S. 280, wonach der Schutzbereich eines effektiv ausübbaren Konfrontationsrechts voraussetze, dass der Beschuldigte „über die Informationen verfügt, die ihm eine eingehende Prüfung der Glaubwürdigkeit des Zeugen ermöglichen …“, siehe dazu zudem S. 829 f.: kein Zurückhaltendürfen von Informationen, die den Angeklagten „möglicherweise zu einer anderen Befragung bzw. Examinierung veranlasst hätten“ (S. 830); WOHLERS, ZStrR 2005, S. 165: „… über die Informationen verfügt, die es ihm ermöglichen, die Glaubwürdigkeit des Zeugen zu hinterfragen …“ Zum Recht auf Akteneinsicht und auf Offenlegung des Verfahrenstandes als vom Schutzbereich des Konfrontationsrechts erfasst siehe etwa WOHLERS, ZStrR 2005, S. 166; eingehend auch GAEDE, S. 830 ff.: „Mindestvoraussetzung“ (S. 832).
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701
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
fragungen, an denen der Angeklagte nicht teilnehmen konnte.1988 Auch hier hat es um eine «Unvermitteltheit», nunmehr bezogen auf die Wissensebene, zu gehen, welche für eine optimale, uneingeschränkte Gewährleistung des Konfrontationsrechts danach verlangt, dass nicht nur dem Gericht und der anklagenden Seite sowie auch nicht nur dem Verteidiger, sondern ebenso dem Angeklagten selbst all die Wissenselemente zur Verfügung gestellt werden, die ihm eine Befragung des Belastungszeugen auf der Basis einer umfassenden und vollständigen Wissensgrundlage ermöglichen. 702
Die mit den Grundmomenten der Wahrnehmung und des Wissens verbundenen Ausübungsrechte und insbesondere das Recht auf Kenntnis der Zeugenidentität sowie das Recht auf Wahrnehmung des Zeugenverhaltens sind im Verhältnis zum Fragerecht im engen Sinne und zum mit diesem angesprochenen Grundmoment des Fragenstellens in ihrer helfenden und unterstützenden Bedeutung zu erkennen. Gemeint ist die den Grundmomenten des Wahrnehmens und des Wissens zukommende funktional-dienende Funktion mit Blick auf dasjenige Ausübungsrecht des Konfrontationsrechts, auf das es für ein «Infragestellen der Glaubwürdigkeit des belastenden Zeugenbeweises gerade durch Fragen-Stellen» entscheidend ankommt: das Fragerecht im engen Sinne. Denn zum einen, womit das Wahrnehmungsrecht angesprochen ist, handelt es sich bei dem Beweismittel des Belastungszeugen nicht um ein schlichtes Augenscheinsobjekt, d.h. der Wahrheits- und Beweiswert eines Zeugenbeweises lässt sich nicht schon und allein durch blosses Ansehen und akustisches Hören der Zeugenperson ermitteln. Hinzu kommt zum anderen, womit auf das Recht auf Kenntnis der Zeugenidentität Bezug genommen ist, dass für ein wirksam ausgeübtes Konfrontationsrecht nicht schon das blosse Zur-Verfügung-Stellen von Wissens als solches und allein (und hierbei etwa die dem Angeklagten gegebene Kenntnis der Zeugenidentität an sich) genügt. Vielmehr ist für eine wirksame Zeugenkonfrontation erforderlich, dass dieses Wissen durch den Angeklagten auch «in die Tat», in «Handlungen und Sprache» umgesetzt, d.h. mittels seines Fragerechts im engen Sinne auch praktisch verwirklicht werden kann. Deutlich wird mithin zum Ersten, dass das Wahrnehmungs- und das Wissensmoment notwendige Ausübungsrechte für ein uneingeschränkt gewährleistetes Konfrontationsrecht ansprechen, lässt sich doch nur mit diesen auch das Fragerecht im engen Sinne uneingeschränkt ausüben. Zugleich wird zum Zweiten aber auch die funktional-dienende, weil helfende und unterstützende Bedeutung der Wahrnehmungs- und Wissensmomente für das entscheidende Hauptausübungsrecht des Konfrontationsrechts in Gestalt des Fragerechts im engen Sinne sichtbar. 1988
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Zu dem Erfordernis von Wortprotokollen oder besser noch von Videoaufzeichnungen siehe bereits unter Kap. 5 B. I. 3. b).; siehe dazu zudem die Hinweise von DONATSCH, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, Vorbem. §§ 128 ff. N 69.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Das Fragerecht im engen Sinne gibt dem Angeklagten das Recht,1989 sich «in und mit Sprache» mit dem Belastungszeugen auseinanderzusetzen und verweist auf das Moment, um das es bei dem Zeugenbeweis als einem persönlichen und sich in Sprache vollziehenden Beweismittel geht,1990 nämlich um das Hervorbringen der Wahrheit durch sprachliches Handeln, durch Aussagen von Menschen.1991 Diese gegenüber anderen Menschen getätigten Aussagen des Zeugen sind, wie bereits dargestellt, nie nur einfach «alleinige Aussagen des Zeugen», die in einer Art «Vakuum» und völlig unbeeinflusst von (u.a.) fragenden Personen und weiteren Umständen der Aussageentstehungssituation hervorgebracht werden. Vielmehr sind die gegenüber anderen Menschen geäusserten Zeugenaussagen immer auch Ergebnis und Produkt des Kommunikations- und Interaktionsprozesses, innerhalb dessen sie getätigt wurden, sowie der an diesem beteiligten Kommunikations- und Interaktionsbeteiligten:1992 Jede an den Zeugen gerichtete Frage der an diesem Kommunikations- und Interaktionsrahmen teilnehmenden Personen und auch jede andere Art von (bewusster oder unbewusster) Beeinflussung (etwa durch ein nonverbales Verhalten des Fragenden) fliessen in die Antworten des Zeugen ein. Es ist diese Offenheit, Formbarkeit und «Unfertigkeit» von menschlichen Aussagen und auch von Zeugenaussagen, die das Besondere der Wahrheitsermittlung mittels menschlicher Aussagen ausmacht. Mit dem Fragerecht im engen Sinne ist dem Angeklagten (und/oder seinem Verteidiger) nun das Recht zu geben, an diesem Entstehungs- und Bewertungsprozess einer «unfertigen» Zeugenaussage mittels seiner Fragen an den Zeugen teilzunehmen, und zwar in einer gleichwertigen Weise, wie es die anderen an der Zeugenbefragung Beteiligten (wie die anklagende Seite) durch ihre Fragen an den Zeugen ebenso tun.1993 Denn nur dann ist gewährleistet, dass thetische, den Angeklagten belastende Momente und antithetische, den Angeklagten entlastende Erkenntnismomente gleichermassen zur Sprache gebracht werden sowie
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Dieses Recht, „Fragen an den Zeugen zu stellen und diesem Vorhaltungen zu machen“ (S. 165), wird neben den Rechten auf Kenntnis der Zeugenidentität und auf Wahrnehmung des Zeugenverhaltens auch von Wohlers betont, siehe näher WOHLERS, ZStrR 2005, S. 165 f.; siehe zudem PEUKERT, in: FROWEIN/PEUKERT, Art. 6 N 200. Siehe auch GOLLWITZER, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR, S. 399 N 210 zur Hervorhebung des „Personalbeweis(es)“ bzw. der „persönlichen Beweismittel“. Ähnlich auch GOLLWITZER, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR, S. 399 N 210: „unmittelbares Fragerecht, um das Wissen dieser Zeugen auch für die Verteidigung ausschöpfen zu können und auch, um ihre Glaubwürdigkeit hinterfragen zu können“. Siehe dazu bereits unter Kap. 2 B. II. 5. Zur Waffengleichheit siehe unter Kap. 4 B. III. 2.; siehe dazu auch etwa GOLLWITZER, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR, S. 399 N 210.
453
703
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
dass die Glaubwürdigkeit des Belastungszeugenbeweises in eine allumfassende Überprüfung eingestellt werden kann.1994 704
Von einem optimalen, weil uneingeschränkt gewährleisteten Fragerecht im engen Sinne zu sprechen, bedeutet, dass dem Angeklagten durch ein solches ein Einfluss sowohl auf die Entstehung der Zeugenaussage als auch auf die Bewertung der Zeugenaussage in Bezug auf deren Glaubwürdigkeit einzuräumen ist.1995 Es sind die Fragen des Angeklagten und/oder seines Verteidigers, die sowohl in den Entstehungsprozess der Aussage des antwortenden Zeugen als auch überhaupt in sein nachfolgendes (sei dies ein antwortendes oder ein nicht antwortendes) Aussageverhalten einfliessen: Die Fragen des Angeklagten sind mitbestimmend für das Hervor- und ans Licht-Bringen des sich in den Antworten des Zeugen ausdrückenden Inhalts und/oder von bestimmten, durch die Frage des Angeklagten gerade angesprochenen Inhaltselementen, denn – wie es die Kommunikationswissenschaften immer wieder betonen – «wer fragt, der führt».1996 Zudem sind es die Fragen des Angeklagten, die nicht nur einen massgeblichen Einfluss auf das Hervorbringen von bestimmten Inhalten und/oder Inhaltselementen der Zeugenaussage haben, sondern die überhaupt einen Einfluss auf das sich an das Fragenstellen anschliessende Aussageverhalten des Zeugen ausüben, und zwar unabhängig davon, ob und was der Zeuge inhaltlich antwortet, denn man kann – wie es Watzlawick zutreffend formuliert – „nicht nicht kommunizieren“.1997 Zugleich werden vermittelt durch diese Fragen des Angeklagten und die daraufhin gegebenen Zeugenantworten und/oder das nachfolgende Zeugenverhalten Erkenntnisse auch zur Bewertung des Wahrheitsgehaltes, der Glaubwürdigkeit der Zeugenaussage zu Tage gebracht, z.B. dazu, dass die Zeugenaussage wegen etwaiger Wahrnehmungs-, Erinnerungs- oder Wiedergabefehler mit
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1995 1996
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Siehe auch SCHLEIMINGER, S. 290, 312, 316 zum Einfluss des Angeklagten auf „Entstehen und Inhalt der Zeugenaussage“ (S. 290), „Aussage als Produkt der Vernehmung zu beeinflussen“ (S. 312), Einflussnahme auf „Entstehen der Aussage“ (S. 316); siehe dazu zudem SCHLEIMINGER, AJP 1999, S. 1230. Ähnlich auch GOLLWITZER, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR, S. 399 N 210. Siehe zur Sokratischen Fragemethode etwa PLATON, S. 434: „Sokrates: … indem ich immer nur frage und nicht lehre! …“ (Hervorhebung Platon: «Sokrates»; übrige Hervorhebung Demko); SCHMITT, S. 33: „… eines Gesprächs, das unter einer Führung, meist der des Sokrates, geschieht … Führung im Sinne dessen, was Sokrates … seine Hebammenkunst nennt: der Versuch also, den Gesprächspartner durch richtige Lenkung und Leitung dazu zu bringen, daβ er die gesuchte Erkenntnis aus sich selbst findet und fortbildet …“ (Hervorhebung Demko). So das bedeutende 1. Axiom von Watzlawick, siehe WATZLAWICK/BEAVIN/JACKSON, S. 51 (Hervorhebung Watzlawick/Beavin/Jackson) mit weiteren Ausführungen.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Irrtümern und Unzulänglichkeiten behaftet, auto- oder fremdsuggestiv beeinflusst oder gar absichtlich gelogen ist.1998 Diese, und zwar im Verhältnis zur anklagenden Seite gleichberechtigt zu gewährleistende Einflussnahme des Angeklagten und/oder seines Verteidigers auf die Entstehung und Bewertung der Zeugenaussage zeichnet also das «Optimum» aus, das dem Angeklagten durch eine uneingeschränkte Gewährleistung seines Fragerechts im engen Sinne grundsätzlich einzuräumen ist. Gerade die Hervorhebung beider Elemente, d.h. des Elements der Entstehung der Zeugenaussage und des Elements der Bewertung der Zeugenaussage, sowie aber auch die Unterscheidung zwischen diesen beiden Elementen werden sich erneut als wichtig erweisen, wenn es um die Frage der rechtmässigen, insbesondere verhältnismässigen Einschränkung des Konfrontationsrechts geht und hierbei insbesondere um solche Einschränkungen, bei denen dem Angeklagten und/oder seinem Verteidiger ein Einfluss auf die Entstehung der Zeugenaussage versagt bleibt.1999
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In einem Zusammenbringen von Inhalts- und Ausübungsebene und hier des materiell wirksamen Konfrontationsrechts mit dessen Hauptausübungsrecht in Gestalt des Fragerechts im engen Sinne lässt sich für eine materiell wirksame und hierbei betreff der Ausübung uneingeschränkte Gewährleistung des Konfrontationsrechts von einem «Infragestellen durch Fragenstellen» sprechen bzw. genauer von einem «Infragestellen der Glaubwürdigkeit des Belastungszeugenbeweises durch Fragenstellen an den Belastungszeugen». Dabei ist – wie schon das Recht auf Kenntnis der Zeugenidentität und das Recht auf Wahrnehmung des Zeugenverhaltens – das Fragerecht im engen Sinne in seiner uneingeschränkten Gewährleistung mit dem Moment der «Unvermitteltheit» und «Direktheit» zu verknüpfen («direct questioning»2000),2001 indem eine sich auf die Sprachebene beziehende «Unvermitteltheit» zu verlangen ist: Dem Angeklagten und/oder seinem Verteidiger ist es zu ermöglichen, die Fragen selbst in eigener Person und Sprache an den Belastungszeugen zu
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2000
2001
Ähnlich auch GAEDE, S. 830. Siehe dazu näher unter Kap. 5 B. II. 1. b) bb); siehe dazu auch SCHLEIMINGER, S. 290, 312, 316. Siehe etwa EGMR, VAN MECHELEN AND OTHERS v. THE NETHERLANDS, 23.04.1997, Reports 1997-III, § 59; EGMR, P.S. v. GERMANY, 20.12.2001, Application No. 33900/96, § 26. Siehe dazu auch etwa näher ESSER, S. 666, 669 f., 678; WOHLERS, ZStrR 2005, S. 165 f.: Der Beschuldigte müsse die Möglichkeit haben, „direkt mit dem Zeugen zu kommunizieren“ (Hervorhebung Demko); GOLLWITZER, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR, S. 399 N 210: „unmittelbares Fragerecht“, ebenso S. 404 N 219; VILLIGER, S. 335 N 527: „das Recht, persönlich Fragen an belastende Zeugen stellen zu können“.
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
stellen,2002 d.h. nicht «vermittelt und gesprochen» durch bzw. über andere an der Zeugenbefragung Beteiligte, wie etwa das Gericht.2003 707
Denn es geht (auch hier) darum, eine jede Art von möglichen verändernden oder gar verfälschenden Beeinflussungen der Zeugenbefragung (oder auch schon nur einen jeden Anschein von solchen Veränderungen/Verfälschungen der Befragung) zu vermeiden, wie sie durch das Einschalten dritter Personen in den Angeklagten-Zeugen-Befragungsprozess entstehen können, wenn seitens der dritten Person (z.B.) nicht exakt die Fragen an den Angeklagten gestellt werden, die der Angeklagte und/oder sein Verteidiger an sich tatsächlich an den Belastungszeugen richten wollten. Die Gefahr solcher Veränderungen der Zeugenbefragung durch das Einschalten dritter Personen kann aber auch etwa durch (bewusste oder unbewusste) inhaltlich andere Nuancensetzungen bei der Befragung oder durch verbal/nonverbal vermittelte andere Betonungen von einzelnen Frageelementen seitens der dritten Person verursacht werden. Jedes zusätzliche Einstellen einer weiteren Person in den direkten «Frage-Antwort-Prozess» zwischen dem Angeklagten/Verteidiger und dem Belastungszeugen, indem der Angeklagte seine Fragen etwa nur «über» das Gericht zu stellen berechtigt ist, bringt immer auch neue, mit der hinzutretenden Person verbundene Einflussfaktoren in den Entstehungsprozess der Zeugenaussage hinein, welche sich u.U. verfälschend auf den Zeugenbefragungsprozess zwischen dem Angeklagten/Verteidiger und dem Belastungszeugen auswirken können: Es kann zu mit der dritten Person einhergehenden zusätzlichen Beeinflussungen der Zeugenaussageentstehung etwa dadurch kommen, dass sich infolge des Fragenstellens durch den Dritten (sowie bedingt auch bereits durch ein bestimmtes, u.U. unbewusstes nonverbales Frageverhalten des Dritten) inhaltlich andere Frage-Schwerpunkte in die Zeugenbefragung einschleichen. Zudem können zusätzliche Einflussnahmen auf die Zeugenaussageentstehung dadurch verursacht werden, dass an die Zeugenperson nun als fragende Personen nicht mehr (allein) der Angeklagte und/oder sein Verteidiger herantreten, sondern eben eine weitere (dritte bzw. vierte) Person mit all ihrem (bewussten und unbewussten) verbalen und nonverbalen Sprechverhalten, welches den Zeugen wiederum zu anderen Aussagen oder zur Betonung zumindest anderer Aussageelemente oder zu einem anderen (antwortenden oder nicht antwortenden) Aussageverhalten veranlassen kann.
2002
2003
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Siehe auch SCHMID, S. 221 N 653 a: „Er darf (durch den, aber auch unabhängig vom Verteidiger) dem Zeugen direkt Fragen stellen“ (Hervorhebung Demko: «direkt», kursive, im Originaltext fettgedruckte Hervorhebung Schmid: «Fragen stellen»); ESSER, S. 643: „aktiv befragen können“ (Hervorhebung Esser). Siehe zu den Regelungen im schweizerischen Strafverfahren unter Kap. 5 C. II. 3. b) bb) (2) (2.1).
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Um solche die Zeugenaussageentstehung mittels Einschaltung dritter Personen in den Befragungsprozess beeinflussende und u.U. gar verfälschende Faktoren zu vermeiden und um zugleich anzuerkennen, dass es bei dem Konfrontationsrecht des Angeklagten (wie im Rahmen des persönlichen Schutzbereichs aufgezeigt2004) um ein gerade dem Angeklagten zustehendes prozessuales Menschenrecht geht, ist mithin zu beachten: Das Fragerecht im engen Sinne ist in seiner uneingeschränkten Gewährleistung mit einem sprachlich-direkten2005 und – verbunden mit dem Anwesenheitsrecht des Angeklagten – auch mit einem mündlichen Fragenstellenkönnen an den Belastungszeugen zu verbinden,2006 und zwar im besten (Grundsatz-)Falle ausgeübt durch den Angeklagten und seinen Verteidiger.2007
II.
Menschenrechtliche Vorgaben in Bezug auf die Einschränkungsvoraussetzungen für eine konventionsgemässe Einschränkung des Konfrontationsrechts
1.
Einschränkungsvoraussetzungen auf der Beweiserhebungsebene
a)
Das Erfordernis des Gegebenseins «sachlich gerechtfertigter Gründe»
Die erste notwendige, wenn auch allein nicht ausreichende2008 Voraussetzung für eine konventionsgemässe Einschränkung des Konfrontationsrechts ist das Vorliegen eines «sachlich gerechtfertigten Grundes».2009 Dabei ist es nicht das 2004 2005 2006
2007
2008
2009
Siehe dazu unter Kap. 5 B. I. 1. a). Siehe bereits DEMKO, ZStrR 2004, S. 423: „direkte Befragung“. Siehe dazu auch MEYER-LADEWIG, EMRK-Kommentar, Art. 6 N 116, 147, 169 f., 244. Siehe ebenso TRECHSEL, AJP 2000, S. 1370 f., wo es bezüglich der aufgeworfenen Frage, ob das Fragerecht nur vom Angeschuldigten, nur vom Verteidiger oder von beiden ausgeübt werden kann, heisst: „Völlig befriedigend ist nur die letzte dieser Varianten“ (S. 1370); siehe dazu bereits unter Kap. 5 B. I. 1. a). Siehe bereits DEMKO, ZStrR 2004, S. 420; ebenso GRABENWARTER, S. 387 N 115; siehe auch SCHADEN, S. 234, 235; siehe zudem die Ausführungen von WANNEK, S. 109 ff., welche ebenso zum Ergebnis kommt, dass für jede Verwertung einer aussergerichtlichen Zeugenaussage „folglich ein die Einschränkung des Fragerechts rechtfertigender Grund vorliegen (muss)“ (S. 126). Siehe zu gleichen oder ähnlichen Bezeichnungen etwa WANNEK, S. 102: „sachlicher Grund“ bzw. „Fallgruppen zur sachlichen Rechtfertigung …“; GRABENWARTER, S. 386 f. N 114 f.: „sachlichen Gründen“ (N 114, ebenso N 115), „Rechtfertigungsgründe“ (N 114), „sachlich gerechtfertigt“ (N 114); siehe auch die Bezeichnung „unter besondern Umständen“ (S. 136) durch das BG, BGE 125 I 127, S. 136, sowie
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708
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Vorliegen irgendeiner Art von beliebigem Grund oder «gutem» Grund,2010 das der EGMR als genügend betrachtet, sondern es sind von ihm teilweise zusätzliche Anforderungen aufgestellt – wenn auch im Einzelnen nicht immer ganz klar und umfassend beantwortet – worden, die es zu beachten gilt, um einen solchen in der Sache begründeten, gerechtfertigten Grund bejahen zu können, der als relevant und ausreichend („relevant and sufficient reasons“2011) angesehen wird, um das grundsätzlich uneingeschränkt zu gewährende Konfrontationsrecht ausnahmsweise doch einschränken zu können. Eine Vielzahl wie Vielfalt an unterschiedlichen, jedoch wegen der Konzentration des Gerichtshofs auf den jeweils zu entscheidenden Einzelfall nicht als abschliessend zu verstehenden2012 Fallgruppen möglicher sachlich gerechtfertigter Einschränkungsgründe hat der EGMR bisher entwickelt, welche er gleichwertig nebeneinander stellt und ohne dass er (bisher) in einer abstrakten Weise einen positiven Katalog verschiedener Zeugenkategorien entwickelt hat.2013 Vielmehr arbeitet der EGMR (auch hier) streng einzelfallorientiert und hat auf diese Weise im Laufe seiner Rechtsprechung unterschiedliche Gründe tatsächlicher und rechtlicher Art2014 als solche Gründe angesehen und diese inhaltlich näher konkretisiert, welche den Weg zu einer konventionsgemässen Einschränkung des Konfrontationsrechts eröffnen können:
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2012
2013 2014
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S. 137: „Sachliche Gründe“; BGE 124 I 274, S. 285: „… Die Befragung von belastenden oder entlastenden Zeugen ist indessen auch in diesem Sinne nicht absolut. Es kann mit der Natur eines fairen Verfahrens unter besonderen Umständen vereinbar sein, von einer solchen Befragung abzusehen …“ (Hervorhebung Demko); WARNKING, S. 330 ff. Siehe auch GAEDE, S. 712; deutlich GRABENWARTER, S. 386 N 114 zu dem Erfordernis sachlicher Gründe: „Stets muss es sich jedoch um genau bestimmte Rechtfertigungsgründe handeln“; KRAUSS, V-Leute, S. 133, 146: „nur aus überragendem Interesse“ (S. 146, Hervorhebung Krauss); siehe auch bereits SCHORN, S. 233: „nicht erreichbar ist oder dieser aus einem tatsächlichen oder rechtlichen Grunde nicht vernommen werden kann“, den Bezug zur besseren Wahrung der Würde des Angeklagten herstellend: „der Wahrung seiner Würde besser Rechnung trägt“. EGMR, HAAS v. GERMANY, 17.11.2005, Application No. 73047/01, S. 15 (Hervorhebung Demko); siehe auch ESSER, S. 658 zum „Rechtfertigungszwang („relevant“) …“ und „… Erforderlichkeitserfordernis („sufficient“)“. Siehe auch den Hinweis von WANNEK, S. 104, wonach nicht auszuschliessen sei, „dass in zukünftigen Urteilen weitere Gründe für die Verwertung einer auβergerichtlichen Zeugenaussage anerkannt werden“, siehe auch S. 126. Näher dazu bereits DEMKO, ZStrR 2004, S. 421, 422. Siehe zum Hinweis auf tatsächliche und rechtliche Gründe bereits Demko, ZStrR 2004, S. 421; WOHLERS, ZStrR 2005, S. 169 ff.: Unmöglichkeit der Konfrontation „aufgrund tatsächlicher Umstände“ (S. 169) sowie „aufgrund rechtlicher Umstände“ (S. 169).
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
In den Bereich der tatsächlichen Gründe fallen etwa der Tod des Zeugen oder dessen dauernde Einvernahmeunfähigkeit2015 sowie das schlichte Nichterscheinen des Zeugen trotz angemessener staatlicher Nachforschungsbemühungen.2016 Hinzu kommt die Zeugengruppe der Opfer von (insbesondere Sexual-)Straftaten und von minderjährigen Zeugen,2017 welche wegen der mit einer sekundären Viktimisierung einhergehenden Gefährdungen des Zeugen
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Siehe dazu etwa EGMR, FERRANTELLI AND SANTANGELO v. ITALY, 07.08.1996, Reports 1996-III, §§ 7 ff., 51 f.: „tragic death“ (§ 52); vgl. auch die Entscheidung EGMR, PESTI AND FRODL v. AUSTRIA, 18.01.2000, Reports 2000-I, S. 3 f., in welcher es um eine schwere Erkrankung und um entsprechende Gesundheitsrisiken ging, wobei es sich jedoch nicht um eine Belastungs-, sondern um eine Zeugin der Verteidigung handelte. Siehe etwa EGMR, ARTNER v. AUSTRIA, 28.08.1992, A242-A, §§ 21 f.: „Shortly afterwards Miss L. disappeared in her turn. The Regional Court twice instructed the police to make every effort to find her, even adjourning the hearing in order to allow the inquiries sufficient time to bear fruit, but to no avail (ibid.). It would of course have been preferable if she could have testified in court, but her failure to appear did not in itself make it necessary to halt the prosecution – the appropriateness of which, moreover, falls outside the scope of the Court's review -, provided that the authorities had not been negligent in their efforts to find the persons concerned …“ (§ 21, Hervorhebung Demko); EGMR, DOORSON v. THE NETHERLANDS, 26.03.1996, Reports 1996-II, §§ 79 f.; EGMR, ISGRÒ v. ITALY, 19.02.1991, A194-A, § 32: „The Commission accepted that the Italian authorities had tried to establish the whereabouts of Mr D. with the aim of securing his attendance in Court as a witness. In their memorial the Government stressed that the thoroughness of the searches carried out by the authorities was not in doubt. The applicant did not file a memorial but at the hearing his counsel criticised the way in which those searches had been conducted. The evidence before the Court does not, however, disclose any negligence in this respect. In deciding whether the applicant had a fair trial, the Court must accordingly proceed on the basis that it was not possible to obtain Mr D.’s presence at the trial …“ (Hervorhebung Demko); EGMR, HAAS v. GERMANY, 17.11.2005, Application Nr. 73047/01, S. 14: „… With respect to statements of witnesses who proved to be unavailable for questioning in the presence of the defendant or his counsel, the Court recalls that paragraph 1 of Article 6 taken together with paragraph 3 requires the Contracting States to take positive steps so as to enable the accused to examine or have examined witnesses against him … However, impossibilium nulla est obligatio; provided that the authorities cannot be accused of a lack of diligence in their efforts to award the defendant an opportunity to examine the witnesses in question, the witnesses’ unavailability as such does not make it necessary to discontinue the prosecution …“ (Hervorhebung EGMR: «impossibilium nulla est obligatio», übrige Hervorhebung Demko). Siehe etwa EGMR, P.S. v. GERMANY, 20.12.2001, Application No. 33900/96, §§ 27, 28, 29.
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eine Einschränkung des Konfrontationsrechts zu rechtfertigen geeignet ist.2018 Jener Zeugengruppe der sog. «sensiblen» Zeugen2019 ist die der sog. «gefährdeten»2020 Zeugen an die Seite gestellt. Bei letzterer geht es um den Schutz vor Repressalien, welche der Zeuge und/oder sein soziales Umfeld im Falle einer belastenden Zeugenaussage in Gestalt von Beeinträchtigungen an Leben, Leib, Freiheit oder Sicherheit oder anderen in Art. 8 EMRK geschützten Interessen zu befürchten haben.2021 Zudem werden die Fragen nach einer effektiven Strafverfolgung und nach operativen Bedürfnissen der Polizei und hier nach der Gefährdung einer zukünftigen Einsatzfähigkeit verdeckt ermittelnder Polizeibeamter infolge ihres sog. Verbrennens unter dem Gesichtspunkt diskutiert (wenn auch vom EGMR nicht gänzlich klar beantwortet2022),2023 ob und inwieweit solche Gründe ebenfalls als sachlich gerecht2018
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Zu den mit einer sekundären Viktimisierung einhergehenden Gefährdungen siehe etwa SCHMOLL, S. 54 ff.; VOLBERT/BUSSE, S. 139 ff.; DONATSCH, in: DONATSCH/ SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, § 149 c N 9 ff. Siehe dazu etwa WEIGEND, in: Verhandlungen des 62. Deutschen Juristentages, S. 46 ff.; WOHLERS, ZStrR 2005, S. 149 f. Siehe dazu etwa WEIGEND, in: Verhandlungen des 62. Deutschen Juristentages, S. 27 ff.; WOHLERS, ZStrR 2005, S. 149; zum gefährdeten Zeugen siehe auch BÖTTCHER, S. 541 ff.; REBMANN/SCHNARR, NJW 1989, S. 1185 ff. Siehe dazu etwa EGMR, KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 20.11.1989, A166, §§ 19, 42, 44; EGMR, WINDISCH v. AUSTRIA, 27.09.1990, A186, §§ 14, 30 : „… The Government referred to the legitimate interest of the two women in keeping their identity secret. In its judgment the Regional Court stated that they were trustworthy persons and were afraid of reprisals on the part of the suspects. It added that the police depended on the co-operation of the population in investigating crimes …“ (§ 30, Hervorhebung Demko); EGMR, DOORSON v. THE NETHERLANDS, 26.03.1996, Reports 1996-II, §§ 25, 54; EGMR, VAN MECHELEN AND OTHERS v. THE NETHERLANDS, 23.04.1997, Reports 1997-III, §§ 52 ff.; EGMR, VISSER v. THE NETHERLANDS, 14.02.2002, Application No. 26668/95, §§ 38, 47. Siehe etwa zur nicht ganz klar beantworteten Frage hinsichtlich des genauen Verhältnisses zwischen der Gefahr des Verbrennens und der Gefahr für den Polizeibeamten und/oder sein soziales Umfeld näher EGMR, VAN MECHELEN AND OTHERS v. THE NETHERLANDS, 23.04.1997, Reports 1997-III, § 57: „… it may be legitimate for the police authorities to wish to preserve the anonymity of an agent deployed in undercover activities, for his own or his family's protection and so as not to impair his usefulness for future operations …“ (Hervorhebung Demko); siehe auch EGMR, LÜDI v. SWITZERLAND, 15.06.1992, A238, § 49: „… took into account the legitimate interest of the police authorities in a drug trafficking case in preserving the anonymity of their agent, so that they could protect him and also make use of him again in the future …“ (Hervorhebung Demko); zu einem unklaren Verständnis hinsichtlich der effektiven Strafverfolgung als eines ausreichenden sachlichen Einschränkungsgrundes siehe die von Wannek aufgeworfenen Fragen, WANNEK, S. 107 f.; siehe dazu ebenso KRAUSBECK, S. 279 ff., wonach sich aus „der Rechtspre-
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
fertigte Gründe für eine Einschränkung des Konfrontationsrechts in Betracht kommen können, wobei auch hier auf das Erfordernis einer dem Polizeibeamten drohende Gefährdung verwiesen,2024 jedoch zugleich betont wird, dass diesem im Vergleich zu normalen Personen in einem höheren Masse Gefährdungen zuzumuten sind.2025 Als sachlich gerechtfertigte Gründe aus dem rechtlichen Bereich kommen etwa die berechtigte Wahrnehmung von Zeugnis- und Aussageverweigerungsrechten2026 oder Konstellationen von nicht zur Geltung und/oder Anwendung kommender Rechtshilfe hinzu.2027
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chung des EGMR … nicht sicher ableiten (lässt), ob die Weiterverwendungsfähigkeit des Zeugen alleine Einschränkungen des Konfrontationsrechts rechtfertigen kann“ (S. 279, Hervorhebung Krausbeck). Siehe etwa EGMR, KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 20.11.1989, A166, § 44; EGMR, WINDISCH v. AUSTRIA, 27.09.1990, A186, §30; EGMR, SAIDI v. FRANCE, 20.09.1993, § 44; zur Diskussion betreff der Frage nach der Weiterverwendungsfähigkeit der Vertrauensperson als alleinigem sachlichen Grund siehe mit weiteren Angaben KRAUSBECK, S. 279 ff. Siehe etwa EGMR, VAN MECHELEN AND OTHERS v. THE NETHERLANDS, 23.04.1997, Reports 1997-III, §§ 56, 57: „… In the Court's opinion, the balancing of the interests of the defence against arguments in favour of maintaining the anonymity of witnesses raises special problems if the witnesses in question are members of the police force of the State. Although their interests – and indeed those of their families – also deserve protection under the Convention …“ (§ 56) und „… it may be legitimate for the police authorities to wish to preserve the anonymity of an agent deployed in undercover activities, for his own or his family's protection …“ (§ 57), Hervorhebung Demko. Siehe etwa EGMR, VAN MECHELEN AND OTHERS v. THE NETHERLANDS, 23.04.1997, Reports 1997-III, § 56: „… In the Court's opinion, the balancing of the interests of the defence against arguments in favour of maintaining the anonymity of witnesses raises special problems if the witnesses in question are members of the police force of the State. Although their interests – and indeed those of their families – also deserve protection under the Convention, it must be recognised that their position is to some extent different from that of a disinterested witness or a victim. They owe a general duty of obedience to the State's executive authorities and usually have links with the prosecution; for these reasons alone their use as anonymous witnesses should be resorted to only in exceptional circumstances. In addition, it is in the nature of things that their duties, particularly in the case of arresting officers, may involve giving evidence in open court …“ (Hervorhebung Demko); dazu auch WOHLERS, ZStrR 2005, S. 172; TRECHSEL, AJP 2000, S. 1371: „An den Mut von Polizeibeamten werden … erhöhte Anforderungen gestellt“; GAEDE, S. 283. Siehe etwa EGMR, ASCH v. AUSTRIA, 26.04.1991, A203, §§ 16, 28; EGMR, UNTERPERTINGER v. AUSTRIA, 24.11.1986, A110, §§ 30, 32. Siehe dazu etwa EKMR, S. v. GERMANY, 13.12.1983, D.R. 39, 43, 55; EKMR, X. v. AUSTRIA, 01.06.1972, Application Nr. 4428/70, Collection 40, 1-10: „… there were factual obstacles …“
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen 711
Was in diesen Fallgruppen sachlich gerechtfertigter Gründe trotz aller Unterschiedlichkeiten im Einzelnen und trotz zum Teil vom EGMR nicht vollständig klar beantworteter Einzelfragen2028 deutlich wird, ist der Gesichtspunkt einer vom Gerichtshof hier angelegten Gegenüberstellung und Abwägung zwischen den Interessen der Verteidigung einerseits und den Interessen der Zeugen andererseits. Für letztere werden dabei insbesondere Gefährdungen/Verletzungen von Leben, Leib, Freiheit oder Sicherheit oder von anderen in den Anwendungsbereich des Art. 8 EMRK fallenden Interessen – und zwar entweder des aussagenden Zeugen selbst oder seines sozialen Umfelds – herangezogen. Im Fall P.S. v. GERMANY führt der EGMR aus:
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„… In appropriate cases, principles of fair trial require that the interests of the defence are balanced against those of witnesses or victims called upon to testify, in particular where life, liberty or security of person are at stake, or interests coming generally within the ambit of Article 8 of the Convention …“2029
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Auch in der Entscheidung DOORSON v. THE NETHERLANDS heisst es:
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„… It is true that Article 6 (art. 6) does not explicitly require the interests of witnesses in general, and those of victims called upon to testify in particular, to be taken into consideration. However, their life, liberty or security of person may be at stake, as may interests coming generally within the ambit of Article 8 (art. 8) of the Convention. Such interests of witnesses and victims are in principle protected by other, substantive provisions of the Convention, which imply that Contracting States should organise their criminal proceedings in such a way that those interests are not unjustifiably imperilled. Against this background, principles of fair trial also require that in
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Siehe zur Kritik hinsichtlich des Fehlens genauer Kriterien, wann die Strafverfolgungsbehörden die Unmöglichkeit einer Zeugenkonfrontation zu vertreten haben, WANNEK, S. 102 ff.; ESSER, S. 649, 652; zur Unklarheit betreff der effizienten Strafverfolgung als eines in Betracht kommenden sachlichen Grundes siehe WANNEK, S. 107 f. EGMR, P.S. v. GERMANY, 20.12.2001, Application Nr. 33900/96, § 22 (Hervorhebung Demko); siehe auch EGMR, VAN MECHELEN AND OTHERS v. THE NETHERLANDS, 23.04.1997, Reports 1997-III, § 53; EGMR, OYSTON v. THE UNITED KINGDOM, 22.01.2002, Application Nr. 42011/98, S. 9: „… the interests of victims or witnesses while not expressly taken into account in Article 6 may be regarded as protected by the other substantive provisions of the Convention (e.g. the right to life, liberty and security of person, the right to private life including protection of moral and physical integrity). Criminal proceedings should be organised in such a way that those interests are not unjustifiably imperilled and this may require striking a fair balance between the interests of the defence and those witnesses or victims called upon to testify …“
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen appropriate cases the interests of the defence are balanced against those of witnesses or victims called upon to testify …“2030
Betont ist dabei vom Gerichtshof, dass blosse allgemeine Zweckmässigkeitsgründe oder Gründe einer effektiven Strafverfolgung allein nicht hinreichend sind, um in der Abwägung mit dem Menschenrecht des Angeklagten auf Konfrontation mit Belastungszeugen gegenüber diesem zu überwiegen, so dass allein Zweckmässigkeitsgründe oder Gründe einer effektiven Strafverfolgung als sachlich gerechtfertigte Gründe für eine konventionsgemässe Einschränkung des Art. 6 III d EMRK nicht in Betracht kommen.2031 Im Fall KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS betont der EGMR insofern:
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„… The right to a fair administration of justice holds so prominent a place in a democratic society … that it cannot be sacrificed to expediency. The Convention does not preclude reliance, at the investigation stage of criminal proceedings, on sources such as anonymous informants. However, the subsequent use of anonymous statements as sufficient evidence to found a conviction, as in the present case, is a different matter. It involved limitations on the rights of the defence which were irreconcilable with the guarantees contained in Article 6 …“2032
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Erforderlich ist vielmehr eine konkrete Gefährdung für die aussagende Zeugenperson (und/oder für ihr soziales Umfeld), welche einzelfallabhängig sowie hierbei – etwa bezogen auf die Frage der Zumutbarkeit etwaiger Gefährdungen, wie sie sich bei Polizeibeamten stellt – ebenso personenabhängig zu bewerten ist.2033 Für die verlangte konkrete Gefährdung der Zeugenperson fordert der EGMR zusätzlich, dass diese konkret nachgewiesen und belegbar
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EGMR, DOORSON v. THE NETHERLANDS, 26.03.1996, Reports 1996-II, § 70 (Hervorhebung Demko). Siehe dazu etwa EGMR, WINDISCH v. AUSTRIA, 27.09.1990, A186, § 30: „… The collaboration of the public is undoubtedly of great importance for the police in their struggle against crime. In this connection the Court notes that the Convention does not preclude reliance, at the investigation stage, on sources such as anonymous informants. However, the subsequent use of their statements by the trial court to found a conviction is another matter … The right to a fair administration of justice holds so prominent a place in a democratic society that it cannot be sacrificed …“ (Hervorhebung Demko); EGMR, SAIDI v. FRANCE, 20.09.1993, § 44; siehe dazu auch GAEDE, S. 284; WANNEK, S. 107 f. mit Ausführungen gerade auch in Hinblick auf internationale Strafverfahren (S. 108). EGMR, KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 20.11.1989, A166, § 44 (Hervorhebung Demko); siehe zudem EGMR, SAIDI v. FRANCE, 20.09.1993, § 44: „… The Court is fully aware of the undeniable difficulties of the fight against drug-trafficking – in particular with regard to obtaining and producing evidence – and of the ravages caused to society by the drug problem, but such considerations cannot justify restricting to this extent the rights of the defence of "everyone charged with a criminal offence" …“ (Hervorhebung Demko); dazu auch ESSER, S. 657. Siehe auch die entsprechenden Hinweise von WOHLERS, ZStrR 2005, S. 172.
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ist, so dass sowohl das Abstellen auf allgemeine Zeugenschutzerwägungen für sich2034 als auch nur vage und unbestimmt gehaltene sowie auf Mutmassungen beruhende Gründe2035 nicht hinreichend sind, um eine konventionsgemässe Einschränkung des Konfrontationsrechts sachlich rechtfertigen zu können. Nicht zuletzt betont der EGMR, dass das Nicht-zur-VerfügungStehen des Belastungszeugen für ein unbeschränkt ausübbares Konfrontationsrecht des Angeklagten infolge Eingreifens einer der verschiedenen Zeugengefährdungsgründe von den Strafverfolgungsbehörden nicht verantwortet werden darf: Es ist das Erfordernis fehlenden staatlichen Verschuldens an dem nicht oder nicht unbeschränkten Zur-Verfügung-Stehen des Belastungszeugen, das vom EGMR als zusätzliches Erfordernis für die Annahme eines sachlich gerechtfertigten Grundes verlangt – wenn auch in Einzelfragen nicht immer ganz deutlich beantwortet2036 – wird,2037 so dass in dem Fall, dass die 2034 2035
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Siehe dazu GRABENWARTER, S. 387 FN 505; ESSER, S. 660. Siehe etwa EGMR, P.S. v. GERMANY, 20.12.2001, Application No. 33900/96, § 28: „However, the reasons given by the District Court, in its judgment of 10 January 1994, for refusing to question S. and dismissing the applicant’s request for an expert opinion are rather vague and speculative and do not, therefore, appear relevant …“ (Hervorhebung Demko); EGMR, DOORSON v. THE NETHERLANDS, 26.03.1996, Reports 1996-II, § 54; EGMR, VISSER v. THE NETHERLANDS, 14.02.2002, Application Nr. 26668/95, § 47: „… Neither did the Court of Appeal carry out such an examination into the seriousness and well-foundedness of the reasons for the anonymity of the witness …“ Siehe dazu kritisch etwa ESSER, S. 649, 652; WANNEK, S. 102 ff. Siehe dazu etwa EGMR, FERRANTELLI AND SANTANGELO v. ITALY, 07.08.1996, Reports 1996-III, § 52: „In this instance, even though the judicial authorities did not, as would have been preferable, organise a confrontation between all the accused during the twenty months preceding G.V.'s tragic death, they cannot be held responsible for the latter event …“ (Hervorhebung Demko); kritisch dazu aber zurecht ESSER, S. 652 zum „falsche(n) Anknüpfungspunkt für die Beurteilung eines Verschuldens auf staatlicher Seite“; EGMR, ARTNER v. AUSTRIA, 28.08.1992, A242A, § 21: „provided that the authorities had not been negligent in their efforts to find the persons concerned …“ (Hervorhebung Demko); siehe auch EGMR, DOORSON v. THE NETHERLANDS, 26.03.1996, Reports 1996-II, §§ 79 f.; EGMR, ISGRÒ v. ITALY, 19.02.1991, A194-A, § 32: „… the thoroughness of the searches carried out by the authorities was not in doubt … The evidence before the Court does not, however, disclose any negligence in this respect. In deciding whether the applicant had a fair trial, the Court must accordingly proceed on the basis that it was not possible to obtain Mr D.’s presence at the trial …“ (Hervorhebung Demko); EGMR, HAAS v. GERMANY, 17.11.2005, Application No. 73047/01, S. 14: „… With respect to statements of witnesses who proved to be unavailable for questioning in the presence of the defendant or his counsel, the Court recalls that paragraph 1 of Article 6 taken together with paragraph 3 requires the Contracting States to take positive steps so as to enable the accused to examine or have examined witnesses against him … Howev-
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Strafverfolgungsbehörden Einschränkungen oder gar die Unmöglichkeit der Ausübung des Konfrontationsrechts vorsätzlich oder fahrlässig zu vertreten haben, ein sachlich gerechtfertigter Grund für eine Einschränkung des Art. 6 III d EMRK nicht gegeben ist.2038 b)
Die mit der «Wahrung der Verteidigungsrechte» verbundenen Erfordernisse
Das Vorliegen eines sachlich gerechtfertigten Grundes allein ist nach Ansicht des EGMR nicht hinreichend, um eine konventionsgemässe Einschränkung des Konfrontationsrechts begründen zu können, sondern mit der in ständiger Rechtsprechung vom Gerichtshof angerufenen «Wahrung der Verteidigungsrechte» sind weitere zusätzliche Einschränkungsvoraussetzungen aufgestellt, welche im Zusammenhang mit der zu beurteilenden ausnahmsweisen Einschränkung des grundsätzlich uneingeschränkt ausübbaren Konfrontationsrechts zu beachten sind. Angesprochen sind (zum Ersten) der Verhältnismässigkeitsgrundsatz und (zum Zweiten) das Ausgleichserfordernis, auf welche der EGMR in ständiger Rechtsprechung Rückgriff nimmt und welche unterschiedliche, jedoch aneinander anschliessende2039 Rechtsmässigkeitsanforderungen betreffen, welche zudem ihrerseits in einen sie rückbegrenzenden Bezug zum – mit den zu «wahrenden Verteidigungsrechten» angesprochenen – Wesensgehalt des Konfrontationsrechts eingestellt sind: aa)
Der Verhältnismässigkeitsgrundsatz, das Ausgleichserfordernis und die Rückbegrenzung durch den Wesensgehalt des Konfrontationsrechts
Mit dem Verhältnismässigkeitsgrundsatz sind Anforderungen aufgestellt, die sich an die konkret zu beurteilende Einschränkung (etwa die Anonymisierung des Zeugen oder die Verwendung von Zeugen vom Hörensagen) selbst richten und von dieser zu erfüllen sind, was sich ausdrücken liesse durch den kurzen (Aufforderungs-)Satz: «Die (konkret zu beurteilende) Einschränkung hat verhältnismässig zu sein.». Die Rechtsprechung des EGMR lässt diesbezüglich den Anspruch auf einen streng zu wahrenden, einen strikt zu beach-
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er, impossibilium nulla est obligatio; provided that the authorities cannot be accused of a lack of diligence in their efforts to award the defendant an opportunity to examine the witnesses in question, the witnesses’ unavailability as such does not make it necessary to discontinue the prosecution …“ (Hervorhebung EGMR: «impossibilium nulla est obligatio», übrige Hervorhebung Demko). Siehe dazu auch WOHLERS, ZStrR 2005, S. 169. Siehe dazu näher unter Kap. 5 B. II. 1. b) cc).
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tenden Verhältnismässigkeitgrundsatz („strictly necessary“2040) erkennen,2041 wonach das stufenweise2042 vorzunehmende Einschränken des grundsätzlich uneingeschränkt ausübbaren Konfrontationsrechts nur streng begrenzt auf das unbedingt Notwendige durchgeführt werden darf. Deutlich heisst es im Fall P.S. v. GERMANY: 720
„… However, only such measures restricting the rights of the defence which are strictly necessary are permissible under Article 6 …“2043
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Ebenso betont der EGMR im Fall VAN MECHELEN AND OTHERS v. THE NETHERLANDS:
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„… Having regard to the place that the right to a fair administration of justice holds in a democratic society, any measures restricting the rights of the defence should be strictly necessary. If a less restrictive measure can suffice then that measure should be applied …“2044 2040
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EGMR, P.S. v. GERMANY, 20.12.2001, Application No. 33900/96, § 23 (Hervorhebung Demko); siehe ebenso EGMR, EDWARDS AND LEWIS v. THE UNITED KINGDOM, 27.10.2004, Reports 2004-X, § 46: „strictly necessary” (Hervorhebung Demko); EGMR, OYSTON v. THE UNITED KINGDOM, 22.01.2002, Application No. 42011/98, S. 9: „… restrictions on access to evidence or to a witness may be necessary or unavoidable …“ (Hervorhebung Demko); EGMR, VISSER v. THE NETHERLANDS, 14.02.2002, Application No. 26668/95, §§ 47, 48. Siehe auch ESSER, JR 2005, S. 250; GAEDE, S. 282; KRAUSBECK, S. 168. Siehe zur mit dem Verhältnismässigkeitsgrundsatz verbundenen stufenweisen Abweichung vom grundsätzlich uneingeschränkt ausübbaren Konfrontationsrecht bereits näher DEMKO, ZStrR 2004, S. 425 ff.; KRAUSBECK, S. 168; Esser, JR 2005, S. 250; siehe aus der Rechtsprechung auch EGMR, VAN MECHELEN AND OTHERS v. THE NETHERLANDS, 23.04.1997, Reports 1997-III, §§ 58, 60: „… It has not been explained to the Court's satisfaction why it was necessary to resort to such extreme limitations on the right of the accused to have the evidence against them given in their presence, or why less far-reaching measures were not considered. In the absence of any further information, the Court cannot find that the operational needs of the police provide sufficient justification. It should be noted that the explanatory memorandum of the bill which became the Act of 11 November 1993 … refers in this connection to the possibilities of using make-up or disguise and the prevention of eye contact …“ (§ 60, Hervorhebung Demko). EGMR, P.S. v. GERMANY, 20.12.2001, Application No. 33900/96, § 23 (Hervorhebung Demko). EGMR, VAN MECHELEN AND OTHERS v. THE NETHERLANDS, 23.04.1997, Reports 1997-III, § 58 (Hervorhebung Demko), siehe zur notwendig stufenweisen Einschränkung auch weiter § 60: „… It has not been explained to the Court's satisfaction why it was necessary to resort to such extreme limitations on the right of the accused to have the evidence against them given in their presence, or why less farreaching measures were not considered. In the absence of any further information, the Court cannot find that the operational needs of the police provide sufficient justifica-
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Mit dem Ausgleichserfordernis sind sodann darüber hinaus, des Weiteren bzw. ausserdem („Moreover“,2045 „Furthermore“2046) weitere zusätzliche Anforderungen aufgestellt,2047 die aus der konkreten und als verhältnismässig bewerteten Einschränkung folgen bzw. resultieren2048 und welche mithin im Anschluss2049 an die Prüfung und Bejahung der Verhältnismässigkeit der konkreten Einschränkung zu beurteilen sind. Dass es sich bei dem Ausgleichserfordernis nicht nur um eine andere Umschreibung für den zu beachtenden Verhältnismässigkeitsgrundsatz,2050 sondern um ein zusätzliches, sich an die
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tion. It should be noted that the explanatory memorandum of the bill which became the Act of 11 November 1993 … refers in this connection to the possibilities of using make-up or disguise and the prevention of eye contact …“ (Hervorhebung Demko). EGMR, P.S. v. GERMANY, 20.12.2001, Application Nr. 33900/96, § 23 (Hervorhebung Demko). EGMR, EDWARDS AND LEWIS v. THE UNITED KINGDOM, 27.10.2004, Reports 2004-X, § 46 (Hervorhebung Demko); siehe auch EGMR, OYSTON v. THE UNITED KINGDOM, 22.01.2002, Application Nr. 42011/98, S. 9: „… there may be circumstances where restrictions on access to evidence or to a witness may be necessary or unavoidable. The Court has recognised that in such cases Article 6 § 1 taken together with Article 6 § 3(d) requires that the handicaps under which the defence labours be sufficiently counterbalanced by the procedures followed by the judicial authorities …“ (Hervorhebung Demko). Siehe deutlich auch GAEDE, S. 282, 688, 727: „zusätzlich auf einer zweiten Legitimationsstufe durch Wahrung eines Ausgleichserfordernisses im Verfahren“ (S. 688, Hervorhebung Gaede), „muss auf einer zweiten Stufe zusätzlich gezeigt sein …“ (S. 727, Hervorhebung Demko); siehe auch bereits DEMKO, ZStrR 2004, S. 431: „zweites, eigenständiges und kumulativ erforderliches Teilelement“; siehe auch die Formulierung von ESSER, JR 2005, S. 250: „… nur unbedingt notwendige Eingriffe …, die zudem …“; anders hingegen KRAUSBECK, S. 169, 195, nach dessen Ansicht das Ausgleichserfordernis in dessen Verhältnis zum Verhältnismässigkeitsgrundsatz „in der Sache nichts Zusätzliches (bringt)“ (S. 195), sondern es sich bei diesem Ausgleichserfordernis „nur um die positive Umschreibung der Verpflichtung (handelt), der die Vertragsstaaten schon in Anbetracht der Schranke der strikten Notwendigkeit der Einschränkung unterliegen“ (S. 195, Hervorhebung Demko); siehe zur näheren Auseinandersetzung mit der Einordnung des Ausgleichserfordernisses als eines eigenständigen und zusätzlichen Prüfungskriteriums näher unter Kap. 5 B. II. 1. b) cc). GAEDE S. 727: „die aus der Einschränkung resultierenden Verteidigungsnachteile“. Siehe auch GAEDE, S. 728: „zweite Legitimationsanforderung“; DEMKO, ZStrR 2004, S. 431: „zweites Beurteilungsinstrument“; siehe aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs EGMR, P.S. v. GERMANY, 20.12.2001, Application No. 33900/96, § 23: „Moreover“ (Hervorhebung Demko); EGMR, EDWARDS AND LEWIS v. THE UNITED KINGDOM, 27.10.2004, Reports 2004-X, § 46: „Furthermore“ (Hervorhebung Demko). So aber teilweise Interpretationen des Ausgleichserfordernisses im Schrifttum, siehe etwa deutlich KRAUSBECK, S. 169, 195; dazu und zur kritischen Auseinandersetzung näher unter Kap. 5 B. II. 1. b) cc).
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Prüfung und Bejahung des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes anschliessendes Prüfungskriterium für eine konventionsgemässe Einschränkung des Konfrontationsrechts handelt, macht der EGMR etwa in den Fällen P.S. v. GERMANY und EDWARDS AND LEWIS v. THE UNITED KINGDOM deutlich. In der Entscheidung P.S. v. GERMANY heisst es: 724
„… However, only such measures restricting the rights of the defence which are strictly necessary are permissible under Article 6. Moreover, in order to ensure that the accused receives a fair trial, any difficulties caused to the defence by a limitation on its rights must be sufficiently counterbalanced by the procedures followed by the judicial authorities …“2051
725
Ebenso führt der EGMR im Fall EDWARDS AND LEWIS v. THE UNITED KINGDOM aus:
726
„… In some cases it may be necessary to withhold certain evidence from the defence so as to preserve the fundamental rights of another individual or to safeguard an important public interest. Nonetheless, only such measures restricting the rights of the defence which are strictly necessary are permissible under Article 6 § 1. Furthermore, in order to ensure that the accused receives a fair trial, any difficulties caused to the defence by a limitation on its rights must be sufficiently counterbalanced by the procedures followed by the judicial authorities …“2052
727
Gibt der EGMR bezüglich des Erfordernisses der Verhältnismässigkeit der konkreten Einschränkung seinen hier angelegten strengen Massstab deutlich zu erkennen, so beantwortet er in seiner Rechtsprechung hinsichtlich des Ausgleichserfordernisses („sufficiently counterbalanced by the procedures followed by the judicial authorities“2053) hingegen weniger klar, was im Einzelnen er für dieses verlangt und insbesondere was für Ausgleichsmassnahmen er für geeignet und erforderlich hält.2054 Was insofern jedoch sichtbar wird, ist, dass für Beschränkungen der Verteidigungsrechte, die mit verhält2051
2052
2053
2054
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EGMR, P.S. v. GERMANY, 20.12.2001, Application No. 33900/96, § 23 (Hervorhebung Demko). EGMR, EDWARDS AND LEWIS v. THE UNITED KINGDOM, 27.10.2004, Reports 2004-X, § 46 (Hervorhebung Demko). EGMR, OYSTON v. THE UNITED KINGDOM, 22.01.2002, Application No. 42011/98, S. 9 (Hervorhebung Demko); siehe auch EGMR, VAN MECHELEN AND OTHERS v. THE NETHERLANDS, 23.04.1997, Reports 1997-III, §§ 54, 62; KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 20.11.1989, A166, § 43; EGMR, DOORSON v. THE NETHERLANDS, 26.03.1996, Reports 1996-II, § 72; EGMR, S.N. v. SWEDEN, 02.07.2002, Reports 2002-V, § 47: „… In securing the rights of the defence, the judicial authorities may be required to take measures which counterbalance the handicaps under which the defence labours …“ (Hervorhebung Demko). Zu dieser Kritik bereits DEMKO, ZStrR 2004, S. 431; siehe auch JUNG, GA 2003, S. 203, wonach dem EGMR „durchaus sprachliche Gestaltungskraft“ zu attestieren sei.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
nismässigen Einschränkungen vom grundsätzlich uneingeschränkt ausübbaren Konfrontationsrecht einhergehen, ein hinreichender Ausgleich im Verfahren selbst und nicht auf der Beweiswürdigungsebene verlangt ist2055 und dass hierfür entsprechende, den Staat – das Gericht und die anderen Strafverfolgungsbehörden – zu einer „erhöhte(n) Sorgfalt in der Verfahrensführung“2056 positiv verpflichtende Verfahrensausgestaltungen gefordert sind.2057 Einen weiteren Gesichtspunkt gilt es im Zusammenhang mit dem Verhältnismässigkeits- und dem Ausgleichserfordernis zu beachten: Mit dem vom Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung betonten Erfordernis stets zu «wahrender Verteidigungsrechte» („provided the rights of the defence have been respected“2058) als Voraussetzung für die Bejahung eines dem Angeklagten gewährten fairen Strafverfahrens – welche mithin sowohl im (Grundsatz-)Fall des uneingeschränkt ausübbaren Konfrontationsrechts als auch in den (Ausnahme-)Fällen des nur eingeschränkt ausübbaren Konfrontationsrechts gewahrt sein müssen – stellt der EGMR eine Verbindung zwischen der Ausübungsebene des Konfrontationsrechts und der mit den zu «wahrenden Verteidigungsrechten» angesprochenen Inhaltsebene, genauer dem Wesensgehalt des Konfrontationsrechts her: Ausgedrückt ist hier, dass eine jede ausnahmsweise gewährte Einschränkung in der Ausübung des Konfrontationsrechts dennoch immer eine solche zu sein hat, die trotz der mit ihr verbundenen Beschränkungen auf der Ausübungsebene dem Angeklagten materiell eine wirksame Verteidigung gewährt und auch gewähren muss, um eine konventionsgemässe Einschränkung des Konfrontationsrechts bejahen zu können. Diese „Rückbegrenzung durch den Wesensgehalt“,2059 die als «SchrankeSchranke» wirkt, verlangt mithin, die Einschränkungsvoraussetzungen des Verhältnismässigkeits- und Ausgleichserfordernisses in ihrem diese ihrerseits begrenzenden Verhältnis zum stets zu wahrenden Wesensgehalt des Konfron2055
2056 2057
2058
2059
Dazu und zur nach Ansicht des EGMR für einen Ausgleich nicht ausreichenden vorsichtigen Beweiswürdigung näher unter Kap. 5 B. II. 1. b) cc); siehe aus der Rechtsprechung etwa EGMR, KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 20.11.1989, A166, § 43: „… The courts admittedly heard evidence on the latter point … and no doubt … they observed caution in evaluating the statements in question, but this can scarcely be regarded as a proper substitute for direct observation …“ (Hervorhebung Demko). KRAUSBECK, S. 169. Siehe dazu auch ESSER, JR 2005, S. 250, 255, 256; siehe auch EGMR, S.N. v. SWEDEN, 02.07.2002, Reports 2002-V, § 47: „… In securing the rights of the defence, the judicial authorities may be required to take measures which counterbalance the handicaps under which the defence labours …“ (Hervorhebung Demko); siehe dazu auch unter Kap. 5 B. II. 1. b) cc). EGMR, KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 20.11.1989, A166, § 41 (Hervorhebung Demko); siehe auch EGMR, S.N. v. SWEDEN, 02.07.2002, Reports 2002-V, § 47: „… In securing the rights of the defence …“ (Hervorhebung Demko). GAEDE, S. 723 (Hervorhebung im Original als Überschrift: Gaede).
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
tationsrechts zu betrachten,2060 wonach dem Angeklagten – und zwar sowohl beim uneingeschränkt als auch beim nur eingeschränkt ausübbaren Konfrontationsrecht – stets eine (materiell) wirksame antithetische Teilnahme am Wahrheitsermittlungsprozess des belastenden Zeugenbeweises zu gewähren ist, um im Ergebnis ein ihm eingeräumtes faires Strafverfahren unter beachteter Wahrung seiner Verteidigungsrechte bejahen zu können. bb)
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Die unter der Beachtung des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes möglichen stufenweisen Einschränkungen des Konfrontationsrechts und die (eingeschränkten) Einflussnahmemöglichkeiten des Angeklagten auf die Entstehung und/oder Bewertung der Zeugenaussage
Vom Gerichtshof werden als ausnahmsweise mögliche und als verhältnismässig bewertete Einschränkungen vom grundsätzlich uneingeschränkt ausübbaren Konfrontationsrecht sowohl solche angesehen, bei denen der Angeklagte einen, wenn auch nur beschränkten Einfluss auf die Entstehung der Zeugenaussage hat,2061 als auch solche, bei denen dem Angeklagten ein Einfluss auf die Entstehung der Zeugenaussage selbst nicht zukommt, sondern dieser auf eine Einflussnahme auf die Bewertung der Zeugenaussage als glaubwürdig/nicht glaubwürdig begrenzt ist:2062 Bei Zeugenbefragungen, die unter eingeschränkter optischer und/oder akustischer Wahrnehmung sowie unter Vorenthaltung der Zeugenidentität vorgenommen werden, kann sich der Angeklagte mittels der ihm zukommenden Möglichkeit, dem Zeugen Fragen zu stellen (womit das Fragerecht im engen Sinne als Hauptausübungsrecht des 2060
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Siehe auch EGMR, S.N. v. SWEDEN, 02.07.2002, Reports 2002-V, § 47: „… In securing the rights of the defence, the judicial authorities may be required to take measures which counterbalance the handicaps under which the defence labours …“ (Hervorhebung Demko). Zu wenn auch eingeschränkten Fragemöglichkeiten, wie z.B. unter Geheimhaltung der Identität oder optischen/akustischen Abschirmungen, siehe etwa EGMR, DOORSON v. THE NETHERLANDS, 26.03.1996, Reports 1996-II, §§ 73 ff.; EGMR, KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 20.11.1989, A166, § 43; EGMR, WINDISCH v. AUSTRIA, 27.09.1990, A186, § 29; EGMR, VAN MECHELEN AND OTHERS v. THE NETHERLANDS, 23.04.1997, Reports 1997-III, §§ 59 ff.; EGMR, KOK v. THE NETHERLANDS, 04.07.2000, Reports 2000-VI, «The Law», §§ 1 ff., S. 18 ff.; siehe dazu auch die näheren Ausführungen und Stellungnahmen von KRAUSBECK, S. 239 ff. mit der Unterscheidung zwischen der Fallkonstellation des unerreichbaren, des gefährdeten und des sensiblen Zeugen. Siehe zum stufenweisen Abweichen bereits DEMKO; ZStrR 2004, S. 425 ff.; siehe zum Rückgriff auf Beweissurrogate etwa EGMR, ARTNER v. AUSTRIA, 28.08.1992, A242-A, §§ 21 ff.; EGMR, KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 20.11.1989, A166, § 41; EGMR, UNTERPERTINGER v. AUSTRIA, 24.11.1986, A110, §§ 30 ff.
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Konfrontationsrechts angesprochen ist), in einen Kommunikations- und Interaktionsprozess2063 mit dem Belastungszeugen eingeben und hier in aktiver Weise an der Entstehung der Zeugenaussage mitwirken2064 und zudem auch – und zwar schon durch das ermöglichte Fragenstellen als solches sowie sodann durch die anschliessende nachträgliche Stellungnahme zu dem Zeugenbeweis und den gesamten Beweisen – Einfluss auf die Bewertung der Zeugenaussage als glaubwürdig/nicht glaubwürdig ausüben. Hingegen wird dem Angeklagten etwa bei dem Rückgriff auf Beweissurrogate und einer Verkürzung seines Konfrontationsrechts auf das «Recht zu einer blossen Stellungnahme» – das auch als das «Mindestausübungsrecht» des Konfrontationsrechts bezeichnet werden kann2065 – zu der ohne ihn zustande gekommenen Zeugenaussage diese aktive Einflussnahme auf die Zeugenaussagenentstehung genommen.2066 Was dem Angeklagten hier bleibt, ist die Möglichkeit, mittels seiner Stellungnahme – welche aber immer eine Stellungnahme zu einem bereits fertigen Aussageprodukt, zu einer „bereits fertigen und “stabilisierte(n)“ Zeugenaussage“2067 ist – Einfluss auf die Bewertung dieser Zeugenaussage als glaubwürdig/nicht glaubwürdig zu nehmen, indem er auf Zweifel, Widersprüche, Ungereimtheiten jener belastenden Aussage der Zeugenperson hinweisen und auf diese Weise antithetische Erkenntnismomente in den Glaubwürdigkeitsbewertungsprozess aktiv einbringen kann. Im Falle der Verkürzung des Fragerechts im engen Sinne auf ein blosses Recht zur Stellungnahme ist dem Angeklagten mithin (zwar) eine aktive Einflussnahme auf den Entstehungsprozess der Aussage verwehrt und er ist hier auf eine nur nachträgliche und reaktive Stellungnahme zum «bereits fertigen» Zeugenaussageprodukt reduziert.2068 Diese dem Angeklagten auf jeden Fall einzuräumende, 2063
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Siehe zu den „Kommunikationsmöglichkeiten“ (S. 438) und den „Interaktionsmöglichkeiten des Beschuldigten im Strafverfahren“ (S. 438) und deren Verbindung mit der Fairness des Strafverfahrens näher LUBIG/SPRENGER, ZIS 2008, S. 438 f.: „Verfahrensfairness als Mitwirkungsrecht des Beschuldigten“ (S. 439); siehe dazu auch FISCHER, NStZ 1994, S. 4 f.: ausserordentlich wichtige kommunikative Struktur des Strafprozesses; KRAUSBECK, S. 292: Erhaltung der „besondere(n) Dynamik der Vernehmungssituation“ (Hervorhebung Krausbeck). Siehe dazu auch SCHLEIMINGER, S. 290, 312, 316; SCHLEIMINGER, AJP 1999, S. 1227 ff.; DEGENER, StV 2002, S. 621; DEMKO, ZStrR 2004, S. 423, 429; KRAUSBECK, S. 292. Siehe zum rechtlichen Gehör als Kernausübungselement des Rechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren unter Kap. 4 B. III. 1. Dazu auch SCHLEIMINGER, S. 316: „lediglich das Ergebnis der (unter Ausschluss erfolgten) Beweiserhebung … reaktiv bestreiten“. DEMKO, ZStrR 2004, S. 429; siehe ebenso SCHLEIMINGER, S. 316: „bereits stabilisierte Zeugenaussage“. Dazu näher SCHLEIMINGER, S. 316; siehe auch SCHLEIMINGER, AJP 1999, 1227 ff.; DEMKO, ZStrR 2004, 423, 429.
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
ihm die Wahrnehmung seines Rechts auf rechtliches Gehör ermöglichende Stellungnahme eröffnet dem Angeklagten nun (aber) zumindest bezogen auf den Glaubwürdigkeitsbewertungsprozess eine Einflussnahmemöglichkeit, indem sich der Angeklagte durch das aktive Einbringen von Zweifeln an der Glaubwürdigkeit des Belastungszeugenbeweises an dem Wahrheitsermittlungsprozess antithetisch beteiligen kann.2069 730
Dabei ist – und dies gilt es besonders hervorzuheben – zu beachten, dass um so mehr dem Angeklagten der Einfluss auf die Entstehung der Zeugenaussage genommen oder ihm dieser gar gänzlich entzogen wird und/oder um so mehr dem Angeklagten Anknüpfungspunkte für ein In-Zweifel-Ziehen der Glaubwürdigkeit des Zeugenbeweises genommen werden (z.B. durch die Anonymisierung oder die mangelnde Wahrnehmbarkeit der Zeugenperson), sich in Folge dessen auch seine tatsächliche Einflussnahmemöglichkeit auf die Bewertung des Zeugenbeweises als glaubwürdig/nicht glaubwürdig verringert.2070 Genau hier nun ist der entscheidende Gesichtspunkt angesprochen: Zu fragen ist, ob dem Angeklagten trotz all seiner Beschränkungen bis hin zur Verkürzung der Ausübung des Konfrontationsrechts auf ein «Recht zur Stellungnahme» dennoch noch so viel an Einfluss auf den gerichtlichen Wahrheitsermittlungsprozess verbleibt, dass von einem materiell wirksamen Einfluss, d.h. von einem materiell wirksamen Einbringenkönnen antithetischer Erkenntnismomente in den gerichtlichen Wahrheitsermittlungsprozess gesprochen werden kann. Ob trotz aller Beschränkungen hinsichtlich der Ausübbarkeit des Konfrontationsrechts dem Angeklagten ein ebensolcher materiell wirksamer antithetischer Einfluss auf den gerichtlichen Wahrheitsermittlungsprozess – der sich für den Fall einer dem Angeklagten nur gestatteten Stellungnahme auf das zwingend zu wahrende Erfordernis eines materiell wirksamen antithetischen Einflusses des Angeklagten auf die Bewertung der Glaubwürdigkeit des Zeugenbeweises reduziert – gegeben ist, kann dabei nur und muss dabei stets mittels einer Beurteilung anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls ermittelt werden. Anzulegen ist mithin ein materieller Bewertungsmassstab – und in diesem Sinne ist auch die „Rückbegrenzung durch den Wesensgehalt“2071 des Konfrontationsrechts zu verstehen2072 –, anhand dessen in dem konkreten Einzelfall zu prüfen ist, ob dem Angeklagten bei den und trotz der ausnahmsweise vorgenommenen Einschränkungen vom grundsätzlich uneingeschränkt ausübbaren Konfrontationsrecht dennoch in der 2069 2070
2071
2072
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Siehe dazu auch unter Kap. 4 B. III. 1. Siehe dazu auch die aussagepsychologischen Erkenntnisse zu den Anknüpfungspunkten für die Glaubwürdigkeitsbewertung und zum konfirmatorischen Hypothesentesen unter Kap. 5 A. II. GAEDE, S. 723 (Hervorhebung im Original als Überschrift: Gaede), siehe dazu auch näher S. 723 ff. Siehe dazu bereits unter Kap. 5 B. II. 1. b) aa).
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Sache eine materiell wirksame antithetische Einflussnahme auf den Wahrheitsermittlungsprozess des belastenden Zeugenbeweises eingeräumt ist. cc)
Die Einschränkungsvoraussetzung des Ausgleichserfordernisses
Der EGMR fordert neben dem Verhältnismässigkeitsgrundsatz als weitere2073 Voraussetzung für eine konventionsgemässe Einschränkung des Konfrontationsrechts das sog. Ausgleichserfordernis, ohne aber die mit jenem Erfordernis verbundenen inhaltlichen Anforderungen im Einzelnen deutlich zu machen.2074 Ist es zwar nicht Anliegen der folgenden Ausführungen, eine umfassende Darstellung zu diesem Ausgleichserfordernis zu leisten, so sollen – unter auch kritischer Auseinandersetzung mit anderen Deutungsversuchen – doch wichtige Grundzüge dieses Ausgleichserfordernisses erarbeitet werden. (1)
Das Ausgleichserfordernis als von dem Verhältnismässigkeitsgrundsatz zu unterscheidende zusätzliche Einschränkungsvoraussetzung
Wird mit dem Verhältnismässigkeitgrundsatz eine von der konkreten Einschränkung selbst zu erfüllende Voraussetzung für eine konventionsgemässe Beschränkung des Konfrontationsrechts aufgestellt, wonach etwa die Zeugenanonymisierung, die optische/akustische Einschränkung der Wahrnehmung des Zeugen oder der Rückgriff auf Beweissurrogate strikt verhältnismässig zu sein haben, so ist mit dem Ausgleichserfordernis eine Einschränkungsvoraussetzung angesprochen, die aus dieser verhältnismässigen Einschränkung folgt2075 und sich von der Prüfung her an die Verhältnismässigkeitsprüfung anschliesst: Die antithetischen Einflussnahmemöglichkeiten, die dem Angeklagten bei einem uneingeschränkt ausübbaren Konfrontationsrecht als «am besten» und umfassendsten eingeräumt sind, vermindern sich zum Nachteil des Angeklagten in den Fällen einer, wenn auch verhältnismässigen, so dennoch nur eingeschränkten Ausübbarkeit des Konfrontationsrechts. Eben diese aus der verhältnismässigen Einschränkung folgenden Nachteile 2073
2074
2075
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Siehe dazu bereits unter Kap. 5 B. II. 1. b) aa); deutlich auch GAEDE, S. 282, 688, 727: „zusätzlich auf einer zweiten Legitimationsstufe“ (S. 688, Hervorhebung Gaede); DEMKO, ZStrR 2004, S. 431: „zweites, eigenständiges und kumulativ erforderliches Teilelement“; siehe auch die Formulierung von ESSER, JR 2005, S. 250: „… nur unbedingt notwendige Eingriffe …, die zudem …“; anders hingegen KRAUSBECK, S. 169, 195. Zu dieser Kritik bereits DEMKO, ZStrR 2004, S. 431; siehe auch näher SCHLEIMINGER, S. 14, 17, 34. Siehe auch GAEDE S. 727: „die aus der Einschränkung resultierenden Verteidigungsnachteile“.
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
für die Verteidigung des Angeklagten gilt es nun auszugleichen, indem der infolge der eingeschränkten Ausübbarkeit des Konfrontationsrechts eingetretenen Verminderung an antithetischen Einflussnahmemöglichkeiten für den Angeklagten zum Ausgleich sozusagen ein «Mehr an Antithese» hinzuzufügen ist, und zwar vermittelt durch den Staat und durch das und in dem Verfahren selbst und durch hier entsprechend vorzunehmende Verfahrensgestaltungen. 733
Wichtig ist auch hier die Unterscheidung zwischen der Inhalts- und der Ausübungsebene des Konfrontationsrechts: Die konkreten, die Ausübungsebene betreffenden verhältnismässigen Einschränkungen des Konfrontationsrechts – wie etwa die vorgenommene Zeugenanonymisierung oder der Rückgriff auf Beweissurrogate – lassen sich als solche nicht kompensieren, d.h es kommt zu keiner Kompensation im Sinne eines Rückgängigmachens hin zum uneingeschränkt ausübbaren Konfrontationsrecht oder einer zumindest Verringerung der verhältnismässigen Einschränkungen des Konfrontationsrechts.2076 Vielmehr bleiben diese verhältnismässigen Einschränkungen des Konfrontatiosnrechts – ohne dass das Ausgleicherfordernis daran etwas ändert und auch nur ändern könnte – als solche, als eingeschränkte Ausübungsformen des Konfrontationsrechts bestehen.2077 Nicht also bezogen auf die Ausübungsebene und auf die hier als verhältnismässig beurteilten eingeschränkten Ausübungsformen des Konfrontationsrechts ist das vom EGMR verlangte Ausgleichserfordernis zu verstehen, sondern vielmehr ist das Ausgleichserfordernis in dessen Bezugnahme auf die Inhaltsebene, auf den Wesensgehalt des Konfrontationsrechts zu begreifen,2078 indem das – infolge der eingeschränkten Ausübungsformen gegebene – «Weniger» an antithetischen Erkenntnismomenten, die der Angeklagte in den gerichtlichen Wahrheitsermittlungs2076
2077
2078
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Dazu auch GAEDE, S. 731 f., wonach „keine völlig der ungehinderten Ausübung des Verteidigungsrechts identische und diesbezüglich überprüfbare Ausgleichseignung gefordert werden (kann), da sich diese nur bei der Ablehnung der Einschränkung selbst erfüllen lieβe …“ (Hervorhebung Demko); deutlich auch SCHLEIMINGER, S. 14, 17, 34; nicht zugestimmt werden kann insofern der Kritik von KRAUSBECK, S. 186 f. FN 504, da das sich nicht auf die Ausübungsebene, sondern sich auf die Inhaltsebene beziehende Ausgleichserfordernis – wie im Haupttext angeführt – weder ein uneingeschränkt ausübbares Konfrontationsrecht wiederherstellt noch die verhältnismässigen Einschränkungen zumindest verringert. Deutlich ebenso SCHLEIMINGER, S. 14, 17, 34: „… so ist und bleibt das Fragerecht eingeschränkt, die Beschränkung wird nicht „ausgeglichen“ …“ (S. 17, Hervorhebung Demko). Deutlich und hier die Unterscheidung zwischen der Verhältnismässigkeit und dem Ausgleichserfordernis aufzeigend führt Schleiminger zudem an: „die Einschränkung wird nicht ausgeglichen, sondern ist allenfalls verhältnismässig“ (S. 34, Hervorhebung Demko). In diesem Sinne auch GAEDE, S. 728: „spezifische Ausprägung der Wesensgehaltsgarantie“.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
prozess einbringen kann, nun durch ein zusätzlich hinzuzufügendes und in den gerichtlichen Wahrheitsermittlungsprozess einzuführendes «Mehr» an antithetischen Erkenntnismöglichkeiten, und zwar vermittelt durch den Staat, auszugleichen ist: Ein «Mehr» an antithetischen Erkenntnismöglichkeiten, das im Verfahren und durch hier zu leistende spezifische Verfahrensgestaltungen zu gewährleisten ist, wodurch der Staat und mit diesem das Gericht und die anderen Strafverfolgungsorgane selbst in die Pflicht genommen2079 und institutionell abgestützte Verfahrensgestaltungen2080 ebenso angesprochen sind wie mit der staatlichen Fürsorgepflicht einhergehende Sachmomente.2081 Dieses nunmehrige Richten des Blickes auf den Staat, mithin die Anbindung an den Staat,2082 die mit dem Ausgleichserfordernis geleistet wird – hingegen nicht mit dem Verhältnismässigkeitserfordernis geleistet wird und auch nicht 2079
2080 2081
2082
Dazu auch GAEDE, S. 728, 732: „durch den staatlichen Ausgleich vermittelt“ (S. 728), „dass der Staat ein Vorgehen darlegt …“ (S. 732), siehe näher S. 728 ff.; siehe auch ESSER, JR 2005, S. 250, 255, 256: „die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte (müssen) alle ihnen möglichen und zumutbaren erfolgversprechenden Maβnahmen ergriffen haben bzw. ergreifen“ (S. 250); DEMKO, ZStrR 2004, S. 431: Wenden des Blickes „hin zu einer «Gerichtssphäre»“. Dazu näher GAEDE, S. 730. Siehe auch JUNG, GA 2003, S. 203, wonach sich die Idee und der Begriff der «counterbalancing measures» „mit dem Konzept der gerichtlichen Fürsorgepflicht in Einklang bringen lässt, die in Grenzfällen auch in einem auf Waffengleichheit gepolten Gesamtprogramm bedeutsam bleibt“ (Hervorhebung Demko); siehe zur Fürsorgepflicht auch die Untersuchungen von HÜBNER, S. 100 ff.; LIEBER/DONATSCH, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, August 2006, § 11 Abs. 2 N 66, 68; LIEBER, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 132 N 6, 134 N 14 ff.; WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 3 N 22; SCHMID, S. 81 N 245 f., S. 164 N 500; DONATSCH/SCHWARZENEGGER/WOHLERS, S. 26, 203. Dazu auch GAEDE, S. 728 ff.; ESSER, JR 2005, 250, 255, 256; DEMKO, ZStrR 2004, S. 431; siehe auch DONATSCH/LIEBER, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, August 2006, § 14 N 84: „der Richter selbst“, „der Richter (kann) abklären“; siehe zur Anbindung an die Gerichte und Strafverfolgungsbehörden auch EGMR, UNTERPERTINGER v. AUSTRIA, 24.11.1986, A110, §§ 21, 30 ff. zur gerichtlichen Verweigerung, die vom Angeklagten beantragten Beweise zu seiner Entlastung und zur Glaubwürdigkeitserschütterung des Belastungszeugenbeweises zu erheben; EGMR, KOK v. THE NETHERLANDS, 04.07.2000, Reports 2000-VI, «The Law», S. 20: „In the first place it cannot be said that insufficient care was taken to make sure of the reliability of the anonymous witness. The Investigating Judge tested it, and gave a reasoned opinion in her official record of the interrogation of the witness. She relied not only on her own impression, but also on that of the registrar who was present at the interrogation and on information obtained from Police Officer Van Looijen. In addition, the defence was given the opportunity to question the Investigating Judge on this point in open court, of which in fact it availed itself“ (Hervorhebung Demko).
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geleistet werden darf –, bedeutet an dieser Stelle auch keine stellvertretende Ersetzung der Wahrnehmung der Verteidigungsrechte durch den Staat und bedeutet auch kein generell für unnötig Erklären der Verteidigung mit dem Argument, der Staat würde für den Angeklagten dessen Verteidigungsrechte ausüben.2083 Auf jene Gefahr ist im Schrifttum ganz zu recht hingewiesen worden,2084 jedoch greift diese Gefahr nur für die (fälschliche) Annahme, dass man ein Eingreifen des Staates anstelle der persönlichen Wahrnehmung der Verteidigungsrechte durch den Angeklagten oder dessen Verteidiger als eine verhältnismässige Einschränkung des grundsätzlich uneingeschränkt ausübbaren Konfrontationsrechts betrachten würde. Dies nun darf nicht geschehen und es gilt hervorzuheben, dass ein staatliches Eingreifen keine verhältnismässige Einschränkung des grundsätzlich uneingeschränkt ausübbaren Konfrontationsrechts darstellt, würde dies doch zu einer völligen Untergrabung der eigenständigen und nicht schlicht vom Staat ersetzbaren Bedeutung der dem Angeklagten als Prozesssubjekt zustehenden und vom ihm auch wahrnehmbaren Verteidigungsrechte führen.2085 735
Etwas anderes bedeutet es jedoch,2086 wenn im Anschluss, nach Bejahung des dem Angeklagten zustehenden und von ihm auch wahrnehmbaren – wenn auch verhältnismässig eingeschränkt wahrnehmbaren – Verteidigungsrechts und hier des Konfrontationsrechts dem Staat mit dem zusätzlichen Ausgleichserfordernis die (vor)schnelle Berufung darauf versagt wird, dass (angeblich) schon mit der verhältnismässigen Einschränkung gleichsam automatisch auch eine ein faires Strafverfahren gewährleistende konventionsgemässe Beschränkung des Konfrontationsrechts gegeben sei. Mit dem sich an den Staat anknüpfenden zusätzlichen Ausgleichserfordernis wird vermieden, dass sich der Staat schon und allein mit der Gewährleistung einer verhältnismässigen Einschränkung des Konfrontationsrechts begnügen darf.2087 Es lässt sich auf 2083
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Siehe dazu zu recht und zutreffend DONATSCH/LIEBER, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, August 2006, § 14 N 84. Siehe deutlich GAEDE, S. 478 ff., sich gegen ein Entbehrlichbetrachten und Entziehen der in den Händen der Verteidigung liegenden Teilhaberechte durch den Staat aussprechend (S. 478 f.); siehe dazu auch ILL, forumpoenale 2010, S. 167. Deutlich auch GAEDE, S. 480, 483, wonach es „dem Prozess selbst legitimierende Kraft und dem Angeklagten Vertrauen in den Prozess entziehen (würde), wenn die staatlichen Organe sich herausnehmen dürften, Verfahrensteilhabe auf Grund eigener Aktivitäten ohne einen zu Einschränkungen Anlass gebenden Grund als entbehrlich zu verwerfen oder zu beschneiden“ (S. 480), „an der Selbstbestimmung ansetzenden Menschenrechte … eigenverantwortlich wahrnehmbare Rechte“ (S. 480), „autonome Rechte“ (S. 483). Ähnlich auch GAEDE, S. 483: „Es bleibt zwar richtig, dass … jedoch“. Siehe auch GAEDE, S. 282, 688, 727: „zusätzlich auf einer zweiten Legitimationsstufe“ (S. 688, Hervorhebung Gaede); DEMKO, ZStrR 2004, S. 431: „zweites, eigenstän-
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diese Weise verhindern, dass sich der Staat (vorschnell) aus seiner Pflicht entlassen sieht, für ein umfassend nach der Wahrheit ermittelndes, und zwar unter Beachtung der Menschenrechte der Verfahrensbeteiligten nach der Wahrheit ermittelndes, faires Strafverfahren zu sorgen: Einem fehlerhaft angenommenen Rückzug auf das (angebliche) Genügen einer verhältnismässigen Einschränkung des Konfrontationsrechts wird dadurch begegnet, dass mit dem Ausgleichserfordernis danach zu fragen ist, ob und was (gerade) dem Staat – trotz des Gegebenseins einer verhältnismässigen Einschränkung des Konfrontationsrechts – im Verfahren selbst an zusätzlichen Verfahrensmassnahmen möglich ist, um das mit der verhältnismässigen Einschränkung der Ausübung des Konfrontationsrechts einhergehende «Weniger» an antithetischen Erkenntnismomenten, die der Angeklagte in den gerichtlichen Wahrheitsermittlungsprozess einbringen kann, durch ein zusätzlich hinzuzufügendes und in den gerichtlichen Wahrheitsermittlungsprozess einzuführendes «Mehr» an antithetischen Erkenntnismöglichkeiten aufzufüllen oder – wie es auch vom EGMR mit seiner Forderung nach „sufficiently counterbalanced“2088 ausgedrückt ist – zumindest zu verringern.2089 Nicht genügen kann insofern für das Ausgleicherfordernis ein blosser seitens des Staates erklärter Wille oder die erklärte Absicht,2090 die für die Verteidigung des Angeklagten eingetretenen Benachteiligungen ausgleichen zu wollen. Zu fordern sind vielmehr seitens des Staates ernst- und gewissenhaft vorgenommene und nachweisbar dargelegte2091 Ausgleichsmassnahmen oder zumindest seitens des Staates ernst- und gewissenhaft betriebene und nach-
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diges und kumulativ erforderliches Teilelement“; siehe auch die Formulierung von ESSER, JR 2005, S. 250: „zudem “. EGMR, EDWARDS AND LEWIS v. THE UNITED KINGDOM, 27.10.2004, Reports 2004-X, § 46 (Hervorhebung Demko). Siehe auch die zutreffenden Hervorhebungen von GAEDE, S. 483 ff. dazu, dass die „Staaten durch Art. 6 EMRK zum Einsatz objektiver Schutzprinzipien angehalten werden, um konstitutiv zur Verwirklichung einer wirksamen Verfahrensteilhabe des Angeklagten beizutragen“ (S. 483, Hervorhebung Gaede) und dass „gerade im Kontext des vom EGMR in zahlreichen Zusammenhängen des Art. 6 EMRK geforderten counterbalancing etwaiger unvermeidlicher Erschwerungen der Verteidigung“ (S. 483, Hervorhebung Gaede) die „Pflichten zur materiellen Verteidigung durch das Handeln der Strafverfolgungsbehörden bzw. der Gerichte“ (S. 483, Hervorhebung Demko) anerkannt sind. Dazu auch GAEDE, S. 728, 729. Angesprochen ist die Maxime «justice must not only be done, it must also be seen to be done», siehe dazu EGMR, DELCOURT v. BELGIUM, 17.01.1970, A11, § 31: „… the dictum "justice must not only be done; it must also be seen to be done" ...“; EGMR, CAMPBELL AND FELL v. THE UNITED KINGDOM, 28.06.1984, A80, § 81: „… the maxim "justice must not only be done: it must also be seen to be done" ...“
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weisbar dargelegte Ausgleichsbemühungen,2092 welche als in dem konkreten Fall für den Ausgleich der Verteidigungsnachteile spezifisch geeignet erscheinen: Bezüglich ebensolcher zusätzlicher staatlicher Ausgleichsmassnahmen, die vom EGMR selbst – wohl auch dem Umstand geschuldet, dass die Ausgestaltung des Straf- und Beweisverfahrens grundsätzlich in den Händen der Vertragsstaaten liegt – bisher nicht im Einzelnen ausgeführt sind, ist der blosse Hinweis auf andere, dem Angeklagten neben dem Konfrontationsrecht ebenfalls zustehende Verteidigungsrechte des Art. 6 EMRK für einen Ausgleich nicht genügend,2093 wird hier doch auf eine schlichte „Selbstverständlichkeit verwiesen“.2094 737
Vielmehr ist für die Frage nach im vorliegenden Fall einschlägigen erforderlichen Ausgleichsmassnahmen an das Moment einer spezifischen Beziehung bzw. Verknüpfung zwischen dem verhältnismässig eingeschränkten Konfrontationsrecht und solchen Ausgleichsmassnahmen zu denken, die sich in diesem konkreten Fall als spezifisch geeignet darstellen, die Verteidigungsnachteile (im Sinne des «Weniger» an antithetischen Erkenntnismomenten, die der Angeklagte infolge seines eingeschränkt ausübbaren Konfrontationsrechts in den gerichtlichen Wahrheitsermittlungsprozess einbringen kann) aufzufüllen oder zumindest zu verringern. Zu denken ist betreff solcher sich im konkreten Einzelfall als spezifisch geeignet ausweisen könnenden staatlichen Ausgleichsmasssnahmen sowohl an solche, bei denen der Staat dem Angeklagten zu einer besseren Wahrnehmung seiner Verteidigungsrechte verhilft als auch an solche, bei denen der Staat selbst in eine Ausübungspflicht eintritt und welche mit einer Verkürzung, einer Verdichtung von etwaigen staatlichen Beurteilungs- und/oder Ermessensspielräumen hin zu staatlichen (etwa Eingriffs-)Verpflichtungen einhergehen.2095 Angesprochen sind beispielsweise staatliche Fürsorgepflichten, die dem Angeklagten zu einer effektive(re)n Wahrnehmung etwa seines Beweisantragsrechts zur Erhebung weiterer Beweise verhelfen,2096 wie auch Einschränkungen bezüglich des Beurteilungs2092
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Zu nicht zur Verfügung stehenden Ausgleichsinstrumenten sowie der Möglichkeit von Überkompensation näher GAEDE, S. 733 ff. Siehe dazu etwa GAEDE, S. 730 f.; SCHADEN, S. 229. GAEDE, S. 731; siehe ebenso deutlich SCHADEN, S. 229. Siehe auch ESSER, JR 2005, S. 250 FN 29: Verdichtung „zu einer Art Aufklärungspflicht“. Siehe auch ESSER, JR 2005, S. 256: „Kann also ein Belastungszeuge weder vom Angeklagten noch von dessen Verteidiger zu irgendeinem Zeitpunkt des Verfahrens befragt werden, so ist das Gericht gehalten, allen durchführbaren, entlastenden Beweisanträgen nachzugehen“ (Hervorhebung Demko); siehe dazu auch HÜBNER, S. 99 ff., 105 ff.; siehe dazu ebenso EGMR, UNTERPERTINGER v. AUSTRIA, 24.11.1986, A110, §§ 21, 30 ff., insbesondere §§ 21, 32 zur gerichtlichen Verweigerung, die vom Angeklagten beantragten Beweise zu seiner Entlastung und zur Glaubwürdigkeitserschütterung des Belastungszeugenbeweises zu erheben: „… the Court of
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
spielraums und einer etwaigen Beweisantizipation2097 im Zusammenhang mit dem Verteidigungsrecht des Angeklagten auf Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen,2098 wenn2099 sich dies als eine im konkreten Fall spezifisch geeignete Ausgleichsmassnahme ausweist bzw. – in den Worten von Esser – wenn sich dies und das (verhältnismässig) eingeschränkte Konfrontationsrecht in dem konkret betroffenen Fall „rechtlich nicht getrennt voneinander betrachten“2100 lassen. Diesem entsprechend betont auch Gaede: „… Soweit begründend auf bereits aus anderen Gründen zu gewährende Verfahrenselemente verwiesen wird, muss … gezeigt werden, dass die in Bezug genommenen Teilrechte auf spezifische Art und Weise befähigt sind, die fraglichen Nachteile auszugleichen, da anderenfalls schlicht der Entzug eines eigenständig konstitutiven Teilhaberechts mit dem Hinweis ausgeglichen wäre, dass immerhin nicht noch weitere Rechte des Art. 6 EMRK entzogen worden sind …“2101
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Hinzu kommen als weitere, den Staat in eine eigene Eingriffs- und Ausübungspflicht einstellende Ausgleichsmassnahmen die Verkürzungen etwaiger staatlicher Beurteilungs- und Ermessensspielräume hin zu einer Aufklä-
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Appeal refused to admit the evidence he sought to adduce in order to put his former wife’s and step-daughter’s credibility in doubt …“ (§ 32). Siehe dazu auch ESSER, JR 2005, S. 255, 256: Zwar bestehe beim Zeugenbeweis ein „beachtliche(r) Ausgestaltungs- und Ermessensspielraum“ (S. 255) und sogar eine „vorweggenommene Beweiswürdigung ist in gewissem Rahmen nicht zu beanstanden“ (S. 255). „Anders stellt sich die Situation aber dar, wenn der Angeklagte die Wichtigkeit und Erheblichkeit der Beweiserhebung für die Wahrheitsermittlung darlegt, vor allem, wenn es auβerdem um die Verwertung von Angaben eines nicht mit ihm konfrontierten Belastungszeugen geht. In einem solchem Fall muss die Aufklärungspflicht des Gerichts … vor dem Hintergrund des Konfrontationsrechts aus Art. 6 III lit. d EMRK nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Beweiserhebung, sondern auch auf der Ebene der Beweisverwertung Berücksichtigung finden“ (Hervorhebung Esser: «auβerdem», «Beweisverwertung», übrige Hervorhebung: Demko). Dazu auch näher ESSER, JR 2005, S. 255, 256 zur „Nichterhebung eines mutmaβlich entlastenden Beweises“ (S. 255), die in einer „insgesamt schwierigen Beweissituation zwangsläufig zu einer lückenhaften Beweiswürdigung (führt) und … den Auswirkungen einer »Sperrung« des Entlastungszeugen … doch recht nahe (kommt)“ (S. 255). Dies verweist auf den Unterschied, dass ein blosser Verweis auf Verteidigungsrechte, die dem Angeklagten schlicht neben (und ohne im betreffenden Fall spezifische Verbindung mit) dem Konfrontationsrecht zustehen, für einen Ausgleich nicht genügt. Hingegen kann eine Heranziehung solcher anderer Verteidigungsrechte dann Anknüpfung für eine Ausgleichsmassnahme sein, wenn sich diese von dem Konfrontationsrecht nicht trennen lassen, mithin ein spezifischer Bezug zum Konfrontationsrecht besteht. Siehe dazu auch ESSER, JR 2005, S. 255, 256; GAEDE, S. 731. ESSER, JR 2005, S. 255 (Hervorhebung Demko), siehe dazu näher S. 255, 256. GAEDE, S. 731 (Hervorhebung Demko).
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rungspflicht2102 mit damit einhergehenden, von den Gerichten und/oder Strafverfolgungsbehörden vorzunehmenden (beispielsweise) Ermittlungs-, Beweiserhebungs- oder Fragepflichten,2103 um zu gewährleisten, dass vermittelt durch die Gerichte und die Strafverfolgungsbehörden tatsächlich alle möglichen und sich als im konkreten Fall spezifisch geeignet darstellenden Aufklärungs- und Beweiserhebungsmassnahmen zu einer umfassenden Wahrheitsermittlung ergriffen werden.2104 740
Die auch für das Ausgleichserfordernis zu beachtende Unterscheidung zwischen der Inhalts- und der Ausübungsebene des Konfrontationsrechts bedeutet die Beachtung von Weiterem: Wie ausgeführt, ist darauf zu achten, dass das Ausgleichserfordernis als eine im Anschluss an das Verhältnismässigkeitserfordernis zu beurteilende Voraussetzung für eine konventionsgemässe Einschränkung des Konfrontationsrechts zu prüfen ist, welches danach verlangt, dass durch den Staat ein zusätzlicher «Raum» (d.h. zusätzliche geeignete Möglichkeiten) für das Einführen antithetischer Erkenntnismomente in den gerichtlichen Wahrheitsermittlungsprozess geöffnet wird, mittels welchem der dem Angeklagten entzogene «Raum» für seine antithetische Verfahrensteilnahme wieder gefüllt oder dieses dem Angeklagten zustehende «Weniger» an antithetischer Verfahrensteilnahme zumindest verringert wird. Es hat mithin im Verfahren vermittelt durch den Staat etwas hinzuzukommen, um den seitens des EGMR geforderten Ausgleich der verminderten antithetischen Verfahrensteilnahme des Angeklagten leisten zu können. Dieses mit dem Ausgleicherfordernis einhergehende Erfordernis des Zusätzlichen ist – neben den bereits angeführten Gesichtspunkten – mit weiteren, im Folgenden zu besprechenden Aspekten verbunden:
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So ist bei dem Versuch, das vom EGMR selbst in seinen Einzelheiten (noch) nicht hinreichend dargelegte Ausgleichserfordernis betreff seiner Bedeutung und seines genauen Inhaltes zu interpretieren, von einem Verständnis des Ausgleichserfordernisses in dem Sinne zu lesen, dass die in einem konkreten 2102
2103 2104
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Siehe auch ESSER, JR 2005, S. 250 FN 29, 255, 256: Verdichtung „zu einer Art Aufklärungspflicht“ (S. 250 FN 29), „Schöpft aber das Gericht trotz einer insgesamt schwierigen Beweislage … nicht alle erreichbaren entlastenden Beweise aus und will es gleichwohl Angaben eines nicht konfrontierten Zeugen zum Nachteil des Angeklagten verwerten, so begründet dies einerseits einen Verstoβ gegen die Aufklärungspflicht … Die fehlerhafte Ablehnung des Beweisantrags hat zugleich einen durch die Verwertung der Angaben des M [Zusatz durch die Verfasserin: des Belastungszeugen M] hervorgerufenen Verstoβ gegen Art. 6 III lit. d EMRK zur Folge – und zwar … auf der (dritten) Ebene der Beweiswürdigung“ (S. 256, Hervorhebung Esser: «schwierigen Beweislage», übrige Hervorhebung: Demko). Siehe dazu etwa HÜBNER, S. 99 ff. Zur Ausschöpfung aller erreichbaren, durchführbaren entlastenden Beweise und Beweisanträge siehe ESSER, JR 2005, S. 255, 256.
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Fall nicht mögliche uneingeschränkte Ausübung des Konfrontationsrechts ausgeglichen werde durch bestimmte eingeschränkt mögliche Ausübungen des Konfrontationsrechts, wobei hier im Einzelnen z.T. wiederum unterschiedlich beurteilt wird, welche Einschränkungen in der Ausübung des Konfrontationsrechts als «ausgleichende», «kompensierende» Massnahmen in Betracht kommen.2105 Nicht nur wird hier infolge einer Vernachlässigung der Trennung zwischen Inhalts- und Ausübungsebene und eines (scheinbaren, jedoch fälschlichen) Anlegens des Ausgleichserfordernisses an die Ausübungsebene des Konfrontationsrechts nicht hinreichend darauf geachtet, dass sich ein Ganzes (nämlich die Uneingeschränktheit der Ausübung des Konfrontationsrechts) nicht durch dessen Teile, die immer ein Weniger als das Ganze sind und bleiben, d.h. dass sich ein Ganzes nicht durch ein nur einschränkt ausübbares Konfrontationsrecht ausgleichen lässt.2106 Vielmehr wird zudem bei einem solchen Interpretationsversuch des Ausgleichserfordernisses dieses mit dem Verhältnismässigkeitserfordernis vermischt und/oder mehr noch das Ausgleichserfordernis durch das Verhältnismässigkeitserfordernis gleichsam ersetzt bzw. mit dem Verhältnismässigkeitserfordernis gleichgesetzt. In diesem Sinne vertritt Krausbeck die Ansicht, dass es sich bei dem Ausgleichserfordernis um „nichts anderes als die positive Umschreibung“,2107 die – wenn auch von Krausbeck begrüsste2108 – positive Formulierung2109 des Verhältnismässigkeitserfordernisses handele. Jedoch bringe das Ausgleichserfordernis seiner Ansicht nach „in der Sache nichts Zusätzliches“2110: „… Denn bei genauerer Betrachtung handelt es sich bei dem Postulat einer Kompensation nur um die positive Umschreibung der Verpflichtung, der die Vertragsstaaten schon in Anbetracht der Schranke der strikten Notwendigkeit der Einschränkung unterliegen: der Pflicht zur Auswahl der Verfahrensweise, die die Verteidigungsinteressen des Angeklagten (noch) am besten zur Geltung bringt …“2111
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Siehe dazu etwa ACKERMANN/CARONI/VETTERLI, AJP 2007, S. 1076; ILL, forumpoenale 2010, S. 166 ff.; WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 147 N 19 ff. Siehe dazu auch GAEDE, S. 731 f., wonach „keine völlig der ungehinderten Ausübung des Verteidigungsrechts identische und diesbezüglich überprüfbare Ausgleichseignung gefordert werden (kann), da sich diese nur bei der Ablehnung der Einschränkung selbst erfüllen lieβe …“ (Hervorhebung Demko); deutlich auch SCHLEIMINGER, S. 14, 17, 34: „… so ist und bleibt das Fragerecht eingeschränkt, die Beschränkung wird nicht „ausgeglichen“ …“ (S. 17, Hervorhebung Demko). KRAUSBECK, S. 233. Siehe dazu KRAUSBECK, S. 195 f. Siehe KRAUSBECK, S. 169. KRAUSBECK, S. 195 (Hervorhebung Demko); siehe dazu auch die Ausführungen von ILL, forumpoenale 2010, S. 166 ff. zu den Kompensationsmassnahmen. KRAUSBECK, S. 195.
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742
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen 743
Kritisch ist dazu anzumerken: Durch eine solche Gleichsetzung des Ausgleichserfordernisses mit dem Verhältnismässigkeitserfordernis wird dem Ausgleichserfordernis seine Eigenständigkeit als sich an die Prüfung und Bejahung der Verhältnismässigkeit der Einschränkung des Konfrontationsrechts erst anschliessende Voraussetzung für eine konventionsgemässe Beschränkung des Konfrontationsrechts vollständig genommen und es wird seiner Bedeutung als – wie es insbesondere Gaede zutreffend näher begründet hat – zusätzliche („Moreover“,2112 „Furthermore“2113) „zweite Legitimationsanforderung“2114 für eine konventionsgemässe Beschränkung des Konfrontationsrechts nicht hinreichend Rechnung getragen.2115 Einschränkungen der Ausübung des Konfrontationsrechts (wie etwa Zeugenbefragungen unter optischen/akustischen Abschirmungen oder vermittelt über Videoübertragungen) in fälschlicher Weise als «kompensierende», «ausgleichende» Massnahmen für die nicht mögliche uneingeschränkte Ausübung des Konfrontationsrechts anzusehen,2116 bedeutet, dass nicht hinreichend darauf geachtet wird, dass es sich bei der Beurteilung dieser Einschränkungen der Ausübung des Konfrontationsrechts richtigerweise um die Beurteilung von deren Verhältnismässigkeit handelt: Es geht um die Frage, ob es sich bei diesen Einschränkungen der Ausübung des Konfrontationsrechts nach dem vom EGMR angelegten strikten Massstab tatsächlich um geeignete, erforderliche und angemessene Einschränkungen handelt, nicht hingegen ist hier das erst nach der Bejahung der Verhältnismässigkeit zusätzlich zu prüfende Ausgleichserfordernis angesprochen. Auf jenen zu beachtenden Unterschied verweist prägnant auch Schleiminger, wenn sie ausführt:
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„… die Einschränkung wird nicht ausgeglichen, sondern ist allenfalls verhältnismässig …“2117
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Diesem fälschlicherweise gewählten Rückgriff auf ein Weniger (d.h. auf die eingeschränkte Ausübbarkeit des Konfrontationsrechts im konkreten Fall), um mit diesem ein (im konkreten Fall nicht verwirklichtes) Ganzes (d.h. die Uneingeschränktheit der Ausübung des Konfrontationsrechts) «auszugleichen» zu versuchen und der damit einhergehenden Gleichsetzung des Verhältnismässigkeits- und Ausgleichserfordernisses gilt es ebenso zu widersprechen wie dem Versuch, dass ein Verwertungsverbot als «Ausgleich» für ein 2112
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EGMR, P.S. v. GERMANY, 20.12.2001, Application No. 33900/96, § 23 (Hervorhebung Demko). EGMR, EDWARDS AND LEWIS v. THE UNITED KINGDOM, 27.10.2004, Reports 2004-X, § 46 (Hervorhebung Demko). GAEDE, S. 728. Siehe dazu bereits die vorangehenden Ausführungen unter Kap. 5 B. II. 1. b) aa). Siehe hierzu etwa KRAUSBECK, S. 169, 195, 233; ILL, forumpoenale 2010, S. 166 ff.; WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 147 N 19 ff. SCHLEIMINGER, S. 34 (Hervorhebung Demko).
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
nicht konventionsgemäss gewährtes Konfrontationsrecht in Betracht kommen könne:2118 Nicht ein Hinzufügen antithetischer Erkenntnismöglichkeiten im Verfahren und dadurch ein Ausgleich des dem Angeklagten zukommenden «Weniger an Antithese» werden durch ein Verwertungsverbot geleistet, sondern gerade umgekehrt greift das Verwertungsverbot (u.a.2119) erst dann ein, wenn ein solcher vom Staat im Verfahren zu leistender Ausgleich vom Staat nicht mit der nötigen Ernsthaftigkeit vorgenommen und nicht einmal ernsthaft versucht worden ist. Ein Verwertungsverbot ist also nicht selbst eine Ausgleichsmassnahme für das nicht uneingeschränkt verwirklichte Konfrontationsrecht, sondern ist vielmehr Folge und zu ziehende Konsequenz (u.a.) eines vom Staat vorwerfbar nicht geleisteten Ausgleichs bzw. Ausgleichsversuchs: Durch das Verwertungsverbot werden die dem Angeklagten im Verfahren zukommenden Verteidigungsnachteile als solche zwar nicht rückgängig gemacht und auch nicht gemindert, aber es verhindert, dass diese zu Lasten des Angeklagten über den Prozess hinaus in einer ihn verurteilenden Entscheidung fortwirken. (2)
Der für das Ausgleichserfordernis in Betracht kommende Verfahrensabschnitt
Ein Ausgleich verlangt ein Mehr, etwas Hinzukommendes, das die bestehende und auszugleichende Lücke schliesst oder zumindest verkleinert („sufficiently counterbalance“2120): Bezugspunkt dieses Ausgleichs sind, wie angeführt, die dem Angeklagten infolge seiner eingeschränkten Verteidigungsmöglichkeiten verringerten Möglichkeiten, antithetische Erkenntnismomente in den gerichtlichen Wahrheitsermittlungsprozess einbringen zu können, was der Staat durch ein von ihm im Verfahren zusätzlich zu leistendes Mehr an antithetischen Erkenntnismöglichkeiten wieder auszugleichen und zumindest auszugleichen zu versuchen hat. Damit ist zugleich die kontrovers diskutierte Frage angesprochen, in welchem Abschnitt des Verfahrens – in dem Abschnitt der 2118
2119 2120
Insofern etwas missverständlich die Formulierung von GAEDE, S. 733, wonach es geboten sein könne, „bestimmte Beweise zum Beleg der Tat nicht heranzuziehen, wenn nur so die entstandenen Nachteile der Verteidigung ausgeglichen werden können. Es kann dann praktisch … ein Verwertungsverbot anzuerkennen sein …“, mit welchem es regelmässig möglich sei, „… eine Belastung des Angeklagten durch die Einschränkung auszuschlieβen …“ (Hervorhebung Demko). Siehe dazu auch unter Kap. 5 B. II. 2. c). EGMR, OYSTON v. THE UNITED KINGDOM, 22.01.2002, Application No. 42011/98, S. 9: „… there may be circumstances where restrictions on access to evidence or to a witness may be necessary or unavoidable. The Court has recognised that in such cases Article 6 § 1 taken together with Article 6 § 3(d) requires that the handicaps under which the defence labours be sufficiently counterbalanced by the procedures followed by the judicial authorities …“ (Hervorhebung Demko).
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746
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Erhebung und/oder dem der Würdigung der Beweise – ein solcher im konkreten Fall spezifisch-geeigneter Ausgleich vom Staat überhaupt geleistet werden kann (und geleistet werden muss). Es geht mithin um die Frage, auf welchen Verfahrensabschnitt sich das Ausgleichserfordernis bei genauerer Betrachtung bezieht und einzig beziehen kann. 747
Beizupflichten ist dem EGMR, der hier in einer klaren Weise betont, dass eine besonders sorgfältige und zurückhaltende Art der Beweiswürdigung als eine Ausgleichsmassnahme nicht in Betracht kommt:2121
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„… no doubt … they observed caution in evaluating the statements in question, but this can scarcely be regarded as a proper substitute for direct observation …“2122
749
Knüpft man an die für das Ausgleichserfordernis betonte Notwendigkeit eines Hinzuzufügenden an, wonach dem «Weniger» an antithetischen Erkenntnismomenten, das dem Angeklagten infolge des nur eingeschränkt ausübbaren Konfrontationsrechts zukommt, ein seitens des Staates zusätzlich zu erbringendes «Mehr» an antithetischen Erkenntnismomenten an die Seite zu stellen ist, so kann es nur der Verfahrensabschnitt der Beweiserhebung sein, der als geeigneter Verfahrensabschnitt für das Ausgleichserfordernis in Betracht kommt: Nur hier, im Rahmen der Beweiserhebung, werden thetische und antithetische Erkenntnismomente durch das Gericht, die anklagende sowie die angeklagte Seite eingeführt und zusammengetragen sowie nur hier können bis zum Abschluss der Beweiserhebungsphase immer wieder neue Erkenntnisquellen und neue Erkenntnismöglichkeiten – seien dies etwa neue Beweiserhebungen mittels neuer Beweismittel oder neue Sachverhaltsermittlungen mit zu Tage gebrachten neuen thetischen und/oder antithetischen Sachverhaltshypothesen aufgrund von Verdichtungen staatlicher Aufklärungen zu Aufklärungspflichten oder infolge wahrgenommener staatlicher Fürsorgepflichten – erkannt, eingeführt und ausgeschöpft werden, welche wiederum neue zusätzliche thetische und/oder antithetische Erkenntnisse hervorbringen können. 2121
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Siehe dazu aus dem Schrifttum etwa WATTENBERG, StV 2000, S. 693; DEMKO, ZStrR 2004, S. 431; ESSER, JR 2005, S. 250; SIMON, S. 134 f.; GAEDE, S. 482, 733, 845: keine Geeignetheit der vorsichtigen Beweiswürdigung, die „Ausübung von Verteidigungsrechten zu imitieren“ (S. 733) und über sie könne „eine tatsächlich überprüfbare und äuβerlich sichtbare nachteilsausschlieβende Wirkung auf die richterliche Würdigung“ (S. 845, Hervorhebung Gaede) nicht belegt werden; SCHLOTHAUER, StV 2001, S. 130 f. EGMR, KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 20.11.1989, A166, § 34 (Hervorhebung Demko); siehe auch EGMR, HULKI GUNES v. TURKEY, 19.06.2003, Reports 2003-VII, § 95; EGMR, D. v. FINLAND, 07.07.2009, Application No. 30542/04, § 50; EGMR, BOCOS-CUESTA v. THE NETHERLANDS, 10.11.2005, Application No. 54789/00, § 71.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Nach Abschluss der Beweiserhebungsphase kann in der dann folgenden Beweiswürdigungsphase ein solcher Raum für das Einbringenkönnen neuer zusätzlicher (thetischer wie) antithetischer Erkenntnisse hingegen nicht mehr eröffnet oder vergrössert werden, da es hier – woran auch eine besonders vorsichtige Beweiswürdigung nichts ändert2123 – allein um die Bewertung und Würdigung des abschliessend ermittelten und insoweit feststehenden Beweismaterials geht:2124 Neues an antithetischen Erkenntnismomenten, welches als Ausgleich wirken könnte, kann in der Beweiswürdigungsphase per se nicht hinzukommen bzw. genauer, kann und auch darf durch den Staat nicht mehr hinzugefügt werden. Nur in der Beweiserhebungsphase ist es dem Staat also überhaupt möglich, dem dem Angeklagten zukommenden «Weniger an Antithese» ein «Mehr an Antithese» durch solche zusätzlichen Möglichkeiten an die Seite zu stellen, die den Raum für das Einfliessenlassen antithetischer Erkenntnismomente eröffnen und/oder vergrössern. In der Beweiswürdigungsphase und hier auch insbesondere durch eine besonders vorsichtige Beweiswürdigung kann hingegen „ein defizitäres Beweismittel … in seiner Qualität nicht verbessert“2125 und können „(s)trukturelle Mängel der Beweisaufnahme“2126 sowie das dem Angeklagten zugekommene Weniger an antithetischer Verfahrensteilnahme nicht durch ein vom Staat zu leistendes Mehr an antithetischen Erkenntnismöglichkeiten ausgeglichen werden. 2.
Einschränkungsvoraussetzungen auf der Beweiswürdigungsebene
a)
Das Erfordernis der die Verurteilung des Angeklagten «weder allein noch im entscheidenden Aussmass» stützenden belastenden Zeugenaussage als vom EGMR ausgeformte «dritte Prüfungsstufe» für eine konventionsgemässe Einschränkung des Konfrontationsrechts
Mit Blick auf die Bedeutung bzw. das Gewicht, die/das einer belastenden Zeugenaussage, welche unter einem nur eingeschränkt ausübbaren Konfrontationsrecht gewonnen wurde, für die Urteilsfindung zukommen darf, betritt der Gerichtshof die Ebene der Beweiswürdigung und zu beobachten ist, wie er über seinen Gesamtbetrachtungsansatz nunmehr auf dieser „flexible(n) 2123 2124
2125 2126
Siehe dazu auch WATTENBERG, StV 2000, S. 693. Siehe auch GAEDE, S. 482, wonach sich mit der vorsichtigen Beweiswürdigung „eines niemals erreichen (lässt): Eine bestimmte Teilhabe an der Erhebung der sodann tatsächlich zu würdigenden Beweisen [sic] selbst, wie sie dem Angeklagten mit Verteidigungsrechten prinzipiell offen steht … die besonders vorsichtige Beweiswürdigung zur Kompensation einer verwehrten Konfrontation wirkt auf den Beweis selbst gerade nicht ein …“ (Hervorhebung Demko). WATTENBERG, StV 2000, S. 693. WATTENBERG, StV 2000, S. 693 mit Bezugnahme auf Grünwald.
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
„Beweiswürdigungsschiene““2127 – und nicht über das Aufstellen von expliziten Beweisverwertungsverboten als Folge von konventionswidrig erhobenen Zeugenbeweisen – eine „absolute »Fairness«-Grenze“2128 sucht.2129 Hierbei betont der EGMR, dass sich neben einer zu beachtenden äusserst vorsichtigen und umsichtigen Bewertung solcher Zeugenaussagen („extreme care“,2130 „with the necessary caution and circumspection“2131) eine Verurteilung des Angeklagten weder allein („solely“2132) noch im Wesentlichen, hauptsächlich 2127 2128 2129
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2132
486
ESSER, S. 653, siehe dazu auch weiter S. 647 f., 654 f. GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 186, siehe zudem S. 191. Siehe zur Kritik an dem auf der Ebene der Beweiswürdigung liegenden Lösungsweg des EGMR aus dem Schrifttum etwa GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 189 f., 191, wo Gless kritisch anmerkt, dass die EMRK keine „(explizite(n)) Beweisverbote als Konsequenz der Verletzung der EMRK-Garantien …“ statuiert habe, jedoch nach zutreffender Ansicht von Gless „… zwingende Beweisverbote jedenfalls für die Verletzung einer EMRK-Vorgabe bei der Gewinnung von Beweismitteln etc. zweckmäβig“ (S. 191, Hervorhebung Demko) erscheinen; ESSER, S. 182 f., 647 f., 653 ff.: Der EGMR habe sich „in einer für den Beschuldigtenschutz ganz wichtigen Frage letztlich aus der Verantwortung geschlichen“ (S. 183), „(a)nstatt verbindliche Vorgaben für die Zulassung und die Sperrung „nicht konfrontierter“ Zeugen zu machen, sucht der Gerichtshof den flexiblen Ausweg über die Beweiswürdigungsschiene“ (S. 647); GAEDE, S. 431, 440 ff., 844 f., WOHLERS, Festschrift Trechsel, S. 820 ff.; scheinbar anders aber ACKERMANN/VETTERLI/CARONI, AJP 2000, S. 1080, nach welchen der EGMR „keine Beweiswürdigungsregel, sondern ein Beweis(verwertungs)verbot (entwickelte) …“; siehe aber deutlich ESSER, in: MARAUHN, S. 60, wonach es hier auf der dritten Prüfungsstufe des Art. 6 III d EMRK „nach den Vorgaben des EGMR aber schon deshalb nicht zur Postulierung eines Verwertungsverbotes kommen (kann), da der Gerichtshof hier eine Lösung im Rahmen der Beweiswürdigung sucht und verlangt, dass die Verurteilung nicht „ausschlieβlich“ bzw. „maβgeblich“ auf den Aussagen des nicht konfrontierten Zeugen beruhen darf, dabei aber den entgegen Art. 6 III lit. d EMRK erhobenen Zeugenbeweis nicht als Urteilsgrundlage ausschlieβt …“ (Hervorhebung Esser); WATTENBERG, StV 2000, S. 693, wonach ein „defizitäres Beweismittel auch durch eine vorsichtige Beweiswürdigung in seiner Qualität nicht verbessert werden …“ könne sowie – unter Bezugnahme auf Grünwald – „… (S)trukturelle Mängel der Beweisaufnahme … durch eine zurückhaltende Beweiswürdigung nicht ausgeglichen“ werden könnten. EGMR, DOORSON v. THE NETHERLANDS, 26.03.1996, Reports 1996-II, § 76: „… Furthermore, evidence obtained from witnesses under conditions in which the rights of the defence cannot be secured to the extent normally required by the Convention should be treated with extreme care …“ (Hervorhebung Demko); siehe auch EGMR, KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 20.11.1989, A166, § 43: „… observed caution in evaluating the statements in question …“ (Hervorhebung Demko). EGMR, DOORSON v. THE NETHERLANDS, 26.03.1996, Reports 1996-II, § 76 (Hervorhebung Demko). EGMR, DOORSON v. THE NETHERLANDS, 26.03.1996, Reports 1996-II, § 76 (Hervorhebung Demko).
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
(„mainly“,2133 „essentially“2134), in einem entscheidenden Ausmass („to a decisive extent“2135) auf eine solche nur eingeschränkt konfrontierbare belastende Zeugenaussage stützen dürfe: „… Finally, it should be recalled that even when "counterbalancing" procedures are found to compensate sufficiently the handicaps under which the defence labours, a conviction should not be based either solely or to a decisive extent on anonymous statements. That, however, is not the case here: it is sufficiently clear that the national court did not base its finding of guilt solely or to a decisive extent on the evidence of Y.15 and Y.16 …“2136
752
Es sind diese drei Prüfungsstufen – das Vorliegen sachlich gerechtfertigter Gründe auf der ersten Prüfungsstufe, die mit der «Wahrung der Verteidigungsrechte» zu beachtenden Erfordernisse des strengen Verhältnismässigkeitsgrundsatzes, des Ausgleichserfordernisses und des trotz gegebener Einschränkung der Ausübung des Konfrontationsrechts stets zu wahrenden Wesensgehaltes auf der zweiten Prüfungsstufe sowie das Erfordernis des die Verurteilung weder allein noch im entscheidenden Ausmass stützenden Zeugenbeweismittels auf der dritten Prüfungsstufe –, welche der EGMR für eine konventionsgemässe Einschränkung des Konfrontationsrechts kumulativ verlangt.2137 Mit diesem für konventionsgemässe Einschränkungen des Konfrontationsrechts entwickelten Prüfungsmodell hat der Gerichtshof seinen Gesamtbetrachtungsansatz in einen konkretisiert(er)en Prüfungsrahmen über-
753
2133
2134
2135
2136
2137
EKMR, ASCH v. AUSTRIA, Application Nr. 12398/86, 03.04.1990, § 47: „… it is clear from the judgment of 15 November 1985 that the Regional Court based the applicant's conviction mainly on the statement made by J.L. to the police …“ (Hervorhebung Demko); siehe auch EGMR, UNTERPERTINGER v. AUSTRIA, 24.11.1986, A110, § 33: „… it is clear from the judgment of 4 June 1980 that the Court of Appeal based the applicant’s conviction mainly on the statements made by Mrs. Unterpertinger and Miss Tappeiner to the police ...“ (Hervorhebung Demko). EGMR, ASCH v. AUSTRIA, 26.04.1991, A 203, JOINT DISSENTING OPINION OF JUDGES SIR VINCENT EVANS AND BERNHARDT, § 2 (Hervorhebung Demko); siehe auch die Formulierung in EGMR, ARTNER v. AUSTRIA, 28.08.1992, A242-A, DISSENTING OPINION OF JUDGE THÓR VILHJÁLMSSON: „… It may perhaps be said that her testimony was not the only evidence taken into account. Nevertheless, it seems beyond doubt that it was by far the most important …“ (Hervorhebung Demko). EGMR, DOORSON v. THE NETHERLANDS, 26.03.1996, Reports 1996-II, § 76 (Hervorhebung Demko); zur Beweiswürdigungsebene auch WARNKING, S. 334 ff. EGMR, DOORSON v. THE NETHERLANDS, 26.03.1996, Reports 1996-II, § 76 (Hervorhebung Demko). Zu den drei Prüfungsstufen siehe DEMKO, ZStrR 2004, S. 419 ff.; Esser, in: MARAUHN, S. 59 f.; ACKERMANN/CARONI/VETTERLI, AJP 2007, S. 1077: „Aus der Rechtsprechung des EGMR geht klar hervor, dass alle drei Voraussetzungen kumulativ vorliegen müssen …“ (Hervorhebung Demko).
487
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
führt, innerhalb dessen der EGMR zwar (noch) nicht alle Fragen zu den einzelnen Prüfungsstufen klar und erschöpfend beantwortet, aber zumindest „verlässlichere Vorgaben als die „Gesamtbetrachtung“ der Verfahrensfairness“2138 für eine konventionsgemässe Einschränkung des Konfrontationsrechts zur Verfügung stellt. Dabei nicht explizit zwischen der Beweiserhebungsebene und der Beweiswürdigungsebene trennend2139 und hier sodann die erste und zweite Prüfungsstufe der Beweiserhebungsebene und die dritte Prüfungsstufe der Beweiswürdigungsebene zuweisend, hat der Gerichtshof ebenso bisher explizit keine Beweisverwertungsverbote für den Fall konventionswidrig erhobener Zeugenbeweise aufgestellt.2140 Vielmehr sucht er unter Vermeidung von „verbindlichen „harten“ Vorgaben für die Beweisverwertung“2141 nach einem Lösungsweg auf der dritten, die Beweiswürdigung betreffenden Prüfungsebene und gibt mit diesem Lösungsweg eine Vielzahl von von ihm bisher nicht hinreichend beantworteten Fragen auf: b) 754
Kritikpunkte an dem Prüfungskriterium der «Entscheidungserheblichkeit»
Nicht nur, dass der EGMR mit diesen die Beweiswürdigungsebene betreffenden Anforderungen an die unter Einschränkungen in der Ausübung des Konfrontationsrechts zustande gekommenen belastenden Zeugenaussagen ein Gebiet betritt, das er selbst grundsätzlich den Vertragsstaaten zuweist,2142 ist der Umgang des EGMR mit diesen von ihm aufgestellten Voraussetzungen – welche mit dem Erfordernis des «nicht einzigen» Beweises solche quantitativer Art und mit dem Erfordernis des «nicht hauptsächlichen» Beweises solche qualitativer Art sind2143 – zum Teil widersprüchlich geführt.2144 Zudem lässt jener Umgang des EGMR genaue Antworten nach anzulegenden klaren 2138 2139
2140 2141 2142
2143
2144
488
ESSER, in: MARAUHN, S. 59. Siehe dazu auch die näheren Ausführungen unter Kap. 5 B. II. 2. c); siehe auch GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 189 zur mit dem Gesamtbetrachtungsansatz des EGMR verbundenen Gefahr für die „… Justizförmigkeit des Verfahrens: die Trennung der Ebene der Beweissammlung von der Ebene der Beweisverwertung (mit ihren formalen Verfahrensrechten) von der Ebene der »freien Beweiswürdigung« …“ und hier insbesondere auf die Gefahr hinweisend, dass „Verletzungen nicht förmlich geahndet werden“ und die „formale(n) Verfahrensrechte des Angeklagten zur Disposition der Strafverfolgungsbehörden gestellt“ würden. Siehe dazu auch die Ausführungen unter Kap. 5 B. II. 2. c). ESSER, in: MARAUHN, S. 62. Siehe dazu auch der Hinweis in EGMR, ARTNER v. AUSTRIA, 28.08.1992, A242A, DISSENTING OPINION OF JUDGE THÓR VILHJÁLMSSON. Ähnlich auch SCHLEIMINGER, S. 10, die nach den Anforderungen an das zusätzliche Beweismaterial „in quantitativer oder qualitativer Hinsicht“ fragt. Darauf bereits hinweisend DEMKO, ZStrR 2004, S. 433; SCHLEIMINGER, S. 10, 20.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Massstäben für die Unterscheidung vermissen, wann eine Verurteilung in einem entscheidenden oder nicht entscheidenden Ausmass auf eine nur eingeschränkt konfrontierbare belastende Zeugenaussage gestützt ist.2145 Das Erfordernis der Entscheidungserheblichkeit, mit dem das Erfordernis angesprochen ist, dass sich eine Verurteilung nicht im entscheidenden Ausmass auf eine nur eingeschränkt konfrontierbare Zeugenaussage stützen darf, wirft eine Vielzahl an Fragen auf: In einer treffend formulierten Verwunderung weist Schaden darauf hin, dass es erstaunlich sei, „wie genau er [Hinzufügung der Verfasserin: der EGMR] unterscheiden kann, ob ein Urteil in entscheidendem Ausmaβ auf eine bestimmte Aussage gestützt war oder nicht“.2146 Dass jene Beurteilung nun alles andere als einfach und klar zu treffen ist und auch in den vom EGMR entschiedenen Fällen nicht stets eindeutig getroffen wurde, zeigen die vielfältigen widersprüchlichen Beurteilungen zur Massgeblichkeit von ein und derselben belastenden Zeugenaussage durch den Gerichtshof, die Kommission und die einzelnen Mitglieder beider Konventionsorgane:
755
Berief sich der EGMR etwa in den Fällen ASCH v. AUSTRIA und ARTNER v. AUSTRIA für die Konventionsmässigkeit darauf, dass die Zeugenaussagen nicht das einzige Beweismittel gewesen seien, sondern durch andere Beweismittel bestätigt würden,2147 so kamen Kommission und einzelne Richter des EGMR hingegen zum Ergebnis einer Konventionsverletzung und waren der Ansicht, dass sich die Verurteilung des Angeklagten hauptsächlich bzw. im wesentlichen („mainly“,2148 „essentially“2149) auf die Zeugenaussagen stützte. Wenn – wie es in den abweichenden Voten der Richter des EGMR im Fall ARTNER v. AUSTRIA hiess – jene Zeugenaussagen auch nicht das einzig zu berücksichtigende Beweismaterial gewesen seien, so stellten diese trotzdem das bei weitem wichtigste Beweismaterial („by far the most important“2150) dar und es habe der Anschein bestanden, dass es ohne die Verwendung
756
2145
2146 2147
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2150
Siehe zu dieser Kritik auch WANNEK, S. 101; SCHLEIMINGER, S. 10, 19 ff.: „äusserst vage“ (S. 19), „völlig ungeeignet“ (S. 21). SCHADEN, S. 231 (Hinzufügung der Klammer (der EGMR): Demko). Siehe EGMR, ASCH v. AUSTRIA, 26.04.1991, A 203, § 30; EGMR, ARTNER v. AUSTRIA, 28.08.1992, A242-A, §§ 22-24. EKMR, ASCH v. AUSTRIA, Application Nr. 12398/86, 03.04.1990, § 47: „… it is clear from the judgment of 15 November 1985 that the Regional Court based the applicant's conviction mainly on the statement made by J.L. to the police …“ (Hervorhebung Demko). EGMR, ASCH v. AUSTRIA, 26.04.1991, A 203, JOINT DISSENTING OPINION OF JUDGES SIR VINCENT EVANS AND BERNHARDT, § 2 (Hervorhebung Demko). EGMR, ARTNER v. AUSTRIA, 28.08.1992, A242-A, DISSENTING OPINION OF JUDGE THÓR VILHJÁLMSSON: „… It may perhaps be said that her testimony was not the only evidence taken into account. Nevertheless, it seems beyond doubt that it was by far the most important …“ (Hervorhebung Demko).
489
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen der Zeugenaussage zu keiner Verurteilung gekommen wäre („It appears that without the use of the statement the conviction could not have been obtained“2151). In umgekehrter Richtung stellte der EGMR im Fall UNTERPERTINGER v. AUSTRIA eine Konventionsverletzung fest und war der Ansicht, dass es sich bei den belastenden Zeugenaussagen um das hauptsächliche („mainly“2152) Beweismittel handelte, während die Kommission in UNTERPERTINGER v. AUSTRIA unter Anführen, dass die Zeugenaussagen nicht die einzigen verfügbaren Beweise gewesen seien und die Verurteilung daher nicht ausschliesslich auf diesen beruht habe,2153 eine faires Verfahren für gegeben hielt. Kam der EGMR im Fall LÜDI v. SWITZERLAND zum Ergebnis einer Konventionsverletzung,2154 verneinte Richter Matscher in seinem abweichenden Votum hingegen eine Konventionsverletzung und war der Ansicht, dass das Geständnis des Angeklagten zwar durch einen Trick unter Mitwirkung des später nicht befragten Zeugen herbeigeführt wurde, was aber nicht bedeute, dass dieses nicht verwendet werden könne.2155 Vielmehr sei aus den Unterlagen der Verfahren vor den schweizerischen Gerichten klar ersichtlich („it can clearly be seen …“), dass im Unterschied zu den Fällen Kostovski und Windisch das erkennende Gericht seine Entscheidung im wesentlichen auf das unbestrittene Geständnis von Herrn Lüdi und auf die Aussagen seiner Mitangeklagten gestützt habe („… the trial court based its decision essentially on the unchallenged admissions of Mr Lüdi and the statements of his codefendants“2156).
2151
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EGMR, ARTNER v. AUSTRIA, 28.08.1992, A242-A, JOINT DISSENTING OPINION OF JUDGES WALSH, MACDONALD AND PALM, § 2: „… That there was other incriminating evidence is beside the point. It appears that without the use of the statement the conviction could not have been obtained. If the case were otherwise, there would have been no need to admit the statement. The applicant, through no fault of his, was deprived of his right to examine Miss L. as to the accuracy and/or truth of her obviously damaging statement which filled the gap in the evidence necessary to secure the conviction. In the event the prejudicial effect remained uncorrected …“ (Hervorhebung Demko). EGMR, UNTERPERTINGER v. AUSTRIA, 24.11.1986, A110, § 33: „… it is clear from the judgment of 4 June 1980 that the Court of Appeal based the applicant’s conviction mainly on the statements made by Mrs. Unterpertinger and Miss Tappeiner to the police ...“ (Hervorhebung Demko). Siehe EKMR, UNTERPERTINGER v. AUSTRIA, 11.10.1984, Series B, no. 93, §§ 98, 99: „… this had not been the only evidence available to the court … The judgment was therefore not exclusively based on the statements made before the police by the applicant's wife and step-daughter as he alleges …“ Siehe EGMR, LÜDI v. SWITZERLAND, 15.06.1992, A238, §§ 45 ff. Siehe EGMR, LÜDI v. SWITZERLAND, 15.06.1992, A238, PARTLY DISSENTING OPINION OF JUDGE MATSCHER, S. 20: „… It is true that the admissions were obtained by trickery through the intervention of the undercover agent, Toni, but that does not mean that they could not be used …“ EGMR, LÜDI v. SWITZERLAND, 15.06.1992, A238, PARTLY DISSENTING OPINION OF JUDGE MATSCHER, S. 20.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Ersichtlich machen (bereits) diese dargestellten widersprüchlichen Einschätzungen zur „Entscheidungserheblichkeit“2157 der nur eingeschränkt konfrontierbaren belastenden Zeugenaussagen, dass jener vom EGMR angeführte Prüfungsgesichtspunkt von sehr vagem und unbestimmtem Charakter ist,2158 zumal es der Gerichtshof bis heute vermissen lässt, weiterführende konkretisierende Kriterien und Massstäbe für die Bewertung und Einordnung einer belastenden Zeugenaussage als die Verurteilung im wesentlichen oder nicht im wesentlichen stützendes Beweismittel anzugeben.2159 Die Widersprüchlichkeit der Bewertung ein- und derselben Zeugenaussage als eines für die Verurteilung wesentlichen oder nicht wesentlichen Beweismittels und das Fehlen von durch den EGMR ausformulierten objektiven Bewertungsmassstäben verstärken zudem den Anschein, dass der EGMR bei seinem Prüfungskriterium der Entscheidungserheblichkeit versteckt in eine eigene subjektive Beweiswürdigung eintritt.2160 Denn wenn der EGMR der Ansicht ist, das nationale Gericht stütze sein Urteil massgebend auf die belastenden Zeugenaussagen, während seine Mitglieder/die Kommission dies ablehnen (oder auch umgekehrt, der EGMR verneint die Entscheidungserheblichkeit, während seine Mitglieder/die Kommission diese bejahen), dann lässt sich die Vermutung nicht von der Hand weisen, dass sowohl der EGMR als auch seine Mitglieder/die Kommission eine jeweils eigene subjektive Bewertung der Beweismittel mit Blick auf ihre Entscheidungserheblichkeit vorgenommen haben. Angesprochen ist ein Gesichtspunkt, der kritisch auch vom Schrifttum2161 und hier etwa von Schaden zutreffend hervorgehoben wird, wonach „(o)ffen bleibt“,2162 wie und anhand welcher Kriterien der EGMR die Beweiswürdigung des nationalen Gerichts selbst beurteilen könne, ohne dabei zugleich in eine eigene Beweiswürdigung einzusteigen und die Beweiswürdigung des nationalen Gerichts durch eine eigene Würdigung zu ersetzen.2163 Hingewiesen ist hier auf die Gefahr einer versteckten eigenen Beweiswürdi2157 2158 2159
2160
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2162 2163
ESSER, S. 674, siehe dort auch näher S. 674 f. Dies ebenso betonend SCHLEIMINGER, S. 19 ff. SCHLEIMINGER, S. 19 kritisiert insofern nicht nur, dass „unklar (ist), was die zusätzlichen Beweise zu beweisen haben: die Glaubwürdigkeit der Zeugenaussage, das Vorliegen einer Straftat oder die Täterschaft des Angeklagten ...“ (S. 19), sondern dass der EGMR zudem „... offen (lässt), welche Anforderungen an die zusätzlichen Beweise zu stellen sind“ (S. 19); siehe auch WANNEK, S. 101: Offenbleiben des Massstabes. Siehe dazu auch TRECHSEL, AJP 2000, S. 1368; GAEDE, S. 844 f., wonach die erforderliche fallkonkrete tatsächliche Beweiswürdigung „dem EGMR strukturell gar nicht zusteht. Sie lässt ihn letztlich in die Domäne des Tatrichters einbrechen …“ Siehe hierzu etwa TRECHSEL, AJP 2000, S. 1368; GAEDE, S. 844 f.; siehe auch BGE 133 I 33, S. 40 f. zu Zweifeln hinsichtlich des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung; dagegen aber ACKERMANN/CARONI/VETTERLI, AJP 2007, S. 1080. SCHADEN, S. 234. Siehe dazu auch deutlich SCHADEN, S. 234.
491
757
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
gung des EGMR, wie sie auch von Richtern des Gerichtshof selbst gesehen wird, weist doch etwa Richter Thór Vilhjálmsson in seinem abweichenden Votum im Fall ARTNER v. AUSTRIA darauf hin, dass die Auslegung des Art. 6 III d EMRK den Gerichtshof unglücklicherweise auf verbotenes Territorium führe, nämlich auf das Gebiet der Beweiswürdigung, welches ein den nationalen Gerichten vorbehaltener Bereich sein sollte: 758
„… Unfortunately, the interpretation of this rule takes our Court into forbidden territory so to say, i.e. the assessment of evidence, which should be the reserved domain of the national courts …“2164
759
Es sind diese aufgezeigten Widersprüche in der Bewertung ein und derselben Zeugenaussage als hauptsächliches bzw. nicht hauptsächliches Beweismittel, welche die Fragewürdigkeit der Geeignetheit des Kriteriums der „Entscheidungserheblichkeit“2165 deutlich machen, zu welcher die Vagheit jenes Kriteriums infolge Fehlens von durch den EGMR ausformulierten konkretisierenden Kriterien und Massstäben hinzukommt. Mehr und vor allem aber ist es die Tauglichkeit jenes Kriteriums der Entscheidungserheblichkeit überhaupt, welche in Frage steht:
760
Die Untauglichkeit des vom EGMR angeführten Kriteriums der Entscheidungserheblichkeit anzeigend und damit in die richtige Richtung weisend, wenn auch noch nicht ganz den ausschlaggebenden Gesichtspunkt treffend, wird von den Richtern Walsh, MacDonald und Palm im Fall ARTNER v. AUSTRIA hervorgehoben, dass das Vorliegen anderen Beweismaterials nicht den entscheidenden Punkt darstelle, sondern es vielmehr scheine, dass es ohne die Verwendung der Zeugenaussage nicht zu einer Verurteilung gekommen wäre:
761
„… That there was other incriminating evidence is beside the point. It appears that without the use of the statement the conviction could not have been obtained. If the case were otherwise, there would have been no need to admit the statement. The applicant, through no fault of his, was deprived of his right to examine Miss L. as to the accuracy and/or truth of her obviously damaging statement which filled the gap in the evidence necessary to secure the conviction. In the event the prejudicial effect remained uncorrected …“2166
2164
2165 2166
492
EGMR, ARTNER v. AUSTRIA, 28.08.1992, A242-A, DISSENTING OPINION OF JUDGE THÓR VILHJÁLMSSON (Hervorhebung Demko). ESSER, S. 674. EGMR, ARTNER v. AUSTRIA, 28.08.1992, A242-A, JOINT DISSENTING OPINION OF JUDGES WALSH, MACDONALD AND PALM, § 2 (Hervorhebung Demko); siehe dazu auch WOHLERS, ZStrR 2005, S. 171: „… In der Tat: Entweder tragen die anderen Beweismittel den Schuldspruch, dann kann man auf die Verwertung der Angaben des bemakelten Zeugen verzichten, oder sie tragen die Verurteilung für sich gesehen nicht, dann handelt es sich aber zwingend um ein entscheidendes Beweismit-
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Der ausschlaggebende Gesichtspunkt kann aber nun weder sein, wie – ob als hauptsächliches oder nicht hauptsächliches Beweismittel – die nur eingeschränkt konfrontierbare belastende Zeugenaussage in der Urteilsbegründung herangezogen wird, noch, ob es sich bei dieser um ein für die Verurteilung notwendiges Beweismittel gehandelt hat, sondern vielmehr allein, dass es sich um eine Zeugenaussage handelte, die tatsächlich Eingang in das Strafverfahren gefunden hat,2167 denn mit jenem Moment ist die Möglichkeit eröffnet, dass diese Zeugenaussage die Wahrheitsermittlungen in der Erhebungs- wie gerade auch in der Würdigungsphase direkt oder indirekt, bewusst oder unbewusst beeinflusst. Dieses Potential einer bewussten oder unbewussten Einflussnahme auf den gerichtlichen Beweiswürdigungsprozess ist mit jeder dem Gericht tatsächlich vorliegenden, von diesem zur Kenntnis genommenen Zeugenaussage verbunden,2168 unabhängig davon, ob diese Zeugenaussage später vom Gericht in den Urteilsbegründungen tatsächlich als herangezogenes Beweismittel ausformuliert, ob diese als hauptsächliches oder nicht hauptsächliches Beweismittel angesehen oder ob diese für ein für die Verurteilung notwendiges Beweismittel gehalten wird. Jede in das Strafverfahren
2167 2168
tel …“; siehe dazu auch ähnlich BGE 133 I 33, S. 43 f.: „… Das Kassationsgericht weist mit Fug auf die inneren Widersprüche dieses vom Europäischen Gerichtshof vertretenen Massstabs für die Verwertung anonymisierter Zeugenaussagen hin. Einerseits wird damit ein anonymisierter Zeuge ausdrücklich als (unter bestimmten Voraussetzungen) zulässiges Beweismittel anerkannt bzw. die damit verbundenen Einschränkungen des Konfrontations- und Fragerechts als noch mit dem Fairnessgebot vereinbar erachtet, anderseits wird die Möglichkeit der Heranziehung solcher Aussagen zur Begründung eines Schuldspruchs praktisch auf Null reduziert. Denn entweder tragen schon die anderen Beweise das Urteil, womit auf die (auch nur ergänzende) Verwertung anonymisierter Aussagen verzichtet werden kann, oder sie tragen den Schuldspruch für sich gesehen nicht, dann handelt es sich bei den Aussagen des anonymisierten Zeugen zwingend um ein zumindest mitentscheidendes Element …“ (Hervorhebung Demko). Siehe dazu auch bereits für die Definition des Zeugenbegriffs unter Kap. 5 B. I. 1. b). Siehe deutlich BGE 118 Ia 462, S. 471, 472: „… Das erkennende Gericht stand bei seinem Urteil zwangsläufig unter dem Eindruck jener belastenden Zeugenaussage … Es ist zu vermeiden, dass sich der Richter bei der Urteilsfindung direkt oder indirekt von den belastenden Aussagen eines Zeugen beeinflussen lässt …“ (Hervorhebung Demko); siehe auch TRECHSEL, AJP 2000, S. 1368, wonach nicht einzusehen wäre, warum der Grundsatz des fairen Verfahrens verletzt sein sollte, „wenn ein Zeuge nicht befragt werden konnte, dessen Aussage für den Schuldspruch überhaupt keine Bedeutung zukommt …“ mit dem sich anschliessenden Hinweis, dass ein Verwertungsverbot „… seine volle Wirksamkeit nur entfalten (könnte), wenn das Protokoll der Einvernahme aus den Akten verschwände …“, anderenfalls „… der Richter davon Kenntnis nimmt“ (Hervorhebung Demko), womit die im Haupttext aufgezeigte mögliche (bewusste oder unbewusste) Einflussnahme auf das urteilende Gericht angesprochen ist.
493
762
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Eingang gefundene und dem Gericht tatsächlich vorliegende belastende Zeugenaussage kann das Gericht sowohl schon in seinem Vorgehen in der Beweiserhebungsphase als auch in der Bewertung und Würdigung der einzelnen und aller Beweise beeinflussen, sei dies auf bewusstem oder unbewusstem Wege, so dass bezüglich einer jeden solchen belastenden Zeugenaussage unabhängig von ihrer Entscheidungsnotwendigkeit und ihrer Entscheidungserheblichkeit das Konfrontationsrecht zu wahren ist.2169 763
Dass es das Konfrontationsrecht bei jeder in das Strafverfahren eingeführten belastenden Zeugenaussage, unabhängig davon, ob dieses später als das die Verurteilung im wesentlichen oder nicht im wesentlichen tragende Beweismittel angesehen oder u.U. gar nur als solches deklariert wird,2170 zu beachten gilt, wird auch im Schrifttum2171 sowie in der Rechtsprechung und hier beispielsweise in BGE 118 Ia 462 und in BGE 132 I 127 zurecht betont. In letzterer Entscheidung heisst es, dass „… für die Zulassung anonymer Zeugen … nicht das formale Kriterium (entscheidend) sein (kann), ob dem dadurch erlangten Beweis eine ausschlaggebende Bedeutung zukommt oder nicht …“2172 Ausführlicher begründet führt das Bundesgericht in ersterer Entscheidung zutreffend und prägnant aus:
764
„… Dass ein Belastungszeuge ohne Befragungsmöglichkeit durch den Angeschuldigten einvernommen und die Einvernahme dieses Zeugen in der Begründung des Schuldspruches später als unerheblich deklariert wird, birgt die Gefahr einer Aushöh2169
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2171
2172
494
Siehe auch WANNEK, S. 110 f.: „Beachtung des Fragerechts des Angeklagten bezüglich jeder belastenden Zeugenaussage …, die zur Urteilsbegründung herangezogen wird“ (S. 110), unabhängig von der bzw. „ohne Rücksicht auf die Bedeutung der betreffenden Zeugenaussage für die Urteilsfindung“ (S. 111), Hervorhebung Demko; GAEDE, JR 2006, S. 292, 293: „Verletzungen können … auch auf der ersten Stufe festzustellen sein, ohne dass eine entscheidende oder ausschlieβliche Abstützung auf die betroffene Aussage explizit festgehalten werden muss. Dies muss zur Einlösung der konstitutiven Stellung der Teilrechte auch der Fall sein und darf nicht über die Einbeziehung des Gesamtrechts verloren gehen …“ (Hervorhebung Demko), TRECHSEL, AJP 2000, S. 1368, wonach mit Text und Sinn des Art. 6 III d EMRK kaum vereinbar sei, dass „sich ein Schuldspruch auch nur teilweise auf eine Zeugenaussage stützen darf, bezüglich welcher das Fragerecht gemäss Art. 6 Ziff. 3 d) in keiner Weise gewährt wurde“; kritisch auch SCHLEIMINGER, S. 10, 19 ff. Siehe auch WOHLERS, ZStrR 2005, S. 171, wonach es nicht darauf ankommen könne, dass das Gericht „die bemakelte Aussage in den Urteilsgründen als erheblich oder nicht erheblich deklariert“. Siehe die Angaben zum Schrifttum in der vorangehenden Fussnote; deutlich auch SCHLEIMINGER, S. 21: „völlig ungeeignet“ (S. 21), „unabhängig von der späteren Entscheidungsrelevanz“ (S. 21), „verzichtet künftig auf das Kriterium der zusätzlichen Beweise“ (S. 22 f.) BGE 132 I 127, S. 130; siehe zudem die Ausführungen des BG in BGE 133 I 33, S. 44.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen lung der Parteirechte des Angeschuldigten in sich und wirft erhebliche Bedenken auf. Das erkennende Gericht stand bei seinem Urteil zwangsläufig unter dem Eindruck jener belastenden Zeugenaussage … Es ist zu vermeiden, dass sich der Richter bei der Urteilsfindung direkt oder indirekt von den belastenden Aussagen eines Zeugen beeinflussen lässt und danach – in Anbetracht des Verfahrensmangels – den Schuldspruch formal auf andere, mängelfreie Beweisgründe stützt. Vorliegend hat das Obergericht in seinem Urteil sehr eingehend auf die Zeugenaussagen von Z. und dessen mutmassliche Funktion bei den Drogengeschäften Bezug genommen. Sodann sind die belastenden Aussagen materiell nicht unbedeutend. So hat der Zeuge gemäss den Erwägungen des Obergerichtes ausgesagt, beim Beschwerdeführer handle es sich um einen der "Köpfe der Drogenorganisation". Im erstinstanzlichen Urteil des Bezirksgerichtes werden die belastenden Aussagen des Zeugen Z. gar als hauptsächliches Beweismittel gewürdigt. Der Wortlaut von Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK räumt das Recht auf ergänzende Befragung durch den Angeschuldigten allgemein für jede Einvernahme von Belastungszeugen ein ("interroger ou faire interroger les témoins à charge"), ohne förmlichen Unterschied hinsichtlich späterer Entscheidungsrelevanz der Zeugenaussage. Verfassung und Konvention gebieten, dass der Angeschuldigte sein Recht auf Befragung von Belastungszeugen grundsätzlich unabhängig davon ausüben kann, ob die belastenden Zeugenaussagen danach in der Urteilsbegründung als erheblich bezeichnet werden oder nicht … Die gegenteilige Auffassung würde – wie gezeigt – zur Aushöhlung bzw. zum Unterlaufen des grundrechtlichen Anspruches auf Befragung von Belastungszeugen führen …“2173
c)
Grundzüge eines eigenen Lösungsvorschlages für die Bedeutung der «dritten Prüfungsstufe» unter Beachtung der Trennung zwischen Beweiserhebung, Beweisverwertung und Beweiswürdigung sowie zwischen konventionsgemässer und konventionswidriger Beweiserhebung
Wollte der EGMR mit der dritten Prüfungsstufe und ihren Erfordernissen des nicht einzigen und nicht aussschlaggebenden belastenden Zeugenbeweises auch einen weiteren Schutzanker für den Angeklagten, und zwar nun auch auf der Beweiswürdigungsebene, setzen und ist dieses Anliegen für sich betrachtet aus angeklagtenschützender Sicht zwar zu begrüssen, so ist der gewählte Umgang mit dieser dritten Prüfungsstufe (erstens) ohne eine ausreichende Beachtung der Trennung zwischen Beweiserhebung und Beweisverwertung einerseits und Beweiswürdigung andererseits sowie (zweitens) ohne ausreichende Beachtung der Unterscheidung zwischen Fallkonstellationen einer konventionsgemässen und einer konventionswidrigen Beweiserhebung mit Ungenauigkeiten und Unzulänglichkeiten verbunden.2174 Nicht über eine vage 2173
2174
BGE 118 Ia 462, S. 471, 472 (im Originaltext fettgedruckte Hervorhebung BG: «Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK»; übrige Hervorhebung Demko). Zur zu beachtenden Trennung zwischen Beweiserhebungs-, -verwertungs- und -würdigungsebene auch GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 189; ESSER, JR 2005,
495
765
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
und klare Massstäbe vermissen lassende Lösung auf einer «flexiblen» Beweiswürdigungsebene,2175 sondern allein durch verbindliche Vorgaben für die Beweiserhebung sowie hierbei sodann auch für die Folgen einer konventionswidrigen Erhebung des belastenden Zeugenbeweises durch Ausspruch eines Beweisverwertungsverbotes – sei dies für jeden Fall oder nur für bestimmte Fälle einer konventionswidrigen Beweiserhebung2176 – können nicht nur den Vertragsstaaten hilfreiche und auch disziplinierende Vorgaben für ihre Beweiserhebungen und -verwertungen gemacht, sondern gerade auch dem Angeklagten und seiner Verteidigung tatsächlich wirksame menschenrechtsschützende Hilfen an die Hand gegeben werden.2177 766
Mit Bezug auf die Vorgehensweise in den nachfolgenden Ausführungen ist Folgendes voranzustellen: Nicht soll durch die nachfolgenden Ausführungen die Entwicklung einer umfassenden Lehre von den Beweisverwertungsverboten auf der Grundlage der EMRK sowie speziell für Art 6 EMRK und hier Art. 6 III d EMRK dargestellt werden. Anliegen ist es aufgrund des unklaren Umgangs mit der dritten Prüfungsstufe in der Rechtsprechung des EGMR vielmehr, unter Beachtung einer Trennung zwischen Beweiserhebung, -verwertung und -würdigung Grundlinien für das Aussprechen eines Beweisverwertungsverbots im Zusammenhang mit dem Konfrontationsrecht des Art. 6 III d EMRK sowie für den Umgang mit der dritten Prüfungsstufe zu entwickeln, welche in eine in zukünftigen Forschungsarbeiten zu erarbeitende umfassende Beweisverwertungsverbotslehre2178 auf der Grundlage des Art. 6 EMRK und überhaupt der gesamten EMRK einzufügen wären. Unter Beachtung der Trennung zwischen Beweiserhebung, -verwertung und -würdigung ist für den Umgang mit der dritten, die Beweiswürdigungsebene betreffenden
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S. 251; siehe in diese Richtung auch bereits SCHORN, S. 233, wonach die Frage, ob die Bekundungen des mittelbaren Zeugen im Vergleich zu den Aussagen des unmittelbaren Zeugen „nur einen geringeren Wert“ haben, „eine Frage der Beweiswürdigung (ist) und … mit der Zulässigkeit seiner Vernehmung nichts zu tun“ habe. So auch ESSER, JR 2005, S. 254: „flexiblen Weg über die (dritte) Ebene der Beweiswürdigung“. Der Frage, ob für jeden Fall einer konventionswidrigen Beweiserhebung ein Beweisverwertungsverbot auszusprechen ist oder nur für bestimmte, und zwar gesteigerte Voraussetzungen erfüllende Fallkonstellationen einer konventionswidrigen Beweiserhebung, wird in den Grundzügen unter Kap. 5 B. II. 2. c) nachgegangen. Siehe dazu auch GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 190 f.; AMBOS, Beweisverwertungsverbote, S. 50: „(generalpräventive) Disziplinierung der Strafverfolgungsbehörden“; KRAUSBECK, S. 230: „Disziplinierung der Justiz“. Siehe dazu auch AMBOS, Beweisverwertungsverbote, S. 105 f., wonach es trotz nachvollziehbarer Kritik des Schrifttums, dass sich der EGMR der „Entwicklung einer allgemeinen Lehre zu den Beweisverwertungsverboten verweigere …“, aber an der „… Alternative einer vollends überzeugenden Theorie der Beweisverwertungsverbote“ fehle.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Prüfungsstufe insoweit im Nachfolgenden zwischen der Fallkonstellation einer konventionswidrigen Beweiserhebung und der Fallkonstellation einer konventionsgemässen Beweiserhebung unterschieden,2179 da unter Anlegen eines hier vertretenen – aus menschenrechtsschützender Sicht – «strengen» Massstabes2180 für die Annahme eines Verwertungsverbotes aufgrund konventionswidriger Beweiserhebungen sich auch die Frage der Bedeutung der dritten Prüfungsebene auf jeweils unterschiedliche Weise stellt. Infolge der im Schrifttum insoweit kontrovers geführten Diskussion zur Annahme eines Beweisverwertungsverbotes bliebe für die Vertreter eines weniger strengen Ansatzes, welche nicht für jeden Fall, sondern nur für bestimmte Fälle einer konventionswidrigen Beweiserhebung ein Beweisverwertungsverbot bejahen, zu beachten, dass sich für diese die Unterscheidung zwischen der Fallkonstellation einer zu einem Beweisverwertungsverbot führenden konventionswidrigen Beweiserhebung und den Fallkonstellationen einer – konventionsgemässen sowie, je nachdem, in welchem Umfang man ein Verwertungsverbot anzunehmen bereit ist, auch einer konventionswidrigen – Beweiserhebung, an die kein Verwertungsverbot geknüpft ist, anbietet.2181 Auch die genaue Ausarbeitung eines solchen funktionstüchtigen übergreifenden Rahmens an unterschiedlichen Fallgruppen hat Teil der zukünftig im Einzelnen zu entwickelnden Beweisverwertungsverbotslehre auf der Grundlage der EMRK zu sein, welche hier nur in den Grundzügen und nur bezogen auf das faire Strafverfahren nach Art. 6 EMRK in Verbindung mit dessen Teilrecht nach Art. 6 III d EMRK geleistet werden kann und soll.
2179
2180
2181
Zur Unterscheidung zwischen rechtmässiger/rechtswidriger bzw. konventionsgemässer/konventionswidriger Beweiserhebung und zu deren Bedeutung für die Beweisverwertbarkeit und Beweiswürdigung siehe auch SCHLOTHAUER, StV 2001, 129 ff.; WIDMAIER, S. 369 f.; SOWADA, NStZ 2005, S. 7 FN 80. Siehe zu diesem hier vertretenen «strengen» Massstab im Unterschied zu Ansichten im Schrifttum, die ein Verwertungsverbot nur in begrenzten Fällen einer konventionswidrigen Beweiserhebung befürworten, näher unter Kap. 5 B. II. 2. c); siehe auch AMBOS, Beweisverwertungsverbote, S. 103: „strengeren Ansicht, wonach die Verwertung von konventionswidrig erlangten Beweisen mit dem Gebot der Fairness per se unvereinbar ist und deshalb a limine unzulässig sein muss“ (Hervorhebung Ambos: «per se», «a limine», Hervorhebung Demko: «strengeren»). Siehe zu den verschiedenen Ansichten im Schrifttum zu der Annahme eines Beweisverwertungsverbotes näher unter Kap. 5 B. II. 2. c).
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
aa)
Fallkonstellation der konventionswidrigen Beweiserhebung im Zusammenhang mit dem Belastungszeugenbeweis nach Art. 6 III d EMRK
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Liegt eine Art. 6 III d EMRK-widrige Beweiserhebung vor, mithin eine solche, bei welcher die Anforderungen der ersten oder/und2182 zweiten Prüfungsstufe für eine Einschränkung des Konfrontationsrechts nicht erfüllt sind, ist eine Verletzung des Art. 6 III d EMRK gegeben, und zwar unabhängig davon, ob die Anforderungen der dritten, die Beweiswürdigungsebene betreffenden Prüfungsstufe erfüllt sind oder nicht.2183 Auf jene dritte Prüfungsstufe kommt es in der Fallkonstellation einer konventionswidrigen Beweiserhebung nicht mehr an und auf diese dritte Prüfungsstufe darf auch nicht mehr als «heilender Lösungs(aus)weg» zurückgegriffen werden, wenn schon die Beweiserhebungsebene betreffende Verletzungen der ersten oder/und zweiten Prüfungsstufe vorliegen: Folge einer solchen konventionswidrigen Beweiserhebung kann allein ein auszusprechendes Beweisverwertungsverbot sein, würde ein Rückgriff auf die dritte Prüfungsstufe – und hier die Begründung, dass es sich bei dem belastenden Zeugenbeweis nicht um das einzige und nicht um das entscheidende Beweismittel gehandelt habe – doch eine Umgehung, ein Unterlaufen des gerade nicht konventionsgemäss gewährten, weil auf der Beweiserhebungsebene konventionswidrig eingeschränkten Konfrontationsrechts bedeuten.2184
769
Wie ausgeführt, sind durch den EGMR aufgrund des vom ihm verfolgten Gesamtbetrachtungsansatzes bisher keine expliziten Beweisverwertungsverbote als Folge konventionswidriger Beweiserhebungen im Zusammenhang mit dem Konfrontationsrecht aufgestellt, sondern er sucht unter einem Vermissenlassen einer Trennung zwischen der Beweiserhebungs- und -verwertungsebene einerseits und der Beweiswürdigungsebene andererseits seine Lösungen durch Heranziehung der «flexiblen» dritten Beweiswürdigungs2182
2183 2184
498
Für eine konventionsgemässe, den Anforderungen des Art. 6 III d EMRK entsprechende Zeugenbeweiserhebung bedarf es des kumulativen Erfülltseins aller Anforderungen der ersten und zweiten Prüfungsstufe, so dass für eine konventionswidrige Zeugenbeweiserhebung schon das alternative Fehlen einer der Voraussetzungen der ersten oder zweiten Prüfungsstufe genügt; siehe zum Erfordernis des kumulativen Erfülltseins aller Voraussetzungen auch ACKERMANN/CARONI/VETTERLI, AJP 2007, S. 1077: „Aus der Rechtsprechung des EGMR geht klar hervor, dass alle drei Voraussetzungen kumulativ vorliegen müssen …“ (Hervorhebung Demko). Siehe dazu auch GAEDE, JR 2006, S. 293; ESSER, JR 2005, S. 251. Siehe dazu auch ESSER, JR 2005, S. 251: „Wenn die zweite Stufe überhaupt eine eigenständige Bedeutung gegenüber der dritten und letzten Stufe des vom EGMR entworfenen Prüfungsmodells – der Ebene der Beweiswürdigung – haben soll …“; KRAUSBECK, S. 229 dazu, dass die „zweite Stufe des Rechtfertigungsmodells im Ergebnis zur bloβen Makulatur zu verkommen“ drohe.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
ebene. Im Schrifttum ist eine umfassende Lehre zu den Beweisverwertungsverboten auf der Grundlage der EMRK und speziell des Art. 6 EMRK und hier Art. 6 III d EMRK bisher nicht im Einzelnen ausgeformt.2185 Jedoch haben Stimmen im Schrifttum an Gewicht gewonnen, die sich der «weichen Lösung» des EGMR zu recht kritisch entgegenstellen und nach einem auszusprechenden Verwertungsverbot als Folge konventionswidriger Beweiserhebungen im Zusammenhang mit Art. 6 III d EMRK verlangen, wobei wiederum unterschiedlich beantwortet wird, ob für jede konventionswidrige Beweiserhebung oder nur für bestimmte eingegrenzte Fälle einer konventionswidrigen Beweiserhebung ein Verwertungsverbot zu fordern ist. Unter Anknüpfung an die staatliche Sphäre werden verschiedene Lösungsvorschläge für ein auf unterschiedliche Weise mit einem staatlichen Zurechnungs- bzw. Verschuldenselement verknüpftes und durch dieses eingegrenztes Beweisverwertungsverbot vertreten: Unter Abstellen auf den Gesichtspunkt einer staatlichen Verantwortlichkeit für den Verteidigungsmangel dürfe nach Ansicht von Esser eine Verwertbarkeit der belastenden Zeugenaussagen dann nicht in Betracht kommen, wenn der Staat dies zu verantworten habe:2186 „(S)elbst wenn zusätzlich andere, unterstützende Beweise vorliegen“,2187 komme doch nur dann der „zweite(n) Stufe überhaupt eine eigenständige Bedeutung gegenüber der dritten und letzten Stufe des vom EGMR entworfenen Prüfungsmodells – der Ebene der Beweiswürdigung – …“2188 zu. Auch Krausbeck möchte vermeiden, dass „die zweite Stufe des Rechtfertigungsmodells im Ergebnis zur bloβen Makulatur zu verkommen“2189 droht, und spricht sich für ein – jedoch auch nur begrenztes – Verwertungsverbot aus, da sich „die Justiz ansonsten ohne Konsequenzen über das Optimierungsgebot … hinwegsetzen könnte, indem sie sich kurzerhand der vorsichtigen Beweiswürdigung zuwendet“.2190 Krausbeck knüpft für die Annahme eines Verwertungsverbotes an den Gesichtspunkt der „justizielle(n) Verantwortlichkeit“2191 an, mithin daran, dass „die Justiz schuldhaft keine (optimalen) Ausgleichsmaβnahmen ergriffen hat“.2192 Dabei lässt er aber nicht schon „jedes Fehlverhalten der Justiz während des Verfah2185
2186
2187 2188 2189 2190 2191 2192
Siehe auch AMBOS, Beweisverwertungsverbote, S. 106 zur „fehlenden Alternative einer vollends überzeugenden Theorie der Beweisverwertungsverbote“. ESSER, JR 2005, S. 251, wonach eine Verantwortlichkeit der Strafverfolgungsbehörden für den Verteidigungsmangel vorliege, wenn die „Ursache … aus der staatlichen Sphäre …“ stamme oder „… sie dem Staat wenigstens zurechenbar“ sei. ESSER, JR 2005, S. 251 (Hervorhebung Esser). ESSER, JR 2005, S. 251 (Hervorhebung Demko). KRAUSBECK, S. 229. KRAUSBECK, S. 229. KRAUSBECK, S. 236. KRAUSBECK, S. 236.
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770
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
rens“2193 genügen, sondern fordert für die Annahme eines Verwertungsverbotes ein bestimmtes gesteigertes Ausmass an Verschulden, wonach „nur ein erheblicher Verstoβ der Justiz gegen das Optimierungsverbot“,2194 also eine Vernachlässigung des Konfrontationsrechts „in erheblichem Maβe“2195 zu einem Verwertungsverbot führen solle.2196 Einen wieder anderen Anknüpfungspunkt für die Annahme eines Verwertungsverbotes sucht Widmaier, der sich ebenfalls nicht generell für ein Verwertungsverbot und auch nicht für ein solches in jedem Fall einer Verantwortlichkeit der Justiz ausspricht. Für das von ihm befürwortete begrenzte Verwertungsverbot könne „lediglich mangelnde Sorgfalt bei der Verfahrensführung … noch nicht genügen“.2197 Vielmehr sei eine „der Justiz oder den Ermittlungsbehörden zuzurechnende (aktive) „Befragungsblockade“, die (un-)wertmäβig einer „Aufklärungsblockade“ durch die Executive entspricht“,2198 für die Annahme eines Verwertungsverbotes zu fordern. 771
Nicht nur die unterschiedlich gewählten Ansatzpunkte für die Anknüpfung an die staatliche Sphäre und das hierfür für erforderlich gehaltene Mass an dem Staat zugewiesener Zurechnung und Verantwortung, sondern auch die Unsicherheit, die mit jenen in Anspruch genommenen Ansatzpunkten einhergeht, werfen Bedenken mit Blick auf ein sich auf diese Ansatzpunkte als Begründung und Grundlage stützendes Beweisverwertungsverbot auf, bleibt doch nicht nur die genaue Bedeutung jener aktiven Befragungsblockade unbestimmt, sondern bleibt ebenso unbestimmt, wann genau von einer ausreichenden Erheblichkeit – ein Begriff, der selbst schon wieder neue vage Spielräume und Dehnbarkeiten eröffnet – des Verschuldens des Staates gesprochen werden kann. Mehr und vor allem aber ist es überhaupt die Anknüpfung an 2193 2194 2195 2196
2197 2198
500
KRAUSBECK, S. 229. KRAUSBECK, S. 239 (Hervorhebung Krausbeck). KRAUSBECK, S. 230 (Hervorhebung Krausbeck). Krausbeck knüpft für die Annahme eines Verwertungsverbotes an die Disziplinierung der Justiz an (S. 230, 236), sieht aber den Umstand, dass „allein eine solche Disziplinierung zum Vorteil des Angeklagten gereichen soll …“ als „… eher befremdlich“ (S. 236, ebenso schon S. 230) an, weshalb er ein Verwertungsverbot begrenzen möchte auf die Fälle eines erheblichen Justizverstosses. Mit Blick auf diese „Erheblichkeitsschwelle“ (S. 236) unterscheidet er zwischen dem Fall, in dem die Justiz keine der ihr möglichen Ausgleichsmassnahmen ergriffen hat, für welchen Krausbeck die Erheblichkeitsschwelle als erreicht ansieht, und dem Fall, in dem sich die Justiz „nur nicht für die optimale Kompensationsmaβnahme“ (S. 236) entschieden hat, für welchen „regelmäβig“ (S. 236) mehr dafür spreche, kein Verwertungsverbot anzunehmen bzw. – an dieser Stelle etwas unklar formuliert – (scheinbar) nur dann, „wenn sich die Justiz willkürlich oder gar bewusst für die minderwertigere Kompensation entscheidet“ (S. 230), siehe dazu im Einzelnen, KRAUSBECK, S. 230, 236. WIDMAIER, S. 370. WIDMAIER, S. 370 (Hervorhebung Demko).
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
die staatliche Sphäre und deren Verantwortlichkeit, die für die Begründung und – bei genauer Betrachtung – sogleich auch bereits wieder für die den menschenrechtlichen Schutz des Angeklagten einschränkende Begrenzung der Annahme eines Verwertungsverbotes bedenklich erscheinen. Für eine menschenrechtsgestützte und menschenrechtsschützende Beweisverwertungsverbotslehre auf der Grundlage der EMRK und speziell des Art. 6 EMRK und hier Art. 6 III d EMRK kann als erster und massgeblicher Ansatzpunkt allein das zu schützende Menschenrecht selbst entscheidend sein und es sind die durch dieses Menschenrecht gesetzten und normativ beanspruchten Vorgaben bezüglich dessen Schutzbereich und Einschränkungen, auf welche für die Annahme eines Verwertungsverbotes bei Verletzung jener menschenrechtlich gesetzten Garantien Rückgriff zu nehmen ist. Ganz in diesem Sinne heisst es auch bei Gaede, welcher sich gegen die Anknüpfung an ein staatliches Verschulden und ein dadurch begrenztes Verwertungsverbot ausspricht:2199 „Menschenrechtsverletzungen setzen prinzipiell nicht an staatlichem Verschulden an, sondern an der Verfehlung der von den Menschenrechten jeweils aufgestellten Zielvorgaben.“2200
772
Ist damit für eine Verwertungsverbotslehre auf der Grundlage des Art. 6 EMRK an dem Ziel und den für dieses im Einzelnen ausgeformten Zielvorgaben des Gesamtmenschenrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren anzuknüpfen2201 und ist – wie es gerade auch der EGMR selbst stetig betont – dieses Gesamtmenschenrecht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren gerade in dessen Kern durch das dem Angeklagten zu gewährende
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2199
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2201
Näher dazu Gaede, JR 2006, S. 295; GAEDE, S. 839 ff., hier insbesondere S. 842; siehe auch LUBIG/SPRENGER, ZIS 2008, S. 440 zu Bedenken aus „freiheitsorientierter Sicht“ mit Blick auf den Ansatz, das „Fairnessgebot als solches in Abwägung mit dem jeweiligen Ermittlungsinteresse zu stellen“ und zu der Betonung, „dass Kernrechte der Verteidigung nicht durch das Ermittlungsinteresse überlagert werden dürfen“. GAEDE, JR 2006, S. 295 (Hervorhebung Demko); siehe dazu auch GAEDE, S. 842; zudem GOLLWITZER, Art. 1 MRK/Art. 2 Abs. 1, 2 IPBPR, S. 148 N 16: „Untersagt ist jeder mit den Konventionspflichten nicht zu vereinbarende Eingriff in die gewährleisteten Menschenrechte und Freiheiten“ (im Originaltext fettgedruckte Hervorhebung: Gollwitzer); siehe auch GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 191: „… zwingende Beweisverbote jedenfalls für die Verletzung einer EMRK-Vorgabe bei der Gewinnung von Beweismitteln …“; siehe auch EGMR, J.B. v. SWITZERLAND, 03.05.2001, Reports 2001-III, § 70: „… The Court recalls that its task is to determine whether the Contracting States have achieved the result called for by the Convention, not to indicate which means a State should utilise in order to perform its obligations under the Convention …“ Siehe dazu auch AMBOS, Beweisverwertungsverbote, S. 50, wonach sich das „Fairnessgebot … gerade aus rechtsvergleichender und supranationaler Sicht … als übergreifender Leitgesichtspunkt der Entscheidung für oder gegen die Verwertung“ erweise.
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Menschenrecht auf eine wirksame Verteidigung, das eine dem Angeklagten zu gewährende wirksame antithetische Teilnahme am Strafverfahren bedeutet, bestimmt, so kann eine Beweiserhebung, die diesem Gesamtmenschenrecht dessen Kern auf eine gegen die Vorgaben der EMRK verstossende Weise gerade entzieht, nur ein Verbot der Verwertung dieser konventionswidrig erhobenen Beweise zur Folge haben. Mit dem Konfrontationsrecht des Angeklagten nach Art. 6 III d EMRK ist dieser Kern, dieser Wesensgehalt des Gesamtmenschenrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren auf unvermittelte Weise angesprochen,2202 geht es doch hier um die dem Angeklagten zu gewährende wirksame antithetische Teilnahme am gerichtlichen Wahrheitsermittlungsprozess als unverzichtbarem Teil des Strafverfahrens, und zwar «konkretisiert» bezogen auf den Wahrheitsermittlungsprozess im Zusammenhang mit dem belastenden Zeugenbeweis, der seinerseits wiederum untrennbarer Teil des gesamten, sich auf die ganze Beweisgrundlage erstreckenden gerichtlichen Wahrheitsermittlungsprozesses ist.2203 Der EGMR hat für das Konfrontationsrecht des Art. 6 III d EMRK bereits konkrete Vorgaben sowohl für den Schutzbereich als auch für mögliche Einschränkungen und zu beachtende Einschränkungsvoraussetzungen aufgestellt und mit diesen zugleich menschenrechtliche Mindest- bzw. Kernvorgaben für die Erhebung des belastenden Zeugenbeweises gesetzt.2204 Ist es zwar nicht Aufgabe und Anliegen der EMRK und des EGMR, eine einheitliche europäische Strafverfahrensordnung zu entwickeln, so prägen und formen die vom EGMR normativ gesetzten menschenrechtlichen Garantien doch einen menschenrechtlichen Mindest- bzw. Kerngehalt für eine europaweit zu achtende Strafverfahrens- und Beweisverfahrensordnung2205 und hier nun mit den menschenrechtlichen Vorgaben für das Konfrontationsrecht des Angeklagten speziell für die Beweiserhebung, für die Erhebung des belastenden Zeugen2202
2203
2204 2205
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Siehe zum Wesensgehalt des Konfrontationsrechts bereits näher unter Kap. 5 A. I.; siehe auch die Ausführungen von LUBIG/SPRENGER, ZIS 2008, S. 438 ff., wonach die „Relevanz von Konventionsverstöβen für die Beweisverwertung ausschlieβlich im Hinblick auf ihren Bezug zur Verfahrensfairness zu prüfen“ (S. 439) sei und Lubig/Sprenger nach einer „Fairnessbezogenheit“ (S. 439) verlangen und dazu ausführen, dass die Abstraktion aus den Teilrechten des Art. 6 III EMRK und Art. 6 II EMRK die „Interaktionsmöglichkeiten des Beschuldigten im Strafverfahren“ (S. 438) näher bestimmen und zeigen, dass „die Fairness eng mit den Mitwirkungsmöglichkeiten des Beschuldigten am Verfahren verbunden“ (S. 438) sei: „Als fairnessrelevant ist daher anzusehen, was die Mitwirkungsmöglichkeiten einer Person am Verfahren beeinträchtigt“ (S. 438). Siehe zur bei Art. 6 III d EMRK konkretisierten wirksamen antithetischen Teilnahme am gerichtlichen Wahrheitsermittlungsprozess bereits im Zusammenhang mit den Ausführungen zum Wesensgehalt des Konfrontationsrechts näher unter Kap. 5 A. I. Siehe dazu unter Kap. 4 A. I. Siehe dazu unter Kap. 4 A. I.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
beweises aus. Werden diese menschenrechtlichen Kernvorgaben für die Erhebung des belastenden Zeugenbeweises verletzt,2206 kann – soll dem Angeklagten tatsächlich zu einem wirksamen menschenrechtlichen Schutz verholfen werden2207 – Folge dieser konventionswidrigen Zeugenbeweiserhebung nur der Ausspruch eines Verwertungsverbotes sein.2208 Auch Richter Loucaides führt in seinem Votum im Fall KHAN v. THE UNITED KINGDOM auf sehr deutliche Weise aus, dass es ein Widerspruch in sich und eine absurde Aussage („a contradiction in terms and an absurd proposition“2209) sei, gegen das Recht zu verstossen, um es durchzusetzen,2210 und dass die Verwertung von aus Konventionsverletzungen gewonnenen Beweisen mit der Fairness im Sinne des Art. 6 EMRK nicht zu vereinbaren sei:2211
774
„… I cannot accept that a trial can be “fair”, as required by Article 6, if a person's guilt for any offence is established through evidence obtained in breach of the human rights guaranteed by the Convention. It is my opinion that the term “fairness”, when examined in the context of the European Convention on Human Rights, implies observance of the rule of law and for that matter it presupposes respect of the human
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Siehe auch Gaede zur Anknüpfung an die „Verfehlung der von den Menschenrechten jeweils aufgestellten Zielvorgaben“ (S. 295, Hervorhebung Demko), GAEDE, JR 2006, S. 295. Siehe auch WALTHER, GA 2003, S. 219: „der zunächst tatkräftig wirkende Ausbau der Verteidigungsrechte in Wirklichkeit doch wieder untergraben“ (Hervorhebung Demko); siehe auch GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 190 zur mit der Flexibilität der Gesamtbetrachtung einhergehenden Gefahr einer mangelnden Herausbildung strikter Regeln, „aufgrund derer Anklage oder Verteidigung eine konsistente Strategie zur Verhandlungsführung entwickeln“ können. Sich gegen eine Entwertung des Konfrontationsrechts über die Gesamtbetrachtungslehre und den Rückgriff auf die flexible Beweiswürdigungslösung aussprechend und für ein Verwertungsverbot eintretend, siehe aus dem Schrifttum etwa AMBOS, ZStW 2003, S. 612 f.; WALTHER, GA 2003, S. 218 f.; GAEDE, JR 2005, S. 295; GAEDE, S. 839 ff.; RENZIKOWSKI, S. 116; GLESS, NJW 2001, S. 3606 f.; GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 191; SOWADA, NStZ 2005, S. 6: „Jedenfalls für die Konstellation der Sicherung des Konfrontationsrechts ist eindeutig ein Verwertungsverbot anzunehmen“; siehe zudem die Ausführungen von FEZER, S. 634 ff. im Zusammenhang mit verfahrensfehlerhaften Beweiserhebungen. EGMR, KHAN v. THE UNITED KINGDOM, 12.05.2000, Reports 2000-V, PARTLY CONCURRING, PARTLY DISSENTING OPINION OF JUDGE LOUCAIDES, S. 16 (Hervorhebung Demko). EGMR, KHAN v. THE UNITED KINGDOM, 12.05.2000, Reports 2000-V, PARTLY CONCURRING, PARTLY DISSENTING OPINION OF JUDGE LOUCAIDES, S. 16. Dazu im Einzelnen EGMR, KHAN v. THE UNITED KINGDOM, 12.05.2000, Reports 2000-V, PARTLY CONCURRING, PARTLY DISSENTING OPINION OF JUDGE LOUCAIDES, S. 15, 16.
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen rights set out in the Convention. I do not think one can speak of a “fair” trial if it is conducted in breach of the law … Moreover, if it is accepted that the admission of evidence obtained in breach of the Convention against an accused person is not necessarily a breach of the required fairness under Article 6, then the effective protection of the rights under the Convention will be frustrated … I must repeat here, I cannot accept that a trial and a conviction resulting from such conduct can be considered as just or fair … Breaking the law, in order to enforce it, is a contradiction in terms and an absurd proposition …“2212 776
Sich für ein Verwertungsverbot als Folge einer konventionswidrigen Beweiserhebung und gegen den Rückgriff auf die weiche, flexible2213 und zu einer Relativierung und Abschwächung der Angeklagtenrechte2214 führenden Lösung auf der Beweiswürdigungsebene aussprechend, wird auch im Schrifttum2215 vor einem Rückgriff auf eine „relativierende(n) Abwägungslehre“2216 gewarnt, werde durch eine solche – wie Walther zutreffend betont – doch „der zunächst tatkräftig wirkende Ausbau der Verteidigungsrechte in Wirklichkeit doch wieder untergraben“2217 und auf diese Weise „einer altbekannten inquisitionstypischen Sichtweise unterstellt: Solange die Gesamtaufgabe der Wahrheitsfindung erfüllt werden kann, fällt eine Missachtung der Verteidigungsrechte nicht ins Gewicht“.2218 Auch Ambos hebt zutreffend hervor, dass „eine Verletzung von Art. 6 EMRK aufgrund unzulässiger Beweiserhebung durch eine möglichst breite beweisrechtliche Absicherung der Verurteilung verhindert“2219 werden könne und weist auf das Fehlen von „verlässlichen, „harten“ Konturen“2220 hin, wofür es „absoluter Beweisverwertungsver2212
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EGMR, KHAN v. THE UNITED KINGDOM, 12.05.2000, Reports 2000-V, PARTLY CONCURRING, PARTLY DISSENTING OPINION OF JUDGE LOUCAIDES, S. 15, 16 (Hervorhebung Demko). Siehe auch WALTHER, GA 2003, S. 218: „… »weichen«, flexiblen Variante eines Konfrontationsrechts …“ Siehe dazu näher AMBOS, ZStW 2003, S. 613, wonach die Gesamtbetrachtungslehre „zu einer die Beschuldigtenrechte relativierenden Abwägungslehre (wird), der es an verlässlichen, „harten“ Konturen fehlt. Dazu bedürfte es absoluter Beweisverwertungsverbote …“ (Hervorhebung Ambos); siehe ebenso deutlich WALTHER, GA 2003, S. 218 f. Siehe dazu bereits die vorangehenden Angaben in den Fussnoten. AMBOS, ZStW 2003, S. 613 (Hervorhebung Ambos): „… die Beschuldigtenrechte relativierenden Abwägungslehre …“ (S. 613, Hervorhebung Ambos); WALTHER, GA 2003, S. 218 f.: „Tür zu einer relativierenden Abwägungslehre geöffnet. Sogar die Qualität als subjektives Prozessgrundrecht steht in Frage …“ (S. 218, Hervorhebung Demko); GLESS, NJW 2001, S. 3607: „… reine „Abwägungslehre“ …“ WALTHER, GA 2003, S. 219 (Hervorhebung Demko). WALTHER, GA 2003, S. 219 (Hervorhebung Walther). AMBOS, ZStW 2003, S. 613. AMBOS, ZStW 2003, S. 613 (Hervorhebung Demko).
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
bote“2221 bedürfe. Ebenso warnt Schlothauer vor dem „… »Weichmacher« einer bloβen Beweiswürdigungslösung …“2222 und vor einer „Flucht aus der Justizförmigkeit durch die europäische Hintertür“2223 und weist damit auf einen Gesichtspunkt hin, der auch von Wohlers und Gless hervorgehoben wird. Wohlers betont zu recht, dass die Beweiswürdigungslösung den „eigenständige(n) Wert prozessualer Förmlichkeiten“2224 verkenne und dass es die „Verteidigungsrechte als Teil der schützenden Förmlichkeit des Verfahrens“2225 zu achten gilt. Zutreffend mahnt ebenso Gless die zu beachtende „Differenzierung zwischen Beweisverwertung und -würdigung“2226 an, für welche es in Erinnerung zu rufen sei: „… die Unterscheidung zwischen der gebundenen Beweiserhebung und -verwertung einerseits und der freien Beweiswürdigung andererseits (soll) gewährleisten …, dass auf der ersten Ebene auf Grund formalisierter Regeln solche Erkenntnisse ausgeschlossen werden, die aus übergeordneten Gesichtspunkten nicht in die Entscheidungsfindung einflieβen sollen, weil eben auf der zweiten Ebene – infolge des Fehlens strenger Regeln – nicht ausgeschlossen werden kann, dass sie doch (maβgeblich) in der Urteilsfindung durchschlagen …“2227
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Der Gesamtbetrachtungsansatz unter fehlender Unterscheidung zwischen den Ebenen der Beweissammlung und -verwertung mit „ihren formalen Verfahrensrechten“2228 und der Ebene der freien Beweiswürdigung stelle die „formale(n) Verfahrensrechte des Angeklagten zur Disposition der Strafverfolgungsbehörden… “, da „… Verletzungen nicht förmlich geahndet“2229 würden, und verstosse insofern „gegen die Justizförmigkeit des Verfahrens“.2230 Kritisch merkt Gless weiter an, dass die EMRK keine „… (explizite(n)) Beweisverbote als Konsequenz der Verletzung der EMRK-Garantien statuiert …“, obwohl „… zwingende Beweisverbote jedenfalls für die Verletzung einer EMRK-Vorgabe bei der Gewinnung von Beweismitteln etc. zweckmäβig …“2231 erscheinen. Auch Gaede spricht sich anknüpfend an die „Verfehlung
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2221
2222 2223 2224 2225 2226 2227
2228 2229 2230 2231
AMBOS, ZStW 2003, S. 613; siehe zudem mit weiteren Angaben zur Rechtsprechung und zum Schrifttum AMBOS, Beweisverwertungsverbote, S. 102 ff. SCHLOTHAUER, StV 2001, 131. So die Überschrift des Aufsatzes von SCHLOTHAUER, StV 2001, 127. WOHLERS, Festschrift Trechsel, S. 823. WOHLERS, Festschrift Trechsel, S. 823, siehe zudem weiter S. 825 ff. GLESS, NJW 2001, S. 3607 (Hervorhebung Gless). GLESS, NJW 2001, S. 3607 (Hervorhebung Demko); siehe dazu auch GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 189. GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 189. GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 189. GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 189. GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 191 (Hervorhebung Demko): Neben der Frage nach Beweisverboten aufgrund einer Verletzung von EMRK-Vorgaben fragt Gless zudem nach der Möglichkeit von Beweisverboten auf Grund von Verletzungen des
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
der von den Menschenrechten jeweils aufgestellten Zielvorgaben“2232 für ein Verwertungsverbot im Zusammenhang mit Art. 6 III d EMRK und dessen Zielvorgaben aus: 779
„… Ziel des Art. 6 III lit. d EMRK ist gerade der Ausschluss von Verurteilungen, die entscheidend auf formbaren Zeugenaussagen beruhen, welche ohne Verteidigungsteilhabe, wohl aber unter dem Einfluss von Strafverfolgungsorganen gewonnen sind, die eine zur Einseitigkeit verführende Belastungshypothese gegen den Belasteten verfolgen: Dieses Ziel kann ein Staat auch weiterhin mit einem Verbot erreichen, die Aussage in verfahrensentscheidendem Umfang zu verwerten …“2233
780
Die klaren Worten des Richters Loucaides und die vorgängig angeführten Stimmen im Schrifttum machen deutlich: Der EGMR hat sich beim Wort nehmen zu lassen, wenn er in stetig wiederholter Betonung von einer dem Angeklagten im Strafverfahren zu gewährenden wirksamen Verteidigung als Voraussetzung für ein – und mehr noch als gerade Kerngehalt des – Gesamtmenschenrecht(s) des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren spricht und hierbei den zugleich mitausgesprochenen Anspruch auf ein solches Strafverfahren erkennen lässt, das sich als ein die Prozesssubjektivität des Angeklagten wahrendes Strafverfahren erweist und das dem Angeklagten infolgedessen eine wirksame antithetische Teilnahme am gerichtlichen Wahrheitsermittlungsprozess einräumt. Dieses sich beim Wort nehmen lassen Müssen erlaubt wiederum als Konsequenz den alleinigen Schluss, dass Folge einer dem Angeklagten seine wirksame antithetische Teilnahmemöglichkeit auf konventionswidrige Weise nehmenden Beweiserhebung – mithin einer solchen Beweiserhebung, die den durch die EMRK und hier durch Art. 6 III d EMRK normativ gesetzten und vom EGMR im Einzelnen ausdifferenzierten menschenrechtlichen Mindest- bzw. Kernvorgaben für eine (Zeugen-)Beweiserhebung nicht genügt – nur der Ausspruch eines Beweisverwertungsverbots sein kann. Dabei gilt hinzuzufügen: Ist – vorangehend2234 – unter einer Trennung zwischen den Verfahrensabschnitten der Beweiserhebung und der Beweiswürdigung das dem Angeklagten für ein faires Strafverfahren zu gewährende Recht auf eine materiell wirksame Verteidigung im gesamten Straf- und Beweisverfahren ausdifferenziert worden in ein Recht des Angeklagten auf eine aktive unvermittelte antithetische Teilnahme an der strafprozessualen Beweiserhebung einerseits und in ein sich auf die strafprozessuale Beweiswürdigungsphase beziehendes Recht des Angeklagten auf eine faire Beweis-
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nationalen Rechts, bezüglich derer es aber „zweifelhaft erscheint, ob solche strikten Vorgaben in Bezug auf Verletzungen des nationalen Rechts … möglich wären“ (S. 191). GAEDE, JR 2006, S. 295. GAEDE, JR 2006, S. 295 (Hervorhebung Demko); siehe zudem GAEDE, S. 839 ff. und hier S. 842; siehe dazu zudem TRECHSEL, Human Rights, S. 314 f. Siehe dazu unter Kap. 4 B. II. 2.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
würdigung andererseits, so ist es hier, in der Fallkonstellation der konventionswidrigen Zeugenbeweiserhebung, nunmehr das Recht des Angeklagten auf eine aktive unvermittelte antithetische Teilnahme an der strafprozessualen Beweiserhebung – in seiner konkretisierten Ausprägung im Zusammenhang mit dem belastenden Zeugenbeweis –, welches als sich auf die Beweiserhebungsphase beziehendes Teilrecht des Konfrontationsrechts verletzt ist. Nimmt man die auch vom EGMR stetig betonte, dem Angeklagten zu gewährende «wirksame Verteidigung» und das dafür erforderlich zu wahrende Recht auf eine antithetische Teilnahme an der strafprozessualen Beweiserhebung ernst, so kann als Folge einer Verletzung jenes Rechts und der daraus hervorgehenden Verletzung des Konfrontationsrechts des Art. 6 III d EMRK und des Gesamtrechts auf ein faires Strafverfahren2235 – mit welcher die Verletzung des durch die EMRK normativ vorgegebenen2236 menschenrechtlichen Mindeststandards für die Erhebung eines belastenden Zeugenbeweises angesprochen ist – nur ein auszusprechendes Beweisverwertungsverbot dem Angeklagten einen wirksamen menschenrechtlichen Schutz unter Beachtung der eigenständigen2237 (und nicht nur dienenden) Bedeutung der Verteidigungsrechte vermitteln. Auf die dritte, die Beweiswürdigung betreffende Prüfungsstufe und mit dieser auf eine das Konfrontationsrecht zu „einer »weichen«, 2235
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Siehe auch LUBIG/SPRENGER, ZIS 2008, S. 438 ff. zur „Fairnessbezogenheit“ (S. 439) und zu der engen Verbindung von Fairness und den Interaktions- und Mitwirkungsmöglichkeiten des Beschuldigten am Verfahren, auf welches er als Verfahrenssubjekt Einfluss nehmen können muss (S. 438): „Wird er in diesem Sinne als Verfahrenssubjekt behandelt, dann ist sein Verfahren fair“ (S. 438). Siehe auch GAEDE, S. 842: „Zielvorgaben, die von den Menschenrechten jeweils aufgestellt werden“ (Hervorhebung Demko); GLESS, Beweisrechtsgrundsätze, S. 191: „… EMRK-Vorgabe bei der Gewinnung von Beweismitteln …“ (Hervorhebung Demko). Siehe auf jene dienende und eigenständige Bedeutung des Strafverfahrens und seiner Elemente hindeutend und die Gefahr der Vernachlässigung der Eigenständigkeit des Strafverfahrens und der zu diesem gehörenden Verteidigungsrechte aufzeigend auch WALTHER, GA 2003, S. 219 mit der Betonung, dass mit der Gesamtbetrachtungs- und Beweiswürdigungslösung „der zunächst tatkräftig wirkende Ausbau der Verteidigungsrechte in Wirklichkeit doch wieder untergraben und – auf den Punkt gebracht – einer altbekannten inquisitionstypischen Sichtweise unterstellt (wird): Solange die Gesamtaufgabe der Wahrheitsfindung erfüllt werden kann, fällt eine Missachtung der Verteidigungsrechte nicht ins Gewicht“ (Hervorhebung Walther: «Wahrheitsfindung», übrige Hervorhebung: Demko); siehe auch für die andere, nicht zu einem Beweisverwertungsverbot führende Fallkonstellation den Hinweis von WIDMAIER, S. 369, wonach sich dann „die zusammenfassende Bewertung des Verfahrens als „nicht fair“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK weniger auf den Verfahrensablauf als auf das Verfahrensergebnis“ (Hervorhebung Widmaier) beziehe; zu der dienenden und eigenständigen Bedeutung des Strafverfahrens siehe bereits näher unter Kap. 2 A.
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
flexiblen Variante“2238 relativierenden2239 Lösung auf der Beweiswürdigungsebene darf hingegen in der Fallkonstellation einer konventionswidrigen, zu einem Beweisverwertungsverbot führenden Beweiserhebung nicht mehr zurückgegriffen werden. Denn – wie die Ausführungen des Richters Loucaides in seinem Votum im Fall KHAN v. THE UNITED KINGDOM und des Schrifttum gezeigt haben – ein Rückgriff auf die dritte Prüfungsstufe in dieser Fallkonstellation würde den vom EGMR ausdifferenzierten, sich auf die Beweiserhebung beziehenden ersten und zweiten Prüfungsstufen ihre selbstständige Bedeutung im Rahmen des vom EGMR entworfenen Prüfungsmodells entziehen2240 sowie zu einer Aushöhlung,2241 einer „Entwertung“2242 des Angeklagtenschutzes unter Nichtbeachtung der Bedeutung der Verteidigungsrechte in ihrer (nicht nur dienenden, sondern) für ein faires Strafverfahren eigenständigen Bedeutung führen.2243 bb)
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Fallkonstellation der konventionsgemässen Beweiserhebung im Zusammenhang mit dem Belastungszeugenbeweis nach Art. 6 III d EMRK
Kommt es in der Fallkonstellation der konventionswidrigen, zu einem Beweisverwertungsverbot führenden Beweiserhebung auf die dritte Prüfungsstufe des EGMR nicht an und darf es in dieser Fallkonstellation auf die dritte Prüfungsstufe mit Blick auf einen «wirklichen» Schutz des Angeklagten auch nicht ankommen, so ist dies anders – und hier nun gewinnt die dritte Prüfungsstufe an Bedeutung und Relevanz2244 – in der Fallkonstellation einer 2238 2239
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WALTHER, GA 2003, S. 218. Zur relativierenden Abwägungslehre siehe näher WALTHER, GA 2003, S. 218 f.; AMBOS, ZStW 2003, S. 613: „… die Beschuldigtenrechte relativierenden Abwägungslehre …“ (Hervorhebung Ambos); GLESS, NJW 2001, S. 3607: „… reine „Abwägungslehre“ …“. Siehe auch ESSER, JR 2005, S. 251: „Wenn die zweite Stufe überhaupt eine eigenständige Bedeutung gegenüber der dritten und letzten Stufe des vom EGMR entworfenen Prüfungsmodells – der Ebene der Beweiswürdigung – habe soll …“ (Hervorhebung Demko). Siehe auch ESSER, S. 404, wonach der „Gesamtansatz … die Autorität der in Art. 6 Abs. 1 [sic] (a) bis (e) genannten speziellen Beschuldigtenrechte (untergräbt) …“ WALTHER, GA 2003, S. 218: „Entwertung des Konfrontationsrechts“ (in der Überschrift im Originaltext fettgedruckte Hervorhebung: Walther), siehe auch S. 219: „doch wieder untergraben“. Zur dienenden und eigenständigen Bedeutung des Strafverfahrens siehe bereits näher im Rahmen der Ausführungen zur materiellen und prozeduralen Gerechtigkeit des Strafverfahrens unter Kap. 2 A. Siehe dazu auch ähnlich SCHLOTHAUER, StV 2001, S. 129: „Hier und nur hier …“; GAEDE, JR 2006, S. 293: „Vorausgesetzt, die erste Stufe bleibt im vorgenannten Sinn
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
nicht zu einem Verwertungsverbot führenden konventionsgemässen Beweiserhebung.2245 Auch in dieser Fallkonstellation der nicht zu einem Verwertungsverbot führenden konventionsgemässen Beweiserhebung kann eine Verletzung des Konfrontationsrechts des Art. 6 III d EMRK, hier jedoch durch eine Verletzung von seinem sich auf die Beweiswürdigungsebene beziehenden Recht auf eine faire Beweiswürdigung, gegeben sein, wobei sich die Nichtgewährung des Gesamtmenschenrechts auf ein faires Strafverfahren infolge von Verstössen gegen die Anforderungen der vom EGMR aufgestellten dritten Prüfungsebene hier aus einer Verletzung des Konfrontationsrechts nach Art. 6 III d EMRK in Verbindung mit anderen, weiteren Teilrechten des Gesamtmenschenrechts auf ein faires Strafverfahren ergibt. Kann ein solchermassen konventionsgemäss erhobener, nicht mit einem Verwertungsverbot verknüpfter belastender Zeugenbeweis infolge von dessen Beweisverwertbarkeit in die Beweiswürdigung einbezogen werden, so stellt sich dem erkennenden Gericht in der Beweiswürdigungsphase die Frage nach einer sicheren tragfähigen Beweisgrundlage und hier sodann danach, ob und inwiefern sich eine Verurteilung auf einen solchen, wenn auch konventions-
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erhalten …“ (Hervorhebung Demko); siehe auch ESSER, JR 2005, S. 251, der zwar ein Verwertungsverbot nur in bestimmten Fällen einer konventionswidrigen Beweiserhebung annimmt – siehe zu den Vertretern einer weniger «strengen» Ansicht näher unter Kap. 5 B. II. 2. c) aa) –, aber für eben diese Fallkonstellation, in der die für das Verwertungsverbot seiner Ansicht nach erforderliche Voraussetzung (der staatlichen Verantwortlichkeit) nicht gegeben ist, anführt: „Nur wenn …, kann und darf sich überhaupt die Frage stellen, ob auf der Ebene der Beweiswürdigung doch noch eine Verwertbarkeit der Angaben des Zeugen angenommen werden kann …“ (Hervorhebung Esser: «überhaupt»; übrige Hervorhebung: Demko). Für die Vertreter eines weniger strengen Ansatzes, welche nicht für jeden Fall, sondern nur für bestimmte Fälle einer konventionswidrigen Beweiserhebung ein Beweisverwertungsverbot bejahen, bliebe hier eine Unterscheidung zwischen der Fallkonstellation einer zu einem Beweisverwertungsverbot führenden konventionswidrigen Beweiserhebung und den Fallkonstellationen einer – konventionsgemässen/konventionswidrigen – Beweiserhebung, an die kein Verwertungsverbot geknüpft ist, zu bedenken. Angesprochen sind mit den letzteren Fallkonstellationen mithin sowohl die Fallkonstellation, in der das Konfrontationsrecht unter Beachtung aller Anforderungen der ersten und zweiten Prüfungsstufe eingeschränkt wurde (Fallkonstellation der konventionsgemässen, nicht zu einem Verwertungsverbot führenden Beweiserhebung) als auch die Fallkonstellation, in der das Konfrontationsrecht zwar nicht unter Beachtung aller Anforderungen der ersten und zweiten Stufe eingeschränkt wurde, aber dabei gerade nicht diejenigen Anforderungen verletzt worden sind, an die sich nach Ansicht der Vertreter des Schrifttums ein Verwertungsverbot knüpft (Fallgruppe der konventionswidrigen, nicht zu einem Verwertungsverbot führenden Beweiserhebung). Siehe zu den im Schrifttum vertretenen Ansichten, die sich für ein nur in bestimmten, begrenzten Fällen eingreifendes Verwertungsverbot aussprechen und dabei an jeweils unterschiedliche Ansatzpunkte anknüpfen, näher unter Kap. 5 B. II. 2. c) aa).
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
gemäss-eingeschränkt, so doch eben nur eingeschränkt konfrontierbaren belastenden Zeugenbeweis mit einem entsprechend verminderten Beweiswert stützen lässt.2246 Es ist das Erfordernis einer sicheren und eine Verurteilung tragen könnenden Beweisgrundlage (mit den für eine solche anzulegenden Anforderungen), das der EGMR mit seiner dritten Prüfungsstufe anspricht und welches die Bedeutung der dritten Prüfungsstufe für die Fallkonstellation einer konventionsgemässen Beweiserhebung – aber eben auch nur für diese und nicht auch für die Fallkonstellation einer konventionswidrigen, zu einem Verwertungsverbot führenden Beweiserhebung2247 – anzeigt. Dabei öffnet Art. 6 III d EMRK mit diesem vom erkennenden Gericht zu beachtenden und zu erfüllenden Erfordernis einer sicheren tragfähigen Urteilsgrundlage nunmehr den Raum für und zeigt hierbei zugleich bestehende Verbindungen auf zu weitere(n) Teilrechte(n) des Gesamtmenschenrechts auf ein faires Strafverfahren, auf welche sich gemeinsam,2248 in Verbindung mit Art. 6 III d EMRK die Verletzung des Gesamtmenschenrechts auf ein faires Strafverfahren infolge einer Nichterfüllung der Anforderungen an eine sichere tragfähige Urteilsgrundlage stützen kann: 784
Angesprochen sind zum einen Art. 6 II EMRK und das von diesem für ein faires Strafverfahren geforderte Teilrecht auf einen gesetzlichen Schuldbeweis, welches nach hinreichenden Beweisen für eine Verurteilung („evidence sufficient to convict“2249) verlangt und damit auf das Erfordernis eines „Min-
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Zur Beweiswertminderung auch KRAUSBECK, S. 234; GAEDE, JR 2006, S. 294. Siehe auch ESSER, JR 2005, S. 251: „Nur wenn …, kann und darf sich überhaupt die Frage stellen, ob auf der Ebene der Beweiswürdigung …“ (Hervorhebung Esser). Siehe in Bezug auf Art. 6 II EMRK auch etwa GAEDE, JR 2006, S. 294, wonach „tatsächlich nicht nur das Teilrecht auf Konfrontation betroffen ist …“, sondern vielmehr das „… Teilrecht auf einen gesetzlichen Schuldbeweis (Art. 6 II EMRK) regelmäβig mit betroffen“ (Hervorhebung Demko) sei, „gemeinsam mit Art. 6 III lit. d EMRK“ (Hervorhebung Gaede), „Verletzungen des nicht nur Art. 6 III lit. d EMRK, sondern auch Art. 6 II EMRK umfassenden Gesamtrechts“ (Hervorhebung Demko); siehe dazu näher GAEDE, S. 818 ff., 843 f.; KRAUSBECK, S. 188, 200, 233: nicht nur das Konfrontationsrechts, sondern „auch die Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 EMRK (ist) tangiert“ (S. 200); zur nachzuweisenden Tatschuld und zu den für die Verurteilung ausreichenden Beweisen auch ESSER, S. 403, 742 f.; siehe zudem TOPHINKE, S. 177 ff., 198 ff., 304 ff., 336 ff.; STUCKENBERG, S. 419 f.; HAEFLIGER/SCHÜRMANN, S. 211 f. EGMR, BARBERÀ, MESSEGUÉ AND JABARDO v. SPAIN, 06.12.1988, A 146, § 77 (Hervorhebung Demko); siehe auch EGMR, TELFNER v. AUSTRIA, 20.03.2001, Application No. 33501/96, § 15: „any doubt should benefit the accused“; EGMR, JANOSEVIC v. SWEDEN, 23.07.2002, Reports 2002-VII, § 97; siehe auch bereits EKMR, ALBERTI v. ITALIE, 10.03.1989, Application No. 12013/86, D.R. No. 59, 106, 111: „… the judges, at the time of taking their decision, may convict only
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
destmaβ(es) darzulegender überzeugungstauglicher Beweise“2250 verweist, mithin auf das Erfordernis eines solchen Mindestmasses an Beweisen, welches zur Überwindung der Unschuldsvermutung und zur Begründung einer Überzeugung des erkennenden Gerichts von der Verantwortlichkeit des Angeklagten für die in Rede stehende Straftat tatsächlich geeignet und hinreichend ist.2251 Angesprochen sind zum anderen – damit in Verbindung stehend – die Würdigungs- und Begründungspflichten des Gerichts, die als wichtige Erfordernisse („inherent in the notion of fair trial“2252) des Gesamtmenschenrechts auf ein faires Strafverfahren nach Art. 6 EMRK anerkannt sind,2253
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on the basis of direct or indirect evidence that suffices in the eyes of the law to establish the guilt of the accused …“ (Hervorhebung Demko). GAEDE, JR 2006, S. 294 (Hervorhebung Gaede: «tauglicher», übrige Hervorhebung: Demko); siehe auch KRAUSBECK, S. 200. Dazu auch Gaede, JR 2006, S. 294; GAEDE, S. 818 ff., 843 f.; KRAUSBECK, S. 200, 233. EGMR, MELIN v. FRANCE, 22.06.1993, A261-A, § 23 (Hervorhebung Demko); siehe auch EGMR, SUOMINEN v. FINLAND, 01.07.2003, Application Nr. 37801/97, §§ 34 ff.: „… The Court then reiterates that, according to its established case-law reflecting a principle linked to the proper administration of justice, judgments of courts and tribunals should adequately state the reasons on which they are based. Article 6 § 1 obliges courts to give reasons for their judgments, but cannot be understood as requiring a detailed answer to every argument. The extent to which this duty to give reasons applies may vary according to the nature of the decision. It is moreover necessary to take into account, inter alia, the diversity of the submissions that a litigant may bring before the courts and the differences existing in the Contracting States with regard to statutory provisions, customary rules, legal opinion and the presentation and drafting of judgments. That is why the question whether a court has failed to fulfil the obligation to state reasons, deriving from Article 6 of the Convention, can only be determined in the light of the circumstances of the case …“ (§ 34, Hervorhebung Demko). Siehe dazu etwa EGMR, HADJIANASTASSIOU v. GREECE, 16.12.1992, A 252, § 33: „… The Contracting States enjoy considerable freedom in the choice of the appropriate means to ensure that their judicial systems comply with the requirements of Article 6 (art. 6). The national courts must, however, indicate with sufficient clarity the grounds on which they based their decision. It is this, inter alia, which makes it possible for the accused to exercise usefully the rights of appeal available to him. The Court’s task is to consider whether the method adopted in this respect has led in a given case to results which are compatible with the Convention …“ (Hervorhebung Demko); EGMR, H. v. BELGIUM, 30.11.1987, A127-B, § 53: „sufficient reasons“; EGMR, MELIN v. FRANCE, 22.06.1993, A261-A, § 23: „the right to be informed of the grounds for his conviction“; EGMR, JOKELA v. FINLAND, 21.05.2002, Reports 2002-IV, § 73: „… such reasons as to enable the parties to make effective use of their right of appeal …“; EGMR, SUOMINEN v. FINLAND, 01.07.2003, Application Nr. 37801/97, §§ 34 ff.: „… the obligation to state reasons, deriving from Article 6 of the Convention …“ (§ 34, Hervorhebung Demko), „… a reasoned decision affords a party
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insbesondere im Zusammenhang mit dem Recht des Angeklagten auf rechtliches Gehör im Einzelnen ausgeformt wurden2254 und welche die Bedeutung des für ein faires Strafverfahren zu beachtenden, sich hier auf die Beweiswürdigungsebene beziehenden institutionellen, gerichtlichen «Teilhaberahmens»2255 auf deutliche Weise sichtbar machen. 785
Eingefordert ist eine rational-objektive und intersubjektiv nachvollziehbare2256 Beweisgrundlage, auf welche sich eine Verurteilung des Angeklagten sicher stützen lässt: Hier nun gewinnt auch das vom EGMR eingeführte Prüfungskriterium der nur eingeschränkt konfrontierbaren belastenden Zeugenaussage als das für die Verurteilung «nicht einzige» Beweismittel an Bedeutung und Zustimmung,2257 benötigt es doch weiterer Beweise, um zusammen mit der in ihrem Beweiswert geminderten belastenden Zeugenaussage das für eine Verurteilung erforderliche, eine richterliche Überzeugung konstituieren könnende Beweismass erreichen zu können.2258 Nicht genügend ist hierbei natürlich ein blosses formelles Nebeneinanderstellen von mehreren Beweisen,2259 sondern erforderlich ist eine vom erkennenden Gericht vorzunehmende qualitative, «wirkliche» Würdigung der gegebenen Beweise, bei welcher sich das erkennende Gericht in einer umfassenden und differenzierten Weise mit jedem einzelnen der Beweismittel sowie mit dem Zusammenwirken aller
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the possibility to appeal against it, as well as the possibility of having the decision reviewed by an appellate body. It is only by giving a reasoned decision that there can be public scrutiny of the administration of justice …“ (§ 37, Hervorhebung Demko); siehe zur zeitlichen und inhaltlichen Schutzkomponente der Begründungspflicht aus dem Schrifttum näher etwa ESSER, S. 745 ff. Siehe dazu bereits die Ausführungen beim rechtlichen Gehör unter Kap. 4 B. III. 1.; siehe auch EGMR, SUOMINEN v. FINLAND, 01.07.2003, Application No. 37801/97, §§ 34 ff.: „… The Court emphasises that a further function of a reasoned decision is to demonstrate to the parties that they have been heard …“ (§ 37, Hervorhebung Demko). Zu dem institutionellen Teilhaberahmen siehe bereits näher unter Kap. 4 B. II. 2. Siehe dazu EISENBERG, S. 38 N 91, 40 N 97: „Entscheidung auf rational-objektiver Grundlage und in (intersubjektiv) nachvollziehbarer Weise“ (N 97, im Originaltext fettgedruckte Hervorhebung: Eisenberg). Siehe zur Zustimmung zu dem Erfordernis, dass es sich bei dem nur eingeschränkt konfrontierbaren belastenden Zeugenbeweis nicht um das einzige Beweismittel handeln dürfe, ebenso KRAUSBECK, S. 208 f., 235: „Eindeutig nicht legitimieren lässt sich … eine Verurteilung, wenn die nicht (ideal) konfrontierte Aussage das einzig belastende Beweismittel darstellt“ (S. 235). Siehe dazu BENDER/NACK, S. 220 N 397. Siehe dazu auch EISENBERG, S. 38 N 91.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Beweismittel und hierbei etwa mit gegebenen gegenseitigen Bestärkungen, Abschwächungen oder Ergänzungen in ihrer Beweiskraft auseinandersetzt.2260 Sichtbar werden hier auch die Bedeutung der Ausführungen zu der strafprozessualen Wahrheitsermittlung als einem thesen- und antithesenhaften Erkenntnisprozess, in welchem sich die den Angeklagten belastende These und die den Angeklagten entlastende Antithese gegenüberstehen,2261 sowie ebenso die Bedeutung der die aussagepsychologischen Erkenntnisse aufgreifenden Ausführungen zu dem sog. konfirmatorischen Hypothesentesten.2262 Diese Ausführungen zeigten auf, dass die Annahme der Glaubwürdigkeit einer Aussage zwingend den Ausschluss aller Gegenhypothesen, an welche sich möglicherweise die Unglaubwürdigkeit der Aussage knüpfen könnte, verlangt:
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Denn im Fall eines nur eingeschränkt konfrontierbaren belastenden Zeugenbeweises ist der Angeklagte in seiner Möglichkeit beschränkt oder ist ihm die Möglichkeit gar gänzlich entzogen, durch das Einbringen von Glaubwürdigkeitszweifeln an dem belastenden Zeugenbeweis die den Angeklagten belastende, in der Anklageschrift niedergelegte These zu schwächen und die ihn entlastenden, eine Verurteilung verhindernden Antithesen zu stärken.2263 Ein Ausschluss aller die mangelnde Glaubwürdigkeit des belastenden Zeugenbeweises aufzeigenden Zweifel an dem belastenden Zeugenbeweis ist bei einer
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Siehe auch BENDER/NACK, S. 201 N 367, 218 f., 221; eingehend dazu auch KRAUSBECK, S. 208 ff., 235 f., welcher ein „zweischrittige(s) Verfahren(s)“ (S. 235) entwickelt hat: Im ersten Schritt habe der Tatrichter zunächst zu prüfen, „ob, inwiefern und mit welcher Wahrscheinlichkeit eine ideale Konfrontation zu einer relevanten Änderung der Beweislage hätte führen können. Für diese Beurteilung spielen vor allem das Entlastungsvorbringen des Angeklagten und die Intensität der Rechtsbeschränkung eine Rolle …“. Im anschliessenden zweiten Schritt habe der Tatrichter zu entscheiden, „… ob er aufgrund einer Würdigung der gesamten Beweissituation trotz der ermittelten Wahrscheinlichkeit einer relevanten Änderung der Beweislage bei einer (idealen) Konfrontation die Überzeugung von der Schuld des Angeklagten gewinnen kann …“ (S. 235, siehe dazu im Einzelnen S. 202 ff. zur Struktur der tatrichterlichen Beweisführung und S. 208 ff. zu den Konsequenzen für die Würdigung einer nicht oder nur eingeschränkt konfrontierten Zeugenaussage); siehe zur erschöpfenden Beweiswürdigung auch im Einzelnen EISENBERG, S. 40 ff. N 97 ff.: wenn „die Möglichkeit alternativer Geschehensabläufe nicht entkräftet werden“ (S. 42 N 100b, Hervorhebung Eisenberg) kann, sei ein Strafanspruch nicht legitimierbar. Siehe dazu unter Kap. 2 B. II. 4., 5. Siehe dazu unter Kap. 5 A. II. 5. Siehe dazu auch KRAUSBECK, S. 207, der von der dem Angeklagten erschwerten oder gänzlich genommenen Möglichkeit spricht, „die (in der Anklageschrift dargelegte) Hypothese zu schwächen und die dieser zuwiderlaufenden Alternativhypothesen zu stärken“.
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
nur eingeschränkten Konfrontationsmöglichkeit mithin nicht möglich.2264 Es lässt sich infolgedessen nicht ausschliessen, dass im Falle einer uneingeschränkt konfrontierbaren belastenden Zeugenaussage diese – was die Entstehung ihres Inhaltes und den Einfluss der Fragen des Angeklagten auf den Entstehungsprozess der Zeugenaussage betrifft – einen anderen Inhalt und/oder aber jedenfalls eine andere Bewertungssicht betreff ihrer Glaubwürdigkeit aufweisen würde,2265 indem es dem Angeklagten aufgrund seiner uneingeschränkten Konfrontationsmöglichkeit möglich gewesen wäre, solche seine Verurteilung verhindernde Glaubwürdigkeitszweifel in den gerichtlichen Wahrheitsermittlungsprozess einzubringen, an denen er im Falle eines nur eingeschränkt konfrontierbaren Zeugenbeweises gerade gehindert war.2266 Eine solchermassen in ihrem Beweiswert geminderte belastende Zeugenaussage kann als alleinige Urteilsgrundlage nicht genügen,2267 sondern es bedarf in einem Zusammenwirken mit weiteren Beweisen vielmehr einer solchen qualitativen Verflechtung und gegenseitigen Bestärkung von Beweisen, dass von einem – alle den Angeklagten entlastenden Alternativhypothesen bzw. Antithesen ausschliessenden und so – eine richterliche Überzeugung konstituieren könnenden Beweismass gesprochen werden kann.2268 788
Das vom EGMR aufgestellte Erfordernis der nur eingeschränkt konfrontierbaren belastenden Zeugenaussage als der «nicht einzigen» Urteilsgrundlage ist mithin zu begrüssen. Hingegen erscheint das Erfordernis der Entscheidungserheblichkeit, wonach sich die Verurteilung nicht im entscheidenden Ausmass auf eine nur eingeschränkt konfrontierbare belastende Zeugenaussa-
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Zur Notwendigkeit des Ausschlusses aller Gegenhypothesen siehe die Ausführungen zum konfirmatorischen Hypothesentesten unter Kap. 5 A. II. 5.; dazu auch EISENBERG, S. 42 f. N 100b. Siehe auch SCHLOTHAUER, StV 2001, S. 129, der differenziert , dass „weder prognostiziert werden kann, welchen Verlauf eine Vernehmung eines Belastungszeugen genommen hätte, noch zu welcher Beurteilung seiner Glaubwürdigkeit und der Glaubhaftigkeit seiner Aussage man gekommen wäre, wenn der Angeklagte Gelegenheit gehabt hätte, den Zeugen in einem kontradiktorischen Verfahren selbst zu befragen oder befragen zu lassen“ (Hervorhebung Demko); siehe zudem GAEDE, S. 482: allenfalls Mutmassen des Richters, „ob und inwiefern der Zeuge infolge der Konfrontation seine Aussage geändert oder in einer für seine Glaubwürdigkeit beachtlichen Art und Weise reagiert hätte“ (Hervorhebung Demko). Dazu auch KRAUSBECK, S. 207; siehe zudem GAEDE, JR 2006, S. 295: „über das Recht zu erhärtende Irrtümer oder nicht auszuräumende vernünftige Glaubhaftigkeitszweifel – die sonst Verurteilungen ausschlieβen – (können) gar nicht erst wirksam aufgeworfen werden“. Dies deutlich betonend auch KRAUSBECK, S. 208 f., 235. Zu dem vom Krausbeck vorgeschlagenen, aus zwei Schritten bestehenden Verfahren siehe näher KRAUSBECK, S. 202 ff., 208 ff., 235.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
ge stützen darf, auch hier,2269 mithin mit Blick auf die Frage nach den Anforderungen an eine sichere tragfähige Urteilsgrundlage, als nicht geeignet2270 und ist erst recht nicht geeignet, wenn sich dieses in einem schlichten Deklarieren2271 bzw. in einem bloss formellen «Etikettieren» einer belastenden Zeugenaussage als hauptsächliches/nicht hauptsächliches Beweismittel erschöpft. Weder ein in der Urteilsbegründung vorgenommenes blosses formellen Nebeneinanderstellen von mehreren Beweismitteln2272 noch ein schlichtes Einordnen oder gar nur Deklarieren einer belastenden Zeugenaussage als hauptsächliches/nicht hauptsächliches Beweismittel verhelfen dem Angeklagten zu einem wirklichen, materiell wirksamen menschenrechtlichen Schutz. Einen ebensolchen materiell wirksamen menschenrechtlichen Schutz für den Angeklagten können allein eine vom erkennenden Gericht vorzunehmende «materielle» im Sinne von qualitative Würdigung jedes einzelnen und aller Beweismittel(s) sowie eine entsprechende Darlegung in der Urteilsbegründung gewähren,2273 aus der sich ersehen lässt, ob und inwiefern sich die in ihrem Beweiswert geminderte,2274 weil nur eingeschränkt konfrontierbare belastende Zeugenaussage und die anderen Beweise in einer solchen Weise zu lasten des Angeklagten tatsächlich gegenseitig unterstützen und bestärken, dass von einer überzeugungstauglichen – alle den Angeklagten möglicherweise entlastenden Antithesen ausschliessenden2275 – und damit von einer für eine Verurteilung des Angeklagten ausreichend sicheren tragfähigen Beweis2269
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Siehe zu Zweifeln an dem Kriterium der Entscheidungserheblichkeit bereits unter Kap. 5 B. II. 2. b). Zur Ungeeignetheit des Kriteriums der Entscheidungserheblichkeit ebenso deutlich KRAUSBECK, S. 234: „Soll die Reduzierung des Beweiswertes einer Zeugenaussage die spezifische Folge der Einschränkung des Konfrontationsrechts sein, kann es nicht, wie die Rechtsprechung mit der »sole or decisive« – Regel vorgibt, auf die Bedeutung der Aussage im Gesamtbeweisgebäude ankommen. Vielmehr ist dann zu fragen, unter welchen Bedingungen das Fehlen einer (idealen) Konfrontation dazu führt, dass dieses Beweisgebäude eine Verurteilung nicht mehr tragen kann …“ (Hervorhebung Krausbeck). Siehe auch WOHLERS, ZStrR 2005, S. 171, wonach es nicht darauf ankommen könne, dass das Gericht „die bemakelte Aussage in den Urteilsgründen als erheblich oder nicht erheblich deklariert“. Siehe auch EISENBERG, S. 38 N 91: „Aneinanderreihung erhobener Beweise genügt nicht“. Zur zeitlichen und inhaltlichen Schutzkomponente der Begründungspflicht siehe auch näher ESSER, S. 745 ff.; siehe auch EISENBERG, S. 42 N 100 a: „Die erschöpfende Beweiswürdigung muss … in den Urteilsgründen niedergelegt werden“ (Hervorhebung Eisenberg). Zur Beweiswertminderung auch KRAUSBECK, S. 234; GAEDE, JR 2006, S. 294. Dazu auch EISENBERG, S. 42 N 100b, wonach ein Strafanspruch nicht legitimierbar sei, wenn „die Möglichkeit alternativer Geschehensabläufe nicht entkräftet werden“ (Hervorhebung Eisenberg) kann.
515
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
grundlage ausgegangen werden kann.2276 Fällt auch nur eines der für die Urteilsfindung zugrundegelegten «Puzzleteile» bzw. Beweisstücke weg und fehlt es dadurch an der erforderlichen Sicherheit und Tragfähigkeit der Beweisgrundlage, kann eine Verurteilung des Angeklagten nicht ausgesprochen werden, wobei es jedoch völlig irrelevant ist, ob es sich bei diesem entfallenden Beweisstück um ein hauptsächliches, gleichgewichtiges oder nebensächliches Beweismittel handelt: Entsteht im Fall eines Hauptbeweismittels bei dessen Entfallen eine grosses Lücke in der Beweisgrundlage und entsteht im Fall eines entfallenen Nebenbeweismittels eine kleine Beweislücke, so ändert dies doch im Ergebnis nichts daran, dass in beiden Fällen die Beweisgrundlage lückenhaft und damit nicht hinreichend sicher für das Tragen einer sich darauf stützenden Verurteilung ist. 789
Im Rahmen der Ausführungen zu dem dem Angeklagten für ein faires Strafverfahren zu gewährenden Recht auf eine materiell wirksame Verteidigung im gesamten Straf- und Beweisverfahren wurde von einem Recht des Angeklagten auf eine aktive unvermittelte antithetische Teilnahme an der strafprozessualen Beweiserhebung einerseits und einem sich auf die strafprozessuale Beweiswürdigungsphase beziehenden Recht des Angeklagten auf eine faire Beweiswürdigung andererseits gesprochen.2277 Eben mit diesem Recht des Angeklagten auf eine faire Beweiswürdigung korrelieren (zum Ersten) das von Art. 6 II EMRK eingeforderte Recht auf einen gesetzlichen Schuldbeweis und hierbei auf eine die Unschuldsvermutung überwindende und eine richterliche Überzeugung konstituieren könnende hinreichende Beweisgrundlage sowie (zum Zweiten) die Würdigungs- und Begründungsverpflichtungen des Gerichts: Beide sind Teil des Gesamtmenschenrechts auf ein faires Strafverfahren und sind in einem solchen Sinne zu interpretieren, dass sie zur Überwindung der Unschuldsvermutung nach einer vom erkennenden Gericht entsprechend zu begründenden und darzulegenden rational-objektiven und intersubjektiv nachvollziehbaren Beweisgrundlage verlangen.2278 Nur eine ebensolche Urteilsbegründung kann dem Angeklagten Lücken, Widersprüche, Unsorgfältigkeiten in der gerichtlichen Beweiswürdigung aufzeigen – sowohl solche, die die Glaubwürdigkeitsbeurteilung des belastenden Zeugenbeweises selbst betreffen, als auch solche, die sich auf das Zusammenspiel des belastenden Zeugenbeweises mit anderen Beweismitteln beziehen –, welche sodann mit Blick auf eine Überprüfung des Urteils auf dem Rechtsmittelwege dem Angeklagten seinerseits Angriffspunkte für ein In-Zweifel-Ziehen des gerichtlichen Wahrheitsermittlungsprozesses – hier nun bezogen auf den in 2276
2277 2278
516
Siehe zur Gesamtschau der Indizien und zu der Erhöhung auf das geforderte Beweismass näher BENDER/NACK, S. 221. Siehe dazu näher unter Kap. 4 B. II. 2. Siehe dazu EISENBERG, S. 38 N 91, 40 N 97; GAEDE, S. 821, WOHLERS, Festschrift Trechsel, S. 821: „hinreichend fundierten objektiven Beweisgrundlage“.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
den Händen des Gerichts liegenden Verfahrensteil der Wertung und Würdigung der Beweise – an die Hand geben.2279
III.
Zusammenfassung
Durch Art. 6 III d EMRK und dessen Konkretisierung in der Rechtsprechung des EGMR sind menschenrechtliche Garantien zum Wesensgehalt sowie mit Blick auf dessen Verwirklichung zu Ausübungsaspekten des Konfrontationsrechts des Angeklagten entwickelt und im Einzelnen ausdifferenziert. Diese menschenrechtlichen Vorgaben sprechen zum einen den persönlichen, zeitlichen und sachlichen Schutzbereich des Konfrontationsrechts an und beziehen sich zum anderen auf die Einschränkungsvoraussetzungen auf der Beweiserhebungs- und Beweiswürdigungsebene, welche es für eine konventionsgemässe Einschränkung des Konfrontationsrechts zu beachten gilt.
790
Im Rahmen des persönlichen Schutzbereichs hat sich das Konfrontationsrecht als ein sich auf «die Verteidigung insgesamt» beziehendes Recht dargestellt, das die Einheit von Angeklagtem und Verteidiger betont, dabei aber zugleich den Angeklagten als massgebliches Zentrum dieser Einheit ausweist. Der Begriff des Belastungszeugen untersteht einer autonomen und zweckorientierten Auslegung des EGMR und zwei Grundaspekte des Begriffs des Belastungszeugen, welche kumulativ vorzuliegen haben, zeigen sich als relevant für die Begriffsausprägung: Es ist zum Ersten das objektiv und materiell zu bestimmende Gegebensein einer angeklagtenbelastenden Aussage eines anderen Menschen. Zum Zweiten kommt das Erfordernis des tatsächlichen Vorliegens dieser belastenden Aussage vor Gericht für dessen Entscheidungs-
791
2279
Siehe zu den Funktionen des Begründungserfordernisses auch VILLIGER, S. 313 N 491, zu denen „die Bestätigung der Gewährung des rechtlichen Gehörs; die Ermöglichung eines Rechtsmittels; die Prüfung der Rechtmässigkeit des Urteils; sowie die Transparenz der Gerichtsbarkeit“ (Hervorhebung Demko) gehören; siehe zur Begründungspflicht auch ESSER, S. 745 ff.; siehe zudem EGMR, HADJIANASTASSIOU v. GREECE, 16.12.1992, A 252, § 33: „… The Contracting States enjoy considerable freedom in the choice of the appropriate means to ensure that their judicial systems comply with the requirements of Article 6 (art. 6). The national courts must, however, indicate with sufficient clarity the grounds on which they based their decision. It is this, inter alia, which makes it possible for the accused to exercise usefully the rights of appeal available to him …“ (Hervorhebung Demko); EGMR, SUOMINEN v. FINLAND, 01.07.2003, Application Nr. 37801/97, §§ 34 ff.: „… The Court emphasises that a further function of a reasoned decision is to demonstrate to the parties that they have been heard. Moreover, a reasoned decision affords a party the possibility to appeal against it, as well as the possibility of having the decision reviewed by an appellate body. It is only by giving a reasoned decision that there can be public scrutiny of the administration of justice …“ (§ 37, Hervorhebung Demko).
517
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
findung hinzu, wobei nicht die tatsächliche Verwertung dieser Aussage durch das Gericht, sondern der Aspekt der potentiellen Verwertbarkeit entscheidend ist. 792
Der offene Ansatz, den der EGMR mit Blick auf Strafverfahren mit dem Unmittelbarkeits- und mit Blick auf Strafverfahren mit dem Mittelbarkeitsgrundsatz aufzeigt, hat hinsichtlich des zeitlichen Schutzbereiches des Konfrontationsrechts das Gesamtverfahren als entscheidenden Beurteilungsmassstab ausgewiesen sowie eine weite und materielle Sicht zum Schutz des Angeklagten zu erkennen gegeben. Beide Gestaltungsvarianten eines Strafverfahrens, sowohl ein Strafverfahren mit Unmittelbarkeits- als auch ein solches mit Mittelbarkeitsgrundsatz, eröffnen den Raum für eine mögliche wirksame Zeugenkonfrontation und aber auch beide Gestaltungsvarianten sind bzw. können mit Gefahren und Nachteilen verbunden sein, welche einer wirksamen Zeugenkonfrontation entgegenstehen und welche es daher zu vermeiden gilt. Ist für ein wirksames Konfrontationsrecht die belastende Zeugenaussage in ihrem Gesamtformungsprozess in den Blick zu nehmen, welcher auf die Beachtung des Gesamtverfahrens verweist, so steht damit auch im Zusammenhang, ob in einem konkreten Fall für eine dem Angeklagten im Ergebnis eingeräumte materiell wirksame Zeugenkonfrontation eine einmalige Konfrontationsmöglichkeit genügt oder ob mehrere, wiederholte Konfrontationsmöglichkeiten notwendig sind. Des Weiteren ist hier sowie zugleich hinsichtlich des sachlichen Schutzbereichs des Konfrontationsrechts auf die Einhaltung des Protokollierungserfordernisses zu achten, welches sich als Erfordernis eines Wortprotokolls und/oder einer Videoaufzeichnung der Zeugenvernehmung und -befragung ausweist, wird dem Angeklagten doch nur durch diese eine hinreichende Wissensgrundlage für eine darauf aufbauende Zeugenkonfrontation zur Verfügung gestellt.
793
Die Verknüpfung der Wesensgehalts- mit der Ausübungsebene des Konfrontationsrechts rückt in Bezug auf dessen sachlichen Schutzbereich durch die Einordnung und Ausgestaltung der drei Ausübungsrechte – des Rechts auf Kenntnis der Zeugenidentität, des Rechts auf Wahrnehmung des Zeugen(verhaltens) während der Zeugenbefragung und des Fragerechts im engen Sinne – in den Vordergrund. Diese drei Ausübungsrechte sind Ausdruck der sich auf die Ausübungsebene beziehenden drei Grundmomente des Konfrontationsrechts, welche sich in die Grundmomente des Wissens, des Wahrnehmens und des sprachlichen Handelns in Gestalt des Fragens ausdifferenzieren lassen. Im Verhältnis zueinander erweist sich das Fragerecht im engen Sinne als das entscheidende Hauptausübungsrecht, dem in einer funktionaldienenden Funktion das Identitätskenntnisrecht und das Wahrnehmungsrecht unterstützend zur Seite stehen. Für die uneingeschränkte Ausübung des Konfrontationsrechts ist nicht nur auf die kumulative Einräumung aller drei Ausübungsrechte zu achten, sondern ebenso auf das für jedes dieser Ausübungs518
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
rechte zu wahrende Erfordernis der «Unvermitteltheit», welches sich als zu wahrende «Unvermitteltheit» auf der Wissensebene, auf der Anwesenheitsund Wahrnehmungsebene sowie auf der Sprachebene ausformt und mit welchem dem Angeklagten eine gleichberechtigte Einflussnahme auf die Entstehung der Zeugenaussage und auf die Bewertung der Zeugenaussage zu gewährleisten ist. Mit Bezug auf das vom EGMR entwickelte Prüfungsmodell für eine konventionsgemässe Einschränkung des Konfrontationsrechts mit seinen drei Prüfungsstufen ist auf die Trennung zwischen der Beweiserhebungsebene und der Beweiswürdigungsebene und auf die genaue Zuordnung jeder der Prüfungsstufen zu diesen Ebenen zu achten. Für die Beweiserhebungsebene erweisen sich die erste und zweite Prüfungsstufe als relevant, welche das Erfordernis sachlich gerechtfertigter Gründe (erste Prüfungsstufe) und das Erfordernis der Wahrung der Verteidigungsrechte (zweite Prüfungsstufe) betreffen, wobei sich mit letzerem Anforderungen an den Verhältnismässigkeitsgrundsatz, das Ausgleichserfordernis und einen rückbegrenzenden Wesensgehalt des Konfrontationsrechts verbinden. Die dritte Prüfungsstufe betrifft die Beweiswürdigungsebene und spricht das vom EGMR betonte Erfordernis an, dass sich die Verurteilung des Angeklagten weder allein noch im entscheidenden Ausmass auf eine nur eingeschränkt konfrontierbare belastende Zeugenaussage stützen darf: Ist das Erfordernis, dass die nur eingeschränkt konfrontierbare belastende Zeugenaussage nicht die einzige Urteilsgrundlage sein darf, zu begrüssen, so hat sich hingegen das Erfordernis der Entscheidungserheblichkeit als nicht geeignet ausgewiesen. In einer Differenzierung zwischen der Fallkonstellation der konventionswidrigen Beweiserhebung – für welche die Beachtung eines menschenrechtsgestützten und menschenrechtsschützenden Beweisverwertungsverbots als Folge einer konventionswidrigen Zeugenbeweiserhebung herausgearbeitet worden ist – einerseits und der Fallkonstellation der konventionsgemässen Beweiserhebung andererseits haben sich zudem die jeweiligen Bedeutungen, aber auch die jeweils unterschiedliche Zuordnung und Relevanz der beiden Rechte gezeigt, die zu dem dem Angeklagten für ein faires Strafverfahren einzuräumenden Recht auf eine materiell wirksame Verteidigung im gesamten Straf- und Beweisverfahren gehören: Stellt sich das Recht auf eine aktive unvermittelte antithetische Teilnahme an der strafprozessualen Beweiserhebung als wichtig dar für die Fallkonstellation der konventionswidrigen Zeugenbeweiserhebung, so ist das Recht auf eine faire Beweiswürdigung bedeutungstragend für die Fallkonstellation der konventionsgemässen Zeugenbeweiserhebung.
519
794
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
C.
Bedeutungen der menschenrechtlichen Vorgaben für das Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen mit Blick auf dessen Ausübung in nationalen und internationalen Strafverfahren
I.
Das Einstellen des Konfrontationsrechts in die durch das nationale und internationale Strafverfahrensrecht vorgegebene Form des Beweisverfahrens und der Zeugenbeweiserhebung
1.
Charakter und Gestaltung der Zeugenbeweiserhebung sowie Verteilung der Verfahrens- und Vernehmungsherrschaft im internationalen Strafverfahren vor dem ICTY
795
Geregelt ist das Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen in Art. 21 Abs. 4 lit. e ICTY-Statut, in dem von dem Recht des Angeklagten gesprochen ist «to examine, or have examined, the witnesses against him». Eine bestimmte Form für die Ausübung des Konfrontationsrechts ist durch das ICTY-Statut nicht ausdrücklich vorgegeben, jedoch finden sich solche Regelungen in den Rules of Procedure and Evidence:2280 Diese bestimmen in der ICTY-Regel 85 (B), dass ein jeder Zeuge ins Kreuzverhör («cross-examination») genommen werden darf,2281 und regeln in der ICTYRegel 90 (H) die nähere Ausgestaltung des Kreuzverhörs.2282
796
Die strafprozessuale Beweisführung des ICTY ist durch einen im Grundsatz adversatorischen2283 Charakter gekennzeichnet und wird, betrachtet man den 2280 2281
2282
2283
520
Rules of Procedure and Evidence (RPE), Stand 08.12.2010. ICTY-Regel 85 (B): «Examination-in-chief, cross-examination and re-examination shall be allowed in each case. It shall be for the party calling a witness to examine such witness in chief, but a Judge may at any stage put any question to the witness.» ICTY-Regel 90 (H) (i): «Cross-examination shall be limited to the subject-matter of the evidence-in-chief and matters affecting the credibility of the witness and, where the witness is able to give evidence relevant to the case for the cross-examining party, to the subject-matter of that case.» ICTY-Regel 90 (H) (ii): «In the cross-examination of a witness who is able to give evidence relevant to the case for the cross-examining party, counsel shall put to that witness the nature of the case of the party for whom that counsel appears which is in contradiction of the evidence given by the witness.» ICTY-Regel 90 (H) (iii): «The Trial Chamber may, in the exercise of its discretion, permit enquiry into additional matters.» Zu den Begriffen adversatorisch und inquisitorisch und der bei genauerer Begriffsverwendung zu bevorzugenden Unterscheidung zwischen adversatorisch und instruk-
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Ablauf, in dem die Beweise in das Strafverfahren eingeführt werden, in erster Linie durch Grundzüge des angloamerikanischen Verfahrensmodells des Parteiprozesses bestimmt.2284 Jedoch folgt das Beweisverfahren beim ICTY nicht einem «rein» adversatorischen Verfahrensmodell des common law, sondern zu der „adversatorische(n) Grundstruktur“2285 des Beweisverfahrens kommen inquisitorische Verfahrenselemente des civil law hinzu, die zwar den adversatorischen Grundcharakter des Beweisverfahrens des ICTY nicht – hin zu einem inquisitorischen Grundcharakter – zu ändern vermögen, jedoch dem Beweisverfahren eine nur gemässigt-adversatorische bzw. genauer eine gemischt-adversatorisch-inquisitorische Struktur vermitteln:2286 Das strafprozessuale Beweisverfahren des ICTY hat sich zu einem Beweisverfahren gemischt-adversatorisch-inquisitorischer Natur entfaltet. Angesprochen ist ein Beweisverfahren, welches, was seinen Grundcharakter betrifft, durch das common law-Verfahrensmodell bestimmt und massgeblich geprägt ist, welches jedoch – gerade auch im Zuge der Fortentwicklungen bezüglich verschiedener Verfahrensfragen – zugleich von inquisitorischen Verfahrenselementen des civil law beeinflusst ist, so dass sich von der Entwicklung hin zu einer «Strafverfahrensordnung sui generis»2287 und insbesondere mit Blick auf das Beweisverfahren von der Entwicklung hin zu einer «strafprozessualen Beweisverfahrensordnung sui generis» sprechen lässt. Dass ein Raum für die Entwicklung einer solchen den besonderen Herausforderungen des ICTY genügenden Strafverfahrensordnung sui generis besteht, welchen es durch das ICTY auszufüllen gilt – und welcher vom Strafgerichtshof in fortlaufender Rechtsprechung auch zunehmend ausgefüllt wurde und wird –, geht nicht nur aus den ICTY-Regeln 89 lit. (A) und (B) hervor, nach denen das Gericht nicht an nationale Beweisregeln gebunden ist und es – soweit keine anderen Regelungen in der Prozessordnung enthalten sind – diejenigen Beweisregeln anwenden soll, die der fairen Entscheidung des be-
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2285 2286
2287
torisch siehe unter Kap. 2 B. I. 3. und Kap. 3 B. III. 2. a).; siehe dazu auch AMBOS, ICLR 2003, S. 2 ff.; ESER, Festschrift Tiedemann, S. 1456 f., 1467 ff. Siehe auch WANNEK, S. 29 f.; ESER, Festschrift Tiedemann, S. 1457 f.; KAMARDI, S. 343; NEMITZ, S. 53 f.; SADOGHI, ZfRV 2007, S. 234; MAY/WIERDA, ColJTL 1999, S. 735, 737, 739. ESER, Festschrift Tiedemann, S. 1457 f. (Hervorhebung Demko). AMBOS, ICRL 2003, S. 5 f.: „a mixed one in that it contains structural elements or building blocks of both the ”adversarial” and the ”inquisitorial” system“ (S. 5, Hervorhebung Demko), „a mixed procedure“ (S. 6); ESER, Festschrift Tiedemann, S. 1457: „Mischsystem“; SADOGHI, ZfRV 2007, S. 234; MAY/WIERDA, ColJTL 1999, S. 738; siehe dazu auch FAIRLIE, ICLR 2004, S. 245 ff., 265, 269, 281, 288 ff. So auch AMBOS, ICLR 2003, S. 6: „one can fairly speak of a sui generis model“ (Hervorhebung Ambos); siehe auch KAMARDI, S. 391: „Prozessordnung sui generis“ (Hervorhebung Kamardi); FAIRLIE, ICLR 2004, S. 318: „a sui generis system“ (Hervorhebung Fairlie), „an amalgamation of two well-established legal traditions“.
521
797
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
treffenden Verfahrens am besten dienen und mit dem Geist des Statuts und den allgemeinen Rechtsprinzipien vereinbar sind. Vielmehr betont das ICTY auch in seiner Rechtsprechung, dass es an nationale Beweisregeln – seien es die des common law oder die des civil law – zwar nicht gebunden ist: 798
„… neither the rules issuing from the common law tradition in respect of the admissibility of hearsay evidence nor the general principle prevailing in the civil law systems, according to which, barring exceptions, all relevant evidence is admissible, including hearsay evidence, because it is the judge who finally takes a decision on the weight to ascribe to it, are directly applicable before this Tribunal. The International Tribunal is, in fact, a sui generis institution with its own rules of procedure which do not merely constitute a transposition of national legal systems. The same holds for the conduct of the trial which, contrary to the Defence arguments, is not similar to an adversarial trial, but is moving towards a more hybrid system …“2288
799
Jedoch würden und werden ebensolche nationalen Beweisregeln wie auch solche des internationalen Rechts vom ICTY sehr wohl herangezogen und berücksichtigt, um sich von diesen zur Beantwortung von Fragen zur Auslegung und Anwendung der das Straf- und Beweisverfahren beim ICTY betreffenden Regelungen inspirieren und beeinflussen zu lassen und um insbesondere Lösungen zu finden, die den verschiedenen Strafverfahrensrechtssystemen der Welt gemeinsame Grundprinzipien erkennen lassen.2289
800
Der adversatorischen Grundstruktur des Strafverfahrens vor dem ICTY und dem damit verbundenen «two-cases-approach»2290 entsprechend ist es grundsätzlich Sache der Parteien – der Anklage und der Verteidigung –, dem Gericht ihren jeweiligen Fall zu präsentieren: Für die im Anschluss an die Eröffnungsplädoyers der beiden Parteien beginnende Präsentation des «case» der Anklage und der Verteidigung schreibt die ICTY-Regel 85 eine bestimmte Reihenfolge vor, überlässt den Ablauf des Beweisverfahrens mit Blick auf die Reihenfolge der Beweiserhebungen also im Unterschied zu Strafverfahrensmodellen des civil law-Systems nicht den sich von Zweckmässigkeitserwägungen leiten lassenden Entscheidungen des Gerichts.2291 Nach der ICTYRegel 85 (A) erfolgt die Beweispräsentation grundsätzlich – soweit die Verfahrenskammer nicht «in the interests of justice» von diesem Ablauf abweicht – in der Reihenfolge, dass die Anklage mit der Präsentation ihres prosecution case beginnt (evidence for the prosecution, ICTY-Regel 85 (A) (i)), gefolgt von der Präsentation des defence case durch die Verteidigung (evidence for 2288
2289 2290 2291
522
Prosecutor v. Tihomir Blaškić, Decision on the Standing Objection of the Defence to the Admission of Hearsay with no Inquiry as to its Reliability, Case No. IT-95-14-T, 21. Januar 1998, para. 5 (Hervorhebung ICTY); siehe auch MAY/WIERDA, ColJTL 1999, S. 736 f. Siehe dazu auch KAMARDI, S. 279, 391; MAY/WIERDA, ColJTL 1999, S. 737. Dazu auch AMBOS, ICLR 2003, S. 4. Siehe auch NEMITZ, S. 54 f.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
the defence, ICTY-Regel 85 (A) (ii)). Anschliessen kann sich sodann die Präsentation weiterer neuer Beweise durch die Anklage (prosecution evidence in rebuttal, ICTY-Regel 85 (A) (iii)), welcher auf dieses neuerliche Vorbringen der Anklage reagierend die Präsentation neuer Beweise durch die Verteidigung nachfolgen kann (defence evidence in rejoinder, ICTY-Regel 85 (A) (iv)).2292 Nicht nur der grundsätzliche Ablauf der Hauptverhandlung selbst wird von der ICTY-Regel 85 (A) auf diese Weise vorgegeben, sondern darüber hinaus macht die ICTY-Regel 85 (B) Vorgaben mit Blick auf die den Zeugenbeweis betreffende Beweisführung, indem die Reihenfolge vorgeschrieben ist, in der die Zeugenvernehmung stattzufinden hat: Danach ist es – im Unterschied zu der das Zeugenbeweismittel betreffenden Beweisführung im civil law-System – nicht der Vorsitzende Richter, in dessen Händen, genauer in dessen vorrangiger Vernehmungsherrschaft die Aufnahme des Zeugenbeweises dergestalt liegt, dass dieser mit der Zeugenbefragung beginnt und erst nach Beendigung der richterlichen Zeugenbefragung der Anklage und der Verteidigung ermöglicht wird, dem Zeugen Fragen zu stellen.2293 Vielmehr gestaltet sich die Aufnahme des Zeugenbeweises in der Hauptverhandlung vor dem ICTY in der Form einer in den Händen der Parteien liegenden kontradiktorischen Beweispräsentation: Nach dieser beginnt diejenige Partei mit der Zeugenvernehmung, die den Zeugen benannt, ihn mithin in den Prozess eingeführt hat (examination-in-chief). Im Anschluss besteht für die gegnerische Partei die Möglichkeit, den Zeugen ins Kreuzverhör zu nehmen (cross-examination), an welches sich eine zusätzliche Zeugenvernehmung durch die Partei, die den Zeugen benannt hatte, anschliessen kann (re-examination).2294
801
Mit Blick auf die – oben angesprochene – nicht rein-adversatorische, sondern gemässigt-adversatorische Struktur des Verfahrens vor dem ICTY, in welche auch civil law-Verfahrenselemente einfliessen, ist der Richter in der Hauptverhandlung bezüglich der Beweisaufnahme im Allgemeinen und der Erhebung des Zeugenbeweises im Besonderen jedoch nicht auf eine streng passive Rolle beschränkt, nach welcher er auf die Beweisaufnahme überhaupt keinen Einfluss ausüben kann und dementsprechend seine Entscheidung auf der Grundlage des ausschliesslich von den Parteien eingeführten Beweismaterials zu fällen hat. Vielmehr bringen (u.a.) die ICTY-Regeln 85 (B) Satz 2 und 98 in Abweichung von einem rein-adversatorischen Verfahrensmodell eine dem Richter im Rahmen der Beweisaufnahme und auch bei der Aufnahme des Zeugenbeweises zukommende aktive Rolle zum Ausdruck. Sie zeigen auf, dass die in Bezug auf die Aufnahme des Zeugenbeweises bestehende Ver-
802
2292 2293 2294
Siehe dazu auch WANNEK, S. 29 f. Siehe zum civil law-Verfahrenssystem unter Kap. 2 B. I. 3. und Kap. 3 B. III. 2. a). Dazu auch NEMITZ, S. 55; KAMARDI, S. 241 f.; WANNEK, S. 29 f.
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
nehmungsherrschaft zwar – die adversatorische Grundstruktur des Strafverfahrens vor dem ICTY zum Ausdruck bringend und bestätigend – primär bei den Parteien liegt,2295 der Richter aber befugt ist, auf die (Zeugen-) Beweiserhebung Einfluss zu nehmen: Nach der ICTY-Regel 85 (B) Satz 2 ist der Richter berechtigt, in jeder Phase der Beweisaufnahme Fragen an den Zeugen zu stellen,2296 nach der ICTY-Regel 98 dazu, die Parteien zum Vorbringen weitere Beweise anzuweisen oder proprio motu weitere Zeugen zu laden2297 sowie nicht zuletzt nach der ICTY-Regel 54 dazu, auf Verlangen jeder Partei oder proprio motu weitere für die Urteilsfindung für erforderlich gehaltene Anordnungen zu erlassen.2298 803
Trotz der auch dem Gericht und nicht nur den Parteien zukommenden aktiven Rolle mit Blick auf die strafprozessuale Beweisführung in der Hauptverhandlung machen die dargestellten ICTY-Regeln in Bezug auf das Verhältnis zwischen den am Strafverfahren Beteiligten – angesprochen sind hier das Gericht, die Anklage und die Verteidigung – und die Frage, wem die Verfahrensherrschaft und die Zeugenvernehmung betreffend die Vernehmungsherrschaft zukommt, deutlich, dass die zwar gegebenen richterlichen Einflussnahmemöglichkeiten dennoch nicht in einem solchen Masse bestehen, dass diese die adversatorische Grundstruktur des Strafverfahrens des ICTY zu ändern vermögen: Dass die Verfahrensherrschaft primär in den Händen der Parteien liegt und diese dem «two-cases-approach» folgend dafür verantwortlich sind, die für den Beweis ihres prosecution-/defence-case nötigen Beweismittel dem Gericht vorzubringen und dieses von ihrem case zu überzeugen,2299 lässt sich der Grundsatz-Ausnahme-Gestaltung in der ICTY-Regel 85 (A) entnehmen, nach der die dort vorgegebene Reihenfolge von prosecution case und defence case als grundsätzlich zu befolgende Reihenfolge vorgegeben ist, die solange gilt, solange die Verfahrenskammer nicht im Interesse der Gerechtigkeit eine Abweichung von diesem Ablauf vorgibt («unless otherwise directed by the Trial Chamber in the interests of justice»). Auch die Art, 2295
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524
Siehe auch SADOGHI, ZfRV 2007, S. 232 zum adversatorischen Strafverfahren, in dem „die Parteien die Hauptakteure“ sind. ICTY-Regel 85 (B) Satz 2: «It shall be for the party calling a witness to examine such witness in chief, but a Judge may at any stage put any question to the witness.» (Hervorhebung Demko). ICTY-Regel 98: «A Trial Chamber may order either party to produce additional evidence. It may proprio motu summon witnesses and order their attendance.» (Hervorhebung im Original). ICTY-Regel 54: «At the request of either party or proprio motu, a Judge or a Trial Chamber may issue such orders, summonses, subpoenas, warrants and transfer orders as may be necessary for the purposes of an investigation or for the preparation or conduct of the trial.» (Hervorhebung im Original). Siehe auch WANNEK, S. 30, wonach der Wahrheitsfindungsprozess „primär in den Händen der beiden Parteien“ liegt.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
in der die ICTY-Regel 85 (B) Satz 2 formuliert ist und – im Unterschied zur der Partei zustehenden Befugnis, «to examine such witness in chief» – die Rede von der (blossen) Befugnis des Richters, an den Zeugen Fragen zu stellen («put any question to the witness»), lassen erkennen, dass im Unterschied und gerade umgekehrt zum civil-law-Verfahrenssystem – bei dem die Zeugenvernehmung in den Händen des Richters liegt, die Befugnis der Parteien, insbesondere des Angeklagten hingegen weniger als «echte» Vernehmungsals vielmehr als eine nur Fragebefugnis (häufig in Gestalt der Befugnis zum Stellen von Ergänzungsfragen) ausgestaltet ist2300 – die vernehmungsbeherrschende Rolle von den Parteien getragen wird: Dem Richter (und nicht wie im civil-law-System den Parteien) ist eine blosse Fragebefugnis, nicht hingegen eine darüber hinausgehende Befugnis im Sinne einer «echten» Vernehmungsbefugnis eingeräumt.2301 Gestützt wird dieser Eindruck einer grundsätzlich parteibeherrschten Verfahrens- und mit Blick auf den Zeugenbeweis auch Vernehmungsführung zudem dadurch, dass in den aufgezeigten ICTYRegeln 85 (B) Satz 2, 98 und 54 stets nur von dem Richter zustehenden Befugnissen die Rede ist, entsprechend bestehende spezielle Verpflichtungen für den Richter wie auch eine allgemeine richterliche Aufklärungspflicht im Sinne einer dem Amtsermittlungsgrundsatz des civil law entsprechenden Verpflichtung zum Bemühen um die bestmögliche Sachaufklärung im ICTYStatut und den RPE hingegen nicht vorgeschrieben sind.2302 Eingestellt in die Vernehmungsherrschaft der Parteien bei der Zeugenbeweiserhebung wird die Ausübung des Konfrontationsrechts gegenüber Belastungszeugen in der Ausübungsform des Kreuzverhörs als die „wichtigste Waffe“,2303 das wirksamste Mittel2304 zum Überprüfen, Testen und Infragestellen des belastenden Zeugenbeweises mit Blick auf dessen Glaubwürdig2300 2301
2302
2303 2304
Siehe dazu auch unter Kap. 5 C. zum schweizerischen Strafverfahren. Siehe auch KAMARDI, S. 373, wonach die Richter trotz zunehmend aktiver Rolle „nicht die Vernehmung der Zeugen insgesamt übernommen“ haben. Siehe zum Fehlen einer dem deutschen Amtsermittlungsgrundsatz entsprechenden richterlichen Verpflichtung, sich um die bestmögliche Sachaufklärung zu bemühen, ebenso WANNEK, S. 30; zur unterschiedlichen Ausübung der Fragebefugnis durch die Richter je nach angelsächsischem oder kontinentalem Rechtshintergrund siehe NEMITZ, S. 55, wonach sich „erstere in der Verhandlung häufig eher zurückhalten bei der Befragung der Zeugen, … sich letztere bisweilen aktiver an den Vernehmungen (beteiligen) …“; siehe auch SADOGHI, ZfRV 2007, S. 232 zum adversatorischen Strafverfahren, in dem „für die Richter kein Amtsermittlungsgrundsatz, dh keine Pflicht die Wahrheit zu erforschen, wohl aber die Möglichkeit dazu“ existiere. KAMARDI, S. 373. Siehe zutreffend AMBOS, ICLR 2003, S. 24: „… cross-examination is the most efficient remedy against unreliably evidence …“; siehe zum Kreuzverhör als „wesentliche(m) Prinzip des adversatorischen Strafprozesses“ (S. 232) auch SADOGHI, ZfRV 2007, S. 232.
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804
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
keit angesehen2305 und damit das betont, was schon im adversatorischen Strafverfahren des common law mit dem Kreuzverhör als Mittel der Beweisführung verbunden ist: Es „führe dazu, daβ die Beweisergebnisse „fuller, clearer, and infinitely more cogent“ herausgearbeitet“2306 würden und betont wird, dass „cross-examination is the best method of ascertaining forensic truth“.2307 Wigmore bezeichnet das Kreuzverhör als „the greatest legal engine ever invented for the discovery of truth“2308 und McCormick spricht vom cross-examination „as an essential safeguard of the accuracy and completeness of testimony“.2309 In welcher Weise der Wesensgehalt des Konfrontationsrechts und der zu dessen Ausübung zu gewährleistende Schutzbereich sowie die Einschränkungen in der Ausübung des Konfrontationsrechts im internationalen Strafverfahren vor dem ICTY bestimmt werden, ist im Einzelnen Gegenstand der nachfolgenden Ausführungen.2310 2.
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Charakter und Gestaltung der Zeugenbeweiserhebung sowie Verteilung der Verfahrens- und Vernehmungsherrschaft im nationalen Strafverfahren der Schweiz
Das Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen ist, auch wenn es in der schweizerischen Strafprozessordnung nicht ausdrücklich benannt ist,2311 als ein „besonderer Aspekt des Rechts auf ein faires Verfahren gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK“2312 für das schweizerische Strafverfahren anerkannt und findet als Konkretisierung des rechtlichen Gehörs, Art. 29 Abs. 2 BV, seine Gewähr auch durch die Bundesverfassung in Art. 32 Abs. 2 BV.2313 2305
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Siehe etwa Prosecutor v. Radoslav Brđanin & Momir Talić, Decision on ”Objection to Rule 92 bis Procedure and Motion to Quash and Exclude all Rule 92 bis Statements” filed by Radoslav Brđanin on 13. December 2001, Case No. IT-99-36-PT, 18. Januar 2002, para 8: „… If Brđanin is concerned that the contents of the statement were influenced in some way by the investigator who took down the statement, his remedy is to have the witness in question called for cross-examination …“ (Hervorhebung Demko); zum Wesensgehalt des Konfrontationsrechts im internationalen Strafverfahren vor der ICTY siehe im Einzelnen unter Kap. 5 C. II. 1. a). HERRMANN, Hauptverhandlung, S. 336. HERRMANN, Hauptverhandlung, S. 336. Entnommen aus HERRMANN, Hauptverhandlung, S. 336. Entnommen aus HERRMANN, Hauptverhandlung, S. 336 FN 1169. Siehe dazu näher unter Kap. 5 C. II. Darauf auch hinweisend ARQUINT/SUMMERS, plädoyer 2008, S. 38. BGE 129 I 151, S. 153. Siehe auch die Entscheidung des BG 1P.650/2000/boh vom 26. Januar 2001, E. 3. B): „Die Garantien von Art. 6 Ziff. 3 EMRK stellen besondere Aspekte des Rechts auf ein faires Verfahren gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK dar. Sie wurden von der Rechtspre-
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen „… Der in Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK garantierte Anspruch des Angeschuldigten, den Belastungszeugen Fragen zu stellen, ist ein besonderer Aspekt des Rechts auf ein faires Verfahren gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK … Mit der Garantie von Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK soll ausgeschlossen werden, dass ein Strafurteil auf Aussagen von Zeugen abgestützt wird, ohne dass dem Beschuldigten wenigstens einmal angemessene und hinreichende Gelegenheit gegeben wird, das Zeugnis in Zweifel zu ziehen und Fragen an den Zeugen zu stellen … Dieser Anspruch wird als Konkretisierung des rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV) auch durch Art. 32 Abs. 2 BV gewährleistet …“2314
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Regelungen in der schweizerischen Strafprozessordnung, an die das Konfrontationsrecht des Angeklagten anknüpft, sind der die Teilnahmerechte bei Beweiserhebungen einleitende Art. 147 Abs. 1 S. 1 StPO,2315 wonach die Parteien das Recht haben, «bei Beweiserhebungen durch die Staatsanwaltschaft und die Gerichte anwesend zu sein und einvernommenen Personen Fragen zu stellen», und Art. 341 Abs. 2 StPO, nach welchem die Parteien bei den von der Verfahrensleitung durchgeführten Einvernahmen im Beweisverfahren «durch die Verfahrensleitung Ergänzungsfragen stellen lassen oder sie mit deren Ermächtigung selber stellen» können. Im zu den (reformiert) inquisitorischen2316 – bzw. besser ausgedrückt: instruktorischen – Verfahrenssystemen zählenden schweizerischen Strafverfahren ist das Konfrontationsrecht des Angeklagten, was dessen Ausübungsform betrifft, eingestellt in das sog. Präsidialverhör2317 zu gewähren: Seinen Ausdruck findet dies nicht nur durch den die Einvernahme in die Hände der Verfahrensleitung legenden Art. 341 Abs. 1 und 2 StPO,2318 sondern auch bereits in der Entscheidung für einen
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chung bereits aus Art. 4 aBV abgeleitet und sind als Konkretisierung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) nunmehr auch durch Art. 32 Abs. 2 BV gewährleistet …“; siehe dazu auch SCHLEIMINGER, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 147 N 3; WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 147 N 5, 12; RIKLIN, StPO Kommentar, Vorbem. Art. 147 f. N 5. BGE 129 I 151, S. 153, 154 (hier kursive, im Original fettgedruckte Hervorhebung). Siehe auch HAURI, in: NIGGLI/HERR/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 341 N 9 zum Enthalten-Sein in den „Bestimmungen über das Teilnahme- und Fragerecht bei Beweiserhebungen … (Art. 147 Abs. 1) …“ Zu den Begriffen adversatorisch und inquisitorisch und der bei genauerer Begriffsverwendung zu bevorzugenden Unterscheidung zwischen adversatorisch und instruktorisch siehe bereits unter Kap. 2 B. 3. und Kap. 3 B. III. 2. a); siehe dazu auch AMBOS, ICLR 2003, S. 2 ff.; ESER, Festschrift Tiedemann, S. 1456 f., 1467 ff.; siehe zudem zu den historischen Entwicklungen bis zum heutigen Stand des schweizerischen Strafverfahrens näher PIETH, Strafprozessrecht, S. 20 ff. Siehe dazu näher Botschaft, S. 1114; FINGERHUTH, in: DONATSCH/HANSJAKOB/ LIEBER, Art. 341 N 4. Siehe bereits den Wortlaut des Art. 341 Abs. 1 StPO, wonach die «Verfahrensleitung oder ein von ihr bestimmtes Mitglied des Gerichts … die Einvernahmen durch (führt)», sowie des Abs. 2, wonach die Parteien ihre Ergänzungsfragen «durch die
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„behördenzentrierten Prozess“2319 und der Entscheidung gegen die Einführung des Kreuzverhörs im Rahmen der Arbeiten zur Schaffung der schweizerischen Strafprozessordnung.2320 808
Angesprochen sind mit jener Behördenzentriertheit des schweizerischen Strafverfahrens die in den Händen der Verfahrensleitung – und im Gegensatz zum Strafverfahren des common law nicht in den Händen der Parteien – liegende Verfahrensherrschaft und deren Konkretisierungen in Gestalt der sich auf das Beweisverfahren im Allgemeinen beziehenden Beweisführungsherrschaft und der sich auf die Zeugenbeweiserhebung im Besonderen beziehenden Vernehmungsherrschaft.2321 Die in Art. 61 StPO geregelte Verfahrensleitung durch bestimmte Strafbehörden bzw. durch einzelne Personen dieser Strafbehörden, welche in jeweils bestimmten Verfahrensabschnitten für die Führung des Strafverfahrens verantwortlich sind2322 und damit auch die Leitung und Durchführung der im jeweiligen Verfahrensabschnitt erfolgenden Zeugeneinvernahmen in ihren Händen halten,2323 hat Einfluss auch auf die Ausübung des Konfrontationsrechts des Angeklagten. Der Verfahrensleitung obliegen dabei nach Art. 62 Abs. 1 StPO alle Anordnungen, die eine «gesetzmässige und geordnete Durchführung des Verfahrens gewährleisten», wozu die Verantwortung für eine gesetzmässig und geordnet durchgeführte Beweisaufnahme – und folglich auch für eine Beweiserhebung mittels Zeugen – als einen wesentlichen Teil des Strafverfahrens gehört. Die Verfahrensleitung liegt bis zur Einstellung oder Anklageerhebung bei der Staatsanwaltschaft und geht im Gerichtsverfahren bei Kollegialgerichten auf den Präsident des betreffenden Gerichts bzw. bei Einzelgerichten auf den Richter über (Art. 61 Buchst. a., c., d. StPO).2324
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Verfahrensleitung» oder «mit deren Ermächtigung» selber stellen können (Hervorhebung Demko); siehe auch RIKLIN, StPO Kommentar, Art. 341 N 2: „Befrager ist primär die Verfahrensleitung“ (Hervorhebung Demko). PIETH, Strafprozessrecht, S. 84 (Hervorhebung Demko). Siehe dazu Botschaft, S. 1114: „Angesichts des klaren Ergebnisses soll auf die Einführung des Kreuzverhörs verzichtet werden“; siehe dazu sogleich näher im Haupttext. Siehe dazu auch RIKLIN, StPO Kommentar, Art. 341 N 2, 4; FINGERHUTH, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 341 N 2, 7. Siehe dazu näher Botschaft, S. 1150, 1187. Siehe dazu näher Botschaft, S. 1284: „Die Durchführung der Einvernahmen liegt in den Händen der Verfahrensleitung“; zur Unterscheidung zwischen „formeller und materieller Verhandlungs- bzw. Verfahrensleitung“ siehe BRÜSCHWEILER, in: DONATSCH/ HANSJAKOB/LIEBER, Art. 62 N 1 (Hervorhebung Brüschweiler). Bei Übertretungsstrafverfahren liegt die Verfahrensleitung bei der Übertretungsstrafbehörde, Art. 61 Buchst. b. StPO.
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Diese bei der Verfahrensleitung liegende Verfahrensherrschaft konkretisiert die StPO in einer Vielzahl von Bestimmungen2325 auch mit Blick auf die Beweiserhebungen und die Zeugeneinvernahmen im Besonderen dahingehend, dass eingestellt in die Pflicht der Strafbehörden zur Wahrheitsfindung von Amts wegen nach Art. 6 StPO2326 die Verfahrensherrschaft in der Verantwortung der jeweiligen Strafbehörde liegt, welche zur Wahrheitsfindung alle nach dem Stand von Wissenschaft und Erfahrung geeigneten Beweismittel einsetzt, die rechtlich zulässig sind (Art. 139 Abs. 1 StPO).2327 In Art. 142 Abs. 1 StPO heisst es insofern deutlich, dass die Einvernahmen «von der Staatsanwaltschaft, den Übertretungstrafbehörden und den Gerichten durchgeführt» werden und auch Art. 341 Abs. 1 StPO stellt klar, dass die Verfahrensleitung oder ein von ihr bestimmtes Mitglied des Gerichts die Einvernahmen durchführt.
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Der noch während der Vorarbeiten für die Schaffung der StPO diskutierte Vorschlag, die Verfahrens- und Vernehmungsherrschaft der verfahrensleitenden Strafbehörde, welche die Leitung und Durchführung der im jeweiligen Verfahrensabschnitt erfolgenden Zeugeneinvernahmen in ihren Händen hält, durch die Einführung des Kreuzverhörs für die unmittelbare Hauptverhandlung einzuschränken, wurde unter Berufung auf das das schweizerische Strafverfahren prägende Präsidialverhör durch das Gericht bei Zeugeneinvernahmen in der Hauptverhandlung abgelehnt:2328 Bereits im bisherigen schweizerischen Strafprozessrecht war das Kreuzverhör wenig verbreitet und hatte sich trotz diskutierter Vor- und Nachteile2329 in den überwiegenden kantonalen Strafprozessordnungen nicht durchsetzen können.2330 Ausgang der Diskussio-
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Siehe etwa Art. 139 Abs. 1 StPO: «Die Strafbehörden ..», Art. 142 StPO: Durchführung der Einvernahmen «von der Staatsanwaltschaft, den Übertretungsstrafbehörden und den Gerichten», Art. 147 Abs. 1 StPO: «Beweiserhebungen durch die Staatsanwaltschaft und die Gerichte», umfassend auch Art. 331 StPO: «Die Verfahrensleitung …», Art. 341 Abs. 1 StPO: «Die Verfahrensleitung oder ein von ihr bestimmtes Mitglied des Gerichts …» Dazu näher WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 6 N 1 ff., Art. 139 N 1 f. Siehe dazu WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 139 N 3 ff.; RIKLIN, StPO Kommentar, Art. 139 N 1 ff. Siehe dazu näher Botschaft, S. 1114; FINGERHUTH, in: DONATSCH/HANSJAKOB/ LIEBER, Art. 341 N 4. Siehe dazu näher und mit weiteren Angaben u.a. SCHMID, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, Stand Juni 2000, § 233 N 2 und Fn 6, § 231 N 3 und Fn 6; HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, S. 223 N 5, 415 N 9. Siehe dazu auch SCHMID, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, Stand Juni 2000, § 233 N 2; HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, S. 415 N 9. Vorgesehen war das Kreuzverhör z.B. noch für das Hauptverfahren vor dem zürcherischen Geschworenengericht nach den §§ 233 ff. ZH StPO.
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nen um Vor- und Nachteile des Kreuzverhörs war der im Vorentwurf zur Schweizerischen Strafprozessordnung eingeführte Art. 378 VEStPO,2331 der in seinen Absätzen 4 bis 7 für die gerichtliche Einvernahme von Zeugen, Auskunftspersonen und Sachverständigen in der unmittelbaren Hauptverhandlung nicht das Präsidialverhör, sondern – unter Beachtung bestimmter Einschränkungen – das Kreuzverhör vorsah.2332 Während Absatz 4 die Reihenfolge bestimmte, in der die von den Parteien angerufenen Zeugen, Auskunftspersonen und Sachverständigen einvernommen werden – wonach diese zunächst von der sie anrufenden Partei und anschliessend von der Gegenpartei einvernommen werden2333 –, enthielt Absatz 5 Regelungen zur Aufsicht 2331
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Art. 378 VEStPO in dessen Absätzen 4 – 7 lautet: Abs. 4: Die von den Parteien angerufenen Zeuginnen oder Zeugen, Auskunftspersonen und Sachverständigen werden von der sie anrufenden Partei und anschliessend von der Gegenpartei einvernommen. Abs. 5: Das Kreuzverhör nach Absätzen 3 und 4 steht unter der Aufsicht der Verfahrensleitung, die a. die Reihenfolge der Einvernahmen bestimmt; b. bei Missbräuchen die Parteien dazu anhalten kann, die Fragen durch sie zu stellen. Abs. 6: Das Gericht kann jederzeit Zwischenfragen stellen. Abs. 7: Die Verfahrensleitung befragt in jedem Fall a. durch das Gericht von Amts wegen vorgeladene Personen; b. Minderjährige. Die Regelungen des Art. 378 Abs. 4–7 VEStPO weisen dabei Ähnlichkeiten mit den Regelungen in den §§ 233 ff. ZH StPO auf; siehe zum Kreuz- und Präsidialverhör und zu den Entwicklungen diesbezüglich während der Arbeiten zur Schaffung der StPO auch HAURI, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 341 N 1, 2, 3. Siehe Art. 378 Abs. 4 VEStPO; siehe auch zum früheren § 233 ZH StPO, nach dem die von dem Ankläger bezeichneten Zeugen zunächst von diesem und nach dessen Einvernahme vom Verteidiger und Angeklagten einvernommen werden bzw. § 234 ZH StPO, nach dem die von der Verteidigung bezeichneten Zeugen zunächst vom Verteidiger und dem Angeklagten und nach Abschluss von deren Einvernahme vom Ankläger einvernommen werden. Nach § 235 ZH StPO wird der Zeuge, der von beiden Parteien angerufen wurde, zunächst von der Partei verhört, die ihn zuerst benannt hat. Dies wird üblicherweise die Staatsanwaltschaft sein, siehe zu den damit verbundenen Schlussfolgerungen für die Verteidigung SCHMID, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, Stand Juni 2000, § 233 N 4, 235 N 1. In den §§ 233, 234, 235 ZH StPO wird neben dem Ankläger und dem Verteidiger auch der Angeklagte genannt, der berechtigt ist, Fragen an den Zeugen zu stellen, siehe dazu SCHMID, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, Stand Juni 2000, § 233 N 1, 234 N 1: „… der Verteidiger und anschliessend der Angekl. selbst verhören die von ihm (ihnen) angerufenen Zeugen …“. Der Gerichtspräsident hat das Recht, die parteilichen Einvernahmen zu beaufsichtigen, § 238 ZH StPO, und das Recht, Fragen zu stellen, und zwar Zwischenfragen während als auch Fragen nach der abgeschlossenen Parteieinvernahme, § 239
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der Verfahrensleitung über das Kreuzverhör2334 und bestimmte Absatz 6, dass das Gericht jederzeit Zwischenfragen stellen kann.2335 Ausgenommen vom Kreuzverhör waren durch das Gericht von Amts wegen vorgeladene Personen und Minderjährige, die nach Absatz 7 «in jedem Falle» von der Verfahrensleitung befragt werden.2336 Mit Blick auf die Gründe, die für die Einführung des Kreuzverhörs in den Vorentwurf der Schweizerischen Strafprozessordnung sprechen, wurde angeführt, dass dieses zur Belebung des Beweisverfahrens und zur Stärkung des Charakters des Strafprozesses als eines Zweiparteienprozesses beitrage.2337 Zudem wäre die Verfahrensleitung vor der Gefahr bewahrt, durch die Befragung des Zeugen „in eine akkusatorische Rolle“2338 zu geraten und es würde ihr das Erkennen des Beweis- und Wahrheitswertes der Aussagen leichter fallen, „wenn sie nicht selbst durch die Vornahme der Befragung absorbiert2339 sei. Dennoch lehnte man den Vorschlag der Einführung des Kreuz-
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S. 1 ZH StPO. Hingegen haben die übrigen Gerichtsmitglieder das Recht, Fragen zu stellen, erst nach der abgeschlossenen Parteieinvernahme, § 239 S. 2 ZH StPO. Zur ähnlichen Regelung in § 238 ZH StPO, nach der der Gerichtspräsident die Zeugeneinvernahme beaufsichtigt, das Stellen ungebührlicher Fragen untersagt und die Befragten vor Beleidigungen schützt (Absatz 1) und bei beharrlichen Verstössen gegen bestehende Vorschriften die Parteien anhalten kann, ihre Fragen durch den Gerichtspräsidenten zu stellen (Absatz 2, der Art. 378 Abs. 5 b. VEStPO ähnelt), siehe die Ausführungen bei SCHMID, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, Stand Juni 2000, § 238 N 1 ff. Siehe die Ausführungen von SCHMID, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, Stand Juni 2000, § 239 N 1 ff. zur Regelung des § 239 ZH StPO, nach der der Gerichtspräsident das Recht hat, Zwischenfragen als auch Fragen nach Abschluss der parteilichen Einvernahme zu stellen, während die Gerichtsmitglieder ihre Fragen erst nach vollendeter parteilicher Einvernahme stellen dürfen. Siehe dazu die Regelungen der §§ 239 a, 239 b ZH StPO. Siehe dazu Begleitbericht, S. 227; Botschaft, S. 1114; siehe auch HAUSER/SCHWERI/ HARTMANN, S. 415 N 9 zu den Vorteilen eines Kreuzverhörs, das nicht in streng reiner Form, sondern dergestalt ausgestaltet ist, dass der Präsident das parteiliche Verhör nicht nur passiv beobachten, sondern aktiv in dieses eingreifen darf: Dies sei sinnvoll, da ein solchermassen gestaltetes Kreuzverhör das Beweisverfahren lebendig mache und zur Unmittelbarkeit beitrage, ohne dass es abgleite in ein blosses Streitgespräch (N 9). Begleitbericht, S. 227; siehe auch Botschaft, S. 1114: Es könne der Gefahr entgegengewirkt werden, dass „das Gericht durch die Befragung in die Rolle des Anklägers verfällt“. Begleitbericht, S. 227; siehe auch Botschaft, S. 1114.
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verhörs in die StPO ab, da dieses der schweizerischen Rechtstradition fremd ist:2340 812
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Diese Ablehnung des Kreuzverhörs für die StPO bedeutet im Ergebnis die Entscheidung, im schweizerischen Strafprozess die Verfahrens- und Vernehmungsherrschaft ohne jegliche Ausnahmen der jeweils verfahrensleitenden Strafbehörde zuzuordnen und davon auch nicht für den speziellen Verfahrensabschnitt der Hauptverhandlung und die in dieser stattfindenden Zeugeneinvernahmen abzuweichen: Die „Produktion der Beweise“2342 im Strafverfahren, wozu auch die Beweiserhebungen mittels des Zeugenbeweises gehören, ist – und zwar auch in der Hauptverhandlung vor Gericht – Sache der verfahrensleitenden Strafbehörden und wird infolge der Ablehnung des Kreuzverhörs für das schweizerische Strafverfahren auch in der Hauptverhandlung nicht ausnahmsweise in die Verantwortung der Parteien – der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung – gelegt.
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Durch jene Ablehnung des Kreuzverhörs für das schweizerische Strafverfahren ist damit auch mit Blick auf die Beweisaufnahme mittels Belastungszeugen unterstrichen, dass es sich bei den Zeugenbeweiserhebungen um solche der Strafbehörden handelt:2343 Wenn dem Angeklagten im Rahmen der Zeugeneinvernahmen der jeweils verfahrensleitenden Strafbehörde auch verschiedene Teilnahmerechte – zu denen das Konfrontationsrecht gehört – zukommen, so werden die (Belastungs-)Zeugen dennoch nicht von dem Angeklagten, sondern von der jeweils verfahrensleitenden Strafbehörde einver2340 2341
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Dazu näher Botschaft, S. 1114. Botschaft, S. 1114, zudem heisst es: „Angesichts des klaren Ergebnisses soll auf die Einführung des Kreuzverhörs verzichtet werden“ (S. 1114); siehe dazu auch FINGERHUTH, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 341 N 4: „Es dürfte damit grundsätzlich nicht zulässig sein, die Einvernahmen vollständig den Parteien bzw. deren Vertretern zu überlassen“; HAURI, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 341 N 1, 2, 3: „Damit erfolgen gerichtliche Einvernahmen ausschliesslich in Form des Präsidialverhörs“ (N 3, im Original fettgedruckte Hervorhebung Hauri). SCHMID, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, Stand Juni 2000, § 233 N 1. Siehe dazu auch FINGERHUTH, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 341 N 4, wonach es „grundsätzlich nicht zulässig sein (dürfte), die Einvernahmen vollständig den Parteien bzw. deren Vertretern zu überlassen“; HAURI, in: NIGGLI/HEER/ WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 341 N 3: „gerichtliche Einvernahmen ausschliesslich in Form des Präsidialverhörs“ (im Original fettgedruckte Hervorhebung Hauri)
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nommen, die für die Anordnung und Durchführung der Zeugeneinvernahme verantwortlich ist2344 und deren Verfahrens- und Vernehmungsherrschaft zugleich auch die Art und Weise der Ausübung des Konfrontationsrechts durch den Angeklagten beeinflusst.2345 Mit dieser Verfahrens- und Vernehmungsherrschaft der Verfahrensleitung ist nicht nur deren Verantwortung verbunden, auf die Erlangung einer wahrheitsgemässen und vollständigen Zeugenaussage hinzuwirken,2346 sondern diese hat zudem aufgrund ihrer Verpflichtung, eine gesetzmässige und geordnete Durchführung des Strafverfahrens – und damit auch des Beweisverfahrens als Teil dieses – zu gewähren (Art. 62 Abs. 1 StPO), für eine entsprechend gesetzmässige und geordnete wirksame Ausübung der Verteidigungsrechte des Angeklagten und folglich in Bezug auf die Vernehmung von Belastungszeugen für die wirksame Ausübung des Konfrontationsrechts des Angeklagten Sorge zu tragen. Die Strafprozessordnung enthält dabei keine ausdrücklichen Bestimmungen, die dem Angeklagten einen Anspruch darauf geben, dass die (Entlastungs- und Belastungs-)Zeugen in einer bestimmten, von ihr gar vorgegebenen Reihenfolge zu vernehmen sind, oder die vorschreiben, in welcher Reihenfolge und zu welchem Zeitpunkt die bei der Zeugeneinvernahme anwesenden Verfahrensbeteiligten ihre Fragen stellen können.2347 Zudem sprechen die Art. 147 Abs. 1 und 341 Abs. 2 StPO nicht ausdrücklich davon, dass die Parteien ihre Fragen nur «auf Verlangen» stellen dürfen oder dass ihnen «das Wort zu erteilen» ist. Jedoch folgt aus der der Verfahrensleitung zugewiesenen Aufgabe, für eine nicht nur gesetzmässige, sondern eben auch geordnete Durchführung der Einvernahmen als Teil des Strafverfahrens zu sorgen, dass sich diese Verfahrensleitung auch auf die Ausübung der „Ergänzungsfragen der Parteien oder der andern Mitglieder des Gerichts“2348 erstreckt und dass es mithin die die Durchführung der Einver2344 2345
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Siehe dazu näher Botschaft, S. 1187, 1284. Siehe dazu näher Botschaft, S. 1187, 1284 und die Ausführungen unter Kap. 5 C. II. 2. b). Siehe Art. 143 Abs. 4 und 5 StPO. Im Entwurf zur StPO (EStPO, S. 1495) hiess es in Art. 341 EStPO noch ausdrücklich: „Die Verfahrensleitung leitet das Beweisverfahren und bestimmt die Reihenfolge, in der die Beweise abgenommen werden“. Dieser Artikel wurde in der StPO gestrichen, jedoch ergibt sich dessen Inhalt aus der Aufgabe der Verfahrensleitung nach Art. 62 Abs. 1 StPO, die Anordnungen zu treffen, die eine gesetzmässige und geordnete Verfahrensdurchführung gewährleisten; siehe auch den Bericht der Expertenkommission, Aus 29 mach 1, S. 97, wonach dem Richter von der Eröffnung der Strafverfolgung bis zur Urteilsfällung die Führung des Verfahrens und die Leitung der Sitzungen obliege: „Er entscheidet über die verschiedenen Prozesshandlungen“ und gewährleistet den „geordneten Ablauf und die Unparteilichkeit der Gerichtsverhandlung“. Botschaft, S. 1284: „Die Durchführung der Einvernahmen liegt in den Händen der Verfahrensleitung. Dies gilt auch für Ergänzungsfragen der Parteien oder der andern
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nahmen in ihren Händen haltende Verfahrensleitung ist, die zur Gewährleistung eines geordneten Ablaufs der Befragung des Belastungszeugen durch die verschiedenen Verfahrensbeteiligten auch bestimmt, welcher der am Verfahren Beteiligten dem Belastungszeugen zu welchem Zeitpunkt und in welcher Reihenfolge Fragen stellen darf.2349 816
Regelungen zur Durchführung der Zeugenvernehmung finden sich in der schweizerischen Strafprozessordnung in den Art. 142 ff.,2350 177 und 341 ff. StPO: Art. 143 Abs. 1 StPO bestimmt, dass die einzuvernehmende Person zu Beginn der Einvernahme über ihre Personalien befragt und über den Gegenstand des Strafverfahrens sowie die Eigenschaft, in welcher sie einvernommen wird, informiert und zudem umfassend über ihre Rechte und Pflichten belehrt wird. Hinsichtlich der Einvernahme speziell von Zeugen konkretisiert dies Art. 177 Abs. 1 und 3 StPO dahingehend, dass diese nach Abs. 1 zu Beginn jeder Einvernahme durch die einvernehmende Behörde auf ihre Zeugnisund Wahrheitspflichten und die Strafbarkeit eines falschen Zeugnisses nach Art. 307 StGB und zudem nach Abs. 3 auf ihre Zeugnisverweigerungsrechte aufmerksam gemacht werden, sobald solche aufgrund der Befragung und der Akten erkennbar sind.2351
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Die einzuvernehmenden Personen – und damit auch die Zeugen – sind nach dem Grundsatz der getrennten Einvernahme nach Art. 146 Abs. 1 StPO getrennt, d.h. einzeln und unter Ausschluss der anderen, zu vernehmen. Eine Abweichung vom Grundsatz der getrennten Einvernahme regelt Art. 146 Abs. 2 StPO, wonach die Strafbehörden Personen, einschliesslich solcher, die ein Aussageverweigerungsrecht haben, einander gegenüberstellen können.2352
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Mitglieder des Gerichts“, siehe dort auch die weiteren Ausführungen; siehe zur formellen und materiellen Verhandlungsleitung des vorsitzenden Richters auch näher HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, S. 410 N 3 ff. Siehe dazu auch HAURI, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 341 N 5, 13; RIKLIN, StPO Kommentar, Art. 342 N 4; FINGERHUTH, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 341 N 6: „in einer von dieser bestimmten Reihenfolge“. Zu beachten sind die in den Vorschriften enthaltenen Grundregeln „nicht nur bei der ersten, sondern bei jeder Einvernahme“, Botschaft, S. 1185; ebenso bereits Begleitbericht, S. 111 f. Art. 177 Abs. 1 S. 2 StPO bestimmt, dass die Einvernahme im Falle des Unterbleibens der Belehrung ungültig ist; nach Abs. 3 S. 2 ist die Einvernahme nicht verwertbar, wenn der Hinweis auf die Zeugnisverweigerungsrechte unterbleibt und sich der Zeuge nachträglich auf das Zeugnisverweigerungsrecht beruft. Enger gefasst war insofern der Gesetzestext des § 146 ZH StPO, nach dem jeder Zeuge anderen oder dem Angeschuldigten zur «Hebung von Widersprüchen» gegenübergestellt werden kann; siehe dazu DONATSCH, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, Stand Juni 2000, Art. 146 N 4, wonach § 146 ZH StPO keine Ausnahme vom Grundsatz des § 140 ZH StPO, den Zeugen einzeln zu vernehmen, ist: „Die Gegenüberstellung nach § 146 setzt voraus, dass die
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Art. 146 Abs. 2 StPO ist dabei Grundlage sowohl für Gegenüberstellungen von verschiedenen Aussagen, welche die einzuvernehmenden Personen in Gegenwart der anderen äussern, als auch für Gegenüberstellungen, die auf das Erkennen oder den Ausschluss von Personen als angeblichem Täter abzielen.2353 Mit der Gegenüberstellung mehrerer Personen, welche ihre Aussagen in Anwesenheit der anderen abzugeben haben, ist dabei insbesondere das Ziel verbunden, dass sich auf diese Weise „die Glaubwürdigkeit der Personen häufig besser beurteilen (lässt) als bei getrennten Einvernahmen“.2354 Die Zeugeneinvernahme besteht aus zwei Teilen: der Einvernahme zur Person des Zeugen einerseits und der zur Sache andererseits.2355 Die Einvernahme beginnt damit, dass die einzuvernehmende Person über ihre Personalien befragt wird, Art. 143 Abs. 1 Buchst. a. StPO. Weitere Erhebungen der Strafverfolgungsbehörden zur Klärung der Identität der einzuvernehmenden Person sind zudem auf der Grundlage des Art. 143 Abs. 3 StPO möglich.2356 Zu dem zu Beginn der Zeugeneinvernahme durchzuführenden, sich auf die Person des Zeugen beziehenden Teil der Einvernahme gehört des Weiteren nach Art. 177 Abs. 2 StPO, dass die einvernehmende Behörde die Zeugenperson «zu Beginn der ersten Einvernahme über ihre Beziehungen zu den Parteien sowie zu weiteren Umständen, die für ihre Glaubwürdigkeit von Bedeutung sein könnten»,2357 befragt. Jene Regelung zur Feststellung der persönlichen Verhältnisse des Zeugen zu Beginn der ersten Einvernahme dient nicht nur dem Zweck zu klären, ob Gründe für dem Zeugen zustehende Zeugnisverweigerungsrechte vorliegen,2358 sondern dient auch – wie es schon im Geset-
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betreffenden Zeugen bereits mindestens einmal ausgesagt haben“; in diesem Sinne ebenso für Art. 146 Abs. 2 S. 1 StPO und hier die Konfrontationseinvernahme GODENZI, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 146 N 7, wonach Abs. 2 „keine Ausnahme von Abs. 1, sondern eine Ergänzung“ (Hervorhebung Godenzi) sei. Siehe Botschaft, S. 1186; ebenso Begleitbericht, S. 113; zur Unterscheidung zwischen der Konfrontationseinvernahme und der Identifizierungsgegenüberstellung siehe GODENZI, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 146 N 7, 8, 9 ff. Botschaft, S. 1186 (Hervorhebung Demko). HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, S. 289 N 7, weisen diesbezüglich hinsichtlich der Einvernahme des Beschuldigten zu Recht darauf hin, dass sich die Aussagen des Beschuldigten und die an ihn zu richtenden Fragen zur Person einerseits und zur Sache andererseits in der Praxis nicht stets „thematisch und zeitlich genau“ trennen lassen. Dieser berechtigte Hinweis gilt ebenso für die Zeugeneinvernahme. Zum Beispiel die Einholung von Auskünften bei anderen Behörden, Botschaft, S. 1185. Art. 177 Abs. 2 StPO, Hervorhebung Demko; siehe auch hinsichtlich § 142 Ziff. 2 ZH StPO, DONATSCH, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, Stand Juni 2000, § 142 N 8: „… die sog. «Generalfrage» …“ Darauf verweist die Botschaft, S. 1207.
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818
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
zestext zum Ausdruck kommt – der Schaffung einer verlässlichen Grundlage für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Zeugenbeweises.2359 819
Der Einvernahme zur Person folgt die Einvernahme des Zeugen zur Sache,2360 wobei Art. 143 Abs. 4 und 5 StPO für die Einvernahme zur Sache die Beachtung von zwei notwendigen Teilen vorgibt: Nach Art. 143 Abs. 4 StPO fordert die Strafbehörde die einzunehmende Person auf, «sich zum Gegenstand der Einvernahme zu äussern», womit der berichtende Teil der Einvernahme zur Sache angesprochen ist, bei dem sich der Zeuge zur Sache in möglichst freier Schilderung und unbeeinflusst von etwaigen Fragen und Vorhalten äussern soll.2361 Hinzu kommt nach Art. 143 Abs. 5 StPO, dass die Strafbehörde «durch klar formulierte Fragen und Vorhalte die Vollständigkeit der Aussagen und die Klärung von Widersprüchen» anstrebt, womit der FrageTeil der Einvernahme zur Sache angesprochen ist, bei dem die Strafbehörde
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Zu beachten ist auch Art. 164 Abs. 1 StPO, nach dem das Vorleben und die persönlichen Verhältnisse der Zeugen nur abgeklärt werden, «soweit dies zur Prüfung ihrer Glaubwürdigkeit erforderlich ist»; siehe dazu HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, S. 301 N 31, wonach sich aus der Feststellung der Personalien des Zeugen und dessen persönlicher Beziehungen zu den Verfahrensbeteiligten „… Schlüsse auf die Glaubwürdigkeit …“ ergeben können; siehe auch deutlich DONATSCH, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, Stand Juni 2000, § 142 N 4, 8, 10, 13, wo die Relevanz der Angaben zur Person nach § 142 Ziff. 1 ZH StPO und der Antworten auf „… die sog. «Generalfrage» …“ (N 8) nach § 142 Ziff. 2 ZH StPO für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Zeugenperson und der Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage betont wird. Vgl. zur Bedeutung jener Angaben für die eindeutige Identifizierung des Zeugen, dessen Zeugnisverweigerungsrechte und die „Beurteilung der Glaubhaftigkeit“ (N 4): „Für den Angesch. sowie gegebenenfalls weitere Verfahrensbeteiligte sind die betreffenden Angaben vor allem deshalb und insoweit von Bedeutung, als sie es erlauben, die Aussagen einer bestimmten Person zuzuordnen und damit im Gesamtzusammenhang zu beurteilen“ (N 4, Hervorhebung Donatsch). Jene Angaben erlauben es insbesondere zu beurteilen, „ob und gegebenenfalls in welchen Mass der Zeuge am Ausgang des Verfahrens interessiert ist. Gestützt darauf können dessen Aussagen sachgerecht gewürdigt werden“ (N 10, Hervorhebung Donatsch), „Abklärung der Glaubwürdigkeit des Zeugen bzw. zur Überprüfung der Glaubhaftigkeit von Aussagen“ (N 13). Siehe auch den Bericht der Expertenkommission, Aus 29 mach1, S. 102: „Hauptgegenstand der Befragung sind der Sachverhalt sowie – wenn dies für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Bedeutung ist – die Beziehungen des Zeugen zu den Parteien und seine persönlichen Verhältnisse“. Siehe auch HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, S. 289 N 7 und SCHMID, S. 206 N 620, näher dazu in FN 11; DONATSCH, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, Stand Juni 2000, § 143 N 3: „sog. Berichtsform“; HÄRING, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 143 N 33; GODENZI, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 143 N 31: „authentischen Spontanbericht“.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
auf die Einvernahme zur Sache durch gezielte Fragen und Vorhalte leitend Einfluss nimmt.2362 Eine grundsätzlich einzuhaltende Reihenfolge ist den Abs. 4 und 5 des Art. 143 StPO dabei insofern zu entnehmen, als Art. 143 Abs. 5 StPO Fragen und Vorhalte zur «Vervollständigung» der Aussagen und zur «Klärung von Widersprüchen» gestattet, mithin eine freie berichtende Äusserung des Zeugen grundsätzlich2363 voranzugehen hat, an welche sich sodann Fragen und Vorhalte anschliessen können.2364 Durch jene zwei notwendigen Teile der Einvernahme zur Sache sollen eine von Anfang an bestehende Beeinflussung und Lenkung des Zeugen in eine von den Strafbehörden bewusst oder unbewusst vorgegebene Richtung grundsätzlich vermieden werden.2365 Hinsichtlich der Frage, wann genau die sich an die frei berichtenden Zeugenaussagen anschliessenden Fragen gestellt werden können, d.h. ob diese erst nach Beendigung des gesamten berichtenden Teils oder auch schon vorher zulässig sind, gestattet es Art. 143 Abs. 5 StPO – der zwar den Anschlusscharakter des Frage-Teils der Einvernahme vorgibt, aber nicht genau vorschreibt, wann die Fragen gestellt werden dürfen –, dass die gezielten Fragen sogleich unmittelbar im Anschluss an die betreffende einzelne Aussage oder auch erst nach Abschluss der gesamten freien Schilderung des Zeugen gestellt werden.2366 2362
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Siehe dazu HÄRING, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 143 N 34, 35; GODENZI, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 143 N 31, 32. Ist der Zeuge z.B. nicht fähig oder bereit, in einer frei berichtenden Weise zum Thema auszusagen oder sagt er zwar aus, schweift aber vom Thema ab, wird es für geboten gehalten, auch ohne einen vorangehenden vollständigen Bericht des Zeugen konkrete Fragen an ihn zu richten, siehe DONATSCH, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, Stand Juni 2000, § 143 N 2, 3, 4, 5. Der Gesetzestext von Art. 143 S. 1 ZH StPO formuliert zwar deutlicher, dass der Zeuge bei der Vernehmung zur Sache «vorerst» zur Angabe der den Gegenstand des Zeugnisses bildenden Tatsachen und «sodann nötigenfalls» zur Ergänzung derselben und zur Hebung von Unklarheiten und Widersprüchen veranlasst wird. Derselbe Anschlusscharakter der Fragen folgt aber auch ohne die Worte «vorerst» und «sodann» in Art. 143 Abs. 4 und 5 StPO daraus, dass Abs. 5 von Fragen spricht, mittels derer die Vervollständigung der Aussagen und die Klärung von Widersprüchen angestrebt wird; siehe dazu auch HÄRING, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 143 N 33, 34, 35; GODENZI, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 143 N 31: „In einem ersten Schritt … Erst in einem zweiten Schritt …“ Siehe dazu auch DONATSCH, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, Stand Juni 2000, § 143 N 1, 2. Siehe auch HÄRING, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 143 N 33, 36, wonach die Fragen „insb. nach einer ersten Schilderung der Erinnerungen“ (N 33) zu stellen, aber auch „eingestreute Fragen“ (N 33) zulässig sind; DONATSCH, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, Stand Juni 2000, § 143 N 6: „unmittelbar im Anschluss an die betreffende Aussage oder zu ei-
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Aus der Pflicht der Zeugen zu einer wahrheitsgemässen Aussage und dem Anliegen des Art. 143 Abs. 4 und 5 StPO, eine vollständige und widerspruchsfreie Zeugenaussage zu der den Vernehmungsgegenstand bildenden Sache zu erlangen, folgt zudem, dass für den Fall, dass eine grundsätzlich zuvörderst anzustrebende freie Schilderung des Zeugen zur Sache nicht zu gewinnen ist – etwa, weil der Zeuge in Anbetracht umfangreicher oder schwieriger Sachverhaltsabläufe zu einem zusammenhängenden Bericht nicht in der Lage ist oder, weil er sich weigert, sich frei berichtend zu äussern oder, weil er zwar fähig und willens ist, in freier Schilderung auszusagen, dabei aber vom Thema abkommt und damit zur eigentlichen, den Vernehmungsgegenstand bildenden Sache nicht aussagt –, der Zeuge auch ohne einen vorangehenden freien Bericht durch konkrete Fragen gezielt befragt werden kann.2367 821
Eingestellt in die Vernehmungsherrschaft der Verfahrensleitung bei der Zeugenbeweiserhebung ist die Ausübung des Konfrontationsrechts des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen im schweizerischen Strafverfahren zu betrachten, für welche als die für die Wahrheitsermittlung und hier die Überprüfung und Infragestellung der Glaubwürdigkeit des belastenden Zeugenbeweises «beste» Ausübungsform nicht das Kreuzverhör, sondern die Ausübung des Konfrontationsrechts im Rahmen des Präsidialverhörs angesehen wird. Die nähere Bestimmung des Wesensgehalts des Konfrontationsrechts und des zu seiner Ausübung zu gewährleistenden Schutzbereichs sowie der Ein-
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nem späteren Zeitpunkt anlässlich der betreffenden oder gar einer nachfolgenden Einvernahme“; siehe auch HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, S. 289 N 7, welche hinsichtlich des Ganges der Beschuldigteneinvernahme (auf die für die Zeugeneinvernahme Bezug genommen wird, S. 302 N 33) auf jene zwei Teile – den berichtenden Teil der einzuvernehmenden Person und den Teil der Vervollständigungs- und Klärungsfragen – verweisen, ohne aber zu verlangen, dass der berichtende Teil erst vollständig zu beenden ist, bevor Fragen gestellt werden dürfen: „Zweckmässigerweise soll der Verhörende den Verhörten zwar reden lassen, aber die Aussagen durch eingestreute Fragen leiten“, N 7; siehe ähnlich auch SCHMID, S. 206 N 620, S. 220 N 652 (letzter Satz) und FN 154 hinsichtlich des Ablaufs der Zeugeneinvernahme, für die auf die Grundsätze der Beschuldigteneinvernahme verwiesen wird: „Dazu notwendig ist nicht nur das Stellen und Beantworten von sachdienlichen Fragen, sondern auch die dem Beschuldigten eingeräumte Möglichkeit, sich zu den Beschuldigungen frei zu äussern“ (S. 206 N 620). Siehe dazu auch DONATSCH, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, Stand Juni 2000, § 143 N 2 ff. mit dem zutreffenden Hinweis, dass die „Art des Vorgehens bei der Fragestellung … nicht bei jedem Zeugen und in jedem Prozessstadium dieselbe sein“ (N 2) könne, sowie mit eingehenden Darstellungen, wie die freien berichtenden Zeugenschilderungen mit dem gezielten Befragen des Zeugen verbunden werden können, N 2 ff.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
schränkungen in der Ausübung des Konfrontationsrechts im schweizerischen Strafverfahren wird nachfolgend ausgeführt.2368
II.
Die Ausgestaltung des Konfrontationsrechts in nationalen und internationalen Strafverfahren im Einzelnen
1.
Bedeutung der menschenrechtlichen Vorgaben in Bezug auf Grundlinien und Wesensgehalt des Konfrontationsrechts
a)
Grundlinien und Wesensgehalt des Konfrontationsrechts im internationalen Strafverfahren vor dem ICTY
aa)
Grundlinien des Konfrontationsrechts
Das Recht des Angeklagten auf Konfrontation mit Belastungszeugen ist in Art. 21 Abs. 4 Buchst. (e) ICTY-Statut geregelt und die fundamentale Bedeutung dieser neben anderen in Absatz 4 aufgeführten «minimum guarantees»2369 für die Gewährleistung eines fairen Strafverfahrens wird vom ICTY wiederholt betont.
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„… it is necessary to recall one of the fundamental principles governing the giving of evidence before the Trial Chambers, namely the principle that witnesses shall as a general rule be heard directly by the Judges of the Trial Chambers. This principle is laid down in Article 21 (4) of the Statute which grants to every accused person appearing before the Tribunal as one of the ”minimum guarantees, in full equality”, the right to examine, or have examined, the witnesses against him and to obtain the attendance and examination of witnesses on his behalf on the same conditions as witnesses against him …“2370
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Eingestellt in die dem Gericht obliegende Gewährung eines fairen Strafverfahrens, Art. 20 Abs. 1 ICTY-Statut, wird das Konfrontationsrecht des Angeklagten vom ICTY als ein wichtiges Element eines fairen Strafverfahrens begriffen, welches mit anderen für die Fairness eines Strafverfahrens ebenso bedeutsamen Elementen in Balance („The balancing of different interests is
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2370
Siehe dazu näher unter Kap. 5 C. II. Art. 21 Abs. 4 S. 1 ICTY-Statut: «… the accused shall be entitled to the following minimum guarantees, in full equality …» (Hervorhebung Demko). Prosecutor v. Kupreškić et al., Decision on Appeal by Dragan Papić against Ruling to Proceed by Deposition, Case No. IT-95-16-AR73.3, 15. Juli 1999, para. 18 (Hervorhebung ICTY: «attendance», übrige Hervorhebung Demko).
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
inherent in the notion of a fair trial“2371) zu bringen ist.2372 Dieses verschiedene Interessen ausgleichende Moment kennzeichnet die Fairness eines Strafverfahrens, welche weder eine allein faire Behandlung nur des Angeklagten noch eine solche nur der Zeugen bedeuten kann, sondern vielmehr sämtliche durch ein Strafverfahren berührte Interessen und Rechte in den Blick zu nehmen und auszubalancieren hat.2373 In diesem Sinne heisst es im Fall Prosecutor v. Delalić et al.: 825
826
„… The request on behalf of witnesses B, if granted, will undoubtedly diminish the exercise of some of the accused`s rights, the most important of which is the right to examine or have examined, the witnesses against him (see Article 21 (4)(e)). If the Trial Chamber grants the Prosecution`s requests, the accused persons will be denied not only the right to a public hearing, but also a confrontation with the witness, a crucial part of a criminal proceeding. The Trial Chamber cannot ignore such an obvious conflict between the rights of the accused and the protection of the witnesses in the trial. The balancing of different interests is inherent in the notion of a fair trial. A fair trial means not only fair treatment to the accused but also to the prosecution witnesses …“2374
Ebenso ist im Fall Prosecutor v. Haradinaj et al. betont:
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„… the Trial Chamber has a duty to strike a fair balance between the right of the Accused to a fair trial on the one side, and the protection of victims and witnesses and the right of the public to access of information on the other side, the right of the Accused encompassing, in particular, the right to be allowed adequate time for the preparation of a defence, and to cross-examine witnesses testifying against the Accused …“2375
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Konkretisierend mit Bezug auf das Konfrontationsrecht des Angeklagten hebt das ICTY für jenen ein faires Strafverfahren kennzeichnenden Ausgleich verschiedener Interessen hervor, dass die mit dem Konfrontationsrecht verbundenen Einzelbefugnisse des Angeklagten mit den Schutzinteressen der 2371
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Prosecutor v. Delalić et al., Decision on the Motions by the Prosecution for Protective Measures for the Prosecution Witnesses Pseudonymed ”B” through to ”M”, Case No. IT-96-21-T, 28. April 1997, para. 53 (Hervorhebung Demko). Siehe nur schon den Wortlaut des Art. 20 Abs. 1 ICTY-Statut: «with full respect for the rights of the accused and due regard for the protection of victims and witnesses» (Hervorhebung Demko). Siehe dazu auch näher TOCHILOVSKY, S. 219 ff. Prosecutor v. Delalić et al., Decision on the Motions by the Prosecution for Protective Measures for the Prosecution Witnesses Pseudonymed ”B” through to ”M”, Case No. IT-96-21-T, 28. April 1997, para. 53 (Hervorhebung Demko). Prosecutor v. Haradinaj et al., Decision on Prosecution`s Application for Pre-Trial Protective Measures for Witnesses, Case No. IT-04-84-PT, 20. Mai 2005, S. 4 (Hervorhebung Demko); siehe zu weiteren Rechtsprechungsnachweisen TOCHILOVSKY, S. 219 ff.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Belastungszeugen, aber auch mit weiteren ein faires Strafverfahren ausmachenden Elementen in Einklang zu bringen sind.2376 Das Sichgegenüberstehen der Rechte des Angeklagten einerseits und des Schutzes der Opfer und Zeugen andererseits wird aber nicht nur vom ICTY in seiner Rechtsprechung herausgearbeitet, sondern kommt auch in verschiedenen Regelungen des ICTY-Statuts und der RPE zum Ausdruck, wobei aber die Frage, ob die Angeklagtenrechte oder die Zeugeninteressen einen Vorrang geniessen, zumindest vom Wortlaut der verschiedenen einschlägigen Regelungen des Statuts und der RPE nicht ganz eindeutig beantwortet wird: Art. 20 Abs. 1 ICTYStatut bringt einen Vorrang der Rechte des Angeklagten zum Ausdruck, indem er von einem fairen und zügigen Verfahren «with full respect for the rights of the accused and due regard for the protection of victims and witnesses»2377 spricht.2378 Hingegen heisst es in Art. 21 Abs. 2 ICTY-Statut, dass der Anspruch des Angeklagten darauf, dass über die gegen ihn erhobene Anklage fair und öffentlich verhandelt wird, vorbehaltlich des den Schutz der Opfer und Zeugen regelnden Art. 22 ICTY-Statut («subject to article 22 of the Statute») besteht. Eine Zusammenschau dieser sowie weiterer im Statut und in den RPE bestehenden Regelungen lässt im Ergebnis jedoch einen Vorrang der Rechte des Angeklagten vor dem Schutz der Opfer und Zeugen erkennen: Nicht nur Art. 20 Abs. 1 ICTY-Statut, sondern auch die ICTY-Regel 75 (A), die die Opfer- und Zeugenschutzmassnahmen unter die Bedingung stellt, dass diese mit den Rechten des Angeklagten vereinbar sind («provided that the measures are consistent with the rights of the accused») sowie die ICTY-
2376
2377 2378
Siehe dazu etwa Prosecutor v. Mrkšić et al., Decision on Confidential Prosecution Motions for Protective Measures and Nondisclosure and Condidential Annex A, Case No. IT-95-13/I-PT, 09. März 2005, S. 4, 5: „… the Trial Chamber has to determine where the balance lies between the accused`s right to a fair and public trial, the right of the public to access of information and the protection of victims and witnesses, and that how this balance is struck will depend on the facts of each case, but that any curtailment of the accused`s right to a fair trial must be justified by a genuine fear for the safety of the witness or the members of his family …“ (Hervorhebung Demko); siehe auch Prosecutor v. Tadić A/K/A ”Dule”, Decision on the Prosecutor`s Motion requesting Protective Measures for Witness R, Case No. IT-94-1-T, 31. Juli 1996, paras. 5, 6. Hervorhebung Demko. Siehe auch Prosecutor v. Radoslav Brđanin & Momir Talić, Decision on Motion by Prosecution for Protective Measures, Case No. IT-99-36-PT, 03. Juli 2000, para. 20: „… Before protective measures will be granted, Rule 69(A) requires the prosecution first to establish exceptional circumstances. This is in accordance with the balance carefully expressed in Article 20.1: that ”proceedings are conducted […] with full respect for the rights of the accused and due regard for the protection of victims and witnesses“ (Hervorhebung Demko).
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Regel Art. 69 (A)2379 verdeutlichen einen Vorrang der Angeklagtenrechte vor dem Opfer- und Zeugenschutz.2380 Für einen solchen Vorrang wird seitens des Schrifttums zudem angeführt, dass Art. 21 Abs. 4 ICTY-Statut keinen ausdrücklichen Vorbehalt für die dort für den Angeklagten geregelten Mindestgarantien nennt und der in Art. 21 Abs. 2 ICTY-Statut aufgeführte Vorbehalt für den erst übernächsten Absatz 4 keine Geltung haben kann, noch dazu, da Abs. 3 die für den Angeklagten bestehende Unschuldsvermutung regelt, für welche die (Fort-)Geltung des Vorbehaltes aus Absatz 2 abzulehnen ist.2381 829
Mehr noch und vor allem aber kann die missverständlich formulierte Regelung in Art. 21 Abs. 2 ICTY-Statut, die nicht nur einzelne Angeklagtenrechte, sondern den Anspruch des Angeklagten überhaupt, dass über die gegen ihn erhobene Anklage fair und öffentlich verhandelt wird, unter den Vorbehalt des Art. 22 ICTY-Statut stellt, keinen Vorrang des Opfer-/Zeugenschutzes vor der Gewährung des (Gesamt-)Rechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren bedeuten: Denn ein solches (Miss-)Verständnis würde verkennen, dass der Opfer-/Zeugenschutz gerade und nur (eines der) Bestandteil(e) des diesem als «Ganzes» übergeordneten fairen Strafverfahrens und nicht umgekehrt das faire Strafverfahren nur Teil bzw. Element des Opfer- und Zeugenschutzes ist. Angesprochen ist die – oben ausgeführte2382 – Bedeutung der Fairness des Strafverfahrens als das an das Strafverfahren als eine Gesamtheit anzulegende oberste Qualitätsmerkmal, nach welchem es die vielzähligen Komponenten der materiellen und prozeduralen Gerechtigkeit und die damit einhergehenden unterschiedlichen Bestandteile eines fairen Verfahrens in einen (vertikalen wie horizontalen) Ausgleich miteinander zu bringen gilt:2383 Die Fairness des Strafverfahrens als oberstes, übergreifendes Qualitätsmerkmal eines Strafverfahrens anzuerkennen, bedeutet mithin, dass nicht diese Gesamtfairness des Strafverfahrens mit ihren Bestandteilen in einen Ausgleich zu bringen ist oder dass gar ein Vorrang der Bestandteile – wie etwa des Zeugenschutzes oder der Wahrung der Angeklagtenrechte – vor dem 2379
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ICTY-Regel Art. 69 (A): «In exceptional circumstances, the Prosecutor may apply to a Judge or Trial Chamber to order the non-disclosure of the identity of a victim or witness who may be in danger or at risk until such person is brought under the protection of the Tribunal.» (Hervorhebung Demko). Siehe dazu mit näheren Ausführungen auch KAMARDI, S. 371, wonach „… sowohl dem Statut als auch der Prozessordnung eine eindeutige Vorrangstellung der Wahrung der Rechte des Angeklagten vor dem Schutz der Opfer und Zeugen zu entnehmen …“ ist. Siehe dazu mit näheren Begründungen auch KAMARDI, S. 369. Siehe zur Bedeutung der Fairness als der an das Strafverfahren als Gesamtheit anzulegenden Qualität näher unter Kap. 3 A. Zur Fairness des Strafverfahrens als der die Komponenten der materiellen und prozeduralen Gerechtigkeit einschliessenden «Strafgerechtigkeit» siehe näher unter Kap. 3 A. III.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
übergreifenden «Ganzen» der Fairness des Strafverfahrens besteht, sondern dass vielmehr die verschiedenen einzelnen Elemente, die einzelnen Bestandteile bzw. Bausteine eines fairen Strafverfahrens in einen Ausgleich miteinander zu bringen sind, und zwar in einen Ausgleich solcher Art, dass dieser das Strafverfahren als ein insgesamt faires Strafverfahren ausweist und qualifiziert. Trotz insoweit missverständlichen Wortlautes in Art. 21 Abs. 2 ICTYStatut kann es – da verschiedene Ebenen, einmal die Gesamtebene des ganzen Strafverfahrens und das andere Mal die (darunter liegende) Ebene der Teile bzw. Elemente des Strafverfahrens, angesprochen werden – nicht um die Frage eines Vorrangverhältnisses zwischen Opfer-/Zeugenschutz und dem Gesamtrecht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahrens gehen, sondern vielmehr nur um die Frage, in welchem Verhältnis die einzelnen Elemente eines fairen Strafverfahrens zueinander stehen und wie diese miteinander in Einklang zu bringen sind, so dass infolgedessen von einem insgesamt fairen Strafverfahren gesprochen werden kann. Es heisst also, für das Wertungsprädikat «faires Strafverfahren» dessen Bestandteile in Balance zu bringen, was auch das ICTY in seiner Rechtsprechung zum Konfrontationsrecht des Angeklagten aufzeigt, indem es das Konfrontationsrecht des Angeklagten mit den Schutzinteressen der Belastungszeugen sowie mit weiteren, das Strafverfahren im Zusammenhang mit (Belastungs-)Zeugenvernehmungen berührenden Elementen in Einklang zu bringen versucht.2384 Dass dem Verteidigungsrecht des Angeklagten in Gestalt des Konfrontationsrechts dabei ein grundsätzlicher Vorrang vor den Interessen der Belastungszeugen zugesprochen wird, machen entsprechend der eben aufgezeigten Auslegung der dargestellten Regelungen des ICTY-Statuts und der RPE nicht nur diese selbst deutlich,2385 sondern ebenso zeigt dies – wie die nachfolgenden Ausführungen näher darlegen werden – die zur Befragung von Belastungszeugen ergangene Rechtsprechung des ICTY: Nach dieser darf von der dem Angeklagten im Strafverfahren vor dem ICTY grundsätzlich einzuräumenden «optimalen» im Sinne von uneingeschränkten Ausübung des Konfrontationsrechts nur im Ausnahmefall, und zwar nur bei Vorliegen bestimmter sachlicher Gründe sowie der Erfüllung weiterer Einschränkungsvoraussetzungen auf der Beweiserhebungs- und Beweiswürdigungsebene abgewichen wer-
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Siehe dazu auch mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen TOCHILOVSKY, S. 218 ff., 227 f. Siehe auch KAMARDI, S. 371 f.: „eindeutige Vorrangstellung der Wahrung der Rechte des Angeklagten vor dem Schutz der Opfer und Zeugen“, die mit Bezug auf die Zulassung anonymer Zeugenaussagen angenommen wird, die aber auch dem „Geist der Rechtsprechung zu allen anderen Maβnahmen zum Schutze der Opfer und Zeugen“ (S. 371 f.) entspricht.
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
den.2386 In diesem Sinne heisst es im Fall Prosecutor v. Radoslav Brđanin & Momir Talić: 831
„… Before protective measures will be granted, Rule 69(A) requires the prosecution first to establish exceptional circumstances. This is in accordance with the balance carefully expressed in Article 20.1: that ”proceedings are conducted […] with full respect for the rights of the accused and due regard for the protection of victims and witnesses”. As the prosecution correctly concedes, the rights of the accused are made the first consideration, and the need to protect victims and witnesses is a secondary one …“2387
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Auch der Fall Prosecutor v. Delalić et al. offenbart den Ausgangspunkt einer dem Angeklagten im Grundsatz uneingeschränkt zu gewährleistenden Ausübung seines Konfrontationsrechts, zeigt jedoch zugleich auf, dass das Konfrontationsrecht kein absolutes Recht ist,2388 d.h. dass von dem Grundsatz der uneingeschränkten Ausübung im Ausnahmefall abgewichen werden darf und das Konfrontationsrecht dennoch als gewahrt angesehen werden kann. Es heisst im Fall Prosecutor v. Delalić et al. hierzu im Anschluss an die ausdrückliche Anführung des mit Art. 21 Buchst. 4 (e) ICTY-Statut „nearly identical“2389 Art. 6 EMRK und des Art. 14 IPbpR sowie unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EGMR2390 sowie des Supreme Court der Vereinigten Staaten von Amerika betreffend der „confrontation clause of the Sixth Amendment to the United States Constitution“:2391 2386 2387
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Siehe zu den Einschränkungsvoraussetzungen näher unter Kap. 5 C. 3. Prosecutor v. Radoslav Brđanin & Momir Talić, Decision on Motion by Prosecution for Protective Measures, Case No. IT-99-36-PT, 03. Juli 2000, para. 20 (Hervorhebung Demko). Siehe auch Prosecutor v. Blagojević et al., First Decision on Prosecution`s Motion for Admission of Witness Statements and Prior Testimony Pursuant to Rule 92 bis, Case No. IT-02-60-T, 12. Juni 2003, para. 14: „... the right to cross-examine witnesses is not an absolute right … although the decision to accept evidence without crossexamination is one which the Trial Chamber shall arrive at only after careful consideration …“ (Hervorhebungen Demko). Prosecutor v. Delalić et al., Decision on the Motions by the Prosecution for Protective Measures for the Prosecution Witnesses Pseudonymed ”B” through to ”M”, Case No. IT-96-21-T, 28. April 1997, para. 55 (Hervorhebung Demko). Prosecutor v. Delalić et al., Decision on the Motions by the Prosecution for Protective Measures for the Prosecution Witnesses Pseudonymed ”B” through to ”M”, Case No. IT-96-21-T, 28. April 1997, paras. 54, 55, in denen das ICTY auf die Entscheidungen des EGMR in den Fällen Kostovski v. The Netherlands (para. 54) und Unterpertinger v. Austria (para. 55) Bezug nimmt. Prosecutor v. Delalić et al., Decision on the Motions by the Prosecution for Protective Measures for the Prosecution Witnesses Pseudonymed ”B” through to ”M”, Case No. IT-96-21-T, 28. April 1997, para. 55 (Hervorhebung Demko), wobei das ICTY auf die Entscheidung Delaware v Fensterer, 474 U.S. 15, 22 (1985) Bezug nimmt.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen „... Ideally face to face confrontation is the core of the values epitomised in the accused confronting his accuser in each case. It is not a condition sine qua non of the right …“2392
833
Die grundlegende bzw. entscheidende Bedeutung („a fundamental right“2393, „a confrontation with the witness, a crucial part of a criminal proceeding“2394) des Konfrontationsrechts für ein faires Strafverfahren anerkennend, weist das ICTY in seinen Entscheidungen wiederholt auf die Verankerung dieses Rechts in Regelungen zum internationalen Menschenrechtsschutz – sei es etwa in Art. 6 III d EMRK oder in Art. 14 III e IPbpR – hin:
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„… the right to cross-examine witnesses is a fundamental right recognized under international human rights law …“2395
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Im Laufe seiner Rechtsprechung hat das ICTY ebenso deutlich gemacht, dass es sich trotz der besonderen Herausforderungen, die ein internationales Straf-
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Prosecutor v. Delalić et al., Decision on the Motions by the Prosecution for Protective Measures for the Prosecution Witnesses Pseudonymed ”B” through to ”M”, Case No. IT-96-21-T, 28. April 1997, para. 55 (Hervorhebung ICTY: «sine qua non», übrige Hervorhebung Demko). Prosecutor v. Prlić et al., Decision on Joint Defence Interlocutory Appeal against the Trial Chamber's Oral Decision of 8 May 2006 Relating to Cross-Examination by Defence and on Association of Defence Counsel's Request for Leave to File an Amicus Curiae Brief, Case No. IT-04-74-AR73.2., 4. Juli 2006, S. 2 (Hervorhebung Demko). Prosecutor v. Zejnil Delalić et al., Decision on the Motions by the Prosecution for Protective Measures for the Prosecution Witnesses Pseudonymed “B” Through to “M”, Case No. IT-96-21-T, 28. April 1997, para. 53 (Hervorhebung Demko). Prosecutor v. Prlić et al., Decision on Joint Defence Interlocutory Appeal against the Trial Chamber's Oral Decision of 8 May 2006 Relating to Cross-Examination by Defence and on Association of Defence Counsel's Request for Leave to File an Amicus Curiae Brief, Case No. IT-04-74-AR73.2, 4. Juli 2006, S. 2, siehe auch S. 2 FN 10 die ausdrückliche Aufführung u.a. von Art. 14 III 4 IPbpR, Art. 6 III d EMRK, Art. 8 II f AMRK sowie von zahleichen Urteilen des EGMR; siehe aus der weiteren Rechtsprechung des ICTY etwa Prosecutor v. Blaškić, Decision on the Standing Objection of the Defence to the Admission of Hearsay with no Inquiry as to its Reliability, Case No. IT-95-14-T, 21. Januar 1998, para. 4; Prosecutor v. Galić, Decision on Interlocutory Appeal Concerning Rule 92 bis (C), IT-98-29-AR73.2, 07. Juni 2002, para. 12 FN 34 mit Bezugnahme auf Art. 6 III d EMRK und unter Anführung zahlreicher Urteile des EGMR; Prosecutor v. Zejnil Delalić et al., Decision on the Motions by the Prosecution for Protective Measures for the Prosecution Witnesses Pseudonymed “B” Through to “M”, Case No. IT-96-21-T, 28. April 1997, paras. 54, 55 mit Bezugnahme auf Art. 14 IPbpR, Art. 6 EMRK, die Confrontation Clause des 6. Amendment sowie unter Aufführung der Urteile des EGMR Kostovski v. The Netherlands und Unterpertinger v. Austria sowie der Entscheidung des United States Supreme Court Delaware v. Fensterer.
545
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
verfahren im Unterschied zu nationalen Strafverfahren zu erfüllen hat,2396 durch jene menschenrechtlichen Vorgaben für die Ausgestaltung des Konfrontationsrechts – sowohl was dessen optimale Ausübung als auch, was mögliche Einschränkungen und Einschränkungsvoraussetzungen betrifft – beeinflusst sieht.2397 Insbesondere die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 2396
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546
Mit Hinweis auf die besonderen Herausforderungen, die vom ICTY zu bewältigen sind, stand das ICTY in einer seiner frühen Entscheidungen seiner Spruchpraxis einer Bindung an die Auslegung der Regelungen in Art. 14 IPbpR und in Art. 6 EMRK eher noch zurückhaltend und skeptisch gegenüber, siehe Prosecutor v. Tadić A/K/A “Dule“, Decision on the Prosecutor`s Motion Requesting Protective Measures for Victims and Witnesses, Case No. IT-94-1-T, 10. August 1996, paras. 27 ff.: „… In this regard it is also relevant that the International Tribunal is operating in the midst of a continuing conflict and is without a police force or witness protection program to provide protection for victims and witnesses. These considerations are unique: neither Article 14 of the ICCPR nor Article 6 of the European Convention of Human Rights (“ECHR”), which concerns the right to a fair trial, list the protection of victims and witnesses as one of its primary considerations. As such, the interpretation given by other judicial bodies to Article 14 of the ICCPR and Article 6 of the ECHR is only of limited relevance in applying the provisions of the Statute and Rules of the International Tribunal, as these bodies interpret their provisions in the context of their legal framework, which do not contain the same considerations. In interpreting the provisions which are applicable to the International Tribunal and determining where the balance lies between the accused`s right to a fair and public trial and the protection of victims and witnesses, the Judges of the International Tribunal must do so within the context of its own unique legal framework … The interpretation of Article 6 of the ECHR by the European Court of Human Rights are meant to apply to ordinary criminal … adjudications. By contrast, the International Tribunal is adjudicating crimes which are considered so horrific as to warrant universal jurisdiction. The International Tribunal is, in certain respect, comparable to a military tribunal, which often has limited rights of due process and more lenient rules of evidence … the International Tribunal must interpret its provisions within its own context and determine where the balance lies between the accused`s right to a fair and public trial and the protection of victims and witnesses within its unique legal framework. While the jurisprudence of other international judicial bodies is relevant when examining the meaning of concepts such as ”fair trial”, whether or not the proper balance is met depends on the context of the legal system in which the concepts are being applied …“ (paras. 27, 28, 30, Hervorhebung Demko); siehe kritisch zu dieser Entscheidung auch WANNEK, S. 31 f.: „fragwürdige(n) These“; siehe auch BOAS, S. 74 f. Siehe etwa Prosecutor v. Galić, Decision on Interlocutory Appeal Concerning Rule 92 bis (C), IT-98-29-AR73.2, 07. Juni 2002, para. 12 FN 34 zur Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen schriftliche Zeugenaussagen mit Art. 21 Abs. 4 e ICTYStatut sowie mit anderen menschenrechtlichen Regelungen, wie zum Beispiel mit Art. 6 III d EMRK, vereinbar sind sowie unter Aufführung zahlreicher Urteile des EGMR; Prosecutor v. Blaškić, Decision on the Standing Objection of the Defence to the Admission of Hearsay with no Inquiry as to its Reliability, Case No. IT-95-14-T,
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
III d EMRK hat insofern Beachtung seitens des ICTY gefunden,2398 wenn auch nicht alle vom EGMR aufgestellten Voraussetzungen für eine konventionskonforme Gewährleistung des Konfrontationsrechts vom ICTY in gleicher Art und Weise sowie Ausführlichkeit aufgegriffen (und umgesetzt) worden sind, wie dies der EGMR getan hat.2399 Die vom ICTY in ständiger Spruchpraxis vorgenommene Betonung, dass in dem von ihm zu gewährleistenden fairen Strafverfahren die Rechte des Angeklagten mit dem Zeugen- und Opferschutz sowie mit dem allgemeinen Interesse an einem Strafverfahren, das sich auf das bestmöglich zu erreichende Beweisergebnis stützt, in Balance zu bringen sind,2400 findet ihren Ausdruck auch in der ICTY-Regel 89 und ihren Konkretisierungen in den Regeln zum Beweisrecht. Als „… „Magna Charta“ des Beweisrechts …“2401 ist hier der Rahmen für das im Strafverfahren vor dem ICTY zu befolgende Beweisverfahren aufgezeigt und mit dieser Rahmenvorgabe ist zugleich auch der Rahmen mitoffenbart, in welchen die Beurteilung eingestellt ist, ob das Konfrontationsrecht des Angeklagten in rechtmässiger Weise gewährleistet wurde.2402 Entgegen der im «klassischen» common law-System vorherrschenden
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21. Januar 1998, para. 4 zur Zulassung von Zeugnissen vom Hörensagen; Prosecutor v. Delalić et al., Decision on the Motions by the Prosecution for Protective Measures for the Prosecution Witnesses Pseudonymed “B” Through to “M”, Case No. IT-9621-T, 28. April 1997, paras. 54, 55 zur grundsätzlich zu gewährenden «optimalen» Ausübung des Konfrontationsrechts; siehe dazu auch die Ausführungen im Haupttext. Siehe etwa Prosecutor v. Delalić et al., Decision on the Motions by the Prosecution for Protective Measures for the Prosecution Witnesses Pseudonymed ”B” through to ”M”, Case No. IT-96-21-T, 28. April 1997, paras. 54, 55, in denen das ICTY auf die Entscheidungen des EGMR in den Fällen Kostovski v. The Netherlands (para. 54) und Unterpertinger v. Austria (para. 55) Bezug nimmt; siehe zudem Prosecutor v. Tihomir Blaškić, Decision on the Standing Objection of the Defence to the Admission of Hearsay with no Inquiry as to its Reliability, Case No. IT-95-14-T, 21. Januar 1998, para. 8, wo das ICTY im Zusammenhang mit Zeugen vom Hörensagen auf die Entscheidungen des EGMR in den Fällen Kostovski v. The Netherlands, Windisch v. Austria, Delta v. France und Unterpertinger v. Austria Bezug nimmt. Siehe dazu genauer im Rahmen der Ausführungen zu den einzelnen Einschränkungsvoraussetzungen unter Kap. 5 C. II. 3. Siehe dazu auch Prosecutor v. Brđanin and Talić, Order on the Standards Governing the Admission of Evidence, Case No. IT-99-36-T, 15. Februar 2002, paras. 9, 25; siehe zur zu gewährenden Balance zwischen den Angeklagtenrechten und dem Opferund Zeugenschutz bereits die obigen Ausführungen im Haupttext und die dortigen Rechtsprechungsnachweise in den Fussnoten. So die zutreffende Bezeichnung von NEMITZ, S. 56 (im Original in der Überschrift, Hervorhebung: Nemitz). Zu etwa zehn für die Frage der Zulässigkeit von Beweismitteln vom ICTY herausgearbeiteten Grundsätzen siehe Prosecutor v. Brđanin and Talić, Order on the Standards
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837
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
strengen Beweisregeln zur Zulässigkeit von Beweismitteln2403 bringen die kurz gehaltenen Regeln der RPE zum Beweismittelrecht in Bezug auf die Frage der Beweismittelzulässigkeit einen vom ICTY verfolgten flexiblen2404 Ansatz sowie ebenso zum Ausdruck, dass dem ausschliesslich mit professionellen Richtern besetzten ICTY zugetraut wird, die Zulassung der Beweismittel und die (davon zu unterscheidende spätere) Beurteilung von deren Beweiswert auch ohne dem common law-System entsprechende technische Beweisregeln allein anhand der kurz gehaltenen Regeln der RPE zum Beweismittelrecht in korrekter Weise vorzunehmen.2405 838
Den Rahmen und die Grundstruktur des Beweismittelrechts für das Verfahren vor dem ICTY vorgebend, enthält die ICTY-Regel 89 in deren Absätzen (A) bis (F) Vorgaben, welche auch für das Beweismittel «Belastungszeuge» und das Recht des Angeklagten auf Konfrontation mit demselben von Bedeutung sind. Eine Bindung an nationale Beweisregeln ablehnend, ICTY-Regel 89 (A), soll, soweit Regelungen im Abschnitt über die Beweisvorschriften fehlen, die Strafkammer diejenigen Beweisregeln anwenden, die eine faire Entscheidung der von ihr zu beantwortenden Angelegenheiten am besten gewährleisten und welche mit dem Geist des Statuts und den allgemeinen Rechtsgrundsätzen vereinbar sind, ICTY-Regel 89 (B). Zulassen kann die Strafkammer dabei nach der ICTY-Regel 89 (C) jedes relevante Beweismittel («any relevant evidence»), welches nach ihrer Auffassung einen Beweiswert besitzt («probative value»). Dabei ist die Frage der Zulässigkeit eines Be-
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Governing the Admission of Evidence, Case No. IT-99-36-T, 15. Februar 2002, paras. 15 ff.; siehe zu diesen auch NEMITZ, S. 57, 58. Siehe dazu auch Prosecutor v. Tihomir Blaškić, Decision on the Standing Objection of the Defence to the Admission of Hearsay with no Inquiry as to its Reliability, Case No. IT-95-14-T, 21. Januar 1998, paras. 7 ff.: „… The Trial Chamber notes, finally, that the principle of the inadmissibility of hearsay evidence, as enshrined in the common law countries, has, in those very countries today, become "riddled with judicial and even legal exceptions" …“ (para. 10, Hervorhebung Demko); siehe zudem Prosecutor v. Tadić a/k/a “Dule“, Decision on Defence Motion on Hearsay, Case No. IT94-1-T, 05. August 1996, paras. 7 ff. mit einer betreff des Zeugnisses vom Hörensagen erfolgenden Auseinandersetzung des ICTY mit dem common law- und civil lawSystem. Zum flexiblen Ansatz siehe etwa Prosecutor v. Brđanin and Talić, Order on the Standards Governing the Admission of Evidence, Case No. IT-99-36-T, 15. Februar 2002, para. 10: „The purpose of the Rules is to promote a fair and expeditious trial and the Trial Chambers must have the flexibility to achieve this goal …“ (Hervorhebung Demko). Siehe Prosecutor v. Brđanin and Talić, Order on the Standards Governing the Admission of Evidence, Case No. IT-99-36-T, 15. Februar 2002, para. 14; Prosecutor v. Delalić et al., Decision on the Motion of the Prosecution for the Admissibility of Evidence, Case No. IT-96-21-T, 19. Januar 1998, para. 20.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
weismittels, für welche auf eine prima facie Vermutung für die Glaubwürdigkeit des Beweismittels Rückgriff genommen wird2406 und für welche sich eine eher grosszügige Praxis der Beweismittelzulassung – nach welcher das ICTY dazu tendiert, ein Beweismittel erst einmal zuzulassen – durchgesetzt hat,2407 zu unterscheiden von der im Anschluss an die Beweiserhebung im Rahmen der Beweiswürdigung zu beantwortenden Frage, ob und was für einen Beweiswert jenes Beweismittel tatsächlich hat: „... These considerations have resulted in the generally uniform tendency of the various Trial Chambers of this Tribunal towards admitting evidence in the first place, leaving its weight to be assessed when all the evidence is being considered by the Trial Chamber in reaching its judgement ...“2408
839
Diese grosszügige Praxis bei der Beweismittelzulassung hat sich auch bei dem Beweismittel «Belastungszeuge» durchgesetzt. Denn auch hier werden nicht nur Aussagen von Belastungszeugen zum Beweis zugelassen, die unter uneingeschränkter Gewährleistung des Konfrontationsrechts des Angeklagten zustande gekommen sind, sondern auch solche Aussagen, bei denen – wie etwa bei Zeugen vom Hörensagen oder anderen aussergerichtlichen Zeugenaussagen – das Konfrontationsrecht des Angeklagten in der einen oder anderen Weise eingeschränkt worden ist, wenn es sich bei diesen um für die Sache relevante Beweismittel mit nach Ansicht der Strafkammer ausreichendem Beweiswert handelt.2409
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Prosecutor v. Brđanin and Talić, Order on the Standards Governing the Admission of Evidence, Case No. IT-99-36-T, 15. Februar 2002, para. 18: „... at the stage of admission of evidence, “the implicit requirement of reliability means no more than that there must be sufficient indicia of reliability to make out a prima facie case for the admission of that document ...“ (Hervorhebung Demko). Siehe dazu auch NEMITZ, S. 57, wonach „die Kammern dazu tendieren, ein Beweismittel im Zweifel zuzulassen und es dann der späteren Würdigung des Beweisergebnisses im Rahmen der Urteilsfindung zu überlassen, welches Gewicht ihm zuzumessen ist …“ Prosecutor v. Brđanin and Talić, Order on the Standards Governing the Admission of Evidence, Case No. IT-99-36-T, 15. Februar 2002, para. 13. Siehe etwa Prosecutor v. Tihomir Blaškić, Decision on the Standing Objection of the Defence to the Admission of Hearsay with no Inquiry as to its Reliability, Case No. IT-95-14-T, 21. Januar 1998, paras. 7 ff.: „… The Trial Chamber notes that the only provision regarding the admissibility of evidence is to be found in Sub-rule 89(C) of the Rules: "A Chamber may admit any relevant evidence which it deems to have probative value". This provision applies whether the evidence is direct or hearsay. In fact, when interpreted in the light of the other paragraphs of Rule 89, it is sufficiently general to include the admissibility of hearsay evidence. In respect of this point, the Rule offers a correct interpretation of the Statute …“ (para. 7, Hervorhebung Demko), siehe auch weiter paras. 9 und 10; siehe zudem Prosecutor v. Tadić a/k/a “Dule“, Decision on Defence Motion on Hearsay, Case No. IT-94-1-T, 05. August 1996, paras.
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen 841
Eine auch für die wirksame Ausübung des Konfrontationsrechts des Angeklagten und dessen Anspruch auf ein faires Strafverfahren wichtige Begrenzung der Beweismittelzulassung enthalten die ICTY-Regeln 89 (D) und 95. Nach diesen können Beweismittel ausgeschlossen werden, wenn deren Beweiswert durch das Bedürfnis nach Sicherung eines fairen Verfahrens wesentlich überwogen wird (ICTY-Regel 89 (D)2410), wenn die Beweismittel durch Methoden gewonnen wurden, die substanzielle Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit erregen oder wenn ihre Zulassung der Integrität des Verfahrens widersprechen und diese ernsthaft beschädigen würde (ICTY-Regel 952411).2412 bb)
842
Wesensgehalt des Konfrontationsrechts
Bereits die in den RPE enthaltenen Einschränkungen von der grundsätzlich in der Hauptverhandlung vor Gericht durchzuführenden mündlichen2413 Zeugenvernehmung bringen die Relevanz des dem Angeklagten im Grundsatz zu gewährenden «cross-examination» zum Ausdruck. Dieses Moment findet wiederholte Betonung auch in der Rechtsprechung des ICTY, wonach es dem Angeklagten grundsätzlich möglich sein muss, den Belastungszeugen ins Kreuzverhör nehmen („right to cross-examine the witness“2414), ihn befragen
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7 ff.: „… It is clear from these provisions that there is no blanket prohibition on the admission of hearsay evidence. Under our Rules, specifically Sub-rule 89(C), out-ofcourt statements that are relevant and found to have probative value are admissible …“ (para. 7, Hervorhebung Demko). ICTY-Regel 89 (D): «A Chamber may exclude evidence if its probative value is substantially outweighed by the need to ensure a fair trial.». ICTY-Regel 95: «No evidence shall be admissible if obtained by methods which cast substantial doubt on its reliability or if its admission is antithetical to, and would seriously damage, the integrity of the proceedings.» Siehe dazu auch Prosecutor v. Tadić a/k/a “Dule“, Decision on Defence Motion on Hearsay, Case No. IT-94-1-T, 05. August 1996, para. 15 FN 1: „… Rule 95, while concerned with the methods by which evidence is obtained, also allows for its exclusion if it is unreliable …“ Siehe auch die die Priorität des mündlichen Zeugenbeweises aufzeigende ICTY-Regel 89 (F): «A Chamber may receive the evidence of a witness orally or, where the interests of justice allow, in written form.»; zur früheren ausdrücklicheren Regelung und deren Entfernung sowie zur Präferenz für den mündlichen Zeugenbeweis, aber auch zu Abweichungen von diesem Prinzip siehe näher KAMARDI, S. 280 ff. Prosecutor v. Aleksovski, Decision on Prosecutor`s Appeal on Admissibility of Evidence, Case-No. IT-95-14/1-AR73, 16. Februar 1999, para. 27 mit weiteren Ausführungen zur «opportunity of cross-examining the witness»; siehe auch Prosecutor v. Delalić et al., Decision on the Motion to Allow Witnesses K, L and M to Give Their Testimony by Means of Video-Link Conference, Case No. IT-96-21-T, 28. Mai 1997, para. 15: „... Furthermore, and importantly, counsel for the accused can cross-examine the witness …“
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
(„to question that whitness“2415) und konfrontieren („to confront the witness“2416) und den belastenden Zeugenbeweis auf diesem Wege in ausreichender und sachgerechter Weise überprüfen, testen und in Frage stellen („to challenge“,2417 „to test it“2418) zu können: „… where the witness who made the statement is not called to give the accused an adequate and proper opportunity to challenge the statement and to question that witness, the evidence which the statement contains may lead to a conviction only if there is other evidence which corroborates the statement …“2419
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Das Recht des Angeklagten, den Belastungszeugen ins Kreuzverhör zu nehmen, als Bestandteil des fairen Strafverfahrens begreifend,2420 darf von die-
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Prosecutor v. Martić, Decision on Defence Motion to Exclude the Testimony of Witness Milan Babić, together with Associated Exhibits, from Evidence, Case No. IT95-11-T, 9. Juni 2006, para. 73 (Hervorhebung Demko); siehe zudem Prosecutor v. Galić, Decision on Interlocutory Appeal Concerning Rule 92bis(C), Case No. IT-9829-AR73.2, 7. Juni 2002, para. 12 FN 34. Prosecutor v. Delalić et al., Decision on the Motion to Allow Witnesses K, L and M to Give Their Testimony by Means of Video-Link Conference, Case No. IT-96-21-T, 28. Mai 1997, para. 15 (Hervorhebung Demko); siehe auch Prosecutor v. Milutinović et al., Decision on Prosecution Motion for Testimony of K 58 to be heard via VideoLink Conference, Case No. IT-05-87-T, 1. November 2006, para. 2: „... the rights of the accused to cross-examine the witness and to confront the witness directly ...“ Prosecutor v. Martić, Decision on Defence Motion to Exclude the Testimony of Witness Milan Babić, together with Associated Exhibits, from Evidence, Case No. IT95-11-T, 9. Juni 2006, para. 73 (Hervorhebungen Demko). Siehe Richter May in Prosecutor v. Kordić and Čerkez, Public Transcript of Hearing vom 21. Februar 2000, Case No. IT-95-14/2-T, 21. Februar 2000, Seite 14701: „… Should this statement be admitted un-cross-examined, so that the Defence have had no chance to test it …“ (Hervorhebung Demko). Prosecutor v. Martić, Decision on Defence Motion to Exclude the Testimony of Witness Milan Babić, together with Associated Exhibits, from Evidence, Case No. IT95-11-T, 9. Juni 2006, para. 73 (Hervorhebungen Demko); siehe auch paras. 26, 27 zu „ (b) Adequate opportunity to cross-examine and stage in cross-examination“ und para. 41: „... The Prosecution submits that the Trial Chamber should consider which questions were asked during cross-examinations of other witnesses and in particular which areas of evidence have not been challenged during those cross-examinations …“ (Hervorhebungen Demko); siehe zudem Prosecutor v. Galić, Decision on Interlocutory Appeal Concerning Rule 92bis(C), Case No. IT-98-29-AR73.2, 7. Juni 2002, para. 12 FN 34 mit Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EGMR. Prosecutor v. Milošević, Decision on Prosecution`s Request to have Written Statements Admitted Under Rule 92 bis, Case No. IT-02-54-T, 21. März 2002, paras. 7, 25: „... The Trial Chamber also said that the principal criterion for determining whether a witness should appear for cross-examination under Rule 92bis(E) is the overriding obligation of a Chamber to ensure a fair trial under Articles 20 and 21 of the Statute of the International Tribunal …“ (para. 7).
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
sem Recht nur nach sorgfältiger Überlegung abgewichen werden2421 und es besteht, was auch das ICTY-Statut und die Bestimmungen zum Beweisrecht in den RPE deutlich machen, gerade keine Vermutung gegen das Kreuzverhör («Far from there being a presumption against cross-examination»).2422 Vielmehr umgekehrt ist das Recht des Angeklagten «to cross-examine the witness» im Verfahren vor dem ICTY als eine dem Angeklagten grundsätzlich zu gewährende Ausübungsform des Konfrontationsrechts mitgarantiert, mit welcher das den Wesensgehalt des Konfrontationsrechts betreffende Recht, den belastenden Zeugenbeweis mit Blick auf seinen Wahrheitsgehalt überprüfen und in Frage stellen („to challenge“2423), mithin die Glaubwürdigkeit des belastenden Zeugenbeweises testen und in Zweifel ziehen zu können („to fully test“,2424 „to test it“,2425 „to probe and expose“2426), verbunden ist, welches wiederum durch die Ausübungsform des Kreuzverhörs als «am besten» gewährleistet angesehen wird. Erkennbar sind auch hier die (bereits ausgeführte2427) zu beachtende Trennung sowie das aber auch zu beachtende Zusammenspiel von Ausübungs- und Wesensgehaltsebene des Konfrontationsrechts. In diesem Sinne heisst es etwa im Fall Prosecutor v. Slobodan Milošević:
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Siehe Prosecutor v. Blagojević et al., First Decision on Prosecution`s Motion for Admission of Witness Statements and Prior Testimony Pursuant to Rule 92 bis, Case No. IT-02-60-T, 12. Juni 2003, para. 14: „... the right to cross-examine witnesses is not an absolute right … although the decision to accept evidence without crossexamination is one which the Trial Chamber shall arrive at only after careful consideration …“ (Hervorhebungen Demko). Prosecutor v. Milutinović et al., Decision on Prosecutions`Rule 92 bis Motion, Case No. IT-05-87-PT, 4. Juli 2006, para. 11: „... Far from there being a presumption against cross-examination, the Statute of the Tribunal guarantees to each accused the right “to examine, or have examined, the witnesses against him ...“, siehe dort auch die weiteren Ausführugen. Prosecutor v. Martić, Decision on Defence Motion to Exclude the Testimony of Witness Milan Babić, together with Associated Exhibits, from Evidence, Case No. IT95-11-T, 9. Juni 2006, para. 73 (Hervorhebungen Demko). Prosecutor v. Slobodan Milošević, Decision on Prosecution`s Request to have Written Statements Admitted Under Rule 92 bis, Case No. IT-02-54-T, 21. März 2002, para. 25 (Hervorhebungen Demko). Siehe Richter May in Prosecutor v. Kordić and Čerkez, Public Transcript of Hearing vom 21. Februar 2000, Case No. IT-95-14/2-T, 21. Februar 2000, Seite 14701 (Hervorhebung Demko). Aus der Entscheidung des Supreme Court im Fall Delaware v. Fensterer zitierend in Prosecutor v. Delalić et al., Decision on the Motions by the Prosecution for Protective Measures for the Prosecution Witnesses Pseudonymed ”B” through to ”M”, Case No. IT-96-21-T, 28. April 1997, para. 55 (Hervorhebung Demko). Siehe dazu bereits unter Kap. 4 B. I. und II. sowie unter Kap. 5 A. und B.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen „… in the view of the Trial Chamber the requirements of a fair trial demand that the accused be given the right to cross-examine the witnesses in order to fully test the Prosecution`s case ...“2428
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Ebenso bringt das ICTY im Fall Prosecutor v. Delalić et al. unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Rechtsprechung sowohl des EGMR als auch des Supreme Court der Vereinigten Staaten den das Konfrontationsrecht bestimmenden Wesensgehalt in Gestalt des dem Angeklagten zu ermöglichenden sachgerechten und wirksamen Überprüfen- und Infragestellen-Könnens des belastenden Zeugenbeweises zum Ausdruck.2429 Das ICTY verweist insofern auf die Entscheidung des EGMR im Fall Kostovski v. The Netherlands und zitiert aus dieser Entscheidung:
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„… If the defence is unaware of the identity of the person it seeks to question, it may be deprived of the very particulars enabling it to demonstrate that he or she is prejudiced, hostile or unreliable. Testimony or other declarations inculpating an accused may well be designedly untruthful or simply erroneous and the defence will scarcely be able to bring this to light if it lacks the information permitting it to test the author's reliability or cast doubt on his credibility …“2430
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Zudem verweist das ICTY auf die Entscheidung des Supreme Court im Fall Delaware v. Fensterer und führt, aus dieser zitierend, aus:
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„… The confrontation clause is generally satisfied when the defence is given a full and fair opportunity to probe and expose [testimonial] infirmities such as forgetfulness, confusion, or evasion through cross-examination, thereby calling to the attention of the fact finder the reasons for giving scant weight to the witness's testimony …“2431
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Bei der vom Gericht vorzunehmenden Beurteilung des ausreichenden Beweiswertes des belastenden Zeugenbeweises und der Prüfung von dessen Zuverlässigkeit («reliability»)2432 richtet das ICTY seine besondere Aufmerk-
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2428
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2431
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Prosecutor v. Slobodan Milošević, Decision on Prosecution`s Request to have Written Statements Admitted Under Rule 92 bis, Case No. IT-02-54-T, 21. März 2002, para. 25 (Hervorhebungen Demko). Siehe dazu Prosecutor v. Delalić et al., Decision on the Motions by the Prosecution for Protective Measures for the Prosecution Witnesses Pseudonymed ”B” through to ”M”, Case No. IT-96-21-T, 28. April 1997, paras. 54, 55. Aus der Entscheidung des EGMR im Fall Kostovski v. The Netherlands zitierend in Prosecutor v. Delalić et al., Decision on the Motions by the Prosecution for Protective Measures for the Prosecution Witnesses Pseudonymed ”B” through to ”M”, Case No. IT-96-21-T, 28. April 1997, para. 54 (Hervorhebung Demko). Aus der Entscheidung des Supreme Court im Fall Delaware v. Fensterer zitierend in Prosecutor v. Delalić et al., Decision on the Motions by the Prosecution for Protective Measures for the Prosecution Witnesses Pseudonymed ”B” through to ”M”, Case No. IT-96-21-T, 28. April 1997, para. 55 (Hervorhebung Demko). Nicht ganz einheitlich wird zum Teil beurteilt, ob und inwieweit die Frage der Beurteilung der Zuverlässigkeit und hier der Glaubwürdigkeit des Zeugenbeweises schon
553
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
samkeit auf Indizien für die Zuverlässigkeit der Zeugenaussage („indicia of its reliability“2433) und hier – wie etwa in den Fällen Prosecutor v. Tadić a/k/a “Dule“, Prosecutor v. Zlatko Aleksovski und Prosecutor v. Vidoje Blagojević and Dragan Jokić – darauf, ob sich die Aussage als freiwillig, wahrheitsgemäss und vertrauenswürdig („voluntary, truthful, and trustworthy“2434) darstellt. In diesem Sinne heisst es im Fall Prosecutor v. Vidoje Blagojević and Dragan Jokić: 851
852
„… In evaluating the probative value of hearsay evidence, the Trial Chamber has carefully considered indicia of its reliability and, for this purpose, it has evaluated whether the statement was "voluntary, truthful and trustworthy" and has considered the content of the evidence and the circumstances under which it arose …“2435
Ebenso ist im Fall Prosecutor v. Zlatko Aleksovski betont:
853
„… Since such evidence is admitted to prove the truth of its contents, a Trial Chamber must be satisfied that it is reliable for that purpose, in the sense of being voluntary, truthful and trustworthy, as appropriate; and for this purpose may consider both the
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554
Teil der Zulässigkeitsprüfung des Beweises oder erst im Rahmen der anschliessenden Beweiswürdigung des gesamten Beweismaterials zu berücksichtigen ist, siehe dazu etwa Prosecutor v. Tihomir Blaškić, Decision on the Standing Objection of the Defence to the Admission of Hearsay with no Inquiry as to its Reliability, Case No. IT95-14-T, 21. Januar 1998, para. 10: „… The direct or hearsay nature of the testimony is but one of the many factors which the Trial Chamber will consider when evaluating the relevance and probative value of such testimony. The Trial Chamber therefore considers that the admissibility of hearsay evidence may not be subject to any prohibition in principle since the proceedings are conducted before professional Judges who possess the necessary ability to begin by hearing hearsay evidence and then to evaluate it so that they may make a ruling as to its relevance and probative value …“ (Hervorhebung Demko); Prosecutor v. Duško Tadić a/k/a “Dule“, Decision on Defence Motion on Hearsay, Case No. IT-94-1-T, 05. August 1996, para. 15: „… The Trial Chamber is bound by the Rules, which implicitly require that reliability be a component of admissibility ... Thus, the focus in determining whether evidence is probative within the meaning of Sub-rule 89(C) should be at a minimum that the evidence is reliable …“ (Hervorhebung Demko); siehe dazu auch näher KAMARDI, S. 351 ff. Prosecutor v. Tadić a/k/a “Dule“, Decision on Defence Motion on Hearsay, Case No. IT-94-1-T, 05. August 1996, para. 16 (Hervorhebung Demko); siehe dazu auch AMBOS, ICLR 2003, S. 24 f., 28.; MAY/WIERDA, ColJTL 1999, S. 747, 755. Prosecutor v. Tadić a/k/a “Dule“, Decision on Defence Motion on Hearsay, Case No. IT-94-1-T, 05. August 1996, para. 16 (Hervorhebung Demko), siehe auch para. 19: „truthfulness, voluntariness, and trustworthiness of the evidence“; siehe ebenso Prosecutor v. Zlatko Aleksovski, Decision on Prosecutor`s Appeal on Admissibility of Evidence, Case No. IT-95-14/1-AR73, 16. Februar 1999, para. 15. Prosecutor v. Vidoje Blagojević and Dragan Jokić, Judgement, Case No. IT-02-60-T, 17. Januar 2005, para. 21 (Hervorhebung Demko).
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen content of the hearsay statement and the circumstances under which the evidence arose; or, as Judge Stephen described it, the probative value of a hearsay statement will depend upon the context and character of the evidence in question …“2436
Dabei sind es, wie es in der Rechtsprechung des ICTY weiterführend hervorgehoben ist, der Inhalt der Zeugenaussage und die Umstände der Entstehung – und hier insbesondere die der Abgabe und der Aufzeichnung – der Zeugenaussage2437 sowie die sich auf die die betreffende Aussage tätigende Zeugenperson beziehenden Momente – und hier etwa die Feststellung von deren Identität2438 und Motivation2439 –, auf welche das ICTY mit Blick auf die Glaubwürdigkeitsbeurteilung des Zeugenbeweises („assessing the personal credibility“,2440 „assessing the credibility of witnesses“2441) Rückgriff nimmt. Das ICTY knüpft damit an solche Kriterien an, die auch von der Aussagepsychologie mit ihrer Heranziehung der Kriterien des Aussageinhaltes, der Aussageentstehung und der Zeugenperson für die Glaubwürdigkeitsbeurteilung von Zeugenbeweisen angeführt werden.2442 Einige dieser Kriterien zusammenführend heisst es beispielsweise im Fall Prosecutor v. Zlatko Aleksovski:
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„… The absence of the opportunity to cross-examine the person who made the statements, and whether the hearsay is "first-hand" or more removed, are also relevant to the probative value of the evidence. The fact that the evidence is hearsay does not
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Prosecutor v. Zlatko Aleksovski, Decision on Prosecutor`s Appeal on Admissibility of Evidence, Case No. IT-95-14/1-AR73, 16. Februar 1999, para. 15 (Hervorhebung Demko). Siehe etwa Prosecutor v. Zlatko Aleksovski, Decision on Prosecutor`s Appeal on Admissibility of Evidence, Case No. IT-95-14/1-AR73, 16. Februar 1999, para. 15: „… both the content of the hearsay statement and the circumstances under which the evidence arose …“ (Hervorhebung Demko). Siehe zur Frage der Anonymisierung der Zeugenperson und zu damit einhergehenden Einschränkungen in der Glaubwürdigkeitsbeurteilung näher im Rahmen der Ausführungen zu den Einschränkungen des Konfrontationsrechts unter Kap. 5 C. II.3; siehe auch die die Feststellung der Identität sichernde ICTY-Regel 92 bis (B) (ii) (a): «the person witnessing the declaration verifies in writing: … that the person making the statement is the person identified in the said statement»; siehe dazu auch WANNEK, S. 59 ff. Siehe dazu etwa Prosecutor v. Fatmir Limaj et al., Judgement, Case No. IT-03-66-T, 30. November 2005, § 13. Prosecutor v. Fatmir Limaj et al., Judgement, Case No. IT-03-66-T, 30. November 2005, para. 13 (Hervorhebung Demko). Prosecutor v. Blagoje Simić et al., Judgement, Case No. IT-95-9-T, 17. Oktober 2003, para. 22 (Hervorhebung Demko). Zur für die Glaubwürdigkeitsbeurteilung durch die Aussagepsychologie vorgenommenen Betonung der Beurteilungskriterien des Aussageinhaltes und der Aussageentstehung der von einer bestimmten Zeugenperson abgegebenen Zeugenaussage siehe bereits näher unter Kap. 5 A. II.
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen necessarily deprive it of probative value, but it is acknowledged that the weight or probative value to be afforded to that evidence will usually be less than that given to the testimony of a witness who has given it under a form of oath and who has been cross-examined, although even this will depend upon the infinitely variable circumstances which surround hearsay evidence …“2443 856
Hinsichtlich der den Inhalt und die Entstehung der Zeugenaussage und hier insbesondere die Erhebung und Aufzeichnung der Zeugenaussage betreffenden Momente,2444 welche als für die Glaubwürdigkeitsbeurteilung bedeutend herangezogen werden, berücksichtigt das ICTY etwa, ob seitens der Verteidigung ein oder kein Kreuzverhör vorgenommen werden konnte,2445 ob die 2443
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Prosecutor v. Zlatko Aleksovski, Decision on Prosecutor`s Appeal on Admissibility of Evidence, Case No. IT-95-14/1-AR73, 16. Februar 1999, para. 15 (Hervorhebung Demko); siehe dazu auch KAMARDI, S. 348; ebenso zu einer Zusammenführung solcher «indicia of reliability» siehe Prosecutor v. Kordić and Čerkez, Decision on Appeal regarding Statement of a Deceased Witness, Case No. IT-95-14/2-AR73.5, 21. Juli 2000, para. 27, siehe zu diesen auch die Zitierungen in den nachfolgenden Fussnoten. Siehe auch die ICTY-Regel 92 quater (A) (ii), in der auf die Umstände, unter denen die Aussage abgegeben und aufgezeichnet worden ist, abgestellt wird: «finds from the circumstances in which the statement was made and recorded that it is reliable» (Hervorhebung Demko); siehe zur vorangehenden Fassung die für die «indicia of reliability» angeführten Kriterien in Prosecutor v. Slobodan Milošević, Decision on Prosecution Motion for Admission of Written Statements of Deceased Witnesses Ivan Rastija, Boško Brkić, and Stana Albert Pursuant to Rule 92bis(C), Case No. IT-02-54-T, 09. Dezember 2003, S. 3 und Prosecutor v. Naser Orić, Decision on Prosecution`s Motion for the Admission of Written Statements of Witnesses VeseljkoBogićević, Novka Božić and Miladin Bogdanović Pursuant to Rule 92bis(C), Case No. IT-03-68-T, 02. November 2004, S. 3, in denen die Abgabe der Aussage mit Hilfe eines von der Kanzlei der Gerichts anerkannten Übersetzers, das Unterschreiben jeder Seite der Aussage durch den Zeugen und dessen Erklärung, dass die Aussage nach seiner besten Erinnerung wahr und freiwillig abgegeben sei, angeführt wurden. Siehe etwa Prosecutor v. Zlatko Aleksovski, Decision on Prosecutor`s Appeal on Admissibility of Evidence, Case No. IT-95-14/1-AR73, 16. Februar 1999, para. 15; Richter May in Prosecutor v. Kordić and Čerkez, Public Transcript of Hearing vom 21. Februar 2000, Case No. IT-95-14/2-T, 21. Februar 2000, Seite 14701: „… first of all, which, we will have to bear in mind, was not subject to cross-examination and, therefore, lacks that important support …“ (Hervorhebung Demko); Prosecutor v. Milan Milutinović et al., Decision on Prosecution`s Rule 92bis Motion, Case No. IT-0587-PT , 04. Juli 2006, para. 22: „… If the evidence is ultimately admitted, the Trial Chamber will have very much in mind the absence of the opportunity to cross-examine Mr. Russo when evaluating his evidence …“ (Hervorhebung Demko); Prosecutor v. Kordić and Čerkez, Decision on Appeal regarding Statement of a Deceased Witness, Case No. IT-95-14/2-AR73.5, 21. Juli 2000, para. 23 auf Prosecutor v. Zlatko Aleksovski bezugnehmend und para. 27: „… It was never subject to cross-examination by anyone …“ (Hervorhebung Demko).
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Verteidigung den Zeugen ausreichend befragen konnte2446 sowie, ob es sich um ein Zeugnis aus erster Hand oder um ein Zeugnis vom Hörensagen aus zweiter oder entfernterer Hand handelt.2447 Es findet zudem Beachtung, zu welcher Art von Übersetzungsvorgängen es gekommen ist2448 oder ob sich aus der Natur, Quelle („nature and source“2449) und anderen, den Inhalt, die Erhebung und/oder Aufzeichnung der Zeugenaussage betreffenden Umständen2450 – wie Erinnerungseinbussen aufgrund einer langen Zeitspanne zwi2446
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Siehe zum Erfordernis einer hinreichenden Befragung im Falle einer Anonymisierung des Zeugen Prosecutor v. DuškoTadić A/K/A ”Dule”, Decision on the Prosecutor`s Motion Requesting Protective Measures for Victims and Witnesses, Case No. IT-941-T, 10. August 1995, para. 71: „… the defence must be allowed ample opportunity to question the witness on issues unrelated to his or her identity or current whereabouts, such as how the witness was able to obtain the incriminating information but still excluding information that would make the true name traceable …“ (Hervorhebung Demko). Siehe etwa Prosecutor v. Zlatko Aleksovski, Decision on Prosecutor`s Appeal on Admissibility of Evidence, Case No. IT-95-14/1-AR73, 16. Februar 1999, para. 15; Prosecutor v. Kordić and Čerkez, Decision on Appeal regarding Statement of a Deceased Witness, Case No. IT-95-14/2-AR73.5, 21. Juli 2000, para. 23 auf Prosecutor v. Zlatko Aleksovski bezugnehmend und para. 27: „… In terms of whether it is "'firsthand' or more removed," it is not first-hand hearsay, but is more removed …“ Siehe etwa Prosecutor v. Kordić and Čerkez, Decision on Appeal regarding Statement of a Deceased Witness, Case No. IT-95-14/2-AR73.5, 21. Juli 2000, para. 27: „… Although statements can be taken through interpreters, the taking of this statement was more unusual. In this case, the investigator admitted that she did not speak Croatian, the language in which Mr. Haskić spoke, and relied on the interpreter's account of what he was saying. The statement of Mr. Haskić was then written in English by the investigator, whose native tongue is Dutch, and was then translated back into Croatian for the witness to sign it. These multiple translations in an informal setting create a much greater potential for inaccuracy than is the case when both the declarant and the witness speak the same language or when the original statement is given in court with professional, double-checked simultaneous translation …“ (Hervorhebung Demko); siehe auch Prosecutor v. Stanislav Galić, Decision on Interlocutory Appeal Concerning Rule 92bis(C), Case No. IT-98-29-AR73.2, 7. Juni 2002, para. 30 FN 56; siehe dazu auch KAMARDI, S. 283 f. ICTY-Regel 92bis (A) (ii) (b): «a party objecting can demonstrate that its nature and source renders it unreliable, or that its prejudicial effect outweighs its probative value» (Hervorhebung Demko); siehe dazu auch WANNEK, S. 52 ff. Siehe dazu etwa Richter May in Prosecutor v. Kordić and Čerkez, Public Transcript of Hearing vom 21. Februar 2000, Case No. IT-95-14/2-T, S. 14701, 14702 mit dem Verweis darauf, dass zu berücksichtigen sei, ob die Aussage unter Eid abgegeben worden sei: „… Nonetheless, it was not given under oath. Those are matters which we bear in mind …“; siehe auch Richter May in Prosecutor v. Kordić and Čerkez, Public Transcript of Hearing vom 10. März 2000, Case No. IT-95-14/2-T, S. 16449, 16450: „… The objections related to hearsay, lack of foundation, and authenticity, signature,
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
schen dem Geschehen und der Abgabe der Aussage,2451 Aussagewidersprüchen2452 oder Auffälligkeiten im Verhalten der Zeugenperson während der Vernehmung2453 – Anzeichen für die Unglaubwürdigkeit des Zeugenbeweises ergeben.
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b)
Grundlinien und Wesensgehalt des Konfrontationsrechts im nationalen Strafverfahren der Schweiz
aa)
Grundlinien des Konfrontationsrechts
In Bezug auf die Frage, in welcher Form das Konfrontationsrecht des Angeklagten im Grundsatz zu gewähren ist und welche zu dem Konfrontationsrecht gehörenden (Ausübungs-)Elemente als dem Angeklagten im Regelfall einzuräumen zu beachten sind, stellt die schweizerische Rechtsprechung in einer Vielzahl von Entscheidungen zunächst den zwischen Art. 6 III d EMRK und dem Recht auf ein faires Strafverfahren nach Art. 6 I EMRK bestehenden Zusammenhang voran, nach dem der Anspruch des Angeklagten auf Befragung von Belastungszeugen ein „besonderer Aspekt des Rechts auf ein faires Verfahren gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK“2454 ist und folglich das Konfrontationsrecht des Angeklagten betreffende Beurteilungen „unter dem Blickwinkel
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or relevance, or indeed other objections, are all matters which go to the weight of the evidence …“ (Hervorhebung Demko); siehe auch Prosecutor v. Kordić and Čerkez, Decision on Appeal regarding Statement of a Deceased Witness, Case No. IT-9514/2-AR73.5, 21. Juli 2000, para. 27: „… It was not given under oath … In terms of the truth of the matter asserted – the presence of the accused on a particular evening in a particular place – it appears not to have been corroborated by any other evidence … The statement was not made contemporaneously with the events in question, but some years afterwards …“ (Hervorhebung Demko); zu für die Glaubwürdigkeitsbeurteilung als wichtig erachteten Umständen siehe auch näher BOCK, S. 397 ff. mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen. Siehe dazu etwa Prosecutor v. Blagoje Simić et al., Judgement, Case No. IT-95-9-T, 17. Oktober 2003, para. 22; siehe dazu mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen auch näher BOCK, S. 398. Siehe dazu etwa Prosecutor v. Blagoje Simić et al., Judgement, Case No. IT-95-9-T, 17. Oktober 2003, para. 24; Prosecutor v. Fatmir Limaj et al., Judgement, Case No. IT-03-66-T, 30. November 2005, para. 13 zu Widersprüchen zu früheren Aussagen des Zeugen. Siehe dazu etwa Prosecutor v. Zoran Kupreškić et al., Decision on Appeal by Dragan Papić against Ruling to Proceed by Deposition, Case No. IT-95-16-AR73.3, 15. Juli 1999, para. 18; siehe dazu auch BOCK, S. 399. BG, 6B_45/2008, E. 2.3.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
beider Bestimmungen“2455 zu prüfen sind.2456 Dem Anspruch auf Befragung von Belastungszeugen komme im Grundsatz ein absoluter Charakter2457 zu und die Garantie des Art. 6 III d EMRK solle ausschliessen, „… dass ein Strafurteil auf Aussagen von Zeugen abgestützt wird, ohne dass dem Beschuldigten wenigstens einmal angemessene und hinreichende Gelegenheit gegeben wird, das Zeugnis in Zweifel zu ziehen und Fragen an den Zeugen zu stellen …“2458
858
Verwertet werden dürfen belastende Zeugenaussagen zum Nachteil des Angeklagten mithin „in der Regel nur nach erfolgter Konfrontation“,2459 verstanden im Sinne der im Grundsatz zu gewährenden „direkten Konfrontation“2460 bzw. „direkten Befragung“2461 des Belastungszeugen. Für die grundsätzlich zu gewährende direkte Konfrontation mit dem Belastungszeugen formuliert die Rechtsprechung nicht nur Anforderungen hinsichtlich der Frage, wie oft und in welchen Verfahrensabschnitten diese im Regelfall zu erfolgen hat,2462 sondern auch mit Bezug darauf, was für Teilelemente mit der Zeugenkonfrontation verbunden zu sein haben und in welcher Form diese dem Angeklagten im Regelfall einzuräumen sind.2463 In enger Anlehnung an die Rechtsprechung des EGMR ist nach Ansicht des BG eine im Verfahren gegebene „einmalige Gelegenheit“2464 des Beschuldigten, einen Belastungszeugen zu befragen, erforderlich, grundsätzlich aber auch ausreichend2465 und ein Anspruch auf eine weitere Befragung besteht grundsätzlich nicht,2466 vorausgesetzt, die
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BG, 6B_45/2008, E. 2.3; siehe auch BGE 131 I 476, S. 480 E. 2.2; BGE 127 I 73 E. 3 f.; BGE 125 I 127, S. 132 E. 6 a.: „… sind die spezifischen Aspekte der Befragung von Zeugen am allgemeinen Prinzip des fairen Verfahrens zu messen …“ Siehe dazu schon DONATSCH/LIEBER, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, § 14 N 1, 5. Siehe dazu etwa BG, 6B_45/2008, E. 2.3; BG, 6B_708/2007, E. 4.4.2; BGE 131 I 476, S. 481 E. 2.2; BGE 129 I 151, S. 154 E. 3.1. BG, 6B_45/2008, E. 2.3 (Hervorhebung Demko). BG, 6B_45/2008, E. 2.3; siehe auch BG, 6B_708/2007, E. 2.1.; BGE 131 I 476, S. 481 E. 2.2. BG, 6B_45/2008, E. 2.4. BG, 6B_45/2008, E. 2.5; siehe auch BGE 125 I 127, S. 136: „Grundsatz der direkten Befragung“. Siehe zu dem damit angesprochenen zeitlichen Schutzbereich die näheren Ausführungen unter Kap. 5 C. II. 2. b) bb). Zu dem damit angesprochenen sachlichen Schutzbereich siehe die näheren Ausführungen unter Kap. 5 C. II. 2. b) cc). BGE 125 I 127, S. 136 E. 6. c. ee., 133 E. 6. b.: „… Eine einmalige Gelegenheit hierfür genüge …“; BGE 131 I 476, S. 480 E. 2.2.; BGE 132 I 127 E. 2: „wenigstens einmal während des Verfahrens“. Siehe etwa BGE 125 I 127, S. 136 E. 6. c. ee: „genügt grundsätzlich“. Siehe etwa BGE 125 I 127, S. 136 E. 6. c. ee.
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Gelegenheit der Befragung war „angemessen und ausreichend“2467 und die Befragung konnte „tatsächlich wirksam ausgeübt werden“,2468 so dass die Verteidigungsrechte des Angeklagten gewahrt wurden.2469 Diese dem Angeklagten grundsätzlich einmal im Laufe des Verfahrens zu gewährende Gelegenheit zur Befragung des Belastungszeugen kann entweder 860
„… im Zeitpunkt des Zeugnisses selbst (etwa dadurch, dass der Beschuldigte der Zeugenbefragung direkt beiwohnt) oder später erfolgen …“2470
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Wird dem Konfrontationsrecht des Angeklagten in der Schweiz ein grundsätzlich absoluter Charakter zugesprochen, so ist aber zugleich hervorgehoben, dass „unter besonderen Umständen“2471 die Ausübung des Konfrontationsrechts des Angeklagten und der mit diesem in Verbindung stehenden Teilbefugnisse – wie des Rechts auf Anwesenheit des Angeklagten bei der Zeugenbefragung und auf Wahrnehmung der Zeugenperson während der Zeugenbefragung, des Rechts des Angeklagten auf Kenntnis der Identität der Zeugenperson sowie des Rechts auf Stellen von Ergänzungsfragen, womit das (Haupt-)Ausübungsrecht des Fragerechts im engen Sinne angesprochen ist2472 – eingeschränkt werden kann.2473 Die (etwas missverständlich) gewählte Formulierung vom dem «grundsätzlich absoluten Charakter» bedeutet mithin nicht eine vollständige und ausnahmslose Uneinschränkbarkeit des Konfrontationsrechts, sondern betont vielmehr den Gesichtspunkt, dass dieses Verteidigungsrecht für seine «beste» Gewährleistung dem Angeklagten im Grundsatz uneingeschränkt einzuräumen ist. Die Vielfalt an im Strafverfahren zu beachtenden und in einen Ausgleich miteinander zu bringenden Rechten und (Rechts-)Werten in den Blick nehmend, gilt es aber zugleich, den „gewisse(n)
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BGE 125 I 127, S. 137 E. 6. c. ee. (Hervorhebung Demko). BGE 125 I 127, S. 137 E. 6. c. ee. (Hervorhebung Demko). Siehe BGE 125 I 127, S. 137 E. 6. c. ee., ff.: „… Zur Wahrung der Verteidigungsrechte ist erforderlich, dass die Gelegenheit der Befragung eines Belastungszeugen angemessen und ausreichend ist und die Befragung tatsächlich wirksam ausgeübt werden kann …“ (E. 6. c. ff., Hervorhebung Demko); siehe dazu auch DONATSCH/LIEBER, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, § 14 N 7. BGE 125 I 127, S. 136, 137 E. 6. c. ee., siehe auch S. 132, 133 E. 6.b.: „… entweder zu dem Zeitpunkt, zu dem dieser seine Aussage macht, oder in einem späteren Verfahrensstadium …“ BGE 124 I 274, S. 285. Siehe dazu bereits unter Kap. 5 I. 3. Siehe etwa BGE 124 I 274, S. 285: „… Die Befragung von belastenden oder entlastenden Zeugen ist indessen auch in diesem Sinne nicht absolut. Es kann mit der Natur eines fairen Verfahrens unter besonderen Umständen vereinbar sein, von einer solchen Befragung abzusehen …“ (Hervorhebung Demko).
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Konflikt“2474 zu berücksichtigen, der hier insbesondere zwischen den Zeugenrechten und -interessen einerseits und den Rechten und Interessen der Verteidigung andererseits besteht und welcher nach einer Abwägung und Ausbalancierung zwischen den unterschiedlichen Rechten/Interessen verlangt,2475 weshalb sich anknüpfend an das Postulat des Zeugenschutzes ausnahmsweise Einschränkungen in der Ausübung des Konfrontationsrechts als gerechtfertigt darstellen können.2476 Für die die Wesensgehaltsebene des Konfrontationsrechts ansprechende Frage danach, was dem Angeklagten mit diesem Verteidigungsrecht in seiner sowohl uneingeschränkten als auch eingeschränkten Ausübungsform zu gewährleisten ist, um von einem tatsächlich wirksam eingeräumten Konfrontationsrecht sprechen zu können, wird das Konfrontationsrecht mit der dem Angeklagten zu gewährenden wirksamen Verteidigung im Straf- und Beweisverfahren in Verbindung gesetzt, wird die Einbettung des Konfrontationsrechts des Angeklagten in seinen Anspruch auf ein faires Strafverfahren nach Art. 6 I EMRK betont sowie wird zudem die Verknüpfung des Konfrontationsrechts mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör und den zu wahrenden Verteidigungsrechten herausgehoben.2477 Diese Verknüpfung zwischen Kon2474 2475
2476
2477
BGE 131 I 476, S. 485 E. 2.3.2. Siehe etwa BGE 131 I 476, S. 484, 485 E. 2.3.2: Mit Blick auf den Opferschutz wird betont, dass „die Interessen der Verteidigung und diejenigen des Opfers im Lichte von Art. 8 EMRK gegeneinander abgewogen werden müssen“ (S. 284); siehe dazu auch HÄRING, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 146 N 13: „Ausgleich der widerstreitenden Interessen“ (Hervorhebung Häring); PIETH, Strafprozessrecht, S. 86: „Dilemma zwischen Verteidigungsinteresse und Schutzinteresse der Aussageperson“ (hier kursive, im Originaltext fettgedruckte Hervorhebung Pieth). Zu den angelegten Einschränkungsvoraussetzungen und möglichen Einschränkungsformen siehe die näheren Ausführungen unter Kap. 5 C. II. 3. b); siehe zu unterschiedlichen Einschränkungen des Konfrontationsrechts auch näher RIKLIN, StPO Kommentar, Vorbem. Art. 147 f. N 6 ff. und hier insbesondere N 11; zum grundsätzlich absoluten Charakter sowie zu Ausnahmen vom absoluten Charakter des Konfrontationsrechts auch HÄRING, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 146 N 15, 16; DONATSCH/LIEBER, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, § 14 N 7, 8. Siehe etwa BGE 131 I 476, S. 480 E. 2.2: Anspruch des Angeklagten auf Befragung des Belastungszeugen als „Konkretisierung des rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV) auch durch Art. 32 Abs. 2 BV gewährleistet. Ziel der genannten Normen ist die Wahrung der Waffengleichheit und die Gewährung eines fairen Verfahrens“, siehe S. 481 E. 2.2 zu den zu wahrenden Verteidigungsrechten; BGE 132 I 127 E. 2 a.E.: „ob sich der Beschuldigte trotzdem wirksam verteidigen konnte, er mithin einen fairen Prozess hatte“; BG, 6_ 45/2008 E. 2.3; BG, 6B_802/2007 E. 2.1; deutlich auch BG, 6B_708/2007 E. 4.4.3, wonach die Zeugenaussagen nur hätten verwendet werden dürfen, „… wenn die Mitwirkungsrechte des Beschwerdeführers eingehalten worden wären …“ Da dies nach Ansicht des BG im vorliegenden Fall nicht gegeben war, die
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
frontationsrecht, rechtlichem Gehör und Verteidigungsrechten des Angeklagten geht auch aus einigen Bestimmungen der StPO ausdrücklich hervor, welche bei Einschränkungen in der Ausübung des Konfrontationsrechts des Angeklagten verlangen, dass dessen rechtliches Gehör und dessen Verteidigungsrechte auf andere Weise zu wahren sind.2478 In Art. 149 Abs. 5 StPO heisst es insofern: 863
«Die Verfahrensleitung sorgt bei allen Schutzmassnahmen für die Wahrung des rechtlichen Gehörs der Parteien, insbesondere der Verteidigungsrechte der beschuldigten Person.»2479
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Das häufig mit der dem Angeklagten in jedem Falle zu gewährenden Gelegenheit zur hinreichenden Stellungnahme2480 verbundene Erfordernis der Wahrung der Verteidigungsrechte des Angeklagten ist bereits in der früheren Rechtsprechung hervorgehoben worden: Neben nur kurzen Verweisen auf das „in den Rahmen des Anspruchs auf rechtliches Gehör sich einfügende(n) Fragerecht“2481 und den in Art. 6 Abs. 1 EMRK enthaltenen «fair trial»Grundsatz, wonach „jedermann Anspruch darauf hat, dass seine Sache in billiger Weise gehört wird“,2482 beschäftigt sich das BG etwa in BGE 116 Ia 289 in ausführlicher(er) Weiser mit dem Zusammenspiel von Art. 6 III d EMRK und Art. 6 I EMRK. Auch hier ist im Zusammenhang mit der Beurteilung einer hinreichenden Ausübung des Konfrontationsrechts des Angeklagten auf die „durch Art. 6 EMRK sowie Art. 4 BV garantierten Ansprüche(n) auf ein faires Verfahren und auf rechtliches Gehör“2483 und auf die erforderli-
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Vorinstanz aber dennoch auf die fraglichen Aussagen zulasten des Beschwerdeführers abstellte, „… hat sie den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) wie auch das Verteidigungsrecht nach Art. 32 Abs. 2 BV verletzt. Ziel der genannten Normen ist die Wahrung der Waffengleichheit und die Gewährung eines fairen Verfahrens“; BGE 129 I 151 E. 3.1; KassG, ZR 98 (1999) Nr. 63, S. 301, 304. Siehe etwa Art. 149 Abs. 5 StPO und Art. 152 Abs. 3 S. 2 StPO, wonach dem «Anspruch der beschuldigten Person auf rechtliches Gehör auf andere Weise Rechnung» zu tragen ist, siehe auch Abs. 4 a. Zudem siehe auch Art. 147 Abs. 3 S. 2 StPO: «dem Anspruch der Partei auf rechtliches Gehör, insbesondere dem Recht, Fragen zu stellen, auf andere Weise Rechnung getragen werden kann», Art. 153 Abs. 2 StPO, Art. 154 Abs. 4 a StPO. Siehe des Weiteren die ausdrückliche Aufführung des Gebotes, allen Verfahrensbeteiligten rechtliches Gehör zu gewähren, in dem die Achtung der Menschenwürde und das Fairnessgebot regelnden Art. 3 Abs. 2 Buchst. c. StPO. Vgl. dazu etwa SCHLEIMINGER, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 147 N 20. Hervorhebung Demko. Siehe etwa BGE 131 I 476, S. 482 E. 2.2; BGE 116 Ia 289, S. 292; KassG, ZR 83 (1984) Nr. 27, S. 83, 84; KassG, ZR 95 (1996) Nr. 10, S. 27, 29. BGE 103 Ia 490, S. 491. BGE 113 Ia 412, S. 421. BGE 116 Ia 289, S. 293.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
che „nur einmalige Gelegenheit zur Stellungnahme“2484 abgestellt worden. Mit Blick darauf, dass der Angeklagte mit dieser Gelegenheit zur Stellungnahme seine Verteidigungsrechte aber auch tatsächlich wirksam ausüben können muss, heisst es: „… Wie die übrigen in Ziff. 3 von Art. 6 EMRK gewährleisteten Garantien ist auch das in lit. d enthaltene Recht auf Befragung der Belastungszeugen Ausfluss und Konkretisierung des Anspruchs des Angeklagten auf ein faires Verfahren; es ist daher immer im Zusammenhang mit Art. 6 Ziff. 1 zu sehen … Grundlegendes Element dieses Anspruchs auf ein "fair hearing" oder, nach der deutschen Übersetzung, auf Anhörung "in billiger Weise" bildet die Garantie, dass dem Angeklagten in tatsächlicher wie in rechtlicher Hinsicht ausreichende und angemessene Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt wird und er gegenüber der Anklagebehörde nicht benachteiligt wird …“2485
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Den Zusammenhang zwischen dem Konfrontationsrecht, dem Anspruch auf ein faires Strafverfahren, der Waffengleichheit, dem Anspruch auf rechtliches Gehör und den Verteidigungsrechten des Angeklagten aufzeigend,2486 macht die Rechtsprechung deutlich, dass für den Angeklagten trotz Einschränkungen in der Ausübung seines Konfrontationsrechts die Möglichkeit bestehen muss, auf das Verfahren und das Ergebnis der Beweisführung – mit Blick sowohl auf die Belastungszeugen als auch auf das Strafverfahren insgesamt – tatsächlich wirksam Einfluss zu nehmen.2487 Zu diesem damit von der Sache her angesprochenen Gesichtspunkt der dem Angeklagten – und zwar auch im Fall eines nur eingeschränkt ausübbaren Konfrontationsrechts – zu gewährenden materiellen Beweisteilhabe heisst es unter Aufzeigen der dem Angeklagten zu ermöglichenden Einflussnahme auf den Entstehungs- und (oder
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BGE 116 Ia 289, S. 292. BGE 116 Ia 289, S. 292 (hier kursive, im Original fettgedruckte Hervorhebung BG: «Art. 6 EMRK», übrige Hervorhebung Demko). Siehe etwa BGE 116 Ia 289 S. 292, BGE 127 I 54, S. 56 E. 2 b), wo es mit Bezug auf das rechtliche Gehör heisst: „… Das rechtliche Gehör dient einerseits der Sachaufklärung, anderseits stellt es ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht beim Erlass eines Entscheids dar, welcher in die Rechtsstellung des Einzelnen eingreift. Dazu gehört insbesondere das Recht des Betroffenen, sich vor Erlass eines in seine Rechtsstellung eingreifenden Entscheids zur Sache zu äussern und an der Erhebung wesentlicher Beweise entweder mitzuwirken oder sich zumindest zum Beweisergebnis zu äussern, wenn dieses geeignet ist, den Entscheid zu beeinflussen …“; ausführlich zum rechtlichen Gehör und dazu, wie der Angeklagte auf Gang und Ergebnis des Verfahrens einwirken können muss, auch BGE 124 I 241, S. 242 E. 2 mit weiteren Nachweisen; siehe zudem BG, 6B_802/2007 E. 2.1; BGE 126 I 15 E. 2a/aa. Siehe etwa BGE 131 I 476, S. 480 E. 2.2, 481 E. 2.2; BGE 132 I 127 E. 2 a.E.; BG, 6B_802/2007 E. 2.1; BG, 6B_708/2007 E. 4.4.3.; BG, 6B_ 45/2008 E. 2.3.; siehe dazu auch HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, S. 243 N 8: Einflussnahme auf die Gestaltung des Verfahrens als Auswirkung des rechtlichen Gehörs.
563
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
jedenfalls) Bewertungsprozess des (Zeugen-)Beweismittels etwa in der Entscheidung des BG vom 15. April 2008: 867
„… Der Anspruch auf rechtliches Gehör gemäss Art. 29 Abs. 2 BV umfasst das Recht, mit erheblichen Beweisanträgen gehört zu werden und an der Erhebung wesentlicher Beweise entweder mitzuwirken oder sich zumindest zum Beweisergebnis zu äussern, wenn dieses geeignet ist, den Entscheid zu beeinflussen …“2488
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Mit Bezug auf die Frage, wann das auch im Fall einer Einschränkung der Ausübung des Konfrontationsrechts bestehende Erfordernis der dem Angeklagten zu gewährenden tatsächlich wirksamen Verteidigung im Straf- und Beweisverfahren als erfüllt anzusehen ist, führt das BG in der Entscheidung vom 23. April 2008 an:
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„… Damit die Verteidigungsrechte gewahrt sind, ist erforderlich, dass die Gelegenheit der Befragung angemessen und ausreichend ist und die Befragung tatsächlich wirksam ausgeübt werden kann …“2489
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Jenes Erfordernis einer tatsächlich wirksam ausübbaren Befragung des Belastungszeugen ist in einen engen Zusammenhang mit der dem Angeklagten mittels seines Konfrontationsrechts einzuräumenden Möglichkeit einer Einflussnahme auf den Prozess der Glaubwürdigkeitsüberprüfung des belastenden Zeugenbeweises gestellt und es ist damit gleichsam der Wesensgehalt des Konfrontationsrechts sichtbar gemacht:
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„… Damit die Verteidigungsrechte gewahrt sind, ist erforderlich, dass die Gelegenheit der Befragung angemessen und ausreichend ist und die Befragung tatsächlich wirksam ausgeübt werden kann. Der Beschuldigte muss namentlich in der Lage sein, die Glaubhaftigkeit einer Aussage prüfen und den Beweiswert in kontradiktorischer Weise auf die Probe und in Frage stellen zu können … Das kann entweder zum Zeitpunkt erfolgen, zu dem der Belastungszeuge seine Aussage macht, oder auch in einem späteren Verfahrensstadium …“2490
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BG, 6B_802/2007 E. 2.1 (Hervorhebung Demko); siehe auch BGE 127 I 54, S. 56 E. 2 b); BGE 126 I 15 E. 2a/aa. BG, 6B_708/2007, E. 4.4.2. (Hervorhebung Demko); zu diesem in der Rechtsprechung wiederholt betonten Gesichtspunkt siehe auch BGE 131 I 476, S. 481 E. 2.2; BGE 129 I 151, S. 157 E. 4.2.; siehe dazu auch WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 147 N 14: „angemessene und geeignete Möglichkeit“ (im Originaltext fettgedruckte Hervorhebung Wohlers); siehe zur tatsächlich wirksamen Ausübung auch DONATSCH/LIEBER, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, § 14 N 17. BGE 131 I 476, S. 481 E. 2.2 (Hervorhebung Demko); siehe auch BGE 129 I 151, S. 157 E. 4.2.: „… Zur Wahrung der Verteidigungsrechte ist erforderlich, dass die Gelegenheit der Befragung angemessen und ausreichend ist und die Befragung tatsächlich wirksam ausgeübt werden kann. Der Beschuldigte muss namentlich in der Lage
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
bb)
Wesensgehalt des Konfrontationsrechts
Hinsichtlich der Frage, was speziell mit Blick auf die Befragung eines Belastungszeugen zur Wahrung der Verteidigungsrechte des Angeklagten als erforderlich angesehen wird, um davon sprechen zu können, dass dieser (auch) bei (eingeschränkter) Ausübung seines Konfrontationsrechts (dennoch) die Möglichkeit hat, das Verfahren und Ergebnis der Beweisführung im Zusammenhang mit jenem belastenden Zeugenbeweis wirksam zu beeinflussen, ist eine für den Angeklagten tatsächlich bestehen müssende Möglichkeit, auf die Überprüfung des Wahrheits- und Beweiswertes des Zeugenbeweises Einfluss nehmen zu können, verlangt. Zutreffend sprechen Donatsch/Lieber von einem „zentrale(n) kontradiktorische(n) Element der spezifisch prozessualen Wahrheits- und Rechtsfindung …, da es die richterliche Urteilsbasis um die Perspektive des Angesch. erweitert“.2491 In Bezug auf die Kriterien, die die Rechtsprechung nicht nur zur Beurteilung des Wahrheitsgehaltes eines Zeugenbeweises, sondern auch mit Blick auf die Wahrung der Verteidigungsrechte des Angeklagten im Zusammenhang mit seinem Konfrontationsrecht für massgebend erachtet,2492 wird auf die Zeugenaussage und die diese Aussage tätigende Zeugenperson abgestellt,2493 wobei sich aber die für die Beurteilung des Wahrheitsgehaltes des Zeugenbeweises als entscheidend anzusehenden Kriterien im Laufe der Rechtsprechung geändert haben.
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Wurde zur Beurteilung des Wahrheitsgehaltes der Zeugenaussage früher das „Gewicht auf die allgemeine Glaubwürdigkeit eines Zeugen im Sinne einer dauerhaften personalen Eigenschaft“2494 gelegt, hat sich die Einschätzung
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sein, die Glaubhaftigkeit einer Aussage prüfen und den Beweiswert auf die Probe und in Frage stellen zu können …“ (Hervorhebung Demko). DONATSCH/LIEBER, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, § 14 N 5 (Hervorhebung Demko); siehe dazu auch SCHEIDEGGER, S. 236 f.; TRECHSEL, Human Rights, S. 292 f. Siehe auch HÄRING, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 146 N 6, 7 zu dem Zweck der Gegenüberstellungen/Konfrontationen, welche in mehrere Richtungen wirken und hier der Wahrheitsfindung und Klärung des Sachverhaltes (N 6) wie auch der Wahrung der Verteidigungsrechte (N 7) dienen; zudem zutreffend DONATSCH/ LIEBER, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, § 14 N 6, wonach das Konfrontationsrecht „im Interesse der Wahrheitsfindung …“ liege sowie der Legitimation des Verfahrens und des Urteils gegen den Angeklagten diene, weil dem Angeklagten „in einem fairen Verfahren die Möglichkeit zur Beeinflussung des Entscheids gewährt wurde“ (Hervorhebung Demko). Siehe etwa BGE 129 I 49, S. 58, 59 E. 5. BGE 133 I 33, S. 45 (Hervorhebung Demko); siehe auch BG, Urt. v. 26.02.2008, 6B_684/2007/bri, E. 4.6.: „Der Glaubwürdigkeit von Zeugen im Sinne einer dauerhaften personalen Eigenschaft kommt nach neueren Erkenntnissen kaum mehr relevantes Gewicht zu … Insbesondere erlaubt die Glaubwürdigkeit der Person keine sicheren
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
dessen, was den Wahrheits- und Beweiswert einer Zeugenaussage ausmacht, aufgrund neuerer aussagepsychologischer Erkenntnisse, welche von der schweizerischen Rechtsprechung aufgegriffen worden sind, geändert: Nicht mehr die allgemeine Glaubwürdigkeit der Zeugenperson im Sinne einer dauerhaften personalen Eigenschaft, sondern vielmehr die spezielle Glaubwürdigkeit der konkreten, sich auf ein bestimmtes Tatgeschehen beziehenden Zeugenaussage einer bestimmten Zeugenperson – auch als Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage bezeichnet2495 – ist für die Beurteilung des Wahrheitsgehaltes einer Zeugenaussage als ausschlaggebend angesehen.2496 Auf diese „veränderte(n) Einschätzung dessen, was den Beweiswert einer Zeugenaussage ausmacht“,2497 weist das BG etwa in BGE 133 I 33 ausdrücklich hin, wonach die Einschränkung der Verteidigungsrechte im Zusammenhang mit der Befragung eines gegenüber dem Angeklagten und seinem Verteidiger optisch und akustisch abgeschirmten Belastungszeugen aber auch 874
„… (M)assvoll ist … aufgrund einer veränderten Einschätzung dessen, was den Beweiswert einer Zeugenaussage ausmacht. Hat nämlich die Strafjustiz früher bei der
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Rückschlüsse auf die Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen …“; siehe auch BGE 128 I 81, S. 86. Zu der unterschiedlichen und nicht einheitlichen Benutzung der Begriffe der Glaubwürdigkeit und Glaubhaftigkeit und dem hier verwendeten Begriff der Glaubwürdigkeit des Zeugenbeweises, mit dem die spezielle Glaubwürdigkeit bzw. Glaubhaftigkeit einer konkreten Zeugenaussage einer bestimmten Zeugenperson gemeint ist, siehe die näheren Erklärungen im Rahmen der aussagepsychologischen Ausführungen unter Kap. 5 A. II. 1. Siehe dazu etwa BGE 133 I 33, S. 45; BG, Urt. v. 26.02.2008, 6B_684/2007/bri, E. 4.6; BGE 129 I 49, S. 58, 59 E. 5: „… Bei der Abklärung des Wahrheitsgehaltes von Zeugenaussagen hat sich die so genannte Aussageanalyse weitgehend durchgesetzt. Nach dem empirischen Ausgangspunkt der Aussageanalyse erfordern wahre und falsche Schilderungen unterschiedliche geistige Leistungen. Überprüft wird dabei in erster Linie die Hypothese, ob die aussagende Person unter Berücksichtigung der Umstände, der intellektuellen Leistungsfähigkeit und der Motivlage eine solche Aussage auch ohne realen Erlebnishintergrund machen könnte. Methodisch wird die Prüfung in der Weise vorgenommen, dass das im Rahmen eines hypothesengeleiteten Vorgehens durch Inhaltsanalyse (aussageimmanente Qualitätsmerkmale, so genannte Realkennzeichen) und Bewertung der Entstehungsgeschichte der Aussage sowie des Aussageverhaltens insgesamt gewonnene Ergebnis auf Fehlerquellen überprüft und die persönliche Kompetenz der aussagenden Person analysiert werden. Bei der Glaubhaftigkeitsbegutachtung ist immer davon auszugehen, dass die Aussage auch nicht realitätsbegründet sein kann. Ergibt die Prüfung, dass diese Unwahrhypothese (Nullhypothese) mit den erhobenen Fakten nicht mehr in Übereinstimmung stehen kann, so wird sie verworfen. Es gilt dann die Alternativhypothese, dass die Aussage wahr sei. Erforderlich ist dafür besonders auch die Analyse der Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Aussage …“ (Hervorhebung Demko). BGE 133 I 33, S. 45 E. 4.3.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen Würdigung von Zeugenaussagen Gewicht auf die allgemeine Glaubwürdigkeit eines Zeugen im Sinne einer dauerhaften personalen Eigenschaft gelegt, so kommt diesem Gesichtspunkt nach neueren Erkenntnissen kaum mehr relevante Bedeutung zu … Weitaus bedeutender für die Wahrheitsfindung als die allgemeine Glaubwürdigkeit ist die Glaubhaftigkeit der konkreten Aussage, welche durch methodische Analyse ihres Inhalts darauf überprüft wird, ob die auf ein bestimmtes Geschehen bezogenen Angaben einem tatsächlichen Erleben des Zeugen entspringen. Damit eine Aussage als zuverlässig gewürdigt werden kann, ist sie insbesondere auf das Vorhandensein von Realitätskriterien … und umgekehrt auf das Fehlen von Phantasiesignalen … zu überprüfen. Dabei wird zunächst davon ausgegangen, dass die Aussage gerade nicht realitätsbegründet ist, und erst wenn sich diese Annahme (Nullhypothese) aufgrund der festgestellten Realitätskriterien nicht mehr halten lässt, wird geschlossen, dass die Aussage einem wirklichen Erleben entspricht und wahr ist … Ist dieses aber die Methode, mit welcher Aussagen auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft werden …“2498
Als für die Beurteilung des Wahrheitsgehaltes des Zeugenbeweises entscheidend ist – auch nach der sich nunmehr in der Rechtsprechung durchsetzenden Ansicht2499 – auf die Zeugenaussage an sich und die methodische Analyse ihres Inhaltes abzustellen,2500 dafür aber auch die diese Aussage tätigende 2498 2499
2500
BGE 133 I 33, S. 45 E. 4.3 (Hervorhebung Demko). Obwohl von der Rechtsprechung die Erkenntnisse der Aussagepsychologie erkannt und die Massgeblichkeit der Zeugenaussage und ihrer speziellen Glaubwürdigkeit für die Ermittlung des Wahrheitsgehaltes eines Zeugenbeweises ausdrücklich betont werden, wird auf das Kriterium der allgemeinen Glaubwürdigkeit des Zeugen scheinbar nicht durchweg verzichtet, sondern auf dieses einmal mehr, einmal weniger ausdrücklich zum Teil zurückgegriffen. So heisst es selbst in BGE 33 I 133, in der das BG ausdrücklich betont, dass es nach nunmehr veränderter Einschätzung zum Beweiswert einer Zeugenaussage nicht mehr auf die allgemeine Glaubwürdigkeit eines Zeugen, sondern auf die Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage ankomme, dass eine anonymisierte Zeugenaussage u.a. nur statthaft sei, wenn „der Zeuge durch das Gericht selber befragt wird, seine Identität und allgemeine Glaubwürdigkeit durch das Gericht einer Überprüfung unterzogen wird …“ (S. 45 E. 4.3, Hervorhebung Demko), siehe auch S. 38 E. 2.3 und S. 43 E. 4.1, wo von der Überprüfung des Leumundes des Zeugen die Rede ist; BGE 132 I 127, S. 134 E. 4.3: Überprüfung, dass die Zeugen „über einen einwandfreien allgemeinen und automobilistischen Leumund verfügen“ (Hervorhebung Demko). Trotz sachlicher Abkehr von der allgemeinen Glaubwürdigkeit des Zeugen und des Abstellens auf die spezielle Glaubwürdigkeit der Zeugenaussage werden die Begriffe «Glaubwürdigkeit/Glaubhaftigkeit» nicht immer einheitlich verwendet und es ist teils von der Glaubwürdigkeit, teils von der Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage die Rede, auch wenn damit in der Sache die auf die konkrete Zeugenaussage abstellende spezielle Glaubwürdigkeitsprüfung und nicht die Prüfung der allgemeinen Glaubwürdigkeit der Zeugenperson gemeint ist, siehe etwa BGE 129 I 49, S. 52, 57: „Glaubwürdigkeit der Aussagen“ (S. 52), „Glaubhaftigkeit von Aussagen“ (S. 57); BGE 128 I 81, S. 83, 86: „Glaubwürdigkeit der Aussagen“ (S. 83), „Glaubhaftigkeit der Aussa-
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Zeugenperson mit ihren persönlichen Kompetenzen, Motiven und ihrem Aussageverhalten2501 in den Blick zu nehmen sowie die Entstehungsgeschichte2502 der Zeugenaussage zu beachten.2503 All jene Aspekte einbeziehend ist danach zu fragen, ob diese
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gen und Glaubwürdigkeit der Person“ (S. 86); zur sich durchsetzenden Aussageanalyse siehe auch BGE 129 I 49, S. 58, 59 Erw. 5. Siehe etwa BGE 129 I 49, S. 58, 59 E. 5; BGE 118 Ia 28, S. 31; Kassationshof, 10.04.2001, 6P.46/20007hev/6S.199/2000 E. 3.c). Siehe etwa BGE 129 I 49, S. 58, 59 E. 5, S. 59, 60 Erw. 6.1: „… Die akribische Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte einer Aussage, besonders der Umstände der Erstbekundung, der so genannten Geburtsstunde der Aussage, ist unabdingbarer Bestandteil der Motivanalyse … Die zu beurteilende Aussage soll aber ein originäres "Produkt" des Aussagenden darstellen, weshalb die Rekonstruktion der Entstehungsbedingungen einer Aussage und ihre weitere Entwicklung wichtige Bestandteile der aussagepsychologischen Glaubhaftigkeitsbegutachtung sind …“ (S. 59, 60, Hervorhebung Demko), siehe auch die weiteren Ausführungen auf den S. 58 ff. zur Bedeutung der Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte der Aussage als wichtigem Bestandteil der aussagepsychologischen Glaubhaftigkeitsbegutachtung und zu der damit zusammenhängenden Notwendigkeit einer ordnungsgemässen Protokollierung der Aussagen (E. 6.1) sowie zu der Bedeutung des freien Berichts (E. 6.3); zur Prüfung der Aussagegenese und zum Zusammenspiel zwischen (suggestiven) Fragen und den Antworten des Zeugen siehe auch BGE 128 I, 81, S. 89, 90. Siehe dazu eingehend etwa in der Entscheidung BG, 6B_760/2010, E. 2.3 und 2.4: „… Bei Besonderheiten in der Person oder der Entwicklung des (Opfer-)Zeugen kann eine Begutachtung in Betracht kommen, mit der die Aussagequalität bzw. die Glaubhaftigkeit der Aussage abgeklärt werden soll. Es ist dabei Aufgabe des Sachverständigen, auf Grundlage der mit wissenschaftlichen Methoden erhobenen und ausgewerteten Befunde und Anknüpfungstatsachen eine Wahrscheinlichkeitseinschätzung des Erlebnisbezugs einer Aussage abzugeben. Der hierzu notwendige diagnostische Prozess folgt der Leitfrage, ob die aussagende Person unter Berücksichtigung der konkreten Umstände, der intellektuellen Leistungsfähigkeit und der Motivlage die zu beurteilende Aussage auch ohne realen Erlebnishintergrund machen könnte. Methodisch wird die Prüfung in der Weise vorgenommen, dass das im Rahmen eines hypothesengeleiteten Vorgehens durch Inhaltsanalyse (aussageimmanente Qualitätsmerkmale, sogenannte Realkennzeichen) und Bewertung der Entstehungsgeschichte der Aussage sowie des Aussageverhaltens insgesamt gewonnene Ergebnis auf Fehlerquellen überprüft und die persönliche Kompetenz der aussagenden Person analysiert wird. Bei der Glaubhaftigkeitsbegutachtung ist immer davon auszugehen, dass die Aussage auch nicht realitätsbegründet sein kann. Ergibt die Prüfung, dass diese Unwahrheitshypothese mit den erhobenen Fakten nicht (mehr) kompatibel ist, wird sie verworfen. Es gilt dann die Gegenhypothese, die Wahrheitsannahme … Der Erstaussage kommt in der Aussagepsychologie aufgrund gedächtnispsychologischer Voraussetzungen entscheidende Bedeutung zu. Die sachgerechte Durchführung der primären Einvernahme insbesondere von kindlichen Opferzeugen und ihre Dokumentation ist deshalb eminent wichtig. Für eine sorgfältige aussagepsychologische Analyse ist wesentlich,
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen „… aussagende Person unter Berücksichtigung der Umstände, ihrer intellektuellen Leistungsfähigkeit und der Motivlage eine solche Aussage auch ohne realen Erlebnishintergrund machen könnte …“2504
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Hinsichtlich der Beurteilung des Wahrheitsgehaltes des Zeugenbeweises sind im schweizerischen Strafverfahren mithin die Zeugenaussage und ihr durch die fachlichen Standards der sog. Aussageanalyse zu ermittelnder Inhalt von massgebender Bedeutung, wobei die Zeugenaussage im Rahmen dieser aussagepsychologischen Begutachtung aber nicht isoliert von ihrem Urheber, der aussagenden Zeugenperson, und von den die Aussageentstehung begleitenden Umständen – wozu u.a. auch die Umstände der Vernehmungs- und Befragungssituation sowie die die Aufzeichnung der Aussage betreffenden Umstände2505 gehören – betrachtet wird. Vielmehr fliessen in die Beurteilung des Wahrheitsgehaltes eines Zeugenbeweises über die nunmehr für massgebend erachtete Inhaltsanalyse der konkreten Zeugenaussage sowohl die Zeugenaussage an sich und ihre (u.a. durch die Vernehmungs- und Befragungssituation sie prägenden2506) Entstehungs- und Entwicklungsbedingungen als auch die Beurteilung der Zeugenperson betreffend ihrer persönlichen Kompetenzen, intellektuellen Leistungsfähigkeiten und Motivlagen ein.2507
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Ebenso wie für die Wahrheitsermittlung eines Zeugenbeweises die Zeugenaussage und die Zeugenperson von Bedeutung sind, wird auch zur Wahrung der Verteidigungsrechte des Angeklagten im Zusammenhang mit seinem Konfrontationsrecht und etwaigen Einschränkungen in der Ausübung desselben sowohl auf die Zeugenaussage als auch auf die diese Aussage tätigende Zeugenperson abgestellt2508 und verlangt, dass der Angeklagte in die Lage zu
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dass das Gespräch auf Video oder Tonband aufgezeichnet wird, da die üblichen, in "amtliches" Erwachsenenschriftdeutsch umformulierten, in erster Linie zumeist in Mundart gemachten Kinderaussagen für eine weitere Analyse praktisch wertlos sind, vor allem wenn die jeweiligen Fragen nicht mitprotokolliert werden … Die zu beurteilenden Aussagen sollen ein originäres "Produkt" des Aussagenden sein“ (Hervorhebung Demko). BG, Urt. v. 26.02.2008, 6B_684/2007/bri, E. 4.6 (Hervorhebung Demko); siehe auch bereits BGE 129 I 49, S. 58, E. 5; BGE 128 I 81, S. 85 E. 2. Siehe etwa BGE 129 I 49, S. 60 E. 6.1. Siehe BGE 128 I, 81, S. 89, 90 zum Zusammenspiel zwischen (suggestiver) Befragung und den Antworten des Zeugen, wonach im Rahmen der Aussagegenese das Gespräch als Ganzes unter Beachtung suggestiver Fragestellungen und des sozialpsychologischen Kontextes zu beurteilen ist. Siehe etwa BG, Urt. v. 26.02.2008, 6B_684/2007/bri, E. 4.6; siehe auch bereits BGE 129 I 49, S. 58, E. 5; BGE 128 I 81, S. 85 E. 2. Siehe zur Bedeutung der auf die Zeugenaussage und die Zeugenperson abstellenden Beurteilung sowohl für die Wahrheitsermittlung der Aussage als auch für die zur Wahrung der Verteidigungsrechte zu gewährende wirksame Befragung des Belas-
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
versetzen ist, die persönliche Glaubwürdigkeit des Zeugen und die Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage prüfen, hinterfragen, bestreiten, auf die Probe stellen bzw. in Zweifel ziehen zu können.2509 In diesem Sinne ist im Schrifttum die im Zusammenhang mit dem Konfrontationsrecht dem Angeklagten einzuräumende Möglichkeit betont, „die Glaubhaftigkeit einer Aussage zu prüfen, deren Beweiswert auf die Probe und in Frage zu stellen, belastende Aussagen zu bestreiten, allfällige Widersprüche aufzudecken oder gar entlastende Aussagen zu erwirken, um sich auf diese Weise aktiv verteidigen zu können“.2510 Ebenso heisst es in der Rechtsprechung, etwa in BGE 132 I 127: 879
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„… Um sein Fragerecht wirksam ausüben zu können, muss der Beschuldigte in die Lage versetzt werden, die persönliche Glaubwürdigkeit des Zeugen zu prüfen und den Beweiswert seiner Aussagen zu hinterfragen …“2511
Auch in BGE 133 I 33 weist das BG darauf hin:
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„… Der Beschuldigte muss in der Lage sein, die Glaubhaftigkeit einer Aussage zu prüfen und ihren Beweiswert in kontradiktorischer Weise auf die Probe und in Frage zu stellen … Grundsätzlich muss es dem Angeschuldigten auch möglich sein, die Identität des Zeugen zu erfahren, um dessen persönliche Glaubwürdigkeit überprüfen sowie allfällige Zeugenausschluss- und Ablehnungsgründe überprüfen zu können … Um sein Fragerecht wirksam ausüben zu können, muss der Beschuldigte in die Lage versetzt werden, die persönliche Glaubwürdigkeit des Zeugen zu prüfen und den Beweiswert seiner Aussagen zu hinterfragen …“2512
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tungszeugen etwa die Ausführungen des BG in BGE 133 I 33, S. 37, 38, 41, 45, 46; BG, 6B_45/2008, E. 2.3. Siehe aus der Rechtsprechung etwa BGE 133 I 33, S. 37, 38 E. 2.2, 41 E. 3.1: „zu prüfen und … auf die Probe und in Frage zu stellen“ (S. 37 E. 2.2), „zu prüfen und … zu hinterfragen“ (S. 41 E. 3.1); BGE 132 I 127, S. 129 E. 2; BGE 131 I 476, S. 481, 486: keine wirksame Ausübung der Verteidigungsrechte, da der Angeschuldigte unter den konkreten Fallumständen „den Beweiswert der ersten – ohne seine Mitwirkung erfolgten – Aussage weder auf die Probe noch in Frage zu stellen“ (S. 486, Hervorhebung Demko) vermochte; BGE 125 I 127, S. 148: „deren Glaubwürdigkeit unter allen möglichen Aspekten wirksam in Zweifel zu ziehen … Unglaubwürdigkeitsgründe ableiten … in seinen Verteidigungsrechten hinsichtlich der Bestreitung von belastenden V-Personen-Aussagen …“ (Hervorhebung Demko); BGE 129 I 151, S. 157; BGE 118 Ia 457, S. 461; BG, Urt.v. 02.06.2008, 6B_45/200/sst, E. 2.3; siehe dazu auch näher DONATSCH/LIEBER, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, § 14 N 6: „dient der Überprüfung der Glaubwürdigkeit der Belastungszeugen“. DONATSCH/LIEBER, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, § 14 N 6 (Hervorhebung Demko); siehe dazu auch SCHEIDEGGER, S. 237. BGE 132 I 127, S. 129 E. 2. (Hervorhebung Demko). BGE 133 I 33, S. 37, 38 E. 2.2, 41 E. 3.1 (Hervorhebung Demko).
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Nicht zuletzt in einer Entscheidung vom 23. April 2008 spricht das BG davon, dass
882
„… der Beschuldigte … namentlich in der Lage sein (muss), die Glaubhaftigkeit einer Aussage prüfen und den Beweiswert in kontradiktorischer Weise auf die Probe und in Frage stellen zu können …“2513
883
Dabei werden die – die Inhaltsebene bzw. den Wesensgehalt des Konfrontationsrechts ansprechende – dem Angeklagten als Ausdruck der ihm zu gewährenden wirksamen Verteidigung einzuräumende Möglichkeit, die Glaubwürdigkeit des belastenden Zeugenbeweises (unter Beachtung von Zeugenaussage und Zeugenperson) auf die Probe und in Frage stellen zu können und die mit jener antithetischen Teilnahmemöglichkeit des Angeklagten diesem einzuräumende wirksame Einflussnahme auf den richterlichen Wahrheitsfindungsprozess im Zusammenhang mit dem belastenden Zeugenbeweis zugleich in Verbindung gebracht mit den verschiedenen einzelnen Ausübungsrechten des Konfrontationsrechts: Verknüpfungen sind hergestellt (zum Ersten) mit dem Hauptausübungsrecht in Gestalt des Fragerechts im engen Sinne und mit diesem mit der Befugnis, dem Belastungszeugen Ergänzungsfragen stellen zu können. Verknüpfungen sind (zum Zweiten) zudem hergestellt mit den das Fragerecht im engen Sinne unterstützenden Ausübungsrechten, sei es zum einen mit den das eigentliche Fragenstellen begleitenden und diesem behilflichen Ausübungsrechten (in Form des Anwesenheitsrechts und des Rechts auf Wahrnehmung des Zeugen während der Zeugeneinvernahme und -befragung), sei es zum anderen mit den einem wirksamen und erschöpfenden Fragenstellen als Voraussetzung notwendig vorangehenden und diesem ebenso behilflichen Wissens- und Informationsrechten (insbesondere in Gestalt des Rechts des Angeklagten auf Kenntnis der Identität der Zeugenperson).
884
Die Bedeutung des Fragerechts im engen Sinne als des für die Ausübung des Konfrontationsrechts entscheidenden bzw. Hauptausübungsrechts mit Blick auf die dem Angeklagten einzuräumende Möglichkeit einer Überprüfung und Infragestellung der Glaubwürdigkeit des belastenden Zeugenbeweises zeigt das BG etwa in BGE 133 I 33 auf, wo es als eine der Voraussetzungen für die Statthaftigkeit anonymisierter Zeugenaussagen die Möglichkeit nennt, dass der Verteidiger und der Angeklagte dem – wenn auch optisch und akustisch abgeschirmten – Zeugen Fragen stellen können:2514 Die Geheimhaltung der
885
2513 2514
BG, 6B_708/2007 E. 4.4.2 (Hervorhebung Demko). Zu dem Recht auf Stellen von Ergänzungsfragen siehe im Einzelnen etwa HAURI, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 341 N 9 ff.; zum Recht, Fragen an den Zeugen zu stellen, als Teil des Teilnahmerechts siehe auch WOHLERS, in: DONATSCH/ HANSJAKOB/LIEBER, Art. 147 N 5, 6, 17; DONATSCH/LIEBER, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, § 14 N 6 zur wichtigen Bedeutung des Rechts auf Stellen von Ergänzungsfragen; SCHEIDEGGER, S. 237: „Kern-
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Zeugenidentität und die Befragung unter optischen und akustischen Abschirmungen schränken die Verteidigungsrechte zwar ein, dies sei aber massvoll, da „doch noch immer eine Zeugenbefragung mit den Vorteilen der unmittelbaren Beweisabnahme“2515 möglich sei: 886
„… Massvoll ist sie aber auch aufgrund einer veränderten Einschätzung dessen, was den Beweiswert einer Zeugenaussage ausmacht. Hat nämlich die Strafjustiz früher bei der Würdigung von Zeugenaussagen Gewicht auf die allgemeine Glaubwürdigkeit eines Zeugen im Sinne einer dauerhaften personalen Eigenschaft gelegt, so kommt diesem Gesichtspunkt nach neueren Erkenntnissen kaum mehr relevante Bedeutung zu … Weitaus bedeutender für die Wahrheitsfindung als die allgemeine Glaubwürdigkeit ist die Glaubhaftigkeit der konkreten Aussage, welche durch methodische Analyse ihres Inhalts darauf überprüft wird, ob die auf ein bestimmtes Geschehen bezogenen Angaben einem tatsächlichen Erleben des Zeugen entspringen … Ist dieses aber die Methode, mit welcher Aussagen auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft werden, so liegt in der optischen und akustischen Abschirmung des Zeugen gegenüber dem Angeklagten und dem Verteidiger keine das Fairnessgebot verletzende Einschränkung der Verteidigung …“2516
887
Ebenso betont das BG die Möglichkeit der „Zeugenbefragung mit den Vorteilen der unmittelbaren Beweisabnahme“2517 bereits in BGE 125 I 127 und macht die Bedeutung gerade des Fragerechts im engen Sinne für die Überprüfung und Infragestellung der Glaubwürdigkeit des belastenden Zeugenbeweises sichtbar:
888
„… Die Glaubhaftigkeit der belastenden Aussagen der V-Person kann trotz Aufrechterhaltung der Anonymität wirksam in Zweifel gezogen werden. Der Beschuldigte und sein Rechtsvertreter können jegliche Fragen zum Tathergang stellen bzw. stellen lassen, auf Antworten reagieren und auf allfällige Widersprüche hinweisen, auch wenn der Beschuldigte den V-Mann nur unter dessen Pseudonym kennt …“2518
889
Zugleich hebt das BG aber auch das für eine wirksame Ausübung des Fragerechts im engen Sinne stets notwendig zu beachtende enge Zusammenspiel zwischen diesem und den dieses Fragerecht im engen Sinne unterstützenden weiteren Teilrechten auf der Ausübungsebene der Konfrontationsrechts her-
2515 2516 2517 2518
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gehalt des Konfrontationsrechts liegt … in der Beteiligung an der Wahrheitskonstruktion mittels des Fragerechts“. BGE 133 I 33, S. 45, E. 4.3 (Hervorhebung Demko). BGE 133 I 33, S. 45, 46 E. 4.3 (Hervorhebung Demko). BGE 125 I 127, S. 150 (Hervorhebung Demko). BGE 125 I 127, S. 147 (Hervorhebung Demko); zur Bedeutung des Rechts, dem Belastungszeugen Fragen stellen zu können, siehe auch BGE 132 I 127, S. 133, 134 E. 4.3: Der Verteidiger konnte durch den Gerichtspräsidenten zwar vorher eingereichte Fragen stellen lassen, jedoch hatte weder er noch hatte der Angeklagte selbst die Gelegenheit, den Belastungszeugen in einer „wenigstens indirekten Konfrontation zu befragen“ (S. 134); BG, Urt.v.02.06.2008, 6B_45/200/sst, E. 2.4.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
vor. Denn Einschränkungen etwa des Rechts auf Kenntnis der Zeugenidentität und/oder des Wahrnehmungsrechts können – jedoch müssen nicht2519 – zu solchen Einschränkungen auch des Fragerechts im engen Sinne führen, welche eine im Ergebnis nicht (mehr) wirksame Ausübbarkeit des Fragerechts im engen Sinne zur Konsequenz haben. Das Fragerecht im engen Sinne verlangt nach das eigentliche Fragenstellen begleitenden sowie diesem vorausgehenden Ausübungsbefugnissen von unterstützendem Charakter und die Rechtsprechung des BG verdeutlicht die grosse Bedeutung des zu beachtenden Zusammenspiels zwischen den verschiedenen (Haupt- und Hilfs-)Ausübungsrechten des Konfrontationsrechts für ein dem Angeklagten zu ermöglichendes wirksames, präzises und umfassendes Fragenstellen an den Belastungszeugen und mit diesem – nunmehr den Wesensgehalt des Konfrontationsrechts ansprechend – für ein Überprüfen- und Infragestellenkönnen der Glaubwürdigkeit des belastenden Zeugenbeweises (und zwar unter einer möglichen Bezugnahme sowohl auf die Zeugenaussage als auch auf die Zeugenperson2520). Die für ein wirksam ausübbares Konfrontationsrecht zu berücksichtigende Relevanz der das Fragerecht im engen Sinne unterstützenden Teilbefugnisse – hier in Gestalt des Rechts auf Wahrnehmung der Zeugenperson und ihres Verhaltens während der Zeugenbefragung sowie des Rechts auf Kenntnis der Zeugenidentität2521 –, ihre Hilfs- bzw. Unterstützungsfunktion und ihre Aus2519
2520
2521
Siehe auch die Formulierungen in BGE 125 I 127, S. 147, 148, 149, 150: „… Hingegen erfährt das Fragerecht wegen der Anonymität keine (wesentlichen) Einschränkungen in Bezug auf den Tathergang selber …“ (S. 147), „… Dies alles zeigt, dass der Beschuldigte – trotz eines weitgehenden Befragungsrechts – in seinen Verteidigungsrechten hinsichtlich der Bestreitung von belastenden V-Personen-Aussagen wesentlich eingeschränkt sein kann …“ (S. 148), „… Trotz der Erschwerung bildet daher der Umstand der optischen Abschirmung – je nach den konkreten Umständen – über die Anonymität der einvernommenen V-Person hinaus für den Angeschuldigten keine wesentliche zusätzliche Schwierigkeit bei der Wahrnehmung seiner Verteidigungsrechte …“ (S. 149, 150), „… Gesamthaft gesehen bringen optische und akustische Abschirmung des Zeugen für die Verteidigung über die Anonymität hinaus zusätzliche Erschwernisse … mögen zu entsprechender Zurückhaltung mahnen. Sie stellen indessen keine Einschränkungen von grossem Gewicht dar …“ (S. 150), Hervorhebung Demko. Siehe zum differenzierenden Abstellen auf beide Beurteilungsmomente, auf das der Zeugenaussage und das der Zeugenperson, etwa BGE 125 I 127, S. 147 ff.; siehe dazu auch WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 147 N 15. Siehe zu der Kenntnis der Zeugenidentität und der Wahrnehmung des Zeugenverhaltens näher WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 147 N 15, 16; siehe zum Zusammenspiel des Fragerechts im engen Sinne mit dem Recht auf Kenntnis der Zeugenidentität und dem Recht auf Wahrnehmung der Zeugenperson und ihres nonverbalen Aussageverhaltens näher DONATSCH/LIEBER, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, § 14 N 6, 80; zur in diesem Zusammenhang wichtigen Bedeutung von Videoaufzeichnungen von allen Zeugenver-
573
890
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
gerichtetheit2522 auf das Fragerecht im engen Sinne sowie zudem die Massgeblichkeit des Fragerechts im engen Sinne als des Hauptausübungsrechts des Konfrontationsrechts zeigt das BG in BGE 125 I 127 auf, und zwar im Zusammenhang mit Erschwernissen für die Verteidigung aufgrund von optischen und akustischen Abschirmungen sowie Zeugenanonymisierungen. Mit Blick auf die optischen und akustischen Abschirmungen heisst es insofern: 891
„… Die optische Abschirmung erschwert die unmittelbare Wahrnehmung von Reaktionen des einvernommenen Zeugen … Insbesondere können Gesichtsausdruck und Körpersprache nicht nachvollzogen werden; es kann nicht bemerkt werden, ob der Zeuge «einen roten Kopf bekommt» oder «ins Schwitzen gerät» … Unmittelbar wahrgenommen werden können immerhin etwa Räuspern, Zögern, Pausen vor Beantwortung einer Frage, Unsicherheit und Nervosität in der Stimme sowie allgemein der Ausdruck der Stimme. Mit einer Video-Übertragung ist es unter Umständen möglich, lediglich das Gesichtsfeld unkenntlich zu machen, aber die Körperhaltung doch erkennbar zu lassen. Bei der technischen Übertragung verhält es sich nicht wesentlich anders als bei Telefongesprächen oder einer Radiosendung, die es durchaus erlauben, den Ausdruck des Gegenübers wahrzunehmen. Trotz der Erschwerung bildet daher der Umstand der optischen Abschirmung – je nach den konkreten Umständen – über die Anonymität der einvernommenen V-Person hinaus für den Angeschuldigten keine wesentliche zusätzliche Schwierigkeit bei der Wahrnehmung seiner Verteidigungsrechte. Die akustische Abschirmung besteht darin, dass der Zeuge in einem andern Raum einvernommen wird und die Übertragung der Stimme technisch so verändert und verzerrt wird, dass ein Erkennen des Sprechers erschwert bzw. verunmöglicht wird. Sie dürfte nur selten, meist in Kombination mit der optischen Abschirmung zum Einsatz kommen. Denkbar ist sie bei Zeugen mit ganz besondern Spracheigenschaften oder -fehlern und in speziellen Fällen wie der eigentlichen Änderung der Identität des Zeugen … Eine derartige akustische Abschirmung erschwert die Wahrnehmung des Zeugen und seiner Reaktionen zusätzlich. Doch auch bei dieser Methode sind gewisse durchaus typische Verhaltensweisen wie Zögern, Räuspern, Nervosität und Verhaspeln durchaus noch erkennbar. Gesamthaft gesehen bringen optische und akustische Abschirmung des Zeugen für die Verteidigung über die Anonymität hinaus zusätzliche
2522
574
nehmungen im Ermittlungsverfahren anstelle des Rückgriffs auf nur schriftliche Vernehmungsprotokolle siehe SCHÜNEMANN, Gedächtnisschrift Vogler, S. 86, 88; zur Bedeutung des Anwesenheitsrechts des Angeklagten bei der Zeugenbefragung siehe auch CHRISTEN, S. 9 ff.: „durch ihre Befragungstechnik und ihr Verhalten während der Befragung bewusst oder unbewusst Einfluss auf die Aussagen der befragten Person ausüben“ (S. 9); siehe dazu zudem instruktiv SCHEIDEGGER, S. 237 f. Siehe auch DONATSCH/LIEBER, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, § 14 N 6, 80, wo es bezüglich der Wahrnehmung des nonverbalen Aussageverhaltens heisst, dass „(a)uch diese Umstände … Anlass für Ergänzungsfragen bieten (können)“ (N 6), sowie ausgeführt ist, dass „die Kenntnis der Identität des Zeugen helfen (kann), dessen Glaubwürdigkeit mit zu beurteilen“ (N 80), Hervorhebung Demko; SCHEIDEGGER, S. 238: „zu spezifischen Ergänzungsfragen veranlassen“ (Hervorhebung Demko).
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen Erschwernisse. Diese sind in die Gesamtbeurteilung der Vertraulichkeitszusage einzubeziehen und mögen zu entsprechender Zurückhaltung mahnen. Sie stellen indessen keine Einschränkungen von grossem Gewicht dar. Auch solche Abschirmungen ermöglichen noch immer eine Zeugenbefragung mit den Vorteilen der unmittelbaren Beweisabnahme …“2523
Ebenso deutlich ist vom BG in derselben Entscheidung BGE 125 I 127 das Zusammenspiel zwischen dem Recht, Fragen an den Belastungszeugen zu stellen, und dem Recht auf Kenntnis der Zeugenidentität mit Blick auf dessen Bedeutung für die Überprüfung und Infragestellung der Glaubwürdigkeit des belastenden Zeugenbeweises, und zwar unter Anknüpfung sowohl an die Zeugenaussage als auch an die Zeugenperson, aufgezeigt:2524
892
„… Die Anonymität des zu befragenden Zeugen stellt die Verteidigung vor besondere Probleme und bedeutet für diese, wie sich der Gerichtshof ausdrückt, ein «handicap presque insurmontable» … Diese Aussage ist allerdings zu differenzieren. Besondere Schwierigkeiten bietet die Anonymität nur im Hinblick auf die Person des Zeugen selber und die Überprüfung von dessen Glaubwürdigkeit. Hingegen erfährt das Fragerecht wegen der Anonymität keine (wesentlichen) Einschränkungen in Bezug auf den Tathergang selber und die Frage, wie sich die einzelnen Ereignisse abgespielt haben und ob die V-Person über ihren Auftrag hinaus anstiftend aufgetreten ist. Die Glaubhaftigkeit der belastenden Aussagen der V-Person kann trotz Aufrechterhaltung der Anonymität wirksam in Zweifel gezogen werden. Der Beschuldigte und sein Rechtsvertreter können jegliche Fragen zum Tathergang stellen bzw. stellen lassen, auf Ant-
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BGE 125 I 127, S. 149, 150 (Hervorhebung Demko); siehe zum Recht auf Befragung des Belastungszeugen in direkter Gegenüberstellung bzw. bei Fehlen einer direkten Gegenüberstellung z.B. BGE 131 I 476, S. 485; BGE 129 I 151, S. 155: „… Deshalb kann die Garantie von Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK allenfalls auch ohne Konfrontation mit dem Angeklagten oder direkte Befragung des Opfers durch den Verteidiger gewährleistet werden …“; BGE 125 I 127, S. 133: „… dass Beweise im Hinblick auf ein kontradiktorisches Verfahren grundsätzlich in Anwesenheit des Beschuldigten zu erheben seien …“ (Hervorhebung Demko); zum Anwesenheitsrecht als Inhalt des Teilnahmerechts siehe auch WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 147 N 5; PIETH, Strafprozessrecht, S. 85, wo es zum Teilnahmerecht des Beschuldigten an Beweiserhebungen zutreffend heisst, dass der Anspruch „weit über die blosse Anwesenheit hinaus(geht). Der Beschuldigte darf Fragen stellen“ (Hervorhebung Demko). Zur Kenntnis der Zeugenidentität als einem Teil des Konfrontationsrechts, zu ihrer wichtigen Bedeutung für die Hinterfragung der Glaubhaftigkeit der Angaben des Belastungszeugen wie auch für dessen Glaubwürdigkeit sowie zum Zusammenspiel mit dem Recht, dem Belastungszeugen Fragen stellen zu können, siehe näher WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 147 N 15, 23 ff.: „Verdachtsurteil“ (N 25), siehe hier auch zur Unterscheidung zwischen den drei Fallkonstellationen des anonymen Zeugen: des anonymen Zeugen, der für Rückfragen nicht zur Verfügung steht (N 24), des anonymen Zeugen, der für Rückfragen zur Verfügung steht (N 25) und des von der Identität her bekannten Zeugen, der für Rückfragen nicht zur Verfügung steht (N 26 ff.).
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen worten reagieren und auf allfällige Widersprüche hinweisen, auch wenn der Beschuldigte den V-Mann nur unter dessen Pseudonym kennt. Anders verhält es sich mit der Glaubwürdigkeit der Person des Zeugen. Soweit der Beschuldigte die Identität der belastenden V-Person nicht kennt bzw. auf entsprechende Fragen keine Antworten erhält, ist er kaum in der Lage, deren Glaubwürdigkeit unter allen möglichen Aspekten wirksam in Zweifel zu ziehen. Hierfür bedürfte er unter Umständen Kenntnisse über Familienverhältnisse, Werdegang und Ausbildung, allgemeine Persönlichkeit (mit Neigungen, Schwächen und krankhaften Seiten), Lebensverhältnisse oder Beziehungen in privater und beruflicher Hinsicht. Nur in Kenntnis solcher Umstände kann der Angeschuldigte Unglaubwürdigkeitsgründe ableiten, auf Beziehungen zu bestimmten Personen oder Kreisen und entsprechende Interessenkonstellationen hinweisen oder Ablehnungsgründe vorbringen. Von Interesse könnte die Motivation sein, weshalb sich die (auch nicht beamtete) V-Person als verdeckter Ermittler zur Verfügung stellt. Die Verteidigung kann nicht selbst Erkundigungen über die Person des Zeugen einziehen … Eine Verwechslung, weil die V-Person zu einem bestimmten Zeitpunkt andernorts war, kann nicht nachgewiesen werden … Dies alles zeigt, dass der Beschuldigte – trotz eines weitgehenden Befragungsrechts – in seinen Verteidigungsrechten hinsichtlich der Bestreitung von belastenden V-Personen-Aussagen wesentlich eingeschränkt sein kann …“2525 894
Die vorgängigen Darstellungen zeigen: Mit der Anbindung an die Zeugenaussage und ihren Inhalt und ihre Entstehungsgeschichte sowie mit der Anbindung an die Zeugenperson und ihre persönlichen Kompetenzen, Motive und Verhaltensweisen nimmt die schweizerische Rechtsprechung für die Frage eines wirksam ausübbaren, weil dem Angeklagten ein wirksames Infragestellen der Glaubwürdigkeit des belastenden Zeugenbeweises ermöglichenden Konfrontationsrechts Rückgriff genau auf die Kriterien, die auch von der Aussagepsychologie und ihrer Heranziehung des Aussageinhaltes, der Aussageentstehung und der Zeugenperson für die Glaubwürdigkeitsbeurteilung von Zeugenbeweisen angeführt werden.
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BGE 125 I 127, S. 147, 148 (Hervorhebung Demko); siehe zur Verbindung von dem Angeklagten grundsätzlich offen zu legender Identität des Belastungszeugen und der ihm zu gewährenden Prüfung und Infragestellung der Glaubwürdigkeit des Zeugenbeweises auch BGE 133 I 33, S. 38 E. 2.2; BGE 132 I 127, S. 129 Erw. 2: Die Glaubwürdigkeit des Zeugen könne der Angeklagte nur überprüfen, „… wenn er die Identität des Zeugen kennt; diese ist ihm daher grundsätzlich offen zu legen …“; siehe zu Beschränkungen des Konfrontationsrechts durch Zeugenanonymisierungen auch RIKLIN, StPO Kommentar, Vorbem. Art. 147 f. N 10.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
2.
Bedeutung der menschenrechtlichen Vorgaben in Bezug auf den Schutzbereich des Konfrontationsrechts
a)
Ausgestaltung des persönlichen, zeitlichen und sachlichen Schutzbereichs des Konfrontationsrechts im internationalen Strafverfahren vor dem ICTY
aa)
Persönlicher Schutzbereich: Der Begriff des Belastungszeugen
Was den persönlichen Schutzbereich des Konfrontationsrechts des Angeklagten mit Bezug auf den Begriff des Belastungszeugen betrifft, ist dieser Begriff weder im ICTY-Statut noch den RPE ausdrücklich definiert. Die Rechtsprechung des ICTY interpretiert diesen dahingehend, dass nur solche Personen unter den Zeugenbegriff fallen, die ihre Aussage entweder direkt vor der Verfahrenskammer des Tribunals („the witness testifying before the Trial Chamber“2526) oder speziell mit Blick auf eine Beweisabgabe vor dem Tribunal („given a statement or been interviewed specifically with a view towards that person giving evidence before the Tribunal“2527) bzw. im Rahmen des Verfahrens zum Zwecke ihrer Beweisverwertung im Verfahren vor dem ICTY („statements prepared for the purposes of proceedings before the Tribunal“2528, „prepared for the purposes of legal proceedings before this Tribunal“2529) abgeben.2530 Im Fall Prosecutor v. Milutinović et al. führt das ICTY insoweit aus: 2526
2527
2528
2529
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Prosecutor v. Blaškić, Decision on the Standing Objection of the Defence to the Admission of Hearsay with no Inquiry as to its Reliability, IT-95-14-T, 21. Januar 1998, para. 12 (Hervorhebung Demko). Prosecutor v. Milutinović et al., Decision on Evidence Tendered through Sandra Mitchell and Frederick Abrahams, Case No. IT-05-87-T, 1. September 2006, para. 11 (Hervorhebung Demko). Prosecutor v. Milutinović et al., Decision on Evidence Tendered through Sandra Mitchell and Frederick Abrahams, Case No. IT-05-87-T, 1. September 2006, para. 13 (Hervorhebung Demko); siehe auch die weiteren Angaben in den nachfolgenden Fussnoten. Prosecutor v. Milošević, Decision on Testimony of Defence Witness Dragan Jasović, Case No. IT-02-54-T, 15. April 2005, S. 5 (Hervorhebung Demko). Siehe dazu auch TOCHILOVSKY, S. 432; siehe zudem mit zu recht kritischer Stellungnahme näher WANNEK, S. 83, 88, 90, 350: „Aussagen mit Blick auf ihre Verwertung in einem Strafverfahren abgegeben“ (S. 83), „nur die Personen, die vor Gericht erscheinen, um eine Aussage abzugeben, oder die eine solche im Rahmen des Ermittlungsverfahrens zum Zwecke der späteren Einführung in eine Beweisaufnahme abgegeben haben“ (S. 90), „im Rahmen des Verfahrens eine Aussage zum Zwecke ihrer Beweisverwertung abgibt“ (S. 350, Hervorhebung Wannek), zu den zutreffenden kritischen Stellungnahmen von Wannek siehe näher im nachfolgenden Haupttext und den folgenden Fussnoten.
577
895
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen 896
„… the Chamber notes that the term “witness” is not defined in the Rules. Given the terms, context, and drafting history of Rules 89 and 92bis, it is clear that a “witness”, for the purpose of those Rules, refers to an individual who either testifies in person before a Chamber of the Tribunal, or has given a statement or been interviewed specifically with a view towards that person giving evidence before the Tribunal …“2531
897
Betonend, dass die ICTY-Regel 92 bis als lex specialis zur ICTY-Regel 89 (C) nur zum Zwecke der Verwertung im Verfahren vor dem Tribunal gemachte Aussagen erfasst,2532 geht aus den Fällen Prosecutor v. Milutinović et al. und Prosecutor v. Milošević hervor, dass nicht für die Zwecke eines Verfahrens vor dem ICTY getätigte Aussagen von dem vom ICTY verwendeten Zeugenbegriff nicht eingeschlossen sind:
898
„... that “a party cannot be permitted to tender a written statement given by a prospective witness to an investigator of the OTP under Rule 89(C) in order to avoid the stringency of Rule 92bis”, but that “Rule 92bis has no effect upon hearsay material which was not prepared for the purposes of legal proceedings” … the reference … to material ”prepared for the purposes of legal proceedings”, was intended to relate to material prepared for the purposes of legal proceedings before this Tribunal, such as a witness summary prepared by an OTP investigator of the content of statements given by witnesses for the purposes of this case …“2533
2531
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2533
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Prosecutor v. Milutinović et al., Decision on Evidence Tendered through Sandra Mitchell and Frederick Abrahams, Case No. IT-05-87-T, 1. September 2006, para. 11 (Hervorhebungen Demko), weiter heisst es: „... When this Chamber uses the term “potential witness”, therefore, it is referring to someone who has given a statement to, or been interviewed by, a party to proceedings before the Tribunal ...“ (Hervorhebung Demko). Siehe zum Verhältnis zwischen den ICTY-Regeln 89 (C) und 92bis die Ausführungen etwa in den Entscheidungen Prosecutor v. Milošević, Decision on Testimony of Defence Witness Dragan Jasović, Case No. IT-02-54-T, 15. April 2005, S. 5; Prosecutor v. Milošević, Decision on Interlocutory Appeal on the Admissibility of Evidence-inChief in the Form of Written Statements, Case No. IT-02-54-AR73.4, 30. September 2003, paras. 12, 13: Auf den Fall Galić Bezug nehmend heisst es: „... A party cannot be permitted to tender a written statement given by a prospective witness to an investigator of the OTP under Rule 89(C) in order to avoid the stringency of Rule 92bis. The purpose of Rule 92bis is to restrict the admissibility of this very special type of hearsay to that which falls within its terms … But Rule 92bis has no effect upon hearsay material which was not prepared for the purposes of legal proceedings. For example, the report prepared by Hamdija Čavčić ... could have been admitted pursuant to Rule 89(C) if it was not prepared for the purpose of legal proceedings (as to which the evidence is silent) …“ (Hervorhebung ICTY); Prosecutor v. Galić, Decision on Interlocutory Appeal Concerning Rule 92bis (C), Case No. IT-98-29-AR73.2, 7. Juni 2002, para. 31. Prosecutor v. Milošević, Decision on Testimony of Defence Witness Dragan Jasović, Case No. IT-02-54-T, 15. April 2005, S. 5 (Hervorhebung Demko); siehe dazu auch
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Privat getätigte Aussagen, wie private Aufzeichnungen oder Tagebücher, mithin solche, die nicht für den Zweck eines Rechtsverfahrens abgefasst worden sind, fallen nicht unter den vom ICTY verwendeten Zeugenbegriff. Hinsichtlich solcher privat getätigter Aussagen brachte dies das ICTY im Fall Prosecutor v. Naletilić and Martinović, in dem es um Aussagen in Tagebüchern ging, zum Ausdruck:
899
„... The admission of the diary did not violate Naletilić`s right to confront the witness against him because its author was not, in fact, a witness against him; the diary was not testimonial in nature. This is for the same reason that the diary was not governed by Rule 92 bis: it was not prepared for the purposes of legal proceedings …“2534
900
Da sich der EGMR bisher nicht mit Sachverhalten, in denen es um rein private belastende Aussagen einer Person geht, auseinanderzusetzen hatte und insoweit abzuwarten ist, ob er seinen autonomen und zweckorientierten Zeugenbegriff auch auf solche erstreckt,2535 muss eine Entscheidung zur Vereinbarkeit der Ansicht des ICTY mit der des EGMR derzeit noch offen bleiben. Legt man jedoch die oben näher begründete2536 weite Auslegung des Zeugenbegriffs als Massstab (auch) für den persönlichen Schutzbereich des Konfrontationsrechts an, bleibt das ICTY mit seinem privat getätigte Aussagen ausschliessenden und insoweit engeren Zeugenbegriff hinter diesem hier vertretenen Massstab eines weiten Zeugenbegriffs zurück und engt den Anwendungsbereich des Konfrontationsrechts und damit den Schutz des Angeklagten ein. In diesem Sinne führt auch Wannek zutreffend kritisch an:
901
„… Der Anwendungsbereich des Fragerechts des Angeklagten wird damit stark eingegrenzt. Der Verteidigung wird die Möglichkeit, den Angeklagten belastende Angaben durch gezielte Nachfragen anzugreifen, nicht in jedem Fall zugestanden, sondern nur in den Fällen, in denen die Aussagen mit Blick auf ihre Verwertung in einem Strafverfahren abgegeben wurden. Diese enge Definition des Zeugenbegriffes wirkt
902
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TOCHILOVSKI, S. 461; deutlich auch Prosecutor v. Milutinović et al., Decision on Evidence Tendered through Sandra Mitchell and Frederick Abrahams, Case No. IT-0587-T, 1. September 2006, para. 13: „… Written statements given to parties by potential witnesses – that is, statements prepared for the purposes of proceedings before the Tribunal – are admissible only under Rule 92 bis or Rule 89(F) … Statements made by individuals unable to testify may be susceptible to admission under Rule 92 bis(C) ... Statements given to other entities, such as domestic law enforcement agencies, for use in other courts are not included within this category, but may be admissible under Rule 89(C) …“ (Hervorhebungen Demko). Prosecutor v. Naletilić and Martinović , Appeal Judgement, Case No. IT-98-34-A, 3. Mai 2006, para. 226 (Hervorhebung Demko), siehe auch weiter paras. 227 und 228. Siehe dazu im Rahmen der Ausführungen zum passiven persönlichen Schutzbereich des Konfrontationsrechts nach Ansicht des EGMR unter Kap. 5 B. I. 1. b). Siehe dazu im Rahmen der Ausführungen zum passiven persönlichen Schutzbereich des Konfrontationsrechts nach Ansicht des EGMR unter Kap. 5 B. I. 1. b).
579
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen sich entscheidend auf die Reichweite des Fragerechts und damit auf den Umfang der Verwertbarkeit auβergerichtlicher Zeugenaussagen aus …“2537 903
Ein vom ICTY vertretener und im Vergleich zum EGMR engerer Zeugenbegriff scheint sich des Weiteren im Zusammenhang mit dem zumindest privaten Zeugnis vom Hörensagen abzuzeichnen,2538 indem das Tribunal Gesichtspunkte, die mit der die ursprüngliche Aussage tätigenden Person im Verbindung stehen, zwar im Rahmen der Beurteilung des Beweiswertes des Zeugnisses vom Hörensagen berücksichtigt, ohne aber – infolge des nach Ansicht des ICTY nicht eröffneten persönlichen Schutzbereichs des Konfrontationsrechts bezüglich der Person, von der die ursprüngliche Aussage stammt, die aber selbst nicht vor Gericht auftritt – eine eigenständige Verletzung des Konfrontationsrechts wegen fehlender Konfrontationsmöglichkeit des Angeklagten mit der die ursprüngliche Aussage tätigenden Person annehmen zu wollen: Werden jene Aussagen durch ein mündliches Zeugnis vom Hörensagen in das Verfahren vor dem ICTY eingeführt, dann berücksichtigt das ICTY im Rahmen der Ermittlung des Beweiswertes der Zeugenaussagen vom Hörensagen u.a., dass die Person, deren Aussage durch den Zeugen vom Hörensagen in das Verfahren eingeführt worden sind, vom Angeklagten nicht ins Kreuzverhör genommen werden konnte sowie, ob es sich um ein Zeugnis vom Hörensagen aus erster oder zweiter bzw. mehrfacher Hand handelt.2539 Einen engeren Zeugenbegriff – als er durch den EGMR vertreten wird – aufzeigend, betont das ICTY insoweit im Fall Prosecutor v. Blaškić ausdrücklich, dass das in Art. 21 (4) (e) ICTY-Statut geregelte Konfrontationsrecht des Angeklagten nur bezüglich der Person gilt, die für die Abgabe ihrer Aussage vor Gericht erscheint („the witness testifying before the Trial Chamber“2540), mithin nur bezüglich des Zeugen vom Hörensagen, hingegen nicht bezüglich der nicht vor dem Tribunal auftretenden Person, von der die Aussage ur2537 2538
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WANNEK, S. 83 (Hervorhebung Demko). Siehe dazu auch WANNEK, S. 350 im Zusammenhang mit der Frage nach dem zugrunde zu legenden Zeugenbegriff, wonach das Fragerecht des Angeklagten „zumindest dann nicht berührt (ist), wenn es sich um die Verwertung eines privaten Zeugnisses vom Hörensagen handelt“, wenn man der Auffassung folgen sollte, dass „als Zeuge … nur derjenige eingestuft (wird), der im Rahmen des Verfahrens eine Aussage zum Zwecke ihrer Beweisverwertung abgibt“ (Hervorhebung Wannek), siehe zur berechtigten Kritik von Wannek an einem engen Zeugenbegriff näher S. 83 und 88. Prosecutor v. Brđanin, Judgement, Case No. IT-99-36, 1. September 2004, para. 28; siehe zur Auswirkung auf die Bestimmung des Beweiswertes, auch wenn das Konfrontationsrecht des Angeklagten selbst nicht als einschlägig angesehen wird, auch Prosecutor v. Naletilić and Martinović, Appeal Judgement, Case No. IT-98-34-A, 3. Mai 2006, paras. 227, 228; siehe dazu auch WANNEK, S. 86. Prosecutor v. Blaškić, Decision on the Standing Objection of the Defence to the Admission of Hearsay with no Inquiry as to its Reliability, IT-95-14-T, 21. Januar 1998, para. 12 (Hervorhebung Demko).
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
sprünglich stammt. In der Entscheidung vom 21. Januar 1998 im Fall Prosecutor v. Blaškić heisst es insoweit explizit: „… The right to cross-examination guaranteed by Article 21(4)(e) of the Statute applies to the witness testifying before the Trial Chamber and not to the initial declarant whose statement has been transmitted to this Trial Chamber by the witness …“2541
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Bestätigung findet dies in der Entscheidung vom 15. Juli 1998 im Fall Prosecutor v. Blaškić:
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„… The statements of "X" were presented by third parties and constitute hearsay evidence which may be admitted in accordance with the Trial Chamber Decision on the admissibility of hearsay evidences. In the said Decision, the Trial Chamber underscores the distinction between the witness who appears at trial and the initial declarant whose words are being reported. In the case in point, it cannot be contested that "X" belongs to the second category and can be considered to be a witness, within the meaning of Sub-rule 66(A), only when the Prosecution decides to call on "X" to testify at trial …“2542
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Durch diesen im Vergleich zum EGMR engeren Zeugenbegriff, den das ICTY im Zusammenhang mit dem mündlichen Zeugnis vom Hörensagen vertritt und welcher insoweit enger ist als der des EGMR, als nach Ansicht des EGMR sowohl der Zeuge vom Hörensagen als auch die Person unter den Zeugenbegriff fällt, von der die Aussage ursprünglich stammt,2543 schränkt das ICTY den Anwendungsbereich des Konfrontationsrechts mit Blick auf seinen persönlichen Schutzbereich und damit auch hier wiederum den Schutz des Angeklagten ein.2544 Dennoch lässt das Tribunal Gesichtspunkte, die mit
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Prosecutor v. Blaškić, Decision on the Standing Objection of the Defence to the Admission of Hearsay with no Inquiry as to its Reliability, IT-95-14-T, 21. Januar 1998, para. 12 (Hervorhebung Demko). Prosecutor v. Blaškić, Decision on the Defence Motion to Compel the Disclosure of Rule 66 and 68 Material relating to Statements made by a Person known as ”X”, Case No. IT-95-14-T, 15. Juli 1998, para. 10 (Hervorhebung Demko). Siehe dazu im Rahmen der Ausführungen zum passiven persönlichen Schutzbereich des Konfrontationsrechts nach Ansicht des EGMR unter Kap. 5 B. I. 1. b). Siehe dazu ebenso zu recht kritisch WANNEK, S. 88: „… Wie bei der Verwertung von Tagebüchern und ähnlichen privaten Aufzeichnungen wird auch hier der Anwendungsbereich des Art. 21 (4) (e) des Statuts durch eine enge Definition des Begriffs des Zeugen eingeschränkt. Dieses Recht wird durch die Vernehmung eines Zeugen vom Hörensagen nicht berührt, da Belastungszeuge im Sinne des Fragerechts nur ist, wer vor Gericht erscheint, um eine Aussage abzugeben. Würde der Begriff des Zeugen dahingehend verstanden, dass er jede Person umfasst, deren Angaben bei der Urteilsfindung zu Lasten des Angeklagten berücksichtigt werden, ohne dass es darauf ankommt, in welcher Form diese Angaben in das Verfahren eingeführt wurden, würde die Verwertung eines mündlichen Zeugnisses vom Hörensagen ebenfalls eine rechtfer-
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
der Person, von der die Aussage ursprünglich stammt, und die mit der Entstehung des Zeugnisses vom Hörensagen im Zusammenhang stehen, nicht völlig unbeachtet, sondern zieht diese für die und im Rahmen der Beurteilung des Beweiswertes des Zeugnisses vom Hörensagen heran.2545 In diesem Sinne hebt das Tribunal etwa im Fall Prosecutor v. Blaškić die Berücksichtigung der Umstände der Entstehung der Zeugenaussagen vom Hörensagen hervor und führt an, dass das Recht des Angeklagten, den Zeugen vor Gericht ins Kreuzverhör zu nehmen, dazu dient, die Bedeutung in Frage zu stellen, die jenem «hearsay testimony» gegeben wird, sei dies etwa durch einen Verweis auf die Zahl der Mittelsmänner oder auf die Identität und andere Eigenschaften der Person, von der die Aussage ursprünglich stammt: 908
„… The Trial Chamber does, however, note that the right to cross-examine the witness in court may be used to challenge the importance to be given to the hearsay testimony, for example, by clearly indicating the number of intermediaries who transmitted the testimony and by seeking to learn the identity and other characteristics of the initial declarant as well as the possibilities for that declarant to have learned the relevant elements or even by bringing out the other facts or circumstances which might assist the Trial Chamber in its evaluation of such evidence …“2546
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Zeitlicher Schutzbereich
Die Frage nach der dem Angeklagten grundsätzlich zu gewährenden «optimalen» Form für die Ausübung des Konfrontationsrechts sowie die Frage, in welcher Weise und unter Beachtung welcher Voraussetzungen von dieser ausnahmsweise abgewichen werden darf, sind teils explizit durch ICTYRegeln zum Beweisrecht, vor allem aber durch die Rechtsprechung des ICTY zum Beweisrecht beantwortet. Den für das Strafverfahren vor dem ICTY
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tigungsbedürftige Beschränkung des dem Angeklagten in Art. 21 (4) (e) des Statuts garantierten Rechts darstellen …“ (Hervorhebung Demko). Siehe etwa Prosecutor v. Brđanin, Judgement, Case No. IT-99-36, 1. September 2004, para. 28. Prosecutor v. Blaškić, Decision on the Standing Objection of the Defence to the Admission of Hearsay with no Inquiry as to its Reliability, Case No. IT-95-14-T, 21. Januar 1998, para. 12 (Hervorhebung Demko); siehe auch Prosecutor v. Blaškić, Decision on the Defence Motion to Compel the Disclosure of Rule 66 and 68 Material relating to Statements made by a Person known as ”X”, Case No. IT-95-14-T, 15. Juli 1998, para. 12: „... The Trial Chamber notes the concern expressed by the Defence regarding the credibility of the statements of "X", but, in the spirit of its decision on hearsay evidence, recalls that all the evidence required to evaluate such credibility will be taken into consideration by the Judges when they determine what weight to give to the said statements, and, in particular, the fact that they are the results of hearsay testimony and that, and such, they were not the subject of cross-examination …“ (Hervorhebung Demko).
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
geltenden Unmittelbarkeits- und Mündlichkeitsgrundsatz2547 mit Bezug auf die Befragung von Belastungszeugen konkretisierend, betont das ICTY hinsichtlich der uneingeschränkt zu gewährenden Ausübung des Konfrontationsrechts das sog. „live, in-court testimony“2548 als eines der die Beweiserhebung im Strafverfahren vor dem ICTY leitenden grundlegenden Prinzipien.2549 Das «live, in-court testimony» ist grundsätzlich zu gewährleisten2550 und die Präferenz für dieses kommt in den ICTY-Regeln und in der Rechtsprechung des ICTY zum Ausdruck:2551 „... the Appeals Chamber deems it necessary to recall one of the fundamental principles governing the giving of evidence before the Trial Chambers, namely the principle that witnesses shall as a general rule be heard directly by the Judges of the Trial Chambers. This principle is laid down in Article 21(4) of the Statute which grants to every accused person appearing before the Tribunal as one of the “minimum guarantees, in full equality”, the right to examine, or have examined, the witnesses against him and to obtain the attendance and examination of witnesses on his behalf under the same conditions as witnesses against him …“2552
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Zwar wurde die frühere, die Präferenz für das «live, in-court testimony» zum Ausdruck bringende ICTY-Regel 90 (A) aufgehoben, in der es hiess, dass «Witnesses shall, in principle, be heard directly by the Chambers».2553 Je-
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Siehe dazu auch AMBOS, Internationales Strafrecht 2011, S. 345 N 42, 43, S. 347 N 45; GUARIGLIA, S. 669. Prosecutor v. Kordić und Čerkez, Decision on Appeal Regarding Statement of a Deceased Witness, Case-No. IT-95-14/2-AR73.5, 21. Juli 2000, paras. 19 und ebenso 21 (Hervorhebung Demko). Siehe etwa Prosecutor v. Kupreškić et al., Decision on Appeal by Dragan Papic against Ruling to Proceed by Deposition, Case No. IT-95-16-AR73.3, 15. Juli 1999, para. 18: „… one of the fundamental principles governing the giving of evidence …“ Siehe etwa Prosecutor v. Kupreškić et al., Decision on Appeal by Dragan Papic against Ruling to Proceed by Deposition, Case No. IT-95-16-AR73.3, 15. Juli 1999, paras. 18, 19: „as a general rule“ (para. 18), „in principle“ (para. 18); „… (T)he Rules, however, provide for four exceptions to this general rule of direct evidence …“ (para. 19). Siehe etwa Prosecutor v. Kordić und Čerkez, Decision on Appeal Regarding Statement of a Deceased Witness, Case-No. IT-95-14/2-AR73.5, 21. Juli 2000, para. 19: „The Tribunal`s Rules express a preference for live, in-court testimony …“ (Hervorhebung Demko). Prosecutor v. Kupreškić et al., Decision on Appeal by Dragan Papic against Ruling to Proceed by Deposition, Case No. IT-95-16-AR73.3, 15. Juli 1999, para. 18 (Hervorhebung ICTY: «attendance», übrige Hervorhebung Demko). In den RPE vom 3. Dezember 1996 lautete die ICTY-Regel 90 (A): «Witnesses shall, in principle, be heard directly by the Chambers unless a Chamber has ordered that the witness be heard by means of a deposition as provided for in Rule 71.». Ab den RPE vom 25. Juli 1997 lautete die ICTY-Regel 90 (A): «Witnesses shall, in principle, be
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doch lassen auch andere Bestimmungen der RPE jene Präferenz erkennen: Zu denken ist an die Zusammenschau der – wenn insoweit auch zurückhaltender als die frühere ICTY-Regel 90 (A) formulierten – ICTY-Regel 89 (F) mit den ICTY-Regeln 85 (A) und (B), wonach es in der ICTY-Regel 89 (F) heisst, dass »(a) Chamber may receive the evidence of a witness orally or, where the interests of justice allow, in written form« und die ICTY-Regeln 85 (A) und (B) die das Straf- und Beweisverfahren vor dem ICTY kennzeichnende Grundstruktur vorgegeben, die grundsätzlich einzuhalten ist, «(u)nless otherwise directed by the Trial Chamber in the interests of justice».2554 Zu denken ist aber vor allem an die verschiedenen, in den RPE enthaltenen Ausnahmebestimmungen von der allgemeinen Regel der direkten Beweiserhebung vor Gericht („exceptions to this general rule of direct evidence“2555). Zu nennen sind hier beispielhaft die ICTY-Regeln 71, 92bis, 92ter und 92quater, nach denen die dort angeführten, von dem allgemeinen Grundsatz der „live evidence“2556 bzw. des «live, in-court testimony» abweichenden Massnahmen und Verfahrensweisen nur bei Erfüllung von bestimmten, in diesen ICTYRegeln näher aufgeführten strengen prozessualen Voraussetzungen oder bei Vereinbarkeit mit den «interests of justice» zulässig sind. Zudem bringt insbesondere die ICTY-Regel 92bis (A) das Erfordernis des live testimony für den Nachweis der individuellen Verantwortlichkeit des Angeklagten für den infrage stehenden konkreten Tatvorwurf zum Ausdruck.2557 Im Fall Prosecut-
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heard directly by the Chambers unless a Chamber has ordered that the witness be heard by means of a deposition as provided for in Rule 71 or where, in exceptional circumstances and in the interests of justice, a Chamber has authorized the receipt of testimony via video-conference link.». Ab den RPE vom 7. Dezember 1999 lautete die ICTY-Regel 90 (A): «Subject to Rules 71 and 71 bis, witnesses shall, in principle, be heard directly by the Chambers.» All diese früheren Fassungen der ICTY-Regel 90 (A) bringen trotz ihrer im Einzelnen unterschiedlichen Formulierungen die Präferenz für das «live, in-court testimony» zum Ausdruck. Mit der 19. Änderung der RPE am 29.-30. November, 1. und 13. Dezember 2000 ist die ICTY-Regel 90 (A) gestrichen worden. Siehe dazu auch AMBOS, Internationales Strafrecht 2011, S. 345 f. N 43. Siehe dazu auch Kap. 5 C. I. 1. Prosecutor v. Kupreškić et al., Decision on Appeal by Dragan Papic against Ruling to Proceed by Deposition, Case No. IT-95-16-AR73.3, 15. Juli 1999, para. 19 (Hervorhebung Demko). Prosecutor v. Kordić und Čerkez, Decision on Appeal Regarding Statement of a Deceased Witness, Case-No. IT-95-14/2-AR73.5, 21. Juli 2000, para. 22, siehe in paras. 21, 22 auch näher zu den „departures from the principle of hearing live, incourt testimony“ (para. 21) bzw. den „departures from the principle of live evidence“ (para. 22), Hervorhebung Demko. Siehe dazu aus dem Schrifttum etwa AMBOS, Internationales Strafrecht 2011, S. 345 f. N 43: „… „Live testimony“ bleibt demgemäβ für den Nachweis der persönlichen Schuld des Angeklagten unverzichtbar …“ (Hervorhebung Ambos); GUARIGLIA, S. 678 f.: „the Rules maintain a preference for live testimony for central areas of a
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or v. Kupreškić et al. heisst es mit Blick auf diesen Ausnahmecharakter der Abweichungen vom Grundsatz des live testimony: „… The Rules, however, provide for four exceptions to this general rule of direct evidence in the form of 1) deposition evidence (Rule 71), 2) the receipt of testimony via video-conference link (Sub-rule 90(A), 3) expert witness statement (Rule 94bis) and 4) the submission of affidavit evidence in corroboration of witness testimonies (Rule 94ter) .... the Appeals Chamber takes the view that Rule 71 must be construed strictly and in accordance with its original purpose of providing an exception, with special conditions, to the general rule for direct evidence to be furnished, especially in the context of a criminal trial ...“2558
Ebenso ist im Fall Prosecutor v. Kordić und Čerkez angeführt:
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„… The other rules providing for departures from the principle of hearing live, incourt testimony provide certain safeguards ... In the same way, Rule 89 (C) must be interpreted so that safeguards are provided to ensure that the Trial Chamber can be satisfied that the evidence is reliable. A starting point is the requirements of these other rules that expressly allow for departures from the principle of live evidence …“2559
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Sachlicher Schutzbereich
Müssen Zeugen im Strafverfahren vor dem ICTY ihre Aussagen im Grundsatz im Rahmen der Hauptverhandlung mündlich vor dem Gericht abgeben,
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criminal case, i.e., those pertaining to the conduct attributed to an accused. This is reflected by the general principle embodied in para. (A) of new Rule 92 bis. Therefore, written evidence in lieu of live testimony appears only to be admissible if it relates to issues other than the criminal conduct with which the accused is charged. This limitation … is presumably based on the significance of cross-examination as a right of the accused … on the one hand, and on the importance of a proper determination of the accused`s individual responsibility on the basis of live and tested evidence, on the other …“ (Hervorhebung Guariglia). Prosecutor v. Kupreškić et al., Decision on Appeal by Dragan Papic against Ruling to Proceed by Deposition, Case No. IT-95-16-AR73.3, 15. Juli 1999, para. 19 (Hervorhebung Demko); siehe dazu auch Prosecutor v. Kordić und Čerkez, Decision on Appeal Regarding Statement of a Deceased Witness, Case-No. IT-95-14/2AR73.5, 21. Juli 2000, paras. 19, 21, in paras. 21, 22 heisst es zudem: „… The other rules providing for departures from the principle of hearing live, in-court testimony provide certain safeguards ... In the same way, Rule 89 (C) must be interpreted so that safeguards are provided to ensure that the Trial Chamber can be satisfied that the evidence is reliable. A starting point is the requirements of these other rules that expressly allow for departures from the principle of live evidence …“ (Hervorhebung Demko). Prosecutor v. Kordić und Čerkez, Decision on Appeal Regarding Statement of a Deceased Witness, Case-No. IT-95-14/2-AR73.5, 21. Juli 2000, paras. 21, 22 (Hervorhebung Demko).
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
so verbindet das ICTY mit diesem Grundsatz des «live, in-court testimony» und mit der ebenso betonten idealerweise („Ideally“2560) zu gewährleistenden „face to face confrontation“2561 zudem bestimmte, dem Angeklagten im Zusammenhang mit der Zeugenvernehmung grundsätzlich einzuräumende Einzelbefugnisse. Ist die «optimale» Ausübung des Konfrontationsrechts in zeitlicher Hinsicht in Konkretisierung des Grundsatzes der live in-court evidence auf eine Ausübung in der Hauptverhandlung vor Gericht angelegt, so verknüpft das ICTY mit dem uneingeschränkt ausübbaren Konfrontationsrecht in sachlicher Hinsicht nicht allein das Recht, dem Belastungszeugen Fragen stellen zu können, sondern stellt dieses damit angesprochene Fragerecht im engen Sinne – als das Hauptausübungsrecht des Konfrontationsrechts – in einen Zusammenhang mit weiteren, dem Fragerecht im engen Sinne zur wirksamen Ausübung verhelfenden Teilrechten. Angesprochen sind hier die unterstützenden Ausübungsrechte in Gestalt des Rechts, dem Belastungszeugen physisch im selben Raum direkt gegenüberzutreten und ihn und sein Verhalten während der Zeugenvernehmung wahrzunehmen, sowie des Rechts auf Kenntnis der Zeugenidentität.2562 916
Für die vom Gericht vorzunehmende Beurteilung, ob eine wahre und die Verurteilung des Angeklagten tragen könnende belastende Zeugenaussage vorliegt, sind nach dem ICTY relevant sowohl der Gesichtspunkt, ob die Zeugenaussage mit oder ohne Kreuzverhör zustande gekommen ist,2563 als
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Prosecutor v. Delalić et al., Decision on the Motions by the Prosecution for Protective Measures for the Prosecution Witnesses Pseudonymed ”B” through to ”M”, Case No. IT-96-21-T, 28. April 1997, para. 55 (Hervorhebung Demko). Prosecutor v. Delalić et al., Decision on the Motions by the Prosecution for Protective Measures for the Prosecution Witnesses Pseudonymed ”B” through to ”M”, Case No. IT-96-21-T, 28. April 1997, para. 55 (Hervorhebung Demko). Zu dem Haupt- und den helfenden Ausübungsrechten des Konfrontationsrechts siehe bereits näher unter Kap. 5 B. I. 3. Siehe dazu etwa Prosecutor v. Zlatko Aleksovski, Decision on Prosecutor`s Appeal on Admissibility of Evidence, Case No. IT-95-14/1-AR73, 16. Februar 1999, para. 15; Richter May in Prosecutor v. Kordić and Čerkez, Public Transcript of Hearing vom 21. Februar 2000, Case No. IT-95-14/2-T, 21. Februar 2000, S. 14701: „… first of all, which, we will have to bear in mind, was not subject to cross-examination and, therefore, lacks that important support …“ (Hervorhebung Demko); Prosecutor v. Milan Milutinović et al., Decision on Prosecution`s Rule 92bis Motion, Case No. IT-05-87PT, 4. Juli 2006, para. 22: „… If the evidence is ultimately admitted, the Trial Chamber will have very much in mind the absence of the opportunity to cross-examine Mr. Russo when evaluating his evidence …“ (Hervorhebung Demko); Prosecutor v. Kordić and Čerkez, Decision on Appeal regarding Statement of a Deceased Witness, Case No. IT-95-14/2-AR73.5, 21. Juli 2000, para. 23 auf Prosecutor v. Zlatko Aleksovski bezugnehmend und para. 27: „… It was never subject to cross-examination by anyone
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
auch die Aspekte, den Zeugen und sein Verhalten beobachten zu können sowie dessen Identität zu kennen. Dabei fällt auf, dass mit Blick auf eine Überprüfung und Infragestellung der Glaubwürdigkeit des Belastungszeugenbeweises diese Momente zwar auch in Bezug auf den Angeklagten angeführt und betont,2564 teils aber auch vor allem in Bezug auf die Richter selbst herausgestellt und begründet werden,2565 während ein gleichermassen ausführliches Eingehen auf diese Teilbefugnisse in Bezug auf den Angeklagten zum Teil fehlt2566 oder sein Konfrontationsrecht gar nur als «technical ground» bezeichnet wird:2567 „… The real issue is this: Should this statement be admitted un-cross-examined, so that the Defence have had no chance to test it, we have come to the conclusion that it would be wrong to deny the Chamber this statement simply on that technical ground. That goes very much to the matter of weight …“2568
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…“ (Hervorhebung Demko); Prosecutor v. Brđanin, Judgement, Case No. IT-99-36, 1. September 2004, para. 28. Siehe etwa Prosecutor v. Tadić, Decision on the Defence Motion to Summon and Protect Defence Witnesses, and on the Giving of Evidence by Video-Link, Case No. IT-94-1-T, 25. Juni 1996, paras. 17, 22. Siehe etwa Prosecutor v. Delalić et al., Decision on the Motion to Allow Witnesses K, L and M to Give Their Testimony by Means of Video-Link Conference, Case No. IT-96-21-T, 28. Mai 1997, paras. 13, 15. Siehe dazu mit Bezug auf Prosecutor v. Kordić und Čerkez, Decision on the Prosecution Application to Admit the Tulića Report and Dossier into Evidence, Case No. IT95-14/2-T, 29. Juli 1999, para. 23; kritisch auch WANNEK, S. 38 f., wonach die Kammer die wenn hier auch zugunsten der Verteidigung gehende Entscheidung „lediglich unter Hinweis auf das ihr nach Regel 89 (C) VBR zustehende Ermessen (begründete), ohne auf die Bedeutung des Fragerechts des Angeklagten einzugehen“ (S. 39), siehe zudem kritisch S. 37 f. zu der früheren Entscheidung Prosecutor v. Tadić, in der das Konfrontationsrecht zwar vorangestellt, dann aber im Laufe der Entscheidung nicht mehr erwähnt worden sei, sondern für die grundsätzliche Zulässigkeit des Zeugnisses vom Hörensagen auf die potentielle Beweiskraft und die Fähigkeit der internationalen Richter zur richtigen Bewertung dieser Beweiskraft abgestellt wurde: „(offen) bleibt in dieser Entscheidung …“ (S. 37) und „… Hier liegt eine Schwachstelle der Argumentation …“ (S. 37 f.), wie sich das Ergebnis hinsichtlich der Verwertbarkeit von Vernehmungsprotokollen mit dem Fragerecht des Angeklagten vereinbaren lasse, S. 37. Siehe kritisch auch WANNEK, S. 39, wonach sich das Gericht zwar zur Zulassung einer aussergerichtlichen Zeugenaussage bei und trotz Unmöglichkeit eines Kreuzverhörs äusserte, die Richter jedoch nicht darauf eingingen, wie dies mit dem Konfrontationsrecht vereinbar ist, sondern vielmehr „… dieses fundamentale Recht zu einem „technical ground“ herab(stuften) …“ (Hervorhebung Demko). Prosecutor v. Kordić und Čerkez, Public Transcript of Hearing, Case No. IT-95-14/2T, 21. Februar 2000, S. 14701 (Hervorhebung Demko).
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen 918
Von einer dem Angeklagten im Grundsatz uneingeschränkt zu gewährleistenden Ausübung seines Konfrontationsrechts ausgehend, jedoch auch hervorhebend, dass das Konfrontationsrecht kein absolutes Recht ist,2569 d.h., dass von dem Grundsatz der uneingeschränkten Ausübung im Ausnahmefall abgewichen und das Konfrontationsrecht dennoch als gewahrt angesehen werden kann, heisst es im Fall Prosecutor v. Delalić et al. im Anschluss an die ausdrückliche Aufführung des mit Art. 21 Buchst. 4 (e) ICTY-Statut „nearly identical“2570 Art. 6 EMRK und Art. 14 IPbpR sowie unter Hinweis auf die Spruchpraxis des EGMR und des Supreme Court bezüglich der Confrontation Clause des 6. Amendments:
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„... Ideally face to face confrontation is the core of the values epitomised in the accused confronting his accuser in each case. It is not a condition sine qua non of the right …“2571
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Mit Bezug auf das mit der «face to face-confrontation» in Verbindung stehende Recht, dem Zeugen im selben Raum gegenübertreten und sein Verhalten während der Zeugenvernehmung wahrnehmen zu können, betont das Tribunal, dass der Zeuge während seiner Vernehmung grundsätzlich physisch im Gericht anwesend zu sein hat:
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„… It cannot be stressed too strongly that the general rule is that a witness must physically be present at the seat of the International Tribunal …“2572
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Mit dieser physischen Anwesenheit verknüpft, muss es den Richtern möglich sein, den Zeugen und sein Verhalten zu beobachten,2573 jedoch auch mit Bezug auf den Angeklagten ist herausgehoben, dass es diesem möglich sein 2569
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Siehe etwa Prosecutor v. Blagojević et al., First Decision on Prosecution`s Motion for Admission of Witness Statements and Prior Testimony Pursuant to Rule 92 bis, Case No. IT-02-60-T, 12. Juni 2003, para. 14: „... the right to cross-examine witnesses is not an absolute right … although the decision to accept evidence without crossexamination is one which the Trial Chamber shall arrive at only after careful consideration …“ (Hervorhebungen Demko). Prosecutor v. Delalić et al., Decision on the Motions by the Prosecution for Protective Measures for the Prosecution Witnesses Pseudonymed ”B” through to ”M”, Case No. IT-96-21-T, 28. April 1997, para. 55 (Hervorhebung Demko). Prosecutor v. Delalić et al., Decision on the Motions by the Prosecution for Protective Measures for the Prosecution Witnesses Pseudonymed ”B” through to ”M”, Case No. IT-96-21-T, 28. April 1997, para. 55 (Hervorhebung ICTY: «sine qua non», übrige Hervorhebung Demko). Prosecutor v. Tadić, Decision on the Defence Motion to Summon and Protect Defence Witnesses, and on the Giving of Evidence by Video-Link, Case No. IT-94-1-T, 25. Juni 1996, para. 19 (Hervorhebung Demko). Siehe etwa Prosecutor v. Delalić et al., Decision on the Motion to Allow Witnesses K, L and M to Give Their Testimony by Means of Video-Link Conference, Case No. IT-96-21-T, 28. Mai 1997, para. 15.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
muss, den Zeugen während seiner Vernehmung zu sehen, zu hören und mit ihm zu kommunizieren(«to ensure confrontation between the witness and the accused», «enable all persons concerned to see, hear and communicate with the witness», «the Judges, the accused and the questioner must each be able to observe the witness»):2574 In diesem Sinne heisst es im Fall Prosecutor v. Delalić et al.: „... It is axiomatic that the principles articulated in Article 21 (4)(e) of the Statute require that all witnesses should be physically present in the Trial Chamber whilst testifying ... It is important to re-emphasise the general rule requiring the physical presence of the witness. This is intended to ensure confrontation between the witness and the accused and to enable the Judges to observe the demeanour of the witness when giving evidence ....“2575
Ebenso ist im Fall Prosecutor v. Tadić hervorgehoben:
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„… enable all persons concerned to see, hear and communicate with the witness, even though he is not physically present ... the Judges, the accused and the questioner must each be able to observe the witness on their monitor …“2576
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Neben dem Fragerecht im engen Sinne und dem Recht auf Wahrnehmung der Zeugenperson ist zudem die besondere Bedeutung des Rechts des Angeklagten auf Kenntnis der Zeugenidentität in der Rechtsprechung des ICTY anerkannt und findet insbesondere im Zusammenhang mit Einschränkungen der Zeugenidentität ihren Ausdruck, wonach es trotz einer vorgenommenen Zeugenanonymisierung für den Angeklagten eine hinreichende Möglichkeit zur Befragung des Zeugen zu geben hat:
926
„... The right of the accused to examine, or have examined, the witnesses against him, is laid down in Article 21(4) of the Statute of the International Tribunal. Anonymity of a witness does not necessarily violate this right, as long as the defence is given am-
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2575
2576
Siehe etwa Prosecutor v. Tadić, Decision on the Defence Motion to Summon and Protect Defence Witnesses, and on the Giving of Evidence by Video-Link, Case No. IT-94-1-T, 25. Juni 1996, paras. 17, 22. Prosecutor v. Delalić et al., Decision on the Motion to Allow Witnesses K, L and M to Give Their Testimony by Means of Video-Link Conference, Case No. IT-96-21-T, 28. Mai 1997, paras. 13, 15 (Hervorhebung Demko); zur Wichtigkeit der Befugnisse, den Zeugen beobachten und befragen zu können, siehe auch die weiterführenden Ausführungen zur «ausgedehnten» physischen Anwesenheit der Zeugen bei Zeugenvernehmungen per Videokonferenz, die den Richtern dennoch das Beobachten des Verhaltens des Zeugen sowie das Stellen von Fragen ermöglichen und auch dem Angeklagten „... neither denied his right to confront the witness, nor does he lose materially from the fact of the physical absence of the witness ...“ (para. 15, Hervorhebung Demko). Prosecutor v. Tadić, Decision on the Defence Motion to Summon and Protect Defence Witnesses, and on the Giving of Evidence by Video-Link, Case No. IT-94-1-T, 25. Juni 1996, paras. 17, 22 (Hervorhebung Demko).
589
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen ple opportunity to question the anonymous witness. Witness anonymity will restrict this right to the extent that certain questions may not be asked or answered but, as noted above and as is evidenced in national and international jurisdictions applying a similar standard, it is permissible to restrict this right to the extent that is necessary …“2577 928
Diese für eine wirksame Ausübung des Fragerechts im engen Sinne erforderliche und wichtige Bedeutung des Rechts des Angeklagten, Kenntnis von der Zeugenidentität zu erhalten, machen nicht nur schon die ICTY-Regeln und hier insbesondere die ICTY-Regeln 69 (A) und (C) und 75 (A) ersichtlich, sondern die Relevanz des Rechts auf Kenntnis der Zeugenidentität findet wiederholte Betonung auch in der Rechtsprechung des ICTY: Die Privatsphäre und den Schutz der Opfer und Zeugen betreffende angemessene Massnahmen können nach der ICTY-Regel 75 (A) getroffen werden, sofern dies mit den Rechten des Angeklagten vereinbar ist («provided that the measures are consistent with the rights of the accused»). Nach der ICTY-Regel 69 (A) ist eine Geheimhaltung der Identität der Opfer und Zeugen nur in Ausnahmefällen («In exceptional circumstances») und auch nur solange zulässig, bis diese Personen unter den Schutz des Tribunals gebracht worden sind.2578 Zudem ist dem Angeklagten nach der ICTY-Regel 69 (C) vorbehaltlich der ICTY-Regel 75 die Identität der Opfer und Zeugen in ausreichender Zeit vor dem Verfahren offenzulegen, um ihm eine angemessene Zeit zur Vorbereitung seiner Verteidigung zu geben.2579 Die Vorsicht, die sich bezüglich einer Zeugenanonymisierung bereits in diesen ICTY-Regeln zum Ausdruck bringt, setzt sich in der Rechtsprechung des ICTY fort, in welcher strenge Voraussetzungen für eine Zeugenanonymisierung aufgestellt worden sind2580 und einer solchen 2577
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Prosecutor v. Tadić, Decision on the Prosecutor`s Motion Requesting Protective Measures for Victims and Witnesses, Case No. IT-94-1-T, 10. August 1995, para. 67 (Hervorhebung Demko). Siehe ICTY-Regel 69 (A): «In exceptional circumstances, the Prosecutor may apply to a Judge or Trial Chamber to order the non-disclosure of the identity of a victim or witness who may be in danger or at risk until such person is brought under the protection of the Tribunal.» (Hervorhebung Demko); siehe zu den Offenlegungspflichten auch AMBOS, Internationales Strafrecht 2011, S. 333 ff.; BOCK, S. 435 ff. Siehe ICTY-Regel 69 (C): «Subject to Rule 75, the identity of the victim or witness shall be disclosed in sufficient time prior to the trial to allow adequate time for preparation of the defence.» Siehe dazu näher Prosecutor v. Tadić, Decision on the Prosecutor`s Motion Requesting Protective Measures for Victims and Witnesses, Case No. IT-94-1-T, 10. August 1995, paras. 62 ff.; Prosecutor v. Delalić et al., Decision on the Motions by the Prosecution for Protective Measures for the Prosecution Witnesses Pseudonymed ”B” Trough to ”M”, Case No. IT-96-21-T, 28. April 1997, paras. 57 ff.; siehe zu den Voraussetzungen einer Zeugenanonymisierung in der Rechtsprechung des ICTY im Einzelnen die Ausführungen unter Kap. 5 C. II. 3.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
eher zurückhaltend begegnet wird.2581 Im Spannungsverhältnis zwischen den zu wahrenden Angeklagtenrechten und einem gebührenden Zeugenschutz ersteren eine Präferenz einräumend,2582 ist in der Rechtsprechung des ICTY – sei dies etwa in den Fällen Tadić, Blaskić oder Delalić et al. – die dem Angeklagten grundsätzlich zu gewährende Kenntnis von der Identität des Belastungszeugen (auch unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EGMR2583) deutlich zum Ausdruck gebracht und ebenso begegnen Stimmen im Schrifttum einer Zeugenanonymisierung eher mit Zurückhaltung.2584 In diesem Sinne heisst es im Fall Prosecutor v. Blaškić: „... The philosophy which imbues the Statute and the Rules of the Tribunal appears clear: the victims and witnesses merit protection, even from the accused, during the preliminary proceedings and continuing until a reasonable time before the start of the trial itself; from that time forth, however, the right of the accused to an equitable trial must take precedence and require that the veil of anonymity be lifted in his favour, even if the veil must continue to obstruct the view of the public and the media ... How can one conceive of the accused being afforded an equitable trial, adequate time for 2581
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Im Anschluss an die im Fall Tadić gemachten Erfahrungen mit falschen Aussagen anonymer Zeugen wurde das Vorliegen von «exceptional circumstances» als Voraussetzung für die Zulassung einer Zeugenanonymisierung in den Fällen Blaškić und Delalić abgelehnt, siehe Prosecutor v. Blaškić, Decision on the Application of the Prosecutor Dated 17 October 1996 Requesting Protective Measures for Victims and Witnesses, Case No. IT-95-14-T, 5. November 1996, para. 45; Prosecutor v. Delalić et al., Decision on the Motions by the Prosecution for Protective Measures for the Prosecution Witnesses Pseudonymed ”B” Trough to ”M”, Case No. IT-96-21-T, 28. April 1997, paras. 59 ff.; siehe dazu auch näher KAMARDI, S. 361 ff., 364, 366 ff., 371 ff. Siehe zu diesem Spannungsverhältnis die Ausführungen in Prosecutor v. Blaškić, Decision on the Application of the Prosecutor Dated 17 October 1996 Requesting Protective Measures for Victims and Witnesses, Case No. IT-95-14-T, 5. November 1996, paras. 26 ff.; Prosecutor v. Tadić, Decision on the Prosecutor`s Motion Requesting Protective Measures for Victims and Witnesses, Case No. IT-94-1-T, 10. August 1995, paras. 55 ff. Siehe etwa Prosecutor v. Blaškić, Decision on the Application of the Prosecutor Dated 17 October 1996 Requesting Protective Measures for Victims and Witnesses, Case No. IT-95-14-T, 5. November 1996, paras. 28 ff., siehe auch die Erörterung von entsprechenden Bestimmungen in nationalen Rechtsordnungen und Ausführungen aus Schrifttum und Rechtsprechung, paras. 26 ff.; Prosecutor v. Tadić, Decision on the Prosecutor`s Motion Requesting Protective Measures for Victims and Witnesses, Case No. IT-94-1-T, 10. August 1995, paras. 54, 56, siehe auch die Bezugnahme auf weitere nationale Rechtsprechungsentscheide paras. 55, 60. Siehe etwa KAMARDI, S. 371 f., wonach die Zulassung anonymer Zeugenaussagen als „… eine besonders schwerwiegende Entscheidung … nur auf der Grundlage einer entsprechenden, diese explizit erwähnenden Vorschrift, die im Wege der Änderung der Prozessordnung in dieser verankert werden müsste, erlassen werden (dürfte) …“
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929
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen preparation of his defence, and intelligent cross-examination of the Prosecution witnesses if he does not know from where and by whom he is accused? …“2585 930
Sich gegen eine «blinde Konfrontation im Gerichtssaal» („more than a blind confrontation in the courtroom“2586) aussprechend, welche eine wirksame Ausübung des Konfrontationsrechts („in any real sense“2587) nicht gewährleisten kann,2588 betont das ICTY ebenso im Fall Prosecutor v. Delalić et al:
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„… It is clear from Sub-rule 69(C) that the Defence has a right to know the identity of the witnesses which are to be called by the Prosecution in the presentation of its case. The use of the term "identity" has a significance which goes beyond the mere provision of the names of these witnesses. A name by itself is not sufficient to identify the person by whose testimony the charges against the accused are sought to be proven. To identify the witnesses, therefore, it is necessary for the Defence to know further particulars about them, this in turn to satisfy the right of the accused to an adequate preparation of his defence … Furthermore, there is no opportunity for the Defence to examine the witnesses for the Prosecution in any real sense without a proper appreciation of those witnesses. The basic right of the accused to examine witnesses, read in conjunction with the right to have adequate time for the preparation of his defence, therefore envisages more than a blind confrontation in the courtroom. A proper incourt examination depends upon a prior out of court investigation. Sub-rule 69(C) reflects this by referring to a "sufficient time prior to the trial"…“2589
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Prosecutor v. Blaškić, Decision on the Application of the Prosecutor Dated 17 October 1996 Requesting Protective Measures for Victims and Witnesses, Case No. IT-9514-T, 5. November 1996, paras. 24, 25 (Hervorhebung Demko). Prosecutor v. Delalić et al., Decision on the Defence Motion to Compel the Discovery of Identity and Location of Witnesses, Case No. IT-96-21-T, 18. März 1997, para. 19 (Hervorhebung Demko). Prosecutor v. Delalić et al., Decision on the Defence Motion to Compel the Discovery of Identity and Location of Witnesses, Case No. IT-96-21-T, 18. März 1997, para. 19 (Hervorhebung Demko). Siehe dazu ebenso AMBOS, Internationales Strafrecht 2011, S. 333 f. N 31, S. 337 N 32. Prosecutor v. Delalić et al., Decision on the Defence Motion to Compel the Discovery of Identity and Location of Witnesses, Case No. IT-96-21-T, 18. März 1997, paras. 17, 19 (Hervorhebung Demko), siehe auch weiter para. 20 zu den für eine Offenlegung der Zeugenidentität erforderlichen Angaben, zu denen nicht notwendigerweise die aktuelle Adresse des Zeugen, aber etwa dessen Geschlecht, Geburtsdatum, die Namen seiner Eltern und weitere Angaben gehören: „… The term "identity" does not necessarily include the present addresses of the witnesses … Substantial identifying information would appear to be the sex of each witness, his or her date of birth, the names of his or her parents, his or her place of origin and the town or village where he or she resided at the time relevant to the charges …“ (Hervorhebung Demko).
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
b)
Ausgestaltung des persönlichen, zeitlichen und sachlichen Schutzbereichs des Konfrontationsrechts im nationalen Strafverfahren der Schweiz
aa)
Persönlicher Schutzbereich: Der Begriff des Belastungszeugen
Hinsichtlich der den persönlichen Schutzbereich des Konfrontationsrechts betreffenden Frage nach dem Begriff des Belastungszeugen verweist die schweizerische Rechtsprechung auf die des EGMR und führt aus, dass der „Begriff des Zeugen … entsprechend der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte autonom und ohne formelle Bindung an das nationale Recht auszulegen (ist). Als Aussagen von Zeugen gelten all jene, die formell zugelassen sind, dem Gericht zur Kenntnis kommen und von ihm verwendet werden können“.2590 Als einzig entscheidend2591 wird dabei für den Begriff des Belastungszeugen erachtet, dass dieser „mit seiner Aussage den Angeklagten belastet und das Gericht diese Aussage für die Begründung des Urteils verwendet“.2592 Nicht jedoch wird der Belastungszeugenbegriff in Abhängigkeit von der Entscheidungsrelevanz oder einem bestimmten Beweiswert des Zeugenbeweismittels – Fragen, die erst auf der Beweiswürdigungsebene aufgegriffen werden2593 – bestimmt,2594 sondern die Eröffnung 2590
2591 2592 2593
2594
BGE 131 I 476, S. 480, 481 (Hervorhebung Demko); siehe ebenso BGE 125 I 127, S. 132: „… Dabei ist der Begriff des Zeugen entsprechend der Rechtsprechung des Gerichtshofs autonom und ohne formelle Bindung an das nationale Recht auszulegen. Als Aussagen von Zeugen werden all jene betrachtet, die formell zugelassen sind, dem Gericht zur Kenntnis kommen und von ihm verwendet werden können …“ (Hervorhebung Demko); siehe dazu auch DONATSCH/SCHWARZENEGGER/WOHLERS, S. 126. Siehe etwa BG, 6B_708/2007 E. 4.4.3: „Entscheidend ist einzig …“ BG, 6B_708/2007 E. 4.4.3. Siehe zu den im schweizerischen Strafverfahren an die Beweiswürdigungsebene angelegten Anforderungen näher unter Kap. 5 C. II. 3. b) cc). Siehe zur Betonung der Unabhängigkeit von dem Kriterium der Entscheidungsrelevanz auch BGE 118 Ia 462, S. 471 f.: „… Dass ein Belastungszeuge ohne Befragungsmöglichkeit durch den Angeschuldigten einvernommen und die Einvernahme dieses Zeugen in der Begründung des Schuldspruches später als unerheblich deklariert wird, birgt die Gefahr einer Aushöhlung der Parteirechte des Angeschuldigten in sich und wirft erhebliche Bedenken auf. Das erkennende Gericht stand bei seinem Urteil zwangsläufig unter dem Eindruck jener belastenden Zeugenaussage. Das Kassationsgericht räumt zumindest auch ein, die belastenden Zeugenaussagen von Z. hätten "das bereits gefundene Beweisergebnis" bestätigt. Dadurch, dass dem Angeschuldigten verwehrt worden ist, Ergänzungsfragen an den Belastungszeugen zu stellen und damit allenfalls Widersprüche aufzudecken, die Glaubwürdigkeit des Zeugen anzuzweifeln oder gar entlastende Aussagen zu bewirken, wurden die Verteidigungsrechte des Angeschuldigten in schwerwiegender Weise eingeschränkt. So lässt sich nicht völlig ausschliessen, dass aufgrund der Wirkung von Ergänzungsfragen das vom Obergericht
593
932
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
des persönlichen Schutzbereichs des Konfrontationsrechts zutreffend losgelöst von solchen Kriterien betrachtet, und zwar unter Hervorhebung, dass „das Konfrontationsrecht alle Belastungszeugen betrifft“.2595 Mit Blick auf die Frage, ob das Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber allen oder nur bestimmten Belastungszeugen (deren Aussagen ein bestimmter Beweiswert zukommt) gilt, d.h. mit Bezug auf die Definition des Begriffs des Belastungszeugen und die Eröffnung des persönlichen Schutzbereichs des Art. 6 III d EMRK, stellt das BG klar: 933
„… Der Beschwerdeführer wendet zu Recht ein, dass das Konfrontationsrecht alle Belastungszeugen betrifft. Entscheidend ist einzig, dass der Zeuge mit seiner Aussage den Angeklagten belastet und das Gericht diese Aussage für die Begründung des Urteils verwendet. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz ist nicht von Bedeutung, ob es sich um ein blosses Indiz handelt und welcher Beweiskraft diesem Indiz zukommt. Jedes Indiz kann sich – einzeln oder zusammen mit anderen – zuungunsten eines Angeklagten auswirken und gegebenenfalls für den Schuldspruch ausschlaggebend sein …“2596
934
Als Belastungszeugen sind neben Zeugen im Sinne der StPO2597 etwa Auskunftspersonen,2598 Anzeigeerstatter,2599 durch Polizeibeamte befragte Perso-
2595 2596 2597
2598
594
gestützt auf andere Indizien "bereits gefundene Beweisergebnis" erschüttert worden wäre. Zumindest aber wäre bei einer für den Angeschuldigten günstigen Beantwortung der Ergänzungsfragen das laut Obergericht "bereits gefundene Beweisergebnis" nicht "bestätigt" worden … Das Vorgehen der kantonalen Instanzen birgt eine weitere Gefahr in sich. Es ist zu vermeiden, dass sich der Richter bei der Urteilsfindung direkt oder indirekt von den belastenden Aussagen eines Zeugen beeinflussen lässt und danach – in Anbetracht des Verfahrensmangels – den Schuldspruch formal auf andere, mängelfreie Beweisgründe stützt … Der Wortlaut von Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK räumt das Recht auf ergänzende Befragung durch den Angeschuldigten allgemein für jede Einvernahme von Belastungszeugen ein ("interroger ou faire interroger les témoins à charge"), ohne förmlichen Unterschied hinsichtlich späterer Entscheidungsrelevanz der Zeugenaussage. Verfassung und Konvention gebieten, dass der Angeschuldigte sein Recht auf Befragung von Belastungszeugen grundsätzlich unabhängig davon ausüben kann, ob die belastenden Zeugenaussagen danach in der Urteilsbegründung als erheblich bezeichnet werden oder nicht …“ (im Originaltext fettgedruckte Hervorhebung BGE: «Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK», übrige Hervorhebung Demko); siehe dazu auch näher SCHLEIMINGER, S. 30. BG, 6B_708/2007 E. 4.4.3. (Hervorhebung Demko). BG, 6B_708/2007, E. 4.4.3 (Hervorhebung Demko). Siehe dazu WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 147 N 12; DONATSCH/LIEBER, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, § 14 N 2, 35; siehe auch bereits HUG, Kassationsgericht, S. 389. Siehe etwa BGE 131 I 476, S. 481: „… Aussagen von Zeugen und Auskunftspersonen dürfen in der Regel nur nach erfolgter Konfrontation zum Nachteil eines Angeschuldigten verwertet werden …“ (Hervorhebung Demko); WOHLERS, in: DONATSCH/ HANSJAKOB/LIEBER, Art. 147 N 12; DONATSCH/LIEBER, in: DONATSCH/SCHMID,
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
nen,2600 Mitangeschuldigte,2601 (auch anonyme) Gewährspersonen in den Fällen des Einsatzes von V-Männern2602 und ebenso (in den Fällen belastender Angaben2603) Sachverständige2604 anerkannt. Eine ausdrückliche Auseinandersetzung mit der Frage, ob der Begriff des Belastungszeugen im Sinne des Art. 6 III d EMRK auch rein private belastende Aussagen erfassen soll, die nicht gegenüber Strafverfolgungsbehörden und/oder zum Zwecke einer Vernehmung für ein Strafverfahren gemacht wurden, ist der schweizerischen Rechtsprechung bisher nicht zu entnehmen. Es bleibt hier daher abzuwarten, in welcher Weise die sich betreff des Belastungszeugenbegriffs dem EGMR – welcher diese Frage bis heute ebenso noch nicht ausdrücklich entschieden
2599
2600
2601
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2604
Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, § 14 N 35; siehe auch bereits HUG, Kassationsgericht, S. 389. Siehe etwa BGE 118 Ia 457, S. 461, 462: „… Wenn sich die Behörden der Strafjustiz beweisrechtlich auf schriftliche Aussagen von Anzeigern oder anderen Gewährspersonen stützen, muss es dem Angeschuldigten ermöglicht bleiben, seine Verteidigungsrechte wirksam wahrzunehmen … Falls Anzeiger als Zeugen befragt werden, hat der Angeschuldigte das Recht, Ergänzungsfragen an die Belastungszeugen zu stellen und allenfalls die Überzeugungskraft ihrer Aussagen zu erschüttern“ (S. 461); DONATSCH/LIEBER, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, § 14 N 2, 35. Siehe etwa BGE 131 I 476, S. 481: „… Auch in der Voruntersuchung gemachte Aussagen vor Polizeiorganen werden als Zeugenaussagen betrachtet …“; ebenso BGE 125 I 127, S. 132; WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 147 N 12; DONATSCH/LIEBER, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, § 14 N 2, 35. Siehe etwa ZR 88 (1989) Nr. 3, S. 6; ZR 95 (1996) Nr. 57, S. 174; ZR 98 (1999) Nr. 63, S. 303 f.; WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 147 N 12; DONATSCH/LIEBER, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, § 14 N 35; siehe auch HUG, Kassationsgericht, S. 389 f. Siehe zur V-Mann-Problematik und zu dem Konfrontationsrecht gegenüber den (anonymen) Gewährspersonen etwa BGE 118 Ia 462, S. 470; BGE 118 Ia 457, S. 459; BGE 118 Ia 327, S. 329 ff.; BGE 125 I 127, S. 137 ff., 157; zur abweichenden früheren Rechtsprechung siehe BGE 112 Ia 18, S. 24; siehe dazu auch MÜLLER-HASLER, S. 189, 193 f., 197 f.; HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, S. 232 N 11. Zur Frage, in welchen Fällen auch ein Sachverständiger als Belastungszeuge zu gelten hat und zu den damit angesprochenen Fragen nach Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, mithin nach Neutralität des Sachverständigen einerseits und nach dem Eingangfinden belastender Angaben andererseits siehe etwa BGE 127 I 73, S. 80 ff.; siehe dazu eingehend DONATSCH, Kassationsgericht, S. 365 ff., 368 f.; DONATSCH/LIEBER, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, § 14 N 36. WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 147 N 12; DONATSCH/LIEBER, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, § 14 N 4, 36; siehe dazu auch HUG, Kassationsgericht, S. 389.
595
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
hat2605 – bislang anschliessende schweizerische Rechtsprechung sich insoweit in der Zukunft entwickeln wird. bb) 935
Zeitlicher Schutzbereich
Die Frage nach dem für die Ausübung des Konfrontationsrechts grundsätzlich zu gewährenden Zeitpunkt – ob im Vorverfahren oder in der Hauptverhandlung – ist für das schweizerische Strafverfahren eingestellt in das dieses prägende Prinzip der beschränkten Unmittelbarkeit beantwortet,2606 wie es (teils) schon vor Erlass der Strafprozessordnung galt2607 und sich mit deren Erlass nunmehr für das gesamtschweizerische Strafverfahren durchgesetzt hat.2608 Die vom EGMR gewählten Formulierungen – dass «normalerweise» („normally“2609) bzw. «grundsätzlich» („In principle“2610) alle Beweise in Anwesenheit des Angeklagten in einer öffentlichen Verhandlung in einem kontradiktorischen Verfahren zu erheben sind und dem Angeklagten im Laufe des Gesamtverfahrens grundsätzlich nur eine einmalige Konfrontationsmöglichkeit einzuräumen ist2611 – versteht das BG dabei nicht dahingehend, dass „… 2605
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2609 2610
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Siehe dazu näher bei den Ausführungen zum persönlichen Schutzbereich aus der Sicht des EGMR unter Kap. 5 B. I. 1. b). Siehe dazu näher HAURI, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 343 N 12; MATHYS, S. 134: Einführung der „beschränkte(n) Unmittelbarkeit …, die zwischen der reinen Unmittelbarkeit und der blossen Mittelbarkeit liegt“ (hier kursive, im Originaltext fettgedruckte Hervorhebung Mathys); siehe zudem PIETH, Strafprozessrecht, S. 44: „Ausdruck der in der Schweiz vorherrschenden «fakultativen Unmittelbarkeit» nach Ermessen des Instruktionsrichters, respektive der Mittelbarkeit des Normalverfahrens … Wende zurück zur «fakultativen Unmittelbarkeit» nach Ermessen des Gerichts …“ (hier kursive, im Originaltext fettgedruckte Hervorhebung Pieth); ARQUINT/SUMMERS, plädoyer 2008, S. 41: „eingeschränkte Unmittelbarkeit“; TAG, S. 27 f.; DONATSCH/CAVEGN, S. 55 f.; MÜLLER, ZBJV 1999, S. 294; instruktiv dazu auch EICKER, AJP 2003, S. 17; ebenso ALBRECHT, ZStrR 2010, S. 187 ff. Zur früheren, nicht einheitlichen Regelung zur Unmittelbarkeit oder Mittelbarkeit des Strafverfahrens im Bund und in den einzelnen Kantonen siehe etwa FINGERHUTH, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 343 N 2; HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, S. 233 f. N 16 ff.: Prägung des schweizerischen Strafprozessrechts „stark vom Prinzip der beschränkten Mündlichkeit und der Mittelbarkeit der Beweisaufnahme“ (S. 233 N 16). Siehe auch zutreffend die deutlichen Worte von PIETH, AJP 2002, S. 628 f.; ebenso PIETH, Strafprozessrecht, S. 44: „in der Schweiz vorherrschenden «fakultativen Unmittelbarkeit» nach Ermessen des Instruktionsrichters, respektive der Mittelbarkeit des Normalverfahrens“ (hier kursiv, im Original fettgedruckte Hervorhebung Pieth). EGMR, ASCH v. AUSTRIA, 26.04.1991, A203, § 27 (Hervorhebung Demko). EGMR, KOSTOVSKI v. THE NETHERLANDS, 20.11.1989, A166, § 41 (Hervorhebung Demko). Siehe dazu auch die Ausführungen des BG in BGE 125 I 127, S. 132 E. 6. b.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
ein Zeuge stets vor Gericht und öffentlich auszusagen hätte …“2612 und im Vorverfahren gemachte Aussagen als solche mit den Garantien des Art. 6 EMRK schlicht unvereinbar wären.2613 Die Formulierungen des EGMR werden in der Schweiz nicht im Sinne eines schrankenlos2614 oder zumindest grundsätzlich geltenden Unmittelbarkeitsprinzips ausgelegt und umgesetzt,2615 sondern vielmehr erfolgt ein Verweis darauf, dass die „Unmittelbarkeit kein eigenständiger Verfassungsgrundsatz“2616 ist und „mit dem Anspruch des Beschuldigten auf Zeugenbefragung nicht in direktem Zusammenhang“2617 steht.2618 Nicht den Umstand einer Befragung des Belastungszeugen gerade vor Gericht in der Hauptverhandlung, sondern den Umstand der Beweiserhebung in Anwesenheit des Angeklagten in den Vordergrund rückend, mithin die Person des Angeklagten in den Mittelpunkt stellend, heisst es, dass „… Beweise im Hinblick auf ein kontradiktorisches Verfahren grundsätzlich in Anwesenheit des Beschuldigten zu erheben seien, indessen auch ein Abstellen auf Aussagen aus der Voruntersuchung zulässig sei …“2619
936
Einen direkten Zusammenhang zwischen dem Unmittelbarkeitsprinzip und dem Konfrontationsrecht des Angeklagten ablehnend,2620 hingegen den beste-
937
2612 2613
2614 2615
2616 2617 2618
2619
2620
BGE 125 I 127, S. 132 E. 6. b. BGE 125 I 127, S. 132 E. 6. b.; BGE 129 I 151, S. 154 E. 3.1: „… Dabei ist festzuhalten, dass das Abstellen auf Aussagen aus der Voruntersuchung mit Konvention und Bundesverfassung unter Vorbehalt der Wahrung der Verteidigungsrechte vereinbar ist …“ Siehe etwa BGE 125 I 127, S. 134 E. 6. c. aa. Siehe zu dem den Grundsatz der beschränkten Unmittelbarkeit für das eidgenössische Strafverfahren zum Ausdruck bringenden Art. 343 StPO und dessen Regelungen zur erstmaligen oder erneuten Beweiserhebung in der Hauptverhandlung vor Gericht die nachfolgenden Ausführungen im Haupttext; siehe dazu auch näher HAURI, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 343 N 12 ff.; FINGERHUTH, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 343 N 26 ff.; MATHYS, S. 131 ff. BGE 125 I 127, S. 134 E. 6. c. aa. BGE 125 I 127, S. 134 E. 6 c. aa. Kritisch dazu TRECHSEL, AJP 2000, S. 1369; siehe zudem die Forderung von ARQUINT/SUMMERS, plädoyer 2008, S. 41 zu Beweisaufnahmen vor dem Gericht. BGE 125 I 127, S. 133 E. 6. b. (Hervorhebung Demko); siehe dazu auch BGE 116 Ia 289, S. 291, 292; BGE 113 Ia 412 S. 419, 420. Siehe auch zur Rechtsprechung des Kassationsgerichts Zürich etwa ZR 86 (1987), Nr. 87, S. 206, 208, 209, wonach eine Verletzung des Art. 6 III d EMRK nur gegeben sei, wenn der Beschuldigte für eine Zeugenbefragung „während des ganzen Verfahrens überhaupt nie Gelegenheit … gehabt hätte, und nicht schon dann, wenn dies mit Bezug auf ein einzelnes Verfahrensstadium der Fall ist“; siehe auch ZR 95 (1996) Nr. 10, S. 27, 32, wo das Kassationsgericht herausstellt, dass, wenn keine besonderen Umstände vorliegen, es genüge, dass der „Angeschuldigte im Verlaufe des Strafverfahrens wenigstens einmal Gelegenheit erhält, der Einvernahme von Belastungszeu-
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
henden Zusammenhang zwischen dem Konfrontationsrecht und dem Anspruch des Angeklagten auf ein faires Verfahren und der Wahrung der Verteidigungsrechte bejahend und betonend,2621 kommt es nach Ansicht des BG eben auf diese die Person des Angeklagten in den Mittelpunkt rückende Wahrung der Verteidigungsrechte an: 938
„… Wesentlich im vorliegenden Zusammenhang ist einzig die Wahrung der Verteidigungsrechte und die Möglichkeit des Beschuldigten, in angemessener und tatsächlich wirksamer Weise Fragen an die Zeugen zu stellen …“2622
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Hingegen räumten „… weder Bundesverfassung noch Menschenrechtskonvention einen Anspruch auf schrankenlose Geltung des Unmittelbarkeitsprinzips im Beweisverfahren ein … und daher (bestehe) kein Anspruch auf Einvernahme von Zeugen vor dem Richter in der Hauptverhandlung …“.2623 Das Konfrontationsrecht des Angeklagten wird hinsichtlich des grundsätzlich zu gewährenden Zeitpunktes seiner Ausübung für das schweizerische Strafverfahren mithin nicht dahingehend verstanden, dass dieses grundsätzlich vor Gericht in der Hauptverhandlung zu gewähren ist.2624 Vielmehr stellt man auf die grundsätzlich genügende, einmalige Gelegenheit zur wirksamen Befragung des Belastungszeugen im Laufe des Strafverfahren ab2625 und hierfür wiederum erachtet man eine Gelegenheit zur Befragung des Belastungszeugen im Vorverfahren als grundsätzlich vorzugswürdig und unter der Voraus-
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gen beizuwohnen und den ihn belastenden Personen Ergänzungsfragen zu stellen“ bzw. – wie es in ZR 98 (1999) Nr. 63, S. 301, 304 genauer heisst – dass es genüge, wenn „der Angeschuldigte zumindest einmal – sei es im Laufe der Untersuchung oder vor den Schranken – Ergänzungsfragen stellen konnte“. Siehe etwa BGE 125 I 127, S. 133 E. 6. b. BGE 125 I 127, S. 134 E. 6. c. aa. (Hervorhebung Demko); siehe auch BGE 116 Ia 289, S. 292. BGE 125 I 127, S. 134 E. 6. c. aa (Hervorhebung Demko); siehe auch die Verweise auf BGE 113 Ia 412, S. 419 f.; BGE 116 Ia 289, S. 291 E. 3.a; BGE 115 II 129, S. 133 E. 6.a.; siehe dazu auch PIETH, Strafprozessrecht, S. 43 f. Siehe dazu auch HAURI, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 343 N 5, 12: kein „Anspruch auf eine vollständig unmittelbare Beweisabnahme durch das Gericht“ (N 5, hier kursive, im Original fettgedruckte Hervorhebung Hauri); HAEFLIGER/SCHÜRMANN, S. 191, 239; PIETH, Strafprozessrecht, S. 43 f.; siehe auch bereits SCHLEIMINGER, S. 24 f. Siehe etwa BGE 116 Ia 289, S. 291: „… Insbesondere besteht auch kein Anspruch, dass alle Zeugenaussagen vor dem Richter in der Hauptverhandlung vor dem Strafgericht zu erfolgen hätten; Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK will lediglich ausschliessen, dass ein Strafurteil auf Aussagen von Zeugen abgestützt wird, ohne dass dem Beschuldigten wenigstens einmal Gelegenheit gegeben worden wäre, Ergänzungsfragen zu stellen. Dabei genügt es, wenn diese Gelegenheit irgend einmal im Lauf des Verfahrens gewährt wird …“ (Hervorhebung Demko).
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
setzung2626 von hier wirksam gewahrten Verteidigungsrechten als ausreichend.2627 Diese bereits vor Erlass der Strafprozessordnung bestehende Rechtsprechung findet ihre Fortsetzung und Verankerung in dem das beschränkte Unmittelbarkeitsprinzip zum Ausdruck bringenden Art. 343 StPO, welcher regelt, ob und unter welchen Voraussetzungen (Zeugen-)Beweiserhebungen erstmals oder – trotz erfolgter Beweiserhebungen bereits im Vorverfahren – wiederholt vor dem Gericht in der Hauptverhandlung durchzuführen sind.2628 Bereits vor Erlass der StPO wurde die dem Angeklagten im Laufe des Verfahrens einzuräumende grundsätzlich „einmalige Gelegenheit“2629 zur Befragung des Belastungszeugen – entweder „… im Zeitpunkt des Zeugnisses selbst (etwa dadurch, dass der Beschuldigte der Zeugenbefragung direkt bei-
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Siehe etwa BGE 116 Ia 289, S. 292: „… Wenn auch die Rechtsprechung somit eine nur einmalige Gelegenheit zur Stellungnahme als genügend ansieht, so steht die Zulässigkeit dieser Beschränkung doch unter dem Vorbehalt, dass der Angeschuldigte mit dieser Gelegenheit seine Verteidigungsrechte auch tatsächlich wirksam ausüben konnte ... Die Verwertung von Aussagen aus dem Ermittlungsverfahren bleibe mit Art. 6 Ziff. 3 lit. d in Verbindung mit Ziff. 1 EMRK vereinbar, solange die Verteidigungsrechte des Angeklagten gewahrt würden. Dies sei aber nur dann der Fall, wenn der Angeklagte angemessene und ausreichende Gelegenheit gehabt habe, den ihn belastenden Aussagen entgegenzutreten“ (Hervorhebung Demko); BGE 129 I 151, S. 154 E. 3.1: „… unter Vorbehalt der Wahrung der Verteidigungsrechte ..“ (Hervorhebung Demko); siehe dazu auch HAURI, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 343 N 5: „… Wenn aber die Beweise vor Abschluss des Vorverfahrens erhoben werden und später vom Gericht nicht mehr abzunehmen sind, müssen die Mitwirkungs- und Verteidigungsrechte bereits im Vorverfahren konventionskonform ausgebaut werden …“ (Hervorhebung Demko); siehe zutreffend auch deutlich DONATSCH/CAVEGN, S. 56, wonach die der StPO zugrundeliegende Tendenz der Beweiserhebung möglichst vor dem Abschluss des Vorverfahrens mit „einem Ausbau der Verteidigungsrechte und mit der Geltung der verfassungs- und konventionsrechtlichen Ansprüche bereits in diesem Verfahrensabschnitt korrespondieren“ muss. Siehe dazu etwa BGE 124 I 274, S. 285; siehe aus dem Schrifttum zum Beispiel HAURI, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 343 N 5, 12, 13; FINGERHUTH, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 343 N 11; WOHLERS, in: DONATSCH/ HANSJAKOB/LIEBER, Art. 147 N 13: „… Es reicht also grundsätzlich aus, dass diese Möglichkeit im Untersuchungsverfahren gewährt wurde …“ Siehe auch MATHYS, S. 134: Einführung der „beschränkte(n) Unmittelbarkeit …, die zwischen der reinen Unmittelbarkeit und der blossen Mittelbarkeit liegt“ (hier kursive, im Originaltext fettgedruckte Hervorhebung Mathys). BGE 125 I 127, S. 136 E. 6. c. ee., siehe auch 133 E. 6. b.: „… Eine einmalige Gelegenheit hierfür genüge …“; BGE 131 I 476, S. 480 E. 2.2.; BGE 132 I 127 E. 2: „wenigstens einmal während des Verfahrens“.
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wohnt) oder später …“2630 – als erforderlich, grundsätzlich aber auch als ausreichend2631 angesehen,2632 vorausgesetzt,2633 jene einmalige Möglichkeit der Zeugenkonfrontation war „angemessen und ausreichend“2634 und die Befragung konnte „tatsächlich wirksam ausgeübt werden“,2635 so dass die Verteidigungsrechte des Angeklagten wirksam gewahrt wurden.2636 Die dabei mit dem beschränkten Unmittelbarkeitsgrundsatz grundsätzlich dem Vorverfahren zugesprochene Vorzugswürdigkeit sowie Regelungen zu (Zeugen-) Beweiserhebungen erstmals oder wiederholt vor Gericht in der Hauptverhandlung haben mit Erlass der StPO nunmehr Geltung auch für das heutige schweizerische Strafverfahren und hier Eingang in die verschiedenen Absätze des Art. 343 StPO gefunden: 941
Unterschieden wird zwischen im Vorverfahren noch nicht oder unvollständig erhobenen Beweisen, welche in Abs. 1 geregelt sind, und solchen Beweisen nach Abs. 2 und 3, welche im Vorverfahren bereits erhoben wurden und bezüglich derer nun zu entscheiden ist, ob es in der Hauptverhandlung zu einer Wiederholung der Beweisabnahme kommen soll oder nicht. Hinsichtlich der noch nicht oder unvollständig erhobenen Beweise heisst es in Art. 343 Abs. 1 StPO, dass das Gericht neue Beweise erhebt und unvollständig erhobene Beweise ergänzt und jene Regelung des Absatzes 1 stellt klar, dass die Erhe-
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BGE 125 I 127, S. 136, 137 E. 6. c. ee., siehe auch S. 132, 133 E. 6.b.: „… entweder zu dem Zeitpunkt, zu dem dieser seine Aussage macht, oder in einem späteren Verfahrensstadium“. Siehe etwa BGE 125 I 127, S. 136 E. 6. c. ee: „genügt grundsätzlich“. Siehe zum eidgenössischen Strafverfahren auch WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 147 N 13: „… Ist das Konfrontationsrecht im Untersuchungsverfahren gewährt worden, besteht also grundsätzlich kein Anspruch darauf, den gleichen Belastungszeugen – im Vorverfahren oder im Hauptverfahren – nochmals zu konfrontieren …“; FINGERHUTH, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 343 N 11; HAURI, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 343 N 12: „… das Gericht (kann) grundsätzlich auf die im Vorverfahren korrekt erhobenen Beweise abstellen, ohne sie ein zweites Mal erheben zu müssen …“; zu dem Anspruch auf eine nochmalige Zeugenkonfrontation etwa im Falle nachträglicher neuer belastender Angaben siehe näher WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 147 N 13. Siehe etwa BGE 116 Ia 289, S. 292; BGE 129 I 151, S. 154 E. 3.1: „… unter Vorbehalt der Wahrung der Verteidigungsrechte ...“ (Hervorhebung Demko). BGE 125 I 127, S. 137 E. 6. c. ee. BGE 125 I 127, S. 137 E. 6. c. ee. BGE 125 I 127, S. 137 E. 6. c. ee., ff.: „… Zur Wahrung der Verteidigungsrechte ist erforderlich, dass die Gelegenheit der Befragung eines Belastungszeugen angemessen und ausreichend ist und die Befragung tatsächlich wirksam ausgeübt werden kann …“
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
bung neuer bzw. Ergänzung unvollständiger Beweise2637 nicht in das Ermessen, sondern in die Pflicht des Gerichts gestellt ist.2638 Was die nochmalige Erhebung von im Vorverfahren nicht ordnungsgemäss erhobenen Beweisen – und hier mithin auch von Zeugenbeweisen, bei deren Erhebung es zu einer Missachtung gesetzlicher Vorschriften kam, wie etwa zu einer Nichtbeachtung der „Teilnahme- und Fragerechte der Parteien (Art. 147; Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK)“2639 – betrifft, regelt Art. 343 Abs. 2 StPO die Verpflichtung des Gerichts zur ordnungsgemässen Wiederholung der Beweisabnahme im Hauptverfahren vor Gericht.2640 Art. 343 Absatz 3 StPO, der die nochmalige Erhebung von im Vorverfahren ordnungsgemäss erhobenen Beweisen regelt, bedeutet für das Gericht aber nur dann eine Verpflichtung zur wiederholten Beweiserhebung im Hauptverfahren vor Gericht, «sofern die unmittelbare Kenntnis des Beweismittels für die Urteilsfällung notwendig erscheint»,2641 was das Gericht nach seinem freien Ermessen zu entscheiden hat.2642 Dem Gericht ist hier ein „grosse(r) Ermessensspielraum(s)“ 2643 eingeräumt, dessen Ausübung noch dazu von der bisherigen und vertrauten Praxis im Umgang mit den früheren kantonalen Regelungen beeinflusst sein wird (bzw. sein kann).2644 Der zukünftige gerichtliche Umgang mit dieser Regelung – und hier etwa auch die Frage, ob und inwieweit die Rechtsprechung bestimmte Empfehlungen des Schrifttums zu einem vermehrten Gebrauchmachen von jenem
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Zur Interpretation der neuen und unvollständig erhobenen Beweise siehe im Einzelnen HAURI, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 343 N 15, 16, 17; FINGERHUTH, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 343 N 26, 27; MATHYS, S. 132, 133. Siehe auch HAURI, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 343 N 15, 16: „verpflichtet das Gericht“ (N 15), „muss das Gericht“ (N 16). HAURI, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 343 N 18; siehe ebenso FINGERHUTH, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 343 N 28. Dazu im Einzelnen HAURI, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 343 N 18: „verpflichtet das Gericht“; FINGERHUTH, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 343 N 28, 29; MATHYS, S. 131: „Selbstverständlichkeit“. Zur Bedeutung dieser Notwendigkeit der unmittelbaren Kenntnisnahme des Beweismittels siehe näher MATHYS, S. 133 f.; HAURI, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 343 N 19 ff.: „wenn die Kraft des Beweismittels in entscheidender Weise vom Eindruck abhängt, der bei seiner Präsentation entsteht“ (N 19, hier kursive, im Originaltext fettgedruckte Hervorhebung Hauri); PIETH, Strafprozessrecht, S. 185. Siehe auch FINGERHUTH, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 343 N 31; SCHMID, Praxiskommentar, Art. 343 N 8. MATHYS, S. 135; siehe zum grossen Ermessensspielraum des Gerichts auch näher HAURI, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 343 N 13, 19. Darauf ebenso hinweisend MATHYS, S. 135; HAURI, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 343 N 13.
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Ermessen zur fakultativen erneuten Beweisabnahme vor Gericht2645 aufgreift – wird zeigen, in welch grossem oder eben auch weniger grossem Masse dem Unmittelbarkeitsprinzip im Zusammenhang mit einer Wiederholung einer bereits im Vorverfahren ordnungsgemäss vorgenommenen Zeugenbeweisabnahme im Hauptverfahren vor Gericht zur Verwirklichung geholfen wird. cc)
Sachlicher Schutzbereich
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Mit Blick auf die Gewährleistung einer (materiell) wirksamen Zeugenkonfrontation ist das Konfrontationsrecht auf seiner Ausübungsebene neben einer im Grundsatz direkten2646 Zeugenkonfrontation mit bestimmten, dem Angeklagten im schweizerischen Strafverfahren ebenso grundsätzlich uneingeschränkt einzuräumenden Teilbefugnissen bzw. Ausübungsrechten verbunden. Diese sind bereits vor Erlass der Strafprozessordnung in der Rechtsprechung und im Schrifttum herausgearbeitet worden und sind ebenso in der nunmehr geltenden Strafprozessordnung, wenn auch einmal mehr und einmal weniger ausdrücklich, verankert:
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Zu den Teilbefugnissen des Konfrontationsrechts auf seiner Ausübungsebene gehört als das Hauptausübungsrecht das Fragerecht im engen Sinne, welches in verschiedenen Bestimmungen der StPO seinen Ausdruck findet. Zu nennen sind hier insbesondere die Art. 147 Abs. 1 und Art. 341 Abs. 2 StPO mit dem im Art. 147 Abs. 1 StPO formulierten Recht, «einvernommenen Personen Fragen zu stellen» und mit der Regelung in Art. 341 Abs. 2 StPO, nach der die Parteien «durch die Verfahrensleitung Ergänzungsfragen stellen lassen oder sie mit deren Ermächtigung selber stellen (können)». Zudem sind die 2645
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Siehe etwa PIETH, Strafprozessrecht, S. 185: Zeugen „sollten auch bei scheinbarer Widerspruchsfreiheit …“ geladen werden, „… wenn der Beschuldigte oder seine Verteidigung der Ansicht sind, dass die Entlastungsperspektive im Vorverfahren nicht ausreichend zum Zug gekommen ist“; das Gericht „sollte sich … für weitere Beweisanträge sensibel zeigen. Hier zu sparen wäre riskant“; deutlich auch ALBRECHT, ZStrR 2010, S. 195; ARQUINT/SUMMERS, plädoyer 2008, S. 41, welche mit Blick auf Schwierigkeiten betreff der Unparteilichkeit der Staatsanwaltschaft die Bedeutung von Beweisabnahmen vor Gericht betonen: „… sollte das Gericht über Raum verfügen, die Beweisaufnahme an sich zu ziehen. Eine zu enge Auslegung dieser Vorschrift oder eine Nichtausübung dieser Kompetenz durch das Gericht führte … zu einem System, welches Art. 6 Abs. 1 EMRK in keiner Weise entspräche … Es ist damit zu fordern, dass wesentliche Beweisabnahmen grundsätzlich immer auch vom urteilenden Gericht durchgeführt werden können …“ BG, 6B_45/2008 E. 2.4, 2.5; BGE 125 I 127, S. 136; BGE 132 I 127, S. 129 E. 2: „eine belastende Zeugenaussage grundsätzlich nur verwertbar, wenn der Beschuldigte den Belastungszeugen wenigstens einmal während des Verfahrens in direkter Konfrontation befragen konnte“; BGE 133 I 33, S. 41 E. 3.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Art. 147 III S. 2 StPO2647 und Art. 148 I Buchst. a. und c. StPO2648 anzuführen. Die massgebliche Bedeutung des dem Angeklagten einzuräumenden Rechts, dem Belastungszeugen in aktiver und kommunikativer Weise begegnen und ihm direkt2649 Fragen stellen zu können – d.h. eben jene dem Angeklagten zu gewährende „Zeugenbefragung mit den Vorteilen der unmittelbaren Beweisabnahme“2650 –, um auf diese Weise die Entstehung der Zeugenaussage (mit)beeinflussen2651 zu können sowie die Prüfung und Infragestellung der Glaubwürdigkeit des belastenden Zeugenbeweises (unter Einschluss der Zeugenaussage und der Zeugenperson) zu ermöglichen, hat nicht nur das BG bereits vor Erlass der Strafprozessordnung deutlich hervorgehoben,2652 sondern diese hat ebenso Betonung im schweizerischen Schrifttum gefunden.2653 2647
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Art. 147 III S. 2 StPO: «Anspruch der Partei auf rechtliches Gehör, insbesondere dem Recht, Fragen zu stellen». Art. 148 I Buchst. a. StPO: «Fragen formulieren können» und Art. 148 I Buchst. c. StPO: «schriftliche Ergänzungsfragen stellen können». Siehe etwa BG, 6B_45/2008 E. 2.4, 2.5; BGE 125 I 127, S. 136; BGE 132 I 127, S. 129 E. 2: „eine belastende Zeugenaussage grundsätzlich nur verwertbar, wenn der Beschuldigte den Belastungszeugen wenigstens einmal während des Verfahrens in direkter Konfrontation befragen konnte“; BGE 133 I 33, S. 41 E. 3; siehe dies hervorhebend etwa HUG, Kassationsgericht, S. 393; WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/ LIEBER, Art. 147 N 17: „zeitlich in unmittelbarem Zusammenhang mit der Vernehmung im Wege einer direkten Kommunikation so ausgeübt werden kann, dass der Frageberechtigte unmittelbar auf die Bekundungen des Zeugen reagiert“ (Hervorhebung Demko). BGE 133 I 33, S. 45, E. 4.3 (Hervorhebung Demko). Siehe auch bereits DEMKO, ZStrR 2004, S. 429 zur aktiven Einflussnahme auf den Kommunikations- und Interaktionsprozess. Siehe etwa BGE 133 I 33, S. 45, 46 E. 4.3; BGE 125 I 127, S. 147; zur Bedeutung des Rechts, dem Belastungszeugen Fragen stellen zu können, siehe auch BGE 132 I 127, S. 133, 134 E. 4.3: Der Verteidiger konnte durch den Gerichtspräsidenten zwar vorher eingereichte Fragen stellen lassen, jedoch hatten weder er noch der Angeklagte selbst die Gelegenheit, den Belastungszeugen in einer „wenigstens indirekten Konfrontation zu befragen“ (S. 134); BG, Urt.v.02.06.2008, 6B_45/200/sst, E. 2.4. Siehe etwa HAURI, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 341 N 9 ff.; WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 147 N 5, 6, 17: „Möglichkeit haben, Fragen an den Zeugen zu stellen und diesem Vorhaltungen zu machen“ (N 17); WOHLERS, ZStrR 2005, S. 165; DONATSCH/LIEBER, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, § 14 N 6 zur wichtigen Bedeutung des Rechts auf Stellen von Ergänzungsfragen; DEMKO, ZStrR 2004, S. 423, 429; HUG, Kassationsgericht, S. 393: „Recht auf Ergänzungsfragen“, „Recht haben, direkt Fragen an den Zeugen zu stellen“ (Hervorhebung Hug), „mit den jeweiligen Fragen situativ an die Antworten und (akustischen oder visuellen) Reaktionen eines Zeugen anzuknüpfen“; deutlich auch HAUSER, SJZ 1975, S. 347, wo es nach der Betonung der Be-
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Der in Art. 341 Abs. 2 StPO verwendete Begriff der «Ergänzungsfragen», welche die Mitglieder des Gerichts und die Parteien zu stellen befugt sind, ist für eine umfassende Ausübung des Fragerechts im engen Sinne nicht in einem restriktiven Sinne zu verstehen: Der Begriff der Ergänzungsfragen beschränkt sich mithin nicht nur auf sog. „«Anschlussfragen»“,2654 welche in einem „unmittelbare(n) Zusammenhang mit bereits behandelten Fragethemen“2655 stehen, sondern ist vielmehr in einem weiten Verständnis „im Sinne von «weiteren Fragen»“2656 zu verstehen. Diese mit dem zu beurteilenden Sachverhalt und dem Verfahren zusammenhängenden, auf rechtlich zulässigem Wege gestellten Fragen können sich sowohl auf die Zeugenperson beziehen als auch Fragen in der Sache selbst sein2657 und sollen dem Angeklagten ermöglichen, die Glaubwürdigkeit des belastenden Zeugenbeweises unter Anknüpfung an die Zeugenperson und die Zeugenaussage überprüfen und in Frage stellen zu können.2658 Auch wenn der Angeklagte bei gerichtlichen Zeugeneinvernahmen seine Ergänzungsfragen nur vermittelt «durch die Verfahrensleitung» oder ausnahmsweise mit deren Ermächtigung auch selbst
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deutung der Anwesenheit und Beobachtung des Verhaltens von Einvernommenen und Einvernehmenden heisst: „Noch wichtiger ist die Möglichkeit, Fragen an Zeugen … zu stellen …“ Botschaft, S. 1284. Botschaft, S. 1284. Botschaft, S. 1284; ebenso FINGERHUTH, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 341 N 7; HAURI, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 341 N 10: Ergänzungsfragen können „auch bisher noch nie angesprochene Themen betreffen“. Siehe zu dieser Differenzierung etwa die Ausführungen in BGE 125 I 127, S. 147 ff.: „… Besondere Schwierigkeiten bietet die Anonymität nur im Hinblick auf die Person des Zeugen selber und die Überprüfung von dessen Glaubwürdigkeit. Hingegen erfährt das Fragerecht wegen der Anonymität keine (wesentlichen) Einschränkungen in Bezug auf den Tathergang selber und die Frage, wie sich die einzelnen Ereignisse abgespielt haben und ob die V-Person über ihren Auftrag hinaus anstiftend aufgetreten ist. Die Glaubhaftigkeit der belastenden Aussagen der V-Person kann trotz Aufrechterhaltung der Anonymität wirksam in Zweifel gezogen werden. Der Beschuldigte und sein Rechtsvertreter können jegliche Fragen zum Tathergang stellen bzw. stellen lassen, auf Antworten reagieren und auf allfällige Widersprüche hinweisen, auch wenn der Beschuldigte den V-Mann nur unter dessen Pseudonym kennt …“ (Hervorhebung Demko). Siehe aus der Rechtsprechung etwa BGE 92 I 259, S. 263; BGE 129, 151, S. 157; BGE 133 I 33, S. 37, 38 E. 2.2; BGE 132 I 127, S. 129 E. 2: „… Um sein Fragerecht wirksam ausüben zu können, muss der Beschuldigte in die Lage versetzt werden, die persönliche Glaubwürdigkeit des Zeugen zu prüfen und den Beweiswert seiner Aussagen zu hinterfragen …“ (Hervorhebung Demko); BGE 131 I 476, S. 481; BGE 125 I 127, S. 137, 147; BGE 118 Ia 457, S. 461; BG, Urt.v.02.06.2008, 6B_45/200/sst, E. 2.3.; siehe dazu auch DONATSCH/LIEBER, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, § 14 N 6, § 15 N 2.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
stellen darf (Art. 341 Abs. 2 StPO) und zudem die Verfahrensleitung über die Zulässigkeit der gestellten Fragen entscheidet,2659 bedeuten diese Gesichtspunkte nicht, dass die Verfahrensleitung dem Angeklagten Thema und Inhalt seiner Fragen vorgeben darf. Vielmehr gehört es als Ausfluss der dem Angeklagten zu gewährenden wirksamen Verteidigung zu seiner Befugnis, selbst Inhalt und Umfang der an den Belastungszeugen zu richtenden Fragen zu bestimmen.2660 Gegenstand der der Verfahrensleitung obliegenden Prüfung der Zulässigkeit der einzelnen Fragen ist es allein zu beurteilen, ob die vom Angeklagten gestellten einzelnen Fragen z.B. wegen einer Sach- oder Verfahrensfremdheit und des Fehlens eines jeglichen Zusammenhangs mit dem zu beurteilenden Sachverhalt, wegen eines ungebührlichen oder beleidigenden Inhalts oder wegen eines rhetorischen oder suggestiven Charakters nicht zuzulassen sind.2661 Was die Form und die Art und Weise der grundsätzlich uneingeschränkten Ausübung des Fragerechts im engen Sinne betrifft, geht mit dem das schweizerische Strafverfahren kennzeichnenden Mündlichkeitsgrundsatz, nach dem die Verfahren vor den Strafbehörden mündlich sind, soweit das Gesetz nicht Schriftlichkeit vorsieht (Art. 66 StPO), einher, dass die Einvernahme und die Befragung des (Belastungs-)Zeugen grundsätzlich2662 mündlich durchgeführt werden.2663 Die mündliche Zeugenbefragung ist dabei in einen räumlich wie 2659 2660
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
zeitlich unmittelbaren Zusammenhang mit der Zeugenvernehmung eingestellt,2664 wobei der Angeklagte dem Belastungszeugen „«mit der Stirn zusammen» gegenübergestellt“2665 ist sowie der Angeklagte und der Belastungszeuge in einen räumlich und zeitlich direkten Interaktions- und Kommunikationsprozess eintreten.2666 Was das Vorverfahren betrifft – und damit denjenigen Verfahrensabschnitt, auf dem das Schwergewicht für die Beweiserhebungen im schweizerischen Strafverfahren liegt –, ist von dem dem Angeklagten grundsätzlich zustehenden Recht auf eine direkte im Sinne von unvermittelte Befragung des (Belastungs-)Zeugen auszugehen.2667 Zwar fehlt eine gesetzliche Regelung in der StPO, die ausdrücklich bestimmt, dass der Angeklagte im Vorverfahren seine Fragen direkt und ohne Vermittlung durch dritte Personen der Verfahrensleitung an den (Belastungs-)Zeugen richten kann. Jedoch ergibt sich dies aus dem Zusammenhang verschiedener gesetzlicher Bestimmungen zur Zeugenbefragung, welche die indirekte vermittelte Zeugenbefragung entweder als Ausnahme2668 oder nur mit Bezug auf einen
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einzureichen, die bei der rogatorischen Einvernahme gestellt werden sollen, näher Botschaft, S. 1188. Siehe dazu etwa WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 147 N 17: „zeitlich in unmittelbarem Zusammenhang mit der Vernehmung im Wege einer direkten Kommunikation so ausgeübt werden kann, dass der Frageberechtigte unmittelbar auf die Bekundungen des Zeugen reagiert“ (Hervorhebung Demko); HUG, Kassationsgericht, S. 393: „Recht haben, direkt Fragen an den Zeugen zu stellen“ (Hervorhebung Hug), „mit den jeweiligen Fragen situativ an die Antworten und (akustischen oder visuellen) Reaktionen eines Zeugen anzuknüpfen“ (Hervorhebung Demko). HUG, Kassationsgericht, S. 393. Siehe auch SCHLEIMINGER, S. 291, 315 ff. zur Betonung des „Simultanitäts- oder Synchronizitätserfordernis(ses)“ (S. 291); DEMKO, ZStrR 2004, S. 429. So auch SCHMID, Praxiskommentar, Art. 147 N 8: „Entgegen 341 II … gewährt 147 I ein direktes Fragerecht der Parteien“ (Hervorhebung Schmid); SCHMID, Handbuch, S. 348 N 826; ebenso wohl auch HAURI, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 341 N 11, wonach mit Art. 341 Abs. 2 StPO „eine Einschränkung gegenüber der allgemeinen Bestimmung von Art. 147 Abs. 1 vor(liegt)“; WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 147 N 17: „Optimal genutzt werden kann dieses Recht dann, wenn es … im Wege einer direkten Kommunikation … ausgeübt werden kann …“; RIKLIN, StPO Kommentar, Vorbem. Art. 147 f. N 11, wonach das „(v)olle(s) direkte(s) (simultane(s)) Frage- und Konfrontationsrecht … der Normalfall“ sei; anderer Ansicht hingegen SCHLEIMINGER, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 147 N 8, wonach sich aus Art. 147 StPO „kein unmittelbares Fragerecht ableiten“ (hier kursive, im Originaltext fettgedruckte Hervorhebung Schleiminger) lasse. Nach Art.148 Abs. 1StPO ist dem Teilnahmerecht der Parteien bei Beweiserhebungen im Ausland im Rahmen eines Rechtshilfeverfahrens «Genüge getan», wenn sie ihre Fragen «zuhanden der ersuchten ausländischen Behörde» (Abs. 1 Buchst. a.) formulieren können; siehe zum Recht der Parteien, der Verfahrensleitung zuhanden der er-
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bestimmten Verfahrensabschnitt – nämlich nur bezogen auf das Hauptverfahren2669 – regeln: Diese gesetzlichen Bestimmungen lassen für eine auch betreffend der Form des Fragens optimale, weil uneingeschränkte Ausübung des Fragerechts im engen Sinne im Rahmen des Vorverfahrens den (Umkehr-) Schluss einer hier grundsätzlich direkten unvermittelten Zeugenbefragung durch den Angeklagten zu. Für das Hauptverfahren bestimmt Art. 341 Abs. 2 StPO hingegen eine grundsätzlich vermittelte Zeugenbefragung, wonach die anderen Mitglieder des Gerichts und die Parteien ihre Ergänzungsfragen «durch die Verfahrensleitung» stellen lassen. Jedoch gestattet Art. 341 Abs. 2 StPO auch hier ein unvermitteltes direktes Fragerecht, bei dem die anderen Mitglieder des Gerichts und die Parteien ihre Ergänzungsfragen selber stellen können, verlangt dafür aber die Erteilung einer Ermächtigung der Verfahrensleitung.2670 Von dieser sollte die Verfahrensleitung nach entsprechenden Empfehlungen im Schrifttum2671 zur Ermöglichung der grundsätzlich zu gewährenden Uneingeschränktheit der Ausübung des Fragerechts im engen Sinne – zu der auch eine Direktheit und Unvermitteltheit des Fragenstellenkönnens durch den Angeklagten und seinen Verteidiger ohne sprachliche Vermittlung über dritte Personen der Verfahrensleitung gehören – im grösstmöglichen Masse Gebrauch machen. An die Seite gestellt sind dem Fragerecht im engen Sinne – das die dem Angeklagten einzuräumende Befugnis zum Ausdruck bringt, sich an den Zeugenbeweiserhebungen in aktiver und kommunikativer Weise zu beteiligen – als unterstützende und begleitende Teilbefugnisse des Konfrontationsrechts ein dem Angeklagten grundsätzlich zu gewährendes Anwesenheits- sowie
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suchten Behörde Fragen zu formulieren, sowie zum Recht, nach Einsicht in das Protokoll der rechtshilfeweise vorgenommenen Beweisabnahme Ergänzungsfragen stellen zu können, welche auch auf dem Rechtshilfeweg beantwortet werden, Botschaft, S. 1188; zu dieser Ausnahmebestimmung des Art. 148 Abs. 1 StPO siehe auch näher WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 148 N 4; eine weitere Ausnahmebestimmung ist Art. 154 Abs. 4 Buchst. e. StPO, nach der es zu den besonderen Massnahmen zum Schutz von Kindern als Opfern gehört, dass die Parteien ihre Rechte «durch die befragende Person» ausüben, siehe dazu näher WOHLERS, in: DONATSCH/ HANSJAKOB/LIEBER, Art. 154 N 13. Siehe Art. 341 Abs. 2 StPO: «… die Parteien können durch die Verfahrensleitung Ergänzungsfragen stellen lassen oder sie mit deren Ermächtigung selber stellen» (Hervorhebung Demko). Siehe zum direkten/indirekten Fragerecht in verschiedenen früheren kantonalen StPORegelungen HAUSER, Zeugenbeweis, S. 283 f.; zu Art. 341 Abs. 2 StPO siehe näher HAURI, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 341 N 11; FINGERHUTH, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 341 N 6. Siehe etwa MATHYS, S. 130: „den Parteien in diesem Fragerecht die grösstmögliche Freiheit zu gewähren“ sowie „sollten … den Zeugen … direkt befragen können“ (hier kursive, im Originaltext fettgedruckte Hervorhebung Mathys).
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Wahrnehmungsrecht: Die StPO gibt dem Angeklagten in Art. 147 Abs. 2 StPO – mit der Formulierung von dem «Recht, bei Beweiserhebungen durch die Staatsanwaltschaft und die Gerichte anwesend zu sein» – ausdrücklich ein Recht auf Anwesenheit bei der Zeugeneinvernahme2672 und räumt ihm damit 2672
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Jedoch gestattet die StPO keine uneingeschränkte Parteiöffentlichkeit, nach der dem Angeklagten ein Anwesenheitsrecht bei sämtlichen Zeugeneinvernahmen in allen Verfahrensabschnitten zusteht. Der die Teilnahmerechte bei Beweiserhebungen regelnde Art. 147 Abs. 1 StPO bestimmt vielmehr, dass die Parteien das Recht haben, bei Beweiserhebungen «durch die Staatsanwaltschaft und die Gerichte» anwesend zu sein und einvernommenen Personen Fragen zu stellen. Der Angeklagte hat damit ein Anwesenheits- und Fragerecht bei gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Zeugeneinvernahmen, jedoch ist bei Einvernahmen durch die Polizei zu unterscheiden: Während im polizeilichen Ermittlungsverfahren nach Art. 306 StPO grundsätzlich kein Anspruch auf Parteiöffentlichkeit besteht, bestehen hingegen Teilnahmerechte und mithin auch Anwesenheits- und Fragerechte des Angeklagten bei solchen von der Polizei nach Eröffnung der Untersuchung durchgeführten Beweiserhebungen, die die Polizei im Auftrag der Staatsanwaltschaft durchführt, denn durch solche delegierten Einvernahmen durch die Polizei sollen die Parteirechte nicht unterlaufen werden. Art. 312 Abs. 2 StPO bestimmt dementsprechend, dass in dem Fall, dass die Polizei die Einvernahmen im Auftrag der Staatsanwaltschaft durchführt, den Verfahrensbeteiligten die Verfahrensrechte zustehen, welche ihnen auch bei der staatsanwaltschaftlichen Einvernahme zukommen. Siehe dazu auch die Ausführungen in der Botschaft, S. 1265, in denen darauf hingewiesen wird, dass die staatsanwaltschaftliche Beauftragung der Polizei mit ergänzenden Erhebungen auch nach eröffneter Untersuchung „bewährter Übung“ entspreche, da die „Kriminalpolizei mit ihren gut ausgebildeten und ausgerüsteten Spezialdiensten … in der Tat oft besser für die Detailabklärungen geeignet (ist) als die Staatsanwaltschaft“. Um der Gefahr zu begegnen, dass „die Phase der staatsanwaltschaftlichen Untersuchung damit praktisch ausgehölt und zu einer Art Ermittlung in der Untersuchung mutieren könnte“, sind aber nicht nur generelle Ermittlungsaufträge nach Untersuchungseröffnung nicht mehr zulässig (vgl. Art. 312 Abs. 1 S. 2 StPO), sondern sichert zudem Art. 312 Abs. 2 StPO den Verfahrensbeteiligten bei staatsanwaltschaftlich beauftragten polizeilichen Einvernahmen dieselben Verfahrensrechte zu wie bei staatsanwaltschaftlichen Einvernahmen. Darauf verweist mit weiteren Ausführungen auch ausdrücklich RIKLIN, GA 2006, S. 506: „Die Delegation von Befragungen an die Polizei soll die Parteirechte nicht untergraben.“; ebenso bereits RIKLIN, ZStrR 2001, S. 384; hinsichtlich des Teilnahmerechts des Verteidigers im polizeilichen Ermittlungsverfahren ist der Forderung von Riklin zuzustimmen, dass über dessen Teilnahmerecht bei Einvernahmen des Beschuldigten eine „Erweiterung auf andere polizeiliche Einvernahmen (das heisst auch von Zeugen und Auskunftspersonen)“ zu fordern ist, RIKLIN, plädoyer 2006, S. 30; siehe zudem Botschaft, S. 1187, wonach den Parteien grundsätzlich kein Teilnahmerecht zusteht, wenn die Polizei im Rahmen des polizeilichen Ermittlungsverfahrens handelt, vgl. dazu Art. 306, 307 StPO; WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 147 N 2; SCHLEIMINGER, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 147 N 6; OMLIN, in: NIGGLI/HEER/ WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 312 N 16 FN 16.
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einhergehend das Recht auf unmittelbare sinnliche Wahrnehmung der in seiner Anwesenheit stattfindenden Verfahrensvorgänge sowie das Recht ein, dem im selbem Raum wie er selbst physisch anwesenden (Belastungs-)Zeugen bei der Zeugeneinvernahme und -befragung in eigener Person gegenüberzutreten und dessen gesamtes Verhalten – aber auch dasjenige der übrigen an der Zeugenbefragung teilnehmenden Personen – unmittelbar sinnlich wahrzunehmen.2673 Ausdruck findet dieses dem Angeklagten grundsätzlich einzuräumende Recht auf persönliche Gegenüberstellung im selben Raum und auf unvermittelte sinnliche, d.h. sowohl optische als auch akustische Wahrnehmung der befragten Zeugenperson und ihres Verhaltens während der Zeugeneinvernahme zudem in der Regelung des Art. 144 Abs. 1 StPO zur Einvernahme mittels Videokonferenz: Die Einvernahme mittels Videokonferenz wird als eine subsidiäre2674 Einvernahmeform im Vergleich zu der vorrangig und grundsätzlich zu gewährenden „traditionellen Einvernahme“2675 in Gestalt einer persönlichen Begegnung und Zusammenkunft aller Beteiligten an demselben Ort mit unvermittelter direkter optischer wie akustischer Wahrnehmbarkeit angesehen.2676 Die wichtige und notwendige Bedeutung des Anwesenheits- und Wahrnehmungsrechts als wichtige Teilbefugnisse des Konfrontationsrechts auf seiner Ausübungsebene für eine (materiell) wirksame Zeugenkonfrontation und für die damit angesprochene, dem Angeklagten wirksam zu ermöglichende Prüfung und Infragestellung der Glaubwürdigkeit des belastenden Zeugenbeweises ist aber auch bereits vor Erlass der Strafprozessordnung in der Rechtsprechung des BG wiederholt herausgestellt2677 und ebenso im Schrifttum betont worden.2678 2673
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Siehe dazu auch WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 147 N 5, 16, 17; HUG, Kassationsgericht, S. 393. Siehe dazu GODENZI, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 144 N 4; SCHMID, Praxiskommentar, Art. 144 N 1; SCHMID, Handbuch, S. 342 N 815. GODENZI, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 144 N 3, 4. Die Bedeutung des persönlichen Eindrucks von der einzuvernehmenden Person wird in der Botschaft auch im Zusammenhang mit der Möglichkeit der Beweiserhebung mittels schriftlicher Berichte betont, weshalb bei der Abgabe schriftlicher Berichte „grosse Zurückhaltung angezeigt“ sei, Botschaft, S. 1186. Siehe etwa BGE 125 I 127, S. 133, 149, 150: „… Beweise im Hinblick auf ein kontradiktorisches Verfahren grundsätzlich in Anwesenheit des Beschuldigten zu erheben seien, indessen auch ein Abstellen auf Aussagen aus der Voruntersuchung zulässig sei …“ (S. 133, Hervorhebung Demko), „… Die optische Abschirmung erschwert die unmittelbare Wahrnehmung von Reaktionen des einvernommenen Zeugen … Insbesondere können Gesichtsausdruck und Körpersprache nicht nachvollzogen werden; es kann nicht bemerkt werden, ob der Zeuge «einen roten Kopf bekommt» oder «ins Schwitzen gerät» … Unmittelbar wahrgenommen werden können immerhin etwa Räuspern, Zögern, Pausen vor Beantwortung einer Frage, Unsicherheit und Nervosität in der Stimme sowie allgemein der Ausdruck der Stimme. Mit einer Video-
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Als notwendige Wissensvoraussetzungen für ein wirksames Fragenstellenkönnen an den Belastungszeugen treten als weitere Teilbefugnisse des Konfrontationsrechts auf seiner Ausübungsebene das Akteneinsichtsrecht2679 und
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Übertragung ist es unter Umständen möglich, lediglich das Gesichtsfeld unkenntlich zu machen, aber die Körperhaltung doch erkennbar zu lassen … Die akustische Abschirmung besteht darin, dass der Zeuge in einem andern Raum einvernommen wird und die Übertragung der Stimme technisch so verändert und verzerrt wird, dass ein Erkennen des Sprechers erschwert bzw. verunmöglicht wird. Sie dürfte nur selten, meist in Kombination mit der optischen Abschirmung zum Einsatz kommen. Denkbar ist sie bei Zeugen mit ganz besondern Spracheigenschaften oder -fehlern und in speziellen Fällen wie der eigentlichen Änderung der Identität des Zeugen … Eine derartige akustische Abschirmung erschwert die Wahrnehmung des Zeugen und seiner Reaktionen zusätzlich. Doch auch bei dieser Methode sind gewisse durchaus typische Verhaltensweisen wie Zögern, Räuspern, Nervosität und Verhaspeln durchaus noch erkennbar. Gesamthaft gesehen bringen optische und akustische Abschirmung des Zeugen für die Verteidigung über die Anonymität hinaus zusätzliche Erschwernisse. Diese sind in die Gesamtbeurteilung der Vertraulichkeitszusage einzubeziehen und mögen zu entsprechender Zurückhaltung mahnen …“ (S. 149, 150, Hervorhebung Demko); BGE 92 I 259, S. 262, 263; BGE 132 I 127, S. 129; BGE 133 I 33, S. 41. Siehe zur Bedeutung des Wahrnehmungsrechts etwa näher WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 147 N 16; DONATSCH/LIEBER, in: DONATSCH/ SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, § 14 N 6; HAUSER, SJZ 1975, S. 347; HUG, Kassationsgericht, S. 393; DEMKO, ZStrR 2004, S. 423; WEHRENBERG, S. 67 ff.; JOSET/RUCKSTUHL, ZStrR 1993, S. 372 ff.; JOSET, plädoyer 1993, S. 39. Ein Recht auf Akteneinsicht ist als zentraler Bestandteil des durch Art. 29 Abs. 2 und 32 Abs. 2 BV geregelten Anspruchs auf rechtliches Gehör anerkannt, siehe dazu näher BRÜSCHWEILER, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 101 N 1; SCHMUTZ, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 101 N 1. Den Zeitpunkt der Akteneinsicht bei hängigen Verfahren regelt Art. 101 Abs. 1 StPO dahingehend, dass den Parteien die Akten des Strafverfahrens «spätestens nach der ersten Einvernahme der beschuldigten Person und der Erhebung der übrigen wichtigsten Beweise durch die Staatsanwaltschaft» einsehen können, wobei die Verfahrensleitung über die Akteneinsicht entscheidet, Art. 102 Abs. 1 S. 1 StPO. Akteneinsicht wird mithin nicht erst nach Abschluss der Untersuchung gewährt und mit der gemäss Botschaft, S. 1161 „etwas genauer(en)“ Umschreibung des Zeitpunktes des Akteneinsichtsrechts sollte die in einigen bisherigen kantonalen Strafprozessordnungen enthaltene, „etwas schwammig(en)“ (Begleitbericht, S. 79) formulierte Regelung vermieden werden, nach der die Akteneinsicht während des Untersuchungsverfahrens zu gewähren ist, wenn dies ohne Gefährdung des Untersuchungszwecks möglich ist. Zudem wurde die enge Verbindung von rechtzeitiger Akteneinsicht und wirksamer Ausübung des Konfrontationsrechts erkannt, wonach „(O)hne Aktenkenntnis … das Recht auf Ergänzungsfragen oft nur schwer ausgeübt werden“ (Botschaft, S. 1161) und sich infolge fehlender Akteneinsicht nicht selten die Notwendigkeit weiterer Zeugeneinvernahmen ergeben könne. Angeführt ist in der Botschaft, S. 1161 insofern das Beispiel eines Falles einer
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das Recht auf Kenntnis der Identität des Belastungszeugen hinzu.2680 Zwar normiert die StPO ein Recht des Angeklagten auf Kenntnis der Identität des Belastungszeugen nicht ausdrücklich. Jedoch ergibt sich dieses nicht nur aus einem Zusammenspiel der verschiedenen gesetzlichen Regelungen zu den dem Angeklagten und seinem Verteidiger hinsichtlich der Zeugenvernehmung zustehenden Anwesenheits-, Frage- und Akteneinsichtsrechten,2681
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Vergewaltigung, in dem Akteneinsicht zu gewähren ist, wenn der Beschuldigte und das Opfer von der Staatsanwaltschaft einvernommen wurden. Mit Bezug auf das dem Angeklagten und dessen Verteidiger bei Zeugeneinvernahmen zustehende Recht auf Anwesenheit und das Stellen von Ergänzungsfragen heisst es, dass es sich „allerdings empfehlen (kann), der Verteidigung schon vor der Einvernahme des Opfers Akteneinsicht zu gewähren“. Ob sich die in Art. 101 Abs. 1 StPO enthaltene Regelung hingegen tatsächlich als bestimmter formuliert erweist und zu einer verbesserten Ausübung der Verteidigungsrechte führt, indem dem Angeklagten und seinem Verteidiger stets rechtzeitig vor der Einvernahme eines Belastungszeugen Akteneinsicht zu gewähren ist, dürfte hingegen – schon in Anbetracht der (relativ unbestimmten) Begriffe «spätestens» und «übrigen wichtigsten Beweise» – zweifelhaft und allein von einer entsprechenden zukünftigen gerichtlichen Spruchpraxis abhängig sein, welche die rechtzeitig vor der Zeugeneinvernahme zu gewährende Akteneinsicht zur Voraussetzung für ein wirksam ausgeübtes konfrontatives Fragerechts erhebt. Siehe hierzu auch SCHMUTZ, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 101 N 16 in Bezug auf Zweifel zum griffigeren Kriterium sowie mit dem Hinweis, dass „übermässige Zurückhaltung bei der Gewährung der Akteneinsicht nicht am Platz ist“ (hier kursive, im Originaltext fettgedruckte Hervorhebung Schmutz); siehe dazu zudem WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 147 N 18; siehe zudem die deutliche Kritik von PIETH, AJP 2002, S. 628: „sinnvolle Intervention im Verfahren überhaupt erst nach umfassender Aktenkenntnis sinnvoll, ja erst dann lege artis korrekt“ (Hervorhebung Pieth); ebenso die Kritik von DONATSCH, SIZ 2004, S. 326: „zufolge ihrer relativen Unbestimmtheit im Ergebnis jedenfalls nicht auf eine Stärkung der Verteidigung hinauslaufen“; RIKLIN, plädoyer 2006, S. 30: „Klausel, die es ermöglicht, Akteneinsicht auch erst nach Abnahme der wichtigsten Beweise zu gewähren, geht zu weit“. Siehe dazu bereits DONATSCH/LIEBER, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, § 14 N 76 ff. mit weiteren Ausführungen; SCHMID, S. 221 N 653: „im Rahmen der Einvernahme Anspruch darauf, zu wissen, wer der einvernommene Zeugen ist“. Aus dem in Art. 147 Abs. 1 StPO geregelten Anwesenheits- und Fragerecht des Angeklagten bei Beweiserhebungen durch die Staatsanwaltschaft und die Gerichte folgt, dass der Angeklagte grundsätzlich auch an der zu Beginn der Zeugeneinvernahme nach Art. 143 Abs. 1 Buchst. a. StPO stattfindenden Befragung zu den Personalien des einzuvernehmenden Zeugen teilnimmt; siehe zudem Art. 177 Abs. 2 StPO zu der zu Beginn der ersten Einvernahme erfolgenden Befragung zu für die Glaubwürdigkeit des Zeugen bedeutsamen Umständen; zudem können sich die (Ergänzungs-)Fragen, die der Angeklagte zu stellen befugt ist, Art. 147 Abs. 1, 341 Abs. 2 StPO, auch auf die Zeugenperson betreffende Umstände beziehen, siehe dazu etwa BGE 125 I 127, S. 147, 148; siehe zudem Art. 100 Abs. 1 Buchst. a. StPO, der ausdrücklich regelt,
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sondern folgt zudem in einem Umkehrschluss aus den gesetzlichen Regelungen, die unter bestimmten Voraussetzungen ausnahmsweise Einschränkungen von der Kenntnis der Zeugenidentität gestatten.2682 Die wichtige Bedeutung des dem Angeklagten grundsätzlich zu gewährenden Rechts auf Kenntnis der Zeugenidentität wird zudem in der zu Art. 6 III d EMRK und dem Anwesenheits- und Fragerecht des Angeklagten ergangenen Rechtsprechung des BG betont:2683 In dieser ist die Kenntnis der Identität der Zeugenperson als wich-
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dass zu den zum Aktendossier gehörenden Akten auch die Einvernahmeprotokolle gehören. Aus dem Anspruch auf ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung der Verteidigung wird mit Recht nicht nur abgeleitet, dass der Angeklagte und der Verteidiger berechtigt sind, vor der Einvernahme und Befragung des Belastungszeugen Kenntnis von dessen früheren Aussagen nehmen zu können, sondern auch, dass ihnen vor der Zeugenkonfrontation Einsicht in alle Akten(stücke) zu gewähren ist, die für das Stellen der Ergänzungsfragen von Relevanz sind, siehe dazu DONATSCH/LIEBER, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, § 14 N 29 mit weiteren Ausführungen; HUG, Kassationsgericht, S. 396 f.: „alle Aktenstücke, die irgend wie relevant sein könnten“ (S. 396, Hervorhebung Hug). Neben der durch die Akteneinsicht erlangten Kenntnis zum Verfahrensverlauf und dem Zustandekommen der belastenden Zeugenaussagen muss dazu auch zählen, Kenntnis zu erlangen, von welcher (Zeugen-)Person die belastenden Aussagen stammen, nicht nur, um diese Aussagen einer bestimmten Person zuordnen zu können und Verwechslungen auszuschliessen, sondern auch, um die Glaubwürdigkeit der Zeugenperson sowie die Glaubhaftigkeit von deren Aussagen prüfen zu können, siehe dazu auch DONATSCH/LIEBER, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, § 14 N 80; auf das Dokumentationserfordernis und hier das Erfordernis von „Wortprotokolle(n) oder noch besser Videoaufzeichnungen der Verhandlungen“ (S. 7 f.) verweist zutreffend Donatsch, siehe DONATSCH/BRAUN, plädoyer 2002, S. 7 f. Dieses Erfordernis ist auch für Zeugenvernehmungen und für eine wirksame Ausübung des Konfrontationsrechts des Angeklagten von grosser Relevanz. Siehe dazu die Ausnahmeregelungen in den Art. 149 Abs. 1, 2 Buchst. a., 6, Art. 150, 151 StPO zur Zeugenanonymisierung. Siehe nur BGE 133 I 33, S. 38, 41: „Grundsätzlich muss es dem Angeschuldigten auch möglich sein, die Identität des Zeugen zu erfahren …“ (S. 38); BGE 132 I 127, S. 129: Identität des Zeugen ist dem Beschuldigten „grundsätzlich offen zu legen“; BGE 125 I 127, S. 137, 138, 147, 148: „… Soweit der Beschuldigte die Identität der belastenden V-Person nicht kennt bzw. auf entsprechende Fragen keine Antworten erhält, ist er kaum in der Lage, deren Glaubwürdigkeit unter allen möglichen Aspekten wirksam in Zweifel zu ziehen. Hierfür bedürfte er unter Umständen Kenntnisse über Familienverhältnisse, Werdegang und Ausbildung, allgemeine Persönlichkeit (mit Neigungen, Schwächen und krankhaften Seiten), Lebensverhältnisse oder Beziehungen in privater und beruflicher Hinsicht. Nur in Kenntnis solcher Umstände kann der Angeschuldigte Unglaubwürdigkeitsgründe ableiten, auf Beziehungen zu bestimmten Personen oder Kreisen und entsprechende Interessenkonstellationen hinweisen oder Ablehnungsgründe vorbringen. Von Interesse könnte die Motivation sein, weshalb sich die (auch nicht beamtete) V-Person als verdeckter Ermittler zur Verfügung stellt.
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tige und notwendige Voraussetzung für die dem Angeklagten zu gewährende Prüfung und Infragestellung der Glaubwürdigkeit des belastenden Zeugenbeweises unter Anknüpfung sowohl an die Zeugenperson als auch an die Zeugenaussage herausgehoben2684 und das Identitätskenntnisrecht als eines der unbedingt zu beachtenden Elemente eines (materiell) wirksam ausübbaren Konfrontationsrechts anerkannt.2685 3.
Bedeutung der menschenrechtlichen Vorgaben in Bezug auf Einschränkbarkeit und Einschränkungsvoraussetzungen des Konfrontationsrechts
a)
Einschränkbarkeit und Einschränkungsvoraussetzungen im internationalen Strafverfahren vor dem ICTY
aa)
Die Bedeutung des Erfordernisses «sachlich gerechtfertigter Gründe»
Den im Rahmen eines fairen Strafverfahrens erforderlichen Ausgleich zwischen den Rechten des Angeklagten, dem Zeugenschutzinteresse sowie dem Interesse nach Beachtung von weiteren, für den Ablauf eines Strafverfahrens als wesentlich angesehenen Verfahrenserfordernissen in seiner Rechtspre-
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Die Verteidigung kann nicht selbst Erkundigungen über die Person des Zeugen einziehen … Eine Verwechslung, weil die V-Person zu einem bestimmten Zeitpunkt andernorts war, kann nicht nachgewiesen werden. Speziell im Hinblick auf den Einsatz von V-Personen können auch funktionale und berufsspezifische Angaben (Laufbahn, Qualifikationen, Disziplinierungen etc.) für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Bedeutung sein, etwa bei Behauptung eines provozierenden, anstiftenden Verhaltens des V-Mannes …“ (S. 148, Hervorhebung Demko); BGE 118 Ia 457, S. 460 ff. Siehe etwa BGE 125 I 127, S. 137, 138, 147, 148; BGE 133 I 33, S. 41: „… Um sein Fragerecht wirksam ausüben zu können, muss der Beschuldigte in die Lage versetzt werden, die persönliche Glaubwürdigkeit des Zeugen zu prüfen und den Beweiswert seiner Aussagen zu hinterfragen. Ersteres kann der Beschuldigte nur, wenn er die Identität des Zeugen kennt; diese ist ihm daher grundsätzlich offenzulegen …“ (Hervorhebung Demko). Siehe dazu etwa BGE 133 I 33, S. 38, 41; BGE 132 I 127, S. 129; BGE 125 I 127, S. 137, 138, 147, 148; BGE 118 Ia 457, S. 460 ff.; siehe aus dem Schrifttum etwa DONATSCH/LIEBER, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, § 14 N 80; SCHMUTZ, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 101 N 16 in Bezug auf Zweifel zum griffigeren Kriterium; siehe dazu zudem WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 147 N 15: „(v)on zentraler Bedeutung ist … die Kenntnis der Identität des Zeugen …“ (hier kursive, im Originaltext fettgedruckte Hervorhebung Wohlers); ACKERMANN/CARONI/VETTERLI, AJP 2007, S. 1075: „Zweck des Konfrontationsrechts (kann) praktisch nicht erfüllt werden“; DEMKO, ZStrR 2004, S. 165: „(v)on zentraler Bedeutung“.
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chung hervorhebend,2686 sieht das ICTY als eine Einschränkung des Konfrontationsrechts des Angeklagten sachlich rechtfertigen könnende Gründe die sich auf die Person des konkreten Belastungszeugen und/oder seine Familie beziehende Schutzbedürftigkeit und die damit in Verbindung stehende zu beurteilende Frage nach der Unerreichbarkeit des Zeugen für eine Zeugenvernehmung und -konfrontation mit dem Angeklagten an.2687 Zu diesem sachlichen Einschränkungsgrund der sich aus verschiedenen Umständen ableiten könnenden Unerreichbarkeit des Belastungszeugen gehört beispielsweise eine Zeugenunerreichbarkeit aufgrund des Todes des Zeugen oder aufgrund der körperlich oder geistig bedingten Unfähigkeit des Zeugen, für eine mündliche Zeugenvernehmung zur Verfügung zu stehen,2688 oder aufgrund einer wirklichen Gefahr für die Sicherheit des Zeugen oder seiner Familie.2689 Über den sachlichen Einschränkungsgrund der Unerreichbarkeit des Belastungszeugen hinaus wird im Strafverfahren vor dem ICTY eine Einschränkung des Konfrontationsrechts des Angeklagten aber scheinbar auch gestützt auf andere für den Ablauf des Strafverfahrens für wichtig erachtete und im konkreten Fall als vorrangig angesehene Verfahrensgrundsätze für möglich gehalten: Das ICTY bringt insofern insbesondere die Frage der Verfahrensdauer und einer anzustrebenden Verfahrensbeschleunigung in die Diskussion über anzuerkennende sachliche Einschränkungsgründe ein.2690 949
Hinsichtlich der sich auf die (Un-)Erreichbarkeit des Belastungszeugen beziehenden sachlichen Gründe für eine mögliche Einschränkung des Konfrontationsrechts des Angeklagten wird weder in den ICTY-Regeln noch in der 2686
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Siehe etwa Prosecutor v. Tadić, Decision on the Prosecutor`s Motion Requesting Protective Measures For Victims and Witnesses, Case No. IT-94-1-T, 10. August 1996, para. 50. Siehe zu dem Einschränkungsgrund der Unerreichbarkeit des Belastungszeugen die sich sogleich anschliessenden Ausführungen. Siehe dazu auch die ICTY-Regel 92quater (A): «The evidence of a person in the form of a written statement or transcript who has subsequently died, or who can no longer with reasonable diligence be traced, or who is by reason of bodily or mental condition unable to testify orally …» Siehe dazu etwa Prosecutor v. Šešelj, Decision on Prosecution`s Fifth Motion for Protective Measures for Witnesses During the Pre-Trial and Trial Phases, Case No. IT-03-67-PT, 6. Juli 2005, S. 3; Prosecutor v. Tadić, Decision on the Prosecutor`s Motion Requesting Protective Measures for Victims and Witnesses, Case No. IT-941-T, 10. August 1995, para. 62; Prosecutor v. Mrkšić et al., Decision on Prosecution`s Additional Motion for Protective Measures of Sensitive Witnesses, Case No. IT-9513/1-PT, 25. Oktober 2005, para. 5; Prosecutor v. Limaj et al., Decision on the Prosecution`s Motion for Protective Measures at Trial, Case No. IT-03-66-T, 22. November 2004, para. 6; Prosecutor v. Milutinović et al., Decision on Prosecution Sixth Motion for Protective Measures, IT-05-87-PT, 1. Juni 2006, para. 19. Siehe dazu näher die nachfolgenden Ausführungen.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Rechtsprechung des ICTY abschliessend aufgezählt und definiert, welche Einschränkungsgründe in einem positiven Sinne für eine anzuerkennende Unerreichbarkeit des Belastungszeugen für eine Zeugenkonfrontation in Betracht kommen und welche in einem negativen Sinne für eine solche anzuerkennende Unerreichbarkeit des Zeugen nicht anzunehmen sind. Im Fall Prosecutor v. Aleksovski führt das ICTY bezugnehmend auf die in nationalen Rechtsordnungen teilweise bestehenden detaillierten Regelungen zur Unerreichbarkeit von Zeugen aus, dass das Tribunal an nationale Beweisregeln nicht gebunden und kein Grund gegeben ist, ebensolche Regelungen zur Unerreichbarkeit des Zeugen in die Praxis des ICTY einzuführen: „… the Appellant refers to the sometimes elaborate rules in national jurisdictions covering the circumstances when courts are entitled to hold that witnesses are unavailable to give evidence. However, there is no reason to import such rules into the practice of the Tribunal, which is not bound by national rules of evidence. The purpose of the Rules is to promote a fair and expeditious trial, and Trial Chambers must have the flexibility to achieve this goal …“2691
950
Dennoch sind einige solcher die Unerreichbarkeit des Belastungszeugen für eine Zeugenkonfrontation ansprechenden Einschränkungsgründe in den ICTY-Regeln – zu denken ist etwa an die ICTY-Regeln 69 (A), 75 (A) und (B)(iii) und 92quater (A) – und in der Rechtsprechung des ICTY2692 genannt. Mit diesen wird eine Einschränkung des Konfrontationsrechts des Angeklagten aufgrund der Unerreichbarkeit des Belastungszeugen sowohl im Falle des Todes des Belastungszeugen als eines absoluten Einschränkungsgrundes für möglich gehalten als auch im Falle nur relativer Einschränkungsgründe, wie etwa im Fall des Einschränkungsgrundes, dass der Zeuge mit angemessener Sorgfalt nicht mehr ausfindig gemacht werden kann, oder des Einschränkungsgrundes, dass der Zeuge körperlich oder geistig zu einer mündlichen
951
2691
2692
Prosecutor v. Aleksovski, Decision on Prosecutor`s Appeal on Admissibility of Evidence, Case No. IT-95-141/1-AR73, 16. Februar 1999, para. 19 (Hervorhebung Demko). Siehe etwa Prosecutor v. Šešelj, Decision on Prosecution`s Fifth Motion for Protective Measures for Witnesses During the Pre-Trial and Trial Phases, Case No. IT-0367-PT, 6. Juli 2005, S. 3; Prosecutor v. Tadić, Decision on the Prosecutor`s Motion Requesting Protective Measures for Victims and Witnesses, Case No. IT-94-1-T, 10. August 1995, para. 62; Prosecutor v. Limaj et al., Decision on the Prosecution`s Motion for Protective Measures at Trial, Case No. IT-03-66-T, 22. November 2004, para. 6; Prosecutor v. Mrkšić et al., Decision on Prosecution`s Additional Motion for Protective Measures of Sensitive Witnesses, Case No. IT-95-13/1-PT, 25. Oktober 2005, para. 5; Prosecutor v. Milutinović et al., Decision on Prosecution Motion for Testimony of Dušan Lonćar to be heard via Video-Link Conference, Case No. IT-05-87-T, 28. November 2006, para. 3; zur Ausbalancierung zwischen den Rechten des Angeklagten und denen von Opfern und Zeugen sowie zu Zeugenschutzmassnahmen siehe auch DE BROUWER, S. 238 ff.
615
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Zeugenvernehmung nicht in der Lage ist. In diesem Sinne spricht die ICTYRegel 69 (A) von einem «victim or witness who may be in danger or at risk».2693 Die ICTY-Regel 75 (A) spricht von «appropriate measures for the privacy and protection of victims and witnesses» und in Absatz (B) (iii) derselben Regel wird von «vulnerable victims and witnesses» gesprochen.2694 Zudem führt die ICTY-Regel 92quater (A) hinsichtlich der Unerreichbarkeit der Zeugenperson an, dass es sich um eine Person handelt, «who has subsequently died, or who can no longer with reasonable diligence be traced, or who is by reason of bodily or mental condition unable to testify orally».2695 Ebenso ist in der Rechtsprechung etwa von der realen Angst um bzw. dem tatsächlichen Risiko für die Sicherheit des Zeugen oder seiner Familie sowie von der Unfähigkeit oder Unwilligkeit des Zeugen (etwa aufgrund seiner schwachen Gesundheit) die Rede, für eine mündliche Zeugenvernehmung vor Gericht nach Den Haag zu kommen.2696 952
Im Zusammenhang mit der Beurteilung zu ergreifender Zeugenschutzmassnahmen verdeutlicht das ICTY zudem, dass nicht das Vorliegen irgendwelcher Einschränkungsgründe genügt, sondern dass von diesen selbst vielmehr bestimmte Qualitätsanforderungen zu erfüllen sind, um als sachlich gerechtfertigte Gründe für eine Konfrontationsrechtseinschränkung anerkannt zu werden. Als Faktoren, die in die erforderliche Ausbalancierung der Angeklagtenrechte mit den Zeugenschutzinteressen einzubeziehen sind, führt das ICTY in einigen Entscheidungen zum einen das nötige Vorliegen von «exceptional circumstances»2697 an und im Fall Prosecutor v. Furundžija heisst es insofern: 2693 2694 2695 2696
2697
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Hervorhebung Demko. Hervorhebung Demko. Hervorhebung Demko. Siehe dazu näher die folgenden Ausführungen im Text sowie aus der Rechtsprechung etwa Prosecutor v. Šešelj, Decision on Prosecution`s Fifth Motion for Protective Measures for Witnesses During the Pre-Trial and Trial Phases, Case No. IT-03-67-PT, 6. Juli 2005, S. 3; Prosecutor v. Tadić, Decision on the Prosecutor`s Motion Requesting Protective Measures for Victims and Witnesses, Case No. IT-94-1-T, 10. August 1995, para. 62; Prosecutor v. Limaj et al., Decision on the Prosecution`s Motion for Protective Measures at Trial, Case No. IT-03-66-T, 22. November 2004, para. 6; Prosecutor v. Mrkšić et al., Decision on Prosecution`s Additional Motion for Protective Measures of Sensitive Witnesses, Case No. IT-95-13/1-PT, 25. Oktober 2005, para. 5; Prosecutor v. Milutinović et al., Decision on Prosecution Motion for Testimony of Dušan Lonćar to be Heard via Video-Link Conference, Case No. IT-05-87-T, 28. November 2006, para. 3. Siehe u.a. Prosecutor v. Tadić, Decision on the Prosecutor`s Motion Requesting Protective Measures for Victims and Witnesses, Case No. IT-94-1-T, 10. August 1995, para. 60; Prosecutor v. Blaškić, Decision on the Application of the Prosecutor Dated 17 Oktober 1996 Requesting Protectice Measures For Victims and Witnesses,
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen „… The granting of protective measures for witnesses in exceptional circumstances is a well-established practice of the International Tribunal, especially in cases of victims of rape or sexual assault' … This does not mean that every similar case merits the granting of protective measures; such measures should only be granted in exceptional circumstances. Each case must be determined on its own merits. The Trial Chamber holds such exceptional circumstances exist in this case. The allegations in this case concern, inter alia, a serious case of rape, and the protective measures requested are, therefore, warranted …“2698
953
Zum anderen betont das Tribunal in seiner Rechtsprechung wiederholt das erforderliche Zusammentreffen von bestimmten Kriterien („if certain criteria are met“2699), welche es in ihrem Zusammenwirken mit Bezug auf die Bejahung eines Einschränkungsgrundes zu beachten gilt: Danach müsse für den Zeugen, dessen Zeugnis hinreichend wichtig ist, so dass es unfair wäre, ohne dieses zu verfahren,2700 eine wirkliche Angst („genuine fear for the safety of the witness or the members of his family“2701) um bzw. ein wirkliches Risiko,
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Case No. IT-95-14-T, 5. November 1996, para. 44; deutlich auch Prosecutor v. Furundžija, Decision on Prosecutor`s Motion Requesting Protective Measures for Witnesses ”A” and ”D” at Trial, Case No. IT-95-17/1-T, 11. Juni 1998, paras. 6 ff. Prosecutor v. Furundžija, Decision on Prosecutor`s Motion Requesting Protective Measures for Witnesses ”A” and ”D” at Trial, Case No. IT-95-17/1-T, 11. Juni 1998, paras. 6 und 8 (Hervorhebung ICTY: hier kursive, im Original unterstrichene Hervorhebung von «only» sowie im Original kursive Hervorhebung von «inter alia»; weitere Hervorhebung Demko). Prosecutor v. Tadić, Decision on the Defence Motion to Summon and Protect Defence Witnesses, and on the Giving of Evidence by Video-Link, Case No. IT-94-1-T, 25. Juni 1996, para. 19; siehe zudem Prosecutor v. Haradinaj et al., Decision on Prosecution`s Confidential Motion for Testimony to be heard via Vidoe-Conference Link, Case No. IT-04-84—T, 21. März 2007, para. 3; Prosecutor v. Delalić et al., Decision on the Motion to Allow Witnesses K, L and M to Give Their Testimony by Means of Video-Link Conference, Case No. IT-96-21-T, 28. Mai 1997, para. 17. Prosecutor v. Tadić, Decision on the Defence Motion to Summon and Protect Defence Witnesses, and on the Giving of Evidence by Video-Link, Case No. IT-94-1-T, 25. Juni 1996, para. 19: „... the testimony of a witness is shown to be sufficiently important to make it unfair to proceed without it …“; Prosecutor v. Haradinaj et al., Decision on Prosecution`s Confidential Motion for Testimony to be heard via VidoeConference Link, Case No. IT-04-84—T, 21. März 2007, para. 3; Prosecutor v. Delalić et al., Decision on the Motion to Allow Witnesses K, L and M to Give Their Testimony by Means of Video-Link Conference, Case No. IT-96-21-T, 28. Mai 1997, para. 17. Prosecutor v. Šešelj, Decision on Prosecution`s Fifth Motion for Protective Measures for Witnesses During the Pre-Trial and Trial Phases, Case No. IT-03-67-PT, 6. Juli 2005, S. 3 (Hervorhebung Demko); siehe zudem Prosecutor v. Tadić, Decision on the Prosecutor`s Motion Requesting Protective Measures for Victims and Witnesses, Case No. IT-94-1-T, 10. August 1995, para. 62; Prosecutor v. Limaj et al., Decision on the
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
eine reale Gefahr („real risk to his/her security or that of his/her family“2702) für die Sicherheit entweder des Zeugen selbst oder seiner Familie gegeben sein. 955
„... any curtailment of the Accused`s right to a fair trial must be justified by a genuine fear for the safety of the witness or the members of his family …“2703
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Nicht genügt dem ICTY insofern aber ein rein subjektives Angstgefühl, sondern vielmehr hält das Tribunal eine sich auf eine objektive Basis stützende reale Angst um die Sicherheit des Zeugen oder seiner Familie für erforderlich („objective basis to underscore a feeling of fear, such as the horrendous nature and ruthless character of the alleged crimes“2704), um einen sachlich gerechtfertigten Grund für eine Konfrontationsrechtseinschränkung anerkennen zu können.
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„... there is a real risk to his or her security or that of his or her family, rather than a mere general expression of fear by the witness. The Chamber must therefore be satisfied, in view of the specific reasons provided, that the fear expressed has an objective foundation …“2705
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Prosecution`s Motion for Protective Measures at Trial, Case No. IT-03-66-T, 22. November 2004, para. 6: „… there is a real risk to his/her security or that of his/her family …“ (Hervorhebung Demko); Prosecutor v. Mrkšić et al., Decision on Prosecution`s Additional Motion for Protective Measures of Sensitive Witnesses, Case No. IT-95-13/1-PT, 25. Oktober 2005, para. 5. Prosecutor v. Limaj et al., Decision on the Prosecution`s Motion for Protective Measures at Trial, Case No. IT-03-66-T, 22. November 2004, para. 6 (Hervorhebung Demko); siehe auch Prosecutor v. Mrkšić et al., Decision on Prosecution`s Additional Motion for Protective Measures of Sensitive Witnesses, Case No. IT-95-13/1-PT, 25. Oktober 2005, para. 5. Prosecutor v. Šešelj, Decision on Prosecution`s Fifth Motion for Protective Measures for Witnesses During the Pre-Trial and Trial Phases, Case No. IT-03-67-PT, 6. Juli 2005, S. 3 (Hervorhebung Demko). Prosecutor v. Tadić, Decision on the Prosecutor`s Motion Requesting Protective Measures for Victims and Witnesses, Case No. IT-94-1-T, 10. August 1995, para. 62 (Hervorhebung Demko). Prosecutor v. Mrkšić et al., Decision on Prosecution`s Additional Motion for Protective Measures of Sensitive Witnesses, Case No. IT-95-13/1-PT, 25. Oktober 2005, para. 5 (Hervorhebung Demko); siehe auch Prosecutor v. Limaj et al., Decision on the Prosecution`s Motion for Protective Measures at Trial, Case No. IT-03-66-T, 22. November 2004, para. 6; Prosecutor v. Milutinović et al., Decision on Prosecution Sixth Motion for Protective Measures, Case No. IT-05-87-PT, 1. Juni 2006, para. 19: „… The Trial Chamber notes its earlier view that ”fears expressed by potential witnesses are not in themselves sufficient to establish a real likelihood that they may be in danger or at risk” and that ”what is required to interfere with the rights of the accused in this respect is something more …” ...“ (Hervorhebung Demko).
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Das ICTY verlangt damit eine objektive Grundlage für die für den Zeugen und/oder seine Familie bestehende reale Angst um deren Sicherheit („sufficiently founded“2706), spricht in diesem Sinne auch von dem Erfordernis einer sich auf gute, trifftige Gründe stützenden Unfähigkeit oder Unwilligkeit des Zeugen, für die Abgabe der Zeugenaussage live im Gericht nach Den Haag zu kommen („unable or unwilling for good reasons“2707) und lässt insofern unbegründete, durch Details und Argumente nicht näher abgestützte blosse Behauptungen einer für die Sicherheit des Zeugen bestehenden Gefahr als solche für das Vorliegen jener notwendigen «good reasons» nicht genügen.2708 Dennoch ist zu beachten und kommt auch in der Rechtsprechung des ICTY zum Ausdruck, dass die geäusserte Angst um die Sicherheit des Zeugen oder seiner Familie nicht vorschnell als unvernünftig abgewertet und infolge dessen einfach unbeachtet gelassen werden darf, sondern vielmehr stets unter Beachtung der gesamten Umstände des jeweils zu beurteilenden konkreten Einzelfalles zu beurteilen ist.2709 Dazu gehört auch – womit man im Ergebnis erneut auf das erforderliche Moment der die subjektive Zeugengefahr objektiv fundierenden Umstände Bezug nimmt und dessen Beurteilung in einen grösseren Zusammenhang einstellt –, die gesamte Situation in den Ländern im Anschluss an die dort früher stattgefundenen Konflikten zu beachten sowie zu berücksichtigen, dass in diesen Ländern unter Umständen selbst nach Beendigung des Konflikts Frieden und Stabilität noch immer nicht vollständig wiederhergestellt sind,2710 dass in den Nachwirkungen jener früheren Konflik2706
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Prosecutor v. Mrkšić et al., Decision on Prosecution`s Additional Motion for Protective Measures of Sensitive Witnesses, Case No. IT-95-13/1-PT, 25. Oktober 2005, para. 5 (Hervorhebung Demko). Prosecutor v. Delalić et al., Decision on the Motion to Allow Witnesses K, L and M to Give Their Testimony by Means of Video-Link Conference, Case No. IT-96-21-T, 28. Mai 1997, para. 17 (Hervorhebung Demko); siehe zudem Prosecutor v. Haradinaj et al., Decision on Prosecution`s Confidential Motion for Testimony to be heard via Vidoe-Conference Link, Case No. IT-04-84—T, 21. März 2007, paras. 3 ff. Mit näheren Ausführungen dazu Prosecutor v. Haradinaj et al., Decision on Prosecution`s Confidential Motion for Testimony to be heard via Vidoe-Conference Link, Case No. IT-04-84—T, 21. März 2007, paras. 4 ff.; Prosecutor v. Delalić et al., Decisions on the Motions by the Prosecution for Protective Measures for the Prosecution Witnesses Pseudonymed “B” Trough to “M”, Case No. IT-96-21-T, 28. April 1997, paras. 49, 62: „unsubstantiated fears“ (para. 49), „unsubstantiated allegations that the safety of the witness will thereby be jeopardized“ (para. 62). Siehe auch Prosecutor v. Furundžija, Decision on Prosecutor`s Motion Requesting Protective Measures for Witnesses ”A” and ”D” at Trial, Case No. IT-95-17/1-T, 11. Juni 1998, para. 8. Siehe Prosecutor v. Furundžija, Decision on Prosecutor`s Motion Requesting Protective Measures for Witnesses ”A” and ”D” at Trial, Case No. IT-95-17/1-T, 11. Juni 1998, paras. 7, 8; siehe auch Prosecutor v. Delalić et al., Decisions on the Motions by
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
te weiterhin Spannungen bestehen können und dass mit diesen wiederum eine in Bezug auf den Zeugen durchaus begründet bestehende Angst um dessen Sicherheit oder die seiner Familie einhergehen kann.2711 959
„... The Trial Chamber finds that the case before it is exceptional for several reasons. The first of these is the situation in the former Yugoslavia, which remains volatile because of ongoing ethnic tension and hatred. Witnesses therefore have more to fear for their own safety and that of their family than in counties where peace and stability prevail. Cases before the International Tribunal are therefore not comparable to cases before national jurisdictions in this respect ...“2712
960
Wie zu Beginn angeführt, scheint das ICTY für eine Einschränkung des Konfrontationsrechts des Angeklagten neben dem Einschränkungsgrund der Unerreichbarkeit des Belastungszeugen auch auf andere, für den Ablauf des Strafverfahrens als wichtig erachtete und im konkreten Fall als vorrangig angesehene Verfahrensgrundsätze Rückgriff nehmen zu wollen und insbesondere die Frage der Verfahrensdauer und einer anzustrebenden Verfahrensbeschleunigung spielt insofern in der Rechtsprechung wiederholt eine Rolle.2713 Aber nicht nur das Moment der Verfahrensdauer, das auch im Zusammenhang mit der Frage nach möglichen Einschränkungen des Konfronta-
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the Prosecution for Protective Measures for the Prosecution Witnesses Pseudonymed “B” Trough to “M”, Case No. IT-96-21-T, 28. April 1997, paras. 7 ff. Siehe Prosecutor v. Furundžija, Decision on Prosecutor`s Motion Requesting Protective Measures for Witnesses ”A” and ”D” at Trial, Case No. IT-95-17/1-T, 11. Juni 1998, paras. 7 f. Prosecutor v. Furundžija, Decision on Prosecutor`s Motion Requesting Protective Measures for Witnesses ”A” and ”D” at Trial, Case No. IT-95-17/1-T, 11. Juni 1998, para. 7 (Hervorhebung Demko); siehe dazu auch Prosecutor v. Delalić et al., Decision on the Motions by the Prosecution for Protective Measures for the Prosecution Witnesses Pseudonymed ”B” trough to ”M”, Case No. IT-96-21-T, 28. April 1997, paras. 7 ff.; siehe dazu etwa TOCHILOVSKY, S. 225. Siehe dazu näher im Zusammenhang mit den Einschränkungsformen nach den ICTYRegeln 92bis und 92ter unter Kap. 5 C. II. 3. a) bb) (2); siehe auch Prosecutor v. Dragomir Milošević, Public Transcript of Hearing, Case No. IT-98-29/1, 15. Januar 2007, S. 354: „... The 92ter proceeding is designed to facilitate the admission of evidence from previous proceedings without going trough an examination-in-chief. It`s not a new procedure; it`s really 89 (F) codified … the purpose of the procedure, which is to expedite the proceedings … The procedure is designed to avoid examination-in-chief …“ (Hervorhebung Demko); Prosecutor v. Milošević, Decision on Interlocutory Appeal on the Admissibility of Evidence-in-Chief in the Form of Written Statements, Case No. IT-02-54-AR73.4, para. 21; Prosecutor v. Popović et al., Decision on Motion to convert viva voce Witnesses to Rule 92 ter Witnesses, Case No. IT05-88-T. 31. Mai 2007, S. 3: „... the main purpose of Rule 92 ter is to foster the efficient and expeditious conduct of trial proceedings in accordance with the rights of the accused …“
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
tionsrechts des Angeklagten als bedeutsam angesehen wird, trägt zu dem Eindruck eines vom ICTY scheinbar vertretenen weiten Verständnisses bezüglich des Vorliegens eines die Ausübung des Konfrontationsrechts einschränken könnenden sachlichen Einschränkungsgrundes bei: Vielmehr hat man sich zudem zum einen von früheren strengeren Anforderungen an eine Einschränkung des Konfrontationsrechts des Angeklagten gelöst. Zu denken ist etwa an das Streichen der Voraussetzung der «exceptional circumstances» in der früheren, die Deposition betreffenden ICTY-Regel 71 (A), wonach nach dieser früheren ICTY-Regel 71 (A) «in exceptional circumstances and in the interests of justice»2714 erforderlich waren,2715 während nach der heute geltenden ICTY-Regel 71 (A) nur noch von «in the interests of justice»2716 die Rede ist sowie ebenso von «whether or not the person whose deposition is sought is able physically to appear before the Tribunal to give evidence»2717 gesprochen wird.2718 Zum anderen findet in einigen der ICTY-Regeln2719 und in der Rechtsprechung des ICTY zu zeugenschützenden Massnahmen der weit und eher unbestimmt gefasste Begriff der «interests of justice» Verwendung2720 und die Entscheidung, ob und in welcher Weise Zeugenbeweise gestattet werden, und (damit verbunden auch), ob und in welcher (eingeschränkten) Weise dem Angeklagten die Befugnis eingeräumt wird, sein Konfrontationsrecht auszuüben, ist in ein dem Gericht zustehendes Ermessen eingestellt.2721 Hinzukommt nicht zuletzt eine in den ICTY-Regeln 2714 2715 2716 2717 2718
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Hervorhebung Demko. Siehe die frühere ICTY-Regel 71 der RPE vom 9. und 10. Juli 1998. Hervorhebung Demko. Hervorhebung Demko; siehe dazu auch WANNEK, S. 68. Siehe zudem zur früheren ICTY-Regel 71 (B), in der von «the exceptional circumstances justifying the taking of the deposition» die Rede ist, während in der heute geltenden ICTY-Regel 71 (B) von «the circumstances justifying the taking of the deposition» gesprochen wird (Hervorhebung Demko); siehe zum Ganzen auch näher WANNEK, S. 68. Siehe etwa die ICTY-Regeln 71 (A), 89 (F) und 92quinquies (A) (iv) und (B) (ii). Siehe etwa Prosecutor v. Furundžija, Decision on Prosecutor`s Motion Requesting Protective Measures for Witnesses ”A” and ”D” at Trial, Case No. IT-95-17/1-T, 11. Juni 1998, para. 9: „… Furthermore, the Trial Chamber finds that in this case, the protective measures requested are in the interests of justice. The primary duty of the Trial Chamber is the search for truth. The measures requested will assist in giving witnesses ”A” and ”D” psychological freedom in giving their testimony, thus promoting the search for truth …“ (Hervorhebung Demko); Prosecutor v. Galić, Decision on Interlocutory Appeal concerning Rule 92bis(C), Case No. IT-98-29-AR73.2, 07. Juni 2002, para. 12. Siehe dazu die ICTY-Regeln 89 (F), 92bis (A) und 92ter (A); siehe zu den Ermessensentscheidungen der Richter auch näher WANNEK, S. 52 f., 59, 63 f., 68, 75, 90: „weites Ermessen“ (S. 68), hinsichtlich belastender Angaben von Personen, die nicht
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
und der Rechtsprechung ausgedrückte2722 und im Schrifttum zu recht kritisierte2723 inhaltsgeleitete Unterscheidung hinsichtlich möglicher Abweichungen von der grundsätzlich live-in-court vorzunehmenden Zeugenbefragung. Diese inhaltsgeleitete Unterscheidung macht die zu beachtenden Voraussetzungen für die Abweichung von dem Grundsatz des live-in-court-testimony und auch für die Frage der Gewährung des Konfrontationsrechts von dem jeweiligen Inhalt der Zeugenaussage – je nachdem, ob sich die Zeugenaussage auf für die Anklage relevante Handlungen und Verhaltensweisen des Angeklagten selbst («to proof of acts and conduct of an accused as charged in the indictment») bezieht oder nicht («to proof of a matter other than the acts and conduct of the accused as charged in the indictment») – abhängig. 962
Wenn diese zu beobachtenden Erweiterungen hinsichtlich der zu einer Einschränkung des Konfrontationsrechts des Angeklagten führen könnenden Momente auch nicht ausdrücklich als ein Aufgeben des Erfordernisses des Vorliegens eines sachlichen Grundes bezeichnet werden, so verbinden sich mit jenen Erweiterungen dennoch eine gewisse Unklarheit und mangelnde Bestimmtheit in Bezug auf die Frage, welche im Strafverfahren zu beachtenden Umstände – über solche hinaus, die sich auf die Unerreichbarkeit des Belastungszeugen beziehen – unter Einhaltung welcher Beurteilungskriterien als eine Konfrontationsrechtseinschränkung sachlich rechtfertigen könnende Gründe berücksichtigt werden können und welche nicht. Angesprochen ist eine Unklarheit, die auch vom ICTY nicht hinreichend ausgeräumt wird und bezüglich der sich nur zum Teil Antworten ablesen lassen, indem sich das
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unter den vom ICTY angelegten Begriff des Belastungszeugen fallen, heisst es, dass „(a)lle anderen belastenden Angaben … nach freiem Ermessen der Richter verwertbar (sind), ohne dass eine Auseinandersetzung mit einer daraus resultierenden Beschränkung des Fragerechts stattfindet“ (S. 90); siehe zum Verfahren vor dem ICC etwa BOCK, S. 417: „vielfach im Ermessen des Gerichts“. Siehe dazu die ICTY-Regel 92bis einerseits und die ICTY-Regel 92quater andererseits, wonach erstere sich nur auf Zeugenaussagen bezieht, die nicht für die Anklage relevante Handlungen und Verhaltensweisen des Angeklagten betreffen (ICTY-Regel 92bis (A): «which goes to proof of a matter other than the acts and conduct of the accused as charged in the indictment» ), während letztere ICTY-Regel auch für Zeugenaussagen gilt, die für die Anklage relevante Handlungen und Verhaltensweisen des Angeklagten selbst betreffen (ICTY-Regel 92quater (B): «If the evidence goes to proof of acts and conduct of an accused as charged in the indictment, this may be a factor against the admission of such evidence, or that part of it»). Siehe dazu näher im Rahmen der Ausführungen zu den Einschränkungsformen des Konfrontationsrechts unter Kap. 5 C. II. 3. a) bb) (2). Siehe dazu und zur zutreffenden Kritik näher WANNEK, S. 49 ff., 90; zudem AMBOS, ICLR 2003, S. 27; siehe zu den Kritikpunkten im Einzelnen im Rahmen der Ausführungen zu den Einschränkungsformen des Konfrontationsrechts unter Kap. 5 C. II. 3. a) bb) (2).
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Tribunal – geprägt durch die Erfahrung einer wiederholt erheblichen Verfahrenslänge der vor ihm geführten Prozesse aufgrund lang andauernder Beweisaufnahmen2724 – insbesondere auf das Moment der Verfahrenslänge2725 stützt: Aufgezeigt wird vom Tribunal dieses Moment der Verfahrenslänge als eines der zu berücksichtigenden Elemente im Rahmen seiner Ermessensausübung für die Gestattung der Art und Weise der Zeugenbeweismitteleinführung und damit einhergehend für Einschränkungen in der Ausübung des Konfrontationsrechts des Angeklagten.2726 „… This is not the first time the Appeals Chamber has concluded that in this jurisdiction there are circumstances in which evidence may be presented in written form instead of requiring it to be presented viva voce. Whilst it may be that the founders drafting the Tribunal's Rules had in mind that all evidence would be presented orally, the experience of the trials has necessitated revision of that view. The introduction of Rule 94 ter (a Rule that preceded Rule 92 bis) allowed for the admission of affidavits or formal statements in lieu of oral evidence as long ago as 1998. The length of the trials, the amount of evidence, and the complexity of the proceedings in this jurisdiction, has made it necessary for Trial Chambers to consider expeditious methods for the presentation of evidence, whilst at all times ensuring that the trial is fair – both to the accused and Prosecution. The proper application of Rule 92 bis is one such method by which this may be achieved …“2727
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Eine ebensolche Vertiefung zu anderen, Berücksichtigung findenden Momenten – neben der Unerreichbarkeit des Zeugen und der Verfahrenslänge – lässt das ICTY ebenso vermissen wie überhaupt allgemeine Ausführungen und Begründungen dazu, wie sich eine Einschränkung des Konfrontationsrechts des Angeklagten rechtfertigen lassen soll, obwohl der Belastungszeuge für
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Siehe dazu auch AMBOS, Internationales Strafrecht 2011, S. 346 FN 44; WANNEK, S. 45 FN 61, 62. Siehe dazu auch WANNEK, S. 45, 51 FN 79, 68; AMBOS, Internationales Strafrecht 2011, S. 346 N 44; GUARIGLIA, S. 677, 680; TOCHILOVSKY, Legal Systems, S. 632. Siehe dazu etwa Prosecutor v. Dragomir Milošević, Public Transcript of Hearing, Case No. IT-98-29/1, 15. Januar 2007, S. 354; Prosecutor v. Popović et al., Decision on Motion to convert viva voce Witnesses to Rule 92 ter Witnesses, Case No. IT-0588-T, 31. Mai 2007, S. 3; Prosecutor v. Slobodan Milošević, Decision on Prosecution Motion for the Admission of Transcripts in Lieu of Viva Voce Testimony pursuant to 92bis(D) – Foča Transcripts, Case No. IT-02-54-T, 30. Juni 2003, para. 25. Prosecutor v. Slobodan Milošević, Decision on Prosecution Motion for the Admission of Transcripts in Lieu of Viva Voce Testimony pursuant to 92bis(D) – Foča Transcripts, Case No. IT-02-54-T, 30. Juni 2003, para. 25 (Hervorhebung ICTY: «viva voce», «bis», «ter», übrige Hervorhebung Demko); siehe auch Prosecutor v. Aleksovski, Decision on Prosecutor`s Appeal on Admissibility of Evidence, Case No. IT-95141/1-AR73, 16. Februar 1999, para. 19: „… The purpose of the Rules is to promote a fair and expeditious trial, and Trial Chambers must have the flexibility to achieve this goal …“ (Hervorhebung Demko).
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
eine Zeugenbefragung u.U. zur Verfügung stehen würde und könnte.2728 Dies ist ein Umstand, der erhebliche Bedenken nicht nur im Hinblick darauf aufwirft, dass das ICTY an anderer Stelle – nämlich im Zusammenhang mit seinen Entscheidungen, welche das Moment der Unerreichbarkeit des Belastungszeugen berühren – deutlich und wiederholt betont, dass Einschränkungen des Rechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren und ebenso seines Konfrontationsrechts nach einem sich (gerade) auf die Person des Belastungszeugen beziehenden sachlichen Grund verlangen, sei es etwa nach dem belastungszeugenbezogenen Grund des Todes des Zeugen, einer realen Gefahr für die Sicherheit des Zeugen und/oder seiner Familie oder einer substantiiert begründeten Unfähigkeit oder Unwilligkeit des Zeugen für ein livein-court-testimony.2729 Es fragt sich daher, mit welcher Begründung genau es sich rechtfertigen können lassen soll, andere, und zwar ausserhalb des sachlichen Grundes der Unerreichbarkeit des Belastungszeugen liegende Verfahrensgrundsätze für eine Einschränkung des Konfrontationsrechts – u.U. gar trotz Erreichbarkeit des Belastungszeugen – heranzuziehen. Bedenklich erscheint diese im Strafverfahren vor dem ICTY sich andeutende Erweiterung hinsichtlich des Verständnisses der Einschränkungsvoraussetzung des «sachlich gerechtfertigten Grundes» aber auch im Hinblick darauf, dass dem Angeklagten im Falle des Heranziehens von anderen, ausserhalb des Kriteriums der Unerreichbarkeit des Belastungszeugen liegenden Gründen (wie etwa dem der Verfahrenslänge) das Recht genommen ist, sich im Zusammenhang mit dem Zeugenbeweis bestmöglich zu verteidigen, wenn ihm nicht gestattet wird, den Zeugen streng – im Sinne von einzig und allein – ausgerichtet an der Erreichbarkeit und Verfügbarkeit des Zeugen für eine Zeugenkonfrontation auch tatsächlich konfrontieren zu können.2730 Der im Strafverfahren vor dem ICTY zu beobachtende Eindruck einer Erweiterung hinsichtlich der – über das Kriterium der (Un-)Erreichbarkeit des Belastungszeugen hinausgehenden – Momente, die für eine Einschränkung des Konfrontationsrechts als «sachlich gerechtfertigte Gründe» in den Blick genommen werden, stellt nicht nur Zweifel betreff einer Vereinbarkeit jener Sicht des ICTY mit der
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Dazu, dass es auf die Voraussetzung der Unerreichbarkeit des Zeugen im Verfahren vor dem ICTY nicht stets ankommt, siehe auch zutreffend ausgeführt von WANNEK, S. 58, 68, 73; siehe dazu und zu bestehenden Unklarheiten im Zusammenhang mit dem Verfahren vor dem ICC etwa BOCK, S. 416. Siehe dazu die vorangehenden Ausführungen. Angesprochen ist damit das Erfordernis des sich auf die (Un-)Erreichbarkeit des Belastungszeugen beziehenden und streng zu wahrenden Verhältnismässigkeitsgrundsatzes, siehe dazu auch die Ausführungen zur Rechtsprechung des EGMR unter Kap. 5 B. II. 1. b).
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Rechtsprechung des EGMR in den Raum.2731 Vielmehr ist hier überhaupt die grundsätzliche Frage aufgeworfen, welche das Strafverfahren berührende Grundsätze als mögliche «sachlich gerechtfertigte Gründe» für eine Einschränkung des Konfrontationsrechts des Angeklagten in die Waagschale zu geben sind und welche hingegen für eine solche Abwägung als «sachlich gerechtfertigte» Einschränkungsgründe von vornherein nicht in Betracht kommen. bb)
Die für zulässig gehaltenen Einschränkungsformen und das Verhältnismässigkeits- und Ausgleichserfordernis
(1)
Das Verhältnismässigkeits- und Ausgleichserfordernis
Einschränkungen des Konfrontationsrechts des Angeklagten werden von dem ICTY in unterschiedlichem Ausmass hinsichtlich sämtlicher, mit dem Konfrontationsrecht verbundenen Teilrechte auf der Ausübungsebene – sei es hinsichtlich des Fragerechts im engen Sinne, des Rechts auf Kenntnis der Zeugenidentität und/oder des Rechts auf Wahrnehmung der Zeugenperson während der Zeugenvernehmung – für zulässig gehalten. Möglich sind hierbei sowohl Einschränkungen, die eine Befragung des Belastungszeugen zwar noch gestatten, dies aber nur unter von der grundsätzlich «optimalen» Zeugenbefragung «live-in-court» abweichenden, eingeschränkten Ausübungsbedingungen, als darüber hinausgehend auch solche Einschränkungen, die eine Befragung der die belastende Aussage tätigenden Zeugenperson nicht gestatten und vielmehr den Rückgriff auf Beweissurrogate vorsehen. Während das Erfordernis des zu beachtenden Verhältnismässigkeitsgrundsatzes vom ICTY anerkannt und, wenn auch häufig ohne ausführliche Erläuterungen, in Fallkonstellationen der sich auf eine Unerreichbarkeit des Belastungszeugen stützenden Einschränkungen ausdrücklich betont ist, lassen sich seiner Rechtsprechung eingehende Auseinandersetzungen mit dem Ausgleichserfordernis nicht entnehmen. Das Verhältnismässigkeitserfordernis ist vom ICTY etwa in den Fällen Prosecutor v. Zejnil Delalić et al., Prosecutor v. Duško Tadić A/K/A “Dule“ und Prosecutor v. Tihomir Blaškić hervorgehoben, in denen davon gesprochen wird, dass die betreffende einschränkende Massnahme „necessary“2732 zu sein hat bzw. nur mit „absolute necessity“2733 vorzunehmen ist: 2731
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Siehe zu dem Verständnis des sachlich gerechtfertigten Grundes für eine Einschränkung des Konfrontationsrechts nach Ansicht des EGMR die Ausführungen unter Kap. 5 B. II. 1. a). Prosecutor v. Delalić et al., Decisions on the Motions by the Procecution for Protective Measures for the Prosecution Witnesses pseudonymed ”B” through to ”M”, Case No. IT-96-21-T, 28. April 1997, para. 60 (Hervorhebung Demko), siehe auch para. 57
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen „… the absolute necessity for the said measure. If a less restrictive measure can ensure the requested protection, it should be applied. The International Tribunal must be satisfied that the accused will not suffer any excessive prejudice which can be avoided, although some imbalance is inevitable …“2734
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Ausgewählte Einschränkungsformen und deren Regelungen im internationalen Strafverfahrensrecht des ICTY
Einschränkungen, die eine Befragung des Belastungszeugen zwar noch gestatten, dies aber nur unter von der grundsätzlich «optimalen» Befragungsmöglichkeit «live, in-court» abweichenden, eingeschränkten Ausübungsbedingungen werden auf der Grundlage der Art. 20 (1) und 22 ICTY-Statut2735 sowie etwa der ICTY-Regeln 69, 71, 75, 81bis und 89 für zulässig gehalten: Um den – wie es auch in den Art. 20 (1) («due regard for the protection of victims and witnesses») und 22 ICTY-Statut zum Ausdruck kommt – Schutz der Zeugen und Opfer besorgt, zugleich aber betonend, dass die in einem Spannungsverhältnis zu den Rechten des Angeklagten stehenden Zeugenschutzmassnahmen mit den Rechten des Angeklagten vereinbar sein müssen und in Balance zu bringen sind,2736 werden Massnahmen zum Schutz von
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letzter Satz; Prosecutor v. Tadić A/K/A “Dule“, Decision on the Prosecutor`s Motion requesting Protective Measures for Victims and Witnesses, Case No. IT-94-T, 10. August 1995, para. 67 (Hervorhebung Demko), siehe auch para. 71 letzter Satz. Prosecutor v. Blaškić, Decision of Trial Chamber I on the Prosecutor`s Requests of 5 and 11 July 1997 for Protection of Witnesses, Case No. IT-95-14-PT, 10. July 1997, para. 12 (Hervorhebung Demko). Prosecutor v. Blaškić, Decision of Trial Chamber I on the Prosecutor`s Requests of 5 and 11 July 1997 for Protection of Witnesses, Case No. IT-95-14-PT, 10. July 1997, para. 12 (Hervorhebung Demko); siehe auch Prosecutor v. Tadić A/K/A “Dule“, Decision on the Prosecutor`s Motion requesting Protective Measures for Victims and Witnesses, Case No. IT-94-T, 10. August 1995, para. 67: „… Witness anonymity will restrict this right to the extent that certain questions may not be asked or answered but, as noted above and as is evidenced in national and international jurisdictions applying a similar standard, it is permissible to restrict this right to the extent that is necessary …“ (Hervorhebung Demko). Art. 22 ICTY-Statut führt beispielhaft die Möglichkeit nicht öffentlicher Aussagen und den Schutz der Zeugenidentität an und verweist für den in ihm vorgesehenen Zeugenschutz im Übrigen auf die RPE; siehe dazu auch NEMITZ, S. 60 FN 15. Siehe etwa Prosecutor v. Tadić A/K/A “Dule“, Decision on the Prosecutor`s Motion requesting Protective Measures for Victims and Witnesses, Case No. IT-94-T, 10. August 1995, para. 50: „... In determining where the balance lies between the right of the accused to a fair and public trial and the protection of victims and witnesses, consideration has been given to the special concerns of victims of sexual assault. These concerns have been factored into the balance on an individual basis for each witness for whom protection is sought. Witness F is an alleged victim of forcible sexual inter-
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Opfern und Zeugen in verschiedenen ICTY-Regeln im Einzelnen und in der Hauptbestimmung («main provision») der ICTY-Regel 75 geregelt, welche «appropriate measures for the privacy and protection of victims and witnesses, provided that the measures are consistent with the rights of the accused» gestattet. Für zulässig angesehen sind etwa Zeugenvernehmungen im Wege von Videokonferenzen (ICTY-Regel 81bis),2737 die Stimme u./o. das Aussehen verändernde bzw. Sichtschutzmassnahmen,2738 eine Zeugenvernehmung unter
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course. Witnesses G. H and I are alleged victims of or witnesses to sexual mutilation. The measures sought by the Prosecutor are appropriate to protect the privacy rights of witnesses F, G, H and I. These measures in no way affect the accused's right to a fair and public trial. The protective measures sought pursuant to Rule 75 will afford these witnesses privacy and guard against their retraumatization should they choose to testify at trial. Given the individual circumstances of these four witnesses, the Trial Chamber has determined that protective measures are warranted, and are allowed by the Statute and Rules …“ (Hervorhebung Demko); siehe dazu auch NEMITZ, S. 58, 60. Siehe dazu aus der Rechtsprechung etwa Prosecutor v. Tadić, Decision on the Defence Motion to Summon and Protect Defence Witnesses, and on the Giving of Evidence by Vidoe-Link, Case No. IT-94-1-T, 25. Juni 1996, paras. 19 ff.; Prosecutor v. Milutinović et al., Decision on Prosecution Motion for Testimony of Dušan Lončar to be heard via Video-Link Conference, Case No. IT-05-87-T, 28. November 2006, paras. 3 f.; Prosecutor v. Milutinović et al., Decision on Prosecution Motion for Testimony of K58 to be heard via Video-Link Conference, Case No. IT-05-87-T, 1. November 2006, para. 2; Prosecutor v. Delalić et al., Decision on the Motion to Allow Witnesses K, L and M to Give Their Testimony by Means of Video-Link Conference, Case No. IT-96-21-T, para. 15: „It is important to re-emphasise the general rule requiring the physical presence of the witness. This is intended to ensure confrontation between the witness and the accused and to enable the Judges to observe the demeanour of the witness when giving evidence. It is, however, well known that videoconferences not only allow the Chamber to hear the testimony of a witness who is unable or unwilling to present their evidence before the Trial Chamber at The Hague, but also allows the Judges to observe the demeanour of the witness whilst giving evidence. Furthermore, and importantly, counsel for the accused can cross-examine the witness and the Judges can put questions to clarify evidence given during testimony. Video-coferencing is, in actual fact, merely an extension of the Trial Chamber to the location of the witness. The accused is therefore neither denied his right to confront the witness, nor does he lose materially from the fact of the physical absence of the witness. It cannot, therefore, be said with any justification that testimony given by video-link conferencing is a violation of the right of the accused to confront the witness. Article 21(4)(e) is in no sense violated“ (Hervorhebung Demko); siehe zu video conferences und closed circuit television auch Prosecutor v. Tadić A/K/A “Dule“, Decision on the Prosecutor`s Motion Requesting Protective Measures For Victims and Witnesses, Case No. IT-94-1-T, 10. August 1996, paras. 47, 48, 51. Siehe etwa Prosecutor v. Tadić A/K/A “Dule“, Decision on the Prosecutor`s Motion Requesting Protective Measures For Victims and Witnesses, Case No. IT-94-1-T, 10. August 1996, paras. 48, 51: „image- and voicealtering devices, screens and one-way
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Ausschluss des Angeklagten2739 und die die unmittelbare Zeugenvernehmung im Gerichtssaal ersetzende2740 Verwendung von «Depositions» nach der ICTY-Regel 71, d.h. von aussergerichtlichen eidlichen Aussagen vor einem gerichtlich bestellten Amtsträger.2741 (2.1) 968
Einschränkungen in Bezug auf die Kenntnis der Zeugenperson
Zudem sind die Zeugenidentität schützende Massnahmen gegenüber dem Angeklagten und der Öffentlichkeit im Verfahren vor dem ICTY möglich. Die Zulässigkeit einer vollständigen Zeugenanonymisierung gegenüber dem Angeklagten während des gesamten Verfahrens – betrachtet man die Rege-
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mirrors“ (para. 48), „installation of temporary screens in the courtroom, positioned so that the witness cannot see the accused but the accused may view the witness via the courtroom monitors may also be suitable, depending upon the technical practicalities, for any witness for whom full anonymity is not ordered by the Trial Chamber and will give the Trial Chamber the benefit of observing directly the demeanour of the witness“ (para. 51); Prosecutor v. Blaškić, Decision of Trial Chamber I on the Prosecutor`s Requests of 5 and 11 July 1997 for Protection of Witnesses, Case No. IT-95-14PT, 10. Juli 1997, para. 12: „their voices and images be distorted“; siehe dazu auch KRESS, S. 359. Eine Entfernung des Angeklagten aus dem Gerichtssaal aufgrund störenden Verhaltens ist nach der ICTY-Regel 80 (B) möglich; ebenso erscheint dies auch ohne störendes Verhalten des Angeklagten nach der ICTY-Regel 75 (A) als eine der «appropriate measures for the privacy and protection of victims and witnesses, provided that the measures are consistent with the rights of the accused» möglich, siehe dazu auch KRESS, S. 356 ff.; zur dem Angeklagten auch bei den Depositions nach der ICTYRegel 71 nur eingeschränkt gestatteten Anwesenheit bei aussergerichtlichen Zeugenvernehmungen ausserhalb von Den Haag siehe näher NEMITZ, S. 67 f.; siehe dazu Prosecutor v. Naletilić and Martinović, Decision on Prosecutor`s Motion to take Depositions for use at Trial (Rule 71), Case No. IT-98-34-PT, 10. November 2000, S. 5: „… in specifying that depositions may be taken away from the seat of the Tribunal, Rule 71 contemplates the possibility that the accused may be absent, given that most accused are detained in The Hague …“ sowie S. 5 FN 8: „... However, the Trial Chamber is also mindful of objections raised in the Martinović Reply about the need for the accused to see the witnesses in order to identify them. If The Hague is subsequently assessed to be the most economical option for the deposition procedure …, arrangements could be made for the accused to be present, which would resolve the issue. If, on the other hand, Sarajevo is determined to be the most economical location, Martinović should have an opportunity to raise, with greater specificity, his need to be present to identify witnesses …“ (Hervorhebung Demko); siehe zu Deposition Evidence auch TOCHILOVSKY, S. 371 f. Siehe auch AMBOS, Internationales Strafrecht 2011, S. 345 N 42: Unterlaufen des „Unmittelbarkeitsgrundsatz(es) (hinsichtlich der Zeugenvernehmung)“. Siehe dazu ICTY-Regel 71; näher dazu NEMITZ, S. 67 f.; TOCHILOVSKY, S. 371 f.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
lungen in den ICTY-Regeln 69 (A) und (C)2742 und die auch von Richtern des ICTY nicht einheitlich vertretenen Ansichten zur Zulässigkeit einer Zeugenanonymisierung2743 – ist hierbei aber eher mit Zurückhaltung zu betrachten.2744 Die Frage, ob eine vollständige Zeugenanonymisierung gegenüber dem Angeklagten während des gesamten Verfahrens zulässig ist, wurde im ICTY-
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Dass die Zeugenidentität dem Angeklagten gegenüber nur verzögert offengelegt – jedoch nicht während des gesamten Verfahrens geheimgehalten – werden kann, geht aus der ICTY-Regel 69 (C) hervor, in der es heisst: «Subject to Rule 75, the identity of the victim or witness shall be disclosed in sufficient time prior to the trial to allow adequate time for preparation of the defence.» (Hervorhebung Demko). Auch nach der ICTY-Regel 69 (A) ist nur eine zeitlich beschränkt mögliche Geheimhaltung der Zeugenidentität, nämlich nur solange, bis der Zeuge unter den Schutz des Tribunals gebracht ist, im Ausnahmefall zulässig: «In exceptional circumstances, the Prosecutor may apply to a Judge or Trial Chamber to order the non-disclosure of the identity of a victim or witness who may be in danger or at risk until such person is brought under the protection of the Tribunal.» (Hervorhebung Demko); siehe dazu sowie zum Vorrang der Angeklagtenrechte vor dem Zeugenschutz und zu der Forderung einer expliziten Regelung zur Zeugenanonymisierung in der Prozessordnung näher KAMARDI, S. 369 ff., 372; siehe zudem NEMITZ, S. 61: „bewusste Regelungslücke“ bezüglich einer weitergehenden Zeugenanonymität. Siehe etwa Prosecutor v. Tadić A/KA/ ”Dule”, Separate Opinion of Judge Stephen on the Prosecutor`s Motion requesting Protective Measures for Victims and Witnesses, Case No. IT-94-1-T, 10. August 1995, S. 12 f. : „… the accuser would appear as no more than a disembodied and distorted voice transmitted by electronic means … Rules 66, 67 and 68 are all concerned with ensuring full and early disclosure of all evidence, including details of witnesses to be called. They set the pattern for the rest of the Rules, a pattern concerned to ensure, in compliance with the Statute, a fair trial of an accused … Rule 69 is telling in the very partial nature of its exception to full disclosure; it is confined to "exceptional circumstances" and even then only permits of non-disclosure of identity until a victim or witness "is brought under the protection of the Tribunal." …“ (Hervorhebund Demko); siehe zu skeptischen Richterstimmen näher SCHARF, S. 108 f., wonach Richterin Gabrielle McDonald sagte, dass „it was one of the toughest rulings she ever had to make in her career because she had to weigh the rights of the witnesses against the rights of the accused“ (S. 108) und ebenso Deputy Prosecutor Graham Blewitt erklärte, dass „he was “personally very uncomfortable with the notion of going forward with witnesses whose identity are not disclosed to the accused“…“ (S. 108); siehe dazu auch KRESS, S. 374; KAMARDI, S. 364. Siehe zur Fraglichkeit und Skepsis hinsichtlich der Zulässigkeit einer vollständigen Zeugenanonymität während des gesamten Verfahrens etwa NEMITZ, S. 61; dazu auch KRESS, S. 312 und FN 8 mit weiteren Nachweisen zu kritischen Stimmen; MUMBA, S. 369; KAMARDI, S. 364, 368 ff.
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Statut und in den ICTY-Regeln weder ausdrücklich bejaht noch verneint.2745 Zum Ersten die ausdrücklichen Regelungen in den ICTY-Regeln 69 (A) und (C) zur nur zeitlich beschränkt möglichen Zeugenanonymisierung, zum Zweiten der sich aus dem Art. 20 (1) ICTY-Statut («full respect for the rights of the accused and due regard for the protection of victims and witnesses») und der ICTY-Regel 75 (A) («provided that the measures are consistent with the rights of the accused») ableiten lassende Vorrang der Wahrung der Angeklagtenrechte vor dem Zeugenschutz2746 und nicht zuletzt zum Dritten – als Gegensatz zu diesen ausdrücklichen Regelungen einer zeitlich nur begrenzt zulässigen Geheimhaltung der Zeugenidentität – das Fehlen einer ausdrücklichen Regelung zur Zulassung einer vollständigen Zeugenanonymisierung gegenüber dem Angeklagten im gesamten Verfahren2747 scheinen sich eher für eine zu beachtende grösste Vorsicht und Zurückhaltung bei der Zulassung einer vollständigen Zeugenanonymisierung gegenüber dem Angeklagten während des gesamten Verfahrens auszusprechen.2748 Sich gegen eine «blinde Konfrontation im Gerichtssaal» („more than a blind confrontation in the courtroom“2749) richtend, welche eine wirksame Ausübung des Konfrontationsrechts („in any real sense“2750) nicht gewährleisten könne,2751 heisst es auch im Fall Prosecutor v. Delalić et al.: 970
„… It is clear from Sub-rule 69(C) that the Defence has a right to know the identity of the witnesses which are to be called by the Prosecution in the presentation of its case. The use of the term "identity" has a significance which goes beyond the mere provision of the names of these witnesses. A name by itself is not sufficient to identify the person by whose testimony the charges against the accused are sought to be proven. To identify the witnesses, therefore, it is necessary for the Defence to know further particulars about them, this in turn to satisfy the right of the accused to an adequate preparation of his defence … Furthermore, there is no opportunity for the Defence to examine the witnesses for the Prosecution in any real sense without a proper appreciation of those witnesses. The basic right of the accused to examine witnesses, read in conjunction with the right to have adequate time for the preparation of his defence, 2745
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Siehe zur Auslegung des Statuts und der RPE näher KAMARDI, S. 368 ff.; NEMITZ, S. 61. Siehe dazu bereits näher unter Kap. 5 C. II. 1. a). Siehe dazu NEMITZ, S. 61. Dazu auch KAMARDI, S. 372, auf das Erfordernis einer expliziten Vorschrift hinweisend; NEMITZ, S. 61: „fraglich“ und „bewusste Regelungslücke“; MUMBA, S. 369. Prosecutor v. Delalić et al., Decision on the Defence Motion to Compel the Discovery of Identity and Location of Witnesses, Case No. IT-96-21-T, 18. März 1997, para. 19 (Hervorhebung Demko). Prosecutor v. Delalić et al., Decision on the Defence Motion to Compel the Discovery of Identity and Location of Witnesses, Case No. IT-96-21-T, 18. März 1997, para.19 (Hervorhebung Demko). Siehe dazu etwa AMBOS, Internationales Strafrecht 2011, S. 333 f. N 31, S. 337 N 32.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen therefore envisages more than a blind confrontation in the courtroom. A proper incourt examination depends upon a prior out of court investigation. Sub-rule 69(C) reflects this by referring to a "sufficient time prior to the trial"…“2752
Ebenso ist im Fall Prosecutor v. Blaškić hervorgehoben:
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„... The philosophy which imbues the Statute and the Rules of the Tribunal appears clear: the victims and witnesses merit protection, even from the accused, during the preliminary proceedings and continuing until a reasonable time before the start of the trial itself; from that time forth, however, the right of the accused to an equitable trial must take precedence and require that the veil of anonymity be lifted in his favour, even if the veil must continue to obstruct the view of the public and the media ... How can one conceive of the accused being afforded an equitable trial, adequate time for preparation of his defence, and intelligent cross-examination of the Prosecution witnesses if he does not know from where and by whom he is accused? …“2753
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Die Rechtsprechung, die eine vollständige Zeugenanonymisierung zwar im Tadić-Verfahren gestattete, sich hingegen in nachfolgenden Verfahren – sei es etwa im Blaškić- oder Delalić-Verfahren – vom Ergebnis her gegen eine solche ausgesprochen hat, ohne dabei aber zugleich auch die im TadićVerfahren vom ICTY aufgestellten Voraussetzungen für die Zulassung einer Zeugenanonymisierung grundsätzlich zu verwerfen, hat diese Frage zumindest vom Begründungsgang her nicht mit letzter Sicherheit entschieden. Im Tadić-Verfahren stützte sich das ICTY auf mehrere Begründungslinien,2754 ohne aber eindeutig zu klären, in welcher Weise diese miteinander in Verbindung zu bringen oder voneinander zu unterscheiden sind.2755 Zunächst stellte das Tribunal heraus, dass eine Einschränkung des Rechts des Angeklagten auf Befragung von Belastungszeugen nur unter aussergewöhnlichen Umständen („only in exceptional circumstances“2756) möglich ist und führte den gegebe-
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Prosecutor v. Delalić et al., Decision on the Defence Motion to Compel the Discovery of Identity and Location of Witnesses, Case No. IT-96-21-T, 18. März 1997, paras. 17, 19 (Hervorhebung Demko). Prosecutor v. Blaškić, Decision on the Application of the Prosecutor Dated 17 October 1996 Requesting Protective Measures for Victims and Witnesses, Case No. IT-9514-T, 5. November 1996, paras. 24, 25 (Hervorhebung Demko). Siehe Prosecutor v. Tadić A/K/A “Dule“, Decision on the Prosecutor`s Motion Requesting Protective Measures for Victims and Witnesses, Case No. IT-94-1-T, 10. August 1995, paras. 25 ff., 53 ff., insbesondere paras. 60, 61 zu den «exceptional circumstances» und zu dem in para. 61 letzter Satz vorgenommenen Übergang zu den 5 Voraussetzungen für eine zulässige Zeugenanonymisierung in paras. 62 – 66, zudem paras. 67 ff. und nicht zuletzt paras. 70, 71 zu weiteren 4 Richtlinien zur Gewährung eines fairen Verfahrens während der Zeugenanonymisierung. Siehe dazu auch KRESS, S. 373 f. Prosecutor v. Tadić A/K/A “Dule“, Decision on the Prosecutor`s Motion Requesting Protective Measures for Victims and Witnesses, Case No. IT-94-1-T, 10. August 1995, para. 60 (Hervorhebung Demko).
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
nen und andauernden bewaffneten Konflikt als einen solchen „exceptional circumstance par excellence“2757 an. Zur Begründung verwies das ICTY auf die Möglichkeit einer für eben solche nationalen Notstandssituationen in verschiedenen internationalen Menschenrechtsdokumenten vorgesehenen Derogation von anerkannten Prozessgarantien, welche deutlich macht, dass die im Rahmen des Rechts auf ein faires Verfahren dem Angeklagten garantierten Rechte nicht gänzlich ohne mögliche Einschränkungen eingeräumt seien.2758 Nicht klärend, ob andauernde kriegerische Auseinandersetzungen die einzigen, vom ICTY anerkannten «exceptional circumstances» sind oder ob (und wenn, welche) andere(n) Situationen von diesen erfasst sein könnten, liess das ICTY zudem allgemeine Erklärungen dazu vermissen, was im Einzelnen unter diesen aussergewöhnlichen, eine Einschränkung des Konfrontationsrechts ausnahmsweise rechtfertigen könnenden Umständen zu verstehen ist. Das Tribunal ging vielmehr im Folgenden daran, für eine zulässige Zeugenanonymisierung und das dabei zu gewährende faire Strafverfahren 5 weitere Voraussetzungen und zudem 4 weitere Bedingungen aufzustellen.2759 974
Fraglich ist – gerade auch, weil diese und weitere vom ICTY angeführte Begründungslinien vom Tribunal nicht klar erkennbar miteinander in Beziehung gesetzt, in einen entsprechenden Prüfungsaufbau gebracht sowie voneinander unterschieden worden sind – insofern nicht nur, ob das ICTY mit diesem Vorgehen einen dreistufigen oder einen zweistufigen Prüfungsaufbau aufzeigen wollte: Ein dreistufiger Prüfungsaufbau liesse sich insofern denken, als die erste und eigenständige Grundvoraussetzung jene «exceptional circumstances» (als die erste Prüfungsstufe) sind und erst bei Vorliegen dieser die weiteren 5 Voraussetzungen und sodann die 4 Bedingungen (als die zweite und dritte Prüfungsstufe) überhaupt notwendig zu prüfen sind.2760 Ein zwei2757
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Prosecutor v. Tadić A/K/A “Dule“, Decision on the Prosecutor`s Motion Requesting Protective Measures for Victims and Witnesses, Case No. IT-94-1-T, 10. August 1995, para. 61 (Hervorhebung ICTY). Prosecutor v. Tadić A/K/A “Dule“, Decision on the Prosecutor`s Motion Requesting Protective Measures for Victims and Witnesses, Case No. IT-94-1-T, 10. August 1995, para. 61 mit weiteren Ausführungen. Siehe Prosecutor v. Tadić A/K/A “Dule“, Decision on the Prosecutor`s Motion Requesting Protective Measures for Victims and Witnesses, Case No. IT-94-1-T, 10. August 1995, paras. 62 – 66 zu den 5 Voraussetzungen einer Zulassung einer Zeugenanonymisierung und paras. 70, 71 zu den zudem dabei für die Sicherung eines fairen Verfahrens zu beachtenden 4 weiteren Bedingungen. Für diese Deutung könnte sprechen Prosecutor v. Blaškić, Decision on the Application of the Prosecutor Dated 17 Oktober 1996 Requesting Protectice Measures For Victims and Witnesses, Case No. IT-95-14-T, 5. November 1996, para. 45: „... the existence of an ”exceptional case”, the pre-requisite for taking into consideration the five conditions which might lead to the granting of the protective measures the Prosecutor has requested …“ (Hervorhebung Demko).
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
stufiger Prüfungsaufbau könnte dergestalt verstanden werden, dass die «exceptional circumstances» nicht als eigenständige Prüfungsvoraussetzung, sondern nur als blosser Oberbegriff fungieren, unter den die im Zusammenhang mit einer zulässigen Zeugenvernehmung zu beachtenden 5 Voraussetzungen und 4 Bedingungen in der Art einer Konkretisierung der «exceptional circumstances» unterzuordnen und als die erste und zweite Prüfungsstufe zu lesen sind. Beide Deutungsvarianten lassen weitere Fragen offen: In der Deutungsvariante eines dreistufigen Prüfungsaufbaus würden mit Bezug auf die (zur zweiten Prüfungsstufe gehörenden) erste der 5 Voraussetzungen für eine zulässige Zeugenanonymisierung – d.h. in Bezug auf das Gegebensein einer auf einer objektiven Grundlage beruhenden realen Angst um die Sicherheit des Zeugen oder seiner Familie2761 – die Anforderungen an das Vorliegen eines sachlich gerechtfertigten Grundes (im Sinne der Rechtsprechung des EGMR2762) für eine Einschränkung des Konfrontationsrechts scheinbar erhöht, weil verdoppelt: Denn bei dieser Deutungsvariante eines dreistufigen Prüfungsaufbaus würde eine solche reale Angst um die Zeugensicherheit für eine das Konfrontationsrecht des Angeklagten einschränkende Zeugenanonymisierung nur ausreichen, wenn diese reale Angst um die Zeugensicherheit im Rahmen bzw. innerhalb eben solcher vorliegenden «exceptional circumstances» (als der ersten Prüfungsstufe) gegeben ist, während dieselbe reale Angst um die Zeugensicherheit ausserhalb solcher «exceptional circumstances» – in Folge fehlender Erfüllung der ersten Prüfungsstufe – eine Zeugenanonymisierung nicht gestatten würde. Sichtbar ist hier eine Unterscheidung, die sich, knüpft man an die in beiden Situationen gleichermassen gegebene reale Gefährdung des Zeugen an, um dessen Sicherheit das ICTY nach eigenen Angaben besorgt ist, sachlich nicht hinreichend begründen lässt und auch vom ICTY nicht hinreichend begründet wird.
975
In der Deutungsvariante eines zweistufigen Prüfungsaufbaus würde das Vorliegen einer realen Angst um die Zeugensicherheit als eine der kumulativ erforderlichen Konkretisierungen der «exceptional circumstances» als sachlich gerechtfertigter Grund für eine Zeugenanonymisierung zwar genügen. Jedoch ist diese Deutung der Rechtsprechung des ICTY gerade nicht, zumindest nicht eindeutig, zu entnehmen. Denn das Tribunal prüft im Tadić-Fall – losgelöst und getrennt von dieser ersten der 5 Zulässigkeitsvoraussetzungen –
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2761
2762
Prosecutor v. Tadić, Decision on the Prosecutor`s Motion Requesting Protective Measures for Victims and Witnesses, IT-94-1-T, 10. August 1995, para. 62: „… First and foremost, there must be real fear for the safety of the witness or her or his family …“ Siehe zur Rechtsprechung des EGMR zum Vorliegen eines sachlich gerechtfertigten Grundes als eine der Voraussetzungen für eine konventionskonforme Einschränkung des Konfrontationsrechts die Ausführungen unter Kap. 5 B. II. 1. a).
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
zunächst und vorausgehend2763 das Erfordernis des Vorliegens von «exceptional circumstances» und bejaht diese als „exceptional circumstance par excellence“2764 in Gestalt der gegebenen und andauernden bewaffneten Konflikte.2765 Ebenso betont das Tribunal im Blaškić-Fall, dass zusätzlich zu der Prüfung, ob die 5 Voraussetzungen für die zulässige Zeugenanonymisierung gegeben sind, die bedeutende vorbereitende, vorausgehende bzw. Vor-Frage („a significant preliminary question“2766) zu beantworten ist, ob überhaupt die «exceptional circumstances» als Vorbedingung, als Voraussetzung („the prerequisite“2767) für die (nachfolgende) Beurteilung der 5 Zulässigkeitsbedingungen vorliegen, was den Eindruck eines verfolgten dreistufigen Prüfungsaufbaus entstehen lässt: 977
„… Furthermore, a significant preliminary question remains unanswered: are we faced here with an exceptional case, within the meaning of the Rules? ... or is the Prosecutor not attempting rather to make an exceptional case out of what is really the rule in Bosnia? … Trial Chamber II saw "an exceptional circumstance" in the situation of the enduring armed conflict. But it is public knowledge that this situation no longer exists and the Prosecutor cannot benefit from it. This Trial Chamber is not satisfied that the case-file demonstrates the existence of an "exceptional case," the prerequisite for taking into consideration the five conditions which might lead to the granting of the protective measures the Prosecutor has requested …“2768
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Das Vorliegen eines «exceptional case» im Blaškić-Fall gestützt auf die Beendigung der kriegerischen Auseinandersetzungen verneinend,2769 gewährt 2763
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Prosecutor v. Tadić A/K/A “Dule“, Decision on the Prosecutor`s Motion Requesting Protective Measures for Victims and Witnesses, Case No. IT-94-1-T, 10. August 1995, paras. 60, 61 zu den «exceptional circumstances» und anschliessend paras. 62 ff. zu den weiteren 5 Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Zeugenanonymisierung. Prosecutor v. Tadić A/K/A “Dule“, Decision on the Prosecutor`s Motion Requesting Protective Measures for Victims and Witnesses, Case No. IT-94-1-T, 10. August 1995, para. 61 (Hervorhebung ICTY). Prosecutor v. Tadić A/K/A “Dule“, Decision on the Prosecutor`s Motion Requesting Protective Measures for Victims and Witnesses, Case No. IT-94-1-T, 10. August 1995, para. 61. Prosecutor v. Blaškić, Decision on the Application of the Prosecutor Dated 17 Oktober 1996 Requesting Protectice Measures For Victims and Witnesses, Case No. IT95-14-T, 5. November 1996, para. 44 (Hervorhebung Demko). Prosecutor v. Blaškić, Decision on the Application of the Prosecutor Dated 17 Oktober 1996 Requesting Protectice Measures For Victims and Witnesses, Case No. IT95-14-T, 5. November 1996, para. 45 (Hervorhebung Demko). Prosecutor v. Blaškić, Decision on the Application of the Prosecutor Dated 17 Oktober 1996 Requesting Protectice Measures For Victims and Witnesses, Case No. IT95-14-T, 5. November 1996, paras. 44, 45 (Hervorhebung Demko). Prosecutor v. Blaškić, Decision on the Application of the Prosecutor Dated 17 Oktober 1996 Requesting Protectice Measures For Victims and Witnesses, Case No. IT-
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
das ICTY hier den gestellten Antrag auf Zulassung der Zeugenanonymisierung gegenüber dem Angeklagten nicht.2770 Auch im Blaškić-Fall lässt das ICTY dabei unbeantwortet, ob auch andere Situationen als noch andauernde kriegerische Auseinandersetzungen unter die «exceptional circumstances» fallen könnten. Mehr noch, fehlt es im Delalić-Fall an einer ebenso ausführlichen Auseinandersetzung mit jenen «exceptional circumstances», wie sie im Tadić- und Blaškić-Fall gegeben ist, völlig,2771 was noch unklarer werden lässt, welche Bedeutung das ICTY den «exceptional circumstances» für die Prüfung der Zulässigkeit einer Zeugenanonymisierung einräumen möchte. Die im Tadić-Fall vom ICTY im Anschluss an die Bejahung der gegebenen «exceptional circumstances» aufgestellten und auch vom Ergebnis her bejahten weiteren Voraussetzungen2772 für eine zulässige Zeugenanonymisierung sind vom ICTY ebenso im Blaškić- und Delalić-Fall aufgegriffen und geprüft worden.2773 Wenn die Bejahung der «exceptional circumstances» nach Beendigung der kriegerischen Auseinandersetzungen auch vom Ergebnis her abgelehnt wurde,2774 so zeigt die Prüfung der im Tadić-Fall aufgestellten weiteren
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95-14-T, 5. November 1996, para. 45: „... But it is public knowledge that this situation no longer exists and the Prosecutor cannot benefit from it. This Trial Chamber is not satisfied that the case-file demonstrates the existence of an ”exceptional case” …“ Prosecutor v. Blaškić, Decision on the Application of the Prosecutor Dated 17 Oktober 1996 Requesting Protectice Measures For Victims and Witnesses, Case No. IT95-14-T, 5. November 1996, paras. 45 ff. Prosecutor v. Delalić et al., Decision on the Motions by the Prosecution for Protective Measures for the Prosecution Witnesses pseudonymed ”B” trough to ”M”, Case No. IT-96-21-T, 28. April 1997, paras. 60 ff., in denen die im Tadić-Fall aufgestellten 5 Zulässigkeitsvoraussetzungen für die Zeugenanonymisierung und deren Gegebensein im vorliegenden Fall ausführlich besprochen werden. Prosecutor v. Tadić, Decision on the Prosecutor`s Motion Requesting Protective Measures for Victims and Witnesses, Case No. IT-94-1-T, 10. August 1995, paras. 62 – 66 zu den 5 Voraussetzungen einer Zulassung einer Zeugenanonymisierung und paras. 70, 71 zu den zudem dabei für die Sicherung eines fairen Verfahrens zu beachtenden 4 weiteren Bedingungen. Prosecutor v. Blaškić, Decision on the Application of the Prosecutor Dated 17 Oktober 1996 Requesting Protectice Measures For Victims and Witnesses, Case No. IT95-14-T, 5. November 1996, paras. 41-44; Prosecutor v. Delalić et al., Decision on the Motions by the Prosecution for Protective Measures for the Prosecution Witnesses pseudonymed ”B” trough to ”M”, Case No. IT-96-21-T, 28. April 1997, paras. 57, 60 ff. Prosecutor v. Blaškić, Decision on the Application of the Prosecutor Dated 17 Oktober 1996 Requesting Protectice Measures For Victims and Witnesses, Case No. IT95-14-T, 5. November 1996, paras. 45 ff.; Prosecutor v. Delalić et al., Decision on the Motions by the Prosecution for Protective Measures for the Prosecution Witnesses pseudonymed ”B” trough to ”M”, Case No. IT-96-21-T, 28. April 1997, paras. 59 ff.; siehe dazu auch NEMITZ, S. 61; KAMARDI, S. 367.
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Voraussetzungen für eine Zeugenanonymisierung in den sich an den TadićFall anschliessenden Entscheidungen doch, dass das Tadić-Urteil zur Zulässigkeit einer Zeugenanonymisierung (und zu den dafür zu erfüllenden Voraussetzungen sowie den dabei für die Sicherung eines fairen Verfahrens nötigen Bedingungen) immer noch Teil der Rechtsprechung des ICTY geblieben ist. Zumindest lässt sich sagen, dass das Tribunal trotz der im TadićFall mit der Zeugenanonymisierung gemachten schlechten Erfahrungen2775 seine Tadić-Rechtsprechung nicht ausdrücklich verworfen hat.2776 Es steht damit auf der einen Seite die fehlende ausdrückliche Verwerfung der Rechtsprechung des Tadić-Urteils. Dieser Seite gegenüber stehen auf der anderen Seite die im Zusammenhang mit der Auslegung des ICTY-Statuts und der RPE vorgetragenen Bedenken,2777 zudem der unklare Umgang mit der Voraussetzung der «exceptional circumstances» in der Rechtsprechung des ICTY2778 und nicht zuletzt die von Richtern des ICTY – wie auch vom Schrifttum – geäusserte Vorsicht und die geäusserten Bedenken betreff der Zulässigkeit von Zeugenanonymisierungen.2779 Das in den Blick nehmen 2775
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Zur im Laufe des Verfahrens aufgedeckten Falschaussage des anonymen Belastungszeugen “L“ siehe näher KAMARDI, S. 365 f. In diesem Sinne auch bereits KAMARDI, S. 368, wonach die Zulassung anonymer Zeugen unter den im Tadić-Verfahren aufgestellten Voraussetzungen „noch immer Bestandteil der Rechtsprechung des ICTY und mangels expliziter Verwerfung durch die Rechtsmittelkammer noch immer in Kraft“ (Hervorhebung Demko) ist. Siehe dazu die vorangehenden Ausführungen. Siehe dazu die soeben gemachten vorgängigen Ausführungen. Siehe zur Entscheidung der Verfahrenskammer II im Tadić-Fall, Prosecutor v. Tadić, Decision on the Prosecutor`s Motion Requesting Protective Measures for Victims and Witnesses, IT-94-1-T, 10. August 1995, paras. 60 ff. einerseits und zu der sich gegen die Zulässigkeit einer Zeugenanonymisierung aussprechenden Ansicht von Judge Stephen andererseits, Prosecutor v. Tadić A/KA/ ”Dule”, Separate Opinion of Judge Stephen on the Prosecutor`s Motion requesting Protective Measures for Victims and Witnesses, Case No. IT-94-1-T, 10. August 1995, S. 12 f., 15 : „… the accuser would appear as no more than a disembodied and distorted voice transmitted by electronic means …“ (S. 12, Hervorhebund Demko), „... I can conclude my survey of the Rules by saying, in sum, that they give no support for anonymity of witnesses at the expence of fairness of the trial and the rights of the accused spelt out in Article 21 ...“ (S. 15, Hervorhebung Demko); der Ansicht von Judge Stephen folgend Prosecutor v. Blaškić, Decision on the Application of the Prosecutor Dated 17 Oktober 1996 Requesting Protectice Measures For Victims and Witnesses, Case No. IT-95-14-T, 5. November 1996, paras. 24, 25, 34; siehe dazu auch Prosecutor v. Delalić et al., Decision on the Motions by the Prosecution for Protective Measures for the Prosecution Witnesses pseudonymed ”B” trough to ”M”, Case No. IT-96-21-T, 28. April 1997, paras. 59; siehe zu skeptischen Richterstimmen bereits die Ausführungen in den vorangehenden Fussnoten und näher SCHARF, S. 108 f.; siehe dazu auch KRESS, S. 374; KAMARDI, S. 364, 372; NEMITZ, S. 61; MUMBA, S. 369.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
dieser beiden Seiten lässt es als vom ICTY und seinen Richtern nicht als eindeutig beantwortet erscheinen, ob sich eine vollständige Zeugenanonymisierung während des gesamten Verfahrens in einem grundsätzlichen Sinne auf der Grundlage des Statuts und der RPE als zulässig ausweist oder nicht.2780 (2.2)
Einschränkungen in Bezug auf – mündliche – Zeugenbefragungen
Als weitere Einschränkungen von einem grundsätzlich uneingeschränkt ausübbaren Konfrontationsrecht werden die Verwertbarkeit aussergerichtlicher belastender Aussagen in Gestalt der Verlesung von schriftlichen Zeugenaussagen, die Verwertung von in anderen Verfahren vor dem Tribunal abgegebenen Zeugenaussagen durch Verlesung der Verfahrensmitschriften, das Vorspielen von auf Bild-Ton-Trägern aufgezeichneten Zeugenaussagen und die Vernehmung von Zeugen vom Hörensagen auf der Grundlage verschiedener Bestimmungen der ICTY-Regeln für zulässig gehalten. Ein Absehen von der Befragung der die belastende Aussage unmittelbar tätigenden Person stellt sich bei Vorliegen der jeweils unterschiedlichen Voraussetzungen der ICTYRegeln und gestützt auf zum Teil unterschiedliche Begründungslinien hierbei als möglich dar:
979
Die Verwertung von Vernehmungsprotokollen über aussergerichtliche belastende Aussagen ursprünglich der ICTY-Regel 89 (C) und dem freien Ermessen der Richter unterstellend,2781 sind mit den ICTY-Regeln 92bis, 92ter und 92quater für bestimmte Arten solcher Vernehmungsprotokolle und deren Verwertbarkeit spezielle Regelungen geschaffen worden, während sich die Verwertbarkeit der nicht von diesen speziellen Regelungen erfassten Vernehmungsprotokolle weiterhin nach der ICTY-Regel 89 (C) richtet. Die ICTY-Regeln 92bis und 92quater ermöglichen als lex specialis-Bestimmungen zur lex generalis-Bestimmung der ICTY-Regel 89 (C)2782 die Verwertbarkeit aussergerichtlicher Zeugenaussagen in Gestalt der Einführung von Vernehmungsprotokollen in die Beweisaufnahme, die für den Zweck der Beweisaufnahme im Strafverfahren vor dem ICTY von einer der Parteien ohne Mitwirkung der anderen erstellt wurden.2783 Hinsichtlich der Verwertbarkeit von ebensolchen aussergerichtlichen, von der Anklage, jedoch ohne die Mitwirkung der Verteidigung aufgenommenen belastenden Zeugenaussagen sind die für eine Zeugenvernehmung vor Gericht erreichbaren Zeugen
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2780 2781 2782 2783
Siehe dazu auch KRESS, S. 374; NEMITZ, S. 61: „fraglich“. Siehe dazu näher WANNEK, S. 34 ff. Dazu näher WANNEK, S. 43. Siehe dazu näher WANNEK, S. 34, 42.
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nach der ICTY-Regel 92bis und die unerreichbaren Zeugen nach der ICTYRegel 92quater zu unterscheiden.2784 981
Die ICTY-Regel 92bis (A) ermöglicht die vernehmungsersetzende Zulassung dieser speziellen schriftlichen Zeugenaussagen anstelle der mündlichen Vernehmung der die Aussage tätigenden Person live im Gericht jedoch eingeschränkt nur bezüglich solcher Aussagen, die nicht für die Anklage relevante Handlungen und Verhaltensweisen des Angeklagten selbst betreffen («to proof of a matter other than the acts and conduct of the accused as charged in the indictment»). Für die Zulässigkeit dieses schriftlichen anstelle des mündlichen Beweises führt die ICTY-Regel 92bis in den Absätzen (A) (i) und (ii) verschiedene, nicht abschliessend geregelte Faktoren auf («include but are not limited»2785), die für und gegen die Zulässigkeit dieses schriftlichen Beweises sprechen.2786 Aus der in Absatz (A) der ICTY-Regel 92bis betonten Begrenzung der Zulassung schriftlicher Beweise anstelle der mündlichen nur in Bezug auf solche Aussagen, «which goes to proof of a matter other than the acts and conduct of the accused as charged in the indictment», geht hervor, dass es für die die individuelle Verantwortlichkeit des Angeklagten betreffenden Tatsachen bei einem für eine Zeugenvernehmung vor Gericht erreichbaren Zeugen nach dieser ICTY-Regel bei dem mündlichen Zeugenbeweis live vor Gericht bleibt.2787
982
So klar dies nach dem Wortlaut der ICTY-Regel 92bis (A) scheint, so weniger klar und einfach gestaltet sich die Abgrenzung zwischen Tatsachen, die Handlungen und Verhaltensweisen des Angeklagten betreffen bzw. nicht betreffen, in der Rechtsprechung des ICTY.2788 Überhaupt erscheint diese 2784 2785 2786
2787
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Siehe zu dieser Unterscheidung auch WANNEK, S. 42. Siehe ICTY-Regel 92bis (A) (i) und (ii). Siehe ICTY-Regel 92bis (A) (i) (a)-(f) zu den für die Zulassung und (A) (ii) (a)-(c) gegen die Zulassung des schriftlichen Beweises angeführten Faktoren. Siehe dazu aus dem Schrifttum etwa Ambos, Internationales Strafrecht 2011, S. 345 f. N 43: „… „Live testimony“ bleibt demgemäβ für den Nachweis der persönlichen Schuld des Angeklagten unverzichtbar …“ (Hervorhebung Ambos); AMBOS, ICLR 2003, S. 28; GUARIGLIA, S. 678 f.: „the Rules maintain a preference for live testimony for central areas of a criminal case, i.e., those pertaining to the conduct attributed to an accused. This is reflected by the general principle embodied in para. (A) of new Rule 92 bis. Therefore, written evidence in lieu of live testimony appears only to be admissible if it relates to issues other than the criminal conduct with which the accused is charged. This limitation … is presumably based on the significance of crossexamination as a right of the accused … on the one hand, and on the importance of a proper determination of the accused`s individual responsibility on the basis of live and tested evidence, on the other …“ (Hervorhebung Guariglia); siehe zur ICTY-Regel 92bis auch BANTEKAS, S. 491 ff. Siehe dazu eingehend und mit Recht kritisch WANNEK, S. 46 ff.; siehe auch die Ausführungen von BOAS, S. 44 f.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
inhaltsgeleitete Differenzierung als äusserst fragwürdig sowie auch betreff einer Vereinbarkeit mit den Vorgaben des EGMR als zweifelhaft,2789 da auch die Hintergrundtatsachen Tatbestandsmomente der angeklagten Völkerstraftaten betreffen, die es für eine Verurteilung des Angeklagten zu beweisen gilt und die sich damit für den Angeklagten als belastende Aussagen der diese tätigenden Zeugenperson darstellen.2790 Zudem lässt sich eine eindeutige Abgrenzung zwischen Aussagen zu den Hintergrundtatsachen und Aussagen zu den die individuelle Verantwortlichkeit des Täters betreffenden Handlungen nicht stets problemlos vornehmen.2791 Damit geht die Gefahr einher, dass – im Rahmen der ohnehin zu beobachtenden Ausweitung des schriftlichen Zeugenbeweises im Verfahren vor dem ICTY, der in verschiedenen Ausgestaltungen vermehrt Eingang in die ICTY-Regeln gefunden hat – der schriftliche Zeugenbeweis anstelle des mündlichen Zeugenbeweises im Ergebnis auch für Tatsachen zugelassen wird, die in der einen oder anderen Weise die die individuelle Verantwortlichkeit des Angeklagten betreffenden Handlungen und Verhaltensweisen berühren. Neben der in das richterliche Ermessen gestellten Entscheidung für oder gegen die Zulassung der aussergerichtlichen Zeugenaussagen in Form des schriftlichen Beweises nach Absatz (A) der ICTY-Regel 92bis steht es zudem nach deren Absatz (C) ebenso im richterlichen Ermessen zu entscheiden, ob der Zeuge, dessen aussergerichtliche Aussage in Form des schriftlichen Beweises nach Absatz (A) zugelassen wurde, vor Gericht zu erscheinen und für
2789
2790
2791
Deutlich und zutreffend auch WANNEK, S. 51 FN 75: „Fraglich ist hingegen, ob eine Unterscheidung zwischen solchen Aussagen …“, die einen direkten Bezug zur Person des Angeklagten und seiner Verwicklung in die angeklagten Verbrechen haben, „… und Aussagen, die sich auf Hintergrundtatsachen der Verbrechen beziehen, tatsächlich … durch die Rechtsprechung des EGMR unterstützt wird“ (Hervorhebung Demko). Treffend ausgeführt auch von WANNEK, S. 50, wonach es sich „um Tatbestandselemente des Art. 2 und des Art. 5 JStGH-Statut (handelt), deren Vorliegen bewiesen werden muss, um einen Angeklagten wegen Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilen zu können. Folglich sind auch Zeugen, die zu diesen Elementen aussagen, aus der Sicht des Angeklagten Belastungszeugen, da ihre Aussagen zur Begründung seiner Verurteilung herangezogen werden können … die Bedeutung dieser Tatbestandselemente für eine Verurteilung des Angeklagten (darf) nicht unterschätzt werden, so dass eine Einschränkung des Fragerechts auch hier einem – wenn auch eventuell an anderen Maβstäben zu messenden – Rechtfertigungserfordernis unterliegt“ (Hervorhebung Demko). Dazu auch WANNEK, S. 51; siehe auch AMBOS, ICLR 2003, S. 27; MAY/WIERDA, S. 345 f. N 10.58.
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ein Kreuzverhör vor Gericht zur Verfügung zu stehen hat.2792 Absatz (C) regelt mithin nicht den vollständigen Rückgang auf den mündlichen Zeugenbeweis und die umfassende Unzulässigkeit des schriftlichen Beweises, sondern vielmehr als „Hauptanwendungsbereich“2793 die Ersetzung der Examination-in-Chief durch die Zulassung des schriftlichen Beweises aus Gründen der Verfahrensbeschleunigung, während der Zeuge im Falle einer entsprechenden gerichtlichen Ermessensentscheidung für das Kreuzverhör vor Gericht zu erscheinen hat.2794 Da sowohl die Entscheidung nach Absatz (A) als auch nach Absatz (C) im richterlichen Ermessen steht, ist mithin ein schriftlicher Zeugenbeweis für Tatsachen, die nicht Handlungen und Verhaltensweisen des Angeklagten betreffen, entweder ohne ein oder mit einem Kreuzverhör des Zeugen vor Gericht möglich, was bedeutet, dass ein schriftlicher Zeugenbeweis nach der ICTY-Regel 92bis zulässig sein kann, ohne dass der Angeklagte den Zeugen jemals im Rahmen eines Kreuzverhörs befragen konnte.2795 Das ICTY betont insoweit das Erfordernis eines sorgfältigen Prüfens und Abwägens, unter welchen Umständen eine schriftliche Zeugenaussage ohne Einräumung eines Kreuzverhörs als die Fairness des Strafverfahrens nicht beeinträchtigend verwertet werden kann und führt im Fall Prosecutor v. Galić aus: 984
„… The Chamber however has discretion in determining whether, albeit admissible under Rules 92 bis, 89 (C) and 89 (D), the witness should nevertheless, in view of the matters touched upon in the statement, be called to testify viva voce, even if only for cross-examination. The Chamber is fully aware of its duty to ensure a fair and expeditious trial, as provided in Articles 20 and 21 of the Statute. In particular, due consideration will be given to the right of the accused, under Article 21(4)(e) of the Statute, to examine or have examined, the witnesses against him. While the right to cross2792
2793 2794
2795
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ICTY-Regel 92bis (C): «The Trial Chamber shall decide, after hearing the parties, whether to require the witness to appear for cross-examination; if it does so decide, the provisions of Rule 92 ter shall apply.»; siehe dazu auch WANNEK, S. 52 f., 58 f. WANNEK, S. 58. Siehe dazu auch die Zusammenstellung des ICTY in Prosecutor v. Milošević, Decision in Relation to Severance, Extension of Time and Rest, Case No. IT-02-54-T, 12. Dezember 2005, para. 21: „… The Prosecution used extensive written testimony in its case, as follows: Total number of Prosecution witnesses: 352 Total number of viva voce witnesses: 114 (32.4%) Total number of Rule 92bis witnesses: 189 (53.7%) With Cross-examination: 135 (38.4%) Without Cross-examination: 54 (15.3%) …“ (Hervorhebung Demko). Siehe dazu WANNEK, S. 53, 59; siehe auch Prosecutor v. Milošević, Decision in Relation to Severance, Extension of Time and Rest, Case No. IT-02-54-T, 12. Dezember 2005, para. 21: „… With Cross-examination … Without Cross-examination …“ (Hervorhebung Demko).
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen examine is not absolute, the Chamber should carefully examine in which circumstances admission of Rule 92 bis statement without cross-examination will not impact on the fairness of the trial …“2796
Hält man sich die aufgezeigten Schwierigkeiten einer eindeutigen Differenzierung und Abgrenzung zwischen Tatsachen, die Handlungen und Verhaltensweisen des Angeklagten betreffen bzw. nicht betreffen, vor Augen, lässt sich die Gefahr nicht von der Hand weisen, dass über die ICTY-Regel 92bis zugelassene schriftliche Zeugenaussagen ohne eine für den Angeklagten bestehende Möglichkeit einer Befragung des Belastungszeugen im Rahmen eines Kreuzverhörs sich im Ergebnis auch auf Tatsachen erstrecken könnten, die die individuelle Verantwortlichkeit des Angeklagten betreffende Handlungen und Verhaltensweisen in der einen oder anderen Hinsicht berühren.2797
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Die Zulassung aussergerichtlicher schriftlicher Zeugenaussagen eines Zeugen, der für eine mündliche Vernehmung vor Gericht nicht erreichbar ist, bestimmt sich nach der ICTY-Regel 92quater und erstreckt sich – wie aus Absatz (B) hervorgeht – auch auf für die Anklage relevante Handlungen und Verhaltensweisen des Angeklagten, wenn auch der Umstand, dass es sich um Zeugenaussagen solchen Inhalts handelt, ein Faktor ist, der gegen die Zulassung der schriftlichen Zeugenaussagen in die Beweisaufnahme sprechen kann.2798 Nach dieser Vorschrift ist mithin die Zulassung schriftlicher Aussa-
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Prosecutor v. Galić, Decision on the Prosecution`s Request for Admission of Rule 92 bis Statements, Case No. IT-98-29-T, 26. Juli 2002, para. 18 (Hervorhebung ICTY: «bis», «viva voce», übrige Hervorhebung Demko); zum bestehenden Ermessen des Gerichts betreff der Einräumung eines späteren Kreuzverhörs siehe zudem Prosecutor v. Milošević, Decision on Prosecution Motion for the Admission of Transcripts in lieu of Viva Voce Testimony pursuant to 92bis(D) – Foča Transcripts, Case No. IT-02-54T, 30. Juni 2003, para. 49: „… In circumstances where issues arise later in the trial that call into question aspects of the testimony given in prior proceedings, the witness can be called and subjected to cross-examination. This is a discretion that always resides with the Trial Chamber …“ Zur Kritik an der inhaltsgeleiteten Unterscheidung siehe bereits die vorangehenden Ausführungen. Siehe dazu ICTY-Regel 92quater (B): «If the evidence goes to proof of acts and conduct of an accused as charged in the indictment, this may be a factor against the admission of such evidence, or that part of it.» (Hervorhebung Demko); siehe aus der Spruchpraxis des ICTY die Ausführungen in Prosecutor v. Milutinović et al., Decision on Prosecution`s Rule 92 bis Motion, Case No. IT-05-87-PT, 4. Juli 2006, para. 7: „... Where important proffered evidence is generated by a witness who later dies and is therefore unavailable for crossexamination, fairness and the circumstances of the case may preclude the witness`s evidence from being admitted pursuant to Rule 92 bis ...“ und zum Ergebnis im vorliegenden Fall para. 21; siehe zur Interpretation der früheren Bestimmung ICTY-Regel 92bis (C) die Ausführungen von WANNEK, S. 61 ff.; zur ICTY-Regel 92quater siehe auch BANTEKAS, S. 495 f.
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gen eines – im Unterschied zur ICTY-Regel 92bis – unerreichbaren Belastungszeugen in die Beweisaufnahme möglich, ohne dass dieser vom Angeklagten ins Kreuzverhör genommen werden konnte, was sich jedoch als ein Umstand darstellt, der im Rahmen der Beurteilung des Beweiswertes der Aussagen des Belastungszeugen Beachtung zu finden hat.2799 987
„... The Trial Chamber thus considers it appropriate to admit the evidence, albeit cross-examination is not possible. If the evidence is ultimately admitted, the Trial Chamber will have very much in mind the absence of the opportunity to crossexamine Mr. Russo when evaluating his evidence ...“2800
988
Ausdrücklich von den ICTY-Regeln 92bis und quater erfasst ist zudem – neben der Zulassung aussergerichtlicher schriftlicher Zeugenaussagen («written statement»2801) – die vernehmungsersetzende Zulassung von Vernehmungsmitschriften einer Zeugenaussage aus einem anderen Verfahren vor dem Tribunal («transcript of evidence, which was given by a witness in proceedings before the Tribunal»2802, «transcript»2803).2804 Ob die Vernehmungsniederschriften von Zeugenaussagen, die Zeugen in einem Verfahren vor dem Tribunal im Rahmen des Prozesses getätigt hatten, für die Beweisaufnahme eines anderen Verfahrens vor dem Tribunal zugelassen werden sollen, sowie, ob dem Angeklagten die Möglichkeit einzuräumen ist, in dem gegen ihn gerichteten Verfahren jenen Zeugen aus dem anderen Verfahren erneut ins Kreuzverhör zu nehmen, liegt – wie bei den schriftlichen Zeugenaussagen – im richterlichen Ermessen und wird grundsätzlich entsprechend der Beurteilungskriterien bestimmt, die auch für die schriftlichen Zeugenaussagen herangezogen werden.2805 Darüber hinaus gewinnt ein weiteres Kriterium für die 2799
2800
2801 2802 2803 2804
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642
Siehe Prosecutor v. Milutinović et al., Decision on Prosecution`s Rule 92 bis Motion, Case No. IT-05-87-PT, 4. Juli 2006, para. 22; siehe auch zur früheren ICTY-Regel 92bis (C) Prosecutor v. Milošević, Decision on Prosecution Motion for Admission Pursuant to Rule 92 bis of Proposed Evidence of Deceased Witnesses B-1539, Ludvik Kranjc, and Faruk Ališić, Case No. IT-02-54-T, 14. Juni 2004, S. 6 und 7. Prosecutor v. Milutinović et al., Decision on Prosecution`s Rule 92 bis Motion, Case No. IT-05-87-PT, 4. Juli 2006, para. 22 (Hervorhebung Demko). Siehe ICTY-Regel 92bis (A) und 92quater (A) (Hervorhebung Demko). Siehe ICTY-Regel 92bis (A) (Hervorhebung Demko). Siehe ICTY-Regel 92quater (A) (Hervorhebung Demko). Zu diesbeszüglich früheren Regelungen zunächst über ICTY-Regel 89 (C) und dann über die frühere ICTY-Regel 92bis (D) siehe näher WANNEK, S. 73 f. So bereits in der Rechtsprechung zur die Vernehmungsniederschriften erfassenden früheren ICTY-Regel 92bis (D) die Ausführungen in Prosecutor v. Martić, Decision on Prosecution`s Motions for Admission of Transcrips Pursuant to Rule 92 bis (D) and of Export Report Pursuant to Rule 94 bis, Case No. IT-95-11-T, 13. Januar 2006, para. 15: „... This test is identical to that provided for by Rule 92 bis (A) and therefore the sub-provisions of Rule 92 bis (A)(i) and Rule 92 bis (A)(ii) apply accordingly …“, siehe auch weiter paras. 18 ff.; siehe zu den entsprechend anwendbaren Kriterien auch
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Ermessensentscheidung, ob der Angeklagte den Zeugen – dessen Aussage aus einem anderen Verfahren vor dem Tribunal in das Verfahren gegen den Angeklagten übertragen werden soll – ins Kreuzverhör nehmen kann, an Bedeutung: Der (auch bei der Zulassung von Aussagen von Zeugen vom Hörensagen der Gegenpartei grundsätzlich gegebene) Nachteil für den Angeklagten, die unmittelbar aussagende Person nicht ins Kreuzverhör nehmen zu können, wird bei der Zulassung von Vernehmungsmitschriften von Zeugenaussagen aus einem anderen Verfahren vor dem Tribunal dadurch gemildert, dass dieser Zeugen in dem anderen Verfahren vor dem Tribunal in ein Kreuzverhör genommen werden konnte.2806 „... However, the Trial Chamber also relied on the fact that to admit the transcript of evidence of the confidential witness would be to deprive the accused of his right to cross-examine the witness. In fact … the witness was extensively cross-examined in the Blaškić trial, and there is a common interest between the Defence in the two cases. Nonetheless, the fact remains that, if the evidence is admitted upon a hearsay basis, this accused will be denied the opportunity of cross-examining the witness. However, this is the case with the admission of any hearsay evidence: the opposing party loses the opportunity to cross-examine the witness. The disadvantage is tempered in this case by the cross-examination in Blaškić, and, in any event, any residual disadvantage to the accused is outweighed by the disadvantage which would be occasioned to the Prosecution by the exclusion of the evidence in the circumstances of this case. Just as Rule 89(D) does not deny the admissibility of the transcript and video-recording of the hearsay statements made by Admiral Domazet in favour of the accused, so it does not deny the admissibility of the transcript of the hearsay statements made by the confidential witness in favour of the Prosecution, given the need for equality between the parties ...“2807
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Wurde dieser Zeuge in dem anderen Verfahren vor dem Tribunal von der Verteidigung ins Kreuzverhör genommen und verfolgte die Verteidigung die
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2806
2807
Prosecutor v. Sikirica et al., Decision on Prosecution`s Application to Admit Transcript under Rule 92 bis, Case No IT-95-8-T, 23. Mai 2001, paras. 3, 4; Prosecutor v. Milosević, Decision on Prosecution Motion for the Admission of Transcripts in Lieu of Viva Voce Testimony Pursuant to 92 bis (D) – Foča Transcripts, Case No. IT-0254-T, 30. Juni 2003, paras. 35 ff.; siehe dazu auch die Ausführungen von WANNEK, S. 72 ff. und mit dem zutreffenden Hinweis auf den Wortlaut der ICTY-Regeln 92bis und 92quater, nach dem schriftliche Zeugenaussagen und Vernehmungsniederschriften aus einem anderen Verfahren „unter denselben Voraussetzungen vernehmungsersetzend in eine Beweisaufnahme eingeführt werden können“ (S. 74, Hervorhebung Demko). Siehe dazu näher Prosecutor v. Aleksovski, Decision on Prosecutor`s Appeal on Admissibility of Evidence, Case No. IT-95-14/1-AR73, 16. Februar 1999, para. 27. Prosecutor v. Aleksovski, Decision on Prosecutor`s Appeal on Admissibility of Evidence, Case No. IT-95-14/1-AR73, 16. Februar 1999, para. 27 (Hervorhebung Demko).
643
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
gleichen Interessen („extensive cross-examination by an accused with a common interest“2808) wie die Verteidigung in dem Verfahren, in welches die Verfahrensmitschrift dieser Zeugenaussage aus dem anderen Verfahren übertragen werden soll, dann spricht dies für die Zulassung der Vernehmungsmitschrift der Zeugenaussage aus dem anderen Verfahren in die Beweisaufnahme des Verfahrens gegen den Angeklagten. Dies gilt unter Umständen sogar, ohne dass der Zeuge in dem Verfahren gegen den Angeklagten erneut für ein Kreuzverhör zur Verfügung stehen muss, wohingegen das Anführen neuer, in dem früheren Kreuzverhör des anderen Verfahrens noch nicht geltend gemachter Umstände für die Durchführung eines Kreuzverhörs im Verfahren gegen den Angeklagten spricht.2809 2808
2809
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Prosecutor v. Milosević, Decision on Prosecution Motion for the Admission of Transcripts in Lieu of Viva Voce Testimony Pursuant to 92 bis (D) – Foča Transcripts, Case No. IT-02-54-T, 30. Juni 2003, para. 38 (Hervorhebung Demko); siehe auch Prosecutor v. Aleksovski, Decision on Prosecutor`s Appeal on Admissibility of Evidence, Case No. IT-95-14/1-AR73, 16. Februar 1999, para. 27. Siehe dazu aus der Rechtsprechung im Einzelnen Prosecutor v. Milosević, Decision on Prosecution Motion for the Admission of Transcripts in Lieu of Viva Voce Testimony Pursuant to 92 bis (D) – Foča Transcripts, Case No. IT-02-54-T, 30. Juni 2003, paras. 39 ff.; Prosecutor v. Sikirica et al., Decision on Prosecution`s Application to Admit Transcript under Rule 92 bis, Case No. IT-95-8-T, 23. Mai 2001, paras. 3, 4; Prosecutor v. Martić, Decision on Prosecution`s Motion for Admission of Transcripts Pursuant to Rule 92 bis (D) and of Export Report Pursuant to Rule 94 bis, Case No. IT-95-11-T, 13. Januar 2006, para. 21: „... the Trial Chamber in the case Prosecutor v. Sikirica et al. stated that among the matters for consideration of a renewed crossexamination are whether the transcript goes to proof of a critical element of the Prosecution`s case against the accused and whether the cross-examination in the other proceedings deals adequately with the issues relevant to the defence in the current proceedings. In the Milošević case, another factor was considered, namely whether the evidence in question relates to “live and important issue between the parties, as opposed to a peripheral or marginally relevant issue”. In the case Prosecutor v. Aleksovski ... the Appeal Chamber found that a ground for admitting the transcript without cross-examination was extensive cross-examination by an accused with a common interest ...“ (Hervorhebung ICTY); siehe auch Prosecutor v. Aleksovski, Decision on Prosecutor`s Appeal on Admissibility of Evidence, Case No. IT-95-14/1-AR73, 16. Februar 1999, para. 20; Prosecutor v. Kordić und Čerkez, Decision on Prosecution Application to Admit the Tulica Report and Dossier Into Evidence, Case No. IT-9514/2-T, 29. Juli 1999, para. 28: „... the Trial Chamber holds that the transcripts of witnesses ... are admissible since the witnesses have been cross-examined in Blaškić, a case in which the Defence have a common interest with the Defence in this case. However, this ruling will not preclude the application by the Defence to crossexamine the witnesses on the ground that there are significant relevant matters not covered by cross-examination in Blaškić which ought to be raised in this case ...“; siehe dazu auch WANNEK, S. 75 ff.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen „... the Trial Chamber holds that the transcripts of witnesses ... are admissible since the witnesses have been cross-examined in Blaškić, a case in which the Defence have a common interest with the Defence in this case. However, this ruling will not preclude the application by the Defence to cross-examine the witnesses on the ground that there are significant relevant matters not covered by cross-examination in Blaškić which ought to be raised in this case ...“2810
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Sowohl Richter des ICTY als auch Stimmen im Schrifttum äussern, und dies zu recht, erhebliche Bedenken gegen die damit vom ICTY ermöglichte Praxis, dem Angeklagten ein Kreuzverhör aus einem anderen Verfahren zurechnen zu können.2811 Denn eine solche «Zurechnung» oder «Unterschiebung» („foisting“2812) eines Kreuzverhörs, welches in einem vorherigen anderen Verfahren von einem anderen Angeklagten und seinem Verteidiger mit der von diesen verfolgten Verteidigungsstrategie2813 bei der Befragung des Zeugen durchgeführt wurde, widerspricht in eklatanter Weise der Bedeutung der in Art. 21 ICTY-Statut geregelten Rechte (und hier auch des Konfrontationsrechts des Angeklagten nach Art. 21 Abs. 4 (e) ICTY-Statut), bei welchen es sich um einem jeden einzelnen Angeklagten persönlich zustehende Individualrechte2814 handelt. Eine solche «Zurechnung» setzt sich zudem in einen Widerspruch zu dem nach Art. 6 III d EMRK einem jeden Angeklagten in
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Prosecutor v. Kordić und Čerkez, Decision on Prosecution Application to Admit the Tulica Report and Dossier Into Evidence, Case No. IT-95-14/2-T, 29. Juli 1999, para. 28 (Hervorhebung ICTY: «Blaškić», übrige Hervorhebung Demko). Siehe dazu im Einzelnen die Kritik von Judge Robinson in Prosecutor v. Milošević, Decison on Prosecution Motion for the Admission of Transcripts in Lieu of Viva Voce Testimony pursuant to 92bis(D) – Foča Transcripts, Dissenting Opinion of Judge Patrick Robinson, Case No. IT-02-54-T, 30. Juni 2003, paras. 4 ff.; Prosecutor v. Aleksovski, Dissenting Opinion of Judge Patrick Robinson, Case No. IT-95-14/1AR73, 16. Februar 1999, S. 11 f., insbesondere para. 28 (vi) (e), (f), (g); aus dem Schrifttum siehe etwa die Kritik von WANNEK, S. 78 f. Prosecutor v. Milošević, Decison on Prosecution Motion for the Admission of Transcripts in Lieu of Viva Voce Testimony pursuant to 92bis(D) – Foča Transcripts, Dissenting Opinion of Judge Patrick Robinson, Case No. IT-02-54-T, 30. Juni 2003, para. 44 (i) (Hervorhebung Demko), siehe auch para. 5. Siehe dazu auch Prosecutor v. Milošević, Decison on Prosecution Motion for the Admission of Transcripts in Lieu of Viva Voce Testimony pursuant to 92bis(D) – Foča Transcripts, Dissenting Opinion of Judge Patrick Robinson, Case No. IT-02-54T, 30. Juni 2003, paras. 4, 5, 7, 26. Siehe dazu auch Prosecutor v. Milošević, Decison on Prosecution Motion for the Admission of Transcripts in Lieu of Viva Voce Testimony pursuant to 92bis(D) – Foča Transcripts, Dissenting Opinion of Judge Patrick Robinson, Case No. IT-02-54T, 30. Juni 2003, para. 7; WANNEK, S. 78 f.
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
seinem Strafverfahren garantierten Recht auf Zeugenkonfrontation als einem höchstpersönlichen Menschenrecht eines jeden einzelnen Angeklagten.2815 993
In deutlicher und zutreffender Weise spricht sich Judge Robinson dagegen aus, dem Angeklagten, dem in seinem laufenden Verfahren keine eigene Zeugenkonfrontation gestattet wird, eine in einem anderen Verfahren stattgefundene Zeugenkonfrontation einfach «unterzuschieben» bzw. «aufzuzwingen» („foisting cross-examination from a previous case on an accused in an ongoing case“,2816 „transmutation“2817). Denn dies verletzt das im Rahmen einer eigenen Zeugenkonfrontation des Angeklagten in seinem Verfahren wahrnehmbare Recht auf Verfolgung seiner eigenen Verteidigungsstrategie2818 („his right to determine his line of defence in response to the Prosecution's case“2819) sowie den persönlichen, individuellen Charakter der dem Angeklagten zustehenden Rechte („personal and individualised“2820). Nicht zuletzt führt dies zum Erreichen einer Verfahrensbeschleunigung auf Kosten der
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Siehe dazu auch Prosecutor v. Milošević, Decison on Prosecution Motion for the Admission of Transcripts in Lieu of Viva Voce Testimony pursuant to 92bis(D) – Foča Transcripts, Dissenting Opinion of Judge Patrick Robinson, Case No. IT-02-54T, 30. Juni 2003, para. 41. Prosecutor v. Milošević, Decison on Prosecution Motion for the Admission of Transcripts in Lieu of Viva Voce Testimony pursuant to 92bis(D) – Foča Transcripts, Dissenting Opinion of Judge Patrick Robinson, Case No. IT-02-54-T, 30. Juni 2003, para. 44 (i) (Hervorhebung Demko), siehe auch para. 5. Prosecutor v. Milošević, Decison on Prosecution Motion for the Admission of Transcripts in Lieu of Viva Voce Testimony pursuant to 92bis(D) – Foča Transcripts, Dissenting Opinion of Judge Patrick Robinson, Case No. IT-02-54-T, 30. Juni 2003, para. 5 (Hervorhebung Demko); siehe dazu auch Prosecutor v. Aleksovski, Dissenting Opinion of Judge Patrick Robinson, Case No. IT-95-14/1-AR73, 16. Februar 1999, S. 11, para. 28 (vi) (f), (g). Siehe dazu näher Prosecutor v. Milošević, Decison on Prosecution Motion for the Admission of Transcripts in Lieu of Viva Voce Testimony pursuant to 92bis(D) – Foča Transcripts, Dissenting Opinion of Judge Patrick Robinson, Case No. IT-02-54T, 30. Juni 2003, paras. 4, 5, 7, 26; siehe dazu auch Prosecutor v. Aleksovski, Dissenting Opinion of Judge Patrick Robinson, Case No. IT-95-14/1-AR73, 16. Februar 1999, S. 11 f., para. 28 (vi) (g). Prosecutor v. Milošević, Decison on Prosecution Motion for the Admission of Transcripts in Lieu of Viva Voce Testimony pursuant to 92bis(D) – Foča Transcripts, Dissenting Opinion of Judge Patrick Robinson, Case No. IT-02-54-T, 30. Juni 2003, para. 26 (Hervorhebung Demko). Prosecutor v. Milošević, Decison on Prosecution Motion for the Admission of Transcripts in Lieu of Viva Voce Testimony pursuant to 92bis(D) – Foča Transcripts, Dissenting Opinion of Judge Patrick Robinson, Case No. IT-02-54-T, 30. Juni 2003, para. 7 (Hervorhebung Demko).
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Fairness des Verfahrens („achieves expeditiousness at the expense of fairness, in breach of Articles 20 and 21 of the Statute“2821): „… cross-examination of the witness in the previous trial becomes the crossexamination of the accused in the current case; the result is that the case of the accused in relation to the issues raised in the previous case, and which are also issues in the current case, is assessed, not on the basis of his own challenge to the witness's evidence, but on the basis of a cross-examination in which he has had no input; certainly, counsel for the accused in the previous case would have received no instructions from the accused in the ongoing case. The case of the accused in the ongoing trial becomes encumbered by cross-examination from a previous case, in the preparation of which he has had no role … In my view, this process of transmutation by which the crossexamination of a witness on behalf of an accused in a previous trial becomes the cross-examination of that witness in a subsequent trial interferes with the statutory right of an accused in the latter trial to defend himself in person or through counsel of his choice. That right necessarily involves the consequential right of an accused to determine his defence, how to respond to the Prosecution's case through crossexamination of its witnesses. That consequential right is interfered with by foisting on him cross-examination from a previous trial so that it becomes part of his case. When the Trial Chamber comes to assess the Prosecution's case relating to the transcript evidence, it will do so not on the basis of a line of defence that has been determined by the accused in the ongoing case, but rather, on the basis of a line of defence of an accused in a previous trial … The right of an accused to representation is personal and individualized … The personal character of the right is maintained even in cases of the representation of an accused by counsel, because this is "legal assistance of his own choosing" (my emphasis). The personal character of the right to representation gives it a peculiar and idiosyncratic nature that renders it not amenable to substitution by the wholesale lifting of large chunks of evidence from other cases, and treating the cross-examination in those cases as the cross-examination by an accused in an ongoing trial …“2822
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Die eigenständige Bedeutung des einem jeden Angeklagten in seinem Strafverfahren zustehenden Konfrontationsrechts für die Fairness des Strafverfahrens ist hier vom ICTY nicht in einem hinreichenden Masse erkannt und anerkannt. Vielmehr sind es erneut das Moment der sich vermehrt auf das Gericht lenkenden Blickrichtung sowie das Moment der Verfahrensbeschleuni-
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Prosecutor v. Milošević, Decison on Prosecution Motion for the Admission of Transcripts in Lieu of Viva Voce Testimony pursuant to 92bis(D) – Foča Transcripts, Dissenting Opinion of Judge Patrick Robinson, Case No. IT-02-54-T, 30. Juni 2003, para. 44 (vi) (Hervorhebung Demko). Prosecutor v. Milošević, Decison on Prosecution Motion for the Admission of Transcripts in Lieu of Viva Voce Testimony pursuant to 92bis(D) – Foča Transcripts, Dissenting Opinion of Judge Patrick Robinson, Case No. IT-02-54-T, 30. Juni 2003, paras. 4, 5, 7 (hier kursive, im Original unterstrichene Hervorhebung: «his own»; übrige Hervorhebung Demko).
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
gung,2823 welche vom ICTY als bedeutend – und scheinbar als bedeutender als das Konfrontationsrecht des Angeklagten – angesehen werden,2824 um eine Einschränkung vom grundsätzlich uneingeschränkt ausübbaren Konfrontationsrecht des Angeklagten mittels einer «Zurechnung» des Kreuzverhörs eines anderen Angeklagten aus einem anderem Verfahren als begründet anzusehen. Eine solche Sichtweise wird der Höchstpersönlichkeit von Menschenrechten im Allgemeinen und von gerade einem Angeklagten in seinem Strafverfahren höchstpersönlich zustehenden – und nicht im Wege einer «Zurechnung» oder «Unterschiebung» übertragbaren – prozeduralen Menschenrechten im Besonderen nicht gerecht und widerspricht dem Verständnis des in Art. 6 III d EMRK garantierten, einem jeden einzelnen Angeklagten in seinem Strafverfahren zustehenden Menschenrechts auf Zeugenkonfrontation. 996
Eine Mischung aus schriftlichem und mündlichem Beweis („a mixture of oral and written evidence“2825) ist in der ICTY-Regel 92ter geregelt, nach der zum Zweck des Verfahrens abgegebene schriftliche Zeugenaussagen und Vernehmungsmitschriften von in Verfahren vor dem Tribunal getätigten Zeugen2823
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Siehe etwa Prosecutor v. Milošević, Decison on Prosecution Motion for the Admission of Transcripts in Lieu of Viva Voce Testimony pursuant to 92bis(D) – Foča Transcripts, Case No. IT-02-54-T, 30. Juni 2003, para. 9: „… As a Trial Chamber has observed, Rule 92 bis (D) was intended to avoid the need for witnesses to reappear before the Tribunal to present similar testimony, thereby avoiding unnecessary expense and reducing the length of trials, in situations where this will not infringe upon the rights of an accused …“ (Hervorhebung ICTY: «bis», übrige Hervorhebung Demko); Prosecutor v. Aleksovski, Decision on Proescutor`s Appeal on Admissibility of Evidence, Case No. IT-95-14/1-AR73, 16. Februar 1999, para. 19: „… The purpose of the Rules is to promote a fair and expeditious trial, and Trial Chambers must have the flexibility to achieve this goal … the Trial Chamber was entitled to take account of the stage of the trial, the length of time the accused had been in custody and its finding that the witness was not immediately available in exercising its discretion to admit the evidence …“ (Hervorhebung Demko); siehe dazu auch WANNEK, S. 73. Darauf ebenso hinweisend siehe näher Prosecutor v. Milošević, Decison on Prosecution Motion for the Admission of Transcripts in Lieu of Viva Voce Testimony pursuant to 92bis(D) – Foča Transcripts, Dissenting Opinion of Judge Patrick Robinson, Case No. IT-02-54-T, 30. Juni 2003, paras. 37, 39, 44 (vi): „… The slow pace of trials has made expeditiousness in proceedings the principal issue facing the Tribunal … Rule 92 bis is the most ambitious and far reaching of the measures that have been adopted to expedite proceedings … in all the circumstances, a decision not to exercise the discretion under Rule 92 bis (E) by allowing cross-examination of the transcript witnesses results in a procedure that achieves expeditiousness at the expense of fairness, in breach of Articles 20 and 21 of the Statute …“ (paras. 37, 39, 44 (vi), Hervorhebung ICTY: «bis», übrige Hervorhebung Demko). Prosecutor v. Milošević, Decision on Interlocutory Appeal on the Admissibility of Evidence-in-Chief in the Form of Written Statements, Case No. IT-02-54-AR73.4, 30. September 2003, para. 16 (Hervorhebung Demko).
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
aussagen neben einer richtigkeitsbestätigenden mündlichen Zeugenaussage vor Gericht zugelassen werden können. Vorausgesetzt ist, dass – wie in Absatz (A) (i), (ii) und (iii) verlangt – der Zeuge vor Gericht anwesend ist («the witness is present in court»), für ein Kreuzverhör und eine Befragung durch die Richter zur Verfügung steht («the witness is available for crossexamination and any questioning by the Jugdes») sowie bestätigt («the witness attests …»), dass die schriftliche Zeugenaussage/die Vernehmungsmitschrift der Zeugenaussage aus dem anderen Verfahren die Erklärung des Zeugen («witness’declaration») und das, was der Zeuge im Falle einer Vernehmung sagen würde («what the witness would say if examined»), genau, exakt wiedergibt («accurately reflects»).2826 Der Umstand der Anwesenheit des Zeugen vor Gericht und seine mündliche Bestätigung der Richtigkeit des schriftlichen Zeugenbeweises wird vom ICTY als ein entscheidender Faktor („a crucial factor“2827) angesehen, der die ICTY-Regeln 92bis und 92ter voneinander unterscheidet: Es ist dieser Umstand der mündlichen Richtigkeitsbestätigung des vor Gericht anwesenden Zeugen, der die ICTY-Regel 92bis – bei der der erreichbare Zeuge nicht zur Abgabe einer mündlichen Richtigkeitsbestätigung vor Gericht anwesend ist, sondern seiner schriftlichen Zeugenaussage eine schriftliche Bestätigung zufügt, dass seine Aussagen nach seinem besten Wissen und Gewissen wahr und korrekt sind, Absatz (B) der ICTY-Regel 92bis – hier unanwendbar macht.2828 „… the Appeals Chamber is satisfied that the appearance of the witness in court to orally attest to the accuracy of the tendered statement is an important safeguard in itself because the witness is certifying the accuracy of the statement before the court and is available to answer questions from the bench. Rule 92bis(B) requires the attachment of a written declaration by the prospective witness, to the effect that the statement is true and correct to the best of his or her knowledge. The attestation of the witness in court is distinct from the attachment of a written declaration. A written declaration is not made with definitive knowledge on the part of the witness that he or she will be required to testify in court and will be subject to cross- examination at the
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Siehe zu diesen drei Voraussetzungen bereits zur früheren ICTY-Regel 89 (F) Prosecutor v. Milošević, Decision on Interlocutory Appeal on the Admissibility of Evidence-in-Chief in the Form of Written Statements, Case No. IT-02-54-AR73.4, 30. September 2003, paras. 16 ff.; siehe auch Prosecutor v. Milošević, Case No. IT-9829/1, Public Transcript of Hearing, 15. Januar 2007, S. 354: „… It`s not a new procedure; it`s really 89 (F) codified …“ Prosecutor v. Milošević, Decision on Interlocutory Appeal on the Admissibility of Evidence-in-Chief in the Form of Written Statements, Case No. IT-02-54-AR73.4, 30. September 2003, para. 16 (Hervorhebung Demko). Prosecutor v. Milošević, Decision on Interlocutory Appeal on the Admissibility of Evidence-in-Chief in the Form of Written Statements, Case No. IT-02-54-AR73.4, 30. September 2003, para. 16.
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen election of the opposing party. Rather, Rule 92bis(E) merely provides that a witness making a written declaration may be subject to cross-examination …“2829 998
Zweck der ICTY-Regel 92ter, nach der trotz Erreichbarkeit des Zeugen der schriftliche Zeugenbeweis zusammen mit einer mündlichen Richtigkeitsbestätigung des Zeugen vor Gericht zugelassen wird, ist die Beschleunigung des Verfahrens durch das Vermeiden der Examination-in-Chief:2830
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„... The 92 ter proceeding is designed to facilitate the admission of evidence from previous proceedings without going trough an examination-in-chief. It`s not a new procedure; it`s really 89 (F) codified … the purpose of the procedure, which is to expedite the proceedings … The procedure is designed to avoid examination-in-chief …“2831
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Die ICTY-Regel 92ter ersetzt mithin nur die Examination-in-Chief, nicht hingegen das Kreuzverhör der Gegenpartei und die Befragung durch die Richter, für welche(s) der im Gericht anwesende Zeuge zur Verfügung steht.2832 Für eine wirksame Ausübung des Konfrontationsrechts des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen bleibt dennoch kritisch zu fragen, ob die früher getätigte und schriftlich festgehaltene Zeugenaussage, deren Richtigkeit vom Zeugen zudem mündlich vor Gericht bestätigt wird, tatsächlich weiterhin offen ist für Zusätze, Korrekturen oder gar Rücknahmen von der früheren Aussage. Angesprochen ist der problematische Aspekt, ob durch die mündliche Richtigkeitsbestätigung der früheren Aussage und in Bezug darauf, was der Zeuge im Fall einer Vernehmung sagen würde, die Zeugenaussage nicht bereits einen hinsichtlich ihres Aussagegehaltes gefestigten, wenn 2829
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Prosecutor v. Milošević, Decision on Interlocutory Appeal on the Admissibility of Evidence-in-Chief in the Form of Written Statements, Case No. IT-02-54-AR73.4, 30. September 2003, para. 19 (Hervohebung ICTY: «bis», übrige Hervorhebung Demko). Prosecutor v. Milošević, Case No. IT-98-29/1, Public Transcript of Hearing, 15. Januar 2007, S. 354; siehe auch Prosecutor v. Milošević, Decision on Interlocutory Appeal on the Admissibility of Evidence-in-Chief in the Form of Written Statements, Case No. IT-02-54-AR73.4, 30. September 2003, para. 21; Prosecutor v. Popović et al., Decision on Motion to convert viva voce Witnesses to Rule 92 ter Witnesses, Case No. IT-05-88-T. 31. Mai 2007, S. 3: „... the main purpose of Rule 92 ter is to foster the efficient and expeditious conduct of trial proceedings in accordance with the rights of the accused …“ (Hervorhebung ICTY: «ter»; übrige Hervorhebung Demko). Prosecutor v. Milošević, Case No. IT-98-29/1, Public Transcript of Hearing, 15. Januar 2007, S. 354 (Hervorhebung Demko). Prosecutor v. Milošević, IT-98-29/1, Public Transcript of Hearing, 15. Januar 2007, S. 354; Prosecutor v. Milošević, Decision on Interlocutory Appeal on the Admissibility of Evidence-in-Chief in the Form of Written Statements, Case No. IT-02-54AR73.4, 30. September 2003, paras. 16, 21; Prosecutor v. Popović et al., Decision on Motion to Convert Vica Voce Witnesses to Rule 92 ter Witnesses, Case No. IT-05-88T, 31. Mai 2007, S. 3.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
nicht gar «(ab)geschlossenen» Charakter annimmt, durch welchen das der Gegenpartei zwar zustehende Kreuzverhör im Ergebnis auf eine bloss formale Ausübbarkeit zurückgestuft ist, ohne dass jedoch tatsächlich noch die Möglichkeit besteht, auf einen fortlaufenden Entstehungsprozess der Zeugenaussage (insbesondere mit Blick auf etwaige Erweiterungen oder Änderungen des bisher getätigten Aussageinhaltes) wirksam Einfluss nehmen zu können: «Entzogen» – weil vom Angeklagten nicht wahrnehmbar und als beobachtender Kommunikationsteilnehmer daran nicht teilnehmbar – wird dem Angeklagten mit der Ersetzung der Examination-in-Chief durch den schriftlichen Zeugenbeweis nach der ICTY-Regel 92ter zudem einer der Teile – nämlich der der anklagenden Seite zustehende Teil – der Kommunikations- und Interaktionssituation, welche sich normalerweise als eine simultane Befragung des Belastungszeugen durch die anklagende und angeklagte Seite in Anwesenheit und unter Beobachtung der jeweils anderen Verfahrenspartei darstellt: Eingeschränkt ist infolge der Ersetzung der Examination-in-Chief durch den schriftlichen Zeugenbeweis das zu einem uneingeschränkt ausübbaren Konfrontationsrecht gehörende Recht auf eine zeitgleiche Befragung des Belastungszeugen genau in derselben Kommunikations- und Interaktionssituation, in welcher auch die anklagende Seite auf die Entstehung der Zeugenaussage durch ihre Befragung einwirkt. Gemeint ist eine Kommunikations- und Interaktionssituation, in welcher anklagende und angeklagte Seite in gegenseitiger Präsenz und Wahrnehmung der Befragungsstrategie der jeweils anderen Seite durch ihre Befragungen sowohl auf eine simultane Weise als auch auf eine bestimmte Befragungsmomente der gegnerischen Seite unmittelbar angreifen könnende Weise auf eine inhaltlich noch offene(re) und ungefestigte(re) Zeugenaussage gleichwertig Einfluss nehmen können.2833 Dieselbe inhaltliche Offenheit der Aussage sowie dieselbe Simultanität betreff des Einflusses beider Parteien auf die Aussageentstehung ist bei der Einführung einer schriftlichen sowie zudem mündlich betreff ihrer Richtigkeit bestätigten und damit schon gefestigte(re)n Zeugenaussage in die Beweiserhebungssituation mit sich anschliessender Möglichkeit zum Kreuzverhör durch den Angeklagten nicht gegeben.
1001
Zudem lassen weitere Gesichtspunkte die in der ICTY-Regel 92ter geregelte Mischung aus schriftlicher Zeugenaussage/Vernehmungsmitschriften von Zeugenaussagen aus anderen Verfahren vor dem Tribunal und mündlicher Richtigkeitsbestätigung des im Gericht anwesenden Zeugen als ein fragwürdiges Mittel der Beweisführung ansehen: Die mündliche Zeugenaussage vor Gericht zur Richtigkeitsbestätigung als solche ist zwar nicht weniger, aber eben auch nicht mehr als eine blosse Richtigkeitsbestätigung der vom Zeugen
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2833
Zur Simultanität als einem zum Konfrontationsrecht gehörenden Element siehe auch deutlich SCHLEIMINGER, S. 291, 316.
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
früher getätigten und dann schriftlich festgehaltenen Zeugenaussage,2834 ohne dass allein durch jene mündliche Richtigkeitsbestätigung ein inhaltlicher Mehrwert in Form zusätzlicher sachlicher Aussagen hinzukommen würde. Das Konstrukt der mündlichen Richtigkeitsbestätigung ist dabei nicht nur deshalb fragwürdig, weil zur Vermeidung des Vorwurfs früherer Lügen und einer damit einhergehenden Unglaubwürdigkeit der Zeugenperson wohl viele Zeugen die Richtigkeit ihrer früheren Aussagen bestätigen werden oder dieser Verdacht zumindest nicht völlig ausgeschlossen werden kann. Vielmehr ist das Konstrukt der mündlichen Richtigkeitsbestätigung auch deshalb zweifelhaft, weil mit dieser mündlichen Richtigkeitsbestätigung zwar die früher getätigte und dann schriftlich festgehaltene Zeugenaussage, nicht aber auch schon das an Inhalt gleichsam vorwegnehmend bestätigt werden kann, was der Zeuge erst zukünftig sagen würde, wenn er vernommen und befragt werden würde («what the witness would say if examined», ICTY-Regel 92 ter (A) (iii)). Solche zukünftigen Vernehmungen und Befragungen sind hinsichtlich der von dem Angeklagten und den Richtern an den Zeugen gestellten Fragen noch völlig ungewiss und entsprechend ungewiss sind auch die Antworten, die der Zeuge geben würde, so dass sich eine Richtigkeitserklärung zwar – und aber auch nur – auf früher abgegebene Zeugenaussagen erstrecken kann, mit dieser aber nicht zur Zeit der Abgabe der Richtigkeitserklärung noch gar nicht getätigte (d.h. zukünftige) Aussagen schon bestätigend vorweggenommen werden können. 1003
Neben der Einführung schriftlicher Zeugenaussagen in die Beweisaufnahme des Verfahrens vor dem ICTY nach den soeben dargestellten unterschiedlichen ICTY-Regeln erscheint bei entsprechender Anwendung der ICTYRegeln 71, 92bis, 92ter, 92quater und 89 (C) des Weiteren die Verwendung von auf Bild-Ton-Trägern aufgezeichneten aussergerichtlichen Zeugenaussagen – unter Beachtung derselben Voraussetzungen sowie derselben, mit Blick auf das Konfrontationsrecht des Angeklagten und seine Einschränkung prob-
2834
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Neben schriftlichen Zeugenaussagen werden auch anders dokumentierte Zeugenaussagen von der ICTY-Regel 92ter erfasst, siehe dazu näher Prosecutor v. Popović et al., Decision on Motion to convert viva voce Witnesses to Rule 92 ter Witnesses, Case No. IT-05-88-T, 31. Mai 2007, S. 3, 4 zu Abschriften von audio-aufgezeichneten Interviews: „... there is no reason to limit the scope of Rule 92 ter to a specific means of documenting evidence and, in general, the requirement of a ”written statement” should be considered as fulfilled when the witness`s words are documented and preserved ... the Accused will not be prejudiced as a result of the admission of a transcript of an audio-recorded interview as a written statement pursuant to Rule 92 ter, and that excluding the transcript of an audio-recorded interview from the scope of Rule 92 ter would be contrary to the underlying rationale of that rule ...“ (Hervorhebung ICTY: «ter», übrige Hervorhebung Demko).
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
lematischen Fragestellungen – im Verfahren vor dem Tribunal möglich.2835 Ausdrückliche spezielle Bestimmungen zur Verwendung von auf Bild-TonTrägern aufgezeichneten aussergerichtlichen Zeugenaussagen sind zwar weder im ICTY-Statut noch in den RPE enthalten.2836 Dennoch befürworten Stimmen im Schrifttum2837 und öffnet sich auch das ICTY in seiner Rechtsprechung eine(r) (entsprechende(n)) Anwendung der ICTY-Regeln auf Aufzeichnungen von aussergerichtlichen Zeugenaussagen auf Bild-Ton-Trägern und ihre(r) Verwendung im Verfahren vor dem ICTY. In der Entscheidung Prosecutor v. Limaj et al. lässt das ICTY zwar die Frage des Ansehens von Videoaufzeichnungen als schriftliche Aussagen und der Anwendung der ICTY-Regeln 89 (F) und 92bis auf die Videoaufzeichnungen der aussergerichtlichen Zeugenaussagen offen,2838 hält die Zulassung jener Videoaufzeichnungen im vorliegenden Fall aber auf der Grundlage der ICTY-Regel 89 (C) für zulässig: „… the Chamber is persuaded that, in the very particular factual circumstances presented in this case, the two video-recordings are relevant and sufficiently reliable so as to have probative value in this trial. Therefore, under Rule 89(C), they may be admitted as evidence for the truth of their contents, i.e. as substantive evidence … However, the word "may" in Rule 89(C) indicates that it is a matter of discretion whether to admit either or both of the video-recordings … On balance they favour the exercise of the discretion to admit the two video-recordings …“2839
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Befürwortung findet auch die entsprechende Anwendung der ICTY-Regel 71 – welche in ihrem Absatz (D) von «video-conference» und im Absatz (E) von anzufertigenden und an die Gerichtskammer zu übermittelnden «record» spricht, ohne im Einzelnen und sich hier begrenzend anzugeben, ob diese Aufzeichnungen in schriftlicher Form oder in der Form von Bild-Ton-
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Siehe dazu näher WANNEK, S. 71 f.; MAY/WIERDA, S. 235 N 7.70; siehe dazu auch die Ausführungen von DE BROUWER, S. 244 ff. Darauf auch hinweisend WANNEK, S. 71. Siehe dazu näher WANNEK, S. 71 f.; MAY/WIERDA, S. 235 N 7.70; HESS, S. 183. Siehe näher Prosecutor v. Limaj et al., Decision on the Prosecution`s Motions to Admit Prior Statements as Substantive Evidence, Case No. IT-03-66-T, 25. April 2005, paras. 15, 16, 17: „… Thus, even if it were to be accepted that the previous video-recordings are to be regarded as written statements (which the Chamber does not decide), the issue of the admissibility of each of these prior interviews is not to be determined under either Rule 92bis or Rule 89(F). Rather, it is necessary to turn to the general rules of evidence and the jurisprudence applicable to hearsay evidence. It is well-settled in the Tribunal's jurisprudence that hearsay evidence is admissible under Rule 89(C) provided that it is relevant and has probative value …“ (para. 17, Hervorhebung ICTY: «bis», übrige Hervorhebung Demko). Prosecutor v. Limaj et al., Decision on the Prosecution`s Motions to Admit Prior Statements as Substantive Evidence, Case No. IT-03-66-T, 25. April 2005, paras. 25, 26 (Hervorhebung ICTY: «may», «i.e.», übrige Hervorhebung Demko).
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Aufzeichnungen anzufertigen sind – für Videoaufzeichnungen2840 und es wird zudem die Schutzmassnahmen für Opfer und Zeugen regelnde ICTY-Regel 75 (B) (iii) («such as») für die Zulässigkeit der Verwendung von Videoaufzeichnungen angeführt.2841 In der Entscheidung Prosecutor v. Popović et al. beschäftigt sich das ICTY zudem mit der Frage der Anwendung der ICTYRegel 92ter auf Abschriften von audio-aufgezeichneten Interviews («transcripts of audio-recorded interviews») und öffnet sich hier einem weiten Verständnis des im Absatz (A) der ICTY-Regel aufgeführten Begriffs «written statement»: Dieser Begriff ist in der ICTY-Regel 92ter nicht definiert und es ist – den Hauptzweck jener ICTY-Regel voranstellend, welcher in dem Pflegen eines effizienten und schnellen Gerichtsverfahrens in Übereinstimmung mit den Rechten des Angeklagten besteht – kein Grund für eine Begrenzung des Begriffs «written statement» auf bestimmte Mittel der Beweisdokumentation gegeben, sondern vielmehr sollte das «written statement»-Erfordernis dann als erfüllt angesehen werden, wenn die Zeugenworte dokumentiert und konserviert («documented and preserved») sind.2842 Eine Zulassung solcher «transcripts of audio-recorded interviews» würde den Angeklagten nicht beachteiligen, sondern vielmehr umgekehrt – und hier die ICTY-Regel 92ter für solche Abschriften von audio-aufgezeichneten Interviews öffnend – würde der Ausschluss dieser aus dem Anwendungsbereich der ICTY-Regel 92ter den dieser Regel zugrundlegenden Grundprinzipien widersprechen:2843 1006
„… the term "written statement" is not defined in Rule 92 ter … the main purpose of Rule 92 ter is to foster the efficient and expeditious conduct of trial proceedings in accordance with the rights of the accused, and therefore there is no reason to limit the scope of Rule 92 ter to a specific means of documenting evidence and, in general, the requirement of a ”written statement” should be considered as fulfilled when the witness`s words are documented and preserved ... the Accused will not be prejudiced as a result of the admission of a transcript of an audio-recorded interview as a written statement pursuant to Rule 92 ter, and that excluding the transcript of an audio-
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Siehe dazu auch WANNEK, S. 71; MAY/WIERDA, S. 235 N 7.70; siehe auch Prosecutor v. Halilović, Decision on Parties Requests Regarding Deposition Evidence on one Witness, Case No. IT-01-48-T, 12. Mai 2005, S. 2: „... the oral request of the Defence, made during the trial hearing of 6 April 2005 ("Defence Oral Request"), in which the Defence submitted that: (i) the deposition of Vehbija Karid ("Witness") taken on 8 July 2003 pursuant to Rule 71of the Rules of Procedure and Evidence ("Rules") ought to be played in Court …“ (Hervorhebung Demko). Siehe etwa HESS, S. 183. Siehe Prosecutor v. Popović et al., Decision on Motion to Convert Vica Voce Witnesses to Rule 92 ter Witnesses, Case No. IT-05-88-T, 31. Mai 2007, S. 3. Prosecutor v. Popović et al., Decision on Motion to convert viva voce Witnesses to Rule 92 ter Witnesses, Case No. IT-05-88-T, 31. Mai 2007, S. 4.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen recorded interview from the scope of Rule 92 ter would be contrary to the underlying rationale of that rule ...“2844
In den ICTY-Regeln 92bis und 92quater ist in deren Absätzen (A) ebenso wie in der ICTY-Regel 92ter von «written statement» die Rede und eine Öffnung dieses Begriffs für andere Mittel der Beweisdokumentation («documented and preserved») entsprechend der im Fall Prosecutor v. Popović et al. geführten Begründung ist hier möglicherweise (mit)angelegt. Denkt man an die Vorteile von Audio-Videoaufzeichnungen im Vergleich zu schriftlichen Aufzeichnungen – anzuführen sind hier etwa das bessere akustische/visuelle Wahrnehmen der fragenden und antwortenden Personen, das Sichtbarmachen von Zeugenbeeinflussungen durch die Art der Zeugenbefragung und durch das interaktive Zusammenspiel der an der Zeugenvernehmung Beteiligten oder das Aufzeigen von ungenauen/fehlerhaften Übersetzungen bei der Anfertigung der schriftlichen Zeugenaussagen2845 –, erscheint eine Gleichstellung von solchermassen dokumentierten schriftlichen Zeugenaussagen mit Audio-Video-Aufzeichnungen unter entsprechender Anwendung der ICTYRegeln 92bis und 92quater als möglich.2846
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Nach ständiger Spruchpraxis ist seit der hearsay evidence-Entscheidung im Fall Tadić2847 zudem die Zulässigkeit mündlicher Zeugnisse vom Hörensagen vom ICTY grundsätzlich anerkannt.2848
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Prosecutor v. Popović et al., Decision on Motion to convert viva voce Witnesses to Rule 92 ter Witnesses, Case No. IT-05-88-T. 31. Mai 2007, S. 3, 4 (Hervorhebuung ICTY: «ter», übrige Hervorhebung Demko). Siehe dazu auch näher WANNEK, S. 72. Siehe in diesem Sinne auch WANNEK, S. 72: „analoge Anwendung der Regeln 92 bis und 92 quater VBR ist … naheliegend“. Prosecutor v. Tadić a/k/a “Dule“, Decision on Defence Motion on Hearsay, Case No. IT-94-1-T, 05. August 1996, paras. 7, 13 ff., 19. Siehe aus der ständigen Rechtsprechung Prosecutor v. Tadić a/k/a “Dule“, Decision on Defence Motion on Hearsay, Case No. IT-94-1-T, 05. August 1996, paras. 7, 13 ff., 19; Prosecutor v. Aleksovski, Decision on Prosecutor`s Appeal on Admissibility of Evidence, Case No. IT-95-14/1-73, 16. Februar 1999, para. 15: „... It is well settled in the practice of the Tribunal that hearsay evidence is admissible. Thus relevant out of court statements which a` Trial Chamber considers probative are admissible under Rule 89 (C) ....“; Prosecutor v. Blaškić, Decision on the Standing Objection of the Defence to the Admission of Hearsay with no Inquiry as to its Reliability, Case No. IT-95-14-T, 21. Januar 1998, paras. 7, 10 ff.: „... Sub-rule 89 (C) of the Rules ... applies whether the evidence is direct or hearsay. In fact, when interpreted in the light of the other paragraphs of Rule 89, it is sufficiently general to include the admissibility of hearsay evidence ...“ (para. 7); Prosecutor v. Milošević, Decision on Admissibility of Prosecution Investigator`s Evidence, Case No. IT-02-54-AR73.2, 30. September 2002, para. 18; siehe zudem die Angaben zur Rechtsprechung des ICTY in den folgenden Fussnoten; zu hearsay evidence siehe auch BANTEKAS, S. 508 ff.
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen 1009
„... there is no blanket prohibition on the admission of hearsay evidence. Under our Rules, specifically Sub-rule 89 (C), out-of-court-statements that are relevant and found to have probative value are admissible ... Accordingly, in deciding whether or not hearsay evidence that has been objected to will be excluded, the Trial Chamber will determine whether the proffered evidence is relevant and has probative value, focusing on its reliability. In doing so, the Trial Chamber will hear both the circumstances under which the evidence arose as well as the content of the statement. The Trial Chamber may be guided by, but not bound to, hearsay exceptions generally recognised by some national legal systems, as well as the truthfulness, voluntariness, and trustworthiness of the evidence, as appropriate. In bench trials before the International Tribunal, this is the most efficient and fair method to determine the admissibility of out-of-court statements …“2849
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Das Zeugnis vom Hörensagen2850 nimmt in der Rechtsprechung des Tribunals eine wichtige praktische Bedeutung ein2851 und dessen Zulassung bestimmt sich nach der allgemeinen Beweisvorschrift der ICTY-Regel 89 (C),2852 nach welcher das Zeugnis vom Hörensagen – wie auch alle anderen Beweismittel – für das Verfahren von Relevanz sein und einen für die Einführung in die Beweisaufnahme ausreichenden Beweiswert besitzen muss2853 und die Zulassung des Zeugnisses vom Hörensagen im richterlichen Ermessen („broad discretion“2854) liegt.2855 Von Bedeutung für die Zulässigkeitsentscheidung ist
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Prosecutor v. Tadić a/k/a “Dule“, Decision on Defence Motion on Hearsay, Case No. IT-94-1-T, 05. August 1996, paras. 7 und 19 (Hervorhebung Demko). Zur Definition des Begriffs hearsay evidence siehe Prosecutor v. Aleksovski, Decision on Prosecutor`s Appeal on Admissibility of Evidence, Case No. IT-95-14/1-AR73, 16. Februar 1999, para. 14: „… this evidence was hearsay, i.e., the statement of a person made otherwise than in the proceedings in which it is being tendered, but nevertheless being tendered in those proceedings in order to establish the truth of what that person says …“ Siehe etwa Prosecutor v. Blaškić, Decision on the Standing Objection of the Defence to the Admission of Hearsay with no Inquiry as to its Reliability, Case No. IT-95-14T, 21. Januar 1998, para. 4. Zu einer speziellen Art eines Zeugnisses vom Hörensagen im Falle von Zeugenaussagen, die gegenüber Mitarbeitern der Anklagebehörde mit dem Zweck ihrer Verwertung im Verfahren vor dem ICTY abgegeben werden und zu dem lex specialisCharakter der ICTY-Regel 92bis gegenüber der lex generalis-Bestimmung der ICTYRegel 89 (C) sowie zu der analogen Anwendung der ICTY-Regeln 92bis und 92quater für die Vernehmung der Mitarbeiter der Anklagebehörde als Zeugen vom Hörensagen siehe näher WANNEK, S. 88 ff. Siehe ICTY-Regel 89 (C): «any relevant evidence which it deems to have probative value» (Hervorhebung Demko). Prosecutor v. Aleksovski, Decision on Prosecutor`s Appeal on Admissibility of Evidence, Case No. IT-95-14/1-73, 16. Februar 1999, para. 15: „a broad discretion under Rule 89(C) to admit relevant hearsay evidence“ (Hervorhebung Demko).
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
die Beurteilung des Zeugnisses vom Hörensagen als ein zuverlässiges Beweismittel und mit Blick auf diese Zuverlässigkeitsbeurteilung («reliability») führt – wie oben bereits im Einzelnen dargelegt2856 – das ICTY verschiedene Kriterien und Indizien („indicia of its reliability“2857) an, die in einer Gesamtschau für die Einstufung des Zeugnisses vom Hörensagen als unzuverlässiges oder zuverlässiges Beweismittel vom Tribunal herangezogen werden.2858 In diesem Sinne sind es die Momente der Freiwilligkeit, Wahrheitsmässigkeit und Vertrauenswürdigkeit („voluntary, truthful and trustworthy“2859), die das ICTY betont, und es ist ein Abstellen sowohl auf den Inhalt als auch auf die Umstände der Entstehung und Aufzeichnung des Zeugnisses vom Hörensagen („both the content of the hearsay statement and the circumstances under which the evidence arose“2860), das für die vom ICTY vorgenommene Beurteilung des Beweiswertes des Zeugnissen vom Hörensagen prüfend herangezogen wird. Zu berücksichtigen sind nach Ansicht des Tribunals zudem etwa Fragen danach, ob es sich um ein Zeugnis vom Hörensagen aus erster Hand 2855
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Siehe dazu Prosecutor v. Tadić a/k/a “Dule“, Decision on Defence Motion on Hearsay, Case No. IT-94-1-T, 05. August 1996, paras. 7, 13 ff.; Prosecutor v. Aleksovski, Decision on Prosecutor`s Appeal on Admissibility of Evidence, Case No. IT-95-14/173, 16. Februar 1999, para. 15; Prosecutor v. Blaškić, Decision on the Standing Objection of the Defence to the Admission of Hearsay with no Inquiry as to its Reliability, Case No. IT-95-14-T, 21. Januar 1998, paras. 7, 10 ff. Siehe dazu näher im Rahmen der Ausführungen zu den Grundsätzen und dem Wesensgehalt des Konfrontationsrechts im internationalen Strafverfahren vor dem ICTY unter Kap. 5 C. II. 1. a). Prosecutor v. Tadić a/k/a “Dule“, Decision on Defence Motion on Hearsay, Case No. IT-94-1-T, 05. August 1996, para. 16 (Hervorhebung Demko); siehe dazu auch AMBOS, ICLR 2003, S. 24 f., 28.; MAY/WIERDA, ColJTL 1999, S. 747, 755. Siehe etwa Prosecutor v. Aleksovski, Decision on Prosecutor`s Appeal on Admissibility of Evidence, Case IT-95-14/1-73, 16. Februar 1999, para. 15: „... Since such evidence is admitted to prove the truth of its contents, a Trial Chamber must be satisfied that it is reliable for that purpose, in the sense of being voluntary, truthful and trustworthy, as appropriate; and for this purpose may consider both the content of the hearsay statement and the circumstances under which the evidence arose; or, as Judge Stephen described it, the probative value of a hearsay statement will depend upon the context and character of the evidence in question. The absence of the opportunity to cross-examine the person who made the statements, and whether the hearsay is ”firsthand” or more removed, are also relevant to the probative value of the evidence ...“; Prosecutor v. Blaškić, Decision on the Standing Objection of the Defence to the Admission of Hearsay with no Inquiry as to its Reliability, Case IT-95-14-T, 21. Januar 1998, para. 12. Prosecutor v. Aleksovski, Decision on Prosecutor`s Appeal on Admissibility of Evidence, Case No. IT-95-14/1-73, 16. Februar 1999, para. 15 (Hervorhebung Demko). Prosecutor v. Aleksovski, Decision on Prosecutor`s Appeal on Admissibility of Evidence, Case IT-95-14/1-73, 16. Februar 1999, para. 15 (Hervorhebung Demko).
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
oder aus entfernteren Quellen handelt, ob die Möglichkeit einer Überprüfung im Rahmen eines Kreuzverhörs bestanden hat sowie Fragen nach weiteren zu beachtenden Umständen betreffend der ursprünglichen Aussage und der diese tätigenden Person.2861 1011
„… The absence of the opportunity to cross-examine the person who made the statements, and whether the hearsay is ”first-hand” or more removed, are also relevant to the probative value of the evidence ...“2862
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Mündliche Zeugnisse vom Hörensagen können dabei im Verfahren vor dem ICTY zugelassen werden, auch ohne dass der Angeklagte die Person, die die Aussage ursprünglich äusserte, in einem Kreuzverhör unmittelbar konfrontieren konnte: Das Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen ist – wie bereits im Rahmen der Ausführungen zum persönlichen Schutzbereich näher ausgeführt2863 – vom ICTY nur als gegenüber der Person, die vor dem Tribunal aussagt („applies to the witness testifying before the Trial Chamber“2864), also dem Zeugen vom Hörensagen, als eröffnet angesehen, nicht hingegen gegenüber der die Aussage ursprünglich tätigenden Person, deren Aussage durch das mündliche Zeugnis vom Hörensagen in das Verfahren vor dem ICTY eingeführt wird:
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„... The right to cross-examination guaranteed by Article 21(4)(e) of the Statute applies to the witness testifying before the Trial Chamber and not to the initial declarant whose statement has been transmitted to this Trial Chamber by the witness ...“2865
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Aufgrund dieser engen Verwendung des Begriffs des Belastungszeugen durch das ICTY2866 ist die in das richterliche Ermessen gestellte Zulassung des mündlichen Zeugnisses vom Hörensagen mithin auch möglich, ohne dass der Angeklagte die die Aussage ursprünglich tätigende Person in einem Kreuz2861
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Siehe dazu näher Prosecutor v. Aleksovski, Decision on Prosecutor`s Appeal on Admissibility of Evidence, Case No. IT-95-14/1-73, 16. Februar 1999, para. 15; Prosecutor v. Blaškić, Decision on the Standing Objection of the Defence to the Admission of Hearsay with no Inquiry as to its Reliability, Case No. IT-95-14-T, 21. Januar 1998, paras. 11, 12. Prosecutor v. Aleksovski, Decision on Prosecutor`s Appeal on Admissibility of Evidence, Case IT-95-14/1-73, 16. Februar 1999, para. 15 (Hervorhebung Demko). Siehe dazu näher im Rahmen der Ausführungen zum persönlichen Schutzbereich des Konfrontationsrechts unter Kap. 5 C. II. 2. a) aa). Prosecutor v. Blaškić, Decision on the Standing Objection of the Defence to the Admission of Hearsay with no Inquiry as to its Reliability, Case No. IT-95-14-T, 21. Januar 1998, para. 12 (Hervorhebung Demko). Prosecutor v. Blaškić, Decision on the Standing Objection of the Defence to the Admission of Hearsay with no Inquiry as to its Reliability, Case No. IT-95-14-T, 21. Januar 1998, para. 12 (Hervorhebung Demko); siehe dazu auch WANNEK, S. 88. Siehe zur engen Definition des Begriffs des Zeugen näher WANNEK, S. 82, 83, 88, 350.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
verhör befragen konnte. Die sich auf die ursprüngliche Aussage und auf die diese Aussage unmittelbar tätigende Person beziehenden Umstände – seien es etwa Fragen zu ihrer Identität oder dazu, wie sie Kenntnis von den von ihr geäusserten Umständen erlangt und wie sie diese an die Person des Zeugen vom Hörensagen weitergegeben hat – bleiben aber nicht unberücksichtigt, sondern werden im Rahmen der vom ICTY vorgenommenen Beurteilung des Beweiswertes des Zeugnisses vom Hörensagen gemeinsam mit weiteren Gesichtspunkten (wie etwa mit Fragen nach einem Zeugnis vom Hörensagen aus erster oder entfernterer Hand oder nach einem nicht möglichen Kreuzverhörs) berücksichtigt:2867 „... As regards the limits to the admissibility of hearsay evidence, the Defence is seeking both that a general limit be placed on recourse to hearsay evidence and that the evidence be identified so that the Judges may evaluate its reliability. The principal argument in support of such limits is the absence of any cross-examination of the initial declarant. However, since the principle making hearsay evidence admissible has been accepted, the objection in respect of the absence of cross-examination is not related to admissibility but to the weight given to the evidence ... The right to cross-examination guaranteed by Article 21(4)(e) of the Statute applies to the witness testifying before the Trial Chamber and not to the initial declarant whose statement has been transmitted to this Trial Chamber by the witness ... The Trial Chamber does, however, note that the right to cross-examine the witness in court may be used to challenge the importance to be given to the hearsay testimony, for example, by clearly indicating the number of intermediaries who transmitted the testimony and by seeking to learn the identity and other characteristics of the initial declarant as well as the possibilities for that declarant to have learned the relevant elements or even by bringing out the other facts or circumstances which might assist the Trial Chamber in its evaluation of such evidence ...“2868
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Siehe dazu Prosecutor v. Blaškić, Decision on the Standing Objection of the Defence to the Admission of Hearsay with no Inquiry as to its Reliability, Case No. IT-95-14T, 21. Januar 1998, paras. 11, 12; siehe auch Richter May in Prosecutor v. Kordić and Čerkez, Public Transcript of Hearing, 21. Februar 2000, S. 14701: „... The real issue is this: Should this statement be admitted un-cross-examined, so that the Defence have had no chance to test it, we have come to the conclusion that it would be wrong to deny the Chamber this statement simply on that technical ground. That goes very much to the matter of weight. There is a discretion to admit the evidence under 89(C), and we do so, it being of course understood that this is evidence, when we come to consider it, first of all, which, we will have to bear in mind, was not subject to crossexamination and, therefore, lacks that important support ...“ (Hervorhebung Demko). Prosecutor v. Blaškić, Decision on the Standing Objection of the Defence to the Admission of Hearsay with no Inquiry as to its Reliability, Case No. IT-95-14-T, 21. Januar 1998, paras. 11, 12 (Hervorhebung Demko).
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
cc)
Die auf der Beweiswürdigungsebene angelegten Anforderungen
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Weder im ICTY-Statut noch in den RPE finden sich ausdrückliche Regelungen dazu,2869 ob und welche Anforderungen es auf der Beweiswürdigungsebene hinsichtlich des Umgangs mit unter Einschränkungen in der Ausübung des Konfrontationsrechts zustande gekommenen belastenden Zeugenaussagen in einer allgemeinen Weise zu beachten gilt. Keine eindeutigen und durchgängig konsistenten Antworten lassen sich zudem der Rechtsprechung des ICTY mit Blick auf die Anforderungen entnehmen, die der EGMR im Rahmen des Art. 6 III d EMRK auf der Beweiswürdigungsebene mit dem hier von ihm betonten Erfordernis des «nicht einzigen und nicht entscheidenden» Beweismittels2870 aufgestellt hat:2871
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Einerseits greift das ICTY in mehreren Entscheidungen das vom EGMR betonte Erfordernis des «nicht einzigen und nicht entscheidenden» Beweismittels auf und hebt unter ausdrücklicher Bezugnahme auf diese Rechtsprechung des EGMR insbesondere im Zusammenhang mit aussergerichtlichen schriftlichen Zeugenaussagen hervor, dass diese nicht das einzige Beweismittel, nicht die alleinige Grundlage für die Verurteilung des Angeklagten sein dürfen.2872 In diesem Sinne führt Judge May im Fall Prosecutor v. Kordić and Čerkez an:
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„… We shall also, of course, have in mind this, as the European Court has pointed out: that it would not be possible to convict the accused on the basis of this statement alone if that evidence was uncorroborated, and that is a matter which we shall also have in mind …“2873
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Zu ICTY-Regel 96 (i) siehe die anschliessenden Ausführungen im Haupttext. Siehe zu den vom EGMR aufgestellten Anforderungen auf der Beweiswürdigungsebene und dem Erfordernis des «nicht einzigen und nicht entscheidenden» Beweismittels näher unter Kap. 5 B. II. 2. Siehe bezüglich privater Schriftstücke auch ausdrücklich WANNEK, S. 83 f., wonach die Frage eines solchen schriftlichen Zeugnisses vom Hörensagen als ausreichende alleinige Grundlage „weder in dem Statut und den Verfahrens- und Beweisregeln des Tribunals noch in seiner Rechtsprechung eindeutig beantwortet“ werde. Siehe etwa Judge May in Prosecutor v. Kordić and Čerkez, Public Transcript of Hearing, Case No. IT-95-14/2-T, 21. Februar 2000, S. 14702; Prosecutor v. Galić, Decision on Interlocutory Appeal Concerning Rule 92bis(C), Case No. IT-98-29-AR73.2, 07. Juni 2002, para. 12 FN 34; Prosecutor v. Kordić and Čerkez, Decision on Appeal Regarding Statement of a Deceased Witness, Case No. IT-95-14/2-AR73.5, 21. Juli 2000, paras. 21, 22; Prosecutor v. Naletilić and Martinović, Judgement, Case No. IT98-34-T, 31. März 2003, para. 28 FN 54. Judge May in Prosecutor v. Kordić and Čerkez, Public Transcript of Hearing, Case No. IT-95-14/2-T, 21. Februar 2000, S. 14702 (Hervorhebung Demko).
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Ebenso unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Art. 6 III d EMRK und die Rechtsprechung des EGMR betreff der Anforderungen auf der Beweiswürdigungsebene heisst es im Fall Prosecutor v. Galić :
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„… The admission into evidence of written statements made by a witness in lieu of their oral evidence in chief is not inconsistent with Article 21.4(e) of the Tribunal's Statute … or with other human rights norms (for example, Article 6(3)(d) of the European Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms provides: "Everyone charged with a criminal offence has the following minimum rights: [ ... ] to examine, or have examined, witnesses against him and to obtain the attendance and examination of witnesses on his behalf under the same conditions as witnesses against him … But, where the witness who made the statement is not called to give the accused an adequate and proper opportunity to challenge the statement and to question that witness, the evidence which the statement contains may lead to a conviction only if there is other evidence which corroborates the statement …“2874
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Die hinsichtlich des Erfordernisses des «nicht entscheidenden» Beweismittels aufgestellten Anforderungen beantwortet das ICTY hingegen nicht mit durchgängiger Klarheit: Das Tribunal lässt die Art und Weise, in der die erforderlichen mehreren Beweismittel zusammenzuwirken und sich hier als «entscheidende»/«nicht entscheidende» Beweismittel auszuprägen haben, zum Teil offen und spricht nur von «other evidence».2875 Zu lesen ist des Weiteren von einem den aussergerichtlichen schriftlichen Zeugenaussagen nur zukommen dürfenden bestätigenden Charakter («to corroborate»),2876 ohne
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Prosecutor v. Galić, Decision on Interlocutory Appeal Concerning Rule 92bis(C), Case No. IT-98-29-AR73.2, 07. Juni 2002, para. 12 FN 34 (Hervorhebung Demko). Siehe etwa Prosecutor v. Galić, Decision on Interlocutory Appeal Concerning Rule 92bis(C), Case No. IT-98-29-AR73.2, 07. Juni 2002, para. 12 FN 34; Prosecutor v. Blagojević and Jokić, First Decision on Prosecution`s Motion for Admission of Witness Statements and Prior Testimony Pursuant to Rule 92bis, Case No. IT-02-60T, 12. Juni 2003, para. 25; siehe darauf ebenso hinweisend WANNEK, S. 66 und FN 129. Siehe etwa Prosecutor v. Kordić and Čerkez, Decision on Appeal Regarding Statement of a Deceased Witness, Case No. IT-95-14/2-AR73.5, 21. Juli 2000, paras. 21, 22; Prosecutor v. Prlić et al., Decision on Adoption of new Measures to bring the Trial to an End within a Reasonable Time, Case No. IT-04-74-T, 13. November 2006, para. 21: „… This evidence could then be corroborated by written statements or transcripts presented pursuant to Rule 92 bis or quater of the Rules …“ (Hervorhebung ICTY); Prosecutor v. Blagojević and Jokić, First Decision on Prosecution`s Motion for Admission of Witness Statements and Prior Testimony Pursuant to Rule 92bis, Case No. IT-02-60-T, 12. Juni 2003, para. 25: „… reminds all parties that such "other evidence" will be necessary to corroborate evidence put forward by a single Rule 92 bis witness who was not called for cross-examination in order to lead to a conviction on that charge of the Indictment …“ (Hervorhebung ICTY: «bis», übrige Hervor-
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
dass das ICTY aber tiefergehend und klärend ausführt, ob dieser vom Tribunal verlangte bestätigende Charakter gleichsam nur das «nicht entscheidende» Beweismittel bedeuten soll oder auch mit einem «entscheidenden» Beweismittel einhergehen kann. Aus dem verlangten bestätigenden Charakter könnte sich zwar durchaus ein Hinweis auf das Erfordernis des «nicht entscheidenden» Beweismittels ableiten lassen, ausdrücklich und durchgängig eindeutig beantwortet dies das ICTY jedoch nicht. 1022
Die Spruchpraxis des ICTY folgt mit dem hier insbesondere für schriftliche Zeugenaussagen betonten Erfordernis des «nicht einzigen» Beweismittels der entsprechenden Anforderung des EGMR (und stimmt auch mit der dargestellten eigenen Ansicht der Verfasserin überein).2877 Hingegen lässt es sich aufgrund der Uneindeutigkeit des ICTY in seiner Rechtsprechung zum Erfordernis des «nicht entscheidenden» Beweismittels nicht klar beantworten, ob und inwieweit sich das Tribunal insoweit in völliger Übereinstimmung mit der entsprechenden, vom EGMR betonten Anforderung befindet (oder nicht). Will sich das Tribunal insoweit in Einklang mit dem vom EGMR verlangten Erfordernis des «nicht entscheidenden» Beweismittels verstanden wissen, würde es mit der entsprechenden Anforderung des EGMR übereinstimmen. Die insoweit jedoch gerade bestehende Offenheit und fehlende klare Stellungnahme des ICTY zum Erfordernis des «nicht entscheidenden» Beweismittels könnten sich umgekehrt aber auch als ein Hinweis auf die Unstimmigkeit dieses vom EGMR betonten Kriteriums des «nicht entscheidenden» Beweismittels lesen lassen und das ICTY würde dann insoweit der hier vertretenen eigenen Ansicht der Verfasserin2878 entsprechen: Angesprochen ist die nach eigener Ansicht zu befürwortende Ablehnung des Kriteriums des «nicht entscheidenden» Beweismittels, wonach es nicht auf eine formale Unterscheidung zwischen «entscheidendem» und «nicht entscheidendem» Beweismittel ankommen kann, sondern mit einer anzulegenden materiellen Sicht allein darauf, ob die erforderlichen mehreren Beweise in einer solchen, sich und ihren Beweiswert gegenseitig bestätigenden und bestärkenden Weise zusammenwirken, dass im Ergebnis insgesamt eine für eine Verurteilung des Angeklagten ausreichende Beweisgrundlage mit ausreichendem Beweiswert gegeben ist.2879
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hebung Demko); Prosecutor v. Naletilić and Martinović, Judgement, Case No. IT-9834-T, 31. März 2003, para. 28 FN 54. Siehe zur eigenen Ansicht der Verfasserin zum Erfordernis des «nicht einzigen» Beweismittels näher unter Kap. 5 B. II. 2. c) bb). Siehe zur eigenen Ansicht der Verfasserin zum Erfordernis des «nicht entscheidenden» Beweismittels näher unter Kap. 5 B. II. 2. c) bb). Siehe zur eigenen Ansicht der Verfasserin zum Erfordernis des «nicht entscheidenden» Beweismittels näher unter Kap. 5 B. II. 2. c) bb).
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Im Gegensatz zu der (vorgängig dargestellten) Bezugnahme des ICTY auf die Anforderungen des EGMR und im Gegensatz zu dem dort erkennbaren (je nach Auslegung völligen oder teilweisen) Übereinstimmen des ICTY mit den Anforderungen des EGMR an das Erforderniss des «nicht einzigen und nicht entscheidenden» Beweismittels hebt das ICTY nun an anderen Stellen seiner Rechtsprechung hervor, dass eine einzige mündliche Zeugenaussage als alleinige Grundlage für eine Verurteilung des Angeklagten durchaus ausreichen kann.2880 Dies sei in Abhängigkeit von deren Beweiswert zu beurteilen und es sei auf das Erfordernis einer sehr sorgfältigen Prüfung („very careful to scrutinise the evidence of a single witness with particular care“2881) jenes einzigen Beweises zu achten:
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„… The Appeals Chamber has consistently held that the corroboration of evidence is not a legal requirement, but rather concerns the weight to be attached to evidence. In Kupreškić et al., the Appeals Chamber emphasized that a Trial Chamber is required to provide a fully reasoned opinion, and that where a finding of guilt was made in a case on the basis of identification evidence given by a single witness under difficult circumstances, the Trial Chamber must be especially rigorous in the discharge of that obligation. A Trial Chamber may thus convict an accused on the basis of a single witness, although such evidence must be assessed with the appropriate caution, and care must be taken to guard against the exercise of an underlying motive on the part of the witness. Any appeal based on the absence of corroboration must therefore necessarily be against the weight attached by a Trial Chamber to the evidence in question … As regards the decision of 18 September 2000, the Appeals Chamber recalls that in Kupreškić et al., it held that "[i]t follows from the jurisprudence of the Appeals Chambers of both the ICTY and ICTR that the testimony of a single witness, even as to a material fact, may be accepted without the need for corroboration …“2882
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Siehe etwa Prosecutor v. Naletilić and Martinović, Judgement, Case No. IT-98-34-T, 31. März 2003, para. 11; PROSECUTOR V. BRĐANIN, Judgement, Case No. IT-99-36-T, 01. September 2004, para. 27; Prosecutor v. Aleksovski, Judgement, Case No. IT-9514/1-A, 24. März 2000, paras. 62 f.: „… the testimony of a single witness on a material fact does not require, as a matter of law, any corroboration … Whether a Trial Chamber will rely on single witness testimony as proof of a material fact, will depend on various factors that have to be assessed in the circumstances of each case …“ (Hervorhebung Demko); Prosecutor v. Kordić and Čerkez, Judgement, Case No. IT95-14/2-A, 17. Dezember 2004, paras. 274, 275; Prosecutor v. Kunarac et al., Judgement, Case No. IT-96-23&IT-96-23/1-A, para. 268; siehe dazu auch CALVOGOLLER, S. 86; NEMITZ, S. 58. Prosecutor v. Naletilić and Martinović, Judgement, Case No. IT-98-34-T, 31. März 2003, para. 11 (Hervorhebung Demko); siehe auch Prosecutor v. Kordić and Čerkez, Judgement, Case No. IT-95-14/2-A, 17. Dezember 2004, para. 274. Prosecutor v. Kordić and Čerkez, Judgement, Case No. IT-95-14/2-A, 17. Dezember 2004, paras. 274, 275 (Hervorhebung ICTY: «Kupreškić et al.», übrige Hervorhebung Demko); siehe auch Prosecutor v. Kunarac et al., Judgement, Case No. IT-96-23&IT-
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen 1025
Das sog. Corroboration-Erfordernis mit dem damit angesprochenen Prinzip «unus testis, nullus testis» bzw. «one witness, no witness» ist, was das ICTY im Fall Prosecutor v. Tadić a/k/a ”Dule” nach vergleichenden Untersuchungen verschiedener nationaler Strafverfahren betreff jenes Erfordernisses ausdrücklich heraushebt,2883 kein Erfordernis, das für das internationale Strafverfahren vor dem ICTY anzuerkennen ist:2884
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„… It follows that there is no ground for concluding that this requirement of corroboration is any part of customary international law and should be required by this International Tribunal …“2885
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In der ICTY-Regel 96 (i) findet sich dies für Fälle von Sexualverbrechen ausdrücklich festgeschrieben, wonach das Corroboration-Erfordernis nicht für die Aussage des Opfers gilt: «In cases of sexual assault … no corroboration of the victim`s testimony shall be requirend». Die ausdrückliche Festschreibung dieses Non-Corroboration-Erfordernisses einzig für die Aussagen von Opfern von Sexualverbrechen in den RPE ist dabei – was das ICTY ebenfalls ausdrücklich betont – nicht dahingehend zu verstehen, dass hinsichtlich der Aussagen von Opfern anderer Verbrechen nun ein Corroboration-Erfordernis gelten soll. Vielmehr gerade umgekehrt gilt das NonCorroboration-Erfordernis ebenso für Opfer anderer Verbrechen, würde mit der ICTY-Regel 96 (i) doch nur explizit zum Ausdruck gebracht werden, dass die Vermutung der Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit von Aussagen in gleichem Masse für Aussagen von Opfern von Sexualverbrechen wie auch für Aussagen von Opfern anderer Verbrechen besteht:2886
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„… The general principle which the Rules require the Trial Chamber to apply is that any relevant evidence having probative value may be admitted into evidence unless its probative value is substantially outweighed by the need to ensure a fair trial. Rule 96(i) alone deals with the issue of corroboration, and then only in the case of sexual assault, where it says that no corroboration is to be required. The function of this Subrule is, stated in An Insider's Guide to the International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia by Virginia Morris and Michael P. Scharf. It is explained that this Sub-rule accords to the testimony of a victim of sexual assault the same presumption of reliability as the testimony of victims of other crimes, something long denied to victims of sexual assault by the common law. Thus what the Sub-rule certainly does not
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96-23/1-A, para. 268: „… On the issue of corroborating evidence, the Appeals Chamber reaffirms its settled jurisprudence that corroboration is not legally required; corroborative testimony only goes to weight …“ (Hervorhebung Demko). Siehe dazu Prosecutor v. Tadić a/k/a ”Dule”, Opinion and Judgement, Case No. IT94-1-T, 07. Mai 1997, paras. 535 ff. Siehe dazu auch CALVO-GOLLER, S. 86 f.; NEMITZ, S. 58. Prosecutor v. Tadić a/k/a ”Dule”, Opinion and Judgement, Case No. IT-94-1-T, 07. Mai 1997, para. 539 (Hervorhebung Demko). Siehe dazu auch CALVO-GOLLER, S. 87.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen do is to justify any inference that in cases of crimes, other than sexual assault, corroboration is required. The proper inference is, in fact, directly to the contrary …“2887
Dass eine einzige mündliche Zeugenaussage für eine Verurteilung des Angeklagten genügen kann und das Corroboration-Erfordernis nicht als ein rechtliches Erfordernis („not a legal requirement“2888) für das internationale Strafverfahren vor dem ICTY anzuerkennen ist, bringt das ICTY auch im Zusammenhang mit der Behandlung von mündlichen Zeugnissen vom Hörensagen zur Sprache. In diesem Sinne lehnt das Tribunal etwa im Fall Prosecutor v. Kordić and Čerkez das Corroboration-Erfordernis ab und verweist auf die vielmehr entscheidende Frage des zu beurteilenden Beweiswertes des einzigen Beweises („the weight to be attached to evidence“2889) sowie auf die für ein einziges Beweismittel zu beachtende angemessene Vorsicht und Sorgfalt („appropriate caution, and care“2890) bei der Beweisbewertung dieser Zeugenaussage als alleiniger Urteilsgrundlage.2891 Ohne hierbei eindeutig zu tren2887
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Prosecutor v. Tadić a/k/a ”Dule”, Opinion and Judgement, Case No. IT-94-1-T, 07. Mai 1997, para. 536 (Hervorhebung ICTY: «An Insider's Guide to the International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia», übrige Hervorhebung Demko). Prosecutor v. Kordić and Čerkez, Judgement, Case No. IT-95-14/2-A, 17. Dezember 2004, para. 274 (Hervorhebung Demko). Prosecutor v. Kordić and Čerkez, Judgement, Case No. IT-95-14/2-A, 17. Dezember 2004, para. 274 (Hervorhebung Demko). Prosecutor v. Kordić and Čerkez, Judgement, Case No. IT-95-14/2-A, 17. Dezember 2004, para. 274 (Hervorhebung Demko), siehe auch „especially rigorous“. Siehe dazu Prosecutor v. Kordić and Čerkez, Judgement, Case No. IT-95-14/2-A, 17. Dezember 2004, paras. 274, 275; siehe auch Prosecutor v. Naletilić and Martinović, Judgement, Case No. IT-98-34-T, 31. März 2003, para. 11: „… The Chamber, as held by the Appeals Chamber, accepts that the testimony of a single witness on a material fact does not, as a matter of law, require corroboration. It has however been very careful to scrutinise the evidence of a single witness with particular care before entering a conviction upon it. The Chamber has accepted hearsay evidence as being generally admissible under the Rules. It has however taken into account that the weight or probative value to be afforded to hearsay evidence will usually be less than that given to the testimony of a witness who has given it under a form of oath and who has been cross-examined …“ (Hervorhebung Demko); PROSECUTOR V. BRĐANIN, Judgement, Case No. IT-99-36-T, 01. September 2004, paras. 27, 28: „… The Appeals Chamber has held that the testimony of a single witness on a material fact does not, as a matter of law, require corroboration. Still, in such a situation, the Trial Chamber has scrutinised the evidence of such witnesses with circumspection and in some instances decided not to rely on such evidence … As regards hearsay evidence, the Trial Chamber reiterates that it is well settled in the practice and jurisprudence of this Tribunal that hearsay evidence is admissible … The approach adopted by the Trial Chamber has been to consider that the fact that a piece of evidence is hearsay does not necessarily deprive it of probative value, but it is acknowledged that the weight or
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
nen zwischen dem unmittelbaren Zeugen und dem Zeugen vom Hörensagen,2892 schliesst das ICTY eine Verurteilung des Angeklagten auf der Grundlage der belastenden Zeugenaussage eines einzigen Zeugen vom Hörensagen hier jedenfalls explizit nicht aus.2893 Vielmehr verweist es gerade auf dieses Non-Corroboration-Erfordernis auch im Zusammenhang mit dem Zeugnis vom Hörensagen, was sich im Sinne einer Möglichkeit einer Verurteilung des Angeklagten auf der Grundlage der Aussage eines einzigen Zeugen vom Hörensagen verstehen liesse, vorausgesetzt, ein für eine Verurteilung ausreichender Beweiswert der Zeugenaussage vom Hörensagen kann bejaht werden.2894 Das ICTY betont auch für die Zeugenaussagen vom Hörensagen immer wieder den für diese massgeblichen und mit Sorgfalt zu beurteilenden Gesichtspunkt des zu beurteilenden Beweiswertes.2895 Es hebt heraus, dass der Beweiswert eines Zeugnisses vom Hörensagen im Vergleich zu dem Beweiswert einer Aussage des unmittelbaren (Augen-)Zeugen vor Gericht, die durch ein Kreuzverhör infragegestellt werden kann, in der Regel bzw. gewöhnlich («usually») geringer ist.2896 Abzuwarten bleibt, in welcher Weise und in welche Richtung das ICTY das Non-Corroboration-Erfordernis für nur eingeschränkt konfrontierbare belastende Zeugenaussagen und hier auch für die Einschränkung des Konfrontationsrechts in Gestalt des mündlichen Zeugnisses vom Hörensagen in der Zukunft ausdifferenzieren und in einer klaren und eindeutigen Weise vertiefen wird. 1030
Immer wieder auf die Massgeblichkeit des von den Richtern des ICTY zu beurteilenden und von ihnen auch beurteilt werden könnenden Beweiswertes der (Zeugen-)Beweismittel abstellend, auf welchen es für die Frage der gegebenen oder nicht gegebenen Möglichkeit einer Verurteilung des Angeklagten nach Ansicht des ICTY letzlich entscheidend ankommt, würde das mit dem Non-Corroboration-Erfordernis einhergehende Genügenlassen einer nur eingeschränkt konfrontierbaren belastenden Zeugenaussage als der alleinigen Urteilsgrundlage dem vom EGMR betonten Erfordernis des «nicht einzigen»
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probative value to be afforded to that evidence will usually be less than that given to the testimony of a witness who has given it under a form of oath and who has been cross-examined, although even this will depend upon the infinitely variable circumstances which surround hearsay evidence …“ (Hervorhebung Demko). Dies ebenso betonend WANNEK, S. 87: „keine Differenzierung“. Darauf ausdrücklich hinweisend WANNEK, S. 87. In diese Richtung wohl auch WANNEK, S. 87: „zumindest nicht ausdrücklich ausgeschlossen“. Siehe etwa Prosecutor v. Brđanin, Judgement, Case No. IT-99-36-T, 01. September 2004, para. 28. Siehe etwa Prosecutor v. Naletilić and Martinović, Judgement, Case No. IT-98-34-T, 31. März 2003, para. 11; Prosecutor v. Brđanin, Judgement, Case No. IT-99-36-T, 01. September 2004, para. 28.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Beweismittels nicht entsprechen und würde auch mit der – oben näher begründeten2897 – eigenen Ansicht der Verfasserin zu den Anforderungen auf der Beweiswürdigungsebene nicht gänzlich übereinstimmen: Dargestellt und begründet worden ist, dass – insoweit der Ansicht des EGMR vom Erfordernis des «nicht einzigen» Beweismittels folgend – eine Verurteilung des Angeklagten auf der Grundlage einer nur eingeschränkt konfrontierbaren belastenden Zeugenaussage als des einzigen Beweismittels nicht zulässig ist, weil ein für eine Verurteilung ausreichender Beweiswert für eine solche belastende Zeugenaussage – die eben nur eingeschränkt konfrontiert und damit betreff ihres Inhalts und ihrer Glaubwürdigkeit nur eingeschränkt in Frage gestellt werden konnte, so dass nicht alle den Angeklagten möglicherweise entlastenden Gegenhypothesen bzw. Antithesen geprüft werden konnten – nicht gegeben ist. Das ICTY nun hält sich diese hier getroffene Bewertung des Beweiswertes einer eingeschränkt konfrontierbaren belastenden Zeugenaussage als des einzigen Beweismittels, welcher als ein nicht ausreichender Beweiswert angesehen wird, hingegen in einem ersten Schritt zunächst noch offen und spricht von einer möglichen Verurteilung des Angeklagten auf der Grundlage einer einzigen belastenden Zeugenaussage, wenn diese einen ausreichenden Beweiswert hat. Das Tribunal kann damit aber im Ergebnis – und hier dann ebenso wie es nach eigener Ansicht vertreten wird – eine Verurteilung aufgrund einer einzigen belastenden Zeugenaussage dann nicht aussprechen, wenn ein ausreichender Beweiswert dieser einzigen belastenden Zeugenaussage nicht gegeben ist. Nimmt man hinzu, dass der Beweiswert eines mündlichen Zeugnisses vom Hörensagen auch vom ICTY (wenn auch nur ) als in der Regel geringer angesehen wird als der Beweiswert der Aussage des unmittelbaren (Augen-)Zeugen vor Gericht, die durch ein Kreuzverhör infragegestellt werden konnte, so spricht auch dies eher für die Ansicht – wie sie sowohl vom EGMR als auch nach eigener Meinung vertreten wird –, dass eine Verurteilung des Angeklagten auf der Grundlage einer nur eingeschränkt konfrontierbaren belastenden Zeugenaussage als des alleinigen Beweismittels eben aus dem Grunde ihres zu geringen und für eine Verurteilung nicht ausreichenden Beweiswerts nicht möglich ist. Es ist abzuwarten, ob und in welcher Weise das Non-Corroboration-Erfordernis seitens des ICTY betreff welcher der verschiedenen Möglichkeiten (im Sinne von verschieden möglichen Einschränkungsformen) nur eingeschränkt konfrontierbarer belastender Zeugenaussagen in der Zukunft Verfeinerungen und Ausdifferenzierungen findet. Hierbei wird sich dann ebenso zeigen (müssen), wie das an einigen Stellen seiner Spruchpraxis betonte NonCorroboration-Erfordernis des ICTY mit der vom ICTY an anderen Stellen seiner Spruchpraxis (und insbesondere für die aussergerichtlichen schriftli2897
Siehe zur eigenen Ansicht der Verfasserin zum Erfordernis des «nicht einzigen» Beweismittels näher unter Kap. 5 B. II. 2. c) bb).
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
chen Zeugenaussagen) vorgenommenen Bezugnahme auf das Erfordernis des EGMR in Gestalt des «nicht einzigen und nicht entscheidenden» Beweismittels sowie mit der hier gegebenen Bejahung dieses EGMR-Erfordernisses in Einklang zu bringen ist.
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b)
Einschränkbarkeit und Einschränkungsvoraussetzungen im nationalen Strafverfahren der Schweiz
aa)
Die Bedeutung des Erfordernisses «sachlich gerechtfertigter Gründe»
Ist dem Angeklagten die Ausübung seines Konfrontationsrecht zwar grundsätzlich uneingeschränkt zu gewähren, so wird eine Einschränkung des Konfrontationsrechts und der mit diesem verbundenen einzelnen Ausübungsrechte jedoch «unter besonderen Umständen»2898 für zulässig angesehen und damit dem „Postulat des Zeugenschutzes“2899 und dem für ein Strafverfahren wichtigen Anliegen einer Ausbalancierung und Abwägung zwischen den unterschiedlichen und sich entgegenstehenden Interessen und Rechten von Angeklagtem und Zeugen Rechnung zu tragen versucht.2900 Ebensolche, zu einer Einschränkung des Konfrontationsrechts führen könnende Gründe sind sowohl unterschiedlichen Bestimmungen der Strafprozessordnung zu entnehmen – zu nennen sind hier neben dem Art. 149 Abs. 1 StPO die Art. 108 Abs. 1,2901 144 Abs. 1, 145, 147 Abs. 3 S. 2, 148 Abs. 1, 152 Abs. 3, 153 Abs. 2 und 154 Abs. 4 StPO – als auch wurden Einschränkungsgründe in der bereits vor Erlass der Strafprozessordnung ergangenen Rechtsprechung im Einzelnen ausgeformt, wobei die Rechtsprechung eine einmal mehr, einmal weniger ausführliche Kasuistik zu verschiedenen Fallgruppen an Einschränkungsgründen entwickelt hat.
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Siehe etwa BG, 6B_45/2008, Erw. 2.5; BG 6B_802/2007, Erw. 2.1; BG, 6B_708/2007, Erw. 4.4.2; BGE 131 I 476, S. 481; BGE 124 I 274, S. 285: „… Es kann mit der Natur eines fairen Verfahrens unter besonderen Umständen vereinbar sein, von einer solchen Befragung abzusehen …“ Botschaft, S. 1110. Siehe etwa BGE 131 I 476, S. 484, 485. Siehe zu Einschränkungen des rechtlichen Gehörs und dazu , dass das rechtliche Gehör eingeschränkt werden kann, wenn ein begründeter Verdacht auf Rechtsmissbrauch besteht oder wenn dies für die Sicherheit von Personen oder zur Wahrung öffentlicher oder privater Geheimhaltungsinteressen erforderlich ist, näher Botschaft, S. 1164 f.: „… Es handelt sich hier um allgemeine Ausschlussgründe; besondere Schutzmassnahmen sind an anderer Stelle etwa im Zusammenhang mit der Öffentlichkeit der Verhandlungen … und der Durchführung von Einvernahmen von Zeuginnen und Zeugen … vorgesehen und gehen dieser allgemeinen Schutzbestimmung … vor“ (S. 1164).
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Nach dem die Bestimmungen zu den «Schutzmassnahmen» (Art. 149 – 156 StPO) einleitenden Art. 149 StPO und dessen Absatz 1 sind die Verfahrensrechte der Parteien – und damit auch das Konfrontationsrecht des Angeklagten – beschränkende Schutzmassnahmen zulässig, wenn «Grund zur Annahme» besteht, der Zeuge, die Auskunftsperson, eine beschuldigte Person, eine sachverständige Person oder ein Übersetzer könnte «durch die Mitwirkung im Verfahren sich oder eine Person, die mit ihr oder ihm in einem Verhältnis nach Artikel 168 Absätze 1-3 steht, einer erheblichen Gefahr für Leib und Leben oder einem andern schweren Nachteil aussetzen». Werden mit dem Abstellen auf eine «erhebliche Gefahr für Leib und Leben» die geschützten Rechtsgüter auch konkretisiert, ist die Formulierung von dem «anderen schweren Nachteil», was die von dieser Formulierung erfassten Rechtsgüter betrifft, hingegen offen gehalten und kann laut Botschaft auch eine Gefährdung des Vermögens erfassen, sofern jene Vermögensgefährdung als ein schwerer Nachteil anzusehen ist.2902 Die zukünftige Auslegung dieser offenen Formulierung durch die schweizerische Rechtsprechung wird zeigen, welche Rechtsgüter neben Leib und Leben nach der Strafprozessordnung als schützenswert und eine Einschränkung des Konfrontationsrechts des Angeklagten rechtfertigen könnend angesehen werden sowie ebenso, ob sich die bereits vor Inkrafttreten der Strafprozessordnung entwickelte Rechtsprechung zu möglichen Einschränkungsgründen des Art. 6 III d EMRK fortsetzen und in die Interpretation des Art. 149 Abs. 1 StPO einfliessen wird. Art. 149 Abs. 1 StPO lässt insofern an sich Raum für die Einbeziehung von weiteren als schützenswert anzuerkennenden Rechtgütern neben Leib und Leben, da diese Bestimmung nicht sämtliche von ihr erfasste Rechtsgüter im Einzelnen explizit aufzählt, sondern den Rechtsgüterschutz über die Formulierung von dem «anderen schweren Nachteil» offen gestaltet: Dabei dürfte aber – wie im Schrifttum zur Interpretation des Art. 149 Abs. 1 StPO unter Bezugnahme auf die frühere Rechtsprechung zutreffend angeführt ist – ein nur allein allgemeiner psychischer Druck, wie er naturgemäss und üblicherweise mit einer jeden unmittelbaren Konfrontation verbunden ist, nicht für ausreichend gehalten werden,2903 sondern vielmehr eine durch hinreichende Anhaltspunkte belegte, konkrete Gefahr von einiger Bedeutung als erforderlich anzusehen sein.2904 2902
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Botschaft, S. 1189: „Dies wäre etwa der Fall, wenn dem Zeugen Gefahr droht, dass sein Ferienhaus in die Luft gesprengt wird“; genannt wird als ein Beispiel für einen anderen schweren Nachteil auch eine seelische Schädigung, siehe dazu WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 149 N 7. Siehe zum Erfordernis der besonderen Qualität der Zeugengefährdung bereits KassG, ZR 88 (1989) Nr. 3, S. 6 f., wo es heisst, dass „der allgemeine psychische Druck in der unmittelbaren Konfrontation mit dem Angeschuldigten für sich allein nicht als zwingender Grund“ (S. 6) für ein Abweichen vom Grundsatz der Parteiöffentlichkeit anzuerkennen ist. Dies deshalb, weil naturgemäss fast jede belastende Aussage eines
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Bereits die vor Erlass der Strafprozessordnung ergangene Rechtsprechung zu Einschränkungen des Konfrontationsrechts des Angeklagten bettete konkret aufgeführte Rechtsgüter und einzelne Fallgruppen, für die eine Einschränkung des Konfrontationsrechts in Betracht kommen konnte, in offen gestaltete Formulierungen für mögliche Einschränkungsgründe ein: Unter Aufgreifen der Rechtsprechung des EGMR2905 wurde eine Einschränkung des Konfrontationsrechts des Angeklagten für zulässig gehalten, wenn dies „zur Wahrung schutzwürdiger Interessen“2906 erforderlich, durch „besondere Umstände“,2907 namentlich durch den Opfer- und Zeugenschutz,2908 geboten bzw. wenn eine Konfrontation „aus objektiven, von den Strafverfolgungsbehörden nicht zu vertretenden Gründen nicht möglich“2909 gewesen ist. Den „gewisse(n) Konflikt“2910 berücksichtigend, der zwischen den Zeugenrechten und -interessen und den Rechten und Interessen der Verteidigung besteht und der nach einer Abwägung zwischen diesen verlangt,2911 sind als ebensolche besonderen Ein-
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Zeugen bzw. Mitangeschuldigten mit gewissen Unannehmlichkeiten oder gar Nachteilen verbunden ist, weshalb „nur in besonders gravierenden Ausnahmefällen …“, die durch eine jedenfalls „… besonders qualifizierte(n), insbesondere auch die Aussagebereitschaft beeinflussende(n) Einschüchterung“ (S. 7) gekennzeichnet sind, eine Einschränkung des Fragerechts in Betracht kommen kann; siehe aus dem Schrifttum WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 149 N 7; WEHRENBERG, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 149 N 12, wo als Beispiel für andere schwere Nachteile u.a. die Bedrohung der wirtschaftlichen Existenz oder die drohende Verletzung der sexuellen Integrität genannt sind. WEHRENBERG, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 149 N 12: „von einiger Bedeutung“ und mit dem Hinweis, dass eine bloss entfernte oder abstrakte Gefahr nicht genüge, sondern eine konkrete Gefahr vorliegen müsse; siehe dazu auch WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 149 N 9; ACKERMANN/CARONI/ VETTERLI, AJP 2007, S. 1074: „konkrete objektive Gründe“ (Hervorhebung Ackermann/Caroni/Vetterli). Siehe etwa BGE 131 I 476, S. 481; BG, 6B_708/2007, E. 4.4.2 BGE 133 I 33, S. 41; siehe auch BGE 132 I 127, S. 129. BG, 6B_45/2008 E. 2.5; siehe auch BG 6B_802/2007, E. 2.1; BG, 6B_708/2007, E. 4.4.2; BGE 131 I 476, S. 481; BGE 124 I 274, S. 285: „… Es kann mit der Natur eines fairen Verfahrens unter besonderen Umständen vereinbar sein, von einer solchen Befragung abzusehen …“ Siehe etwa BG, 6B_45/2008, E. 2.4, 2.5. BGE 133 I 33, S. 41; siehe auch BGE 132 I 127, S. 129. BGE 131 I 476, S. 485. BGE 131 I 476, S. 484, 485, E. 2.3.2: Mit Blick auf den Opferschutz wird betont, dass „die Interessen der Verteidigung und diejenigen des Opfers im Lichte von Art. 8 EMRK gegeneinander abgewogen werden müssen“ (S. 284); siehe auch KLEY, AJP 2000, S. 177 f.: „auf der einen Seite (geht es) um den Zeugenschutz und auf der andern Seite um die Wahrung der Parteirechte des Angeklagten“ (S. 177).
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
schränkungsgründe sowohl solche tatsächlicher als auch rechtlicher Natur anerkannt: Als Einschränkungsgründe sind von der Rechtsprechung insofern etwa der Fall des Todes oder der Einvernahmeunfähigkeit des Zeugen,2912 die Unauffindbarkeit des Zeugen trotz angemessener gerichtlicher Nachforschungen2913 oder eine für den Zeugen gegebene Unzumutbarkeit wegen grosser Entfernung genannt.2914 Hinzutreten die Fallgruppen der Aussageverweigerung durch sog. aussageunwillige Zeugen2915 und der berechtigten Ausübung von 2912
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Siehe bereits BGE 105 Ia 396, S. 397; auch in BGE 124 I 274, S. 285 und BGE 125 I 127, S. 136 wurden der Tod des Zeugen und dessen vorübergehende oder dauernde Einvernahmeunfähigkeit zu den „besonderen Umständen“ (BGE 125 I 127, S. 136) gezählt, unter denen „vom Grundsatz der direkten Befragung abgewichen werden könne(n) und … auf ein früheres Zeugnis abgestellt werden“ (BGE 125 I 127, S. 136) dürfe. Das BG wiederholte, dass es nicht dem Sinn der Konvention entsprechen könne, „den Angeklagten in einem Mordprozess freizusprechen und eine Zeugenaussage unberücksichtigt zu lassen, wenn der Tatzeuge vor der Konfrontation, aber nach der polizeilichen Befragung stirbt“ (BGE 125 I 127, S. 136); siehe auch bereits BGE 105 Ia 396, S. 397. Zur tatsächlichen Unmöglichkeit der direkten Konfrontation im Falle der Unauffindbarkeit des Zeugen und zu den diesbezüglichen Anforderungen an die gerichtlichen Nachforschungsbemühungen siehe etwa BG, 6B_45/2008, E. 2.5; BGE 124 I 274, S. 285; BGE 125 I 127, S. 136 mit Verweis auf die Rechtsprechung des EGMR; KassG, ZR 100 (2001) Nr. 13, S. 37. Der „unbekannte Aufenthalt des Zeugen“, ZR 88 (1989) Nr. 3, S. 6, d.h. das Moment, dass der Zeuge „unerreichbar bzw. unauffindbar ist“, ZR 98 (1999) Nr. 63, S. 305, wurde in der schweizerischen Rechtsprechung bereits früh als weitere Fallgruppe für eine mögliche Einschränkbarkeit des Fragerechts diskutiert, siehe auch etwa BGE 124 I 274, S. 285; BGE 125 I 127, S. 136 mit Verweis auf die Rechtsprechung des EGMR; KassG, ZR 100 (2001) Nr.13, S. 37: Dies jedoch nur unter der einschränkenden Voraussetzung, dass die Strafverfolgungsbehörden „das ihnen Zumutbare unternommen haben“ (S. 37; vgl. auch ZR 98 (1999) Nr. 63, S. 306 in Verbindung mit der Fallgruppe der nachträglichen Aussageverweigerung), um die betreffende Person ausfindig zu machen und zu einer Aussage zu bewegen. Dieses Erfordernis angemessener Nachforschungen der Strafverfolgungsbehörden als Ausdruck dessen, dass die Einschränkung des Konfrontationsrechts des Angeklagten nicht auf fehlender staatlicher Sorgfalt beruhen darf, wird für die Fallgruppe der tatsächlichen Unauffindbarkeit – aber auch für weitere Fallgruppen – auch in der jüngeren Rechtsprechung betont, siehe etwa BGE 131 I 476, S. 481, 482, 483; BG 6B_45/2008, E. 2.5.; zur Unzumutbarkeit wegen zu grosser Entfernung und zu den sog. Auslandszeugen siehe zudem BGE 105 Ia 396, S. 397; BGE 118 Ia 462, S. 470; BGE 125 I 127, S. 136, 137. Siehe zur Fallgruppe der sog. aussageunwilligen Zeugen, welche nicht bereit sind, als Zeuge auszusagen und etwaige (Ergänzungs-)Fragen des Angeklagten zu beantworten, auch die Rechtsprechungsänderung des Kassationsgerichts: In KassG, ZR 88 (1989) Nr. 3 hiess es noch, dass für den Fall, dass der Mitbeschuldigte „indessen end-
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Zeugnisverweigerungsrechten,2916 die Fallgruppe des in der schweizerischen Rechtsprechung betonten Schutzes der persönlichen Sicherheit von Zeugen mit dem damit verbundenen Schutz des Zeugen vor Repressalien2917 und die
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gültig (auch in seiner Eigenschaft als Zeuge) jede Aussage und damit auch die Beantwortung von Ergänzungsfragen verweigern (sollte), … seine früheren Aussagen nicht verwertet werden (dürfen), soweit sie den Beschwerdeführer belasten“ (S. 8). Da die Aussageverweigerung des Mitbeschuldigten die Ausübung der Verteidigungsrechte faktisch verunmögliche, müsse dies zur Nichtberücksichtigung der früheren Aussagen führen; kritisch dazu etwa SCHMID, S. 207 N 622; MÜLLER-HASLER, S. 175 FN 20. Unter Aufgabe dieser früheren Auffassung hiess es sodann in KassG, ZR 98 (1999) Nr. 63, dass für den Fall, dass „eine Auskunftsperson – wozu sie … ohne weiteres berechtigt ist – ihre Aussage bzw. die Beantwortung von Ergänzungsfragen …“ verweigert, „… es sich im Ergebnis nicht anders (verhält), als wenn sie – trotz entsprechender Bemühungen der Strafverfolgungsbehörden – gar nicht erschienen, d.h. nicht erreichbar wäre“ (S. 306). Nach geänderter Auffassung des KassG ist der Fall der (nachträglichen) Aussageverweigerung „demjenigen der Unerreichbarkeit der Auskunftsperson gleichzustellen, soweit die Strafverfolgungsbehörden das ihnen Zumutbare unternommen haben, um die Auskunftsperson zur Aussage zu veranlassen, d.h. wenn sie die Auskunftsperson vorgeladen bzw. vorgeführt haben“ (S. 306). Mit dem Erfordernis zumutbarer gerichtlicher Bemühungen, den Zeugen zum Erscheinen und zur Aussage zu veranlassen, welches das KassG auch für die Fallgruppe der aussageunwilligen Zeugen aufstellte, wird der Gesichtspunkt eines staatlichen Vertretenmüssens aufgegriffen: Das KassG betonte insofern ausdrücklich, dass § 14 ZH StPO und der durch diese Bestimmung konkretisierte Anspruch auf rechtliches Gehör sich „ausschliesslich an die staatlichen Strafbehörden und nicht an die zu befragenden Personen“ (S. 304) richteten. Die blosse Aussageverweigerung durch den Mitangeschuldigten allein könne daher nicht als Beeinträchtigung der Verteidigungsrechte bezeichnet werden, „denn weder die Weigerung des Mitangeschuldigten, seine früheren Aussagen zu wiederholen, noch diejenige, die vom Angeschuldigten oder dessen Verteidiger gestellten Ergänzungsfragen zu beantworten, habe der Staat zu vertreten“ (S. 304). Siehe zur berechtigten Ausübung von Zeugnisverweigerungsrechten als besonderer Umstand, der nach Ansicht des BG zu einer Einschränkung des Anspruchs des Angeklagten auf Konfrontation mit dem Belastungszeugen führen kann, die meist nur kurzen Anmerkungen etwa in BG 6B_45/2008, E. 2.4; BG 6B_802/2007, E. 2.1; BG 6B_708/2007, E. 4.4.2; BGE 131 I 476, S. 481; BGE 125 I 127, S. 136; BGE 124 I 274, S. 285. Hiess es in BGE 105 Ia 396 nur kurz, dass ein einer Zeugenkonfrontation entgegenstehender Grund auch vorliegen kann, „wenn sich der Zeuge vor dem Angeklagten fürchtet“ (S. 397, siehe auch BGE 125 I 127, S. 136), so fanden sich in BGE 118 I 457 bereits nähere Hinweise auf die Anforderungen an die Belegbarkeit jener Furcht vor dem Angeklagten: So sei ein schutzwürdiges Interesse an einer Einschränkung des Fragerechts, hier in Form der Wahrung der Zeugenanonymität, auch beim Vorliegen „befürchtete(r) Repressalien“ (S. 460) gegeben. Der blosse Umstand, dass die Anzeiger bei Identitätsbekanntgabe möglichen Repressalien seitens des Angeklagten ausgesetzt seien, genügte dem BG jedoch nicht. Vielmehr prüfte es weitergehend, ob das
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Bestehen jener befürchteten Repressalien auch hinreichend belegt und konkretisiert ist, siehe S. 460. Aufgegriffen wurde dies in BGE 125 I 127, wo es hiess, dass der Schutz von Zeugen in neuerer Zeit zunehmende Aufmerksamkeit gefunden habe, was auch „im Zusammenhang mit den Schwierigkeiten der Strafverfolgung und Verbrechensbekämpfung im Bereich des organisierten Verbrechens und des Terrorismus“ (S. 141) stehe. Mit zunehmender Zeugengefährdung steige aber auch das Bedürfnis nach wirksamem Zeugenschutz und es gelte, „diese Personen – als Korrelat zu der als Bürgerpflicht bezeichneten Zeugnispflicht – allgemein in ihrer Persönlichkeit und speziell vor Belästigung, Einschüchterung, Repressalien, Bedrohung und langfristigen Nachteilen zu schützen“ (S. 142). Anerkennenswerte Interessen für eine Einschränkung des Konfrontationsrechts hielt das BG für gegeben, wenn Zeugen „in ihrer persönlichen Freiheit gefährdet werden, wenn sie selbst oder ihre Familie bedroht werden oder entsprechende Repressalien befürchten müssen. Gleichen Befürchtungen können Opfer von Straftaten aus dem Umfeld des organisierten Verbrechens und des Terrorismus bzw. im Bereich von Sittlichkeitsdelikten ausgesetzt werden. Es handelt sich dabei um Interessen, die sowohl durch die Konvention als auch durch die Verfassung geschützt werden“ (S. 138). BGE 132 I 127 beschäftigte sich mit der Frage, Zeugen „um ihrer Sicherheit Willen“ (S. 133) Anonymität zuzusichern, und hob zu Recht hervor, dass – wenn auch die Gesetzesmaterialien den Einsatz anonymer Zeugen in erster Linie in Verfahren im Bereich der organisierten Kriminalität, des Drogenhandels, der Milieukriminalität oder gegen Terroristen zum Schutz vor Repressalien aus dem Umfeld des Beschuldigten vorgesehen haben (S. 132, 133) – der Einsatz anonymer Zeugen „auch in anderen Strafverfahren zuzulassen …“ ist, in denen „… die im Wesentlichen gleiche konkrete Gefahr besteht, dass die Belastungszeugen Racheakten des Angeschuldigten ausgesetzt sein könnten“ (S. 133). Dieser vom BG befürwortete Zeugenschutz vor Repressalien und Racheakten des Angeklagten und aus dessen Umfeld unabhängig von der Art und Schwere des in Frage stehenden Delikts und nicht begrenzt auf bestimmte Deliktsbereiche, wie etwa auf Verfahren gegen Mitglieder krimineller Organisationen oder Terroristen, ist zu begrüssen, da sich die Frage nach dem Zeugenschutz aufgrund hinreichend belegter und konkreter Zeugengefahren nicht allein in Verfahren wegen besonders schwerer Delikte oder besonderer Deliktsarten stellt, sondern sich in einem jeden Strafverfahren stellen und Anlass zu Einschränkungen des Konfrontationsrechts des Angeklagten sein kann. Zur Furcht des Zeugen vor dem Beschuldigten siehe auch BG 6B_45/2008, E. 2.4. Auch in der Rechtsprechung des KassG findet sich die Fallgruppe der „Furcht vor Vergeltung“ (KassG, ZR 86 (1987) Nr. 87, S. 208) einschliesslich der besonderen Anforderungen an die Konkretisiertheit und Belegbarkeit wieder, siehe etwa KassG, ZR 88 (1989) Nr. 3; KassG, ZR 94 (1995) Nr. 65. Zur – nicht den Prüfungspunkt des sachlich gerechtfertigten Grundes betreffenden – weiterführenden Frage einer Zeugenanonymisierung als einer möglichen Form der Einschränkung des Konfrontationsrechts und hierbei zur Frage einer Begrenzung der Zeugenanonymisierung auf «Nicht-Bagatell-Fälle» siehe ACKERMANN/CARONI/VETTERLI, AJP 2007, S. 1081 f.; zudem WEHRENBERG, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 149 N 13.
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Fallgruppe der sog. sensiblen Zeugen2918 mit dem damit angesprochenen Schutz vor sekundären Viktimisierungen.2919 Zu nennen ist zudem die Fallgruppe des Schutzes von Verdeckten Ermittlern mit der diesbezüglich prob2918
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Siehe dazu etwa BGE 105 Ia 396, S. 397; BGE 118 Ia 457, S. 461; BGE 125 I 127, S. 136 ff. In BGE 125 I 127 wurden die Richtlinien des Ministerkomitees des Europarats aus dem Jahr 1997 erwähnt, welche sich neben den Zufallszeugen in erster Linie auf „Opferzeugen und tatbeteiligte Zeugen …“ beziehen, die „… oftmals als Einzige Zeugnis von einem Ereignis ablegen können und wegen ihrer schwachen Position und ihrer ausgesetzten Stellung eines besonderen Schutzes bedürfen“ (S. 145) bzw. in denen ein Kapitel – neben Massnahmen im Bereich des organisierten Verbrechens – speziell den „besonders schutzbedürftigen Zeugen aus dem Familienkreis wie Kinder, Frauen und ältere Leute“ (S. 144) gewidmet ist. Eine ausführliche Beschäftigung mit kindlichen und minderjährigen Opfern, insbesondere von Sexualdelikten, findet sich in BGE 129 I 151, wo das „Wissen um die Gefahr, dass Kinder durch wiederholte Einvernahmen gleich grosser, wenn nicht gar grösserer Schaden zugefügt werden kann als durch das vermeintliche Delikt selbst“ (S. 154) betont wurde. Das BG hob hervor, dass Kinder, die als Opfer über erlebte Straftaten auszusagen haben, dadurch „erneut mit schmerzhaften Erinnerungen an erlittene Verletzungen und Übergriffe konfrontiert …“ werden, was „… zur erneuten Traumatisierung bzw. Sekundärviktimisierung führen“ (S. 155) könne. Die Prüfung der besonderen Schutzbedürftigkeit jener speziellen Zeugengruppe knüpft insoweit an das kindliche bzw. minderjährige Alter als unmittelbares Persönlichkeitsmerkmal der Zeugenperson an. Mit der darüber hinausgehenden Betonung, dass „(B)esonders minderjährige Opfer von Sexualdelikten“ (S. 155) in Strafverfahren zu schützen seien, tritt zudem die Komponente hinzu, dass es besonders «sensible Deliktarten» gibt, die schon aufgrund der durch diese berührten besonders sensiblen Persönlichkeitsrechte eine Erhöhung des Schutzbedürfnisses der Opfer und Zeugen nahe legen bzw. vermuten lassen. Auch bei jenen sensiblen Deliktarten ist aber in jedem Einzelfall zu prüfen und zu belegen, ob tatsächlich eine besondere Sensibilität und Schutzbedürftigkeit des Zeugen gegeben sind, die nach einer Einschränkung des Konfrontationsrechts des Angeklagten verlangen. Die Zeugengruppe der besonders sensiblen Zeugen wird auch in der Rechtsprechung des KassG betont und für die Schutzbedürftigkeit des Zeugen an sensible Persönlichkeitsmerkmale, wie etwa das Alter des Zeugen oder den Umstand, dass der Zeuge das Opfer der Straftat ist, und/oder an besonders sensible Deliktarten, wie etwa Sexualdelikte, angeknüpft, siehe etwa KassG, ZR 96 (1997), Nr. 31, S. 85, 87; KassG, ZR 98 (1999), Nr. 63, S. 301, 305. Zur Unterscheidung zwischen den sog. gefährdeten Zeugen einerseits und den sog. sensiblen Zeugen andererseits siehe aus dem Schrifttum etwa WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 149 N 1; DEMKO, ZStrR 2004, S. 421 f.; WEIGEND, in: Verhandlungen des 62. Deutschen Juristentages, S. 27 ff., 46 ff.; zum gefährdeten Zeugen siehe ZACHARIAS, S. 87 ff.; siehe zu den Zeugenkategorien der Zufallszeugen, Opferzeugen, berufsmässigen Zeugen und Tatbeteiligten näher HUG, ZStrR 1998, S. 406 f.; zu Opferzeugen und gefährdeten Zeugen siehe FISCHER, JZ 1998, S. 818; zu den mit der sekundären Viktimisierung einhergehenden Gefahren siehe etwa SCHMOLL, S. 54 ff.
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lematischen – von der Rechtsprechung befürworteten und vom Schrifttum zutreffend kritisierten – Fragestellung, ob ein staatliches Interesse an der Weiterverwendung von Verdeckten Ermittlern als anzuerkennender Einschränkungsgrund genügend ist.2920 2920
Eine sich im Laufe der Rechtsprechungsentwicklung zunehmend verdichtende und bestätigende Ansicht, wonach schon das staatliche Interesse an der Weiterverwendung von verdeckten Ermittlern als in Betracht kommender Grund für eine Einschränkung des Konfrontationsrechts angesehen wird, zeigte sich in verschiedenen Entscheiden des BG: Bereits in BGE 112 Ia 24 hiess es, dass der Einsatz von V-Leuten im öffentlichen Interesse an der möglichst wirksamen Bekämpfung des Drogenhandels gerechtfertigt sei, woraus folge, dass „die Identität und die Ermittlungsmethoden solcher Fahndungshelfer im Strafverfahren nicht leichthin bekannt zu geben sind; denn dadurch würde ihr weiterer Einsatz praktisch weitgehend vereitelt“ (S. 24). Angesprochen, wenn auch hier vom BG noch nicht näher problematisiert, ist damit das sog. «Verbrennen» der V-Personen, welche im Falle ihrer Enttarnung für weitere Einsätze im Rahmen verdeckter Ermittlungen nicht mehr verwendbar wären. Ohne dies näher zu untersuchen oder gar in Zweifel zu ziehen, stellte das BG fest, dass die „Geheimhaltung der V-Leute … an sich weder gegen strafprozessuale Prinzipien noch gegen verfassungsmässige Rechte (verstösst)“ (S. 24). In späteren Entscheidungen sprach das BG im Zusammenhang mit der Nichtbekanntgabe der Identität bzw. dem Verzicht auf die Befragung von V-Personen als Zeugen von im Rahmen einer umfassenden Güterabwägung zu berücksichtigenden überwiegenden schutzwürdigen Interessen (BGE 118 Ia 457, S. 460 f., BG, EuGRZ 1995, 250, S. 253), die es zum einen für gegeben hielt im Falle befürchteter Repressalien von Seiten des Angeklagten (BGE 118 Ia 457, S. 460) und von damit betroffenen, nicht leichthin von der Hand zu weisenden persönlichen Interessen des Zeugen (BG, EuGRZ 1995, 250, S. 253). Zum anderen sei an solche überwiegenden schutzwürdigen Interessen im Umfeld des organisierten Verbrechens und des Terrorismus (BGE 118 Ia 457, S. 461; BG, EuGRZ 1995, 250, S. 253) und beim „sachgerechten Einsatz von Methoden der verdeckten Fahndung («V-Männer»)“ (BGE 118 Ia 457, S. 461) zu denken und es seien „das polizeiliche Interesse am Einsatz und Schutz seiner V-Leute wie das öffentliche Interesse an der Sicherheit des Beamten und einer wirksamen Bekämpfung der schweren Betäubungsmittelkriminalität zu berücksichtigen“ (BG, EuGRZ 1995, 250, S. 253, 254). Mit dem Hinweis zum einen auf die bestehende Repressaliengefahr für persönliche Rechtsgüter der V-Person und zum anderen auf die das staatliche Interesse am weiteren Einsatz verdeckt ermittelnder V-Personen beeinträchtigende Gefahr des «Verbrennens» jener V-Personen wird deutlich, dass das BG nicht schon den Umstand des Einsatzes verdeckter Ermittlungen per se als hinreichenden sachlichen Grund für eine Einschränkung des Konfrontationsrechts des Angeklagten anerkannte. Vielmehr suchte es tiefer gehend auch für die spezielle Zeugengruppe der Verdeckten Ermittler nach den ausschlaggebenden Kriterien, die seiner Ansicht nach für eine Einschränkung des Konfrontationsrechts anzuerkennen sind. Eine klarere Stellungnahme zu jenen Kriterien findet sich sodann in BGE 125 I 127, wo das BG unter Bezugnahme auf die Empfehlung des Ministerkomitees des Europarates aus dem Jahre 1997 darauf hinweist, dass das Zeugenschutzbedürfnis nicht nur für Zufallszeugen, Opferzeugen und tatbe-
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Der in der schweizerischen Rechtsprechung bereits vor Erlass der Strafprozessordnung und ebenso nunmehr in Art. 149 Abs. 1 StPO zum Ausdruck kommende Gedanke des Zeugenschutzes als Grund für mögliche Beschränkungen des Konfrontationsrechts des Angeklagten setzt sich in den Art. 150 – 156 StPO – zum Schutz verdeckter Ermittler in Art. 151 StPO, zu allgemeinen Massnahmen des Schutzes von Opfern in Art. 152 StPO, zu besonderen Schutzmassnahmen für Opfer von Straftaten gegen die sexuelle Integrität in Art. 153 StPO, zu besonderen Massnahmen zum Schutz von Kindern als Opfer in Art. 154 StPO sowie zu Massnahmen zum Schutz von Personen mit einer psychischen Störung in Art. 155 StPO – fort.2921 Weitere Bestimmungen, aus denen sich Einschränkungen des Konfrontationsrechts ergeben können, sind zudem die Regelungen in den Art. 144 Abs. 1, 145, 147 Abs. 3 S. 2
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teiligte Zeugen gilt, sondern auch V-Personen umfasst, „deren Schutzbedürfnis durch ihren Dienst für die Strafverfolgungsbehörden und die Exponiertheit ihrer Tätigkeit nicht geringer ist“ (S. 145). Der Umstand des damit grundsätzlich anzuerkennenden und zu gewährleistenden Zeugenschutzes betrifft somit sowohl „die Zeugen im Allgemeinen …“ als auch „… die V-Personen im Dienste der Polizei im Speziellen“ (S. 146). Als „gute Gründe“ (S. 157) für das zu wahrende Schutzbedürfnis von VPersonen bejaht das BG nun zum einen den Umstand, die V-Personen vor „allfällige(n) Pressionen von dritter Seite“ (S. 157), d.h. „in ihrem privaten Bereich vor Repressalien und Druckausübung“ (S. 146, siehe auch S. 138) zu schützen. Als gleichfalls anzuerkennender guter Grund ist aber zum anderen auch der im öffentlichen Interesse am Schutz der V-Personen stehende Umstand anzusehen, dass die V-Personen „auch nach abgeschlossenem Verfahren noch weiterhin im Dienste der Polizei eingesetzt werden können“ (S. 138) und „ein späterer Einsatz im Dienste der Strafverfolgungsbehörden nicht gefährdet oder verunmöglicht“ (S. 146) wird. In der schweizerischen Rechtsprechung kristalliert(e) sich damit zunehmend die Ansicht heraus, dass auch bereits das staatliche Interesse an der Wahrung der beruflichen Integrität und der Weiterverwendung der verdeckten Ermittler als Grund für eine Einschränkung des Konfrontationsrechts angesehen wird. Zweifelhaft ist dies nicht nur mit Blick auf die Rechtsprechung des EGMR und die von Art. 6 III d EMRK aufgestellten Anforderungen an die sachlich gerechtfertigten Gründe, sondern zudem dürfte diese schweizerische Rechtsprechung mit den von Art. 149 Abs. 1 StPO aufgestellten Anforderungen nicht mehr vereinbar sein, siehe zur entsprechenden Kritik auch zutreffend ACKERMANN/CARONI/VETTERLI, AJP 2007, S. 1074; WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 149 N 8: „kann unter der Geltung des Abs. 1 nicht mehr aufrechterhalten werden“; siehe zur verdeckten Fahndung, verdeckten Ermittlung und zu VLeuten zudem THOMANN, ZStrR 1993, S. 285 ff.; HANSJAKOB, ZStrR 2004, S. 97 ff.; ALBRECHT, AJP 2002, S. 632 ff.; ALBRECHT, plädoyer 1987, S. 25 ff.; BLÄTTLER, AJP 2002, S. 635 f. Zu den Regelungen zu innerprozessualen Schutzmassnahmen in den Art. 149–155 StPO tritt die Regelung des Art. 156 StPO, die den ausserprozessualen Schutz betrifft, sich hier aber auf die Begründung einer Kompetenz für Bund und Kantone begrenzt, solche ausserprozessualen Schutzmassnahmen zu regeln.
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und 148 Abs. 1 StPO.2922 Beschränkt ist der „als Korrelat zu der als Bürgerpflicht bezeichneten Zeugnispflicht“2923 im schweizerischen Strafverfahren zu gewährende wirksame Zeugenschutz dabei nicht allein auf die einzuvernehmende Zeugenperson selbst: Wie dem Art. 149 Abs. 1 StPO zu entnehmen ist, werden von dem zu gewährenden wirksamen Zeugenschutz über die konkrete Zeugenperson hinaus auch weitere, mit der Zeugenperson in persönlichen Beziehungen stehende Personen erfasst.2924 Ebenso muss – wie es die offen und weit gehaltene Formulierung «durch die Mitwirkung im Verfahren» in Art. 149 Abs. 1 StPO nahelegt – die Gefährdung für Leib und Leben oder ein anderer schwerer Nachteil für den Zeugen oder mit ihm in persönlichen Beziehungen stehenden Personen mit deren Verfahrensmitwirkung in einem sachlichen Zusammenhang stehen: Dies kann gegeben sein sowohl, wenn mit Blick auf die Zeugeneinvernahme und -befragung die (drohende) Zeugengefährdung von dem Angeklagten selbst und/oder von Dritten als auch, wenn die (drohende) Zeugengefährdung – zu denken ist an die Fallgestaltungen der sekundären Viktimisierung – von dem Strafverfahren an sich ausgeht.
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Was die besonderen Qualitätsanforderungen hinsichtlich der Gründe für eine Einschränkung des Konfrontationsrechts des Angeklagten betrifft, wird zudem zutreffend verlangt, dass der Umstand des tatsächlichen Vorliegens eines solchen Einschränkungsgrundes über ein nur abstrakt mögliches Gegebensein hinausgehend ausreichend belegt und konkret nachgewiesen sein muss:2925 Mithin genügen eine nur abstrakte Gefahr und nicht näher substantiierte und belegte rein subjektive Angstgefühle nicht.2926 Weiterhin wird bei den nicht
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Zur näheren Darstellung der einzelnen Bestimmungen siehe sogleich die Ausführungen im fortlaufenden Haupttext. BGE 125 I 127, S. 142. Siehe die Bezugnahme in Art. 149 Abs. 1 StPO auf Art. 168 Abs. 1-3 StPO: «oder eine Person, die mit ihr oder ihm in einem Verhältnis nach Artikel 168 Absätze 1-3 steht»; siehe auch aus der Rechtsprechung etwa BGE 125 I 127, S. 138: „wenn sie selbst oder ihre Familie bedroht werden oder entsprechende Repressalien befürchten müssen“. Siehe aus der Rechtsprechung des BG etwa BGE 132 I 127, S. 133 E. 4.2: „durchaus nachvollziehbar“ und „konkrete Gefahr“; BGE 133 I 33, S. 38, E. 2.3: „überzeugende Hinweise“; BGE 108 Ia 457, S. 460; aus der Rechtsprechung des KassG siehe etwa KassG, ZR 81 (1982) Nr. 22, S. 285, 288; KassG, ZR 94 (1995) Nr. 65, S. 198, 206; siehe auch die Formulierung in Art. 149 Abs. 1 StPO: «(B)esteht Grund zur Annahme», die im Sinne des von der Rechtsprechung betonten Erfordernisses des Vorliegens eines hinreichend belegten konkreten Grundes für die Einschränkung des Konfrontationsrechts auszulegen ist. Siehe dazu auch WEHRENBERG, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 149 N 12 mit dem Hinweis, dass eine bloss entfernte oder abstrakte Gefahr nicht genüge, sondern eine konkrete Gefahr vorliegen müsse; WOHLERS, in: DONATSCH/HANS-
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absolut unabänderbaren Einschränkungsgründen – etwa bei der Fallgruppe der Unauffindbarkeit des Zeugen trotz angemessener Nachforschungen,2927 der Aussageverweigerung durch aussageunwillige Zeugen2928 oder der Sperrung von V-Personen2929 – als zusätzliches Erfordernis für die Anerkennung
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JAKOB/LIEBER, Art. 149 N 9: Erforderlich sind „konkrete Anhaltspunkte“ und „rein subjektive Bedrohungsängste sowie der nicht näher substanziierte und konkretisierte Hinweis auf in gewissen Kreisen nicht unübliche Repressionen“ sind nicht ausreichend; ACKERMANN/CARONI/VETTERLI, AJP 2007, S. 1074: „konkrete objektive Gründe“ (Hervorhebung Ackermann/Caroni/Vetterli). Siehe etwa BG 6B_45/2008, E. 2.5: „trotz angemessener Nachforschung unauffindbar geblieben“; KassG, ZR 100 (2001) Nr. 13, S. 37, wo als zusätzliche einschränkende Voraussetzung verlangt wird, dass die Strafverfolgungsbehörden „das ihnen Zumutbare unternommen haben“ (S. 37), um die betreffende Person ausfindig zu machen und zu einer Aussage zu bewegen; siehe auch KassG, ZR 98 (1999) Nr. 63, S. 306 in Verbindung mit der Fallgruppe der nachträglichen Aussageverweigerung. Siehe etwa KassG, ZR 98 (1999), Nr. 63, S. 306, wonach der Fall der (nachträglichen) Aussageverweigerung demjenigen der Unerreichbarkeit der Auskunftsperson gleichzustellen sei, „soweit die Strafverfolgungsbehörden das ihnen Zumutbare unternommen haben, um die Auskunftsperson zur Aussage zu veranlassen, d.h. wenn sie die Auskunftsperson vorgeladen bzw. vorgeführt haben“ (S. 306). Siehe dazu etwa die ausführliche Auseinandersetzung des KassG in KassG, ZR 91/92 (1992/1993) Nr. 10: Das KassG wies darauf hin, dass sich das Gericht „mit einer behördlichen Sperrerklärung nicht ohne weiteres abfinden (darf), sondern … alle nach den Umständen des Falles gebotenen Bemühungen entfalten (muss), um das der Vernehmung des Informanten entgegenstehende Hindernis aus dem Weg zu räumen“ (S. 23). Unter Verweis auf die „Pflicht der Behörden zur Ermittlung der materiellen Wahrheit (Untersuchungsgrundsatz)…“, die „… im Strafprozess von grundlegender Bedeutung …“ ist und „… gleichermassen für die Untersuchungs- und Anklagebehörde wie für das Gericht (gilt)“ (S. 22), betonte das KassG, dass zu jenem Erfordernis des gerichtlichen Bemühens gehöre, dass sich das Gericht „nicht mit der Sperrerklärung einer unteren Behörde begnügt, sondern eine Entscheidung der obersten Dienstbehörde herbeiführt“ (S. 23). Das KassG stellte insofern ausdrücklich heraus, dass es der im Schrifttum vertretenen Ansicht „nur bedingt“ (S. 23) folge, wonach die Aussageverweigerung der vorgesetzten Polizeibehörde „durch das Strafgericht nicht überprüfbar …“, sondern nur durch den Betroffenen bei der vorgesetzten Dienststelle anfechtbar sei, weshalb „… die Überprüfungsmöglichkeiten, ob die Aussagegenehmigung begründeterweise verweigert worden sei, (faktisch) für Untersuchungs- wie Strafrichter sehr gering“ (S. 23) seien. Es differenzierte im Folgenden zwischen einer förmlichen und einer verwaltungsinternen Überprüfung der Sperrentscheidung, wonach der Sperrentscheid der zuständigen Dienstbehörde zwar „vom Gericht schon im Hinblick auf den Grundsatz der Gewaltenteilung formell nicht überprüfbar ist bzw. dass das Gericht der Verwaltung keine Anweisungen erteilen kann“ (S. 23). Ungeachtet dessen, dass das Gericht also „zur Anfechtung des Sperrentscheides nicht legitimiert erscheint“ (S. 23), schliesse dies jedoch nicht aus, dass „sich das Gericht als in der Sache befasstes Rechtspflegeorgan zumindest bemüht, eine Überprüfung des
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eines Einschränkungsgrundes als eines Grundes, der die Beschränkung des Konfrontationsrechts des Angeklagten zu rechtfertigen in der Lage ist, an das Moment der staatlichen Verantwortlichkeit, des staatlichen Vertretenmüssens der beschränkten Erreichbarkeit/der Unerreichbarkeit des Belastungszeugen angeknüpft2930 und es werden hier angemessene und zumutbare, eine hinreichende Sorgfalt beachtende Bemühungen seitens des Staates und der Strafverfolgungsbehörden mit Blick auf eine Erreichbarkeit des Belastungszeugen zu verlangen sein. Als weitere Bestimmungen der Strafprozessordnung neben dem Art. 149 Abs. 1 StPO, aus welchen sich Einschränkungen des Konfrontationsrechts
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Sperrentscheides bei der vorgesetzten Verwaltungsbehörde zu erwirken“ (S. 23). Das KassG sah damit das Erfordernis des gerichtlichen Bemühens nicht schon als erfüllt an, wenn vom Gericht etwaige zur Verfügung stehende förmliche/gerichtliche Überprüfungs- und Anfechtungsmöglichkeiten in Anspruch genommen werden bzw. wenn ebensolche mangels entsprechender gesetzlicher Grundlage nicht zur Verfügung stehen. Vielmehr gehörte es nach Ansicht des KassG darüber hinaus zu den gerichtlichen Bemühenspflichten, gegebenenfalls gesetzlich eingeräumten Möglichkeiten einer ‹nicht-förmlichen› Überprüfung durch die „Anrufung einer verwaltungsinternen Überprüfungsbehörde“ (S. 23) nachzugehen. Erst wenn das Gericht auch einer solchen nicht-förmlichen Verfahrensmöglichkeit, die eine, wenn auch nicht gerichtliche, so doch verwaltungsinterne Überprüfung der Zeugensperrung zulässt, nachgegangen ist, habe es nach Ansicht des KassG alles rechtlich Mögliche unternommen, um die Aufhebung der Zeugensperrung zu bewirken, und ist damit „der eigenen Pflicht zur Erforschung der materiellen Wahrheit“ (S. 24) hinreichend nachgekommen. Siehe dazu BGE 131 I 476, wo das BG nicht nur auf die Rechtsprechung des EGMR Bezug nimmt, wonach für die Verneinung einer Konventionsverletzung für den Fall der Unauffindbarkeit eines Zeugen angemessene Nachforschungen erforderlich sind und den „Gerichtsbehörden keine mangelnde Sorgfalt vorgeworfen werden“ (S. 482) darf. Vielmehr verweist das BG auch auf einen nicht in der Amtlichen Sammlung veröffentlichten Entscheid des BG, der eine Verletzung der Garantie des fairen Verfahrens in einem Fall der Unauffindbarkeit eines Zeugen angenommen hatte, welcher die Schweiz zwischenzeitlich verlassen hatte und nicht mehr aufgefunden werden konnte: Entscheidend war für das BG, dass „eine Konfrontation der Belastungszeugen mit dem Angeklagten im Untersuchungsverfahren möglich gewesen wäre, in einem Zeitpunkt, in welchem sich sowohl der Angeklagte als auch die Zeugen in Untersuchungshaft befanden“ (S. 483), siehe dazu das Urteil 1P.302/1996 vom 24. September 1996. Auch in BGE 129 I 151, wo der wegen sexueller Handlungen mit einem Kind Verurteilte dem Kind keine Ergänzungsfragen hatte stellen können, war für das BG für die Verletzung des Anspruchs des Angeklagten auf Befragung des Belastungszeugen u.a. entscheidend, dass die kantonalen Behörden den Umstand, dass der Angeklagte seine Rechte nicht (rechtzeitig) hatte wahrnehmen können, selbst zu vertreten hatten, siehe S. 158 E. 4.3.; siehe auch BGE 133 I 33, S. 41; BGE 132 I 127, S. 129, E. 2., in denen ausdrücklich von „objektiven, von den Strafverfolgungsbehörden nicht zu vertretenden Gründen“ die Rede ist.
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ergeben, sind die Art. 144 Abs. 1, 145, 147 Abs. 3 S. 2, 148 Abs. 1, 152 Abs. 3, 153 Abs. 2 und 154 Abs. 4 StPO genannt worden, von denen einige mit Blick auf die Frage einer sachlichen Rechtfertigung als in Betracht kommende Einschränkungsgründe zu kritischen Fragen Anlass geben: 1040
An die Person des einzuvernehmenden Zeugen anknüpfend lässt Art. 144 StPO eine Einschränkung des Konfrontationsrechts in Gestalt der Einvernahme mittels Videokonferenz zu, wenn das grundsätzlich erforderliche persönliche Erscheinen der einzuvernehmenden Person «nicht oder nur mit grossem Aufwand möglich» ist.2931 Auch der Verzicht auf die Wiederholung einer Beweiserhebung nach Art. 147 Abs. 3 S. 2 StPO, an der aus zwingenden Gründen nicht teilgenommen werden konnte, stützt sich auf die Unmöglichkeit einer Wiederholung – etwa bei zwischenzeitlichem Tod oder Unauffindbarkeit des Zeugen2932 – oder auf einen «unverhältnismässigen Aufwand» für die Durchführung der Wiederholung, wofür als Beispiel die Anreise des einzuvernehmenden Zeugen von weither angeführt wird.2933 Eine Einschränkung des Konfrontationsrechts des Angeklagten aus Gründen tatsächlicher oder rechtlicher Unmöglichkeit ist insofern zu recht als zulässig anzusehen. Jedoch ist einer – jedenfalls vorschnell für zulässig gehaltenen – Einschränkung des Konfrontationsrechts gestützt auf den – noch dazu vage und unbestimmt formulierten – Grund eines «grossen bzw. unverhältnismässigen Aufwandes» mit Blick auf die in einem Strafverfahren anzustrebende bestmögliche Gewährleistung der Verteidigungsrechte und die hier möglichst «optimale», d.h. uneingeschränkte Ausübung des Konfrontationsrechts des Angeklagten kritisch zu begegnen und eine solche Einschränkung des Konfrontationsrechts nur mit grosser Vorsicht und Zurückhaltung zuzulassen.2934 2931
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Siehe auch GODENZI, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 144 N 11: „der sachliche Grund …, dass das persönliche Erscheinen der einzuvernehmenden Person nicht oder nur mit grossem Aufwand möglich ist“ (Hervorhebung Godenzi). Siehe Botschaft, S. 1187. Siehe Botschaft, S. 1188. Siehe zur Auslegung des «nur mit grossem Aufwand» in Art. 144 StPO als eines sachlichen Grundes, welcher zu einer Beschränkung des Konfrontationsrechts führt, auch HÄRING, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 144 N 2, 5, 6: „bloss subsidiäre Möglichkeit und sollte die Ausnahme bleiben“ (N 2, hier kursive, im Originaltext fettgedruckte Hervorhebung Häring), siehe dort auch die Hinweise darauf, dass der grosse Aufwand in „personeller, zeitlicher oder finanzieller Hinsicht“ (N 5) bestehen könne, jedoch zumindest innerstaatlich rein örtliche Hindernisse (N 6) nicht gegen eine unmittelbare direkte Einvernahme sprechen dürften, dass des Weiteren die Unverhältnismässigkeit des Aufwandes nicht allgemein, sondern bezogen auf den Einzelfall (N 5) und der Aufwand „in Relation zur Bedeutung der Einvernahme im gesamten Verfahrenskontext und zur grundsätzlichen Gewichtung des Verfahrens“ (N 5) zu beurteilen seien, und dass zudem eine audiovisuelle Einvernahme bei internationalen Verhältnissen oder Gesundheitsproblemen der einzuvernehmenden Person
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Bedenklich ist zudem die Regelung des Art. 145 StPO, nach der die Strafbehörde eine einzuvernehmende Person einladen kann, an Stelle einer Einvernahme oder zu ihrer Ergänzung einen «schriftlichen Bericht» abzugeben, und welche – zumindest vom Gesetzeswortlaut her – eine Beschränkung des Konfrontationsrechts des Angeklagten auch ohne Vorliegen von an die Person des einzunehmenden Belastungszeugen anknüpfenden Gründen für möglich zu halten scheint. Soll diese Regelung laut Botschaft vor allem bei Massendelikten und Auskünften technischer Art zur Anwendung kommen und werden zudem das Argument der Zeitersparnis und das Argument, dass sich technische Auskünfte unter Umständen schriftlich besser als mündlich erteilen lassen, angeführt,2935 so scheint man sich der Problematik dieser Regelung dennoch bewusst gewesen zu sein: Denn es heisst in der Botschaft ausdrücklich, dass hinsichtlich der Möglichkeit der Abgabe schriftlicher Berichte bei „Personen, bei denen der persönliche Eindruck eine Rolle spielt, grosse Zurückhaltung angezeigt“2936 ist. Weder darf die Entgegennahme schriftlicher Berichte zur Einschränkung der Parteirechte führen und Zeugen, die schriftliche Berichte einreichen, sind auf Verlangen der beschuldigten Person auch mündlich einzuvernehmen.2937 Noch dürfen sich die Strafbehörden ihrer Pflicht zur Wahrheitsfindung (Art. 139 Abs. 1 StPO) und zur Klärung von Widersprüchen (Art. 143 Abs. 5 StPO) entledigen, weshalb bei Zweifeln an der Richtigkeit des schriftlichen Berichts oder wenn sich die Strafbehörde ein eigenes Bild von der einzuvernehmenden Person verschaffen möchte, eine zumindest ergänzende Einvernahme durchzuführen ist.2938 Bedenklich ist die Aufnahme einer Vorschrift in die Strafprozessordnung, welche ein Abweichen von der grundsätzlich mündlichen und in Anwesenheit des Angeklagten stattfindenden direkten Konfrontation ohne an das Erfordernis des Zeugenschutzes anknüpfende Gründe zulässt und dies noch dazu in das Ermessen der Strafbehörde stellt, nicht nur schon mit Blick auf deren Vereinbarkeit mit den vom EGMR aufgestellten Voraussetzungen für eine Einschränkung des Konfrontationsrechts, zu denen als erste Voraussetzung gerade das Vorliegen eines
2935 2936 2937 2938
denkbar sei (N 6); GODENZI, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 144 N 4, 10, 11: „Grösse des Aufwands ist in Relation zur Bedeutung der Einvernahme zu setzen“ (N 4), „nur in den Grenzen der Subsidiaritätsklausel gestattet“ (N 10); zur Auslegung des «unverhältnismässigen Aufwandes» in Art. 147 Abs. 3 S. 2 StPO siehe SCHLEIMINGER, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 147 N 19 mit den zutreffenden Hinweisen, dass die Voraussetzung des unverhältnismässigen Aufwandes „eng auszulegen“ (Hervorhebung Demko) ist und für die „Bedeutung des Teilhaberechts … entscheidend sein (wird), wie restriktiv die Voraussetzung des unverhältnismässigen Aufwands in der Praxis gehandhabt wird“. Botschaft, S. 1186. Botschaft, S. 1186 (Hervorhebung Demko). Botschaft, S. 1186. Botschaft, S. 1186.
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sachlich gerechtfertigten Grundes für die Konfrontationsrechtsbeschränkung gehört. Darüber hinaus steht auch die Gewährleistung der weiteren Einschränkungsvoraussetzung in Gestalt des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes und hier des Teilelements der Erforderlichkeit in Zweifel. Nicht zuletzt ist die in der Botschaft angeführte Begründung jener Vorschrift in sich widersprüchlich geführt, stellt doch die Entgegennahme schriftlicher Berichte – auch wenn diese laut Botschaft „nicht zur Einschränkung der Parteirechte führen (darf)“2939 – per se eine Einschränkung der Parteirechte, hier speziell des Konfrontationsrechts des Angeklagten, dar. Zudem ist die mündliche Zeugenbefragung durch den Angeklagten – wiederum entgegen der Formulierung in der Botschaft2940 – eben nicht nur in Abhängigkeit von einem etwaigen Verlangen des Angeklagten durchzuführen, sondern stellt gerade umgekehrt die im schweizerischen Strafverfahren grundsätzlich zu gewährende und hierbei nicht an ein etwaiges Verlangen des Angeklagten gebundene Form der Zeugenkonfrontation dar.2941 1042
Art. 148 StPO knüpft – jedenfalls vom Wortlaut her – die mit dieser Bestimmung einhergehende Beschränkung des Konfrontationsrechts an den Grund einer im Rahmen eines Rechtshilfegesuchs im Ausland stattfindenden Beweiserhebung an und lässt es in einem solchen Fall für das Teilnahmerecht der Parteien genügen («Genüge getan»), wenn die Parteien zuhanden der ersuchten ausländischen Behörde Fragen formulieren können, nach Eingang des erledigten Rechtshilfegesuchs Einsicht in das Protokoll erhalten und anschliessend schriftliche Ergänzungsfragen stellen können (Abs. 1 Buchst. a., b., c.), welche wiederum auf dem Rechtshilfeweg beantwortet werden.2942 Wenn auch der Wortlaut dieser Bestimmung auf sich auf die Zeugenperson beziehende Zeugenschutzgründe nicht Bezug nimmt, so ist die Bestimmung des Art. 148 StPO aber dennoch eingestellt in den Zusammenhang des Grundsatz-Ausnahmeverhältnisses vom grundsätzlich uneingeschränkt und nur im Ausnahmefall eingeschränkt ausübbaren Konfrontationsrecht zu lesen: 2939 2940 2941
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Botschaft, S. 1186. Botschaft, S. 1186: „wenn die beschuldigte Person es verlangt …“ Siehe zur Kritik an Art. 145 StPO auch GODENZI, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 145 N 10: Entscheidung des Gesetzgebers „in fragwürdiger Weise für eine einstweilige Suspendierung des Anwesenheitsrechts der Parteien bei der Beweiserhebung …: Es kann nun einmal kein Recht auf physische Teilnahme an einer Beweisabnahme geben, die gerade dazu gedacht ist, die persönliche Begegnung mit der einzuvernehmenden Person (vorläufig) zu substituieren …“ (hier kursive, im Originaltext fettgedruckte Hervorhebung Godenzi: «Beweiserhebung»; übrige Hervorhebung Demko); HÄRING, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 145 N 6, 11: Schriftliche Einvernahme sollte „nur sehr zurückhaltend Anwendung finden und die Ausnahme bleiben“ (N 6, hier kursive, im Originaltext fettgedruckte Hervorhebung Häring). Siehe dazu Botschaft, S. 1188.
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Dies bedeutet, dass für den Fall des Zulassens der Parteiteilnahme an der Beweiserhebung durch das ausländische Recht dem Angeklagten der grundsätzlich zu gewährende Anspruch auf eine uneingeschränkte Ausübung des Konfrontationsrechts mit physischer Anwesenheit und direkter Zeugenkonfrontation – und nicht nur das das Konfrontationsrecht einschränkende Recht auf Fragen zuhanden der Behörde (Abs. 1 Buchst. a.) und auf schriftliche Ergänzungsfragen (Abs. 1 Buchst. c.) – einzuräumen ist.2943 Speziell mit Blick auf den Opferschutz und die drei Opfergruppen2944 des Art. 152 StPO mit dessen allgemeinen Massnahmen zum Schutz aller Opfer, des Art. 153 StPO mit dessen besonderen Schutzmassnahmen für Opfer von Straftaten gegen die sexuelle Integrität sowie des Art. 154 StPO mit dessen besonderen Schutzmassnahmen für Kinder als Opfer sind mit den Regelungen in den Art. 152 Abs. 3 und 4 Buchst. a., Art. 153 Abs. 2 und Art. 154 Abs. 4 Buchst. a StPO Einschränkungen des Konfrontationsrechts verbunden, die zugunsten des Opferschutzes von einem eher weit zu verstehenden sachlichen Einschränkungsgrund ausgehen: Art. 154 Abs. 4 StPO verlangt insofern die Erkennbarkeit («Ist erkennbar»), dass die Einvernahme oder die Gegenüberstellung zu einer «schweren psychischen Belastung» für das Kind führen «könnte», und knüpft damit zwar noch an einen sich auf die Zeugenperson beziehenden Gefährdungsgrund an, welcher aber wegen der hier angelegten niedrigen Anforderungen zumeist und jedenfalls im Zweifelsfall anzunehmen ist.2945 Eine Gegenüberstellung dürfe dann – so die zweite Alternative von 2943
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Siehe dazu auch näher WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 148 N 4; siehe aus der Rechtsprechung auch BGE 125 I 127, S. 137: „… Sachliche Gründe, welche eine persönliche Konfrontation mit dem Belastungszeugen zumindest erschweren können, liegen vor, wenn die Einvernahme von Personen im Ausland kommissarisch vorgenommen werden muss. Der Beschuldigte hat diesfalls Anspruch darauf, Einsicht in das Protokoll zu nehmen und nachträglich schriftliche Ergänzungsfragen zu stellen, auch wenn er im konkreten Fall Gelegenheit zum Erstellen eines Fragenkataloges hatte und sein Rechtsvertreter bei der Einvernahme im Ausland zugegen war …“; BGE 118 Ia 462, S. 470: „... Sachliche Gründe, welche eine persönliche Konfrontation mit dem Belastungszeugen zumindest erschweren können, liegen auch dann vor, wenn sich der Belastungszeuge im Ausland im Strafvollzug befindet und auf dem Rechtshilfeweg einvernommen werden muss. Im Falle von sogenannten "kommissarischen" Einvernahmen von Zeugen im Ausland muss daher dem Angeschuldigten grundsätzlich das Einvernahmeprotokoll vorgelegt werden, und es ist ihm auf entsprechenden Antrag hin Gelegenheit zu geben, nachträglich schriftliche Ergänzungsfragen an den Belastungszeugen zu stellen …“ Siehe dazu WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 152 N 2. Siehe dazu Botschaft, S. 1191: „Die Formulierung («… erkennbar, dass (…) führen könnte») will im Übrigen zum Ausdruck bringen, dass an die Erkennbarkeit keine hohen Anforderungen gestellt werden; im Zweifelsfall sind Schutzmassnahmen zu treffen“ (Hervorhebung Botschaft); WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 154 N 9.
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Art. 154 Buchst. a StPO – «nur angeordnet werden, wenn … der Anspruch der beschuldigten Person auf rechtliches Gehör auf andere Weise nicht gewährleistet werden kann»,2946 was jedoch in der Praxis (etwa aufgrund der Möglichkeit einer audiovisuellen Übertragung) kaum vorstellbar ist,2947 so dass ein Vermeiden einer Gegenüberstellung und damit ein nur eingeschränkt ausübbares Konfrontationsrecht (eben etwa mittels einer Videovernehmung) in der Praxis die Regel bilden werden.2948 1044
Ein ebenso weites Verständnis des sachlichen Einschränkungsgrundes zugunsten des Opferschutzes und hierbei jedenfalls vom Wortlaut her sogar eine konkrete Gefährdung des Opfers nicht verlangend, ist den Regelungen des Art. 152 Abs. 3 und Abs. 4 Buchst. a. StPO und des Art. 153 Abs. 2 StPO zu entnehmen: In Art. 152 Abs. 3 StPO ist zwar der Grundsatz angelegt, dass das Opfer dem Angeklagten gegenüberzustellen ist, jedoch ist vom jenem Grundsatz schon dann abzuweichen, wenn das Opfer das Vermeiden einer Begegnung mit der beschuldigten Person «verlangt».2949 Bereits ein solches Verlangen des Opfers, ohne dass (zumindest vom Gesetzeswortlaut) darüberhinausgehende konkrete Gefährdungen (seien dies etwa solche der Fallgruppe des gefährdeten oder des sensiblen Zeugen) gegeben sein müssen, und damit ein weit verstandener Einschränkungsgrund zugunsten des Opferschutzes werden hier mit Bezug auf eine Vermeidung einer unmittelbaren Gegenüberstellung mit dem Angeklagten angelegt.2950 Unterstützt ist dies durch die (etwa wegen 2946 2947
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Hervorhebung Demko. Siehe dazu WEHRENBERG, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art.154 N 13: Unter Anführung u.a. der Möglichkeit von Videoübertragungen heisst es, dass „kaum Fälle denkbar (sind), in denen dem Anspruch der beschuldigten Person auf rechtliches Gehör nicht durch solche Ersatzmassnahmen Rechnung getragen werden kann“ (hier kursive, im Originaltext fettgedruckte Hervorhebung Wehrenberg); deutlich ebenso WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 154 N 11, wonach die unmittelbare Anwesenheit der beschuldigten Person „praktisch nie notwendig“ sein wird. Siehe dazu WEHRENBERG, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art.154 N 11, 13. Als Grundlage für eine Vermeidung von Begegnungen des Opfers mit der Verteidigung des Beschuldigten wird Art. 152 Abs. 3 StPO hingegen nicht angesehen und hierfür auf Art. 149 StPO und dessen Erfordernis einer konkreten Gefährdung verwiesen, siehe WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 152 N 11. Siehe dazu auch WEHRENBERG, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 152 N 19, 21, 22, 23: Zeugenschutzmassnahmen für das Opfer, „auch wenn die besonderen Voraussetzungen von Art. 149 ff. nicht vorliegen“ (N 19), Gegenüberstellung als „ultima ratio“ (N 21, hier kursive, im Originaltext fettgedruckte Hervorhebung Wehrenberg, siehe auch N 23) und Prüfung von „zunächst Ersatzmassnahmen“ (N 23); zudem WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 152 N 8 und 11: „wenn das Opfer dies wünscht“ (N 8), siehe auch betreff Schutzmassnahmen nach Art. 149 StPO in Bezug auf die Verteidigung des Beschuldigten den Hinweis darauf, dass „die An-
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der Möglichkeit von Videovernehmungen) in der Praxis jedoch kaum vorstellbare2951 Regelung in Abs. 4 Buchst. a, wonach eine Gegenüberstellung angeordnet werden kann, wenn der «Anspruch der beschuldigten Person auf rechtliches Gehör nicht auf andere Weise gewährleistet werden kann». Art. 153 Abs. 2 StPO, dem dieses weite Verständnis des sachlichen Einschränkungsgrundes zugunsten des Opferschutzes ebenfalls zu entnehmen ist, modifiziert diese Regelung des Art. 152 StPO sogar noch und bringt eine Umkehrung von der grundsätzlich stattzufinden habenden Gegenüberstellung mit dem Angeklagten zum Ausdruck: Art. 153 Abs. 2 StPO geht für den Fall, dass eine Gegenüberstellung mit dem Angeklagten dem Willen des Opfers nicht entspricht («gegen den Willen des Opfers»), von einer grundsätzlich zu vermeidenden Gegenüberstellung mit dem Angeklagten und damit von einer insoweit nur eingeschränkt möglichen Ausübung des Konfrontationsrechts als Grundsatz aus und bestimmt, dass eine Gegenüberstellung mit dem Angeklagten «nur» angeordnet werden dürfe, wenn – was ebenfalls in der Praxis kaum vorstellbar ist2952 – der «Anspruch der beschuldigten Person auf rechtliches Gehör nicht auf andere Weise gewährleistet werden kann».2953 bb)
Die für zulässig gehaltenen Einschränkungsformen und das Verhältnismässigkeits- und Ausgleichserfordernis
(1)
Mit dem Verhältnismässigkeits- und Ausgleichserfordernis verbundene Anforderungen
(1.1)
Die Beachtung des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes
Das Erfordernis des Vorliegens sachlich gerechtfertigter Gründe als für die Beurteilung der Rechtmässigkeit von Einschränkungen in der Ausübung des Konfrontationsrechts allein als nicht ausreichend ansehend, sind sowohl der Rechtsprechung vor Erlass der Strafprozessordnung als auch einzelnen Bestimmungen der nunmehr geltenden Strafprozessordnung zusätzliche Anforderungen zu entnehmen: Angesprochen sind zusätzliche Anforderungen zum einen mit Blick auf den zu wahrenden Verhältnismässigkeitsgrundsatz und zum anderen – wenn auch bezüglich letzterem in zurückhaltenderer Weise – mit Blick auf das ebenso zu beachtende Ausgleichserfordernis.
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2953
wesenheit der Verteidigung eine konkrete Gefährdungssituation bewirkt“ (Hervorhebung Demko). Siehe dazu WEHRENBERG, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 152 N 21, 22, 23; WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 152 N 12. Darauf ebenfalls hinweisend WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 153 N 5: «kaum denkbar». Siehe dazu WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 153 N 5; WEHRENBERG, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 152 N 20, 21.
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Hinsichtlich des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes verdeutlicht nicht nur die Strafprozessordnung in verschiedenen Bestimmungen, dass Einschränkungen in der Ausübung der Verfahrensrechte der Parteien und hiernach auch des Konfrontationsrechts des Angeklagten nur unter Beachtung des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes vorzunehmen sind. Zu nennen sind etwa Art. 149 Abs. 1 und 2 StPO, welcher von «geeigneten Schutzmassnahmen» und «angemessenen» Beschränkungen der Verfahrensrechte der Parteien spricht, und Art. 151 Abs. 2 StPO, in dem von den «notwendigen» Schutzmassnahmen die Rede ist. Der ebenso im Zusammenhang mit Einschränkungen des rechtlichen Gehörs nach Art. 108 StPO zum Ausdruck kommende2954 und auch in der Botschaft ausdrücklich betonte2955 Grundsatz, dass Einschränkungen der Verteidigungsrechte des Angeklagten verhältnismässig zu sein haben, um als rechtmässig angesehen werden zu können, ist zudem sowohl im Schrifttum anerkannt2956 als auch von der Rechtsprechung schon vor Erlass der Strafprozessordnung deutlich hervorgehoben worden: Die Rechtsprechung überprüft die im konkreten Einzelfall gegebene, das Konfrontationsrecht in einer bestimmten Weise einschränkende Massnahme mit Blick auf deren Verhältnismässigkeit unter Berücksichtigung der jeweiligen Fallumstände, insbesondere der Art und der Ursache der Zeugengefährdung und ihrer Auswirkung auf die konkret betroffene Zeugenperson.2957 Die sich stellende Frage, wie und in 2954
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Siehe Art. 108 Abs. 1 Buchst. b. StPO mit der Formulierung «erforderlich»; des Weiteren Art. 108 Abs. 2 StPO, nach dem nur dann, wenn der Rechtsbeistand selbst Anlass für die Beschränkung gibt, Einschränkungen gegenüber diesem zulässig sind; Art. 108 Abs. 3 StPO, nach dem Einschränkungen zu befristen oder auf einzelne Verfahrenshandlungen zu begrenzen sind, und Art. 108 Abs. 5 StPO, nach dem das rechtliche Gehör in geeigneter Form nachträglich zu gewähren ist, wenn der Grund für die Einschränkung weggefallen ist; siehe dazu auch ausdrücklich Botschaft, S. 1164: „Die Ausnahmen von Absatz 1 sind zurückhaltend und unter Beachtung des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes anzuwenden“. Siehe die ausdrücklichen Verweise auf den zu beachtenden Verhältnismässigkeitsgrundsatz in der Botschaft, S. 1164 und 1189. Siehe aus dem Schrifttum etwa WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 149 N 10 ff.; WEHRENBERG, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 149 N 6, 16. Siehe etwa BGE 133 I 33, S. 38, 42, 45: „erlaubt allerdings ausnahmsweise, zum Schutze der einzuvernehmenden Person geeignete Massnahmen zu treffen“ (S. 38, Hervorhebung Demko) und die Beschäftigung des BG mit der Frage des im konkreten Fall Notwendigen an Beschränkungen der Verteidigungsrechte des Angeklagten auf S. 42, bei der es in jenem Fall zu dem Ergebnis kam, dass es „zwingend notwendig (war) zu verhindern, dass neben dem Beschwerdegegner auch sein Verteidiger den Zeugen zu Gesicht bekam, da nach den Feststellungen des Geschworenengerichts der Beschwerdegegner dem Zeugen vom Sehen her bekannt war und es für jenen folglich ein Leichtes gewesen wäre, auf Beschreibung durch seinen Verteidiger den Zeugen zu identifizieren. Erweist es sich hier aufgrund dieser Umstände als notwendig, die Ano-
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welchem Masse das Konfrontationsrecht des Angeklagten im konkreten Einzelfall zulässig beschränkt werden kann, wird ausgerichtet an den „spezifischen Schutzbedürfnissen der Zeugen“2958 beantwortet: Anhand der konkreten Umstände des jeweiligen Einzelfalls ist hierbei zu beurteilen, welche der das Konfrontationsrecht des Angeklagten einschränkenden „Ersatzlösungen“2959 sich als die für den bestmöglichen Zeugenschutz und die „bestmögliche(n) Wahrung der Verteidigungsrechte“2960 verhältnismässigen erweisen. In einer Gegenüberstellung von Zufalls-, Opfer- und tatbeteiligten Zeugen und „V-Personen, deren Schutzbedürfnis durch ihren Dienst für die Strafverfolgungsbehörden und die Exponiertheit ihrer Tätigkeit nicht geringer ist“,2961 hebt das BG insofern etwa in BGE 125 I 127 hervor, dass mit Bezug auf die Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit der zu treffenden Schutzmassnahmen eben den im konkreten Fall bestehenden spezifischen Zeugenschutzbedürfnissen Rechnung zu tragen ist. Danach können beim Problemkreis des Zeugenschutzes „verschiedene Kategorien von Zeugen unterschieden werden“2962 – etwa „(B)erufsmässige Zeugen wie z.B.
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nymität des Zeugen auch dadurch zu wahren, dass ihn der Verteidiger nicht zu Gesicht bekommt …“ (S. 42, Hervorhebung Demko), siehe zudem die Ausführungen des BG auf S. 45 zur Frage der im konkreten Fall «massvollen» Einschränkung der Verteidigungsrechte, zu deren Beurteilung das BG auch auf Erkenntnisse der Aussagepsychologie Rückgriff nahm; siehe weiter BGE 132 I 127, S. 132; BG 6B_45/2008, E. 2.5, wonach eine Beschränkung des Konfrontationsrechts „nur als verhältnismässig qualifiziert werden könnte, wenn besondere Umstände wie namentlich Gesichtspunkte des Opferschutzes oder des Schutzes anonymer oder anderweitig bedrohter Zeugen eine solche gebieten würden“. Zu der die Geeignetheit als Element der Verhältnismässigkeit ansprechenden Frage und hier der Möglichkeit des Zusammenstellens eines schriftlichen Fragekataloges vor der Zeugeneinvernahme siehe BGE 118 Ia 462, S. 471, wonach das Zusammenstellen eines schriftlichen Fragekataloges vor der Zeugeneinvernahme allein für eine wirksame Verteidigung nicht genügt, da sich „Aussagewidersprüche, welche mit der Konfrontation ausgeräumt oder erhellt werden sollen, … naturgemäss erst nach der Befragung des Belastungszeugen bzw. anlässlich einer persönlichen Konfrontation“ (S. 471) zeigen. Erforderlich ist vielmehr, dass „entweder die Beteiligten persönlich konfrontiert oder wenigstens nachträgliche schriftliche Ergänzungsfragen des Angeschuldigten an den Belastungszeugen zugelassen werden“ (S. 471). Siehe zu weiteren prozessualen Zeugenschutzmassnahmen als je nach den konkreten Fallumständen auf deren Verhältnismässigkeit hin zu beurteilenden Einschränkungen des Konfrontationsrechts die Ausführungen etwa in BGE 118 Ia 457, BGE 125 I 127, BGE 129 I 151. BGE 125 I 127, S. 145 (Hervorhebung Demko): „Hinsichtlich einzelner Schutzmassnahmen gilt es den spezifischen Schutzbedürfnissen der Zeugen Rechnung zu tragen“. KassG, ZR 88 (1989) Nr. 3, S. 5, 8. KassG, ZR 88 (1989) Nr. 3, S. 5, 8. BGE 125 I 127, S. 145. BGE 125 I 127, S. 143.
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V-Personen, tatbeteiligte Zeugen wie Kronzeugen, Opferzeugen und schliesslich Zufallszeugen“2963 –, bei denen sich das Schutzbedürfnis entsprechend der einzelnen Zeugenkategorie unterscheidet bzw. unterscheiden kann.2964 Die Zeugenschutzbedürfnisse können sich bei den verschiedenen Kategorien von Zeugen jeweils anders darstellen (wenn sie dies auch nicht zwingend müssen), sind dabei aber stets über eine nur allgemein gehaltene Zeugenkategorisierung hinausgehend mit Blick auf die jeweils konkret betroffene Zeugenperson im jeweiligen Einzelfall zu bestimmen. Der vom BG aufgeworfene Gedanke einer Zeugenkategorisierung ist vom BG weder als Selbstzweck noch im Sinne einer nur allgemeinen Ordnung und Kategorisierung von Zeugen unter Verzicht auf die Berücksichtigung der im Einzelfall konkret betroffenen Zeugenperson und der Art und des Ausmasses der konkreten Zeugengefahr verstanden worden. Vielmehr wurde mit dem Gedanken verschiedener «Zeugenkategorien» auf die im Rahmen der Verhältnismässigkeitsprüfung stets zu beachtende Verbindung zwischen den spezifischen Zeugenschutzbedürfnissen der konkreten Zeugenperson und den sowohl diesen als auch den Verteidigungsrechten des Angeklagten gerecht werdenden, im konkreten Einzelfall zu treffenden Schutzmassnahmen verwiesen.2965 Dies ebenfalls in BGE 129 I 151 betonend, führt das BG hier aus:
2963 2964 2965
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BGE 125 I 127, S. 143. BGE 125 I 127, S. 143. Siehe dazu die näheren Ausführungen in BGE 125 I 127, S. 145; vgl. zudem die weitere differenzierte Untersuchung des BG in BGE 125 I 127, S. 149 wonach die Zeugenschutzmassnahme der optischen Abschirmung zwar angezeigt sein könne, wenn sich Beschuldigter und Zeugen „nur vom Telefon oder von weit zurückliegenden Begegnungen kennen …“, indessen weniger in Betracht falle, wenn sich beide „… aufgrund enger Kontakte gut kennen und die Begegnungen nicht weit zurückliegen“ (S. 149). Eine solche differenzierte Untersuchung nimmt das BG weiterhin etwa in Bezug auf den Vergleich zwischen einer Zeugeneinvernahme mit optischen/akustischen Abschirmungen einerseits und einer nur schriftlichen Befragung andererseits vor: Es betont insofern, dass sich zwar auch die Zeugenschutzmassnahme der optischen/akustischen Abschirmung für die Verteidigung als erschwerend auswirkt, jedoch eine bloss schriftliche Befragung des Zeugen eine noch stärkere Erschwerung der Verteidigungsrechte darstellen würde, denn eine, wenn auch mit Abschirmungen verbundene Einvernahme des Zeugen „erlaubt … – anders als eine nur schriftliche Befragung – die unmittelbare Wahrnehmung von Reaktionen und trägt damit dazu bei, den Zeugen zu beurteilen“ (S. 156). Zum zu beachtenden Verhältnismässigkeitsgrundsatz deutlich auch KassG, ZR 81 (1982) Nr. 122: In einer Gegenüberstellung des gesetzlich in § 14 Abs. 2 ZH StPO ausdrücklich geregelten Ausnahmeverfahrens in Form einer nachträglichen Ergänzungsbefragung und der Videovernehmung des Zeugen, welche im Zeitpunkt jener Entscheidung des KassG gesetzlich noch nicht ausdrücklich geregelt war, betonte das KassG, dass dennoch auch die Videovernehmung von der Ausnahmebestimmung des § 14 Abs. 2 ZH StPO gedeckt sei,
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen „… Es ist in jedem Einzelfall zu prüfen, welche Vorgehensweisen und Ersatzmassnahmen in Frage kommen, um die Verteidigungsrechte des Angeschuldigten so weit als möglich zu gewährleisten und gleichzeitig den Interessen des Opfers gerecht zu werden …“2966
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Zugleich macht das BG sichtbar, dass für die Beurteilung der Verhältnismässigkeit einer das Konfrontationsrecht einschränkenden Massnahme auch auf die Erkenntnisse der Aussagepsychologie Rückgriff zu nehmen ist: Die Aussagepsychologie vermittelt mit ihrem Wissen zur Massgeblichkeit nicht mehr der allgemeinen Glaubwürdigkeit der Zeugenperson als eines feststehenden Persönlichkeitsmerkmals, sondern vielmehr der auf die konkrete Zeugenaussage der bestimmten Zeugenperson abstellenden spezifischen Glaubwürdigkeit wichtige Erkenntnisse zum Ersten mit Blick auf die Wahrheitsermittlung von Zeugenbeweisen sowie zum Zweiten mit Blick auf die wirksame Ausübung der Verteidigungsrechte im Zusammenhang mit dem Konfrontationsrecht und mit der hier dem Angeklagten einzuräumenden Möglichkeit einer wirksamen Überprüfung und Infragestellung der Glaubwürdigkeit des belastenden Zeugenbeweises (unter Anknüpfung an die Zeugenaussage und die Zeugenperson):
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In diesem Sinne führt das BG etwa in BGE 133 I 33 zur Begründung der Verhältnismässigkeit von Einschränkungen des Konfrontationsrechts in Gestalt einer Zeugenanonymisierung und von optischen und akustischen Abschirmungen des Zeugen nicht nur an, dass die Einschränkung der Verteidigungsrechte deshalb „als durchaus massvoll (erscheint)“,2967 weil sie „doch noch immer eine Zeugenbefragung mit den Vorteilen der unmittelbaren Beweisabnahme“2968 ermöglicht. Vielmehr heisst es, auf die wichtige Bedeutung der Erkenntnisse der Aussagepsychologie auch für die Prüfung der Verhältnismässigkeit der Einschränkung des Konfrontationsrechts Bezug nehmend, weiterführend und in ausführlicher Weise, dass die hier gegebene Einschränkung der Verteidigungsrechte „(M)assvoll ist … aber auch aufgrund einer
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weil eine audiovisuelle Zeugenvernehmung „hinsichtlich der Unmittelbarkeit und der Wahrung der Verteidigungsrechte eine weniger weitgehende Abweichung vom Grundsatz darstellt als das gesetzlich erwähnte Ausnahmeverfahren“ (S. 287). Ausdrücklich stellte das KassG sodann klar, dass „eine Einschränkung der Parteiöffentlichkeit wenn überhaupt, dann möglichst schonend und unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismässigkeit stattfinden soll“ (S. 287), wobei stets anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls zu prüfen ist, ob sich die getroffenen Massnahmen als zulässig erweisen (S. 287). Siehe zudem KassG, ZR 88 (1989), Nr. 3, S. 3, 5 ff. BGE 129 I 151, S. 159 (Hervorhebung Demko). BGE 133 I 33, S. 45 (Hervorhebung Demko). BGE 133 I 33, S. 45 (Hervorhebung Demko); siehe auch BGE 125 I 127, S. 149 f.
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veränderten Einschätzung dessen, was den Beweiswert einer Zeugenaussage ausmacht“:2969 1051
„… Hat nämlich die Strafjustiz früher bei der Würdigung von Zeugenaussagen Gewicht auf die allgemeine Glaubwürdigkeit eines Zeugen im Sinne einer dauerhaften personalen Eigenschaft gelegt, so kommt diesem Gesichtspunkt nach neueren Erkenntnissen kaum mehr relevante Bedeutung zu … Weitaus bedeutender für die Wahrheitsfindung als die allgemeine Glaubwürdigkeit ist die Glaubhaftigkeit der konkreten Aussage, welche durch methodische Analyse ihres Inhalts darauf überprüft wird, ob die auf ein bestimmtes Geschehen bezogenen Angaben einem tatsächlichen Erleben des Zeugen entspringen. Damit eine Aussage als zuverlässig gewürdigt werden kann, ist sie insbesondere auf das Vorhandensein von Realitätskriterien … und umgekehrt auf das Fehlen von Phantasiesignalen … zu überprüfen. Dabei wird zunächst davon ausgegangen, dass die Aussage gerade nicht realitätsbegründet ist, und erst wenn sich diese Annahme (Nullhypothese) aufgrund der festgestellten Realitätskriterien nicht mehr halten lässt, wird geschlossen, dass die Aussage einem wirklichen Erleben entspricht und wahr ist … Ist dieses aber die Methode, mit welcher Aussagen auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft werden, so liegt in der optischen und akustischen Abschirmung des Zeugen gegenüber dem Angeklagten und dem Verteidiger keine das Fairnessgebot verletzende Einschränkung der Verteidigung …“2970
(1.2) 1052
Die Beachtung des Ausgleichserfordernisses
Zu der weiteren, ebenso auf der Beweiserhebungsebene zu berücksichtigenden Voraussetzung für eine rechtmässige Einschränkung des Konfrontationsrechts, die der EGMR neben dem – oder genauer anknüpfend2971 an den – Verhältnismässigkeitsgrundsatz in Gestalt des sog. Ausgleichserfordernisses aufstellt, sind in der schweizerischen Rechtsprechung – im Vergleich zu der wiederholt betonten Anerkennung des zu beachtenden Verhältnismässigkeitsgrundsatzes – weniger ausführliche und weniger deutliche Ausführungen zur genauen Bedeutung des Ausgleichserfordernisses als eines eigenständigen Prüfungskriteriums sowie zu seinem genauen Inhalt zu finden. Auch im Schrifttum wird das Ausgleichserfordernis im Zusammenhang mit dem Erfordernis der Verhältnismässigkeit ohne eine genaue Berücksichtigung einer Abgrenzung zwischen beiden geprüft oder mit dem Verhältnismässigkeitserfordernis gleichgesetzt.2972 2969 2970 2971
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BGE 133 I 33, S. 45 (Hervorhebung Demko). BGE 133 I 33, S. 45, 46 (Hervorhebung Demko). Zur Frage des Ausgleichserfordernisses als einer an das Verhältnismässigkeitserfordernis anknüpfenden Prüfungsvoraussetzung siehe näher unter Kap. 5 B. II. 1. b) und Kap. 5 C. II. 3. b) bb) (1) (1.2). Siehe dazu, dass die (richtigerweise) das Erfordernis des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes ansprechenden Einschränkungen des Konfrontationsrechts (fälschlicherweise) mit dem Ausgleichs- bzw. Kompensationserfordernis in Verbindung gesetzt und
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Eine wichtige Entscheidung, in der das BG die Bedeutung des Ausgleichserfordernisses als eines eigenständigen, von dem ebenfalls zu beachtenden Verhältnismässigkeitsgrundsatz zu trennenden und zusätzlich zu diesem zu prüfenden Prüfungskriteriums sichtbar macht, stellt insoweit aber die Entscheidung BGE 125 I 127 dar: In dieser Entscheidung prüft das BG hinsichtlich der hier für einschlägig gehaltenen Zeugenanonymisierung und Zeugenabschirmung und der damit verknüpften Einschränkungen in den Verteidischeinbar mit diesem gleichgesetzt werden etwa SCHLEIMINGER, in: NIGBSK StPO, Art. 147 N 20, 21, 22, wo von „Ersatzmassnahmen (Kompensationsmassnahmen)“ (Überschrift vor N 20, Hervorhebung Schleiminger) gesprochen wird und es heisst: „Es handelt sich bei dem Erfordernis der Ersatzmassnahmen um eine Voraussetzung der Verhältnismässigkeit …“ (N 20, hier kursive, im Original fettgedruckte Hervorhebung Schleiminger). Wenn jener letzte Satz für sich auch zutreffend ist, so ist die Überschrift von den «Ersatzmassnahmen (Kompensationsmassnahmen)» insofern missverständlich gewählt; zu zutreffenden früheren Ausführungen von Schleiminger, die die Unterscheidung zwischen Verhältnismässigkeits- und Ausgleichserfordernis klarer zum Ausdruck bringen, siehe SCHLEIMINGER, S. 34: „die Einschränkung wird nicht ausgeglichen, sondern ist allenfalls verhältnismässig“; betreff der zu beachtenden Unterscheidung zwischen Verhältnismässigkeits- und Ausgleichserfordernis nicht gänzlich klar bzw. zumindest missverständlich sind zudem die Formulierungen von WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 147 N 19, 23: „Kompensierbare Einschränkungen der optimalen Gewährleistung des Konfrontationsrechts“ (Überschrift vor N 19, Hervorhebung Demko) und „Rechtsfolgen unkompensierbarer Einschränkungen des Konfrontationsrechts“ (Überschrift vor N 23, Hervorhebung Demko), wo dann (und insoweit zutreffend) beispielsweise audiovisuell übertragene Einvernahmen, Videovernehmungen oder Zeugenanonymisierungen mit Blick auf deren Vereinbarkeit mit dem Konfrontationsrecht überprüft werden und damit Einschränkungen in der Ausübung des Konfrontationsrechts, die nach hier vertretener Ansicht dem Erfordernis des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes und nicht dem Ausgleichserfordernis zuzuordnen sind; die Unterscheidung zwischen Verhältnismässigkeits- und Ausgleichserfordernis nicht gänzlich klar herausarbeitend siehe auch ACKERMANN/CARONI/VETTERLI, AJP 2007, S. 1076, 1078, 1979, wo zudem bezüglich der nachfolgend im Haupttext näher besprochenen BGE 125 I 127 und des hier bestehenden, sich auf den Gerichtspräsidenten beziehenden Massnahmenkomplexes allein auf den Gerichtspräsidenten abgestellt, nicht jedoch auch auf den vom BG ebenso betonten Gesichtspunkt des Berichts an die Verteidigung eingegangen wird. Zur Gleichstellung des Verhältnismässigkeitserfordernisses mit dem Ausgleichserfordernis siehe aus dem deutschen Schrifttum etwa KRAUSBECK, S. 195, 233. Anders und die Unterscheidung zwischen sowie die Eigenständigkeit von Verhältnismässigkeits- und Ausgleichserfordernis herausarbeitend GAEDE, S. 727 ff: „zweite Legitimationsanforderung“ (S. 728); siehe auch bereits den Hinweis von DEMKO, ZStrR 2004, S. 43: „zweites, eigenständiges und kumulativ erforderliches Teilelement“; siehe zum Verständnis des Ausgleichserfordernisses in der Rechtsprechung des EGMR und nach eigener Ansicht die weiterführenden Darstellungen unter Kap. 5 B. II. 1. b) cc). GLI/HEER/WIPRÄCHTIGER,
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
gungsrechten des Angeklagten, ob und welche ausgleichenden Massnahmen im Verfahren durch die Strafverfolgungsbehörden in Betracht kommen könnten, die den hier gegebenen Einschränkungen in der Ausübung des Konfrontationsrechts kompensierend gegenüberstehen2973 und auf diese Weise zu einer Verbesserung der Verteidigungsmöglichkeiten des Angeklagten beitragen (könnten).2974 Mit diesem vom BG betonten Moment des SichGegenüberstehens von – hier mit der Zeugenanonymisierung und Zeugenabschirmung einhergehenden – Einschränkungen in der Ausübung des Konfrontationsrechts einerseits und diesen entgegenzustellenden Ausgleichsmassnahmen andererseits zeigt das BG die zu beachtende Unterscheidung zwischen den beiden Prüfungskriterien sowie die Eigenständigkeit der beiden Prüfungskriterien in Gestalt des Verhältnismässigkeitserfordernisses und des Ausgleichserfordernisses auf: 1054
„… Aufgrund der beiden vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass der Beschuldigte durch die Aufrechterhaltung der Anonymität der V-Person und durch die besondern Schutzmassnahmen bei der Einvernahme in seinem Befragungsrecht nach Art. 4 BV und Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK eingeschränkt wird. Dem stehen gewisse ausgleichende Massnahmen gegenüber. Diese beiden Seiten sind gegeneinander abzuwägen …“2975
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Den Gesichtspunkt der staatlichen Verantwortung für den Ablauf und die Ausgestaltung eines fairen, die Verteidigungsrechte des Angeklagten wahrenden Strafverfahrens sichtbar machend, zeigt das BG in dieser Entscheidung zudem, dass es das Ausgleichserfordernis nicht dahingehend versteht, dass die mit den Abweichungen von dem grundsätzlich uneingeschränkt ausübbaren Konfrontationsrecht einhergehenden Beschränkungen in der Ausübung der Verteidigungsrechte durch die Ausgleichsmassnahmen gleichsam wieder vollständig aufgehoben würden, d.h. dass durch die Ausgleichsmass2973 2974
2975
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Siehe deutlich BGE 125 I 127, S. 155 und 156. BGE 125 I 127, S. 154: „… vermag ein solches Vorgehen gewisse Probleme der Anonymität auszugleichen und die Verteidigungsmöglichkeiten des Beschuldigten zu verbessern …“ (Hervorhebung Demko). BGE 125 I 127, S. 155 (hier kursive, im Original fettgedruckte Hervorhebung BGE: «Art. 4 BV», «Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK»; übrige Hervorhebung Demko), siehe zudem ebenso deutlich S. 156: „… Die Anonymität des als Zeuge einvernommenen verdeckten Ermittlers behindert und beschränkt den Beschuldigten in seinem Befragungsrecht. Sie hat zur Folge, dass sich der Beschuldigte kein vollständiges Bild von der Persönlichkeit der V-Person machen und auch nicht danach fragen kann. Es ist ihm daher zum Vornherein erschwert, die Glaubwürdigkeit der V-Person allgemein in Zweifel zu ziehen. Seine Verteidigung muss sich daher im Wesentlichen darauf beschränken, die Glaubhaftigkeit der Zeugenaussagen zur Sache selber zu bestreiten. Dies stellt eine wesentliche Beschränkung der Verteidigungsrechte dar. Dem stehen Massnahmen gegenüber, die diese Schwierigkeiten teilweise ausgleichen …“ (Hervorhebung Demko).
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
nahmen die «optimale», also uneingeschränkt gewährleistete Ausübung des Konfrontationsrechts gleichsam wiederhergestellt würde. Es zeigt sich und dies gilt es zu beachten: Sich mit dem Ausgleichserfordernis nicht auf das Erreichen der uneingeschränkten Ausübungsform des Konfrontationsrechts ausrichtend, sondern vielmehr auf den Wesensgehalt – auf die Inhaltsebene – des Konfrontationsrechts Bezug nehmend, setzt das BG das Ausgleichserfordernis mit der dem Angeklagten zu gewährenden effektiven und wirksamen Verteidigung und hier mit der wirksamen Gewährleistung einer Überprüfung und Infragestellung der Glaubwürdigkeit des belastenden Zeugenbeweises durch den Angeklagten in Verbindung: Das BG prüft bei den von ihm angeführten Ausgleichsmassnahmen jeweils, ob dem Angeklagten – trotz der hier infolge Zeugenanomisierung und Zeugenabschirmung nur eingeschränkt möglichen Ausübung seines Konfrontationsrechts – mittels der von den Strafbehörden vorgenommenen Ausgleichsmassnahmen eine hinreichend effektive Wahrnehmung seiner Verteidigungsrechte im Zusammenhang mit der Erhebung des belastenden Zeugenbeweises gewährleistet worden ist. Unter Betonung, dass „der Zeugenschutz … nicht zu einer untragbaren Schmälerung elementarer Verteidigungsrechte führen“2976 darf und gegenläufige Zeugen- und Verteidigungsinteressen „gegeneinander abzuwägen“2977 sind, müssen den mit bestimmten Zeugenschutzmassnahmen – wie etwa Zeugenanonymisierungen oder optischen/akustischen Abschirmungen – einhergehenden Schwierigkeiten der Verteidigung „gewisse ausgleichende Massnahmen“2978 gegenübergestellt2979 und muss die mit den Zeugenschutzmassnahmen einhergehende „Einschränkung der Verteidigungsrechte möglichst kompensier(t)“2980 werden.
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„… Die Schwierigkeiten der Verteidigung müssen gewissermassen durch das Verfahren und dessen Ausgestaltung im Einzelfall kompensiert werden … Dabei stellt sich insbesondere die Frage, ob die Umstände aus der Sicht der Verteidigung eine hinreichend effektive Befragung erlauben und daher die Beeinträchtigung in den Verteidigungsrechten auszugleichen vermögen …“2981
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Die vom BG zum Ausdruck gebrachte Bezugnahme des Ausgleichserfordernisses auf das im Zusammenhang mit dem Wesensgehalt des Konfrontationsrechts stehende Erfordernis der Wahrung einer wirksamen Verteidigung – die für das Konfrontationsrecht eine dem Angeklagten zu ermöglichende Überprüfung und Infragestellung der Glaubwürdigkeit des belastenden Zeugenbe-
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2976 2977 2978 2979 2980 2981
BGE 125 I 127, S. 139. BGE 125 I 127, S. 139. BGE 125 I 127, S. 155. Siehe deutlich BGE 125 I 127, S. 155 und 156. BGE 132 I 127, S. 129; BGE 133 I 33, S. 41. BGE 125 I 127, S. 139 (Hervorhebung Demko).
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
weises bedeutet – greift das BG nun bei jeder der von ihm geprüften einzelnen Ausgleichsmassnahmen wieder auf. Als möglicherweise in Betracht kommende Ausgleichsmassnahmen werden vom BG dabei Massnahmen zur Identifizierung des Zeugen,2982 die Einsichtnahme in das Einsatzdossier der V-Personen,2983 ein mit dem Gerichtspräsidenten verbundener Massnahmenkomplex2984sowie die Einvernahme des unmittelbaren Einsatzleiters2985überprüft.2986 1059
Mit Bezug auf Massnahmen zur Identifizierung des Zeugen, mittels derer die Belastungszeugen (im vorliegenden Fall die V-Personen) sowohl bei einer Anonymisierung als auch bei Abschirmungen „identifiziert und Verwechslungen ausgeschlossen werden“2987 können,2988 heisst es, dass die Zeugenidentifizierung „für die Verteidigung und die Beweiswürdigung durch das Gericht von entscheidender Bedeutung …“ ist und die Grundbedingung bzw. die eigentliche „… Voraussetzung …“ dafür darstellt, dass „… eine Verwertung von entsprechenden Aussagen überhaupt in Betracht fällt“.2989 Jedoch würden solche Identifizierungsmassnahmen dennoch „keine Kompensation der Probleme dar(stellen), die sich aus dem Umstand der Anonymität ergeben“.2990 Vielmehr stellt das BG klar, dass sich die Bedeutung der Identifizierungsmassnahmen aus dem Umstand ergibt, dass diese für eine überhaupt mögliche Verwertbarkeit von Zeugenaussagen die eigentliche Einstiegs- bzw. Anfangsvoraussetzung bilden. Die Bedeutung einer hinreichenden Kompensationsmassnahme kommt einer blossen Zeugenidentifizierung allein hingegen noch nicht zu, denn der Angeschuldigte 2982 2983 2984 2985 2986
2987 2988
2989 2990
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BGE 125 I 127, S. 151, 152 E. 9. a). BGE 125 I 127, S. 152, 153 E. 9. b). BGE 125 I 127, S. 153, 154 E. 9. c). BGE 125 I 127, S. 154, 155 E. 9. d). Siehe auch den Einleitungssatz als Übergang zur Prüfung des Ausgleichserfordernisses BGE 125 I 127, S. 151 E. 9.: „Nunmehr ist zu prüfen, ob einzelne Massnahmen die beschriebenen Erschwernisse bei der Wahrung der Verteidigungsrechte ausgleichen können“. BGE 125 I 127, S. 152. Vgl. zu den verschiedenen Identifizierungsmassnahmen BGE 125 I 127, S. 152: Zur Identifizierung kann etwa „mit dem Beizug von Telefonabhörungen und Stimmenvergleichen ein eigentliches Beweisverfahren durchgeführt werden“, gleichermassen sei es möglich, „für die Identifizierung des Zeugen von Seiten der Einsatzbehörden eine verantwortliche Person anzuhören“ oder eine Identifizierung durch den Gerichtspräsidenten, der über die V-Personen Bescheid weiss, vorzunehmen. Zudem ist sicherzustellen, dass „der Zeuge allein im entsprechenden Nebenraum ist, selber auf die Fragen antwortet und von niemandem beeinflusst wird. Auch dies ist im Einzelfall zu bewerkstelligen“. BGE 125 I 127, S. 152 (Hervorhebung Demko). BGE 125 I 127, S. 152 (Hervorhebung Demko).
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen „sieht sich trotz dieser Massnahmen der Schwierigkeit gegenüber, die Glaubwürdigkeit der V-Person wirksam in Zweifel zu ziehen“.2991
1060
Diese dem Angeklagten als Ausdruck der wirksamen Wahrnehmung seiner Verteidigungsrechte einzuräumende Möglichkeit, die Glaubwürdigkeit des belastenden Zeugenbeweises unter Anknüpfung an die Zeugenaussage sowie die Zeugenperson wirksam überprüfen und in Zweifel ziehen zu können, ist auch bei den übrigen vom BG geprüften Massnahmen als Beurteilungsmassstab herangezogen worden, um anhand dieses Massstabes ihre Eignung als die Einschränkungen in der Ausübung des Konfrontationsrechts ausgleichende Massnahmen zu beurteilen:
1061
Hinsichtlich der Massnahme der dem Angeklagten eingeräumten Einsicht in das Einsatzdossier der V-Personen betont das BG, dass der Angeklagte dadurch wertvolle Kenntnisse über Instruktionen, Planung und Durchführung des V-Personen-Einsatzes erhält und ihm infolgedessen ermöglicht wird,
1062
„unter Hinweis auf allfällige Widersprüche die Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen und die Glaubwürdigkeit der V-Person wirksam anzuzweifeln oder zu bestreiten“.2992
1063
Dennoch kann jene Massnahme die Schwierigkeiten der Verteidigung, die sich wegen der Vertraulichkeitszusage gerade aus der Zeugenanonymisierung ergeben, nicht vollständig, sondern nur teilweise ausgleichen,2993 da die „vertraulich zu behandelnden Elemente wie die Personalien der V-Person … von den Berichten über den Einsatz und die Ergebnisse zu trennen …“ sind, und zwar derart, dass dem Beschuldigten dennoch „… tatsächlich eine repräsentative Einsicht gewährt werden kann“.2994 Klarstellend, dass das „Ausmass der Kompensation … allerdings stark von den Umständen anhängt“,2995 ist insofern zu berücksichtigen, dass das Einsatzdossier „den Standpunkt der Polizei (enthält) und … entsprechend sorgfältig gewürdigt werden“2996 muss und zudem, dass das Einsatzdossier hinreichend ausführlich geführt werden muss, damit es auch „wirklich aussagekräftig“2997 ist.
1064
Eine wichtige und hier scheinbar die wichtigste Rolle mit Blick auf das Ausgleichserfordernis misst das BG dem mit dem Gerichtspräsidenten verknüpften Massnahmenkomplex zu, wonach dem Gerichtspräsidenten die Identität
1065
2991 2992 2993
2994 2995 2996 2997
BGE 125 I 127, S. 152 (Hervorhebung Demko). BGE 125 I 127, S. 152, 153. BGE 125 I 127, S. 153: „Auch wenn gewisse Angaben im Rahmen der Vertraulichkeitszusage abgedeckt werden, stellt die Einsicht in das Einsatz-Dossier für den Beschuldigten eine Massnahme dar, welche das «handicap presque insurmontable» teilweise ausgleicht“ (S. 153, Hervorhebung Demko). BGE 125 I 127, S. 153. BGE 125 I 127, S. 153. BGE 125 I 127, S. 153. BGE 125 I 127, S. 153 (Hervorhebung Demko).
695
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
der V-Person mitgeteilt wird, dieser volle Kenntnis von den Zeugenpersonalien und vollständige Einsicht in das Einsatzdossier der V-Person erhält und nicht ausgeschlossen ist, dass der Gerichtsvorsitzende die V-Person „ohne Zuzug von weiteren Personen einvernimmt“.2998 Wieder hebt das BG auf das Kriterium der Glaubwürdigkeitsbeurteilung ab, indem es heisst, dass jene Massnahmen es ermöglichen, dass der Gerichtsvorsitzende die V-Personen über alle Punkte zu befragen in der Lage ist, „welche für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit relevant sein können…“, so dass sich der „… Vorsitzende selber ein Bild von der Glaubwürdigkeit der V-Personen“2999 machen kann.3000 Ausdrücklich betont das BG die wichtige Bedeutung dieser „zu Grunde liegenden Idee der Glaubwürdigkeitsüberprüfung“,3001 die dem Gerichtsvorsitzenden durch jenen Massnahmenkomplex eingeräumt wird. Darüber hinausgehend – und dies gilt es als besonders wichtig zu betonen – stellt das BG aber auch heraus, dass der Gerichtsvorsitzende seine Beurteilung zur Glaubwürdigkeit der anonymen V-Person „zusätzlich in einem (schriftlichen oder mündlichen) Bericht zu Handen des Gerichts (Richter, Verteidigung und allfällige andere Parteien) festhalten“3002 kann.3003 Erst ein solcher Bericht des Gerichts an den Angeklagten u./o. dessen Verteidiger – und deshalb ist der Hinweis des BG auf diesen Gesichtspunkt so wichtig – eröffnet auch dem Angeklagten (und eben nicht nur dem Gericht(spräsidenten)) die Möglichkeit, auf die gerichtliche Beurteilung der Glaubwürdigkeit des belastenden Zeugenbeweises wirksam Einfluss zu nehmen, denn derartige Berichte 1066
„vermitteln dem Beschuldigten wesentliche Informationen, um die Glaubwürdigkeit der einvernommenen V-Personen in Zweifel zu ziehen“.3004
1067
Das BG betont, es sei zu beachten, dass es sich bei jenem die Befugnisse des Gerichtsvorsitzenden betreffenden Massnahmenkomplex um eine indirekte Beweisführung handelt,3005 die – womit auf auf der Beweiswürdigungsebene zusätzlich zu beachtende Erfordernisse verwiesen wird – entsprechend sorg2998 2999 3000
3001 3002 3003
3004 3005
696
BGE 125 I 127, S. 153. BGE 125 I 127, S. 153. Zur Problematik einer stellvertretenden Wahrnehmung der Verteidigungsrechte durch den Richter siehe etwa LIEBER, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, § 14 N 85; ACKERMANN/CARONI/VETTERLI, AJP 2007, S. 1079. BGE 125 I 127, S. 154 (Hervorhebung Demko). BGE 125 I 127, S. 153 (Hervorhebung Demko). Allein auf die dem Gerichtspräsidenten ermöglichte Glaubwürdigkeitsbeurteilung, nicht jedoch auch auf den hier entscheidenden Gesichtspunk des Berichts für die Verteidigung eingehend hingegen ACKERMANN/CARONI/VETTERLI, AJP 2007, S. 1078, 1079. BGE 125 I 127, S. 154 (Hervorhebung Demko). BGE 125 I 127, S. 154.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
fältig zu würdigen ist.3006 Unter der zudem zu beachtenden Voraussetzung, dass es sich um einen „hinreichend aussagekräftigen Bericht über die Person des verdeckten Ermittlers“3007 handelt, ist der die Befugnisse des Gerichtsvorsitzenden betreffende Massnahmenkomplex vom BG als geeignete gerichtliche Ausgleichssmassnahme angesehen worden, da dieser „gewisse Probleme der Anonymität auszugleichen und die Verteidigungsmöglichkeiten des Beschuldigten zu verbessern“3008 vermag. Als letzte im vorliegenden Fall vom BG geprüfte Ausgleichsmassnahme führt das BG die Einvernahme des unmittelbaren Einsatzleiters unter Wahrung der Anonymität der V-Person an. Zwar handelt es sich auch bei diesem Einsatzleiter nur um einen indirekten Beweis, der vom Gericht entsprechend sorgfältig zu würdigen ist.3009 Dennoch ist den Ausführungen des BG zu entnehmen, dass es sich bei diesem zu befragenden Einsatzleiter um einen «besonderen», weil mit qualifiziertem Wissen zur Person des unmittelbaren Tatzeugen und zum Ablauf des Einsatzes ausgestatteten Zeugen vom Hörensagen handelt: So verfügt der unmittelbare Einsatzleiter im Gegensatz zu «normalen» Zeugen vom Hörensagen über „detaillierte Kenntnisse“3010 zum einen über den unmittelbaren Zeugen (hier die V-Person) und zum anderen über den Ablauf des Einsatzes,3011 indem er über die Identität des verdeckten Ermittlers sowie dessen persönlichen und beruflichen Hintergrund Bescheid weiss und zudem Hinweise zum beruflichen Umfeld, zur Ausübung des Berufs, inklusive des beruflichen Leumunds, zu den Umständen der Auftragserteilung sowie zum eigentlichen Einsatz der V-Person geben kann.3012 Erneut richtet sich das BG zur Beurteilung, ob jene Massnahme dem Ausgleichserfordernis entspricht, am Kriterium der für den Angeklagten bestehenden Möglichkeit einer wirksamen Überprüfung und Infragestellung der Glaubwürdigkeit des belastenden Zeugenbeweises unter Anknüpfung an sowohl die Zeugenaussage als 3006 3007
3008 3009 3010 3011
3012
BGE 125 I 127, S. 157. BGE 125 I 127, S. 154 (Hervorhebung Demko): „Erforderlich für eine wirksame Kompensation ist allerdings, dass die Gerichtspräsidenten einen hinreichend aussagekräftigen Bericht über die Person des verdeckten Ermittlers abgibt [sic]“. BGE 125 I 127, S. 154 (Hervorhebung Demko). BGE 125 I 127, S. 157. BGE 125 I 127, S. 155. Das BG grenzt die Einvernahme des unmittelbaren Einsatzleiters der V-Person von den EGMR-Fällen Windisch und Kostovski ab, BGE 125 I 127, S. 155: „Dort haben Zeugen, die anonym bleiben wollen, den Polizeibeamten Anzeigen erstattet; die Einvernahme dieser Polizeibeamten als Gewährsleute vermochte die Hindernise für die Verteidigung nicht zu kompensieren, da diese keinerlei eigene Kenntnisse vom Tatgeschehen und von den Anzeigern hatten … Der Einsatzleiter verfügt indessen über detaillierte Kenntnisse über die V-Person und den Ablauf des Einsatzes“ (Hervorhebung Demko). BGE 125 I 127, S. 155.
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
auch die Zeugenperson als dem entscheidenden Beurteilungsmassstab aus, wonach die Vernehmung des unmittelbaren Einsatzleiters als eines besonders wissensqualifizierten Zeugen vom Hörensagen „wertvolle Hinweise zur Glaubwürdigkeit der V-Person und zur Glaubhaftigkeit von deren Aussagen …“ verspricht und infolge dessen 1069
„… dazu beitragen (kann), das Handicap der Anonymität zu einem Teil auszugleichen. Die Verteidigung erhält Informationen, die es ihr ermöglicht, die Glaubwürdigkeit der V-Person wirksam in Zweifel zu ziehen …“3013
1070
Wenn sich das BG in dieser Entscheidung BGE 125 I 127 auch nicht in allgemein und dogmatisch vertiefender Weise zur Bedeutung des Ausgleichserfordernisses, zu seiner systematischen Einordnung in die eine Einschränkung des Konfrontationsrechts rechtfertigenden Voraussetzungen und zu den das Ausgleichserfordernis ausmachenden Einzelelementen geäussert hat, so ist dieser Entscheidung aber dennoch zum einen zu entnehmen, dass sich das BG für die Frage der Rechtmässigkeit einer Konfrontationsrechtseinschränkung nicht mit der Prüfung begnügt, ob die eingeschränkte Ausübung des Konfrontationsrechts – neben der Voraussetzung des Vorliegens eines sachlichen Einschränkungsgrundes – verhältnismässig war, sondern dass vielmehr als hinzukommendes und eigenständiges Prüfungskriterium das Ausgleichserfordernis zu beachten ist.3014 Zum anderen machen die Ausführungen des BG sichtbar, 3013 3014
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BGE 125 I 127, S. 155 (Hervorhebung Demko). Siehe auch die nochmals zusammenführenden Darstellungen des BG in BGE 125 I 127, S. 155 ff. E. 10. zur Gegenüberstellung der mit der Zeugenanonymisierung und Zeugenabschirmung einhergehenden Einschränkungen in der Ausübung des Konfrontationsrechts zum einen und der diesen Einschränkungen gegenüber stehenden Ausgleichsmassnahmen zum anderen: Jenen Einschränkungen des Konfrontationsrechts „… stehen Massnahmen gegenüber, die diese Schwierigkeiten teilweise ausgleichen. Die Einsicht des Beschuldigten in die Akten betreffend den V-Personen-Einsatz vermag Aufschluss über die Instruktion und den Ablauf und damit auch wichtige Hinweise über das Verhalten des verdeckten Ermittlers und allfällige Widersprüche zu geben; das wiederum kann Hinweise zur Glaubwürdigkeit ergeben. Von Bedeutung ist ferner, dass der Gerichtsvorsitzende die Person des verdeckten Ermittlers kennt, volle Einsicht in die Spezialakten hat und die V-Person auch einvernehmen kann. Diese Kenntnisse und die in einem Bericht für die Verteidigung festgehaltene Schilderung und Prüfung erlauben eine weitergehende Beurteilung der Glaubwürdigkeit der VPerson und ermöglichen dem Angeschuldigten in zusätzlichem Masse, sich ein eigenes Bild von der Person des verdeckten Ermittlers zu machen. Schliesslich vermag auch die Befragung des Einsatzleiters vor dem Gericht weitere Aufschlüsse zu geben. Alle diese Massnahmen können einen Ausgleich zur Aufrechterhaltung der Anonymität schaffen … Wie sehr diese Massnahmen im Einzelfall tatsächlich eine ausreichende Kompensation darstellen und eine hinreichend wirksame Befragung im Sinne von Art. 4 BV und Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK erlauben, hängt stark von den gesamten Umständen und von der Beweislage ab und lässt sich letztlich abstrakt nicht schlüssig be-
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
dass es bei diesem Ausgleichserfordernis nicht um das – ohnehin nicht mögliche – Wiederherstellen der «optimalen» uneingeschränkten Ausübungsform des Konfrontationsrechts geht, sondern dass sich das Ausgleichserfordernis vielmehr an der – den Wesensgehalt des Konfrontationsrechts ansprechenden – dem Angeklagten zu ermöglichenden wirksamen Überprüfung und Infragestellung der Glaubwürdigkeit des belastenden Zeugenbeweises ausrichtet. Abzuwarten bleibt die weitere schweizerische Rechtsprechung, die zeigen wird, in welcher Weise sich dieses vom BG hier jedenfalls in deutlich erkennbaren Ansätzen bereits herausgearbeitete Verständnis vom Ausgleichserfordernis – mit welchem sich das BG in Einklang setzt mit einigen der Momente, die auch vom EGMR mit Blick auf den Charakter und Inhalt des Ausgleichserfordernisses hervorgehoben sind3015 – in der Zukunft entwickelt. (2)
Ausgewählte Einschränkungsformen und deren Regelungen im schweizerischen Strafverfahrensrecht
Einschränkungen des Konfrontationsrechts des Angeklagten werden im schweizerischen Strafverfahren mit Bezug auf sämtliche mit dem Konfrontationsrecht auf seiner Ausübungsebene verbundene Teilrechte für zulässig gehalten, sei dies hinsichtlich des Fragerechts im engen Sinne, des Rechts auf Kenntnis der Zeugenidentität und/oder des Rechts auf Wahrnehmung der Zeugenperson während der Zeugenvernehmung. Die hierbei im Einzelnen zu beachtenden Zulässigkeitsvoraussetzungen sind bei den verschiedenen Einschränkungsformen des Konfrontationsrechts in Rechtsprechung und Schrifttum zum Teil umstritten. (2.1)
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«Vermittelte» Zeugenbefragungen
Was das Fragerecht im engen Sinne und hier die Frage nach seiner unvermittelt oder nur vermittelt möglichen Ausübungsform betrifft, ist das Vorverfahren – und damit derjenige Verfahrensabschnitt, auf dem das Schwergewicht für die Beweiserhebungen im schweizerischen Strafverfahren liegt – von dem dem Angeklagten grundsätzlich zustehenden Recht auf eine direkte, unvermittelte Befragung des Belastungszeugen geprägt.3016 Das Hauptverfahren
3015
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antworten ...“ (S. 156, 157, hier kursive, im Originaltext fettgedruckte Hervorhebung BGE: «Art. 4 BV», «Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK», übrige Hervorhebung Demko). Siehe dazu unter Kap. 5 B. II. 1. b). So auch SCHMID, Praxiskommentar, Art. 147 N 8; SCHMID, Handbuch, S. 348 N 826 FN 111; ebenso wohl auch HAURI, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 341 N 11, wonach mit Art. 341 Abs. 2 StPO „eine Einschränkung gegenüber der allgemeinen Bestimmung von Art. 147 Abs. 1 vor(liegt)“; WOHLERS, in: DONATSCH/ HANSJAKOB/LIEBER, Art. 147 N 17: „Optimal genutzt werden kann dieses Recht dann,
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
geht hingegen von einer grundsätzlich vermittelten Zeugenbefragung aus und Art. 341 Abs. 2 StPO bestimmt, dass die anderen Mitglieder des Gerichts und die Parteien ihre Ergänzungsfragen vermittelt «durch die Verfahrensleitung» stellen lassen. Jedoch gestattet Art. 341 Abs. 2 StPO auch hier ein unvermitteltes direktes Fragerecht, bei dem die anderen Mitglieder des Gerichts und die Parteien ihre Ergänzungsfragen selber stellen können, was aber die Erteilung einer Ermächtigung der Verfahrensleitung erfordert.3017 1074
Einschränkungen der unvermittelten Befragungsmöglichkeit direkt durch den Angeklagten sehen zudem die Art. 148 Abs. 1 StPO und Art. 154 Abs. 4 Buchst. e. StPO vor: Nach Art. 148 Abs. 1 StPO ist dem Teilnahmerecht der Parteien bei Beweiserhebungen im Ausland im Rahmen eines Rechtshilfeverfahrens bereits «Genüge getan», wenn sie ihre Fragen «zuhanden der ersuchten ausländischen Behörde» (Abs. 1 Buchst. a.) formulieren und nach der Zeugeneinvernahme und nach Kenntnisnahme des Vernehmungsprotokolls schriftliche Ergänzungsfragen stellen können (Abs. 1 Buchst. c.).3018
1075
Kein direktes unvermitteltes Fragerecht sieht zudem der die Schutzmassnahmen für Kinder als Opfer regelnde Art. 154 StPO in dessen Absatz 4 Buchst. e. vor: Die Einvernahme des Kindes wird durch einen zu diesem Zweck speziell ausgebildeten Ermittlungsbeamten durchgeführt (Abs. 4 Buchst. d.) und nach Absatz 4 Buchst. e. üben die Parteien ihre Rechte «durch die befragende Person» aus, was bedeutet, dass die Parteien ihre Fragen an den speziell ausgebildeten Ermittlungsbeamten richten, welcher die Fragen sodann wiederum an das zu vernehmende Kind richtet.3019 Dieses Vorgehen, bei dem die Fragen der Parteien von diesen nicht direkt an das Kind gestellt werden dürfen, sondern durch den Ermittlungsbeamten als die Vernehmungsperson vermittelt werden,3020 kann zudem mit einer weiteren Einschränkung des Konfronta-
3017
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3020
700
wenn es … im Wege einer direkten Kommunikation … ausgeübt werden kann …“; RIKLIN, StPO Kommentar, Vorbem. Art. 147 f. N 11, wonach das „(v)olle(s) direkte(s) (simultane(s)) Frage- und Konfrontationsrecht … der Normalfall“ sei; anderer Ansicht hingegen SCHLEIMINGER, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 147 N 8, wonach sich aus Art. 147 StPO „kein unmittelbares Fragerecht ableiten“ (hier kursive, im Originaltext fettgedruckte Hervorhebung Schleiminger) lasse. Siehe zu Empfehlungen des Schrifttums, dem Angeklagten ein möglichst direktes Fragerecht einzuräumen, etwa MATHYS, S. 130: „den Parteien in diesem Fragerecht die grösstmögliche Freiheit zu gewähren“ sowie „sollten … den Zeugen … direkt befragen können“ (hier kursive, im Originaltext fettgedruckte Hervorhebung Mathys). Siehe dazu näher SCHLEIMINGER, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 148 N 1; WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 148 N 3, 4. Siehe dazu näher WEHRENBERG, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 154 N 23. Siehe dazu SCHMID, Praxiskommentar, Art. 154 N 12; WEHRENBERG, in: NIGGLI/ HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 154 N 23; WOHLERS, in: DONATSCH/
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
tionsrechts – die dessen Teilrechte in Gestalt des Anwesenheits- und Wahrnehmungsrechts berühren – in Form einer auch räumlichen Trennung zwischen Angeklagtem/Verteidiger und dem einzunehmenden Kind sowie einer audiovisuellen Übertragung der Einvernahme verbunden werden.3021 (2.2)
Einschränkungen in Bezug auf – mündliche – Zeugenbefragungen
Auch Einschränkungen von der grundsätzlich mündlichen Befragung des Belastungszeugen sind im schweizerischen Strafverfahren zulässig und das Stellen schriftlicher Ergänzungsfragen wird ausnahmsweise für ausreichend erachtet, wobei aber das alleinige Gewähren eines schriftlichen Fragenstellens lediglich vor der Einvernahme des Belastungszeugen in Gestalt des Einreichens eines schriftlichen Fragekatalogs sowohl in der Rechtsprechung als auch im Schrifttum nicht als genügend angesehen wird.3022 Für ausreichend hält die Rechtsprechung jedoch die dem Angeklagten einzuräumende Möglichkeit des Stellens nachträglicher schriftlicher Ergänzungsfragen im Anschluss an die unter Ausschluss des Angeklagten stattgefundene Zeugenvernehmung und nach Einsicht in das Vernehmungsprotokoll oder die Videoaufzeichnung,3023 was das Schrifttum wiederum unterschiedlich beurteilt.3024
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HANSJAKOB/LIEBER, Art. 154 N 13; GOLDSCHMID/MAURER/SOLLBERGER, S. 147; VOGT, in: GOMM/ZEHNTER, Art. 154 N 30. Dazu auch WEHRENBERG, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 154 N 23; WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 154 N 13; VOGT, in: GOMM/ZEHNTER, Art. 154 N 30; GOLDSCHMID/MAURER/SOLLBERGER, S. 147; siehe dazu auch BGE 129 I 151, S. 159. Siehe aus der Rechtsprechung BGE 118 Ia 462, S. 471: „… Dass dem Beschwerdeführer vor der rechtshilfeweisen Einvernahme des Zeugen Z. Gelegenheit eingeräumt worden ist, einen schriftlichen Fragenkatalog für die Zeugenbefragung zusammenzustellen und auch sein Verteidiger bei der Einvernahme anwesend war, steht fest. Indessen reicht diese Möglichkeit allein im vorliegenden Fall nicht aus. Aussagewidersprüche, welche mit der Konfrontation ausgeräumt oder erhellt werden sollen, ergeben sich naturgemäss erst nach der Befragung des Belastungszeugen bzw. anlässlich einer persönlichen Konfrontation. Dies gilt um so mehr im vorliegenden Fall, musste doch dem an der Zeugenbefragung nicht anwesenden Angeschuldigten das auf Deutsch abgefasste Einvernahmeprotokoll vorerst ins Spanische übersetzt werden. Wie dargelegt müssen daher auf Grund eines entsprechenden Antrags entweder die Beteiligten persönlich konfrontiert oder wenigstens nachträgliche schriftliche Ergänzungsfragen des Angeschuldigten an den Belastungszeugen zugelassen werden …“ (Hervorhebung Demko); BGE 125 I 127, S. 137; siehe aus dem Schrifttum etwa WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 147 N 22; SCHLEIMINGER, S. 315 f. Siehe aus der Rechtsprechung etwa BGE 104 Ia 314, S. 319; BGE 105 Ia 396, S. 397: „… Es ist dem Angeklagten unabhängig von der Ausgestaltung des kantonalen Prozessrechts mindestens einmal während des Verfahrens Gelegenheit zu geben, der Ein-
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Bestimmungen zur Anfertigung von Aufzeichnungen der Einvernahme in Bild und Ton finden sich auch in den Art. 144 Abs. 2 und Art. 154 Abs. 4 Buchst. d. Satz 2 StPO sowie ebenso in Art. 76 Abs. 4 StPO und zurecht verweist das Schrifttum auf die wichtige Bedeutung solcher Aufzeichnungen sowohl für die Wahrheitsfindung als auch für die zu wahrenden Verteidigungsrechte.3025 1077
Wird von der Rechtsprechung auch das dem Angeklagten zuvörderst einzuräumende Recht auf Stellen nachträglicher schriftlicher Ergänzungsfragen betont, so sind ihrer Ansicht nach aber auch eine weitergehende Einschränkung des Konfrontationsrechts und hier letztlich eine Reduzierung des Konfrontationsrechts auf die Ausübung des rechtlichen Gehörs3026 als zulässig anzusehen: Eine Verwertbarkeit der belastenden Zeugenaussage ist hier auch
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vernahme von Zeugen, die ihn belasten, beizuwohnen und Ergänzungsfragen zu stellen oder aber, sofern er dem Verhör nicht beiwohnen kann, nach Einsicht in das Einvernahmeprotokoll schriftlich ergänzende Fragen zu stellen …“ (Hervorhebung Demko); BGE 113 Ia 412, S. 422: „... mindestens einmal während des Verfahrens Gelegenheit zu geben, der Einvernahme von Zeugen, die ihn belasten, beizuwohnen und Ergänzungsfragen zu stellen oder aber, sofern er der Vernehmung nicht beiwohnen kann, nach Einsicht in die Aussagen schriftlich ergänzende Fragen anzubringen …“ (Hervorhebung Demko); BGE 118 Ia 462, S. 469 ff.; zudem BGE 129 I 151, S. 159; siehe dazu auch SCHLEIMINGER, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 147 N 21, 24; WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 147 N 21, 22. Schleiminger steht der Möglichkeit nachträglicher schriftlicher Ergänzungsfragen nach Einsicht in das Einvernahmeprotokoll sowie von Videoaufzeichnungen, bei denen dem Angeklagten keine Möglichkeit einer zeitgleichen Beeinflussung der Zeugenbefragung gegeben war, kritisch und ablehnend gegenüber, da es an dem Erfordernis der Simultanität fehle, siehe SCHLEIMINGER, S. 315 ff. mit näheren Ausführungen. Wohlers hält im Fall von Videoaufzeichnungen „keine(n) durchgreifenden Bedenken“ (N 21) für gegeben, im Fall der nachträglichen schriftlichen Ergänzungsfragen nach Einsicht in das Einvernahmeprotokoll aber eine „vollständige Kompensation … nicht möglich, da die Möglichkeit, das Aussageverhalten wahrzunehmen … nicht gegeben ist“ (N 22), siehe näher WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 147 N 21, 22; siehe auch SCHEIDEGGER, S. 251 ff. mit weiteren Ausführungen und Nachweisen zur nicht einheitlichen Beurteilung in Rechtsprechung und im Schrifttum. Näher dazu WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 154 N 14, 15; WEHRENBERG, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 154 N 22; zur Kritik an dem gesetzlichen Wortlaut des Art. 76 Abs. 4 S. 1 StPO, in dem von «Ton oder Bild» (Hervorhebung Demko) gesprochen wird, siehe zu recht NÄPFLI, in: NIGGLI/HEER/ WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 76 N 17. Siehe auch BGE 124 I 274, S. 286: „… Für die Vereinbarkeit mit den Anforderungen von Art. 6 Ziff. 1 EMRK erforderlich ist in solchen Fällen aber, dass der Beschuldigte dazu hinreichend Stellung nehmen kann …“ (hier kursive, im Original fettgedruckte Hervorhebung BG: «Art. 6 Ziff. 1 EMRK», übrige Hervorhebung Demko).
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
dann für möglich zu halten, wenn Fallkonstellationen – wie etwa der Tod des Zeugen, seine lange oder dauernde Einvernahmeunfähigkeit, die berechtigte Zeugnisverweigerung oder die Unauffindbarkeit des Zeugen trotz angemessener Nachforschungen – gegeben sind, in denen dem Angeklagten das Stellen von Ergänzungsfragen nicht (mehr) ermöglicht werden konnte:3027 „… Aufgrund von Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK darf demnach in einem Strafverfahren im allgemeinen nur dann auf die Aussagen eines Belastungszeugen abgestellt werden, wenn der Angeklagte bei dessen Einvernahme wenigstens einmal anwesend sein konnte oder zumindest Gelegenheit hatte, nach Einsicht in das Einvernahmeprotokoll schriftlich Ergänzungsfragen an den Zeugen zu stellen, die diesem in einer weitern Einvernahme vorgelegt wurden. Es kann freilich Fälle geben, in welchen dieser Grundsatz nicht eingehalten werden kann, z.B. beim Tod eines Zeugen oder dann, wenn ein Zeuge dauernd oder für lange Zeit einvernahmeunfähig wird. In diesen Fällen darf die Aussage des Zeugen verwertet werden, auch wenn der Angeklagte keine Gelegenheit hatte, Ergänzungsfragen zu stellen. Es kann nicht dem Sinn der EMRK entsprechen, dass z.B. in einem Mordprozess der Angeklagte freizusprechen wäre, wenn der einzige Zeuge der dem Angeklagten zur Last gelegten Tat stirbt, bevor ihm Ergänzungsfragen des Angeklagten gestellt werden konnten …“3028
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Neben – mit Einvernahmeprotokollen3029 und Videoaufzeichnungen3030 verbundenen – Einschränkungen von einem grundsätzlich uneingeschränkt ausübbaren Konfrontationsrecht durch das Stellenkönnen von nur nachträglichen schriftlichen Ergänzungsfragen oder gar eine Verwertbarkeit belastender Zeugenaussagen auch ohne das Stellenkönnen von Ergänzungsfragen tritt
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Zur Kritik daran siehe näher SCHLEIMINGER, S. 37: „hebt das Bundesgericht das Konfrontationsrecht kurzerhand auf“. BGE 105 Ia 396, S. 397 (hier kursive, im Original fettgedruckte Hervorhebung BG: «Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK», übrige Hervorhebung Demko); siehe ebenfalls BGE 124 I 274, S. 285, 286: „… Es kann mit der Natur eines fairen Verfahrens unter besonderen Umständen vereinbar sein, von einer solchen Befragung abzusehen … Zum andern hat der Menschenrechtsgerichtshof die fehlende Befragung gebilligt, wenn der Zeuge berechtigterweise das Zeugnis verweigerte … der Zeuge trotz angemessener Nachforschungen unauffindbar war … oder der Zeuge verstorben ist … Gleichermassen hat das Bundesgericht das Abstellen auf eine belastende Aussage eines Zeugen, der in der Zwischenzeit stirbt oder einvernahmeunfähig wird und daher nicht mehr befragt werden kann, zugelassen … Für die Vereinbarkeit mit den Anforderungen von Art. 6 Ziff. 1 EMRK erforderlich ist in solchen Fällen aber, dass der Beschuldigte dazu hinreichend Stellung nehmen kann …“ (hier kursive, im Original fettgedruckte Hervorhebung BG: «Art. 6 Ziff. 1 EMRK», übrige Hervorhebung Demko); BGE 125 I 127, S. 136. Siehe auch WEHRENBERG, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 149 N 4: „Ersetzen der mündlichen Zeugenaussage durch Verlesung von Protokollen in der Gerichtsverhandlung“. Siehe dazu auch WEISHAUPT, ZStrR 2002, S. 238; WOHLERS, ZStrR 2005, S. 158.
703
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
zudem die von der Rechtsprechung für zulässig gehaltene Möglichkeit des Rückgriffs auf Zeugen vom Hörensagen, wie sie etwa in Fällen des Einsatzes verdeckter Ermittler und hier der Vernehmung des Einsatzleiters für möglich gehalten wird.3031 1080
Zu der ausdrücklichen Regelung des Stellens schriftlicher Ergänzungsfragen in Art. 148 Abs. 1 Buchst. c. StPO tritt als eine weitere – die Mündlichkeit der Zeugeneinvernahme und -befragung sowie das Konfrontationsrecht mit Bezug auf dessen Teilrechte des Anwesenheits-, Wahrnehmungs- und Fragerechts in sehr bedenklicher3032 und „fragwürdiger“3033 Weise einschränkende 3031
3032
704
Siehe etwa BGE 125 I 127, S. 157: „… die Befragung von Einsatzleitern stellen indirekte Beweise oder so genannte Beweissurogate dar. Diese können nicht grundsätzlich und abstrakt abgelehnt oder aus dem Verfahren ausgeschlossen werden. Sie erfordern indessen eine sorgfältige Würdigung durch das Gericht und eine Prüfung darauf hin, was im Einzelfall tatsächlich bezeugt werden kann und was subjektive Beurteilung ist …“ (Hervorhebung Demko); siehe zu V-Männern und anonymen Gewährspersonen auch BGE 118 Ia 462, S. 470; BGE 118 Ia 457, S. 459; BG vom 5.11.2004, 1P.784/2003 E. 2.3.; BGE 118 Ia 327, S. 329 ff.; zur abweichenden früheren Rechtsprechung siehe BGE 112 Ia 18, S. 24; siehe aus dem Schrifttum etwa speziell zum V-Personen-Einsatz die Abhandlungen von BAUMGARTNER und GNÄGI; THOMANN, ZStrR 1993, S. 285 ff.; JOSET/RUCKSTUHL, ZStrR 1993 S. 355 ff.; MÜLLER-HASLER, S. 189, 193 f., 197 f.; HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, S. 232 N 11; DONATSCH, ZStrR 1987, S. 397 ff.; DONATSCH/SCHWARZENEGGER/WOHLERS, S. 126; LIEBER, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, § 14 N 84; HAUSER, ZStrR 1966, S. 306 ff.; SEEBODE/SYDOW, JZ 1980, S. 506 ff.; zur Verwertbarkeit mittelbarer Beweise auch HEINE, ZStrR 1992, S. 69 ff. Siehe zu den bereits bei den Vorarbeiten zur Einführung dieser Bestimmung in die Strafprozessordnung geäusserten Bedenken näher Botschaft, S. 1186: „… Obschon allen einzuvernehmenden Personen die Möglichkeit der Abgabe eines schriftlichen Berichts eingeräumt werden kann, also auch der beschuldigten Person, ist bei dieser und bei andern Personen, bei denen der persönliche Eindruck eine Rolle spielt, grosse Zurückhaltung angezeigt. Die Entgegennahme schriftlicher Berichte darf nicht zur Einschränkung der Parteirechte führen; wenn die beschuldigte Person es verlangt, sind Zeuginnen oder Zeugen, die schriftliche Berichte eingereicht haben, auch mündlich einzuvernehmen. Die Strafbehörde darf sich aber auch ihrer Pflicht zur Wahrheitsfindung nach Artikel 137 Absatz 1 und zur Klärung von Widersprüchen nach Artikel 141 Absatz 5 nicht entledigen: Bestehen Zweifel an der Richtigkeit eines Berichts oder will sich die Strafbehörde ein eigenes Bild von der einzuvernehmenden Person verschaffen, hat sie zumindest eine ergänzende Einvernahme durchzuführen. Schliesslich darf die Einladung zur Abgabe eines schriftlichen Berichts nicht zur Aushöhlung der Aussageverweigerungsrechte führen. Die betroffenen Personen sind deshalb auf diese Rechte aufmerksam zu machen ...“ (Hervorhebung Demko). Siehe zu den auch im Schrifttum geäusserten Bedenken etwa GODENZI, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 145 N 10: Entscheidung des Gesetzgebers „in fragwürdiger Weise für eine einstweilige Suspendierung des Anwesenheitsrechts der Parteien bei der Beweiserhebung
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
– Regelung die des Art. 145 StPO: Dieser Artikel gewährt die Möglichkeit der Abgabe eines schriftlichen Berichts der einzuvernehmenden Person an Stelle ihrer Einvernahme oder zur Ergänzung dieser, wobei die Strafbehörde – anders als noch nach der Vorgängervorschrift des Art. 155 I VEStPO3034 – die einzuvernehmende Person zur Erstellung eines solchen schriftlichen Berichts nicht verpflichten, sondern nur «einladen» «kann».3035 Solche schriftlichen Berichte werden im Interesse der effizienten Strafverfolgung3036 und der Zeitersparnis3037 etwa in Fällen von Massendelikten3038 oder technischen Auskünften3039 als geeignet angesehen, aber auch in komplexen Fällen3040 und insbesondere dann, wenn Auskünfte über Vorgänge aus dem Amts- oder Berufsbereich etwa durch Behörden, Beamte, Rechtsanwälte oder Ärzte erteilt werden sollen.3041
3033 3034
3035 3036 3037 3038
3039 3040 3041
…: Es kann nun einmal kein Recht auf physische Teilnahme an einer Beweisabnahme geben, die gerade dazu gedacht ist, die persönliche Begegnung mit der einzuvernehmenden Person (vorläufig) zu substituieren …“ (hier kursive, im Originaltext fettgedruckte Hervorhebung Godenzi: «Beweiserhebung»; übrige Hervorhebung Demko); HÄRING, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 145 N 6, 11: Schriftliche Einvernahme sollte „nur sehr zurückhaltend Anwendung finden und die Ausnahme bleiben“ (N 6, hier kursive, im Originaltext fettgedruckte Hervorhebung Häring), problematisch sei, dass in Fällen einer schriftlichen Einvernahme dem Recht der Parteien auf Anwesenheit bei Beweiserhebungen und darauf, der einvernommenen Person Fragen zu stellen, „nicht unmittelbar Rechnung getragen werden kann“ (N 11), siehe dort auch mit weiteren Ausführungen näher N 11. GODENZI, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 145 N 10. Nach Art. 155 Abs. 1 VEStPO konnten die Strafbehörden von der einzuvernehmenden Person schriftliche Berichte anstelle oder zur Ergänzung der Einvernahme «verlangen oder entgegennehmen» (Hervorhebung Demko). Siehe auch den Hinweis in der Botschaft, S. 1186. Siehe Begleitbericht, S. 112. Siehe Botschaft, S. 1186. Näher Begleitbericht, S. 112 und Botschaft, S. 1186: Bei Massendelikten mit vielleicht Hunderten von Geschädigten könne „ein Fragebogen versandt“ (S. 1186) werden. Siehe Botschaft, S. 1186. Siehe Begleitbericht, S. 112. Näher dazu Begleitbericht, S. 112; siehe auch die – im Vergleich zu Art. 145 StPO aber enger gefasste – frühere Regelung des § 138 ZH StPO, die als Ausnahme von der allgemeinen Zeugnispflicht nach § 128 ZH StPO bestimmte, dass Beamte mit Beziehung auf Wahrnehmungen und Verhandlungen, über welche sie ein Protokoll führen, in der Regel nicht zur Ablegung eines mündlichen Zeugnisses anzuhalten sind, sondern nur zur Einreichung eines Protokolls oder Auszuges oder einer Abschrift, sofern das Protokoll genügend Aufschluss gibt, siehe dazu näher DONATSCH, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, Stand Juni 2000, § 138 N 1 ff.
705
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
(2.3)
Einschränkungen in Bezug auf Wahrnehmung und Kenntnis der Zeugenperson
1081
Hinsichtlich der Teilrechte des Konfrontationsrechts in Gestalt des Anwesenheitsrechts und des damit verbundenen Rechts auf unmittelbare optische und akustische Wahrnehmung des Belastungszeugen während seiner Zeugenvernehmung und -befragung sieht die Strafprozessordnung ebenfalls verschiedene Möglichkeiten vor, um diese grundsätzlich zu wahrenden Befugnisse des Angeklagten ausnahmsweise einzuschränken: Eine Vermeidung einer unmittelbaren physischen Begegnung zwischen Angeklagtem und Belastungszeugen in ein und demselbem Raum und die Durchführung der Zeugeneinvernahme und -befragung unter Ausschluss der physischen Anwesenheit des Angeklagten sind im Art. 149 Abs. 1 Buchst. b. StPO («Einvernahme unter Ausschluss der Parteien») geregelt sowie ebenso mit den Art. 152 Abs. 3, 153 Abs. 2 und Art. 154 Abs. 4 Buchst. a. StPO verbunden.
1082
Als eine die unmittelbare Zeugenkonfrontation im selben Raum zulässig einschränkende Ausübungsform sind des Weiteren der Einsatz technischer Hilfsmittel für die Zeugenbefragung und hier insbesondere die audiovisuell übertragene Einvernahme anerkannt:3042 Bei dieser kommt es zu einer zeitgleichen Übertragung der Einvernahme in Bild und Ton und dem Angeklagten ist es dadurch – trotz Einschränkung seines Rechts, dem Belastungszeugen persönlich im selben Raum gegenüber zu treten, ihn dort zu befragen und unvermittelt sinnlich wahrzunehmen – ermöglicht, zum einen die verbalen Aussagen des Belastungszeugen wahrzunehmen und vor allem auf die Entstehung der Zeugenaussage Einfluss zu nehmen,3043 indem er und der Belastungszeuge in einen zeitgleich-direkten Interaktions- und Kommunikationsprozess mit einer jeweils unmittelbaren Aufeinanderbezugnahme von Fragen und Antworten eintreten.3044 Zum anderen wird dem Angeklagten hier auch ermöglicht, das nonverbale Aussageverhalten der Zeugenperson optisch und akustisch wahrzunehmen.3045 Eine ausdrückliche Regelung in der Strafpro3042
3043
3044
3045
706
Siehe dazu näher WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 144 N 2 ff., 9, Art. 147 N 20, Art. 149 N 21, Art. 152 N 9, 10, Art. 153 N 5, Art. 154 N 11; HÄRING, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 144 N 1 ff.; SCHLEIMINGER, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 147 N 21, 23; WEHRENBERG, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 149 N 4, 25, Art. 152 N 22, Art. 154 N 13; SCHMID, Handbuch, S. 354 N 839. Siehe auch SCHLEIMINGER, S. 318 f. zur Einflussnahme auf die Beweiserhebung unter Wahrung des Simultanitätserfordernisses. Siehe dazu auch HUG, Kassationsgericht, S. 393: „mit den jeweiligen Fragen situativ an die Antworten und (akustischen oder visuellen) Reaktionen eines Zeugen anzuknüpfen“. Siehe dazu etwa WEHRENBERG, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 152 N 22; zu beachten bleibt aber auch der Gesichtspunkt, dass direkte Zeugenkonfronta-
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
zessordnung zu einer solchen Zeugenkonfrontation unter Zuhilfenahme technischer Hilfsmittel findet sich insofern in Art. 144 StPO, welcher die Einvernahme mittels Videokonferenz regelt, die als subsidiäre3046 Einvernahmeform dann in Betracht kommt, wenn das persönliche Erscheinen der einzuvernehmenden Person «nicht oder nur mit grossem Aufwand möglich» ist. Als ebenfalls zulässig werden im schweizerischen Strafverfahren zudem die Videosimultanübertragungen angesehen, bei denen dem sich ausserhalb des Einvernahmezimmers befindlichen Angeklagten die Einvernahme in Echtzeit in Bild und Ton übertragen wird,3047 so dass der Angeklagte den Belastungszeugen optisch und akustisch wahrnehmen kann und dieser für Fragen des Angeklagten zur Verfügung steht.3048 Eine spezielle ausdrückliche Vorschrift für eine solche Videosimultanübertragung ist in der Strafprozessordnung zwar nicht eingefügt, jedoch ist diese von den in Art. 149 Abs. 2 StPO nicht abschliessend3049 («namentlich») geregelten Schutzmassnahmen erfasst3050 und wird zudem mit den Massnahmen zum Schutz der Opfer nach den Art. 152 Abs. 3, Art. 153 Abs. 2 und Art. 154 Abs. 4 Buchst. a. StPO in Verbindung gesetzt.3051
3046
3047
3048
3049
3050
3051
tionen live im selben Raum gegenüber nur audiovisuell vermittelten vorzugwürdig sind, da mit jeder technischen Vermittlung immer auch Einbussen hinsichtlich der Interaktions- und Kommunikationssituation sowie der optischen und akustischen Wahrnehmbarkeit einhergehen können, siehe dazu auch der Hinweis von HUG, Kassationsgericht, S. 393: „Videoübertragungen können … höchstens teilweise einen Ersatz bieten“; HUSSELS, ZRP 1995, S. 243. WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 144 N 4; SCHMID, Handbuch, S. 342 N 815.; siehe zur internationalen Videokonferenz und zu der in der Strafprozessordnung nicht vorgesehenen Telefonkonferenz näher WOHLERS, in: DONATSCH/ HANSJAKOB/LIEBER, Art. 144 N 12 f.; HÄRING, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 144 N 11; SCHMID, Handbuch, S. 348 N 825. Zur Unterscheidung zwischen Videokonferenz, Videosimultanübertragung und Videoaufnahme siehe näher WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 144 N 2, 3, 7, 8, 9. Siehe dazu WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 147 N 20, Art. 149 N 21, Art. 152 N 9, 10, Art. 153 N 5, Art. 154 N 11; SCHLEIMINGER, in: NIGGLI/ HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 147 N 21, 23; WEHRENBERG, in: NIGGLI/ HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 149 N 4, 25, Art. 152 N 22, Art. 154 N 13; SCHMID, Handbuch, S. 354 N 839. Siehe auch WEHRENBERG, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 149 N 15. Siehe dazu WEHRENBERG, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 149 N 4, 25. Siehe etwa WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 152 N 9, 10, Art. 153 N 5, Art. 154 N 11; WEHRENBERG, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 152 N 22, Art. 154 N 13; SCHMID, Handbuch, S. 358 N 847.
707
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen 1083
Als weitere Zeugenschutzmassnahme, die sich beeinträchtigend sowohl auf das Recht des Angeklagten, den Belastungszeugen und sein Verhalten während der Einvernahme und Befragung optisch und akustisch wahrzunehmen, als auch – da eben solche Wahrnehmungen Anlass zum Stellen weiterer Fragen sein können3052 – auf das Fragerecht im engen Sinne bezieht, kommt die in Art. 149 Abs. 2 Buchst. d. StPO geregelte Möglichkeit der optischen und akustischen Abschirmung des Zeugen sowie der Veränderung von dessen Aussehen und Stimme in Betracht.3053 Zu denken ist dabei sowohl an Zeugenabschirmungen und -veränderungen (wie etwa Perücken oder Wandschirme) für den Fall einer Zeugeneinvernahme und -befragung, bei der sich die befragenden Personen und hier auch der Angeklagte sowie der Belastungszeuge physisch im selben Raum befinden, als auch an technische Bild- und Stimmveränderungen bzw. -verfremdungen, die in Kombination3054 mit einer audiovisuell übertragenen Einvernahme vorgenommen werden.3055
1084
Einschränkungen des zum Konfrontationsrecht gehörenden Teilrechts des Angeklagten auf Kenntnis der Zeugenidentität – die sich aufgrund fehlender Wissenselemente zur Zeugenperson ebenso einschränkend auf das Fragerecht im engen Sinne auswirken – sind in Art. 149 Abs. 2 StPO geregelt und damit verbundene Bestimmungen sind in den Art. 150 und 151 StPO enthalten, wonach verschiedene und für einen wirksamen Identitätsschutz auch miteinander kombinierbare,3056 die Identität des Zeugen ganz oder teilweise einschränkende Schutzmassnahmen ermöglicht sind.3057 Die in Art. 149 Abs. 2 Buchst. a. StPO geregelte Zusicherung der Anonymität, deren Umsetzung nach einer Verbindung mit weiteren Schutzmassnahmen verlangt, kann dabei etwa mit der Einvernahme unter Ausschluss der Parteien oder der Öffentlichkeit nach Art. 149 Abs. 2 Buchst. b. StPO, der Feststellung der Personalien unter Ausschluss der Parteien oder der Öffentlichkeit nach Art. 149 Abs. 2 Buchst. c. StPO, den Zeugenabschirmungen und -veränderungen nach 3052 3053
3054
3055
3056 3057
708
Dazu auch HUG, Kassationsgericht, S. 393. Siehe zur ausdrücklichen Bezugnahme auf diese Zeugenschutzmassnahme zudem in Art. 152 Abs. 3 S. 3 StPO; zur Anerkennung der Möglichkeit solcher Zeugenabschirmungen und -veränderungen bereits vor Erlass der eidgenössischen Strafprozessordnung siehe aus der Rechtsprechung etwa BGE 125 I 127, S. 149 f.; BGE 133 I 33, S. 38, 39. Siehe Schmid, Handbuch, S. 353 N 837; WEHRENBERG, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 149 N 15. Näher dazu WEHRENBERG, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 149 N 24, 25; WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 149 N 21; SCHMID, Handbuch, S. 354 N 837. Dazu WEHRENBERG, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 149 N 20. Zur Zulässigkeit der Zeugenanonymisierung in der Rechtsprechung des BG siehe etwa BGE 118 Ia 462, S. 470, BGE 125 I 127, S. 137 ff., 147 ff., BGE 133 I 33, S. 38 ff.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
Art. 149 Abs. 2 Buchst. d. StPO, der Einschränkung der Akteneinsicht nach Art. 149 Abs. 2 Buchst. e. StPO und/oder mit weiteren, in Art. 149 Abs. 2 StPO nicht ausdrücklich aufgezählten Zeugenschutzmassnahmen kombiniert werden.3058 cc)
Die auf der Beweiswürdigungsebene angelegten Anforderungen
Hinsichtlich der im Rahmen der Beweiswürdigung zu beachtenden Anforderungen mit Blick auf die unter nur eingeschränkt ausübbarem Konfrontationsrecht zustande gekommene Zeugenaussage eines Belastungszeugen hebt die Rechtsprechung neben dem Erfordernis einer sorgfältigen Prüfung und Würdigung jener Zeugenaussage3059 auf das Kriterium eines sich notwendig in einer spezifischen Weise zu gestaltenden Zusammenspiels jener Zeugenaussage mit anderen Beweismitteln ab. Mit Verweis auf die und in Befolgung der Spruchpraxis des EGMR betont das BG in fortlaufender, wenn auch in jüngeren Entscheiden zum Teil kritisch in Frage gestellter Spruchpraxis,3060 dass mit Blick auf eine Verurteilung des Angeklagten die unter nur eingeschränkter Zeugenkonfrontation zustande gekommene Zeugenaussage weder den einzigen noch den ausschlaggebenden Beweis darstellen darf.3061 Das „strenge Erfordernis des Anspruchs auf Befragung von Belastungszeugen“3062 erfährt in der Praxis eine „gewisse Abschwächung“3063 bzw. eine „gewisse Relativierung“:3064
3058
3059
3060
3061 3062 3063 3064
Siehe dazu auch WEHRENBERG, in: NIGGLI/HEER/WIPRÄCHTIGER, BSK StPO, Art. 149 N 20; WOHLERS, in: DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Art. 149 N 16. Siehe etwa BGE 112 Ia 18, S. 24; BGE 124 I 274, S. 286, 288; BGE 125 I 127, S. 157: Indirekte Beweise oder so genannte Beweissurrogate „… können nicht grundsätzlich und abstrakt abgelehnt oder aus dem Verfahren ausgeschlossen werden. Sie erfordern indessen eine sorgfältige Würdigung durch das Gericht und eine Prüfung darauf hin, was im Einzelfall tatsächlich bezeugt werden kann und was subjektive Beurteilung ist …“; BGE 131 I 476, S. 482: „die Aussagen sorgfältig geprüft werden“; BG, 6B_802/2007, E. 2.1; BG, 6B_708/2007, E. 4.4.; kritisch dazu zu recht DONATSCH/LIEBER, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, § 15 N 8. Siehe dazu BGE 131 I 476, BGE 132 I 127 und BGE 133 I 33 und die nachfolgenden Ausführungen im Haupttext. BGE 125 I 127, S. 157. BGE 125 I 127, S. 135 unter Verweis auf die Spruchpraxis des EGMR. BGE 125 I 127, S. 135. BGE 131 I 476, S. 481.
709
1085
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen 1086
„… Es gilt uneingeschränkt nur in all jenen Fällen, in denen dem streitigen Zeugnis ausschlaggebende Bedeutung zukommt, das Zeugnis also den einzigen oder einen wesentlichen Beweis darstellt …“3065
1087
Im Falle, dass die belastende Zeugenaussage den „einzigen oder überwiegend ausschlaggebenden“3066 Beweis darstellt,
1088
„… stösst man an eine fast absolute Grenze, bei der auch die genannten Massnahmen keine hinreichende Kompensation bieten können … In einer derartigen Situation ist die Konsequenz zu ziehen, dass auf das Zeugnis der anonym bleibenden V-Personen nicht abgestellt werden darf und der Angeschuldigte in Respektierung des Grundsatzes «in dubio pro reo» allenfalls freizusprechen ist …“3067
1089
Obwohl auf das Kriterium, dass der belastenden Zeugenaussage keine ausschlaggebende Bedeutung zukommen und diese nicht der einzige oder der wesentliche Beweis sein darf, vom BG in ständiger Wiederholung zurückgegriffen wird, war und ist die Tauglichkeit dieses Kriteriums für die Frage der Heranziehung von belastenden Zeugenaussagen als Urteilsgrundlage in der Rechtsprechung jedoch nicht unumstritten: Nicht nur das Kassationsgericht in seiner früheren Rechtsprechung, sondern auch das BG selbst stellt(e) in jüngeren Entscheidungen dieses Kriterium in zunehmender Weise ernstlich in Frage, wenn auch jene das Schwanken der Rechtsprechung zum Ausdruck bringende Zweifel bisher nicht ausreichten, um sich von der bisherigen, dem EGMR folgenden ständigen Spruchpraxis des BG zu diesem Kriterium völlig zu lösen:
1090
Bereits 1986 führte das KassG an, dass „(A)llgemeine Erwägungen, wonach etwa indirekte Zeugenaussagen von vornherein besonders geringe Beweiskraft hätten oder nur im Zusammenhang mit anderen wesentlichen Indizien Beweis zu bilden vermöchten, … mit dem Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (Art. 249 BStP, § 284 StPO) unvereinbar“3068 sind. In späteren Entscheidungen stellte es sich dann ausdrücklich und gestützt auf eine ausführliche Begründung gegen die vom EGMR und von dem BG vertretene Ansicht, welche das KassG nicht zu überzeugen vermochte3069 und von ihm abgelehnt wurde:3070 Als entscheidendes Begründungselement hierfür ist an3065
3066 3067
3068 3069 3070
710
BGE 125 I 127, S. 135 (Hervorhebung Demko), siehe auch S. 157; siehe auch BGE 124 I 274, S. 286; BGE 129 I 151, S. 154; BGE 131 I 476, S. 481; BG, 6B_802/2007, E. 2.1; BG, 6B_708/2007, E. 4.4. BGE 125 I 127, S. 157. BGE 125 I 127, S. 157, gemeint sind mit den «genannten Massnahmen» die von BG mit Blick auf eine hinreichende Kompensation der Erschwernisse bei der Wahrung der Verteidigungsrechte geprüften Massnahmen auf S. 151 ff. KassG, ZR 85 (1986) Nr. 55, S. 138, 142. KassG, ZR 98 (1999) Nr. 63, S. 301, 307. KassG, ZR 98 (1999) Nr. 63, S. 301, 307.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
geführt worden, dass „… es nicht eine Frage der Beweisverwertung, sondern vielmehr der Beweiswürdigung sein müsse, welche Bedeutung im Hinblick auf eine Verurteilung dem Umstand zukommt, dass es sich bei der fraglichen Aussage um das alleinige oder ausschlaggebende Beweismittel handelt“.3071 Mit Blick auf die zu beachtende Differenzierung zwischen Beweisverwertbarkeit und Beweiswürdigung führte das KassG an, dass die „Unverwertbarkeit eines Beweismittels bedeutet, dass dieses aus bestimmten, ausserhalb der Beweiswürdigung liegenden Gründen … überhaupt nicht zu beachten ist, d.h. von Anfang nicht in die richterliche Beweiswürdigung einbezogen werden darf. Beweiswürdigung setzt also Verwertbarkeit voraus“.3072 Daraus folgerte das KassG sodann, dass „… nicht einzusehen (ist), inwiefern die Verwertbarkeit eines Beweismittels davon abhängen soll, ob dieses Beweismittel den Schuldspruch allein stützt oder ob es in Verbindung mit anderen Beweismitteln und Indizien herangezogen wird. Auch wenn die Verwertung nur in Verbindung mit bzw. zur Stützung von weiteren Beweisen oder Indizien erfolgt, kann das betreffende – zunächst unverwertbare – Beweismittel nicht plötzlich verwertbar werden. Mit anderen Worten kann ein Beweisverwertungsverbot nicht dadurch hinfällig werden, dass sich die Beweislage (durch Hinzutreten weiterer Beweismittel oder Indizien) verändert, denn das Verwertungsverbot schliesst es schon rein begrifflich aus, dass das betreffende Beweismittel in eine solche Gesamtwürdigung einbezogen wird …“3073
1091
Das KassG verwies mit seinen Ausführungen mithin zutreffend zum einen auf die seiner Ansicht nach notwendig zu beachtende Unterscheidung und Trennung zwischen der Ebene der Beweisverwertbarkeit einerseits und der der Beweiswürdigung andererseits.3074 Zum anderen äusserte das KassG darüber hinaus Zweifel an der in der Spruchpraxis des EGMR und des BG vorgenommenen Unterscheidung zwischen einer belastenden Zeugenaussage als einem einzigen, als einem wesentlichen oder als einem nur untergeordneten Beweismittel. Dieser Unterscheidung zumindest kritisch gegenüberstehend, schien es nach Ansicht des KassG vielmehr möglich zu sein, dass eine unter eingeschränkten Verteidigungsrechten zustande gekommene belastende Zeugenaussage auch als einziges Beweismittel verwertbar ist, wobei es eben eine Frage der Beweiswürdigung ist, was für ein Beweiswert einer solchen Aussagen zukommt.3075 Die vom KassG abgelehnte Auffassung des EGMR und des
1092
3071 3072 3073
3074
3075
KassG, ZR 100 (2001) Nr. 13, S. 37, 38 (Hervorhebung Demko). KassG, ZR 98 (1999) Nr. 63, S. 301, 307 (Hervorhebung Demko). KassG, ZR 98 (1999) Nr. 63, S. 301, 307 (Hervorhebung Demko) mit weiteren Ausführungen. Siehe zur Unterscheidung zwischen Beweiserhebung, Beweisverwertung und Beweiswürdigung auch näher unter Kap. 5 B. II. 2. c). KassG, ZR 98 (1999) Nr. 63, S. 301, 307: So formulierte das KassG etwa weiterführend, dass es beispielsweise „(K)onkret … nicht nachvollziehbar (wäre), weshalb bei
711
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
BG – wonach die „Verwertbarkeit … nur dann zu bejahen sei …“, wenn die belastende Zeugenaussagen „… nicht den einzigen oder wesentlichen Beweis darstellt“3076 – beruht nach Ansicht des KassG hingegen 1093
„… letztlich auf einer Vermischung der Frage der Verwertbarkeit auf der einen Seite und derjenigen der Beweiswürdigung auf der anderen Seite …“3077
1094
Da das BG in der fortlaufenden Rechtsprechung an dem Kriterium festhielt, dass die Zeugenaussage nicht der einzige oder wesentliche Beweis sein darf, sah sich das KassG dann jedoch zu einem Aufgeben seiner Ansicht veranlasst: Zwar wies es darauf hin, dass die vom EGMR zur „Frage des einzigen bzw. des ‹ausschlaggebenden› Beweismittels“3078 entwickelte Rechtsprechung „immerhin nicht unwidersprochen geblieben“3079 ist und insbesondere vom Schrifttum geltend gemacht wurde, „dass die Frage, ob ein Beweismittel das alleinige – oder ‹ausschlaggebende› – sei, unpraktikabel und fragwürdig sei, weil gerade in der Rechtsprechung der Konventionsorgane über diesen Punkt in der Vergangenheit immer wieder widersprüchliche Entscheide ergangen seien“.3080 Dennoch, so hiess es, kann an der der Rechtsprechung des EGMR und des BG „entgegengesetzten“3081 früheren Auffassung des KassG „nicht weiter festgehalten werden“,3082 nachdem
3076 3077 3078 3079 3080
3081 3082
712
einem Tötungsdelikt eine letzte Aussage des verstorbenen Opfers, welches nicht mehr in Gegenwart des Angeschuldigten befragt werden konnte, als alleiniges Beweismittel schlechthin unverwertbar sein soll, wogegen das Hinzutreten eines (sei es auch nur untergeordneten) weiteren Indizes für die Täterschaft dessen Verwertbarkeit begründen würde. Umgekehrt kann eine in Verbindung mit weiteren Beweisen verwertbare Aussage durch den blossen Wegfall solcher zusätzlicher Beweismittel nicht unverwertbar werden. Eine andere Frage – nämlich eine solche der Beweiswürdigung – ist es, welchen Beweiswert die Aussage … eines Zeugen hat, bei welchem eine Konfrontation mit dem Angeschuldigten nicht durchgeführt werden konnte bzw. bei welchem anlässlich der Konfrontation jener die Aussage und Beantwortung von Ergänzungsfragen verweigerte, und bei der es sich um das einzige Beweismittel handelt“ (Hervorhebung Demko). KassG, ZR 100 (2001) Nr. 13, S. 37, 38. KassG, ZR 98 (1999) Nr. 63, S. 301, 307. KassG, ZR 100 (2001) Nr. 13, S. 37, 38. KassG, ZR 100 (2001) Nr. 13, S. 37, 38. KassG, ZR 100 (2001) Nr. 13, S. 37, 38 (Hervorhebung Demko) mit Hinweis auf SCHLEIMINGER, AJP 1999, S. 1226; TRECHSEL, AJP 2000, S. 1368; siehe zur Kritik aus dem Schrifttum auch WOHLERS, ZStrR 2005, S. 170 f.; DEMKO, ZStrR 2004, S. 433 f.; DONATSCH/LIEBER, in: DONATSCH/SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, § 15 N 8. KassG, ZR 100 (2001) Nr. 13, S. 37, 38. KassG, ZR 100 (2001) Nr. 13, S. 37, 38 (Hervorhebung Demko).
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen „… das Bundesgericht in einem in der Zwischenzeit publizierten weiteren Urteil – unter Hinweis auf entsprechende Entscheide der Strassburger Organe – abermals auf das Kriterium des alleinigen bzw. ausschlaggebenden Beweismittels abgestellt und ausgeführt hat, eine Berücksichtigung solcher Aussagen sei nur dann konventionskonform, wenn das belastende Zeugnis ‹nicht den einzigen oder den ausschlaggebenden Beweis darstellt(e)› …“3083
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Wenn die vom KassG angeführten differenzierten Begründungsansätze seitens des BG auch lange unbeachtet geblieben sind, so äussert das BG in einigen seiner jüngeren Entscheidungen sodann aber selbst, und zwar in einer immer deutlicher und ausführlicher begründeten Weise, Zweifel an der Tauglichkeit des Kriteriums vom alleinigen oder wesentlichen Beweismittel: In BGE 131 I 476 heisst es noch zurückhaltend, dass der Auffassung, dass belastende Zeugenaussagen, die den einzigen oder ausschlaggebenden Beweis darstellen, unverwertbar sind, zwar
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„… in Bezug auf den hier zu beurteilenden Fall zuzustimmen (ist). Ob ihr generell gefolgt werden kann, braucht nicht abschliessend beantwortet zu werden …“3084
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In BGE 132 I 127 verweist das BG dann auf die „berechtigte Kritik“,3085 die dem EGMR und dessen Rechtsprechung – nach der die Zulassung von Zeugenaussagen anonymer Belastungszeugen im Falle ihrer ausschlaggebenden Bedeutung, d.h. im Falle, dass diese den einzigen oder einen wesentlichen Beweis darstellen, ausgeschlossen ist – entgegengehalten wird, führt diese Rechtsprechung doch zu einer Zulassung anonymer Zeugen „nur in Verfahren …, in denen sie für die Beweisführung letztlich überflüssig sind“.3086 Die Zweifel an der Tauglichkeit des Kriteriums vom einzigen oder wesentlichen Beweis zum Ausdruck bringend, führt das BG sodann ein Begründungsargument an, auf das es anschliessend in BGE 133 I 33 ebenfalls Rückgriff nimmt:
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„… Entscheidend für die Zulassung anonymer Zeugen kann indessen letztlich nicht das formale Kriterium sein, ob dem dadurch erlangten Beweis eine ausschlaggebende Bedeutung zukommt oder nicht. Vielmehr ist im Lichte der konventions- und verfassungsmässigen Verfahrensgarantien in einer Gesamtwürdigung zu prüfen, ob die durch die Zulassung des anonymen Zeugen bewirkte Beschneidung der Verteidigungsrechte durch schutzwürdige Interessen gedeckt ist und, wenn ja, ob sich der Be-
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3083
3084 3085 3086
KassG, ZR 100 (2001) Nr. 13, S. 38 (Hervorhebung Demko) mit Verweis auf BGE 125 I 127 E.6c/dd und Praxis 2000 Nr. 164 E., 5c. BGE 131 I 476, S. 486. KassG, ZR 100 (2001) Nr. 13, S. 37, 38 E. 2. BGE 132 I 127, S. 130; siehe auch BGE 133 I 33, S. 40 f.
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen schuldigte trotzdem wirksam verteidigen konnte, er mithin einen fairen Prozess hatte …“3087 1100
Diese damit angesprochene, notwendig auseinanderzuhaltende Beurteilung der Beweisverwertbarkeit einer unter eingeschränkter Ausübung des Konfrontationsrechts zustandegekommenen belastenden Zeugenaussage einerseits und der Beweiswürdigung dieser Zeugenaussage andererseits, auf welche ebenso bereits das KassG in seiner früheren Rechtsprechung hingewiesen hatte,3088 betont das BG unter eingehender Begründung auch in BGE 133 I 33: „(M)it Fug“3089 sei auf die „… inneren Widersprüche dieses vom Europäischen Gerichtshof vertretenen Massstabs für die Verwertung anonymisierter Zeugenaussagen …“3090 hingewiesen worden, denn
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„… (E)inerseits wird damit ein anonymisierter Zeuge ausdrücklich als (unter bestimmten Voraussetzungen) zulässiges Beweismittel anerkannt bzw. die damit verbundenen Einschränkungen des Konfrontations- und Fragerechts als noch mit dem Fairnessgebot vereinbar erachtet, anderseits wird die Möglichkeit der Heranziehung solcher Aussagen zur Begründung eines Schuldspruchs praktisch auf Null reduziert. Denn entweder tragen schon die anderen Beweise das Urteil, womit auf die (auch nur ergänzende) Verwertung anonymisierter Aussagen verzichtet werden kann, oder sie tragen den Schuldspruch für sich gesehen nicht, dann handelt es sich bei den Aussagen des anonymisierten Zeugen zwingend um ein zumindest mitentscheidendes Element …“3091
1102
Trotz der deutlich aufgeworfenen Zweifel an der Tauglichkeit des Kriteriums vom ausschlaggebenden Beweis hat sich das BG im Ergebnis jedoch mit einer Entscheidung darüber, ob belastende Zeugenaussagen eine Verurteilung des Angeklagten auch zu tragen vermögen, wenn diese den einzigen oder wesentlichen Beweis darstellen, (leider) zurückgehalten, gestützt auf die Begründung, dass der konkret zu entscheidende Fall zu einer Entscheidung dieser Frage freilich keinen Anlass gibt.3092 Denn die in jenem Fall zu beurtei3087
3088 3089 3090 3091
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BGE 132 I 127, S. 130 (Hervorhebung Demko); siehe auch BGE 133 I 33, S. 44; kritisch dazu ACKERMANN/CARONI/VETTERLI, AJP 2007, S. 1079 f. Siehe dazu die obigen Ausführungen zu KassG, ZR 98 (1999) Nr. 63, S. 301, 307. BGE 133 I 33, S. 43. BGE 133 I 33, S. 43. BGE 133 I 33, S. 43, 44, das BG prüfte u.a., „… ob die Europäische Menschenrechtskonvention die Unverwertbarkeit der anonymisierten Zeugenaussage verlangt. Sollte dies zutreffen, so hätte der im Gesetzesrecht des Bundes verankerte Grundsatz der freien Beweiswürdigung dem Vorrang der völkerrechtlichen Verpflichtung zu weichen …“ (S. 41). BGE 133 I 33, S. 46: „… Der zu beurteilende Fall gibt freilich keinen Anlass zur Entscheidung der Frage, ob die Aussage eines anonymisierten Zeugen unter den genannten Voraussetzungen auch einen Schuldspruch zu tragen vermag, wenn keine weiteren Beweismittel zur Verfügung stehen. Selbst wenn man nämlich davon aus-
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
lende belastende Zeugenaussage stellt nach Ansicht des BG weder den einzigen noch einen wesentlichen Beweis dar, sondern ist nur ein die Erkenntnisse aus den übrigen Beweisen, welche als ausschlaggebend beurteilt wurden,3093 unterstützendes und festigendes „Mosaiksteinchen“3094 von untergeordneter, nur abrundender Bedeutung.3095 Ebensolche belastenden Zeugenaussagen, denen für die Begründung des Schuldspruches „nicht die Funktion eines ausschliesslichen oder schwergewichtigen Beweismittels“3096 zukommt, dürften „… aber doch insofern herangezogen werden …, als sie gewissermassen als Mosaiksteinchen ein bereits anderweitig gewonnenes Beweisergebnis, welches für sich allein betrachtet einen schweren Tatverdacht begründet, ins Stadium des rechtsgenügenden Beweises zu überführen vermöchten …“3097
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Jene letztere Aussage, nach der belastende Zeugenaussagen „jedenfalls insoweit“3098 zur Begründung eines Schuldspruches herangezogen werden dürfen,
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geht, dass die Verfahrensgarantien der EMRK es verbieten, einen Schuldspruch ausschliesslich oder entscheidend auf eine anonymisierte Aussage zu stützen, würde dies im vorliegenden Fall einem Schuldspruch nicht entgegenstehen. Das Kassationsgericht geht zutreffend davon aus, dass die anonymisierte Aussage jedenfalls insoweit herangezogen werden darf, als sie als Mosaikstein ein anderweitig gewonnenes Beweisergebnis, welches allein betrachtet für den Schuldspruch nicht ausreicht, aber einen schwerwiegenden Tatverdacht begründet, ins Stadium des rechtsgenügenden Beweises zu überführen vermag …“ BGE 133 I 33, S. 48: „… Es kann nicht ernsthaft in Abrede gestellt werden, dass bereits diese Beweise zumindest für einen schweren Tatverdacht genügen, wenn sie nicht gar geeignet wären, den Schuldspruch zu tragen …“ BGE 133 I 33, S. 44. BGE 133 I 33, S. 44: Entgegen der Ansicht des BG kam der konkret zu beurteilenden Zeugenaussage hingegen nach Ansicht des Kassationsgerichts „mehr als nur eine untergeordnete, “abrundende“ Bedeutung zu“ (S. 44), sondern stelle ein „massgebliches Beweismittel …“ dar, „… dessen Heranziehung zur Begründung des Schuldspruchs durch die Rechtsprechung ausgeschlossen werde“ (S. 44). BGE 133 I 33, S. 44. BGE 133 I 33, S. 44, siehe auch S. 46: „… Das Kassationsgericht geht zutreffend davon aus, dass die anonymisierte Aussage jedenfalls insoweit herangezogen werden darf, als sie als Mosaikstein ein anderweitig gewonnenes Beweisergebnis, welches allein betrachtet für den Schuldspruch nicht ausreicht, aber einen schwerwiegenden Tatverdacht begründet, ins Stadium des rechtsgenügenden Beweises zu überführen vermag …“ (Hervorhebung Demko). BGE 133 I 33, S. 46: Das BG stellt dabei klar, dass für die Beurteilung der ausschlaggebenden Bedeutung eines Beweismittels nicht ausreichend ist zu prüfen, ob dieses ein direktes oder indirektes Beweismittel ist und dass sich aus der Tatsache des direkten/indirekten Beweises allein nicht zwingend die Beurteilung als ausschlaggebend/nicht ausschlaggebend ableitet: „… Das Kassationsgericht begnügt sich aber mit der Feststellung, der anonymisierte Zeuge stelle den einzigen direkten Tatzeugen dar, welcher die Begehung des Delikts unmittelbar mitverfolgt habe. Bei den anderen
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
als ihnen keine ausschlaggebende Bedeutung zukommt, stellt zwar für sich betrachtet noch keine Abweichung von der bisherigen ständigen Spruchpraxis des BG dar, ist es doch auch nach dieser notwendig, dass die belastende Zeugenaussage weder das einzige noch das wesentliche Beweismittel darstellt. Jedoch zeigen die vom BG zuvor geäusserten Hinweise auf die innere Widersprüchlichkeit des sich am Kriterium des einzigen oder wesentlichen Beweises ausrichtenden Massstabes für die Zulassung belastender Zeugenaussagen als Urteilsgrundlage, dass es jenem Kriterium jedenfalls skeptisch gegenübersteht.3099 Trotz dieser immerhin klar hervorgebrachten Zweifel an der bisherigen ständigen Spruchpraxis des BG hat das BG aber – sich insoweit zurückhaltender verhaltend als das KassG in seiner früheren Kritik an der Spruchpraxis des EGMR und des BG – bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt leider keine klare Antwort auf die Frage gegeben, ob unter Aufgabe bzw. in Abweichung von seiner bisherigen ständigen Spruchpraxis auch eine solche belastende Zeugenaussage Grundlage für die Verurteilung des Angeklagten sein könnte, die zwar unter – durch schutzwürdige Interessen gedeckt und die Verteidigungsrechte wahrend3100 – Einschränkungen des Konfrontationsrechts zustande gekommen ist, dabei aber den einzigen oder wesentlichen Beweis darstellt. Die Beantwortung dieser Frage offen lassend, heisst es vielmehr nur:
3099 3100
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Beweismitteln handle es sich um indirekte Beweise oder um Zeugen vom Hörensagen, woraus das Kassationsgericht schliesst, dass die Aussage des anonymisierten Zeugen jedenfalls ein massgebendes Beweismittel gewesen sei. Ob die fragliche Aussage ein massgebliches Beweismittel war, ist indessen nicht die entscheidende Frage. Denn es ist bei Geltung des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung denkbar, dass ein Schuldspruch auch erfolgt, ohne dass ein direkter Tatzeuge einvernommen werden kann oder es einen solchen überhaupt gibt. Es wäre mithin zu prüfen gewesen, wie weit die anderen Beweismittel für sich einen Schuldspruch zu tragen vermöchten. Begründen sie einen schweren Tatverdacht, so kann die Berücksichtigung der Aussage des anonymisierten Zeugen als zusätzlicher Mosaikstein zum Schuldspruch führen, ohne dass die Verteidigungsrechte dadurch verletzt wären …“ (S. 46, Hervorhebung Demko). Missverständlich ist insoweit der Satz «Ob die fragliche Aussage ein massgebliches Beweismittel war, ist indessen nicht die entscheidende Frage», der – betrachtet man die kritischen Ausführungen des BG zum vom KassG gezogenen Schluss von der belastenden Zeugenaussage als direktem Beweismittel auf deren Massgeblichkeit – wohl richtigerweise heissen müsste bzw. dahin zu verstehen ist, dass die Tatsache, dass die belastende Aussage ein direktes Beweismittel ist, nicht die entscheidende Frage ist, gestattet doch der Grundsatz der freien Beweiswürdigung einen Schuldspruch auch bei Fehlen direkter Beweismittel. Siehe dazu auch SCHMID, Handbuch, S. 356 N 842. Auf diese die Verwertbarkeit der belastenden Zeugenaussage betreffenden Voraussetzungen nimmt das BG in BGE 132 I 127, S. 130 und BGE 133 I 33, S. 44 Bezug.
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen „… Der zu beurteilende Fall gibt freilich keinen Anlass zur Entscheidung der Frage, ob die Aussage eines anonymisierten Zeugen unter den genannten Voraussetzungen auch einen Schuldspruch zu tragen vermag, wenn keine weiteren Beweismittel zur Verfügung stehen …“3101
1105
Es bleibt mithin abzuwarten, ob und in welcher Weise das BG – anknüpfend an seine bereits jetzt, wenn auch nur vereinzelt, so doch klar geäusserten Zweifel am Kriterium des ausschlaggebenden Beweises – in der Zukunft von seiner bisherigen, der Ansicht des EGMR folgenden Spruchpraxis abweichen oder ob es diese – wie es andere Entscheide wiederum nahe zu legen scheinen3102 – beibehalten wird.
1106
III.
Zusammenfassung
Die menschenrechtlichen Vorgaben für das Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen sind, was dessen Ausübung in einem nationalen oder internationalen Strafverfahren betrifft, eingestellt in die Form und den Charakter des Zeugenbeweisverfahrens und in die Entscheidungen zur Verteilung der Verfahrens- und Vernehmungsherrschaft zu betrachten, wie sie durch das jeweilige nationale oder internationale Strafverfahren vorgegeben sind. Hier für die Ausgestaltung eines nationalen oder internationalen Strafverfahrens jeweils unterschiedlich getroffene Grundentscheidungen zur Form, zum Charakter und zur Verteilung der Verfahrens- und Vernehmungsherrschaft haben Konsequenzen auch für die Art und Weise, in welcher das Konfrontationsrecht seine genaue Ausübung in dem jeweiligen Strafver3101 3102
BGE 133 I 33, S. 46 (Hervorhebung Demko). Trotz der in BGE 131 I 247, BGE 132 I 127 und BGE 133 I 33 geäusserten Kritik des BG geht es auf diese erstaunlicherweise in nachfolgenden Entscheidungen nicht näher ein, sondern greift auf seine bisherige Spruchpraxis zurück, siehe etwa BG, 6B_802/2007, E. 2.1, BG, 6B_708/2007, E. 4.4.3: Nicht mit Blick auf das Prüfungskriterium der ausschlaggebenden Bedeutung, sondern mit Blick auf die Frage, ob das Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber allen oder nur bestimmten Belastungszeugen, deren Aussage ein bestimmter Beweiswert zukommt, gilt, also mit Bezug auf die Definition des Begriffs des Belastungszeugen und die Eröffnung des persönlichen Geltungsbereichs des Art. 6 III d EMRK, stellt das BG klar: „… Der Beschwerdeführer wendet zu Recht ein, dass das Konfrontationsrecht alle Belastungszeugen betrifft. Entscheidend ist einzig, dass der Zeuge mit seiner Aussage den Angeklagten belastet und das Gericht diese Aussage für die Begründung des Urteils verwendet. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz ist nicht von Bedeutung, ob es sich um ein blosses Indiz handelt und welcher Beweiskraft diesem Indiz zukommt. Jedes Indiz kann sich – einzeln oder zusammen mit anderen – zuungunsten eines Angeklagten auswirken und gegebenenfalls für den Schuldspruch ausschlaggebend sein …“ (E. 4.4.3, Hervorhebung Demko).
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1107
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
fahren findet. Eben dies zeigt sich auch im Vergleich zwischen dem internationalen Strafverfahren vor dem ICTY und dem nationalen Strafverfahren in der Schweiz. Das internationale Strafverfahren vor dem ICTY als ein Strafund Beweisverfahren sui generis ist durch einen gemischt-adversatorischinquisitorischen Charakter und hinsichtlich seines Grundcharakters durch das common law-Verfahrenssystem gekennzeichnet: Das Konfrontationsrecht ist hier eingebettet in die den Parteien zukommende Vernehmungsherrschaft bei der Zeugenbeweiserhebung und in die Befürwortung des Kreuzverhörs zu betrachten. Das schweizerische Strafverfahren zählt hingegen zu den (reformiert) inquisitorischen Verfahrenssystemen und die Ausübung des Konfrontationsrechts findet seine Einbindung in die der Verfahrensleitung zukommende Verfahrens- und Vernehmungsherrschaft und in die Bejahung des Präsidalverhörs. 1108
Das Konfrontationsrecht des Angeklagten hat sich im internationalen Strafverfahren des ICTY und im nationalen Strafverfahren der Schweiz in seiner Bedeutung als wichtiger Bestandteil des Rechts des Angeklagten auf ein insgesamt faires Strafverfahren gezeigt und ebenso hat die hierbei zu beachtende und in einem jeden Strafverfahren zu verwirklichende Ausbalancierung der sich gegenüberstehenden Rechte des Angeklagten und des Belastungszeugen ihren sichtbaren Ausdruck gefunden. Das Konfrontationsrecht weist sich nicht als ein «absolutes» im Sinne von (völlig) uneinschränkbares Verteidigungsrecht aus, sondern vielmehr als ein Verteidigungsrecht, das betreff seiner Ausübbarkeit dem Angeklagten im Grundsatz uneingeschränkt einzuräumen ist, für welches aber im Ausnahmefall Einschränkungen in seiner Ausübbarkeit gerechtfertigt sein können. Den bestehenden Zusammenhang zwischen der Ausübungs- und der Wesensgehaltsebene des Konfrontationsrechts auch für das Strafverfahren vor dem ICTY und das schweizerische Strafverfahren sichtbar machend, haben die für die internationalen und nationalen Strafverfahren jeweils getroffenen rechtlichen Grundentscheidungen für eine bestimmte Form des jeweiligen Strafverfahrens und hier insbesondere des jeweiligen Zeugenbeweisverfahrens Auswirkungen auch auf die jeweilige sich teils unterscheidende genaue Ausgestaltung der dem Angeklagten eingeräumten Ausübungsformen seines Konfrontationsrechts. Dies gilt etwa in Bezug auf ein bejahtes oder abgelehntes (Ausübungs-)Recht auf ein Kreuzverhör oder in Bezug auf die unterschiedliche Ausgestaltung des zeitlichen Schutzbereichs des Konfrontationsrechts in Abhängigkeit vom jeweils geltenden Grundsatz der Unmittelbarkeit oder der beschränkten Unmittelbarkeit. Es zeigt sich mit Blick auf eine (materiell) wirksame Wahrung des Konfrontationsrechts und eine dafür dem Angeklagten zu ermöglichende wirksame Infragestellung der Glaubwürdigkeit des belastenden Zeugenbeweises zudem, dass im internationalen Strafverfahren vor dem ICTY und im nationalen Strafverfahren der Schweiz solchen Beurteilungskriterien Relevanz zukommt, 718
Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
welche sich auch in der Aussagepsychologie – mit ihrer Anbindung an den Zeugenaussageinhalt, die Zeugenaussageentstehung und die Zeugenperson – als für die Glaubwürdigkeitsbeurteilung von Zeugenbeweisen bedeutsam und massgebend durchgesetzt haben und welche mit den Ausübungsrechten des Konfrontationsrechts in Gestalt (etwa) des Fragerechts im engen Sinne, des Zeugenwahrnehmungsrechts und des Zeugenidentitätskenntnisrechts in Verbindung stehen. Wie bei den jeweiligen Ausgestaltungen eines uneingeschränkt ausübbaren Konfrontationsrechts im internationalen Strafverfahren vor dem ICTY und im nationalen Strafverfahren der Schweiz zeigen sich auch bei den hier jeweils für zulässig gehaltenen Einschränkungen und für erforderlich erachteten Einschränkungsvoraussetzungen des Konfrontationsrechts teils Gemeinsamkeiten, teils Unterschiede zwischen dem internationalen Strafverfahren vor dem ICTY und dem schweizerischen Strafverfahren. Verbunden ist dies des Weiteren mit (teils) strittig geführten Diskussionen in der internationalen und nationalen Rechtsprechung und/oder Literatur zu bestimmten einzelnen Aspekten der Einschränkung(sformen) und Einschränkungsvoraussetzungen des Konfrontationsrechts: Auf diese Weise ist auch die kritische Frage einer Vereinbarkeit oder Nichtvereinbarkeit der für das internationale Strafverfahren vor dem ICTY und/oder für das schweizerische Strafverfahren vertretenen Ansichten mit den von der EMRK normativ vorgegebenen und vom EGMR konkretisierten Anforderungen an ein konventionskonform gewährtes – grundsätzlich uneingeschränkt und ausnahmsweise eingeschränkt ausübbares – Konfrontationsrecht des Angeklagten in den Diskussionsraum eingestellt und sucht hier nach Antworten. Zu denken ist etwa an die Frage eines engen, sich auf die Belastungszeugenperson und deren (Un-)Erreichbarkeit beziehenden Verständnisses oder eines sich darüber hinausgehend erweitern könnenden Verständnisses der Einschränkungsvoraussetzung des «sachlich gerechtfertigten Einschränkungsgrundes», nach welchem auch andere Verfahrensgrundsätze und damit einhergehende Aspekte, wie die Verfahrensdauer und die Verfahrensbeschleunigung, sowie die Vornahme inhaltsgeleiteter Unterscheidungen im (strittigen) Diskussionsraum stehen. Hinzu treten kontroverse Ansichten etwa zum Ausmass zulässiger Einschränkungsformen, beispielsweise bei der Zeugenanonymisierung. Nicht zuletzt sind auf der internationalen und nationalen Strafverfahrensebene des ICTY und der Schweiz auch etwa die Frage nach der Einordnung und dem Inhalt des Ausgleichserfordernisses als einer eigenständigen Einschränkungsvoraussetzung neben dem Verhältnismässigkeitsgrundsatz sowie die Frage nach den Anforderungen auf der Beweiswürdigungsebene im Zusammenhang mit dem Erfordernis des «nicht einzigen und nicht entscheidenden Beweises» bislang in der Rechtsprechung und Literatur weder umfassend noch einheitlich beantwortet, sondern die derzeit hier kontrovers geführten Diskussionen suchen nach zu719
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Kapitel 5: Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen
künftig zu verwirklichenden Lösungen für ein den Anforderungen des Art. 6 III d EMRK wahrendes Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen.
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Kapitel 6 Ergebnisse und Gesamtzusammenfassung Auf der Suche nach der Bedeutung und dem Inhalt der Fairness des Strafverfahrens und eines dem Angeklagten im Strafverfahren einzuräumenden Menschenrechts auf Verteidigung ist zunächst das Strafverfahren als Gesamtheit und als «Verwirklichungsrahmen», in dem das Menschenrecht auf Verteidigung zur Entfaltung zu bringen ist, näher untersucht worden.
1110
Dabei konnte das Strafverfahrensrecht in seiner sowohl dienenden Funktion als auch eigenständigen Werthaftigkeit ausgewiesen und es konnte das Zusammenwirken und Zusammengehören der materiellen und prozeduralen Gerechtigkeitskomponenten aufgezeigt werden.3103 Dargestellt worden ist hier, dass ein Strafverfahren nicht nur materieller oder prozeduraler Gerechtigkeit zu genügen sowie nicht einzig Menschenrechte «durch» oder «im» Strafverfahren zu schützen hat. Vielmehr zeigte das Zusammentreffen der zwei jeweils unterschiedliche Wesensaspekte des Strafverfahrensrechts ansprechenden Momente – zum einen in Gestalt der dienenden Funktion des Strafverfahrensrechts im Verhältnis zum (materiellen) Strafrecht im engen Sinne und zum anderen in Gestalt der die Natur des Strafverfahrensrechts, selbst Recht zu sein, bestimmenden eigenständigen Werthaftigkeit –, dass ein Strafverfahren der materiellen und prozeduralen Gerechtigkeit sowie dem Menschenrechtsschutz «durch» und «im» Strafverfahren zur Verwirklichung zu verhelfen hat.
1111
Das erforderliche kumulative Beachten beider Gerechtigkeitskomponenten eines Strafverfahrens hat sich als wichtig auch für die – in den folgenden Untersuchungen dargelegte – hier vorgeschlagene Bedeutungsbestimmung des an das Strafverfahren als Gesamtheit anzulegenden Fairnessbegriffs erwiesen, welcher im Sinne einer Strafgerechtigkeit zu verstehen ist, die sich aus der materiellen und prozeduralen Gerechtigkeitskomponente zusammensetzt und infolgedessen nach einem vertikalen und horizontalen Ausgleich zwischen den verschiedenen Fairnesselementen verlangt.3104 Zudem gewinnt das Erfordernis der kumulativen Berücksichtigung von materieller und prozeduraler Gerechtigkeitskomponente bei der Bestimmung der Natur des Konfrontationsrechts des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen an Relevanz, welches in dessen Bedeutung als Teil des strafprozessualen Wahrheitsermitt-
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3103 3104
Siehe dazu Kap. 2 A. Siehe dazu Kap. 3 A. III.
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Kapitel 6: Ergebnisse und Zusammenfassung
lungsprozesses, zugleich aber auch in dessen Bedeutung als eigenständiges Verteidigungsrecht deutlich gemacht werden konnte.3105 1113
Das erforderlich zu achtende Kumulative der materiellen und prozeduralen Gerechtigkeit findet seine Fortsetzung in den sich anschliessenden Untersuchungen des Straf- und Beweisverfahrens als eines wahrheitsgerichteten Erkenntnisverfahrens. Dabei wurde unter Zugrundelegung von erkenntnistheoretischem Wissen das Strafverfahren als ein menschliches Erkenntnisverfahren mit den Erkenntniselementen in Gestalt des Zu-Erkennenden, der (eigentlichen) Erkenntnis über das Zu-Erkennende und der Beziehung zwischen beiden in Form der Erkenntnisrelation sichtbar gemacht.3106 Zudem konnten die verschiedenen philosophischen Wahrheitstheorien – wie die Korrespondenztheorie, die Kohärenztheorie und die Konsensustheorie – in ihrer Zuordnung zu den verschiedenen Erkenntniselementen und in ihrer Einordnung in Bezug auf das Ziel und den Weg des Strafverfahrens als eines wahrheitsgerichteten Erkenntnisverfahrens verdeutlicht werden.3107 Gezeigt wurde, dass die der materiellen Gerechtigkeitskomponente zuzuordnende Korrespondenztheorie, die die als Ziel des Verfahrens zu erreichende Wahrheit angibt, und die der prozeduralen Gerechtigkeitskomponente zuzuordnenden Kohärenzund Konsensustheorien, die Kriterien für den Wahrheitsermittlungsweg ausprägen, für ein Strafverfahren als ein wahrheitsgerichtetes Erkenntnisverfahren stets zusammen zu denken sind. Damit verbunden konnte dargelegt werden, dass es für ein jedes Strafverfahren trotz unterschiedlicher Betonung von nur einzelnen Erkenntniselementen durch die verschiedenen philosophischen Wahrheitstheorien,3108 aber auch in den verschiedenen Strafverfahren adversatorischer, instruktorischer und gemischter Rechtsnatur3109 stets die Beachtung aller drei Erkenntniselemente sowie stets das notwendige Beachten und Zusammenführen von «Wahrheitsdefinition und Wahrheitskriterium» ist, welches es – ebenso wie die Zusammenführung von materieller und prozeduraler Gerechtigkeit im Strafverfahren – für ein weder «blindes» noch «leeres» strafverfahrensrechtliches wahrheitsgerichtetes Erkenntnisverfahren braucht.3110
1114
Unter kritischer Auseinandersetzung mit dem bis heute geführten Begriffsgegensatz von materieller und formeller Wahrheit konnte in einer Untersuchung des Wahrheitsverständnisses des instruktorischen Strafverfahrens – welches herkömmlich mit der materiellen Wahrheit verbunden wird –, des adversatorischen Strafverfahrens – welches herkömmlich mit der formellen Wahrheit 3105 3106 3107 3108 3109 3110
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Siehe dazu Kap. 5 A. I. 1. Siehe dazu Kap. 2 B. I. 1. Siehe dazu Kap. 2 B. I. 1., 2. Siehe dazu Kap. 2 B. I. 2. Siehe dazu Kap. 2 B. I. 3. a), b). Siehe dazu Kap. 2 B. I. 2.
Kapitel 6: Ergebnisse und Zusammenfassung
verknüpft wird – sowie der «gemischten» internationalen Strafverfahren aufgezeigt werden, dass diese in Bezug auf die Wahrheit als das anzustrebende Ziel eines jeden dieser Strafverfahren übereinstimmen und sich allein in Bezug auf die Art und Weise des Wahrheitsermittlungsweges voneinander unterscheiden.3111 Diese Unterschiede betreff des jeweils gewählten Wahrheitsermittlungsweges, welcher von den instruktorischen, adversatorischen und gemischten Strafverfahren als der jeweils «bestgeeignete» Weg zum (übereinstimmenden) Wahrheitsziel angesehen wird, ändern aber nichts daran, dass sich all jene Strafverfahren – die drei Erkenntniselemente und die ihnen zugeordneten Wahrheitselemente enthaltend – als jeweils wahrheitsgerichtete Erkenntnisverfahren darstellen. Dies ist als wichtige Ausgangsfrage auch für das Verständnis des Menschenrechts auf Verteidigung von Bedeutung, ist auf diese Weise doch sichtbar gemacht, dass es eben – trotz unterschiedlicher instruktorisch, adversatorisch oder gemischt gestalteter Strafverfahrensformen – stets um ein zu gewährendes Menschenrecht auf Verteidigung in einem strafverfahrensrechtlichen wahrheitsgerichteten Erkenntnisverfahren geht. Dabei sind es des Weiteren die mit dem strafverfahrensrechtlichen Wahrheitsermittlungsweg verknüpften Kennzeichen und Elemente – wie insbesondere das Moment des Zweifelbehafteten und der dialektische Charakter eines dynamischen und sich mit Blick auf die Wahrheitsermittlung im Laufe des Erkenntnisprozesses nach und nach verdichtenden Straf- und Beweisverfahrens –, die weitere wichtige Teilantworten für das Verständnis des Menschenrechts auf Verteidigung im Strafverfahren vorbereiten: Hierbei erweisen sich vor allem das ein Strafverfahren als ein gerade dialektisches Erkenntnisverfahren kennzeichnende Erfordernis von zu wahrender «These und Antithese» sowie die Sichtbarmachung des Strafverfahrens in seiner Bedeutung als ein – dialektisches – Kommunikations- und Interaktionsverfahren als besonders relevant.3112 Aufgezeigt werden konnte, dass sich mit dem Strafverfahren ein dialektischer wahrheitsgerichteter Erkenntnisrahmen ausformt, der durch das zwingende Erfordernis von These und Antithese gekennzeichnet ist. Ist dies der (äussere) (Erkenntnis-)Rahmen, in den der Angeklagte und seine Verteidigung notwendig eingestellt sind, so sind dem Angeklagten nun innerhalb dieses (Erkenntnis-)Rahmens das Moment des Gegengewichts und mit diesem – dialektisch gesprochen – das dialektische Teilerfordernis der Antithese zugewiesen, mit welchem er sich der strafverfolgenden These der anklagenden Seite entgegen bzw. sich zu dieser in Widerspruch stellt.
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Dass es jedoch nicht allein um das Erfordernis von der der anklagenden Seite zukommenden These und der der angeklagten Seite zukommenden Antithese gehen kann, sondern dass darüber hinaus von einem Menschenrecht des An-
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3111 3112
Siehe dazu Kap. 2 B. I. 3. a), b). Siehe dazu Kap. 2 B. II.
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Kapitel 6: Ergebnisse und Zusammenfassung
geklagten auf Gegengewicht bzw. – um in der dialektischen Sprache zu bleiben – von einem «Menschenrecht des Angeklagten auf Antithese» zu sprechen ist, wenn es um die Untersuchung der Bedeutung und des Inhaltes des Menschenrechts auf Verteidigung geht, lässt sich dabei nicht allein aus dem dialektischen Charakter des Strafverfahrens, sondern vielmehr erst im Zusammenwirken mit einem weiteren, ein «gerechtes» Strafverfahren kennzeichnenden Gesichtspunkt entwickeln, welcher mit dem Menschenwürdeschutz und der daraus fliessenden, dem Angeklagten einzuräumenden Prozesssubjektivität verbunden ist. Der Untersuchung eben jenes weiteren Gesichtspunktes widmeten sich die sich anschliessenden Ausführungen: 1117
Das Straf- und Beweisverfahren in seiner Bedeutung als ein wahrheitsgerichtetes Erkenntnisverfahren mit dessen Natur des Dialektischen und dem erforderlich zu wahrenden «Thetischen und Antithetischen» ist in den folgenden Darstellungen, in denen der Blick auf das Menschenrecht auf Verteidigung selbst gelenkt wurde, mit einer individual-menschenrechtsschützenden Sicht auf das Strafverfahren in Verbindung gesetzt worden: Ins Zentrum gestellt ist hierbei eine den Angeklagten und seine Menschenrechte im Strafverfahren schützende individual-gerechtigkeitsbezogene und angeklagten-konzentrierte Bedeutungsebene.
1118
Um die genaue Bedeutung und die spezifischen Inhalte des Menschenrechts auf Verteidigung im Einzelnen erarbeiten zu können, wurde dieses zunächst in dessen Einbettung in die übergeordnete und an das Straf- und Beweisverfahren normativ anzulegende Gesamtqualität der Fairness des Straf- und Beweisverfahrens betrachtet. Die Anlegung des oft als schillernd und vage bezeichneten Fairnessbegriffs an das Strafverfahren als eine Gesamtheit lässt den Wertbegriff und Wertungsbegriff der Fairness als ein normatives Qualitätsmerkmal für das gesamte Strafverfahren sichtbar werden und weist die Fairness als das für das Strafverfahren – betrachtet als Gesamtheit und auf einer Ganzheitsebene – zu achtende Verfahrensprinzip auf höchster Ebene aus.3113 Frühere Untersuchungsergebnisse aufgreifend wurde dabei zur Bedeutungsbestimmung des an das Strafverfahren als Gesamtheit normativ angelegten Fairnessbegriffs dieser hier im Sinne von Strafgerechtigkeit – und zwar im Sinne einer die materiellen und prozeduralen Gerechtigkeitskomponenten notwendig achtenden und zusammenführenden Strafgerechtigkeit – verstanden.3114
1119
Zu der für die Bestimmung des Fairnessbegriffs bisher an das Strafverfahren angelegten Ganzheitsperspektive kam im Folgenden ein sich auf den Angeklagten beziehendes individual-menschenrechtsschützendes Bedeutungsmoment hinzu, um erarbeiten zu können, welche Bedeutungs- und speziellen 3113 3114
724
Siehe dazu Kap. 3 A. Siehe dazu Kap. 3 A. III.
Kapitel 6: Ergebnisse und Zusammenfassung
Inhaltsaspekte sich ausformen, wenn – wie es auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene getan wird – von einem Menschenrecht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren gesprochen wird. Sich im Rahmen der sich anschliessenden Untersuchungen der hinzugenommenen menschenrechtsschützenden Bedeutungsebene mit der dem Angeklagten zu wahrenden Menschenwürde und der daraus fliessenden Prozesssubjektivität auseinandersetzend, sind hierfür zunächst philosophische und psychologische Begründungslinien für ein Menschenrecht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren3115 und im Anschluss daran dessen normative Verankerungen in regionalen und internationalen Menschenrechtsinstrumenten sowie in strafverfahrensrechtlichen Rechtsinstrumenten auf nationaler und internationaler Ebene vertieft worden.3116 Legten die Darlegungen zu den Menschenrechtsinstrumenten das Schwergewicht auf die Europäische Menschenrechtskonvention,3117 so widmeten sich die Darlegungen zu den strafverfahrensrechtlichen Rechtsinstrumenten zum einen der nationalen Ebene und hier dem adversatorischen Strafverfahren des common law und dem instruktorischen Strafverfahren des civil law sowie zum anderen der internationalen Ebene, bezüglich der das dem Angeklagten einzuräumende faire Strafverfahren und dessen Entwicklungen und Verbesserungen im Strafverfahren vor dem Internationalen Militärgerichtshof von Nürnberg, vor dem ICTY und dem ICC untersucht wurden.3118 Die philosophischen und psychologischen Begründungslinien wie auch die normativen Verankerungen haben hierbei die grundlegende Bedeutung einer dem Angeklagten im Strafverfahren einzuräumenden, aus seiner Menschenwürde fliessenden Prozesssubjektivität für sein Menschenrecht auf ein faires Strafverfahren aufgezeigt, wonach es dem Angeklagten zu ermöglichen ist, als frei und gleichberechtigt handelndes Prozesssubjekt an dem strafverfahrensrechtlichen Erkenntnisverfahren teilnehmen und auf dieses in dessen Verlauf und Ergebnis wirksam Einfluss nehmen zu können. Verbunden mit dem dem Angeklagten für ein faires Strafverfahren einzuräumenden Moment anerkannt gelebter Subjektivität ist dem Angeklagten die Verwirklichung von Menschenwürde und innerer (Willens-)Freiheit auch im Aussen – und hier in der äusseren Handlungs- und Kommunikationssphäre des Strafverfahrens sowie umgesetzt in den dem Angeklagten zukommenden wirksamen Handlungs- und (auch sprachlichen) Ausdrucksmöglichkeiten – zu gewähren. Es ist die Achtung und Anerkennung als Prozesssubjekt und des auch Handeln-Könnens als Prozesssubjekt, um auf diese Weise, d.h. in dieser «handelnden Prozesssubjektivität», am Straf- und Beweisverfahren wirksam teilnehmen zu können, was sich – wenn auch eingebettet in unterschiedliche 3115 3116 3117 3118
Siehe dazu Kap. 3 B. II. 1., 2. Siehe dazu Kap. 3 B. III. Siehe dazu Kap. 3 B. III. 1. b). Siehe dazu Kap. 3 B. III. 2.
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1120
Kapitel 6: Ergebnisse und Zusammenfassung
Formulierungs-, Betonungs- und Erkenntnisansätze – sowohl in der Philosophie und Psychologie als auch in den menschenrechtlichen und strafverfahrensrechtlichen Rechtsinstrumenten als wichtiges inhaltliches Grundmoment des Menschenrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren zu erkennen gibt. Zu dieser wirksamen Teilnahme am Straf- und Beweisverfahren in einer verwirklichten «handelnden Prozesssubjektivität» des Angeklagten gehört dessen Einflussnahmemöglichkeit auf den Verlauf und das Ergebnis des Straf- und Beweisverfahrens und angesprochen sind hiermit auch die für den Angeklagten wichtigen und zu beachtenden Erfordernisse, sich mit seinen individuellen Ansichten und Informationen zur Sprache bringen zu können sowie mit diesen seinen Ansichten und Informationen von dem das Verfahrensergebnis entscheidenden Gericht auch gehört und berücksichtigt zu werden. 1121
Dabei geht es, was die Untersuchungen ebenfalls sichtbar machten, nicht um «irgendeine» Art von dem Angeklagten zu gewährender prozesssubjektwahrender Teilnahme am Strafverfahren, sondern – begründet aus der spezifischen Stellung des Angeklagten im Strafverfahren, gegen den ein Tatverdacht mit sich daran anknüpfenden Strafverfolgungsmassnahmen im Raum steht und mit diesem mithin eine ihn anklagende These, nach welcher er sich wegen der verfolgten Straftat strafbar gemacht haben könnte – es geht genauer um eine prozesssubjektwahrende Teilnahme des Angeklagten zu seiner Verteidigung. Sich durch die aufgezeigten Verknüpfungslinien zwischen der Fairness des Strafverfahrens und der Prozesssubjektivität des Angeklagten leiten lassend, verdeutlichten die Untersuchungen zu den menschenrechtlichen und strafverfahrensrechtlichen Rechtsinstrumenten die Verbindungen zwischen den spezifischen einzelnen (benannten und unbenannten) Verteidigungsrechten des Angeklagten und seinem Gesamtrecht auf ein faires Strafverfahren und machten ebenso den wesensbestimmenden Bedeutungsgehalt jener spezifischen Verteidigungsrechte des Angeklagten sichtbar, der sich als ein unverzichtbares inhaltliches Grundmoment auch des Gesamtrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren ausweist: Trotz Fehlens einer allgemeinen Definition des strafverfahrensrechtlichen Fairnessbegriffs hat insbesondere der EGMR in seiner umfangreichen Rechtsprechung zu Art. 6 EMRK und hier insbesondere zu den spezifischen (benannten wie unbenannten) (Einzel-)Verteidigungsrechten des Angeklagten aufgezeigt, dass es das Recht des Angeklagten auf wirksame Verteidigung im Strafverfahren ist, welches sich als das essentielle und konstituierende Grundmoment des Gesamtrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren darstellt.3119 Das Gesamtrecht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren, dessen Recht auf wirksame Verteidigung und die (benannten und unbenannten) spezifischen (Einzel-) 3119
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Siehe dazu insbesondere Kap. 3 B. III. 1. b) cc).
Kapitel 6: Ergebnisse und Zusammenfassung
Verteidigungsrechte des Angeklagten in eine Verbindung miteinander bringend, konnte dargestellt werden, dass das die Wesensgehaltsebene ansprechende, dem Angeklagten zu gewährende Recht auf wirksame Verteidigung zu seiner Verwirklichung seinerseits auf der Ausübungsebene nach der Erfüllung der spezifischen (benannten und unbenannten) (Einzel-)Verteidigungsrechte verlangt. Diese durch die verschiedenen spezifischen (Einzel-)Verteidigungsrechte dem Angeklagten zu sichernde «materiell wirksame Verteidigung» im Strafverfahren ist das, was als inhaltlich Gemeinsames, als tragende materielle «Essenz», als ihren Wesensgehalt ansprechende Grundaussage, mithin als ihr inhaltlicher Wesensgehalt hinter den verschiedenen (benannten und unbenannten) spezifischen (Einzel-)Verteidigungsrechten des Art. 6 EMRK steht, diese eint und sie mit Blick auf eben dieses ihnen wesensgemäss gemeinsame inhaltliche Grundstreben zu «dem» Recht des Angeklagten auf wirksame Verteidigung im Strafverfahren zusammenführt.3120 Haben die Ausführungen zu den philosophischen und psychologischen Begründungslinien für ein Menschenrecht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren zum einen und die Ausführungen zu dessen Verankerung in menschenrechtlichen und strafverfahrensrechtlichen Rechtsinstrumenten zum anderen zur Erkenntnis geführt, dass es die aus der Menschenwürde des Angeklagten fliessende Achtung von dessen Prozesssubjektivität im Strafverfahren – mit der damit verbundenen, dem Angeklagten zu gewährenden prozesssubjektwahrenden wirksamen Teilnahme zu dessen Verteidigung im Strafverfahren – ist, welche sich als das spezifisch-inhaltliche Kernmoment des Menschenrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren ausweist, so galt es, diese herausgearbeitete Erkenntnis im Folgenden zu vertiefen und zu verfeinern: In einer nunmehr vorgenommenen Zusammenführung der Ergebnisse aus dem ersten Teil der Arbeit zur dialektischen Natur des Strafverfahrens und zu dem hier zu wahrenden «Thetischen und Antithetischen» einerseits und der Ergebnisse aus dem zweiten Teil der Arbeit zum menschenwürde-, prozesssubjekt- und menschenrechtsschützenden Strafverfahren andererseits wurde das Menschenrecht auf Verteidigung mit Blick auf dessen Wesensgehalts- bzw. Inhaltsebene sowie mit Blick auf dessen Ausübungsebene im Einzelnen untersucht und ausdifferenziert. Eben diese hier gezogene Verknüpfung zwischen den Erkenntnissen zur dialektischen Natur des Strafverfahrens und den Erkenntnissen zum menschenwürde-, prozesssubjekt- und menschenrechtsschützenden Strafverfahren erlaubte nun eine Antwort auf die Frage, ob sich das Menschenrecht des Angeklagten auf Verteidigung im Strafverfahren als ein prozesssubjektwahrendes «Menschenrecht auf Antithese» ausprägt. Die zwei unterschiedlichen – einmal die Verfahrens- als Ganzheitsebene und das andere Mal das Verfahren aus der noch dazu menschen3120
Siehe dazu Kap. 3 B. III.
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Kapitel 6: Ergebnisse und Zusammenfassung
rechtsschützenden Sicht eines seiner Teile (nämlich der Person des Angeklagten) betrachtenden – Sichtweisen auf das Strafverfahren zeigten mit dem dialektischen Charakter des Strafverfahrens als eines Erkenntnisverfahrens und mit dem an das Strafverfahren (normativ) angelegten Anspruch, ein menschenwürde- und menschenrechtswahrendes Strafverfahren zu sein, die zwei Anforderungen, die es für ein faires Strafverfahren zu verbinden gilt:3121 1123
Bei einem dem Angeklagten zu gewährenden fairen Strafverfahren hat es (erstens) um ein eben jene erforderliche Einheit von These und Antithese gewährendes Straf- und Beweisverfahren zu gehen, was seinem Charakter als einem dialektischen Erkenntnisverfahren geschuldet ist. Zu diesem Recht des Angeklagten auf ein das Thesen- und Antithesenhafte gleichermassen in sich einfliessen lassendes Straf- und Beweisverfahren kommt (zweitens) aus der Achtung der Menschenwürde und der Prozesssubjektivität des Angeklagten folgend hinzu, dass diese dialektisch erforderliche Einheit von These und Antithese nicht ohne den Angeklagten allein durch das Gericht und die anderen Verfahrensbeteiligten verwirklicht werden darf, sondern dass vielmehr gerade der Angeklagte als Prozesssubjekt Teil hat an und Teil ist dieser Einheit von These und Antithese, indem er selbst als Prozesssubjekt in wirksamer Weise das Antithetische im Strafverfahren zur Geltung, zur Ausübung und zur Sprache bringen kann. Es geht um die dem Angeklagten für seine Verteidigung (materiell) wirksam zu gewährende aktive Mitwirkungsmöglichkeit bei dem Einführen antithetischer Momente in den strafprozessualen Wahrheitsermittlungsprozess, mithin um das ihm einzuräumende Recht auf eine wirksame antithetische Teilnahme als Prozesssubjekt am Straf- und Beweisverfahren, das sich aus der Verbindung von dialektischer sowie menschenwürde- und menschenrechtsschützender Erkenntnis zum Strafverfahren für den Angeklagten und dessen Menschenrecht auf Verteidigung herauskristallisiert. Nicht nur überhaupt ein Recht auf «irgendeine» Art von Teilnahme als Prozesssubjekt macht das Menschenrecht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren aus, sondern unter Hinzunahme und Hervorhebung gerade des dialektischen Charakters des Strafverfahrens und der hier zu wahrenden Einheit von These und Antithese kennzeichnet und konkretisiert sich dieses Recht des Angeklagten auf Teilnahme am Strafverfahren als Prozesssubjekt gerade als ein Recht auf antithetische Teilnahme am Strafverfahren als Prozesssubjekt bzw. kurz ausgedrückt als ein prozesssubjektwahrendes «Recht auf Antithese»: Nicht allein irgendeine menschenwürde- und subjektwahrende Teilnahme am Strafverfahren, sondern gerade eine antithetische Teilnahme am Straf- und Beweisverfahren, mit der sich der Angeklagte gegen die gegen ihn hervorgebrachte These, möglicherweise Täter der vorgeworfenen Straftat zu sein, wirksam wehren, sich wirksam gegen diese These stellen, d.h. sich 3121
728
Siehe dazu Kap. 4.
Kapitel 6: Ergebnisse und Zusammenfassung
wirksam gegen die These verteidigen kann, macht den speziellen Gehalt des prozesssubjektwahrenden Teilnahmerechts des Angeklagten aus. Es ist das Recht des Angeklagten auf wirksame Teilnahme am Strafverfahren zu seiner Verteidigung, mithin das Recht des Angeklagten auf wirksame Verteidigung im Strafverfahren, das – um die dialektischen Erkenntnisse bereichert und mit diesen verfeinert – mit dem prozesssubjektwahrenden Recht des Angeklagten auf antithetische Teilnahme am Strafverfahren (s)einen konkretisierten und inhaltlich-vertieften Ausdruck findet und auf diese Weise das spezifischinhaltliche Kernmoment des Gesamtrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren zu erkennen gibt. Die gezogene Verbindung zwischen der Dialektik des Strafverfahrens und seinem menschenwürde- und menschenrechtsschützenden Anspruch macht deutlich: Nur ein Straf- und Beweisverfahren, das zum einen ermöglicht, dass das Thesen- und Antithesenhafte in gleichwertiger Weise zur Geltung und zur Sprache kommen, und hierbei zum anderen aber auch gewährleistet, dass gerade dem Angeklagten ein Sichwirksam-Einbringen in diesen Thesen und Antithesen zusammentragenden Wahrheitsermittlungsprozess ermöglicht ist, stellt sich als ein die Menschenwürde des Angeklagten wahrendes wahrheitsgerichtetes dialektisches Strafund Beweisverfahren dar, das das sich in dem Menschenrecht auf Verteidigung ausdrückende Menschenrecht des Angeklagten auf eine wirksame antithetische Teilnahme als Prozesssubjekt am Straf- und Beweisverfahren als das zentrale und spezifisch-inhaltliche Kernmoment seines Gesamtrechts auf ein faires Straf- und Beweisverfahren ausweist.3122 In den sich anschliessenden Ausführungen ist dieses herausgearbeitete und bezüglich seiner Inhalts- und Ausübungsebene ausdifferenzierte3123 Menschenrecht auf Verteidigung nun mit Blick auf eine das Menschenrecht auf Verteidigung konkretisierende Ausformung in Gestalt des Konfrontationsrechts des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen vertieft worden.3124 Dabei hat eben diese dem Angeklagten für eine wirksame Verteidigung im gesamten Straf- und Beweisverfahren einzuräumende antithetische Teilnahme mit Blick auf das Konfrontationsrecht des Angeklagten nach Art. 6 III d EMRK nicht nur ihre Bestätigung, sondern auch ihre Konkretisierung gefunden: Das Konfrontationsrecht des Angeklagten hat sich als ein konkretisiertes antithetisches Teilnahmerecht des Angeklagten an dem sich auf den belastenden Zeugenbeweis beziehenden Wahrheitsermittlungsprozess gezeigt und ausgewiesen. Fordert eine wirksame Verteidigung im Straf- und Beweisverfahren eine antithetische Teilnahmemöglichkeit des Angeklagten im gesamten strafprozessualen Wahrheitsermittlungsprozess, so verlangt dies in sich konkretisierender Weise auch nach einer antithetischen Teilnahmemöglich3122 3123 3124
Siehe dazu Kap. 4. Siehe dazu Kap. 4 B. II. und III. Siehe dazu Kap. 5.
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Kapitel 6: Ergebnisse und Zusammenfassung
keit bezogen auf jede einzelne Erkenntnis und jeden einzelnen Beweis einschliesslich der einzelnen Beweismittel. Mit dem Konfrontationsrecht des Angeklagten prägt sich ein eben solches konkretisiertes antithetisches Teilnahmerecht an dem Wahrheitsermittlungsprozess bezogen auf den belastenden Zeugenbeweis und die Frage aus, ob das durch den Belastungszeugen Ausgesagte wahr oder unwahr ist.3125 1125
In einer Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des EGMR sowie unter Hinzuziehung aussagepsychologischer Erkenntnisse3126 konnte das dem Angeklagten wirksam zu gewährende antithetische Moment des Infragestellenkönnens des belastenden Zeugenbeweises und seines Wahrheitsgehaltes durch das ihm einzuräumende Konfrontationsrecht sichtbar gemacht werden: Für ein materiell wirksam gewährtes Konfrontationsrecht ist dem Angeklagten die Möglichkeit eines tatsächlich wirksamen Auf-den-PrüfstandStellens, eines In-Zweifel-Ziehens, mithin eines In-Frage-Stellens des Wahrheits- und Beweiswertes des belastenden Zeugenbeweises einzuräumen, was den Wesensgehalt des Konfrontationsrechts anspricht. Unter Hinzunahme aussagepsychologischer Erkenntnisse zur sog. Glaubwürdigkeit des Zeugenbeweises, wie sie – wenn auch in unterschiedlicher Ausdrücklichkeit und Tiefe – auch in der menschenrechtlichen und in der Rechtsprechung des untersuchten schweizerischen Strafverfahrens und des internationalen Strafverfahrens vor dem ICTY sichtbar sind, geht es um die dem Angeklagten wirksam einzuräumende Möglichkeit, den durch das Zeugenbeweismittel vorgebrachten, den Angeklagten belastenden (thetischen) Erkenntnismomenten antithetische Erkenntnismomente zur Entlastung des Angeklagten entgegenstellen zu können und hierbei den belastenden Zeugenbeweis mit Blick auf dessen Glaubwürdigkeit auf den Prüfstand stellen, ihn in Zweifel ziehen und in Frage stellen zu können.3127
1126
Mit Bezug auf die Verwirklichung dieses Wesensgehaltes des Konfrontationsrechts verlangt es auf der Ausübungsebene wiederum nach einer Gewährung entsprechender Teilrechte – bzw. Ausübungsrechte – des Konfrontationsrechts, wie sie mit den ebenfalls herausgearbeiteten Momenten des Wissens, des Wahrnehmens und des sprachlichen Handelns in Gestalt des Fragens in Verbindung stehen.3128 In einer Untersuchung der zum Ausübungsgehalt des Konfrontationsrechts gehörenden Aspekte – wozu Ausführungen sowohl zum persönlichen, zeitlichen und sachlichen Schutzbereich des Konfrontationsrechts als auch zu möglichen Einschränkungen des Konfrontationsrechts und zu hierbei zu beachtenden Einschränkungsvoraussetzungen gehö3125 3126 3127 3128
730
Siehe dazu Kap. 5 A. I. Siehe dazu Kap. 5 A. II. Siehe dazu Kap. 5 A. I., II. Siehe dazu Kap. 5 B. I. 3. b).
Kapitel 6: Ergebnisse und Zusammenfassung
ren – wurden in einer ersten Schwerpunksetzung zunächst die menschenrechtlichen Garantien und Vorgaben, wie sie durch Art. 6 III d EMRK und die Rechtsprechung des EGMR gesetzt sind, vertieft und in Verbindung mit kritischen Stellungnahmen zu bisher ungeklärten und/oder umstrittenen Fragen sowie mit erarbeiteten Lösungsvorschlägen näher betrachtet.3129 Die sich anschliessende zweite Schwerpunktsetzung fragte nach den Bedeutungen dieser menschenrechtlichen Vorgaben für die Ausformung und Ausübung des Konfrontationsrechts zum einen im nationalen Strafverfahren der Schweiz und zum anderen im internationalen Strafverfahren vor dem ICTY. Untersucht worden sind hier sowohl die besonderen Ausgestaltungen des Konfrontationsrechts in diesen beiden Strafverfahren als auch – und zwar auch hier wieder in Bezug auf den persönlichen, zeitlichen und sachlichen Schutzbereich sowie in Bezug auf die Einschränkbarkeit und hierbei zu beachtende Einschränkungsvoraussetzungen –, ob und in welcher, mit der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 III d EMRK übereinstimmenden oder nicht übereinstimmenden Weise die menschenrechtlichen Vorgaben in das schweizerische Strafverfahren und das internationale Strafverfahren vor dem ICTY Eingang gefunden habe.3130
3129 3130
Siehe dazu Kap. 5 B. I., II. Siehe dazu Kap. 5 C.
731
Sachregister Die Angaben beziehen sich auf die Randnummern dieses Buches.
A Abschirmung, optische/akustische 743, 885 f., 890 f., 967, 1050 ff., 1081 ff. adaequatio intellectus et rei 31 Arabische Menschenrechtsinstrumente 322 ff. Afrikanische Menschenrechtsinstrumente 321 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 296 ff. Amerikanische Menschenrechtsinstrumente 308 ff. Amerikanisches Strafverfahren 412 ff. Alternativhypothesen 600, 628, 632 Amtsermittlungsgrundsatz 47 Anlasszeichen 620 Anonyme Zeugen, siehe Konfrontationsrecht Antithese/antithetisch 77 f., 91 ff., 100 ff., 142, 154, 495, 510 ff., 550 f. Anwesenheitsrecht 390 Argumentationstheorie 215 Ausgleichserfordernis, siehe Konfrontationsrecht Auslegung -
4th instance doctrine 333 autonome 642 ff.
Ausübungsebene/Ausübungsrecht 4, 366 Aussageanalyse 877 Aussagelogik 33 Aussagepsychologie 555, 560, 590 ff., 621 ff., 854, 1049 Autonomie 3, 158 ff., 165 ff., 195, 222, 401 ff., 411, 435 B Begründungspflicht des Gerichts 537, 784 733
Sachregister
Belastungszeuge, Begriff 642 ff., 895 ff., 932 ff., 1012 ff. Beweisantizipation 737 Beweiserhebung, konventionsgemässe/konventionswidrige 765 ff., 782 ff. Beweismittel, einziges/entscheidendes 751 ff., 1017 ff., 1030, 1089 ff. Beweisrecht -
Beweiserhebung 523 ff., 749 ff., 753, 765 ff., 780 ff., 794, 800, 807 ff. Beweisverwertung(sverbote) 496, 751, 753, 765 ff., 776, 780 ff., 794, 1091 Beweiswürdigung 523 ff., 751 ff., 765 ff., 1016 ff., 1085 ff.
C Civil Law 47, 420, 423 ff., 442, 445, 470, 796, 803 Common Law 48, 410 ff., 420, 442, 445, 452, 798, 804 Confirmation Bias 627 Corroboration-Erfordernis 1025 ff. D Dialektik, dialektischer Charakter 2, 5, 82 f., 86 f., 99, 103 f., 120, 142 Diskurs 223 ff., 239 ff. Diskurstheorie 215 ff. due process 312 ff., 412 ff., 459, 467 Durchsetzungsebene, siehe Strafverfahren E EMRK 327 ff., 475 ff., 498 ff. Englisches Strafverfahren 412 ff. Entlastungszeuge 346, 383, 419, 487, 737 Entscheidungserheblichkeit 751 ff. Ergänzungsfragen 1076 ff. Erkenntniselemente 25 ff., 29, 54 Erkenntnistheorie 1, 22 ff. Erkenntnisverfahren 23, 28, 30, 60 ff., 81, 100 734
Sachregister
F Fairness 1, 3, 20, 22, 121 ff., 125 ff., 128 f., 131 ff., 139, 312 ff. -
als Verfahrensprinzip 3, 121 ff. als Menschenrecht des Angeklagten 3, 151 ff. Fairnessbegriff 121 ff., 307, 312 ff. Gesamt(menschen)recht 346 f., 368, 470 Modelloffenheit 505 philosophische Begründungen 157 ff. psychologische Begründungen 262 ff.
fair hearing 328 ff., 856, siehe zudem Fairness fair trial 122, 328 ff., siehe zudem Fairness Fragerecht im engen Sinne, siehe Konfrontationsrecht Fürsorgepflicht, staatliche 439, 733, 737, 749 Funktion, dienende 12 ff., 17 f., 30, 137 G Gegenrede 83 ff., 104, 113, 154, 218, 533, 548 Gerechtigkeit 1, 9, 14 f., 17 ff., 39, 41, 57, 81, 102, 125 ff., 128 Gerechtigkeit -
materielle 1, 8, 15 ff., 19 f., 31, 39, 128, 136 ff. prozedurale 1, 8, 15 ff., 19 f., 21, 39, 41, 128, 136 ff.
Gericht -
Unabhängigkeit/Unparteilichkeit 199 f., 255, 421
Gesamt(menschen)recht, siehe Fairness Gesamtbetrachtung 347, 769, 778 Glaubhaftigkeit 590 ff. Glaubwürdigkeit 561, 584 f., 590 ff. Glaubwürdigkeitsbeurteilung, inhaltsorientierte 598 ff., 1065 Glaubwürdigkeitskriterien 598 ff., 613 ff., 636 Group Value Model 278 H Hypothese/hypothesengeleitet 595 ff. Hypothesentesten, konfirmatorisches 626 ff. 735
Sachregister
I ICC 51, 259, 441, 452, 457 ff. ICTY 6, 51, 259, 441, 452, 457 ff., 795 ff., 895 ff., 909 ff., 915 ff. Identitätskenntnisrecht, siehe Konfrontationsrecht Inhaltsebene 4, 366 Inquisitionsverfahren 423 Interaktion 105 f., 109, 111, 113, 115, 119 Internationale Strafverfahren 440 ff. IPbpR 299 ff., 434, 436, 459, 461, 499, 501, 918 J Justizförmigkeit 9, 42, 776, 778 K Kohärenztheorie 30, 33 f., 36, 38, 54 Kommunikation 105 f., 109, 111, 113, 115, 119 Kommunikation und Interaktion 2 f., 103 f., 119, 142 Kompensation, siehe Konfrontationsrecht, Ausgleichserfordernis Konfrontationsrecht 2, 5, 6, 549 ff. 736
Ausgleichserfordernis, 731, 965 ff., 1052 ff. Beweiswürdigung 523 ff., 751 ff., 765 ff., 1016 ff., 1085 ff. Charakter und Gestaltung 795 ff., 805 ff. Einschränkungen 709 ff., 948 ff., 1032 ff. Einschränkungsformen 967 ff., 1072 ff. Fragerecht im engen Sinne 561, 564, 689 ff., 696, 698 ff., 1073 ff. Identitätskenntnisrecht 561, 564, 689 ff., 698 ff. Schutzbereich, persönlicher 637 ff., 895 ff., 932 ff. Schutzbereich, sachlicher 687 ff., 915 ff., 942 ff. Schutzbereich, zeitlicher 667 ff., 909 ff., 935 ff. Verhältnismässigkeitsgrundsatz 719 ff., 965 ff., 1045 ff. Wahrnehmungsrecht 561, 566, 689, 694, 698 ff. Wahrung der Verteidigungsrechte 718 ff. Wesensgehalt 728, 730, 822 ff., 857 ff. Zeugen, anonyme 561, 732, 928, 968 ff., 975, 1064 Zeugen, gefährdete 1035 Zeugen , sensible 1035
Sachregister
Konsensustheorie 30, 33 ff., 54 Kontradiktorisches Verfahren 52, 203, 277, 391, 489, 493, 935, 495, 512, 515, 530, 546, 614, 801 Konvergenztheorie 38 Korrespondenztheorie 30, 32 f., 37 f., 41, 54 Kreuzverhör 51 f., 795, 801, 804, 807, 810 f., 821, 842, 844, 856, 903, 907, 916, 983, 985 f., 988 ff. L Legitimation durch Verfahren 198 ff. live-in-court-testimony 961, 964 Lügensignale 616 M Margin of appreciation 333 Menschenrecht 1, 3 , 4, 5, 7, 16 f., 39, 41, 57, 81, 151, 154, 497, 510, 513 Menschenrecht auf Antithese 4 f., 120, 156 Menschenrecht auf Verteidigung 1, 3 ff., 22, 57, 81, 102, 156, 472 ff., 506 ff. Menschenrechtsinstrumente 296 ff. Menschenwürde 3, 5, 120, 401 ff., 430 ff. Mittelbarkeitsgrundsatz 667, 672 f., 675 ff., 681 ff. Mündlichkeitsgrundsatz 104, 909, 945 N natural justice-Garantie 412, 420 Nürnberger Prozesse 443 ff. Nullhypothese 874, 1051 O Öffentlichkeit 200, 255, 421 Offenheit des Strafverfahrens 64 ff., 73, 75, 99, 117
737
Sachregister
P Parteiverfahren 122, 277 Präsidialverhör 47, 821 Procedural Justice-Forschung 269 ff. process control 278 ff. Protokollierung 684 ff., 685 f., 792 Prozesssubjekt(ivität) 3, 45 f., 102, 120, 154, 176, 255, 286 ff., 294, 420, 514 R Recht auf wirksame Verteidigung 361 ff., 1121 Rechtliches Gehör 129, 237, 255, 391 ff., 436 ff., 529 ff., 586 ff., 635, 866, 1043 f. Rechtsfrieden 9 Rechtsgüter(schutz) 10, 1033 f. Rechtsvergleichung 500 ff. S Selbstbestimmung, siehe Autonomie Self Interest Model 272, 278 Sprechsituation, ideale 35, 257 Strafgerechtigkeit 7 ff., 17 ff., 32, 136 ff., 143 ff., 1112 Strafrecht und Strafverfahrensrecht, Verknüpfung, 9 ff., 14 Strafrechtsvergleichung 500 ff. Strafrechtswerte 10 f., 18 Strafverfahren, 738
adversatorisches 40 f., 43 ff., 48 ff., 55 f., 106 ff., 276 f., 410 ff. dienende Funktion 9 ff., 12, 136 f. Durchsetzungsebene 11 ff., 16 eigenständige Werthaftigkeit 9 ff., 13 f., 136 f. gemischte 40 ff., 50, 53, 55 f., 106, 109 internationales 440 ff. instruktorisches 40 ff., 43 ff., 47 ff., 51, 55 f., 100, 107 ff., 276 f. schweizerisches 6, 430 ff. sui generis 50, 457 Ziele 9 ff.
Sachregister
-
zweifelbehaftetes 64 ff.
Subjekthaftigkeit 158, 187 Subjektivität, anerkannt gelebte 170, 174, 176, 179, 192 f., 198 f., 214, 222, 238, 282, 395, 469 f., 1120 Subsidiarität der EMRK 333 Systemtheoretisches Verfahrensmodell 198 ff. T Teilhabe/Teilnahme -
Teilhabe-/Teilnahmerecht 167, 187, 195, 510, 527 Teilhabe-/Teilnahmerahmen 187, 195, 103 ff., 527
These/Antithese 2, 4, 76 ff., 81 f., 91, 96 ff., 99, 103, 112, 119, 142, 153 ff., 252, 510 ff. U Ultima ratio 10 f. Unmittelbarkeitsgrundsatz 493, 667, 672 ff., 681, 683 V Verdeckte Ermittler 710, 1035 f., 1062 ff. Verfahrensbeschleunigung 948, 960 Verfahrensherrschaft 795 ff., 805 ff. Verhältnismässigkeitsgrundsatz, siehe Konfrontationsrecht Vernehmungsherrschaft 795 ff., 805 ff., 821 Vernehmungsprotokoll 980, 1076 Verteidigung, wirksame 67, 118, 120, 361 ff., 383 ff., 391, 399, 439, 495 Verteidigungsrechte 378 ff., 389 ff., 488 f., 517 ff. Verwertungsverbote, siehe Beweisverwertungsverbote W Waffengleichheit 4, 128 f., 237, 255, 308, 325, 346, 391 ff., 450, 512, 528, 539 ff., 589
739
Sachregister
Wahrheit 1 f., 9, 17 f., 20, 22 ff., 29 f., 37 ff., 40 f., 44 ff., 54, 57, 59, 80, 86, 136, 141 Wahrheit, formelle 40 ff., 45, 55 Wahrheit, materielle 40 ff., 45, 55 Wahrheitsermittlung(sprozess/-sweg) 46 ff., 57 ff. Wahrheitstheorien 1, 22 ff., 29 ff., 43, 54 Wahrnehmungsrecht, siehe Konfrontationsrecht Wert(begriff) 127 f., 130 f., 130 Wertentscheidungen 14, 133 f., 148, 150 Werteordnung 9, 13 f., 18, 21, 137 Würdigung, siehe Konfrontationsrecht, Beweiswürdigung Wortprotokoll 685 f., 792 Würdigungspflicht des Gerichts 537, 784 Z Zeuge vom Hörensagen 663, 719, 840, 903, 907, 979, 988, 1012, 1014, 1029, 1068, 1079 Zeugen, siehe Konfrontationsrecht Zeugenanonymisierung 561, 732, 928, 968 ff., 975, 1064 Zeugenbegriff, siehe Belastungszeuge, Begriff Zeugenidentität 561, 564 ff., 583, 615, 621, 635 f., 968 ff., 698, 890, 926, 968 ff. Zeugnisverweigerungsrechte 816, 818, 1035
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Daniela Demko PD Dr. iur. LL.M.Eur.
«Menschenrecht auf Verteidigung» und Fairness des Strafverfahrens auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene Dargestellt anhand eines Strafrechtsvergleichs zum Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen und unter Zugrundelegung von Erkenntnissen aus Philosophie und Psychologie
Die sich der Fairness des Strafverfahrens auf nationaler, europäischer und inter nationaler Ebene widmende menschenrechtsbasierte Studie zeigt die Bedeutungs aspekte eines Menschenrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren: Dessen «Menschenrecht auf Verteidigung» ist das entscheidende Grundmoment des Menschenrechts des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren und differen ziert sich in einem dialektischen sowie menschenwürde- und menschenrechtsschützenden Strafverfahren als ein Menschenrecht des Angeklagten auf wirksame antithetische Teilnahme als Prozesssubjekt am Straf- und Beweisverfahren aus. In einem menschenrechtliche und strafverfahrensrechtliche Bestimmungen einbeziehenden Strafrechtsvergleich sowie unter Zugrundelegung philosophischer und psychologi scher Erkenntnisse arbeitet die Untersuchung Inhalts- und Verwirklichungs elemente des «Menschenrechts auf Verteidigung» und ihre Konkretisierungen beim Konfrontationsrecht des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen heraus.