Meister Eckhart: Leben aus dem Grunde des Lebens: Eine Einführung 9783495860649, 9783495485798, 9783451349416


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German Pages [465] Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung: Warum Meister Eckhart?
Fachleute und Laien
Herausforderung für unser Selbstverständnis
Ein formaler Hinweis
Teil I. Hinführung: Eckhart fürs 21. Jahrhundert
Erstes Kapitel: Kritik an der landläufigen Ethik: Kaufleute und Taubenverkäufer
Religiöse Haltungen
Die guten Christen
Gabe – Gegengabe
Die Wahrheit braucht keinen Handel
Intentionslosigkeit
Das Prinzip der Lebenshaltung
Zweites Kapitel: Meister Eckhart im 21. Jahrhundert
Zur Methode
Lebensphänomenologische Integration Eckharts
»Aktualisierung« Eckharts nach Kurt Flasch
Aneignung Eckharts
Lebemeister – Lesemeister
Eckhart ins Leben holen: ›Schwester Katrei‹
Eckhart für heutige Menschen?
Eckharts Wahrheitsverständnis
Drittes Kapitel: Eckharts Rede von Gott
Wie von Gott reden?
Gottes und des Menschen Wille
Exkurs: Aspekte einer Phänomenologie des Willens
Eckharts Rede von Gott
Teil II. Philosophische Grundlagen
Viertes Kapitel: »Das Sein ist Gott.«
Eckharts erste Vorbemerkung: Die Erstbestimmungen
Eckharts zweite Vorbemerkung: Das Obere im Niederen
Eckharts dritte Vorbemerkung: Kein Sachverständnis ohne Prinzipienerkenntnis
Die Grundsatzerklärung Eckharts zur ›Verteidigungsschrift‹
Fünftes Kapitel: Sein, Leben, Denken
Alles Seiende ist in Gott Leben
Geistiges Sein – ens in anima
Die in sich aufwallende, rückbezügliche Lebensbewegung: »Ich bin der ich bin.«
Logoslehre – In principio erat verbum
Sechstes Kapitel: Die Seinsanalogie
Die Analogie bei Thomas von Aquin und bei Eckhart
Sein und Seiendes
Siebtes Kapitel: Transzendenz in der Immanenz
Innere Prozesse
Gott ist das Innere der Dinge – innerkeit
Nichts und Sein
Achtes Kapitel: Theologie und Philosophie der Gottesgeburt
Die ontologische Fundierung der Gottesgeburtslehre
Gottesgeburt und Seelenfünklein in den Kölner Predigten
Ein Wendepunkt in der Gottesgeburtslehre
Empfängnis – Dankbarkeit der Gabe – Einzig Eines (Predigt 2)
Teil III. Phänomene des Menschseins
Neuntes Kapitel: Wegweiser für ein neues Selbstverständnis des Menschen
Das Liebenswerte der Dinge
Eckharts revolutionäres Verständnis des Menschseins: Was ist der Mensch? – Über Aristoteles hinaus
Wer bin ich? – Über Platon hinaus
Allgemeine Menschheit oder individuelles Menschsein?
Zehntes Kapitel: Was sagt Eckhart, wenn er »ich« sagt?
Eckharts Rede vom Ich
Eckharts Rede von sich
Armutspredigt
Wie leben? – Er gebirt mich sich und sich mich.
Elftes Kapitel: Eckharts Verständnis des richtigen Lebens
Eckharts Gerechtigkeitsbegriff auf dem Hintergrund der Tradition
Eckharts »Gerechtigkeit«: Lebensgerecht leben
Das Wirken der Gerechtigkeit im Subjekt
In geburt wîse
Eckharts Beispiel: Affiziert von der Rechtheit
Der Durchgang zur Gottesgeburt durch das Nichts der abegescheidenheit
Nachdenken über die Menschenwürde
Zwölftes Kapitel: Wie ist richtiges Leben im falschen möglich?
Das Nichts in der Welt
Eckharts ›spiritueller Nihilismus‹
Mangel und Sünde
Sünde und Hölle: die Qual des Nichts
Dreizehntes Kapitel: Demut, die Gott »enthöht«
Neudefinition der Demut
Hinab statt hinauf
Die Unausweichlichkeit der Herabkunft Gottes
Demut als Gottesverbindung – Der Kern der Demutslehre
Der enthöhte Gott
Demut als Verwandlung der Transzendenz
Einssein in der unbegriffenen Finsternis
Teil IV. Phänomenologie der Gottesgeburt oder die Geburt des Wortes in der Seele
Vierzehntes Kapitel: Übung des Lassens und Erfahrung der Gottesgeburt
Die Übung des Lassens, Gelassenheit und Abgeschiedenheit
›Rede der underscheidunge‹&ga;: Übung des Lassens
Der ›Gottesgeburtszyklus‹. Das verborgene Empfangen
Wie ist die Gottesgeburt zu erfahren?
Welche Haltungen des Menschen entsprechen der Gottesgeburt?
Was tut Gott in der Gottesgeburt?
Fünfzehntes Kapitel: Gottesgeburt
Die phänomenale Ausgestaltung der eckhartschen Gottesgeburtslehre
Das Aufbegehren, die natürliche Strebekraft des Menschen
Die Geburtlichkeit unserer inneren Erfahrung
Passibilität (enpfenclicheit) im Ur-Sein des Ich
Sechzehntes Kapitel: Ist Eckhart Mystiker?
Mystische Theologie
Mystik als eine bestimmte Weise der Wahr-Nehmung
Mystikäquivalent in der Psychoanalyse
Hervorgang in geburt wîse
Mystik als Kulturform – Lebensphänomenologie
Eckharts Mystik
Mystik »bei den Dingen«: Martha und Maria
In der Welt – aus dem Grunde des Lebens
Anhang
Zeittafel
Allgemeine Abkürzungen
Schriften Meister Eckharts
Abgekürzte Schriften Eckharts
Konkordanz Deutsche Werke – Quint PT
Konkordanz Quint PT – Deutsche Werke
Die deutschen Werke
Die lateinischen Werke
Quellen, Werkausgaben und Literaturverzeichnis
Quellen antiker und mittelalterlicher Autoren
Neuere Autoren und Forschungsliteratur
Personen- und Sachverzeichnis
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Meister Eckhart: Leben aus dem Grunde des Lebens: Eine Einführung
 9783495860649, 9783495485798, 9783451349416

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Karl Heinz Witte

Meister Eckhart: Leben aus dem Grunde des Lebens Eine Einführung

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495860649

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B

Karl Heinz Witte Meister Eckhart: Leben aus dem Grunde des Lebens

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495860649 .

Seit seiner Wiederentdeckung im 19. Jahrhundert ist Meister Eckhart sehr widersprüchlich interpretiert worden. Meistens standen ideologische Interessen im Vordergrund, seien es protestantische, katholische, neuromantische oder gar nationalsozialistische; es gab sogar eine marxistische Interpretation Eckharts. Die moderne Eckhartforschung ist vorwiegend historisch orientiert. Sie untersucht die philosophischen und theologischen Quellen, erforscht die Überlieferung und ediert die Texte. Gleichwohl zeichnen die weltanschauliche und die spirituelle Rezeption unterschiedliche Bilder. Es gibt zahlreiche interreligiöse Studien über Meister Eckhart. In der Meditations- und Spiritualitätsbewegung ist er ein viel zitierter Autor. Er wird als Zeuge für Erleuchtungserfahrungen aufgerufen, oder er wird als rationaler, aristotelisch-arabischer Philosoph vorgestellt. Karl Heinz Witte führt in Meister Eckharts Lehre ein, um sie für unsere Zeit verständlich zu machen, ohne den Philosophen und Theologen des Mittelalters zu aktualisieren oder zu modernisieren. Vielmehr versucht er, Eckharts philosophisches Denken und seine theologische Intention aus seinen Texten und in seinen Begriffen fachgerecht zu erklären; aber er schreckt auch nicht vor Übertragungen in heutige Sichtweisen zurück. Die Differenz zwischen Eckharts Lehre und moderner Interpretation soll aber erkennbar bleiben.

Der Autor: Karl Heinz Witte, Studium der Germanistik, Theologie und Philosophie. Promotion und Forschungen zur Rezeption Meister Eckharts im 14. Jahrhundert. Psychologischer Psychotherapeut in eigener Praxis. Veröffentlichung: »Zwischen Psychoanalyse und Mystik« (2010). Karl Heinz Witte lebt in München.

https://doi.org/10.5771/9783495860649 .

Karl Heinz Witte

Meister Eckhart: Leben aus dem Grunde des Lebens Eine Einführung

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495860649 .

3. Auflage 2013 © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg/München 2013 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Covermotiv: Erich Buchholz, Roter Kreis im Goldkreis, 1922 Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48579-8 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-86064-9

https://doi.org/10.5771/9783495860649 .

»So gewiss der Vater seinen einzigen Sohn in seiner Natur [in der Trinität] gebiert, so gewiss gebiert er ihn in das Innerste des Geistes, und das ist die innere Welt. Hier ist Gottes Grund mein Grund und mein Grund Gottes Grund. Hier lebe ich aus meinem Eigenen, wie Gott aus seinem Eigenen lebt. Wer in diesen Grund jemals nur einen Augenblick geschaut hat, dem sind tausend Mark rote Goldmünzen wie ein falscher Heller. Aus diesem innersten Grunde sollst du alle deine Werke wirken ohne Warum und Wozu« (Meister Eckhart, Predigt 5b).

https://doi.org/10.5771/9783495860649 .

https://doi.org/10.5771/9783495860649 .

Inhalt

Vorwort

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Einleitung Warum Meister Eckhart? . . . . . . . . . . . . . Fachleute und Laien . . . . . . . . . . . . . Herausforderung für unser Selbstverständnis Ein formaler Hinweis . . . . . . . . . . . .

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13

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15 15 16 21

Erstes Kapitel Kritik an der landläufigen Ethik: Kaufleute und Taubenverkäufer Religiöse Haltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die guten Christen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gabe – Gegengabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Wahrheit braucht keinen Handel . . . . . . . . . . Intentionslosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Prinzip der Lebenshaltung . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . .

25 25 26 27 29 32 36

Zweites Kapitel Meister Eckhart im 21. Jahrhundert . . . . . . . . . Zur Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . Lebensphänomenologische Integration Eckharts ›Präsentation‹ Eckharts nach Kurt Flasch . . . Aneignung Eckharts . . . . . . . . . . . . . . Lebemeister – Lesemeister . . . . . . . . . . Eckhart ins Leben holen: ›Schwester Katrei‹ . . Eckhart für heutige Menschen? . . . . . . . . Eckharts Wahrheitsverständnis . . . . . . . .

. . . . . . . . .

39 39 42 43 46 46 46 48 54

Teil I. Hinfhrung: Eckhart frs 21. Jahrhundert

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Inhalt

Drittes Kapitel Eckharts Rede von Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie von Gott reden? . . . . . . . . . . . . . . . Gottes und des Menschen Wille . . . . . . . . . . Exkurs: Aspekte einer Phänomenologie des Willens Eckharts Rede von Gott . . . . . . . . . . . . . .

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57 57 59 60 64

Teil II. Philosophische Grundlagen Viertes Kapitel »Das Sein ist Gott.« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eckharts erste Vorbemerkung: Die Erstbestimmungen . . Eckharts zweite Vorbemerkung: Das Obere im Niederen . Eckharts dritte Vorbemerkung: Kein Sachverständnis ohne Prinzipienerkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Grundsatzerklärung Eckharts zur ›Verteidigungsschrift‹ Fünftes Kapitel Sein, Leben, Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alles Seiende ist in Gott Leben . . . . . . . . . . . . . Geistiges Sein – ens in anima . . . . . . . . . . . . . . Die in sich aufwallende, rückbezügliche Lebensbewegung: »Ich bin der ich bin.« . . . . . . . . . . . . . . . . . . Logoslehre – In principio erat verbum . . . . . . . . . .

81 83 85 88 89

. 100 . 100 . 103 . 112 . 119

Sechstes Kapitel Die Seinsanalogie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Analogie bei Thomas von Aquin und bei Eckhart . . . Sein und Seiendes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

123 123 127

Siebtes Kapitel Transzendenz in der Immanenz . . . . . . . . Innere Prozesse . . . . . . . . . . . . . Gott ist das Innere der Dinge – innerkeit Nichts und Sein . . . . . . . . . . . . .

133 133 139 151

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8 https://doi.org/10.5771/9783495860649 .

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Inhalt

Achtes Kapitel Theologie und Philosophie der Gottesgeburt . . . . . . . . . Die ontologische Fundierung der Gottesgeburtslehre . . Gottesgeburt und Seelenfünklein in den Kölner Predigten Ein Wendepunkt in der Gottesgeburtslehre . . . . . . . Empfängnis – Dankbarkeit der Gabe – Einzig Eines . . .

. . . . .

161 161 170 178 181

Teil III. Phnomene des Menschseins Neuntes Kapitel Wegweiser für ein neues Selbstverständnis des Menschen . . Das Liebenswerte der Dinge . . . . . . . . . . . . . . Eckharts revolutionäres Verständnis des Menschseins: Was ist der Mensch? – Über Aristoteles hinaus . . . . Wer bin ich? – Über Platon hinaus . . . . . . . . . . Allgemeine Menschheit oder individuelles Menschsein?

. . 196 . . 202 . 209

Zehntes Kapitel Was sagt Eckhart, wenn er »ich« sagt? . . . . . . . . Eckharts Rede vom Ich . . . . . . . . . . . . Eckharts Rede von sich . . . . . . . . . . . . Armutspredigt . . . . . . . . . . . . . . . . Wie leben? – Er gebirt mich sich und sich mich.

. . . . .

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. . 193 . . 193

Elftes Kapitel Eckharts Verständnis des richtigen Lebens . . . . . . . . . . . Eckharts Gerechtigkeitsbegriff auf dem Hintergrund der Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eckharts »Gerechtigkeit«: Lebensgerecht leben . . . . . Das Wirken der Gerechtigkeit im Subjekt . . . . . . . . In geburt wîse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eckharts Beispiel: Affiziert von der Rechtheit . . . . . . Der Durchgang zur Gottesgeburt durch das Nichts der abegescheidenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachdenken über die Menschenwürde . . . . . . . . .

. . . . .

218 218 226 230 237

. 242 . . . . .

242 246 249 254 256

. 260 . 266

9 https://doi.org/10.5771/9783495860649 .

Inhalt

Zwölftes Kapitel Wie ist richtiges Leben im falschen möglich? Das Nichts in der Welt . . . . . . . Eckharts ›spiritueller Nihilismus‹ . . Mangel und Sünde . . . . . . . . . Sünde und Hölle: die Qual des Nichts

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. . . . .

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272 273 281 290 293

Dreizehntes Kapitel Demut, die Gott »enthöht« . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neudefinition der Demut . . . . . . . . . . . . . . . . Hinab statt hinauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Unausweichlichkeit der Herabkunft Gottes . . . . . Demut als Gottesverbindung – Der Kern der Demutslehre Der enthöhte Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Demut als Verwandlung der Transzendenz . . . . . . . Einssein in der unbegriffenen Finsternis . . . . . . . . .

. . . . . . . .

302 302 303 304 305 316 319 322

Teil IV. Phnomenologie der Geburt des Wortes in der Seele Vierzehntes Kapitel Übung des Lassens und Erfahrung der Gottesgeburt . . . . . . . Die Übung des Lassens, Gelassenheit und Abgeschiedenheit ›Rede der underscheidunge‹ : Übung des Lassens . . . . . Der ›Gottesgeburtszyklus‹. Das verborgene Empfangen . . Wie ist die Gottesgeburt zu erfahren? . . . . . . . . . . . Welche Haltungen des Menschen entsprechen der Gottesgeburt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was tut Gott in der Gottesgeburt? . . . . . . . . . . . . . Fünfzehntes Kapitel Gottesgeburt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die phänomenale Ausgestaltung der eckhartschen Gottesgeburtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Aufbegehren, die natürliche Strebekraft des Menschen Die Geburtlichkeit unserer inneren Erfahrung . . . . . . Passibilität (enpfenclicheit) im Ur-Sein des Ich . . . . . .

10 https://doi.org/10.5771/9783495860649 .

331 331 333 341 344 347 359 364 364 366 373 379

Inhalt

Sechzehntes Kapitel Ist Eckhart Mystiker? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mystische Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . Mystik als eine bestimmte Weise der Wahr-Nehmung Mystikäquivalent in der Psychoanalyse . . . . . . . Hervorgang in geburt wîse . . . . . . . . . . . . . Mystik als Kulturform – Lebensphänomenologie . . Eckharts Mystik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mystik »bei den Dingen«: Martha und Maria . . . . In der Welt – aus dem Grunde des Lebens . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

391 391 394 397 398 400 403 408 417

Anhang Zeittafel

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425

Allgemeine Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

427

Schriften Meister Eckharts . . . . . . . . . . Abgekürzte Schriften Eckharts . . . . . Konkordanz Deutsche Werke – Quint PT Konkordanz Quint PT – Deutsche Werke Die deutschen Werke . . . . . . . . . . Die lateinischen Werke . . . . . . . . .

. . . . . .

428 428 430 432 433 434

Quellen, Werkausgaben und Literaturverzeichnis . . . . . . . . Quellen antiker und mittelalterlicher Autoren . . . . . . Neuere Autoren und Forschungsliteratur . . . . . . . . .

436 436 439

Personen- und Sachverzeichnis

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11 https://doi.org/10.5771/9783495860649 .

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Vorwort

Meister Eckhart ist beliebt. Vorträge über ihn sind gut besucht. Es gibt zahlreiche interreligiöse Studien über ihn. In der Meditations- und Spiritualitätsbewegung ist er ein viel zitierter Autor. Er wird als Zeuge für Erleuchtungserfahrungen aufgerufen, oder er wird als aristotelisch-arabischer Philosoph vorgestellt. Eckhart-Studien und EckhartBücher haben Konjunktur. In dieser Situation eine neue Einführung vorzulegen ist eine Herausforderung. Von welchem Erkenntnisinteresse wird das Buch angeregt? An welchem Ort in der Meinungsvielfalt siedelt es sich an? Hat es eine zentrale Botschaft? – Seit meinem Studium in den 1960er Jahren bei Kurt Ruh in Würzburg hat mich Meister Eckhart nicht losgelassen. Meinem akademischen Lehrer verdanke ich die Schulung und die Verpflichtung zu historisch informiertem und philologisch genauem Referat, aber auch die Leidenschaft der subjektiven Interpretation. Mein Lebensweg hat mich auf verschiedenen theologischen und philosophischen Feldern arbeiten lassen. Das bedeutsamste und prägendste Studien- und Arbeitsfeld war aber die analytische Psychotherapie in eigener Praxis sowie als Lehrer und Autor. Das hier vorgelegte Buch kann und will diese Herkunftsspuren nicht verwischen, sondern – im Gegenteil – sie verdeutlichen, lesen und verfolgen. Diese Spuren führen mich zu Meister Eckhart als einer geistigen Gestalt, mit deren Hilfe ich mein Leben glaube deuten zu können. Ich versuche, diese Gestalt zu zeichnen, in der Hoffnung, dass auch den Lesern Meister Eckhart zu einem Wegweiser ihres Lebens werden kann. Seine Lehre kann nicht realisierbares Ziel sein, aber sie kann dem Leben einen unauslotbaren Grund weisen. Dieses Buch fasst solche Motivationen und Anregungen, die Meister Eckhart anzustoßen vermag, zusammen in die Frage nach dem »Leben aus dem Grunde des Lebens«. Es führt in Eckharts Lehre ein, um sie für unsere Zeit verständlich zu machen. Es will aber nicht 13 https://doi.org/10.5771/9783495860649 .

Vorwort

den Philosophen und Theologen des Mittelalters aktualisieren oder modernisieren. Es versucht, Eckharts philosophisches Denken und seine theologische Intention aus seinen Texten und in seinen Begriffen fachgerecht zu erklären; aber es schreckt auch nicht vor Übertragungen in heutige Sichtweisen zurück. Die Differenz zwischen Eckharts Lehre und moderner Interpretation soll erkennbar bleiben. Ein solches Projekt ist vielen Menschen zu Dank verpflichtet, vielen Ungenannten, deren Vorarbeiten und Anregungen untergründig wirksam geworden sind. Vor allem aber vielen Freundinnen und Freunden, deren Kommentare, Diskussionsbeiträge, Fragen, Hinweise, Lob und Kritik mir beim Entwurf dieses Buches eine spürbare Unterstützung waren. Ich nenne Heide Bade, Dorothee Kollmann und Robert Antoch, die wichtige Kapitel gelesen und hilfreich kommentiert haben. Gisela Eife und Leo Dümpelmann waren und sind mir ständige philosophische und psychotherapeutische Mitleser und Gesprächspartner, die mein Denken geteilt und inspiriert haben. – Rolf Kühn hat mich in die Lebensphänomenologie eingeführt und damit meinem Denken einen neuen Rahmen geboten. Eckhart mit den Augen des Lebensphänomenologen zu lesen, kann einen Blick auf Meister Eckhart eröffnen, der ihm einen wichtigen Platz in der zeitgenössischen Philosophie einräumt – ein Prozess, der erst am Anfang steht. – Unschätzbar ist seit den Studienjahren in Würzburg der Beitrag meines Freundes Georg Steer. Er hat manche Problemstellungen seiner Eckhart-Forschung mit mir diskutiert. Von seinen profunden Kenntnissen habe ich am meisten über den Meister gelernt. Seine strenge Mahnung, dem ›authentischen Eckhart‹ verpflichtet zu bleiben, hat mich stets begleitet. Aber den tiefsten Eindruck und Einfluss auf meine Begegnung mit Meister Eckhart habe ich aus Georg Steers erleuchteter und liebevoller Verehrung des spirituellen Lebenslehrers Meister Eckhart gewonnen. – Es ist undenkbar, dass dieses Buch ohne die Mithilfe Elfriede Wittes hätte fertig gestellt werden können. Sie hat akribisch und fachkundig Korrektur gelesen, die Sache Meister Eckharts sowie des potenziellen Lesers kritisch und engagiert, begeistert und manchmal zornig gegen die Launen des Autors vertreten. – Dank sage ich auch Lukas Trabert, dem Leiter des Verlags Karl Alber, der das Manuskript bereitwillig angenommen sowie die Gestaltung und Herstellung des Buches großzügig ermöglicht hat. München, 15. Dezember 2012

Karl Heinz Witte

14 https://doi.org/10.5771/9783495860649 .

Einleitung Warum Meister Eckhart?

Fachleute und Laien Kein geistlicher Lehrer aus der christlichen Vergangenheit ist heute beliebter als Meister Eckhart. Vielleicht kann noch Ignatius von Loyola konkurrieren; aber Eckhart gilt als moderner. Bekannt ist Eckhart bei Menschen heutzutage, die nach neuen religiösen Wegen suchen, bei spirituell engagierten Angehörigen verschiedener Religionen sowie bei Anhängern der modernen, nicht konfessionell gebundenen spirituellen Bewegungen. In der Forschungsliteratur findet er ein besonders starkes Interesse bei Philosophiehistorikern, in etwas geringerem Maße, aber stetig wachsend auch in der Theologie beider Konfessionen. Erfolgreich und überaus materialreich ist die Erforschung und Edition der deutschen und lateinischen Werke Meister Eckharts. In Bibliografien und Veranstaltungsprogrammen bemerkt man ein wachsendes Interesse an interreligiösen Studien zu Meister Eckhart, sowohl aus dem Zen, dem Buddhismus, der Advaita-Philosophie und der Islam-Wissenschaft. Man kann in der Eckhart-Rezeption, grob gesprochen, zwei Gruppen unterscheiden, die sich für Eckhart interessieren: die Fachleute und die Laien. Zwischen ihnen erstreckt sich eine Kluft. Manche Laien finden den Vortrag der Forschungsergebnisse lebensfremd und abgehoben, und viele Forscher ignorieren schlichtweg, worum es den Laien geht: die existenzielle und spirituelle Lehre Eckharts. Diese Kluft gibt es nicht nur in modernen Zeiten. Sie bestand schon zur Lebenszeit Eckharts. Und auch die Konflikte und Missverständnisse, die es heute um das Verständnis der Lehren des Meisters gibt, beherrschten die Diskussion schon zur Zeit seines Wirkens und danach. Das wissen wir aus der Übernahme der Lehren Eckharts in Schriften aus geistlichen, nicht orthodoxen Laienbewegungen und aus den Bemühungen der Zeitgenossen, die Missverständnisse und Verzerrungen der Lehren Eckharts zurechtzurücken oder anzuprangern, sei es 15 https://doi.org/10.5771/9783495860649 .

Einleitung

durch Anhänger Eckharts, zum Beispiel Heinrich Seuse und Johannes Tauler, sei es durch seine Gegner, zum Beispiel Jan van Ruusbroec und Jan van Leeuwen. Die Geschichte der Eckhart-Rezeption war und ist bis in die heutige Zeit hinein von Begeisterung, Abgrenzung, Parteilichkeit und Polemik durchsetzt.1 Die engagierte Auseinandersetzung um Eckhart findet sich verständlicherweise bei den Menschen, die von seinen Anregungen berührt werden. Eine dritte, wahrscheinlich die größte, meistens schweigende Gruppe besteht aber sicher aus denen, die Eckhart ignorieren und, wenn sie einmal etwas über ihn hören, sich verständnislos abwenden. Auch das war zu Eckharts Zeiten schon so. Obwohl er in interessierten Kreisen eine Berühmtheit war, gehörte er nicht zum Mainstream, und so ist es auch heute – angesichts der zeitgenössischen kulturellen und philosophischen Diskurse: Was er beizutragen hat, gilt eher als abseitig. Gleichwohl haben sich immer wieder bekannte moderne Autoren mit Eckhart auseinandergesetzt und von ihm anregen lassen: Gustav Landauer, Martin Heidegger, Carl Gustav Jung, Wilfred Bion, Erich Fromm, Ernst Tugendhat, Jacques Derrida, Michel Henry, um nur die Bekanntesten zu nennen. Aber auch diese Autoren sind nicht gerade tonangebend im öffentlichen kulturellen Gespräch.

Herausforderung fr unser Selbstverstndnis Also warum Meister Eckhart? Weil er unserem Leben einen grundlegend anderen Zuschnitt geben würde, wenn wir ihm folgen könnten. Das wussten seine Anhänger wie seine Gegner. Das aber macht es uns auch so schwer, ihn intellektuell und existenziell zu verstehen. Er fordert unser Denken heraus, da er auf einem uns fremden historischen Hintergrund spricht. Er provoziert unsere intellektuelle Abwehr, weil er aus einer fremdartigen religiösen Haltung in einem in intellektuellen Kreisen weithin verpönten ›christlichen‹ Vokabular spricht, und er weckt unseren Widerstand, weil er zu einer Lebenseinstellung und Lebensänderung herausfordert, die unserem modernen autonomieorientierten Selbstverständnis entgegenzustehen scheint. Siehe hierzu besonders die Schriftensammlung von Sturlese, Loris: Homo divinus; klassisch die Darstellung von Degenhardt, Ingeborg: Studien zum Wandel des Eckhartbildes.

1

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Warum Meister Eckhart?

Andererseits hat er immer fasziniert, gleichgültig, ob man ihn philosophiehistorisch korrekt verstanden hat oder ob man in sein Werk ideologische oder weltanschauliche Vormeinungen hineingelesen hat. Das Faszinierende und Konfrontative der Eckhart-Lektüre gibt den Anstoß und erzeugt auch die Dynamik dieses Buches. Darin liegt gleichzeitig eine Herausforderung: Eckharts Positionen in die zeitgenössische Denkweise zu übertragen und die Gegensätze zu benennen. Es scheint, dass es vielen leicht fällt, Eckhart aus dem Herzen zuzustimmen, auch wenn der Verstand und die Lebensgewohnheit ihm widersprechen wollen. Ein Zeichen dafür, dass diese paradoxe Zustimmung geschieht, sehe ich in der Begeisterung, die Eckhart wecken kann, auch wenn man ihn ›falsch‹ oder ›unzeitgemäß‹ versteht. Ich möchte behaupten, dass Eckhart uns besser versteht als wir uns selbst, ohne Rücksicht darauf, ob wir sein Verständnis intellektuell nachvollziehen können oder nicht wahrhaben wollen. Die folgenden Studien versuchen, eine Brücke zu schlagen, indem sie einerseits Eckharts Denken möglichst in der authentischen Form darstellen. Deshalb kommt er selbst, freilich in meiner Übersetzung ins Neuhochdeutsche, zu Wort. Der Originalwortlaut ist immer in den Fußnoten nachzulesen. Das andere Ufer dieser Brücke ist die Vermittlung des eckhartschen Gedankenguts an Leser unserer Zeit. Hier mag es für einige Leser bedauerlich sein, dass manche Passagen in einer konzentrierten philosophischen Sprache geschrieben sind. Das konnte nicht vermieden werden, wenn der philosophische Anspruch und die philosophisch-theologischen Zusammenhänge, in denen Eckhart sich bewegt, gewürdigt werden sollen. Der Autor hegt aber die Hoffnung, dass die Sache selbst sich klar abzeichnet, teilweise auch durch Übertragung der Ideen in Probleme der heutigen Zeit. Er hofft, dass Schwierigkeiten des Verständnisses nicht auf die Unklarheit der Darstellung zurückzuführen sind, sondern darauf, dass Eckharts Thesen der landläufigen Sichtweise fremd sind, wenngleich sie das Herz unmittelbar erreichen können. Eine bedauerliche Unkorrektheit in der Sache kommt dadurch zustande, dass Eckhart, entsprechend der mittelalterlichen Tradition, vom »Sohn« Gottes spricht und in der Anwendung auf die Ethik auch stets undifferenziert sagt, wir Menschen sollten »der Sohn« sein. Das ist für moderne Frauen problematisch. Gelegentlich kann der heutige Rezipient an solchen Stellen auch die Töchter ergänzen. Das inkarnatorische Sohnsein und die Frage, inwiefern es als vorempirische, ›transzen17 https://doi.org/10.5771/9783495860649 .

Einleitung

dentale‹ Ermöglichung geschlechtsneutral verstanden werden kann oder ob hier jeweils eigens das Tochtersein hervorzuheben wäre, ist ein berechtigtes, aber schwieriges Problem der (feministischen) Theologie. 2 In den Übersetzungen und Erläuterungen der Eckharttexte muss es meistens beim ›Sohnsein‹ bleiben, wenn dem Sprachduktus Eckharts nicht Gewalt angetan werden soll. Der erste Teil versucht, zu Eckhart hinzuführen, indem er Fragen aufwirft, die an ihn von einem Standpunkt des 21. Jahrhunderts aus gestellt werden könnten, zum Beispiel: Welche Haltung könnte Eckhart dem Menschen Gott gegenüber sowie in ethischen Fragen empfehlen (erstes Kapitel)? Welche Untersuchungsmethode wendet Eckhart selbst an, und ist es überhaupt möglich und sinnvoll, seine Philosophie und Theologie in die Gegenwart zu übersetzen (zweites Kapitel)? Und schließlich, angesichts des alltäglichen Atheismus heute: Wie spricht Eckhart überhaupt von Gott (drittes Kapitel)? Im zweiten Teil werden die philosophischen Grundthesen Eckharts zusammenfassend erläutert, zum Beispiel sein Seinsverständnis (viertes Kapitel), sein Analogieverständnis und im Zusammenhang damit seine Lehre vom Intellekt und vom Leben (fünftes und sechstes Kapitel). Mit diesen philosophischen Grundlagen verbindet sich die Frage, was für eine Art Metaphysik wir bei Eckhart finden. Damit sind ferner die Fragen verbunden, wie er das Verhältnis des göttlichen und des geschöpflichen Bereichs sieht, in welcher Weise das Göttliche vom Weltlichen getrennt oder mit ihm verbunden ist. Das heißt: Es stellt sich die Frage nach Transzendenz und Immanenz (siebtes Kapitel). Im Schlüsselbegriff der Lehre Eckharts vom Menschsein, der Geburt des Wortes oder der Geburt des Gottessohnes in der Seele wird diese Verbindung von Transzendenz und Immanenz konkret. Diese Gedanken führen in das Zentrum der Philosophie und Theologie, vielleicht auch der ›Mystik‹ Eckharts, die Erfahrung der Einheit Gottes und des Menschen (achtes Kapitel). Alle diese Themen durchdringen das Menschsein in seiner Beziehung zu sich selbst und zu Gott, was im dritten Teil im Fokus steht. Hier müssen unvermeidbar die Konzepte aus dem zweiten Teil wieder aufgegriffen werden. Dass es dabei zu Wiederholungen kommt, könnte für den Leser auch von Vorteil sein. Die Untersuchung dringt jeweils von Ansätze zur Diskussion im Aufsatzband Lichtenberger, Hermann, Jürgen Moltmann und Elisabeth Moltmann-Wendel: Mystik heute.

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verschiedenen Phänomenen aus in das theoretische Zentrum vor und stößt dabei unvermeidbar wiederholt auf die Kernsätze Eckharts. Am Anfang stehen hier die Fragen: Was ist der Mensch für Eckhart? Steht das allgemeine Wesen des Menschen, seine Humanitas, im Vordergrund (neuntes Kapitel)? Wie steht dazu sein Einzel-Sein, und verbindet sich Gott mit dem allgemeinen Menschenwesen oder mit dem Einzelnen, also dem Ich? Was meint Eckhart, wenn er »ich« sagt (zehntes Kapitel)? Daraus folgen Probleme, die man allgemein zur Ethik rechnet, die aber bei Eckhart Zentralthemen seiner Ontologie sind: Wie versteht Eckhart das richtige Leben, in seiner Sprache: die Gerechtigkeit (elftes Kapitel), und wie sieht er im Gegenteil dazu das ›falsche‹ Leben, zum Beispiel Nihilismus, Böses, Sünde, Verdammnis (zwölftes Kapitel)? Wie findet der Mensch zur Demut, das heißt zugleich zu Gott, oder besser: Wie findet Gott zum Menschen (dreizehntes Kapitel)? Die Fragen nach der Existenz und den Wesensvollzügen des Menschen lassen sich am besten in Eckharts Konzept der Geburt des Sohnes oder des Wortes in der Seele erläutern. Nachdem dieses Thema im philosophisch-theologischen Teil schon in werkhistorischer Perspektive dargestellt worden ist, wendet sich der vierte Teil diesem Konzept nochmals zu, und zwar in phänomenologisch-psychologischer Perspektive. Dargestellt wird hier, wie Eckhart zur Erfahrbarkeit der ›Gottesgeburt‹ steht. Damit verbindet sich die Frage nach Meditation, Gebet und anderen religiösen Übungen (vierzehntes Kapitel). In diesem Zusammenhang stehen existenzielle Fragen im Vordergrund: Was bedeutet die Geburtlichkeit oder Nativität für die Selbsterfahrung des Menschen? Hier muss nochmals nach dem Ineinander von Gott und Welt in der Erfahrung des Menschen gefragt werden (fünfzehntes Kapitel). Und schließlich ist die Frage nach der ›Mystik‹ Eckharts zu stellen. Gibt es Gründe, ihn »Mystiker« zu nennen, obwohl er diese Bezeichnung selbst nicht verwendet? Die Untersuchung von Alltagserfahrungen und deren Äußerung zeigt, dass es eine Weise der Wahr-Nehmung gibt, die weder logisch, metaphysisch noch im phänomenologischen Sinne evident ist. Im Sinne dieser ›ciszendentalen‹ Erfahrung hat der Name »Mystik« für die Gottesgeburtserfahrung Eckharts eine Berechtigung. Es ist eine Erfahrung ohne Gegenstand, wie Eckhart sagt, eine unbekante bekantnisse, unerkannte Erkenntnis. Sie wird im Tun »Leben aus dem Grunde des Lebens« (sechzehntes Kapitel). Der Lebenslauf Meister Eckharts, der kulturelle Hintergrund und die Werkchronologie sind in den Einführungswerken häufig und 19 https://doi.org/10.5771/9783495860649 .

Einleitung

gründlich dargestellt worden. Zur schnellen Orientierung gebe ich nur eine Zeittafel im Anhang. Der kundige Leser wird zahlreiche Hinweise auf die Forschungsliteratur vermissen, die gleichwohl für den Autor eine unverzichtbare Quelle gewesen ist. Um den Umfang der Fußnoten nicht zu belasten, wird die Sekundärliteratur nur begrenzt angeführt. Besonders schmerzlich mag es sein, dass ich verdienstvolle Untersuchungen nicht zitiere, wenn sie zum Grundbestand der Forschungsergebnisse geworden sind. Hingegen sind die Zitate aus Eckharts Werk zahlreich. Das soll dazu beitragen, dem authentischen Eckhart eine Stimme zu geben und die weiterführenden Interpretationen davon abzuheben und sie, so gut es geht, zu legitimieren. Das Werk eines Eckhart-Forschers muss besonders hervorgehoben werden, da seine Studie bis in die Titelgebung dieses Buches hineinwirkt. Wenn die Leitidee hier heißt: »Leben aus dem Grunde des Lebens«, so hat Bernard McGinn dazu mit seiner These den wissenschaftlichen Grund und Boden bereitet. 3 Er schlägt vor, für die Eigentümlichkeit der eckhartschen Mystik die Charakterisierung »Mystik des Grundes« zu wählen. 4 Er betrachtet »Grund« als »Meistermetapher« (George Lakoff) oder als »Sprengmetapher« (Hans Blumenberg) für Eckharts Werk. Dazu bietet er einen fundierten Überblick über die Geschichte der Erforschung des Begriffs und führt Gründe aus dem lateinischen und deutschen Sprachgebrauch Eckharts an. 5 Vor allem aber zeigt er, dass die Metapher grunt das Herz der Lehre Eckharts von der Beziehung Gottes zur Seele des Menschen trifft, da sie einen gemeinsamen »Grund« haben, eine Identitätsverschmelzung (fused identity). 6 Er glaubt, dass diese Metapher für die verschiedenen Aspekte der Lehre Eckharts, die von der Forschung besonders in den letzten Jahren untersucht wurden, einen Angelpunkt und Fokus bieten kann, zum Beispiel für die Intellektlehre, für Eckharts Konzept der Analogie, des Einen und Ununterschiedenen, der Transzendentalien sowie auch für den appellativen und Ereignischarakter des Predigens. 7 McGinn, Bernard: The mystical thought of Meister Eckhart, vor allem Kap. 3: Eckhart and the mysticism of the ground, S. 35–52 und McGinn, Bernard: Die Mystik im Abendland, Bd. 4: Fülle, Kap. 3: Die Mystik vom Grund, S. 148–166. 4 McGinn, Bernard: The mystical thought of Meister Eckhart, S. 37. 5 McGinn, Bernard: Die Mystik im Abendland, Bd. 4: Fülle, S. 152–161. 6 McGinn, Bernard: The mystical thought of Meister Eckhart, S. 38–44. 7 McGinn, Bernard: The mystical thought of Meister Eckhart, S. 52: »Die Argumenta3

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Mit Recht hebt McGinn hervor, dass es nicht adäquat wäre, den Umfang der Lehre Eckharts vom »Grund« in den Terminus »Seelengrund« oder verwandter Metaphern, wie »Fünklein«, das »Innerste«, das »Haupt« der Seele, zu fassen. 8 Ich glaube jedoch, dass der dynamische und existenzielle Charakter der Ontologie Eckharts sich besonders deutlich im Begriff »Leben« spiegelt, der sowohl das Sein wie das Vernünftigsein und damit auch die ›Erstbestimmungen des Seins‹ (termini generales), zum Beispiel Einssein, Gutsein, Gerechtsein, einschließt. Darum spreche ich vom »Leben aus dem Grunde des Lebens«. Auch in diesem Sinne trifft McGinns Einschätzung zu: »Als Sprengmetapher durchbricht grunt weiterhin alle Kategorien und lädt uns dazu ein, uns tatkräftig um unseren eigenen Durchbruch zu kümmern.« 9 Vertiefende Anhaltspunkte für die Analyse des Lebens sowie des »Grundes« gewährt die lebensphänomenologische Deutung Eckharts durch Rolf Kühn, auf die im Folgenden immer wieder zurückgegriffen wird. 10

Ein formaler Hinweis Die Werke Meister Eckharts werden mit Abkürzungen zitiert. Angegeben werden die Nummern (n.) der Abschnitte in den lateinischen Werken oder der deutschen Predigten (Pr.). Die Abkürzungen sowie der Veröffentlichungsort und die Bandzahl der Gesamtausgabe des Kohlhammerverlags sind aus dem Abkürzungsverzeichnis im Anhang zu entnehmen. An der Belegstelle werden die Seiten- und Zeilenzahlen mitgeteilt. Die Nummern der deutschen Predigten in der Werkausgabe von Largier stimmen mit der Gesamtausgabe überein. Da die Übersetzungen von Josef Quint in ›Meister Eckehart: Predigten und Traktate (PT)‹ noch häufig gelesen werden, enthält der Anhang eine Konkortion dieses Kapitels soll zeigen, dass der Begriff ›Grund‹, zugleich schlicht und tief, einen Angelpunkt und Fokus bietet, der uns erlaubt, diese und viele weitere wichtige Aspekte der Mystik Eckharts nicht in ein rigides System einzubinden, sondern in den Prozess des Übergangs vom Etwas zum Nichts, und das war das Ziel seiner Predigt und Lehre« (Übers. KHW). 8 McGinn, Bernard: The mystical thought of Meister Eckhart, S. 41. 9 McGinn, Bernard: Die Mystik im Abendland, Bd. 4: Fülle, S. 161. 10 Kühn, Rolf: Ungeteiltheit – oder Mystik als Ab-Grund der Erfahrung.

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Einleitung

danz, aus der die offizielle Predigtnummer mit der Zählung der Übersetzung von Quint abgeglichen werden kann. Quellen und Forschungsliteratur werden in den Fußnoten nur mit Autor und Kurztitel zitiert. Die vollständige Bibliografie findet sich ebenfalls im Anhang. Ich benütze doppelte Anführungszeichen (»…«) bei wörtlichen Zitaten aus der Literatur sowie für Übersetzungen. Lateinische, mittelhochdeutsche und fremdsprachliche Texte werden in Kursivschrift gesetzt. Einfache Anführungszeichen (›…‹) deuten auf uneigentlichen Sprachgebrauch hin. Sie können mit Sprachformeln wie »sozusagen« oder »wenn der Ausdruck erlaubt wäre« übersetzt werden. Einfache Anführungszeichen stehen natürlich auch bei Zitaten im Zitat und zur Kennzeichnung von Werktiteln.

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Teil I. Hinfhrung: Eckhart frs 21. Jahrhundert

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Erstes Kapitel Kritik an der landlufigen Ethik: Kaufleute und Taubenverkufer

Religise Haltungen Zur Einführung in das von Eckhart vorgeschlagene Selbstverständnis des Menschen stelle ich einige Gedanken aus der Predigt 1, ›Intravit Iesus in templum‹, vor. Es handelt sich um die bekannte Episode aus dem Leben Jesu: »Jesus ging in den Tempel und trieb alle Händler und Käufer aus dem Tempel hinaus« (Matth. 21,12). Eckhart interpretiert die biblische Erzählung von der Reinigung des Tempels; aber er meint, wie er selbst sagt, die Reinigung der Seele. Er bespricht nicht Methoden der Lebensverbesserung des Einzelnen, sondern er skizziert Haltungen, die für zwei Gruppen typisch sind, die aber zugleich als Grundhaltungen verstanden werden, denen kollektiv jeder Einzelne verfallen sein kann. Sie repräsentieren sozusagen das ›normale Ethos‹. Es sind Haltungen und Einstellungen, die nach Eckhart die Seele verunreinigen und damit die reine Gotteserfahrung behindern. Nun ist die theologische Denk- und Redeweise des Mittelalters heute nur noch wenigen zugänglich, sodass die »Reinigung der Seele« und die »Gottesgeburt in der Seele«, das Zentrum der Gotteserfahrung Eckharts, scheinbar nur noch für wenige ein Ziel sein können. Zweifellos spricht Eckhart aufgrund seiner Predigtsituation in der direkten Anrede für diese wenigen; aber sein Anspruch geht weiter; er meint jeden Menschen. Wo das Mittelalter das richtige Leben theologisch formuliert, da denken wir heute psychologisch und soziokulturell, sprechen von Lebenskunst statt Weisheit, von Glück statt Seligkeit, von Training statt Tugend, von Lebensstil statt gottgefälligem Leben, von Disposition und günstigen Entwicklungsbedingungen statt von Gnade. Eckharts Anspruch ist heute nur einlösbar, wenn die Phänomene, von denen er theologisch spricht, auch für heutige Leser noch existenziell und psychologisch beschreibbar sind. Das kann in zwei Ebenen geschehen, erstens im Basisbereich des alltäglich Normalen und zweitens im explizi25 https://doi.org/10.5771/9783495860649 .

I. Hinfhrung: Eckhart frs 21. Jahrhundert

ten Bemühen um ein existenziell sinnvolles oder ein geistig erfülltes Leben, um das sich heutzutage viele spirituell Suchende bemühen.

Die guten Christen »Wir lesen im heiligen Evangelium, dass unser Herr in den Tempel ging und die da kauften und verkauften, hinauswarf, und zu den andern, die dort Tauben und ähnliche Dinge feilboten, sagte er: ›Tut dies fort. Schafft dies weg‹.« 1 Alle Erläuterungen Eckharts sprechen im Folgenden von den »guten Menschen« (guote liute). Doch gerade diese Guten werden durch Hindernisse gehemmt. Sie repräsentieren die gewöhnliche Vorstellung von der religiösen Praxis und Einstellung. Allerdings haben laut Eckhart solche guten Christen nicht viel von der Wahrheit begriffen: »Sie verstehen wenig oder nichts von der Wahrheit.« 2 Damit ist eine Unterscheidung eingeführt, die für das weitere Verstehen der Lehre Eckharts wichtig ist: Die christlichen Grundbegriffe und Verhaltensweisen müssen neu gedacht werden, wenn wir Eckharts Reden verstehen wollen; denn er selbst hat die christlichen Wahrheiten neu gedacht. Seine Aussagen lassen sich nicht einfach in das Alltagsverständnis von Gott, Christus und religiöser Praxis einfügen. Eckharts Predigten zielen auf ein neues Verständnis des Wirkens Gottes und unseres Verhältnisses zu Gott. Das wird hier offenkundig. Schon haben wir das Problem, dass die Mehrheit der heutigen aufgeklärten Menschen sich nicht um Gott oder um ein Verhältnis zu Gott kümmern mag. Aber wenn es wahr ist, dass Eckharts Verständnis von Gott ein fundamentales Verständnis des Lebens meint und wenn das Verhältnis zu Gott bei Eckhart unser Verhältnis zum Leben ist, werden seine Aussagen auch für uns Heutige fundamental, selbst wenn wir ›Gott‹ als richtunggebende Instanz ausklammern. Dies ist im Blick zu behalten: Eckhart führt uns auf einen Grund des Lebens, der von den üblichen Vorstellungen von ›Gott‹ frei ist. Eckhart meint den »Grund« jedweden Lebens, der zugleich der »Grund Gottes« sei, also das Leben 1 Pr. 1; 4,3–5: Wir lesen in dem heiligen êwangeliô, daz unser herre gienc in den tempel und was ûzwerfende, die dâ kouften und verkouften, und sprach ze den andern, die dâ hâten tûben und sôgetâniu dinc veile: tuot diz hin, tuot diz enwec! 2 Pr. 1; 8,6 f.: Sie bekennent der wârheit kleine oder niht.

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1. Kritik an der landlufigen Ethik: Kaufleute und Taubenverkufer

selbst, und damit jenes alles Sein spendende Leben, das die grundlegende Voraussetzung des je eigenen Lebens ist, die das Dasein als je meines ermöglicht. Eckhart meint sogar, wir könnten das Wort »Gott« durch »Sein« ersetzen oder auch durch »Gerechtigkeit« oder »Wahrheit« oder »Vernunft« oder »Leben«. Im Durchgang unserer Erörterungen lässt sich die Rede von »Gott« nicht vermeiden, wie auch Eckhart oft ganz naiv »Gott« sagt; aber diese Rede steht immer unter dem Vorbehalt, dass nicht von dem ›Gott‹ die Rede ist, den wir gewöhnlich meinen, wenn wir ihn verneinen oder bejahen. Ebenso gilt: Was in der Predigt von den Einstellungen der Frommen gesagt wird, gilt im Wesentlichen auch von der landläufigen a-religiösen Ethik.

Gabe – Gegengabe Zunächst wird die Praxis der guten Christen beschrieben: »Seht, das alles sind Händler, die sich von groben Sünden fernhalten. Sie wären gerne gute Menschen, und sie tun ihre Werke Gott zu Ehren, zum Beispiel fasten, wachen, beten und Ähnliches, lauter gute Werke; aber sie tun sie, damit ihnen unser Herr etwas dafür wiedergibt oder damit ihnen Gott etwas, das ihnen lieb ist, dafür tut. Das sind alles Händler.« 3

Das ist gute Christenlehre und gesunder Menschenverstand. Ein Geschenk erfordert ein Gegengeschenk. Hilfsbereitschaft setzt grundsätzlich Gegenseitigkeit voraus. Gute Arbeit fordert gerechten Lohn. Anständiges Verhalten soll auch gewürdigt werden. Eckhart sagt aber, das alles treffe auf das Verhältnis Gott – Mensch nicht zu. Auch das kann der allgemeine christliche Menschenverstand bejahen: »Denn was die Menschen sind, das sind sie von Gott, und was sie haben, das haben sie von Gott und nicht aus sich selber.« 4 Darum kann es keine Werkgerechtigkeit geben, sondern Gott gibt nur freiwillig und aus Gnade. Das alles sind Diskussionsthemen der guten Christen; aber es ist kein Pr. 1; 7,1–5: Sehet, diz sint allez koufliute, die sich hüetent vor groben sünden und wæren gerne guote liute und tuont ir guoten werk gote ze êren, als vasten, wachen, beten und swaz des ist, aller hande guotiu werk, und tuont sie doch dar umbe, daz in unser herre etwaz dar umbe gebe, oder daz in got iht dar umbe tuo, daz in liep sî: diz sint allez koufliute. 4 Pr. 1; 7,11–8,1: Wan daz sie sint, daz sint sie von gote, und daz sie hânt, daz hânt sie von gote und niht von in selber. 3

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I. Hinfhrung: Eckhart frs 21. Jahrhundert

Zweifel, auch die alltäglichen nicht-religiösen »guten Menschen« können wissen, dass sie ihre allgemein menschlichen ethischen Haltungen und ihren Erfolg nicht ganz allein sich verdanken. Eckhart aber steuert auf ein tieferes, ja, wie wir sehen werden, radikal neues Verständnis des menschlichen sowie des göttlichen Handelns zu. Das deutet sich in dem vorliegenden Abschnitt zunächst scheinbar nebenbei an: »Denn die Menschen geben nichts von dem Ihren, sie handeln auch nicht aus sich selbst, wie Christus sagt: ›Ohne mich könnt ihr nichts tun‹ (Joh. 15,5).« 5 Auch das kann man noch mit gewöhnlichen Ohren hören: Der Mensch ist Gottes Geschöpf und lebt von der Gnade Christi. Das meint natürlich auch Eckhart; aber er gibt diesem Gedanken einen radikalen Sinn. Für ihn sprechen solche Sätze aus dem Wesen Gottes und des Menschen. Es sind Aussagen über das innerste Sein des Menschen: Der Mensch ist Geschöpf und empfängt die Gnade. Ein solcher Satz scheint zu besagen, dass der Mensch im Normalfall als Naturwesen existiert, im christlichen Glücksfall aber noch zusätzlich ›die Gnade‹ empfängt. Was das heißen mag, diskutieren die Theologen, während sich die gewöhnlichen Menschen mit dem natürlichen Normalfall begnügen. Aber Eckhart spricht nicht im Sinne einer solchen Alltagstheologie. Was bei ihm Gnade und Gott heißt, meint die Grundgegebenheit des menschlichen Daseins, die besteht, auch wenn Glaube und Theologie ausgeschlossen sind. Wenn wir Gottes Geben nicht als die willkürliche, großmächtige Gunst eines jenseitigen Lehnsherrn verstehen, ist also zu fragen, was denn immanent die unverfügbare Gabe des Lebens für uns ist. Die Meinung, Gott ›verlange‹ gute und ›gräme‹ sich über schlechte Taten des Menschen, täuscht sich darüber, was und wie Gott ist. Gott lohnt nicht aus Schuldigkeit oder Dankbarkeit und straft nicht aus Rache. Eckhart ist sogar sehr kritisch gegen das Bittgebet eingestellt. Er spricht nicht von einem Ergänzungsverhältnis zweier Kräfte oder von verschiedenen Motivationen, als wäre es so: Der Mensch auf der einen Seite gibt um eines Lohnes willen, und andererseits gibt Gott umsonst, das heißt aus Gnade (vergebene), und gerne. Vielmehr sind das absichtsvolle menschliche Handeln und das göttliche vergebene, das heißt das umsonst gewährte göttliche Geben, zwei einander ausschließende 5 Pr. 1; 8,3–5: Wan sie engebent von dem irn niht, sie enwürkent ouch von in selber niht, als Kristus selber sprichet: âne mich müget ir niht getuon.

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1. Kritik an der landlufigen Ethik: Kaufleute und Taubenverkufer

Vorgänge. In Wahrheit ist Gott immer der Gebende. Menschliches Geben um eines Lohnes willen und göttliche Gabe schließen sich aus wie Helligkeit und Dunkelheit: »Helligkeit und Dunkelheit können nicht gleichzeitig bestehen. Gott ist die Wahrheit und in sich selbst ein Licht. Wenn also Gott in diesen Tempel kommt, so treibt er Nichtverstehen, das heißt Dunkelheit, hinaus und offenbart sich selber mit Licht und Wahrheit. Dann sind die Händler verschwunden, sobald die Wahrheit bekannt wird, und die Wahrheit braucht keinen Handel.« 6

Die Wahrheit braucht keinen Handel Es handelt sich also nicht um einen inneren Konflikt oder um ein allmähliches Zurückdrängen der egoistischen Lohnmentalität, bis die reine ethisch-spirituelle Haltung siegt, sodass das Handeln nur noch um Gottes willen geschähe. Gott gegenüber kann es kein Feilschen oder Betteln um Zuwendung geben. Das Wirken Gottes ist Selbstoffenbarung. »Er offenbart sich selbst mit Licht und Wahrheit.« 7 Das ist wörtlich zu nehmen: Wenn ›Licht und Wahrheit‹ in der Seele aufgehen, so ist das ›Gott‹. Es muss sich nicht eigens eine Gottesvorstellung in unserer Seele ›bewahrheiten‹, sondern jedes Aufgehen einer unmittelbaren inneren Wahrheit ist die Selbstoffenbarung, das heißt: Gott ist der Seele unmerklich präsent. Gott geht in der Seele auf als eine Wahrheit, neben der Irrtum keinen Platz hat. Dabei ist jedoch ein Wahrheitsbegriff vorausgesetzt, der nicht mehr die Richtigkeit (zum Beispiel eines Satzes) meint, sondern die unbezweifelbare Offenheit. Eckhart sagt manchmal, etwas sei so gewiss wie der Satz ›Ich lebe‹. Über diese Wahrheit muss man nicht verhandeln; sie steht nicht im Kampf mit einer irrigen Meinung, sondern sie ist unerschütterlich gewiss: Lebte ich nicht, könnte ich nicht einmal denken oder zweifeln. »Die Wahrheit braucht keinen Handel.« – Diu wârheit begert dekeiner koufmanschaft. So ist die Wahrheit beschaffen, zu der Eckhart uns Pr. 1; 8,8–9,2: Ez enmac niht bî einander gestân daz lieht und diu vinsternisse. Got der ist diu wârheit und ein lieht in im selber. Swenne denne got kumet in disen tempel, sô vertrîbet er ûz unbekantnisse, daz ist vinsternisse, und offenbâret sich selber mit liehte und mit wârheit. Denne sint die koufliute enwec, als diu wârheit wirt bekant, und diu wârheit begert dekeiner koufmanschaft. 7 Pr. 1; 8,10 f.: [Er] offenbâret sich selber mit liehte und mit wârheit. 6

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I. Hinfhrung: Eckhart frs 21. Jahrhundert

führen will. Richtigkeit ist das Ergebnis eines Beweisverfahrens. Der Beweis argumentiert, ›rechtet‹, in Eckharts Worten: Er »verhandelt« über die Richtigkeit. Welcher Art die Wahrheit ist, von der Eckhart spricht, können wir etwa in der immanent-menschlichen Dimension erfahren, wenn wir auf die Dichter hören. Da ist zum Beispiel die Wahrheit des folgenden Gedichts von Ernst Meister: Verho¨r Ins Verhör nimmt dich mit Schweigen ein Stein. Nun aus verwestem Ja und Nein auferweckt, kannst du unerschreckt durchs Öhr solcher Schöpfung steigen. 8 Eckharts Bildrede will zum Verständnis Gottes führen, aus dem dann selbstverständlich die angemessene Haltung des Menschen folgt. »Gott sucht nicht das Seine; in all seinen Taten bleibt er ledig und frei und wirkt sie aus rechter Liebe.« 9 Ein Gott, der kein Selbstinteresse kennt, das Seine nicht sucht, der ledig und frei bleibt, ist das nicht ein Gott ohne Beziehung? Wenn er nicht das Seine sucht, kann er dann für uns hilfreich sein? Ist nicht Geben und Nehmen der ›Gehalt‹ einer Beziehung? Die Erwartung des Gläubigen richtet sich auf Gott, der Vater ist, Helfer in der Not, Retter oder Rächer, der verehrt und versöhnt werden will. Die Schlussfolgerung aus Eckharts Gottesverständnis klingt vielen »guten Christen« anstößig: Wenn Eckhart Gott »ledig, frei, ungebunden« nennt, sagt er, dass der Begriff der Beziehung, wie wir ihn im personalistischen Denken anwenden, für Gott nicht brauchbar ist. Meister, Ernst: Zahlen und Figuren, S. 19. Pr. 1; 9,3 f.: Got ensuochet des sînen niht; in allen sînen werken ist er ledic und vrî und würket sie ûz rehter minne. 8 9

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1. Kritik an der landlufigen Ethik: Kaufleute und Taubenverkufer

Gott sucht nicht das Seine; das heißt: Er steht sich nicht selbst mit einer Intention gegenüber. Einigermaßen verständlich wird das, wenn wir ernst nehmen, dass Gott das Leben ist. Hat das Leben eine Intention? Ist es für oder gegen etwas? »Wer das Leben tausend Jahre lang fragte: ›Wozu lebst du?‹, würde es antworten, sagte es nichts anderes als: ›Ich lebe, um zu leben.‹ Der Grund ist, weil das Leben aus seinem eigenen Grunde lebt und aus seinem Eigenen quillt. Darum lebt es ohne Wozu, indem es sich selbst lebt.« 10

Dass das Leben um seiner selbst willen, ohne Warum und Wozu lebt, ist dem gewohnten Meinen noch eingängig. Aber nach Eckhart haben auch das Gute, das Rechte und die Liebe dieselbe intentionslose Struktur. Das ist den Vorstellungen weniger leicht verständlich. Das Gute, das Rechte und besonders die Liebe sind ja Beziehungsbegriffe. Etwas ist gut für …, besser als …, recht und billig angesichts eines Umstands, und Liebe ist der Gipfelpunkt der Beziehung. Doch mit Eckhart ist das Beziehungsproblem neu gefasst. Gewöhnlich stellt man sich vor, dass in einer Beziehung zwei selbstständige getrennte Instanzen im Vergleich oder im Prozess etwas gemeinsam und verschieden haben. Bruder und Schwester sind gemeinsam die Kinder ihrer Eltern, aber sie haben unter anderem verschiedenes Geschlecht. Oder Brüder, die auch noch das Geschlecht gemeinsam haben, sind doch zwei verschiedene Personen. Ich nenne diese Beziehungsart vorläufig ›differente Beziehung‹. Das entspricht im mittelalterlichen Denken der ›Analogie‹. Anders ist die Beziehung, wenn die beiden Instanzen der Beziehung identisch sind, zum Beispiel wenn ich mich kritisiere, anstrenge, beschreibe; aber auch wenn ich meine originären Gedanken und Gefühle wahrnehme, steuere, in Wort oder Bild ausdrücke, oder auch, wie zuvor erwähnt, wenn ich von mir sage: Ich lebe. Ich spreche hier von ›identischer Beziehung‹. Diese Beziehungsart trifft auf Eckharts ›Univozität‹ zu. Dass in dieser Beziehungsweise eine unmittelbare Gewissheit liegt, vor der Reflexion über meinen Seinszustand, kann man an der ironischen Brechung erkennen, wenn ich den Satz erweitern wollte: Ich g l a u b e , dass ich lebe. Angesichts dieser Gegebenheit eine reflexive Distanz einzuführen ist absurd, ebenso wie der Satz: Ich vermute, ich 10 Pr. 5b; 91,10–92,3: Swer daz leben vrâgete tûsent jâr: war umbe lebest dû? solte ez antwürten, ez spræche niht anders wan: ich lebe dar umbe, daz ich lebe. Daz ist dâ von, wan leben lebet ûzer sînem eigenen grunde und quillet ûzer sînem eigene; dar umbe lebet ez âne warumbe in dem, daz ez sich selber lebet.

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I. Hinfhrung: Eckhart frs 21. Jahrhundert

habe Zahnschmerzen, oder: Ich vermute, ich habe Hunger. Solches zu ›vermuten‹ ist nur sinnvoll, wenn ich es im Moment noch nicht ›weiß‹. Das aber hieße, dass ich in Wirklichkeit (noch) keine Zahnschmerzen habe. Die Inhalte meines Bewusstseins sind für sich selbst unbestreitbar, obwohl ich mich irren kann. Ich fühle mich gesund; aber dann wird mir gesagt, dass in meinem Körper ein Tumor wächst. Wenn ich eine solche Information von außen erhalte, muss mein inneres Gefühl sich wieder neu auf die Gegebenheit einstellen. Diese subjektive Verarbeitung spielt eine entscheidende Rolle bei der Tatsache, dass bei manchen Menschen Placebos wirken und bei anderen zum Beispiel Antidepressiva mit gesicherter Effizienz nicht wirken. Hier knüpft sich die Frage an, ob die Sensibilität für manche Erfahrungen so geschärft werden kann, dass die reflexive Distanz ebenso aufgelöst wäre wie in dem Satz: Ich lebe. Dann könnte es mit derselben Gewissheit heißen: Ich glaube, ich hoffe, ich liebe –, wie: Ich friere; ich habe Angst. Man müsste dazu allerdings zunächst einmal einen zureichenden Begriff von »glauben, hoffen und lieben« gewinnen, der zum Beispiel weit entfernt ist von dem dummen Spruch: »Glauben ist nicht wissen« oder »Ich liebe es« (McDonalds). Ursprünglich sind solche Gefühle, in Eckharts Sprache gesagt, sunder warumbe, ohne Wozu. Die Frage: Wozu haben Sie Angst? oder gar: Wozu glauben, hoffen, lieben Sie? kann nur ein Psychotherapeut stellen, der ein neurotisches Streben vermutet.

Intentionslosigkeit Die Weise, absichtslos zu leben, erläutert Eckhart in Predigt 1 bei der Auslegung der Tempelreinigung andeutungsweise. Sie wird uns noch öfter begegnen. Gott, sagt er, sucht das Seine nicht. Als Gegensatz dazu heißt es dann: Gott handelt ûz rehter minne, »aus wahrer Liebe«. Folgern müssen wir, dass in Eckharts Verständnis auch die »wahre Liebe« interesselos, ledig und frei ist. Auch die Liebe hat kein Warum und Wozu. 11 Auch auf die Liebe würde demnach die Kategorie der ›diffe11 Pr. 28; 59,6 f.: Wer nû wonet in der güete sîner natûre, der wonet in gotes minne, und diu minne enhât kein warumbe. – »Wer nun in der Güte seiner Natur wohnt, der wohnt in Gottes Liebe, und die Liebe hat kein Warum und Wozu.« In Ioh. n. 734; 641,3–6: Amans […] amat ut amet; amorem amat. – »Der Liebende […] liebt, um zu lieben; er liebt die Liebe.«

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1. Kritik an der landlufigen Ethik: Kaufleute und Taubenverkufer

renten Beziehung‹ nicht zutreffen, und das ist erst recht für das übliche Denken unerwartet. Mit anderen Worten kann gesagt werden: Handeln und Lieben seien in der Perspektive Gottes oder in Eckharts Ethik ohne Absicht. Und das widerspricht wiederum der gewohnten Sicht, bei der Lieben und Handeln geradezu als Musterbeispiele für Intentionalität gelten. Doch für Eckhart ist die Absichtslosigkeit religiösen Handelns kein Privileg Gottes; auch das eigentliche, Gott angemessene Handeln des Menschen – das aber wird heißen: das lebensgerechte Handeln – gewinnt die Qualität der Absichtslosigkeit: »So macht es auch jener Mensch, der mit Gott vereint ist; auch er bleibt ledig und frei in allen seinen Handlungen, er wirkt sie allein Gott zu Ehren und sucht das Seine nicht; denn das wirkt Gott in ihm.« 12

Hier haben wir einen jener Sätze, die dadurch widersprüchlich erscheinen, dass sie sich der gewöhnlichen Theologensprache bedienen: Einerseits soll der Mensch ledig und frei bleiben in allen seinen Handlungen, andererseits soll er sie allein »Gott zu Ehren« wirken. Der Widerspruch löst sich auf, wenn man weiß, dass für Eckhart jede Handlung in Gottes Sinn, sunder warumbe, ohne Warum und Wozu geschieht. ›Gott zu Ehren‹ heißt für Eckhart eben ›absichtslos‹. Sofern Gott nicht das Seine sucht, kann er auch nicht eine ›Ehrerbietung‹ des Menschen suchen. Der Mensch – in der Vereinigung mit Gott – hat ebenso wenig eine selbstbezogene Intention wie Gott. Der Grund hierfür wird angedeutet: Nicht der Mensch handelt, sondern »Gott wirkt [das Handeln] im Menschen«. 13 Und auch diesen Satz müssen wir übersetzen: Das Leben wirkt das Handeln im Menschen. Kann ich überhaupt ohne Absicht lieben und handeln? Nur wenn ich nicht um des Geliebten willen, sondern aus der Liebe heraus handeln könnte. Wenn der Wille des Lebens mein Wille wäre. Scheinbar nebenbei gesprochene Sätze Eckharts führen uns oft mitten in seine Philosophie hinein, hier in die Intentionslosigkeit. Wir begegnen hier dem scheinbar paradoxen Wurzelgrund der Ethik Eckharts: einer Ethik ohne gute Absichten. Schon die erste Predigt Eckharts von der Austreibung der Händler aus dem Tempel eröffnet uns mit einer scheinbar so nebenbei gesagten Bemerkung einen kurzen Pr. 1; 9,4–6: Alsô tuot ouch dirre mensche, der mit gote vereinet ist; der stât ouch ledic und vrî in allen sînen werken und würket sie aleine gote ze êren und ensuochet des sînen niht, und got der würket ez in im. 13 Siehe das vorausgehende Zitat, Anm. 12. 12

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Blick in den Abgrund seiner Einsicht: in die Einheit Gottes und des Menschen. Doch Eckhart kommt rasch zu seinem Thema zurück. In dieser Predigt verweilt er zunächst im Bereich der ›Pastoralpsychologie‹. Eckhart konzentriert sich wieder darauf, dass die Kaufleute aus dem Tempel vertrieben werden sollen: Alles, was der Mensch vermag, dafür soll er sich nichts erwarten; er soll es aus freien Stücken, aus rechter Liebe tun. Jeder Ich-Bezug des Handelns wird hier ausgeschlossen. Für unsere Leistungen sollen und können wir kein Lob und keinen Lohn erwarten. Lässt sich diese Rede Eckharts auch auf die gesellschaftlichen Auslese- und Karrieresysteme anwenden: Leistung ohne Lohn? Wäre das ein Prinzip zur Regelung unserer Arbeitsverhältnisse und Tarifverträge? Die Frage zeigt, wie weit Eckharts Denken von unserer Alltagsrealität entfernt ist. Doch darum geht es zunächst einmal nicht. Eckhart spricht als Seelsorger. Und so fällt seine Belehrung eher in den psychologischen denn in den gesellschaftspolitischen Bereich. Er erklärt mithilfe der biblischen Episode, dass die ökonomischen Geschäftsprinzipien von Wert und Gegenwert, von Leistung und Anerkennung oder Belohnung nicht in den Bereich des Selbst- und Gottesverhältnisses übertragen werden dürfen. Das würde heißen: Selbst wenn in unserer Leistung unser Verdienst liegen sollte, sollten wir daraus keinen persönlichen psychologisch-ethisch-religiösen Wert ableiten. Worauf soll ich denn dann mein Selbstwertgefühl stützen? Erfolg, Ansehen, Aussehen, Verdienst, gesellschaftliche Stellung, Familie, Statussymbole, das ist doch, was uns anerkennenswert macht. Dieses Denken gibt es nach Meister Eckhart nicht nur in der psychologischen, sondern auch in der religiösen Praxis: »Diese Leute sind durchwegs gute Menschen; sie tun ihre Werke nur um Gottes willen und suchen dabei das Ihre nicht. Aber sie tun es doch im Bewusstsein ihrer Eigenart (eigenschaft), mit Zeit und Zahl, mit Vor und Nach.« 14 »Mit Zeit und Zahl, mit Vor und Nach« heißt zunächst einmal: Die Menschen nehmen Rücksicht auf die situativen Bedingungen. Ist es an der Zeit, ist es angemessen, was ist der vorausgehende Grund, was sind die Folgen? Ist das Berechnung – oder Klugheit? Die hier ange-

14 Pr. 1; 11,3–5: Dise liute daz sint alle guote liute, die iriu werk tuon lûterlîche durch got und ensuochent des irn niht dar an und tuont sie doch mit eigenschaft, mit zît und mit zal, mit vor und mit nâch.

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1. Kritik an der landlufigen Ethik: Kaufleute und Taubenverkufer

sprochenen Menschen verhalten sich im religiös-ethischen Bereich, wie wir es im Alltag alle tun. Wir finden: Was wir tun und erleben, das sind ›unsere‹ Handlungen und Erlebnisse. Eckharts Formulierung für diese Überzeugung ist: und tuont sie doch mit eigenschaft. Die »guten Leute«, sagt Eckhart, suchen das Ihre nicht, sie handeln nicht aus Eigennutz, sondern um der Sache oder um Gottes willen, »aber sie tun es doch mit [Berufung auf ihre] ›Eigenschaft‹«. Für Eckharts Wort eigenschaft lässt sich nur schwer eine adäquate Entsprechung finden. Josef Quint übersetzt: »mit Bindung an das eigene Ich«. Das ist richtig, wenn auch ein wenig zugespitzt. Der Bedeutungskern von eigenschaft ist präziser, und dadurch greift Eckharts Aussage zugleich weiter aus. Das Wort bezeichnet, was mir zu Eigen ist (proprium, proprietas, »Eigenes, Eigenschaft, Eigenart, Eigentum«). Das entspricht genau dem Alltagsverständnis der Individualität, auf die wir oft stolz sind oder die wir mit Mängeln behaftet sehen. Es wird sich später (im achten und neunten Kapitel) zeigen, dass Eckhart eine andere Auffassung von Individualität hat. Gemeint ist hier genau jene Überzeugung der Alltagspsychologie, die die psychischen Akte und Leistungen des Menschen seinen Eigenschaften zuschreibt: seiner Intelligenz, seinem Fleiß, seiner Begabung, seiner Kreativität, seiner Schlitzohrigkeit, oder, im Religiösen, seiner Frömmigkeit, seinem religiösen Eifer, seinen Übungen, seinem Charisma, seiner Erleuchtung. Aber Handlungen in dieser Alltagsüberzeugung sind, laut Eckhart, ein Hindernis für die »allerbeste Wahrheit«; denn die Handlungen sollen ja frei und ledig sein. 15 Die berechnende Haltung beruht also im Selbstbezug des Handelns, aber auch in der Opportunität, wenn man »mit Zeit und Zahl, mit Vor und Nach« handelt. Damit wäre neben dem Alltagsverstand auch der empirisch-wissenschaftliche, ›operationalisierende‹ Zugang zur Optimierung des Lebens erfasst, der die Bedingungen des Erfolgs und des Scheiterns erforscht und in der Praxis zu verbessern sucht. Eckhart sagt dazu, das hindere an der allerbesten Wahrheit. Nun lesen wir, dass Eckhart die Haltung dieser Menschen mit den Händlern vergleicht, die im Tempel Tauben als Opfergaben feilhalten: »Diese Leute trieb er nicht hinaus, noch tadelte er sie scharf, sondern er sprach recht gütig: ›Tut dies weg!‹, als ob er sagen wollte: ›Dies ist nicht Pr. 1; 11,5–7: In disen werken sint sie gehindert der aller besten wârheit, daz sie solten vrî und ledic sîn, als unser herre Jêsus Kristus vrî und ledic ist.

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schlecht, aber es bringt Hindernisse für die reine Wahrheit‹.« 16 Während die zuvor genannte Gruppe der Händler egoistische Motive hat, unterliegt diese Gruppe nur einem Irrtum über den Ursprung ihrer guten Absichten und Taten, einem Irrtum, der die »allerbeste Wahrheit« verdunkelt. Mit dieser Deutung der Händler im Tempel hat Eckhart die Hörer oder Leser an einen Wendepunkt geführt. Er stellt uns alltägliche religiöse Haltungen vor Augen. Die Taubenverkäufer bieten den Gläubigen Opfergaben an, mit denen sie Gottes Gunst erwerben sollen. Diese Haltungen sind jedoch keineswegs auf den religiösen Sektor beschränkt. Alle Werbefachleute, Persönlichkeitsberater, Pädagogen und Psychologen verkaufen solche ›Tauben‹, mit denen sie ›Gunst‹ erwerben oder verschaffen wollen. Solche Haltungen entspringen aus allgemeinen ›weltlichen‹ Überzeugungen und bestimmen unsere Lebenshaltung: die Erwartung einer Anerkennung für Leistungen und die Verbuchung der Erfolge auf das Konto der persönlichen Eigenschaften. Diese Haltungen seien nicht wirklich schlecht, meint Eckhart; aber sie hindern uns an der Wahrheit des Lebens. An dieser Stelle fragt sich nun, welches die neue, von Eckhart vorgeschlagene Haltung ist. Er spricht natürlich die Sprache der religiösen Praxis für spirituelle Spezialisten des Mittelalters. Was er zu sagen hat, ist auch für diese nicht leicht zu fassen. Es erfordert für sie ebenso ein Umdenken wie für uns Heutige. Doch für moderne Leser kommt eine Erschwernis hinzu: Sie können leicht das Neue der Predigt Eckharts verfehlen, weil es in religiöser Sprache daherkommt, gegen die sich schon Widerstände regen, weil durch die ›leeren‹ oder ›abstoßenden‹ Begriffe alte Komplexe und Gefühle der Abneigung gereizt werden.

Das Prinzip der Lebenshaltung Wie also beschreibt Eckhart die neue Haltung? Die Menschen sollten in ihren Handlungen frei und ledig sein. Heißt das, wir sollten von Wünschen und Trieben frei werden, uns aller ›egoistischen‹ Motivationen enthalten? Sollen wir die asketischen Extravaganzen der mystischen Pr. 1; 10,9–11,3: Die liute entreip er niht ûz noch enstrâfte sie niht sêre; sunder er sprach gar güetlîche: tuot diz enwec! als ob er sprechen wolte: diz enist niht bœse, und doch bringet ez hindernisse in der lûtern wârheit.

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Frauen und Männer nachahmen, um Gott zu dienen und ihm nahe zu sein? Das aber ist nach Eckharts Überzeugung ohnehin nicht möglich. Darum lehnt er solches Streben nach besonderen Gnadengaben häufig ab. Verlangt ist vielmehr eine Besinnung auf das innere Geschehen, ein Bewusstwerden, dass die lebensentscheidenden Handlungen zwar geplant, gezielt, erwogen werden, aber im zündenden Moment sich doch ereignen. Nach langem Hin und Her greife ich jetzt zum Telefon, um mich zu erklären, schicke ich jetzt eine Bewerbung ab, gestehe ich jetzt meine Liebe. Die Vor- und Nachbereitung werden durchgearbeitet, der entscheidende Moment geschieht in einem Sprung – oder in einem ›Kick‹, der geübt, aber nicht herbeigezwungen werden kann, wie viele Fußballtragödien zeigen. Das ist der phänomenologische Hintergrund der folgenden religiös-ethischen programmatischen Ansage. Diese wird in zwei Differenzierungslinien entfaltet nach dem folgenden Satzmuster: So wie Jesus Christus frei und ledig war, so sollte es auch der Mensch sein, um für die allerhöchste Wahrheit aufnahmefähig zu werden und darin zu leben: – ohne Vor und ohne Nach – und ohne Störung durch alle religiösen Werke und Vorstellungen, auf die er sich je verstanden hat – ledig und frei, – in diesem Augenblick neu – die göttliche Gabe empfangend und – diese wieder hineingebärend ohne Störung – in demselben Licht, mit dankbarem Lob – in unserm Herrn Jesus Christus. 17 Die Haltung ist das Empfangen und das Zurückgeben. Der Modus ist die Unmittelbarkeit: das je Neue, Augenblickliche, Zeitfreie sowie das Gegenstandslose, Intentionslose, Unbegriffliche. Der ›Schauplatz‹ des Geschehens ist die Wechselbeziehung von Gott, Christus und Mensch, die mit Dankbarkeit, Lob und Licht erfüllt ist. Man sollte diese Charakterisierung nicht damit abtun, dass man sie in den transzendenten, ›übernatürlichen‹ Speicher des unzugängPr. 1; 11,10–12,4: Alsô solte der mensche stân, der der aller hœhsten wârheit wolte enpfenclich werden und dar inne lebende âne vor und âne nâch und âne hindernisse aller der werke und aller der bilde, diu er ie verstuont, ledic und vrî in disem nû niuwe enpfâhende götlîche gâbe und die wider îngebernde âne hindernisse in disem selben liehte mit dankbærem lobe in unserm herren Jêsû Kristô.

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lichen Glaubensgeheimnisses räumt, in dem schon die ›Erlösung‹ durch die Taufe, die ›Realität‹ der Sakramente und gar die ›Existenz‹ Gottes und viele ähnliche Antiquitäten auf Wiederbelebung oder Entsorgung warten. Aber hat denn die Rede Eckharts von der Bewegung zwischen dem Vater, Christus und dem Menschen für einen Leser des 21. Jahrhunderts einen Sinn, wenn er nicht mehr Eckharts metaphysischen und theologischen Standpunkt teilt? Wenn wir aus der Charakterisierung der ledigen und freien Haltung nur die »göttliche Gabe« und den »Herrn Jesus Christus« ausklammern, erscheinen die Kennzeichen einer freien und ledigen Haltung zwar immer noch ungewöhnlich, doch nicht mehr fremd oder widersinnig. Vielmehr werden Phänomene angesprochen, die herausgehobene Momente unseres Lebens auszeichnen: die unvermittelt einbrechende Erfahrung des Neuen, die Zeitenthobenheit des Augenblicks, das freie Empfangen einer Gabe, die nur Lob und Dankbarkeit als Gegengabe erzeugt – ledig jeder Berechnung des Wertes und Verdienstes. Mit diesem Hinweis ist die psychologisch-phänomenologische Methode angedeutet, der die Interpretation in diesem Buch folgen wird. Die erste Voraussetzung der Auslegung wird sein, den historisch-hermeneutischen Aussagesinn der Texte Eckharts einigermaßen gewissenhaft zu ermitteln. Darüber hinaus aber wird gefragt, wie Eckharts Lebens- und Menschenbild heute verstanden werden kann. Die erste Erkenntnis ist: Eckhart lehrt keine konkrete Ethik und keine spezielle Dogmatik. Es geht ihm in allem um prinzipielle Haltungen, die ethisches Handeln und ›Gottesbeziehung‹ überhaupt erst möglich machen. Doch wenn es möglich ist, soll darüber hinaus dargestellt werden, wie Eckharts Erkenntnisse psychische und existenzielle Phänomene unseres Lebens in ein neues Licht rücken. Es wird sich zeigen, dass Meister Eckhart Perspektiven einer Selbsterfahrung und einer Lebensgeborgenheit entworfen hat, die dem herrschenden Selbstverständnis und Weltbewusstsein des Menschen ungewöhnliche, neue Perspektiven eröffnen.

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Zweites Kapitel Meister Eckhart im 21. Jahrhundert

Zur Methode Ist es legitim, die metaphysische und theologische ›Theorie‹ und die aufs religiöse Leben gerichtete Predigt Eckharts in einen modernen, säkularen Lebenszusammenhang zu übertragen und mit Erkenntnissen der Psychologie und Phänomenologie auszulegen? Ein solches Unternehmen muss sich durch sein Gelingen rechtfertigen. Aber wir können Meister Eckhart selbst als Autorität anführen, um diese Methode wenn nicht zu rechtfertigen, so doch plausibel zu machen. In einer viel diskutierten Erklärung seiner Intention kündigt Eckhart im ›Kommentar zum Johannesevangelium‹ an, die Lehren des Glaubens und der Bibel mithilfe der natürlichen Argumente der Philosophen (per rationes naturales philosophorum) auslegen zu wollen. »Bei der Auslegung dieses Wortes [›Im Anfang war das Wort‹] und der weiter folgenden ist es die Absicht des Autors, so wie auch in allen seinen Werken, was der heilige christliche Glaube lehrt wie auch die Schrift der beiden Testamente, mithilfe der natürlichen Gründe der Philosophen auszulegen.« 1

An anderer Stelle sagt er: »Ich will euch diese Rede mit natürlichen Gründen beweisen, damit ihr selbst begreifen könnt, dass es so ist, obwohl ich doch der Schrift mehr glaube als mir selbst. Aber es leuchtet euch in argumentativer Redeweise leichter und besser ein.« 2

In Ioh. n. 2; 4,4–6: In cuius verbi expositione et aliorum quae sequuntur, intentio est auctoris, sicut et in omnibus suis editionibus, ea quae sacra asserit fides christiana et utriusque testamenti scriptura, exponere per rationes naturales philosophorum. 2 Pr. 101; 342,33–35: Ich wil iu dise rede bewæren mit natiurlîchen reden, daz ir ez selber möhtet grîfen, daz ez alsô ist, wie ich doch der schrift mê gloube dan mir selber. Aber ez gât iu mê în und baz von bewærter rede. 1

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Natürlich meint Eckhart damit die philosophischen Grundüberzeugungen seiner Zeit, einerseits Aristoteles mit seinen arabischen Kommentatoren, natürlich auch seiner Vorgänger Thomas von Aquin, Albertus Magnus, Dietrich von Freiberg, und andererseits Augustinus und die neuplatonische Überlieferung. Diese Autoren stellen neben vielen anderen 3 die Denkmittel seiner philosophischen Interpretation des Christentums zur Verfügung. Berechtigt uns Eckharts Intention, heutige philosophische Konzepte der Interpretation Eckharts zugrunde zu legen, indem wir seine metaphysische und theologische Spekulation mithilfe psychologischer und phänomenologischer Argumente auslegen? Blicken wir zunächst weiter auf die Formulierungen Eckharts, die seine Intention erläutern. An die Ankündigung, philosophische Begründungen für die christliche Lehre bringen zu wollen, schließt sich eine zweite Absichtserklärung Eckharts an. Sie wird im ›Kommentar zum Johannesevangelium‹ viel häufiger wiederholt und exemplifiziert als die erste: »Ferner will dieses Werk zeigen, wie die Wahrheit der Prinzipien, der Schlussfolgerungen und der Eigenart der Naturverhältnisse offenkundig – wer Ohren hat zu hören! – in den Worten der Heiligen Schrift angedeutet sind, wenn man die Schrift mittels der besagten Naturverhältnisse auslegt.« 4

Mit anderen Worten: Das Verständnis der Naturverhältnisse erklärt die biblischen Lehren, und die so verstandenen theologischen Aussagen erhellen wiederum die Naturverhältnisse. Meister Eckhart fügt ein: »Wer Ohren hat zu hören!« Damit sagt er wohl, dass ihm der Satz wichtig ist, dass dessen Bedeutung aber leicht überhört werden kann. An etwas späterer Stelle desselben Kapitels, an der erläutert wird, inwiefern in Gott der Sohn oder das Wort dasselbe ist wie der Vater bzw. das Prinzip, heißt es: »Das möchte ich gesagt haben, insofern die hier über den Ausgang der Personen in Gott geschriebenen Worte [uns] darüber belehren sollen, dass es im

Im Einzelnen siehe Sturlese, Loris und Alessandra Beccarisi: Studi sulle fonti; auch McGinn, Bernard: The mystical thought of Meister Eckhart, S. 162–182 (Appendix: Eckhart’s sources). 4 In Ioh. n. 3; 4,14–17: Rursus intentio operis est ostendere, quomodo veritates principiorum et conclusionum et proprietatum naturalium innuuntur luculenter – ›qui habet aures audiendi!‹ – in ipsis verbis sacrae scripturae, quae per illa naturalia exponuntur. 3

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Ausgang und in der Hervorbringung eines jeden Seienden der Natur und Kunst ebenso ist und sich dort wiederfindet.« 5

Hier proklamiert Eckhart seine Absicht, die fundamentalen Prinzipien seiner Gotteslehre auf die »Natur« (natura) und die »Kunst« (ars) anzuwenden. Ars steht für die Hervorbringungsweise menschlichen Schaffens, also für Artefakte jeder Art, Kunstwerke, Handwerk, technische Gerätschaften. Natura umfasst das Sein aller Dinge, besonders aber der natürlichen menschlichen Seinsweisen, deren Prinzip, qua Schöpfungswort, die Vernunft ist. Diese Erläuterung wird in die Erklärungen des Prologs zum Johannesevangelium eingefügt. Das bedeutet: Nach Eckharts Verständnis haben die natürlichen Hervorbringungen des Menschen dieselbe ›Produktionsweise‹ wie der Hervorgang des göttlichen Sohnes aus dem Vater in der Trinität. Sie sind nicht »gemacht«, sondern »gezeugt« oder »geboren«, und sie haben eine Seins- und Werdensweise, die der Sprache, dem Wort analog ist. Es ist demnach nicht von naturalistischer Physik oder Biologie die Rede, sondern vom Strukturprinzip, von der Idee aller Dinge – in der Vernunft. Als Beispiele dafür, wie sich die göttlichen Hervorbringungen (productiones) in »Natur und Kunst« widerspiegeln, führt Eckhart die Gerechtigkeit an, die den gerechten Menschen hervorbringt, und das Abbild, das sein eigentliches Sein im Urbild hat. Eckhart folgert aus seiner Erläuterung des ›Johannesprologs‹ : »So zeigt sich, wie der Abschnitt ›Im Anfang war das Wort‹ bis ›Es war ein Mensch, von Gott gesandt‹ mithilfe der Begründungsweisen und Eigentümlichkeiten der Naturdinge ausgelegt wird; und wiederum auch, dass diese Worte des Evangelisten, richtig betrachtet, uns über die Natur der Dinge und deren Eigentümlichkeiten belehren, sowohl in ihrer Seins- wie ihrer Wirkweise, und dass sie uns, indem sie den Glauben bekräftigen, über die Natur der Dinge unterrichten.« 6

In Ioh. n. 6; 8,2–5: Quod pro tanto dixerim, ut verba hic scripta de divinarum personarum processione doceant hoc ipsum esse et inveniri in processione et productione omnis entis naturae et artis. 6 In Ioh. n. 13; 12,11–15: Patet ergo quomodo ›in principio erat verbum‹ usque ibi: ›fuit homo missus a deo‹ exponitur per rationes et proprietates rerum naturalium; iterum etiam quod ipsa verba evangelistae bene inspecta docent nos naturas rerum et ipsarum proprietates, tam in essendo quam in operando, et dum fidem astruunt, nos de rerum naturis instruunt. 5

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Eckhart spricht also ausdrücklich davon, dass er nicht nur Theologie, sondern auch Naturphilosophie vorlegen will. Insofern ist es berechtigt, die Prozesse der »Natur«, die Eckhart hier im Blick hat, in die folgende Untersuchung einzubeziehen. Es sind im Wesentlichen seelische und geistige Prozesse, die im Vordergrund stehen und als Natur bezeichnet sind. Die hier thematisierten Phänomene entsprechen ungefähr den Themen, die im klassischen Grundlagenwerk der Scholastik über die Natur der Seele oder des Menschen, in ›De anima‹ des Aristoteles, behandelt werden. Wenn Eckhart seine theologische und metaphysische Methode auf Prozesse der »Natur« und »Kunst« anwendet, spricht er also Bereiche an, die in heutiger Betrachtung als Felder der Psychologie, der konkreten Ethik und der schöpferischen Prozesse verstanden werden. Eckharts metaphysische und theologische Theorie soll nach seinen Worten eine »natürliche« Korrespondenz haben. Im Folgenden wird dementsprechend untersucht, wie seine Aussagen in eine heutige Sicht des menschlichen Selbstverständnisses übertragen werden können.

Lebensphnomenologische Integration Eckharts Eine außergewöhnliche Aufmerksamkeit hat Meister Eckhart in jüngerer Zeit durch die radikale Lebensphänomenologie des französischen Philosophen Michel Henry (1922–2002), fortgeführt und weiterentwickelt durch Rolf Kühn, erfahren. Manche Analysen Henrys sind hilfreich zum Verständnis Eckharts von einem phänomenologischen Standpunkt aus. In entsprechenden thematischen Zusammenhängen werde ich darauf zurückgreifen. Nach einem Sammelband ›Meister Eckhart – Erkenntnis und Mystik des Lebens‹ (2008), 7 in dem vor allem die Beiträge Henrys zu Eckhart dokumentiert und diskutiert werden, hat Rolf Kühn zuletzt eine eindrucksvolle Monografie über Meister Eckhart vorgelegt: ›Ungeteiltheit – oder Mystik als Ab-Grund der Erfahrung: Ein radikal phänomenologisches Gespräch mit Meister Eckhart‹ (2012) 8 . Wie der Titel andeutet, handelt es sich hier nicht in erster Linie um einen Forschungsbeitrag zu Meister Eckhart, sondern um eine Analyse der Einheit der »Erfahrung«, die sich als abgründige, weiKühn, Rolf und Sebastien Laoureux: Meister Eckhart – Erkenntnis und Mystik des Lebens. Forschungsbeiträge der Lebensphänomenologie. 8 Kühn, Rolf: Ungeteiltheit – oder Mystik als Ab-Grund der Erfahrung. 7

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selose Weise der Phänomenalisierung, als Selbstoffenbarung des Lebens sowie zugleich und damit identisch der Gottheit – vor jeglicher besonderen Erkenntnis – versteht. Meister Eckhart ist sozusagen ein Vorläufer der Lebensphänomenologie, wie der Autor in subtilen parallelen und einander durchdringenden Analysen herausarbeitet. Eckharts »Mystik« ist für Kühn »als Ergebnis einer bereits praktisch vollendeten Phänomenologie zu verstehen, welche die weiter bestehenden diskursiven (›rationalen‹) Vorbehalte von Differenz, Transzendenz oder Dekonstruktion schon immer unterlaufen hat«. 9 Es werden in seinen Untersuchungen für das Verständnis Eckharts unverzichtbare Einsichten gewonnen, die im vorliegenden Buch im Einzelnen gewürdigt werden müssen, zum Beispiel zum Begriff der Metaphysik Eckharts mit dem Widerspiel von Transzendenz und Immanenz, zur transzendentalen Geburt Gottes und des »Ich« (»Ipseität«), zur Einheit der Offenbarungswirklichkeit sowie zur »Welthingabe«. Dabei wird sich eine Divergenz zwischen der hier gewählten und Kühns Vorgehensweise ergeben, insofern dieser seine Untersuchung stets im ontologischen oder rein phänomenologischen, transzendentalen Möglichkeitsbereich behält, während meine Interpretationen in den ontisch phänomenologisch-psychologischen Bereich als Konkretion der transzendentalen Strukturen vordringen. Dabei versuche ich zu zeigen, dass solche ›Anwendungen‹ aufgrund der erklärten »Intention« Eckharts gerechtfertigt werden können.

›Prsentation‹ Eckharts nach Kurt Flasch Kurt Flasch vertritt mit Nachdruck die These, 10 Meister Eckhart habe die philosophischen Grundlagen für ein alternatives christliches Selbstverständnis gelegt, zusammen mit Dietrich von Freiberg, der seine Argumentation allerdings akademischer und polemischer anlegte. Dietrichs und Eckharts Alternative sei in der Theologie und in der westlichen Philosophiegeschichte aber nicht aufgegriffen worden. Allerdings will Flasch auch nichts zu der Frage beitragen, wie Eckharts Lehre in einen gegenwärtigen Kontext »transponiert« werden Kühn, Rolf: Ungeteiltheit – oder Mystik als Ab-Grund der Erfahrung, S. XXI f. (Hervorhebung von Kühn). 10 Flasch, Kurt: Meister Eckhart – Philosoph des Christentums, S. 189 u. 323 f. 9

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könnte. Das einzige, was er in seinem letzten Eckhart-Buch (2010) zur Diskrepanz zwischen der historischen philosophischen Situation Eckharts und dem heutigen Leserbedürfnis zu sagen hat, ist, der moderne Autor solle »Distanz schaffen« (S. 190). Er stuft die Leser, die Eckhart für ihr Leben befragen wollen, zu »großstadtmüden Ruhe- und Gottsuchern«, zur »Mystikindustrie und ihre[n] schreibende[n] Helfer[n]« und zu »Mystikkunden« (S. 191) herab und verweilt bei seiner gewohnten Polemik gegen unerleuchtete Mystik- und Theologievorstellungen. Aber seine Zurückhaltung, an Eckhart heutige Fragen zu stellen, hat Methode. Über diese erfährt man etwas in seinem zweibändigen Werk ›Philosophie hat Geschichte‹. 11 Flasch fordert eine durchgehende Historisierung der philosophischen Gegenstände. Er grenzt sich von Diltheys Anspruch an den Philosophiehistoriker ab, dieser solle »verstehen«, das heißt, sich in den fremden Autor oder Text hineinversetzen. Stattdessen sagt Flasch zur Arbeit des Philosophiehistorikers: »Historisch-literarisches Wissen ist möglich als Dokumentieren und als Präsentieren« (S. 192). Dokumentieren wird in weitem Umfang verstanden und erscheint unproblematisch. Interessant ist aber, was Flasch unter Präsentieren versteht. »Präsentieren heiße (sic!): Dokumente und Dokumentenkombinationen, eben die Resultate des Dokumentierens, einführen in bestehende Sprach- und Machtspiele« (S. 203). Ein Text »steht immer schon in einer Konstellation; er ist gebraucht oder als unbrauchbar vergessen worden. Diese Konstellation als faktisch, als historisch, als geworden und veränderbar anzusehen und sie konkret zu verschieben bzw. zu dementieren oder auch als eine haltbare Perspektive darzustellen, indem man kontrollierbar Dokumente ins öffentliche Auslegungsspiel bringt – dies nenne ich Präsentieren« (S. 203 f.). Genau dieses »Präsentieren« ist bei der Dokumentation der Theorien, Selbstzeugnisse, Ansprachen und Aufrufe Eckharts gefordert. Noch eine Anmerkung Flaschs muss in diesem Zusammenhang gewürdigt werden. Die Präsentation versucht nämlich nach Flaschs Bekundung nicht, objektiv zu sein. Er »weiß, dass er aus seiner Perspektive zu einem eng definierten, gegenwartsbezogenen Zweck präsentiert« (S. 206). Er »weiß, dass er den Punkt auswählt, zu dem das von ihm gewählte Dokument sagen soll, was es zu sagen hat« (ebd.). Und noch schärfer: »Man könnte, wenn es nicht gar so garstig klänge, von einer polemischen oder einer polemikbezogenen Ge11

Flasch, Kurt: Philosophie hat Geschichte, Bd. 2: Theorie der Philosophiehistorie.

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schichtsschreibung reden« (S. 207). So kennen wir den Eckhartinterpreten Flasch. Das Ziel seiner Polemik hat sich in den fast vierzig Jahren 12 seiner Eckhartforschung nicht geändert. Sie ist immer gegen die Vereinnahmung Eckharts für eine erlebnisfundierte Mystik oder gegen die Umdeutung der Philosophie Eckharts in eine thomistisch verbogene Theologie gerichtet. Das sollten wir inzwischen gelernt haben. Trotzdem stellt sich die Frage: Was ist denn der positiv formulierte Beitrag, den Flaschs Dokumentation und Präsentation Eckharts für die gegenwärtigen »Sprach- und Machtspiele« erbringen sollen? Nach Flaschs eben zitierter Definition der »Konstellation« des historischen Textes ist wohl anzunehmen, dass Eckharts Theoreme »gebraucht oder [wahrscheinlich besser] als unbrauchbar vergessen worden« sind. Aber gerne wüsste man, warum Flasch nicht diese Konstellation »zu dementieren oder auch als eine haltbare Perspektive darzustellen« (S. 203 f.) beabsichtigt. In seinen Schriften zeigt Flasch nur, wie Eckhart nicht »aktualisiert« werden dürfe (S. 22 f.). Aber ob sie heute überhaupt noch einen Sinn haben oder wie – in seinem Sinne – eine »Transposition« oder »Neugewinnung im veränderten Kontext« aussehen könnte, die er immerhin grundsätzlich für möglich hält (S. 23), diese Frage zu diskutieren wären wenige besser ausgerüstet als Kurt Flasch. Dass er diese Frage nicht einmal erwähnt, dürfte auch der von ihm in Anspruch genommenen Subjektivität und Intention seines »Präsentierens« geschuldet sein. Werner Beierwaltes weist ebenfalls darauf hin, dass die Bedeutungs- und Problemverschiebung philosophischen Denkens seit dem Mittelalter einen einfachen Vergleich unmöglich macht. Er fährt aber fort: »Schon von dieser an sich trivialen Einsicht her läge es mir fern, Eckhart krampfhaft – die geschichtlichen und sachlichen Differenzen einebnend – auf eine spätere philosophische Position hin zu ›aktualisieren‹. Dessen ungeachtet könnte Eckharts zentraler Gedanke und sein sich in theoretischen Reflexionen offenbarendes Lebensinteresse aus einem congenialen (sympathetischen) christlichen Bewusstsein heraus in eine gegenwärtige, philosophisch geleitete Spiritualität produktiv aufgenommen werden.« 13 In aller Bescheidenheit möchte dieses Buch ein paar Schritte in diese Richtung gehen.

12 13

Seit dem Aufsatz Flasch, Kurt: Die Intention Meister Eckharts. Beierwaltes, Werner: Heideggers Gelassenheit, hier S. 27.

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Aneignung Eckharts Bis in die 1950er Jahre hinein war die Eckhart-Rezeption noch von dem Bemühen um eine jeweils aktuelle Aneignung geprägt, sei es mit protestantischem, katholischem, neuromantischem oder gar nationalsozialistischem Interesse; es gab sogar eine marxistische Interpretation Eckharts. Die moderne Eckhart-Forschung ist mit Recht stolz darauf, dass jetzt philosophiehistorisch-kritische, textkritische und überlieferungsgeschichtliche Studien das Feld beherrschen. Ist es da nicht problematisch, wieder zu fragen, was Eckharts historisch verorteter Text für unser heutiges Leben zu sagen haben könnte? Wie problematisch das Unternehmen auch sein mag: Eckhart übt eine solche Faszination aus, dass die Menschen ihn für ihr Leben gebrauchen, sei es in Kunst, Musik, Literatur oder Spiritualität.

Lebemeister – Lesemeister Der Wunsch, Eckhart aus den Fesseln der Wissenschaft zu befreien, hat schon früh zu einer polemischen Reaktion geführt: »Meister Eckhart sagt: Besser wäre ein Lebemeister als tausend Lesemeister«. 14 Diesen Spruch hat man ihm in den Mund gelegt. Die Bezeichnung »Lebemeister« für Eckhart konnte wohl erst nach Johannes Tauler benutzt werden. 15 Die Polemik gegen den »Lesemeister« passt überhaupt nicht zu Eckhart. Dieser Titel als Übersetzung von magister, also »Theologieprofessor«, ist ja in der Überlieferung gerade zum Ehrentitel Eckharts geworden. Außerdem zeigt Eckhart sich, gerade auch in den deutschen Predigten, stolz auf seine Disputationen in der Ordenshochschule. 16

Eckhart ins Leben holen: ›Schwester Katrei‹ Wie eine freie, also an keine religiöse Institution gebundene ›Esoterikerin‹ sich Eckharts Lebenslehre angeeignet hat, lesen wir in einem legenPf, Sprüche Nr. 8, S. 599,19 f.: Es sprichet meister Eckehart: wêger were ein lebemeister denne tûsent lesemeister. 15 Steer, Georg: Eckhart der meister, hier S. 722. 16 Zum Beispiel Pr. 14; 235,4 f.; Pr. 22; 381,3–382,2; Pr. 27; 51,4–52,4. 14

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denartigen Traktat, der in Straßburg wahrscheinlich noch zu Lebzeiten Eckharts geschrieben wurde. Es ist ein Dialog mit dem Titel ›Von der Beichttochter‹, auch überliefert unter dem Namen ›Schwester Katrei‹. 17 Es fängt wie eine gewöhnliche geistliche Beratung an. Der »Bruder«, also ein Ordensseelsorger, gibt die üblichen frommen Ratschläge; aber die »Tochter« will den kürzesten Weg gezeigt bekommen. Der Berater hält sie zunächst für unreif, dann stellt er ihr die zu erwartenden Leiden vor Augen, die Verachtung durch die Gesellschaft, den Verlust der Freunde und Verwandten. Aber sie lässt sich nicht abschrecken. Vielmehr verlässt sie den Beichtiger, der sie behindert habe. Sie schickt sich an, nur auf den Rat des Heiligen Geistes zu hören und alles zu lassen, zuletzt sich selbst, und Jesus in sein äußerstes menschliches Leiden nachzufolgen. Der Bruder ist ein einsichtsvoller Mann; denn er empfängt die Tochter weiterhin, wenn sie zu ihm kommt, und am Ende sucht er sie sogar selbst im Winkel einer Kirche auf; jetzt nicht mehr, um sie zu belehren, sondern um von ihr zu erfahren, wie es ihr ergangen ist. Am Höhepunkt der Begegnung bringt sie auf seine Bitte hin »so seltsame und tiefe Berichte von der reinen Empfindung der göttlichen Wahrheit« 18 , dass er sich wünscht, es ebenso erfahren zu können. »Sie geht in ihre innere Einkehr zurück, ins Erleben ihres Gottes.« 19 Aber nicht lange danach ruft sie den Bruder wieder zur Klosterpforte und sagt zu ihm: »Herr, freut euch mit mir: Ich bin Gott geworden.« 20 Er antwortet: »Dafür sei Gott gelobt. Geh wieder fort von den Menschen in deine Einkehr. Bleibst du Gott, so gönne ich’s dir.« 21 Die Tochter fällt in ein dreitägiges Koma, aus dem sie mit Mühe wiedererweckt wird. Nun spricht sie: »Ich bin in meiner ewigen Seligkeit bestätigt. Ich habe in Gnaden bekommen, was Christus von Natur ist. Er hat mich zu seiner Erbin gemacht, sodass ich es nie mehr verlieren kann.« 22 ›Schwester Katrei‹ : Der Herausgeber argumentiert für ca. 1320 als Entstehungsjahr. ›Schwester Katrei‹, S. 333,31–33: also wunderlich und tieff sprüche von der blossen befindung götlicher warheit. 19 ›Schwester Katrei‹, S. 334,10: gaut wider in ir ein muot und gebrucht sich gottes. 20 ›Schwester Katrei‹, S. 334,13 f.: Herre, fröwent vch mitt mir, ich bin gott worden. 21 ›Schwester Katrei‹, S. 334,14–16: Des syg gott gelopt! Gang von allen lüten wider jn din einmute: Blibestu got, ich gan dirs wol! 22 ›Schwester Katrei‹, S. 334,37–335,2: Ich bin bewert in miner ewigen selikeit. Ich han erkrieget jn gnaden, das Christus ist von natur. Er hett mich sinen erbgenossen gemacht, also das ich es niemer verlieren mag. 17 18

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Der Aussage Schwester Katreis kann man entnehmen, dass man Eckharts Lehre in Laienkreisen zu seinen Lebzeiten so verstanden hat: »Ich« kann Gott werden. Das ist das Provozierende und zugleich Wegweisende an dieser Erzählung. Freilich dreht sich dann alles um den Sinn dieses Satzes. Durfte die Begine Eckhart mit Recht so auslegen? Ist der Satz, wenn Eckhart ihn so gemeint haben sollte, nicht tatsächlich blasphemisch? Wie steht dazu beispielsweise die Aussage Eckharts: »Gott und ich, wir sind eins«? 23

Eckhart fr heutige Menschen? Aber wenn Eckhart gelehrt hätte: »Ich bin Gott geworden«, gesprochen von einem zutiefst gotwizzenden Menschen, wäre das, mit den Augen von heute betrachtet, nicht eher absurd als gefährlich? Heute arbeitet man ja weniger an der Vergöttlichung des Menschen als an der Naturalisierung Gottes. Doch die Sehnsucht, mit diesem naturalisierten alleinen Gott zu verschmelzen, oft genug als Botschaft der östlichen Religionen verstanden, ist weit verbreitet. Und auf der anderen Seite sagt Nietzsche: »Todt sind alle Götter, nun wollen wir, dass der Übermensch lebe.« 24 In diese menschheitsgeschichtliche Spannung hinein, die das christliche, das aufgeklärte, das postmoderne sowie das neo-spirituelle Selbstverständnis bewegt, spricht Schwester Katrei mit Meister Eckhart von einer Einheit Gottes und des Menschen. In welchem Sinn es Eckhart verstanden hat, das ist noch zu klären. Vergöttlichung des Menschen (théo¯sis, deificatio), das ist eine Vorstellung, die heute einen Missklang mit sich führen mag. Aber in der platonischen Tradition wird das Thema bis hin zu Nicolaus Cusanus thematisiert. 25 AndererPr. 6; 113,7: Got und ich wir sîn ein. Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra, S. 102. 25 Nicolaus Cusanus: De filiatione dei – Von der Gotteskindschaft, handelt durchwegs von der Theosis: Ego autem, ut in summa dicam, non aliud filiationem dei quam deificationem, quae et theosis graece dicitur, aestimandum iudico. Theosim vero tu ipse nosti ultimitatem perfectionis exsistere, quae et notitia dei et verbi seu visio intuitiva vocitatur. – »Um es in einem Wort zusammengefasst zu sagen: Ich meine, dass unter Gotteskindschaft nichts anderes zu verstehen ist als Gott-Werden, griechisch Theosis. Die Theosis, die auch Kenntnis Gottes und des Wortes oder innere Schau genannt zu werden pflegt, stellt, das weißt du selbst, die äußerste Vollendung dar« (S. 39,6–40,1). 23 24

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seits ist auch schon die scholastische Theologie zurückhaltend mit diesem Begriff. Thomas von Aquin kennt den Begriff deificare, ist aber sehr vorsichtig damit. 26 Bei Eckhart finde ich deificare nur in Zitaten. 27 Doch gibt es bekanntlich viele Stellen, an denen Eckhart eine höchste Form der Einheit von Gott und Mensch ausdrückt. Wie ist das zu verstehen? Ist das die vielzitierte Unio mystica? Eckhart auf unser Leben hin zu lesen, heißt nicht, ihn schlicht zu modernisieren, ihm Lebensweisheiten und Lebensregeln zu entnehmen. Das kann man natürlich mit Gewinn tun. Aber man würde dann auf den Kern der Lehre Eckharts verzichten. Man würde damit an der durchgängigen Intention seiner Predigt vorbeigehen, ein neues Selbstverständnis zu gewinnen: nämlich dass wir unserem Wesen nach nicht hergestellte lebende Objekte oder entartete Tiere sind, sondern Bild Gottes, seine Töchter und Söhne. Was besagt das für unser Selbstverständnis? Wer Eckhart für sein Leben gewinnen will, muss den Lesemeister fragen, worin denn das Außergewöhnliche seiner Lehre besteht, denn dass seine Lehre außergewöhnlich und ihm allein eigen ist, betont er oft genug selbst. Das geschichtliche Verständnis der Lehren Eckharts ergibt dann – für mich – nicht deren ›Aktualität‹, sondern eine Botschaft, die unserem Denken zunächst fern erscheint. Man kann sie ignorieren. Wenn man sich aber Eckharts Sichtweisen annähert, können sie uns in ein unruhiges Fragen versetzen. Meines Erachtens definiert Eckhart einen Wendepunkt unserer Geistesgeschichte; doch mit seiner kirchlichen und wissenschaftlichen Ausschaltung 28 wurde die mögliche Wende, auf die Eckhart hindeutet, verpasst, wenn nicht verhindert. Aber auch wenn Eckharts Weg nicht eingeschlagen wurde, steht er immer noch Siehe Thomas von Aquin, Summa theologiae I–II q. 112, a. 1, co.: Et ideo impossibile est quod aliqua creatura gratiam causet. Sic enim necesse est quod solus Deus deificet, communicando consortium divinae naturae per quandam similitudinis participationem, sicut impossibile est quod aliquid igniat nisi solus ignis. – »Und darum ist es unmöglich, dass ein Geschöpf Gnade begründet. Es ist nämlich ebenso notwendig, dass allein Gott vergöttlicht, indem er die Gemeinschaft mit der göttlichen Natur durch eine gewisse Teilhabe an der Ähnlichkeit [mit Gott] verleiht, wie es auch unmöglich ist, dass irgendetwas anderes Feuer zündet als allein das Feuer.« 27 In Gen. I n. 273; 297,13; n. 278; 301,8; In Ioh. n. 720; 630,12; Sermo Pasch. n. 15; 147,3. 28 Ausschaltung durch den Nominalismus mit nachfolgendem Empirismus hier, durch den Thomismus dort. 26

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als Wegweiser da, verwittert, zerzaust oder auflackiert. Der Kulturkritiker Egon Friedell (1878–1938) hat diese Stellung Eckharts in der europäischen Kulturgeschichte treffsicher erkannt; aber leider hat sein Urteil selten Konsequenzen. Er schreibt, »dass sich in Eckhart und seiner Schule nichts Geringeres vollzogen hat als die Geburt einer neuen Religion, eine völlige Umschöpfung des bisherigen christlichen Glaubens, zu der sich die lutherische Reformation verhält wie eine Erderschütterung zu einer geologischen Umbildung oder wie ein reinigendes und befruchtendes Gewitter zu einem irdischen Klimawechsel, der eine neue Fauna und Flora ins Leben ruft. Hätte diese Bewegung sich durchgesetzt, so wäre für Europa ein neues Weltalter angebrochen; sie ist aber von der Kirche unterdrückt worden, und dass dies so vollständig gelang, spricht weniger gegen die Kirche, die nur in ganz logischer Wahrung ihrer Interessen handelte, als gegen die europäische Menschheit, die offenbar für eine solche grundstürzende Erneuerung nicht reif war.« 29

Ich greife zunächst einen theoretischen Gesichtspunkt heraus, der auf Eckharts Differenz zum herrschenden Gottes- und Menschenbild ein Schlaglicht werfen kann: die Einheit von Gott und Mensch. Sie ist nur eines der schwierigen Themen Eckharts, die sich in unsere heutigen alltäglichen Vorstellungen von ›Gott und der Welt‹ schwer einfügen lassen. Für Meister Eckhart ist die Gottverbundenheit ein Wesensmerkmal des Menschen, das ihm von seiner ursprünglichen göttlichen Natur her zukommt. Thomas von Aquin und mit ihm die nachfolgende Dogmatik betrachten die Verbundenheit des Menschen mit Gott, also die Gnade, als »Übernatur«. Die heilig machende Gnade ist demnach eine akzidentelle (zufallende, zufällige) »übernatürliche« Ausstattung, die Gott der Naturausstattung des Menschen hinzufügt. 30 Es gibt also Friedell, Egon: Kulturgeschichte der Neuzeit, S. 162. Diese Differenz kommentiert Flasch, Kurt: Meister Eckhart – Philosoph des Christentums, S. 89–91. Siehe Thomas von Aquin, Summa contra gentiles III n. 5: Unumquodque ordinatur in finem sibi convenientem secundum rationem suae formae: diversarum enim specierum diversi sunt fines. Sed finis in quem homo dirigitur per auxilium divinae gratiae, est supra naturam humanam. Ergo oportet quod homini superaddatur aliqua supernaturalis forma et perfectio, per quam convenienter ordinetur in finem praedictum. – »Ein jedes Ding ist auf das Ziel hingeordnet, das ihm nach dem Wesensgrund seiner Form entspricht: denn die verschiedenen Arten haben verschiedene Ziele. Das Ziel aber auf das der Mensch durch die Hilfe der göttlichen Gnade gerichtet ist, liegt über der menschlichen Natur. Also wird dem Menschen notwendig eine übernatürliche Form und Vollkommenheit verliehen, durch die er angemessen auf das besagte Ziel hingeordnet wird.«

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nach der allgemeingültigen Auffassung die vollständige, selbstständige, in sich gute, wenngleich mängelbehaftete Natur des Menschen, und darüber hinaus ist dem getauften Christen – gleichsam als ein Zusatz – im Erlösungsstand die Heilsgnade geschenkt. Vielleicht liegt in dieser scholastisch-aristotelischen Färbung des christlichen Menschenbildes (neben anderen Gründen) ein Quellpunkt für die Gottesferne im Leben der neuzeitlich westlichen Menschen. 31 Der Mensch kann »natürlich« ohne Gott leben. Und der moderne Mensch hält es auch so. Er braucht die »Hypothese Gott« (Laplace) nicht. Aber war Gott je eine »Hypothese«? Natürlich nicht. Man kann diese Formulierung sogar lächerlich finden. Aber andererseits: Wie soll man sich Gott heute überhaupt vorstellen, nachdem er als außerweltlich, jenseitig, übernatürlich aus dem Diesseits hinausbefördert worden war? Oder anders gefragt: Was kann »Gott« überhaupt noch bedeuten, wenn er in einem metaphysischen Bereich, das heißt in einem Jenseits der natürlichen Welt, angesiedelt wird? Was für ein Jenseits soll das sein, und wo ist es zu finden? Seit der Wiederentdeckung Meister Eckharts im 19. Jahrhundert sind immer wieder zwei Stücke aus seiner Lehre herausgegriffen worden, und oft hat man den Eindruck, dass darüber hinaus in der kulturellen Öffentlichkeit nicht viel rezipiert worden ist. Die Quellen sind zwei Predigten, die ›Armutspredigt‹ und die ›Opferstockpredigt‹ 32 . Zur Ehrenrettung dieser geistesgeschichtlichen, weniger fachwissenschaftlichen Eckhart-Rezeption kann man sagen, dass mit diesen beiden Predigten tatsächlich zwei wesentliche Lehrstücke Eckharts erfasst worden sind. Die Reizbegriffe sind dabei erstens die Unterscheidung zwischen Gott und der Gottheit. Das kommt der modernen atheistischen Tendenz entgegen, weil man darin eine Überschreitung des christlich persönlichen Gottes auf ein allgemeines überindividuelles Wesen hin vermutet. Das zweite Reizthema Eckharts, das gefällt, ist die Aufforderung, Gottes »quitt« zu werden, das von Eckhart sogar noch dahin radikalisiert wird, Gott als der Schöpfer sei mit den Kategorien des Geschöpflichen verbunden, und in diesem Sinne sei »ich« die Ursache, dass Gott Gott ist. Mit diesen beiden Themen ist Eckhart also scheinbar gar nicht fremd, sondern eher ›modern‹. Ich aber möchte zeigen, dass Eckhart in einem so radikalen Sinne modern ist, dass er uns, obwohl Siehe dazu auch Keel, Hee-Sung: Meister Eckhart. An Asian perspective. ›Armutspredigt‹, Pr. 52, ›Beati pauperes spiritu‹ ; ed. Quint, 486,1–506,4; hier zitiert nach Pr. 52; ed. Steer, 163–180; ›Opferstockpredigt‹, Pr. 109, ›Nolite timere‹ ; 761–774.

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700 Jahre älter als wir, so weit voraus ist, dass er uns darum fremd bleibt, weil wir ihm mit unseren Alltagsvorstellungen nicht folgen können. Zwei Fragen werden oft an Eckhart gestellt: Ist seine Lehre mystisch? Und: Ist sein Werk – im katholischen Sinn – rechtgläubig? Auf beide Fragen ist die Antwort meistens nein. Ich glaube, diese Verneinung ist darauf zurückzuführen, dass bei Eckhart gerade die Themen fehlen, die man im Horizont der Fragestellung erwartet: Unter dem Gesichtspunkt der Mystik fehlen Erlebnisse oder Anleitungen zur Gotteserfahrung. Unter dem Gesichtspunkt des Glaubens fehlen die Ereignisse des biblischen Heilsgeschehens und viele Inhalte des Glaubensbekenntnisses (der Dogmatik). Diese scheinbaren Mängel sind, von Eckhart her gesehen, gerade die Besonderheit und Auszeichnung seines theologischen Denkens. Sowohl Erlebnisse als auch Glaubensinhalte wie auch die Gegenstände der Mystik, zum Beispiel die Identifizierung mit dem Leben und Leiden Christi, sind Vorstellungsinhalte, auf die sich der Gläubige oder der Mystiker wie auf ein inneres A u ß e n bezieht. In der Regel werden sie durch Lehre, Predigt, Lektüre dem Aspiranten vorgesetzt und intentional – zustimmend oder zweifelnd – verarbeitet, angenommen oder abgelehnt. Sie sind Gegenstände des Bekenntnisses oder Zielvorstellungen oder Höhepunkte einer Erfahrung, die erinnert werden kann. So sind diese Gegenstände etwas, auf das man sich bezieht. Ist der Gläubige oder Mystiker davon ergriffen, so können tiefe Erschütterungen, Verzückungen und Überzeugungen damit verbunden sein, bis hin zur dichterischen Bekundung oder zum Martyrium. Solche Erfahrungen des Glaubens oder der mystischen Erleuchtung kommen in Eckharts Werk nicht vor. Sein Nachsinnen und sein Predigen gelten dem P r o z e s s des Glaubens und Denkens selbst. Seine Fragen lauten: Was geht in der Seele des Menschen vor, wenn er sich der Eigenmacht entledigt und sich von ›Gott‹ berühren lässt? Wie erscheinen Gerechtigkeit, Güte oder Sein in meinem Leben? Wie müssen die Struktur und die Bewegung meines Geistes beschaffen sein, wenn er Wahrheit, rechtes Leben und Seligkeit erfahren kann. Seine Antwort ist, grob gesprochen, immer: Alles geschieht durch die Geburt des Wortes und die Gewissheit der Einheit. Mit dieser Antwort ist aber kein Ziel erreicht. Eckharts Denken ist immer unterwegs zu dieser Gewissheit hin. Es ist durchwegs Denken über das Denken. Darin geht es nicht um den Inhalt oder das Ergebnis, sondern um das Wie des Den52 https://doi.org/10.5771/9783495860649 .

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kens. Man kann von Eckhart keine Belehrung oder Anleitung erwarten, die man annehmen oder ablehnen könnte. Nur wenn man seine Denkbewegung mitvollzieht, das heißt, wenn im Leser geschieht, wovon Eckhart spricht, ist die Wahrheit lebendig geworden. Ein fundamentaler Satz Eckharts ist: »Der Gerechte lebt in Gott und Gott in ihm; denn Gott wird im Gerechten geboren und der Gerechte in Gott.« 33 Lässt sich das mit unserem Gottes- und Menschenbild vereinen? Man könnte es als einen ›Glaubenssatz‹ für ›Gläubige‹ abtun; aber das wäre nicht in Eckharts Sinn, denn er sagt dazu: »Dies sollen einfache Leute glauben, und aufgeklärte [erleuchtete] sollen es wissen.« 34 Ist dieses »Wissen« einer philosophischen Schlussfolgerung zu verdanken? Ja, insofern es aus einer genuin philosophischen Argumentation entspringt, die einerseits ganz Eckhart zu eigen ist, aber andererseits auf einer seinerzeit anerkannten Denkschule beruht. Dieses Denken ist uns allerdings fremd. Jedoch handelt es sich nicht um eine rein theoretische, ›lebensfremde‹ Philosophie, sofern es so etwas überhaupt geben kann; denn dieses Denken will immer auch direkt ins Leben wirken. Nicht nur, wie es Flasch formuliert: »Diese Denkreform kommt vor der Lebensreform«, 35 sondern diese Denkreform ist Lebensreform. Eckhart drückt es so aus: »Der Mensch soll keinen gedachten Gott haben und sich damit begnügen; denn wenn der Gedanke vergeht, so vergeht auch dieser Gott; sondern man soll einen anwesenden Gott haben, der weit über den Gedanken des Menschen und aller Geschöpfe ist.« 36 Ich habe Eckharts Wort einen gewesenden got als »einen anwesenden Gott« übersetzt. Die einfachere und richtige Übersetzung wäre, der Mensch solle »einen seienden Gott« haben. Aber »seiend« klingt in diesem Zusammenhang etwas zu blass. In »an-wesend« ist Eckharts wesende noch erhalten; das heißt »wirklich, gegenwärtig«, sein Wesen ›wesend‹ vollziehen. In diesem Sinne sollen wir einen »anwesenden Gott« haben. Eckharts deutsche Predigten wollen insgesamt

Pr. 39; 252,3 f.: Der gerehte lebet in gote und got in im, wan got wirt geborn in dem gerehten und der gerehte in gote. 34 Pr. 39; 253,3: Und diz ist groben liuten ze gloubenne und erliuhten ze wizzenne. 35 Flasch, Kurt: Meister Eckhart – Philosoph des Christentums, S. 126. 36 RdU c. 6; 205,4–9: Der mensche ensol niht haben noch im lâzen genüegen mit einem gedâhten gote, wan, swenne der gedank vegât, sô vergât ouch der got. Mêr: man sol haben einen gewesenden got, der verre ist obe den gedenken des menschen und aller crêatûre. 33

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die Gewissheit wecken, dass dieser wirkliche Gott unmittelbar, das heißt ohne besonderen Glauben, ohne Gebete und ohne religiöse Übungen in unserem Leben präsent ist, ja dass er unser Leben ist. 37 Wir sollen ihn nur in uns wirken lassen.

Eckharts Wahrheitsverstndnis »Nun bitte ich euch, dass ihr so seid, dass ihr meine Rede versteht; denn ich sage euch bei der ewigen Wahrheit: Wenn ihr der Wahrheit, von der wir jetzt sprechen wollen, nicht gleich seid, werdet ihr mich nicht verstehen.« 38 »Wer dies nicht versteht, der belaste sein Herz nicht damit. Denn solange der Mensch dieser Wahrheit nicht gleich ist, so lange wird er diese Rede nicht verstehen; denn dies ist eine unbedeckte Wahrheit, die ohne Vermittlung aus dem Herzen Gottes gekommen ist.« 39

Diese Sätze sind wohlbekannt; aber doch lösen sie immer Verwunderung und Befremden aus, wenn man sie zitiert. Wie kann sich Eckhart anmaßen, eine Wahrheit unmittelbar aus dem Herzen Gottes zu verkünden? Wie soll man der Wahrheit gleich sein können? Wieso soll eine existenzielle Lebensqualität die Voraussetzung der Wahrheit sein? Muss man nicht, um eine Wahrheit zu erkennen, geistig hell genug sein, um die Beweise studieren und verstehen zu können? Was passiert, wenn sogenannte Fortgeschrittene die ›Wahrheitserkenntnis‹ an die persönliche Reife ihrer Schüler binden, sehen wir in Sekten. Wenn jemand die spezifischen Lehren der Meister nicht

McGinn, Bernard: The mystical thought of Meister Eckhart, S. 132 charakterisiert Eckharts Mystik als »Bewusstsein der Gegenwart Gottes« – awareness of God’s presence –, sofern man dabei beachtet, dass für Eckhart Gott als »Nicht-Gott, Nicht-Geist, Nicht-Person, Nicht-Bild« (Pr. 83) gegenwärtig ist und in Schweigen und Dunkel gefunden wird. Zu beachten ist auch, dass McGinn sein bisher vierbändiges Werk ›Die Mystik des Abendlandes‹ im Original ›The presence of God‹ nennt, weil für ihn »Gottes Gegenwart« am besten die ›mystischen‹ Themen des Abendlands zusammenfasst. 38 Pr. 52; ed. Steer, 168,16–18: Nû bite ich iuch, daz ir alsô sît, daz ir verstât dise rede; wan ich sage iu bî der êwigen wârheit: ir ensît glîch der wârheit, von der wir nû sprechen wellen, sô ensult ir mich nicht verstân. 39 Pr. 52; ed. Steer, 180,7–10: Der diz niht enverstât, der enbekümber sîn herze niht dâ mite. Wan alsô lange der mensche niht glîch enist dirre wârheit, sô lange ensol er dise rede niht verstân; wan diz ist ein unbedahtiu wârheit, diu komen ist ûz dem herzen gotes sunder mittel. 37

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einsieht oder sogar bezweifelt, wird sie oder er in einen weiteren Anfänger- oder Vertiefungskurs geschickt, für den sie nochmals zahlen müssen. Außerdem werden sie der getuschelten Nachrede der Besserwisser und den Sanktionen des Gruppenzwangs ausgesetzt. Das ist offenkundig ein Missbrauch des Satzes: »Wenn ihr der Wahrheit, von der wir jetzt sprechen wollen, nicht gleich seid, werdet ihr mich nicht verstehen.« Andererseits gibt es Wahrheiten, die nur verständlich sind, wenn man eine entsprechende Erfahrung hat. Hier handelt es sich nicht um theoretische Wahrheiten, die bekanntlich darin bestehen, dass der Satz oder die Begriffe, mit denen man eine Sache erfasst, auf die Sache zutreffen. Das ist die Wahrheit als Übereinstimmung von Sache und Verstehen (adaequatio rei et intellectus). Das ist jedoch eher Richtigkeit als Wahrheit. Es gibt Wahrheiten, die jeder kennt, die sich aber nur erschließen, wenn man sie erfährt. Den Zauber eines Sonnenaufgangs kann ein Langschläfer nicht erfahren; die Frische und Gewalt des Schwimmens in der Brandung ist einem Wasserscheuen nicht zugänglich. Hier sind die Wahrheiten, die sich uns erschließen, die Erfahrungen selbst. In der Psychoanalyse haben wir immer damit zu tun, dass Analysand und Analytiker in einer gleichen Verfassung sein müssen, damit sie die Wahrheit der begegnenden Erfahrung verstehen können. Das Unverständnis habe ich erlebt, wenn ich sowohl Ausbildungskandidaten (als ›Lernende‹) als auch Patienten (als ›Leidende‹) in derselben analytischen Gruppe hatte. Nicht selten warfen die Patienten den Ausbildungskandidaten vor, dass diese gar nicht wüssten, wovon die Patienten redeten, da sie es nicht am eigenen Leibe erfahren hätten. Umgekehrt ist es auch so, dass der Analytiker seine Patienten nicht über verdrängte Wünsche, Schuldgefühle oder Irrtümer ›belehren‹ kann, solange deren Angst vor Beschämung oder Verurteilung solche Einsichten blockiert. Um solche persönliche Wahrheiten geht es Eckhart. Sie können nur verstanden werden, wenn ich dafür aufgeschlossen bin. Die Erfahrung der Gottesgeburt ist allerdings noch grundsätzlicher verborgen. Wenn Eckhart sagt, der Mensch solle keinen gedachten Gott, sondern einen gewesenden Gott haben, so ist genau das darin eingeschlossen, dass wir so s e i n können, dass wir diese Wahrheit ›verstehen‹. Zwar kann jeder Mensch sich einen Gott oder einen NichtGott denken; jeder kann darüber räsonieren, ob Gott existiert, und diese Existenz zu beweisen oder zu widerlegen versuchen. Aber die Anwesenheit Gottes, von der Eckhart spricht, kann nicht erdacht oder 55 https://doi.org/10.5771/9783495860649 .

I. Hinfhrung: Eckhart frs 21. Jahrhundert

bewiesen werden. Gott kann nur anwesend sein, wenn wir seiner gewiss sind, wie Eckhart sagt: »Das ist so gewiss wie ›Ich lebe‹.« 40 Solche Wahrheiten als Phänomene, die jeden Beweis lächerlich machen, sind aufgeschlossenen Menschen nicht fremd. Denken wir an Liebe, an Schuld, an Heiterkeit, an Verantwortung, an den Zauber eines Gedichts oder die Erhabenheit einer Architektur, die entweder da sind oder nicht und die nur verstanden werden, wenn wir für sie offen sind, die man aber nicht herbeireden kann! Solche Phänomene sind nicht ungewohnt; aber dass wir Gott in die Reihe und Seinsweise solcher Phänomene rücken sollen, das klingt heute für Gläubige und Ungläubige meistens unglaublich.

40 Pr. 42; 305,5: [U]nd des bin ich als gewis, als daz ich ein mensche bin; Pr 68; 150,8: Ich bin des alsô gewis, als ich lebe und als got lebet.

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Drittes Kapitel Eckharts Rede von Gott

Wie von Gott reden? Wer Seminare oder Vorträge über Meister Eckhart hält, kann eine merkwürdige Stimmung bei den Zuhörern erleben, die eine unangenehme Spaltung des Sprachgefühls beim Vortragenden erzeugt. Wenn man vorwiegend zu Christen spricht, kann man sich über Gott verständigen, als wüsste man, wovon man spricht. Es ist, wie wenn man über eine ehrwürdige, nicht unbedingt anwesende, aber doch mit der Aura präsente Person redete. Es entsteht allenfalls ein Staunen, eine zugespitzte Aufmerksamkeit, wenn Themen Eckharts angesprochen werden, die der gewohnten theologischen Sprachregelung nicht entsprechen. Eine unproblematische, glatte, intellektuell abgekühlte Sprechweise stellt sich ein, wenn man mit Eckhartforschern kommuniziert. Es ist ein technisches Sich-Verständigen über Konzepte, gelegentlich ein etwas nachdrückliches, manchmal zweifelvolles Problematisieren, je nachdem ob man eine unerprobte These behauptet oder eine unkundige Anfrage formuliert. Peinlichkeit würde aufkommen, wenn man ein persönlich gefärbtes Bekenntnis, eine konfessionelle Kontroverse oder einen subjektiven Zweifel anmelden würde. Anders ist es, wenn man mit Zuhörern aus der Meditationsszene zu tun hat, die an Eckhart interessiert sind. Man spürt dann ein umfassendes Einverständnis, das die Positionen Eckharts verständnisvoll, eher etwas nachsichtig übergreift. Sie wissen es noch besser als Eckhart und der Referent, da sie eine weitergehende, vertiefte Einsicht haben, da sie von einer alternativen Logik her sprechen, in der die Aporien, Ungereimtheiten des modernen alltäglichen oder des traditionell christlichen oder des aufgeklärten Bewusstseins gegenstandslos geworden sind. Eckharts Paradoxien oder Provokationen sind ihnen nicht aufregend, da die Einsicht dieser Zuhörer ›noch weiter dringt‹ und alle 57 https://doi.org/10.5771/9783495860649 .

I. Hinfhrung: Eckhart frs 21. Jahrhundert

Aufregung mit einem milden Lächeln abfedert. Solche östlich motivierte Weisheit kann auch mit einer wissenden Belehrtheit durch die moderne Physik einhergehen. Ganz schwierig ist es, wenn man bei einem Arztbesuch oder bei gesellschaftlichen Anlässen mit ›normalen‹ Zeitgenossen profaner Provenienz, Technikern, Wirtschaftlern, Juristen, Medienmachern, auf sein Interesse an Eckhart zu sprechen kommt. Solche Gespräche meidet man besser oder lenkt sie schnell auf ein anderes Thema, weil man sonst wie ein prähistorisches Amphibium betrachtet wird. Auch bei den meisten Psychologen und Psychotherapeuten kann dieses Befremden entstehen, obwohl es hier Ausnahmen gibt; dann wähnt man sich in der Gemeinschaft der Außenseiter zu Hause.

Allgemeiner stellt sich die Frage: Wie kann man überhaupt von Gott reden? Am besten wäre es, darüber gar nicht zu reflektieren und es zu halten, wie es Eckhart tut. Er spricht meistens ganz ohne Vorbehalt von Gott, als ob seine Zuhörer selbstverständlich wüssten, wovon er spricht. So dürfte es ja auch in der Regel gewesen sein. Die Menschen lebten mit Gott wie mit einer festen Größe. Diese Vormeinung lässt Eckhart aber selten bestehen. Er spricht scheinbar naiv von »Gott«, was er aber sagt, erschüttert die gewohnten Vorstellungen so, dass sie untragbar werden. Immer geht es Eckhart um die Gegenwart Gottes. Dies aber nicht so, dass er als ein »Fremder«, als Gast, als Helfer oder Mahner unter uns wäre, sondern er ist in uns, in unserem Menschsein gegenwärtig. Wenn wir ihn suchen, dürfen und sollen wir also in die Gegebenheiten und Ereignisse des Menschseins blicken, um zu verstehen, was und wo Gott ist. Gottes Wesen ist Selbstoffenbarung, aber nicht durch aufgeschriebene oder aufsagbare Worte, sondern durch das Sein. So ›finden‹ wir Gott, wenn wir uns vergegenwärtigen, wie und wann sich uns etwas offenbart, wenn sich uns Wesentliches unseres Menschseins aufschließt. So soll also auch die Bewegung dieses Buches gehen. Sie kann von menschlichen Erfahrungen ausgehend zu verstehen suchen, wie Eckhart dies sieht, und sie kann von Eckharts Darlegungen aus den »phänomenalen Anhalt« (Heidegger) suchen, das heißt fragen, wie die ontologischen Gesetze sich im Ontischen, bis hinein in den Alltag, spiegeln. Zum Einstieg wähle ich das Phänomen des Willens.

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3. Eckharts Rede von Gott

Gottes und des Menschen Wille So kann Eckhart zum Beispiel ohne Weiteres fordern, ausschließlich dem Willen Gottes zu gehorchen. Den modernen Leser mag es befremden, wenn Eckhart am Anfang der ›Reden der Unterscheidung‹, also am Anfang seiner deutschsprachigen Lehrtätigkeit, vom Gehorsam spricht, der eine Tugend vor allen Tugenden sei. 1 Gehorsam ist ja die Unterwerfung des Eigenwillens unter einen anderen, unter eine Autoritäts- oder Machtperson. Das ruft im aufgeklärten, selbstbestimmten Menschen unserer Tage leicht Widerspruch hervor, wenn der Gehorsam nicht im Bereich »besonderer Gewaltverhältnisse«, zum Beispiel im militärischen oder pädagogischen Bereich, gefordert wird. Eckhart spricht davon, dass »der Mensch in Gehorsam das Seine verlässt und es aufgibt«, dass »einer für sich selbst nichts will«. In einer wohlwollenden Herr-Knecht-Beziehung wäre zu erwarten, dass einem solchen selbstlosen Diener alles gewährt wird, was er braucht, ja vielleicht sogar darüber hinaus. Eckhart aber bestimmt die göttliche Seite dieser »gleichwertigen Gegengabe« (glîch widergelt) oder des »gleichwertigen Geschäfts« (glîcher kouf) 2 überraschend und zunächst schwer verständlich: Er sagt, in den Menschen, der das Seine verlassen hat, müsse Gott notwendig wieder eintreten; für den Menschen, der für sich nichts will, müsse Gott in derselben Weise wollen, wie er für sich selbst will; er müsse für mich wollen; würde er mich vernachlässigen, würde Gott sich selbst vernachlässigen; worin ich mich gelassen hätte, darin müsste Gott für mich wollen, was er für sich selbst will; andernfalls wäre er nicht gerecht, ja er würde nicht mehr dem entsprechen, was definitionsgemäß sein Wesen ist. 3

RdU c. 1; 185,8: Wâriu und volkomeniu gehôrsame ist ein tugent vor allen tugenden. RdU c. 4; 197,1 und 197,2. 3 RdU c. 1; 187,1–188,2: Swâ der mensche in gehôrsame des sînen ûzgât und sich des sînen erwiget, dâ an dem selben muoz got von nôt wider îngân; wan sô einez im selber niht enwil, dem muoz got wellen glîcher wîs als im selber. Swenne ich mînes willen bin ûzgegangen in die hant mînes prêlâten und mir selber niht enwil, dar umbe muoz mir got wellen, und versûmet er mich an dem teile, sô versûmet er sich selber. Alsô in allen dingen, dâ ich mir niht enwil, dâ wil mir got. Nû merke! Waz wil er mir, dâ ich mir niht enwil? Dâ ich mich ane lâze, dâ muoz er mir von nôt wellen allez, daz er im selben wil, noch minner noch mêr, und mit der selben wîse, dâ er im mit wil. Und entæte got des niht, in der wârheit, diu got ist, sô enwære got niht gereht noch enwære got, daz sîn natiurlich wesen ist. 1 2

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I. Hinfhrung: Eckhart frs 21. Jahrhundert

Wenn man hier immer noch eine persönliche Machtbeziehung wiederfinden möchte, müsste man von einer völligen Auflösung der Persönlichkeit des Menschen ausgehen. Denkbar wäre das nur als eine extreme sadomasochistische Beziehung, als radikale ›Gehirnwäsche‹. Es ist keine Frage, dass traditionell christliche Frömmigkeitsanstrengungen manchmal daran erinnern, und gerade diese Anmutung erzeugt den Widerstand der Freigeister. Bei Eckhart ist daran aber in keiner Weise zu denken. In seiner Predigt über die Demut (Pr. 14, siehe unten Kap. 13) erläutert Eckhart, dass Gott vom Menschen »gezwungen« wird, wenn dieser sich von seinem Eigenwillen leer macht. Es ist dort nicht von einer psychischen Entschlusskraft die Rede. Wie auch an der soeben zitierten Stelle klar wird, spricht Eckhart damit eine Wesenseigenschaft des göttlichen Willens an. Dieser muss dann eintreten, wenn der ›Raum‹ von jedem Gegenwillen frei ist. Menschlicher Wille und göttlicher Wille sind dann nicht zwei angeglichene, sondern ein und derselbe Wille. Dieser ist die dynamische, Möglichkeit und Wirklichkeit zusammenschließende Kraft des Lebens. So haben wir auch Eckharts Rede vom Gehorsam und von der Aufgabe des Eigenwillens hier zu verstehen. Es handelt sich nicht um eine personale Willensleistung, sondern es wird ein phänomenologisches Wesensmerkmal des Willens selbst angesprochen.

Exkurs: Aspekte einer Phnomenologie des Willens Wenn wir verstehen wollen, was Eckhart unter dem göttlichen Willen versteht, müssen wir das Phänomen des Willens selbst analysieren. Eckharts Gesetz ist: Der göttliche Wille tritt in Erscheinung, wenn der menschliche Eigenwille zurücktritt. Die alltägliche Vorherrschaft des menschlichen Eigenwillens ist in Wirklichkeit nur ein Vordergrundphänomen, ein Vorschein. Mit Meisterschaft hat Nietzsche in ›Jenseits von Gut und Böse‹ die psychologisch-phänomenologische Konstitution des Willens analysiert: »[…] in jedem Wollen ist erstens eine Mehrheit von Gefühlen, nämlich das Gefühl des Zustandes, von dem w e g , das Gefühl des Zustandes, zu dem h i n , das Gefühl von diesem ›weg‹ und ›hin‹ selbst, dann noch ein begleitendes Muskelgefühl, welches, auch ohne dass wir ›Arme und Beine‹ in Bewegung setzen, durch eine Art Gewohnheit, sobald wir ›wollen‹, sein Spiel beginnt. Wie also Fühlen und zwar vielerlei Fühlen als Ingredienz des Willens

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3. Eckharts Rede von Gott

anzuerkennen ist, so zweitens auch noch Denken: in jedem Willensakte giebt es einen commandirenden Gedanken; – und man soll ja nicht glauben, diesen Gedanken von dem ›Wollen‹ abscheiden zu können, wie als ob dann noch Wille übrig bliebe! Drittens ist der Wille nicht nur ein Complex von Fühlen und Denken, sondern vor Allem noch ein A f f e k t : und zwar jener Affekt des Commando’s. […] Ein Mensch, der w i l l – , befiehlt einem Etwas in sich, das gehorcht oder von dem er glaubt, dass es gehorcht.«4

Die entscheidende Einsicht Nietzsches ist: Die Meinung, der Wille sei schlechthin eine Leistung des Ich ist eine schmeichelhafte Fiktion. Sie gibt dem Ich das Gefühl der Überlegenheit und des Herrschens. Dieses Gefühl lässt sich das Ich nicht gerne rauben, weder durch die Neurobiologie noch durch die Zumutung Eckharts, den Willen zu lassen. Freilich ist mit der Desillusionierung des Ich durch die Einsicht Nietzsches noch nichts darüber gesagt, was denn an die Stelle des ichlichen Willens tritt. Der Willenscharakter des Seins oder, wie Nietzsche es in demselben Abschnitt nennt, des »Lebens«, ist durch diese Analyse nicht aufgehoben, sondern eher verstärkt. Nietzsche nimmt Zuflucht zu den »Machtquanta« 5 . Ihm ist »das innerste Wesen des Seins Wille zur Macht«. 6 Wenn also im »Willen« nur scheinbar das Ich herrscht, muss es eine ›Instanz‹ geben, die auch noch den Willen bestimmt. Die Theologen nannten sie »Gott«, die Psychoanalytiker das »Unbewusste«, die Neuroszientisten postulieren, es sei das ›Gehirn‹. Eine phänomenologisch weiterführende Schilderung findet sich in ›Also sprach Zarathustra‹, in der Rede ›Von den Verächtern des Leibes‹. Hier fasst Nietzsche das Vordergrund-Hintergrund-Phänomen im Willen als Gegensatz von »Ich« und »Selbst«. »›Ich‹ sagst du und bist stolz auf diess Wort. Aber das Grössere ist, woran du nicht glauben willst, – dein Leib und seine grosse Vernunft: die sagt nicht Ich, aber thut Ich. Was der Sinn fühlt, was der Geist erkennt, das hat niemals in sich sein Ende. Aber Sinn und Geist möchten dich überreden, sie seien aller Dinge Ende: so eitel sind sie.

Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse, hier Nr. 19, S. 31–34. Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente (Nov. 1887–Jan. 1889), Nr. 11[36], S. 20 u. Nr. 14[79], S. 257–259; vgl. Nietzsche, Friedrich: Werke in drei Bänden, Bd. III, S. 609 u. S. 777. 6 Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente (Nov. 1887–Jan. 1889), Nr. 14[80], S. 260; vgl. Nietzsche, Friedrich: Werke in drei Bänden, Bd. III, S. 778. 4 5

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I. Hinfhrung: Eckhart frs 21. Jahrhundert

Werk- und Spielzeuge sind Sinn und Geist: hinter ihnen liegt noch das Selbst. Das Selbst sucht auch mit den Augen der Sinne, es horcht auch mit den Ohren des Geistes. Immer horcht das Selbst und sucht: es vergleicht, bezwingt, erobert, zerstört. Es herrscht und ist auch des Ich’s Beherrscher. Hinter deinen Gedanken und Gefühlen, mein Bruder, steht ein mächtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser – der heisst Selbst. In deinem Leibe wohnt er, dein Leib ist er. Es ist mehr Vernunft in deinem Leibe, als in deiner besten Weisheit. Und wer weiss denn, wozu dein Leib gerade deine beste Weisheit nöthig hat? Dein Selbst lacht über dein Ich und seine stolzen Sprünge. ›Was sind mir diese Sprünge und Flüge des Gedankens? sagt es sich. Ein Umweg zu meinem Zwecke. Ich bin das Gängelband des Ich’s und der Einbläser seiner Begriffe.‹ Das Selbst sagt zum Ich: ›hier fühle Schmerz!‹ Und da leidet es und denkt nach, wie es nicht mehr leide – und dazu eben s o l l es denken. Das Selbst sagt zum Ich: ›hier fühle Lust!‹ Da freut es sich und denkt nach, wie es noch oft sich freue – und dazu eben s o l l es denken.« 7

Nietzsches Hinweise belehren uns, dass wir durch eine Kraft bestimmt sind, die unserem Ich-Bewusstsein und unserem sinnlichen Empfinden vorausliegt, die vielmehr dieses steuert. Die Lebensphänomenologie von Michel Henry und Rolf Kühn nennt dies das »Fleisch«. 8 Es ist der Leib, in dem jedes Empfinden wurzelt. Sie gehen sogar so weit zu sagen, dass der Kern oder das Wesen des individuellen Selbstseins (»Ipseität«) darin liegt, dass ich vor jedem Denken und Handeln affiziert bin, dass ich das Leben im Grunde erleide (»Passibilität«). Der ›Anfang‹, der jetzt und immer ist, ist ein Grund, der nichts begründet, sondern Leben spendet, indem er lebt. Dieser »Ab-Grund« ist das nicht erinnerbare Ins-Leben-Kommen, mit Eckharts Schlüsselwort gesagt: Es ist »Geburt« aus dem Leben ins Leben. »Aus dem Leben«, das ist aus Gott. Zurück zu Eckhart: »Worin ich mich lasse, darin muss Gott für mich notwendig alles wollen, was er für sich selbst will, nicht weniger und nicht mehr, und in derselben Weise, 7 8

Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra, S. 39 f. Henry, Michel: Inkarnation.

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3. Eckharts Rede von Gott

mit der er es für sich will. Und täte es Gott nicht so, in der Wahrheit, die Gott ist, so wäre Gott nicht gerecht noch wäre Gott das, was sein natürliches Wesen ist.« 9

Gottes Wille ist hier kein anderer Wille als der menschliche, sondern ›gemeinsamer Wille‹ ist das hintergründig Wirkende. Wir sind seit Langem gewohnt, Gottes Willen als den anderen, fremden, aus einem Jenseits hereindrohenden Machtanspruch zu betrachten – und, je nach Situation und Laune, dieses Fremde zu leugnen oder uns ihm zu unterwerfen. Das Ergebnis ist, dass wir unseren eigenen Willen darin verfehlen; denn wir geben uns nicht mehr Rechenschaft, wie wir überhaupt bestimmt sind zum jeweilig angestoßenen oder anstößigen Tun. Wir halten uns im Vagen des Planens und Vorhabens auf oder stürzen uns in das gerade Gebotene – zuweilen auch in Mattigkeit, lahm und unentschlossen, zögernd. Aber blicken wir genauer hin! Wir haben Pläne und Entschlüsse, wollen und zögern; und auf einmal sagen wir: Jetzt! Und tun auch so. Und vielleicht beginnen wir damit eine Kette von irgendwie ›gewollten‹ Handlungen. Aber wie kommt es gerade in dieser Sekunde zu dem entschlossenen Jetzt? Und was können wir denn dem Anstoß hinzufügen, der jedem Fußtritt unseres Voranschreitens vorausliegt? Das Erleben sagt: Es geht irgendwie ›von selbst‹. Aber der mithörende und auf Zwischentöne lauschende Psychoanalytiker kennt den Abgrund, der im Alltag zwischen Wollen und Geschehen klafft, der sich sogar beim Sprechen und Schreiben willentlich nicht überbrücken lässt. Wenn ein Patient mit Schreib- oder Sprechstörung den Satz dehnt, tausend Ansätze, Wiederholungen und Widerrufungen vor jedes dritte Wort fügt, zwischen zwei Gedanken eine jäh abstürzende Kluft des Schweigens schiebt, scheitert er an seinem Sprechenw o l l e n . Weil sich dem zugespitzten Wollen kein Satz von selbst ergibt und er s i c h nicht unbedacht denken und reden lässt, ergibt sich der Sprecher, in toter Erregung versiegend, und so hat das Nichts der zerbrechenden Bedeutungen gesiegt. Was ist der ›Wille‹ eines Satzes? Immer ist das Sprechen oder Schreiben das Zusammenspiel eines Ganzen und seiner Teile oder auch 9 RdU c. 1; 187,7–188,2: Dâ ich mich ane lâze, dâ muoz er mir von nôt wellen allez, daz er im selben wil, noch minner noch mêr, und mit der selben wîse, dâ er im mit wil. Und entæte got des niht, in der wârheit, diu got ist, sô enwære got niht gereht noch enwære got, daz sîn natiurlich wesen ist.

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I. Hinfhrung: Eckhart frs 21. Jahrhundert

einer Ahnung und deren schrittweise erfolgender Präzisierung. Wenn ›ich‹ mich vordränge, geht mir der Satz verloren. Dass ›ich‹ mich vordränge, bedeutet dann, dass ich entweder an der Ahnung festhalte, in dem Wunsch, die Präzisierung möge dem Vorhaben exakt entsprechen, oder dass ich auf den Teil, den nächsten Ausdruck, das Wort fixiert bleibe und ins Stammeln komme. Den Zuhörer stört dann entweder das längere Schweigen oder der Satzabbruch. Erstaunlich ist in diesem Vorgang, dass sich oft auf den Zuhörer eine Ahnung der Absicht überträgt, dass er sich gedrängt fühlt, dem Stammelnden zu Hilfe zu kommen, den vermuteten Satz fortzusetzen oder mit eigenen, im Schweigen des Anderen erweckten Einfällen dazwischen zu gehen. Im Zurücktreten des Ich hinter den Einfall entsteht ein Satz. Nach demselben Prinzip, wenn auch in vielen Durchläufen, Wiederholungen und Systematisierungen, entstehen auch Bücher, so auch Systeme und Theorien, Ideen und gesellschaftliche oder politische Gebilde. Niemals ist es nur die Addition der aktiven Iche, die das Ganze gelingen lässt. Die Iche müssen aufeinander hören und zusammenstimmen. Das klingt banal; aber man könnte einen Preis aussetzen für eine wissenschaftliche Antwort auf die Frage, was die Iche hören und was sie einstimmt, damit ihnen ein Werk gelingt. Um aus den vielen Möglichkeiten eine stimmende auszuwählen, und sei es bloß in einem Satz oder Schriftstück, braucht man Vertrauen. Es scheint vermessen, das »Gottvertrauen« zu nennen; Psychoanalytiker behelfen sich mit dem Namen »Urvertrauen«. Dass es solches braucht, merkt man im Normalfall nicht, sondern nur wenn es fehlt. Doch jedes glückliche Gelingen setzt Urvertrauen voraus.

Eckharts Rede von Gott Der springende Punkt dieser Erörterungen ist zunächst keine Erkenntnis vom Wesen Gottes, sondern der Hinweis, dass die geschilderten Phänomene »in der Weise der Geburt« erscheinen (siehe Kap. 11). Damit ist für die Willensphänomene wie für alle geistigen Tätigkeiten des Menschen jene Gleichheit und Unterschiedenheit angenommen, die für Eckhart das Kennzeichen der »Geburt« ist: ein anderer der Person nach, jedoch dasselbe Wesen. Diese Struktur findet sich in zahlreichen Phänomenen, und diese Struktur des Geborenseins bestimmt das Leben in allen leiblichen, geistigen und seelischen Phänomenen. Das ist 64 https://doi.org/10.5771/9783495860649 .

3. Eckharts Rede von Gott

das psychologisch-phänomenologische Wesen der »Gottesgeburt in der Seele«, die ja eigentlich die »Geburt oder Zeugung des Wortes« ist. So verstehe ich Meister Eckhart. Diese Struktur liegt auch den schwer zu akzeptierenden Aufforderungen Eckharts zugrunde, alles, was aus Gottes Willen kommt, auch das Leiden, um Gottes »Ehre« willen anzunehmen. So zum Beispiel in Predigt 4, ›Omne datum optimum‹ : »Obwohl einmal etwas Anderes besser erscheinen mag, so wäre es für dich doch nicht so gut; denn Gott will diese Weise und nicht eine andere Weise; so muss diese Weise für dich die beste sein. Sei es Krankheit oder Armut oder Hunger oder Durst oder was immer: Was Gott über dich verhängt oder nicht verhängt, oder was dir Gott gibt oder nicht gibt, das alles ist für dich das Beste. Sei es Andacht oder Innerlichkeit, wenn du beide nicht hast, und was immer du hast oder nicht hast: Versetze du dich voll und ganz da hinein, dass du Gottes Ehre in allen Dingen im Sinn hast. Was er für dich dann tut, das ist das Beste.« 10

Hier spricht Eckhart noch die Sprache des persönlichen Gebens und Nehmens. Darum ist hier auch das Unbehagen, das sich mit der Theodizee verbindet, nicht wegzudiskutieren. Gleichwohl wird jede Gabe von Freude und Leid, die das Leben gibt, aus einem Unpersönlichen oder Überpersönlichen empfangen. Man kann sich dagegen auflehnen; aber die Empörung lindert ein unvermeidbares Leiden nicht. Es ist nur hinzunehmen. Ob es gelingen kann, es als gute Gabe anzunehmen, ist eine weitergehende Frage. Könnte es gelingen, wäre das wahrscheinlich sogar hilfreich. Ob Gott in so unpersönlicher Weise zu verstehen ist, dass allgemein gesagt werden kann: Was immer kommt, es ist von Gott und muss darum gut sein? Eckhart denkt so: »Denn Gottes Wesen hängt davon ab, dass er das Beste will. Darum werde ich es auch wollen, und es soll mir nichts besser behagen.« 11 Was immer mir widerfährt, annehmen zu wollen, das mag wünschbar sein, ob es gelingt oder nicht. Pr. 4; 61,4–62,4: Swie daz sî, daz doch ein anderz bezzer schîne, sô enwære ez dir doch niht als guot, wan got wil dise wîse und niht ein ander wîse, und disiu wîse muoz von nôt dir diu beste wîse sîn. Ez sî siechtage oder armuot oder hunger oder durst oder swaz ez sî, waz got über dich verhenget oder niht verhenget, oder swaz dir got gibet oder niht engibet, daz ist dir allez daz beste; ez sî andâht oder innicheit, daz dû der beider niht enhâst, und swaz dû hâst oder niht enhâst: setze eht dû dich rehte dar în, daz dû gotes êre meinest in allen dingen, und swaz er dir denne tuot, daz ist daz beste. 11 Pr. 4; 63,2–5: Wan gotes wesen swebet dar an, daz er daz beste welle. Dar umbe sol ichz ouch wellen noch ensol mir dekein dinc baz behagen. 10

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I. Hinfhrung: Eckhart frs 21. Jahrhundert

Dass es mir auch als das Beste behagen soll, ist schon sehr viel verlangt. Dies mag Eckhart überlassen bleiben. Den auf ein paternalistisches Gottesbild zugespitzten Sprachduktus hier rechne ich Eckharts früher Werkperiode zu, in die man die Predigt 4 einordnen darf. 12 Die Verinnerlichung Gottes, die in der Demutslehre der Predigt 14 zur Ersetzung der Transzendenz des Oben durch das Innen führen wird (siehe Kap. 13), beginnt schon in den frühen Schriften und führt in den späten Texten zur Erkenntnis der Einheit Gottes und des Wesentlichen im Menschen. So sind wir immer wieder vor die Frage gestellt, wie sich die innerste Erfahrung des Menschen offenbart, wenn wir mit Eckhart die Selbstoffenbarung Gottes verstehen wollen. Dazu ein paar Hinweise aus den Texten Eckharts. In den ›Reden der Unterscheidung‹ ist die Verinnerlichung dem psychologischen Erleben noch einigermaßen nahe. Das ist der Ausgangspunkt, die Vorbereitung der Einstellung auf das unerfahrbare Geschehen der Gottesgeburt. Diese überstrahlt gleichsam das Erleben und ermöglicht so eigentlich erst, was in den ›Reden‹ als Einführung in die geistliche Haltung gelehrt wird. Als Beispiel greife ich einige Gedanken des sechsten Kapitels der ›Reden der Unterscheidung‹ heraus: ›Von der Abgeschiedenheit und vom Haben Gottes‹. »Abgeschiedenheit« und »Haben Gottes« legen gewöhnlich bestimmte Vorstellungen nahe. Zunächst ist Abgeschiedenheit Rückzug von der Welt an einen ruhigen oder heiligen Ort, an dem man Gott ›haben‹ kann, also sich in Andacht auf Gott konzentrieren, sich seine Gegenwart bewusst machen kann. Das meint Eckhart nicht. Vielmehr: »Wer richtig ist, wahrhaftig, der ist an allen Orten und unter allen Menschen richtig. […] Wer aber richtig ist, der hat Gott in Wahrheit bei sich. Wer aber Gott richtig in der Wahrheit hat, der hat ihn an allen Orten, auf der Straße und unter allen Menschen ebenso wie in der Kirche, in der Einsiedelei oder in der Klosterzelle. Wenn er ihn nur richtig hat und alleine ihn hat, so kann den Menschen niemand behindern.« 13

Siehe Largier, EW I, 777; auch Ruh, Kurt: Predigt 4: ›Omne datum optimum‹, hier S. 10, dort auch mit Hinweisen auf mögliche Gegenargumente. 13 RdU c. 6; 201,3–9: Wem reht ist, in der wârheit, dem ist in allen steten und bî allen liuten reht. […] Wem aber reht ist, der hât got in der wârheit bî im. Wer aber got rehte in der wârheit hât, der hât in in allen steten und in der strâze und bî allen liuten als wol als in der kirchen oder in der einœde oder in der zellen; ob er in anders rehte hât und ob er in aleine hât, den menschen enmac nieman gehindern. 12

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3. Eckharts Rede von Gott

Der Grund ist: Einem Menschen in einer solchen Haltung werden alle Dinge zu Gott. Und alle seine Werke wirkt im absoluten Sinne Gott selbst. 14 Diese Aussage hat einen bedeutenden metaphysischen Tiefgang, der in den folgenden Kapiteln ergründet werden soll; doch wird sie hier noch eher nebenbei gesagt. In gewohnten Frömmigkeitsermahnungen könnte man erwarten, der Mensch, der allein Gott im Sinn hat, solle nichts anderes wert schätzen, die Dinge dieser Welt seien ohnehin nichtig. Eckhart geht weiter. Für ihn verwandeln sich die Dinge: Wenn die Dinge aus sich, das heißt in ihrer materiellen Seinsweise, diesem Menschen nichts sind, werden sie ihm zu Gott; sie werden von Gott durchwirkt. Das heißt: Sie begegnen uns in ihrer Ehrwürdigkeit, in ihrer Gewirktheit, Schönheit und Bedeutsamkeit als Geschenk. »Du sollst in allen Werken ein gleichbleibendes Gemüt haben und ein gleichmäßiges Vertrauen und eine gleichmäßige Liebe zu deinem Gott und einen gleichbleibenden Ernst. Könntest du in dieser Weise gleich gestimmt sein, wahrlich, so könnte dich niemand dem gegenwärtigen Gott gegenüber hindern.« 15

In dieser Haltung ist Gott gegenwärtig. Wiederum ist damit aber keine psychologische Konzentrationsleistung gemeint. Es geht nicht darum, an Gott zu denken; denn dann wäre Gott dem Menschen nur präsent, wenn er ihn sich vorstellt. Gott ist immer gegenwärtig. Und diese Gegenwärtigkeit präsentiert sich im Menschen als untergründig herrschendes Begehren, das sich aber thematisch nicht jederzeit auf Gott richten muss. Als Beispiel dafür bringt Eckhart den Dürstenden oder Hungernden, dem die Speise oder der Trank als Bedürftigkeit immer präsent ist, auch wenn er nicht daran denkt. »Das wahre Haben Gottes liegt im Gemüt und in einer inneren vernunftbestimmten Hinwendung und einem Streben zu Gott, nicht in einem stetigen, gleichbleibenden An-Gott-Denken; denn es wäre der menschlichen Natur unmöglich, Gott so im Sinn zu behalten, oder sehr schwer und auch nicht RdU c. 6; 201,11–202,1: Dâ hât er aleine got und meinet aleine got und werdent im alliu dinc lûter got. Der mensche treget got in allen sînen werken und in allen steten, und alliu des menschen werk diu würket got lûterlîchen. – »Da hat er nur Gott und meint nur Gott, und so werden ihm alle Dinge lauter Gott. Dieser Mensch trägt Gott in all seinen Taten und an allen Orten, und alle Taten dieses Menschen wirkt nur Gott.« 15 RdU c. 6; 203,9–12: Aber dû solt in den werken ein glîchez gemüete haben und ein glîchez getriuwen und eine glîche minne ze dînem gote und einen glîchen ernst. Entriuwen, wære dir alsô glîch, sô enhinderte dich nieman dînes gegenwertigen gotes. 14

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I. Hinfhrung: Eckhart frs 21. Jahrhundert

das Beste. Der Mensch soll keinen gedachten Gott haben und sich damit auch nicht begnügen; denn wenn der Gedanke vergeht, vergeht auch Gott. Sondern man soll einen an-wesenden Gott haben, der weit über den Gedanken des Menschen und aller Geschöpfe ist. Dieser Gott vergeht nicht, es sei denn der Mensch wendet sich willentlich ab.« 16

An diesen Überlegungen Eckharts aus seinen frühesten deutschen Texten ist zu erkennen, wie Eckhart den Hörer oder Leser von der Vorstellung eines objektiven, gegenständlichen, autoritativen, persönlichen Gottes wegführt hin zu Gott als einem Prinzip, Ursprung, Grund, zu Gott als der Bedingung der Möglichkeit des Bewusstseins überhaupt. Das geht allein schon aus den lebendigen Vergleichen hervor, mit denen Eckhart die Beziehung des Menschen zu Gott skizziert. Diese teilweise schon zu geflügelten Worten gewordenen Skizzen sprechen meist mit einer abmahnenden Geste davon, wie Gott nicht vorzustellen ist, geben aber damit gleichzeitig Raum frei für eine innige Empfindung Gottes als Kraft des Lebens. Eckhart räumt damit jede Vorstellung von Gott aus dem Wege, auf die man sich selbstgewiss berufen könnte oder an der man sich stoßen und von der man sich kritisch abwenden möchte. Wer in Eckharts Sinn gering von ›Gott‹ denken möchte, denkt in Wahrheit zu gering vom Leben und damit von sich selbst. Man kann ›Gott‹ abschaffen, aber nicht sich selbst. Man kann sich und sein Leben ›agnostisch‹ auf Rationalität und Pragmatik reduzieren, hält sich dabei jedoch in Vorstellungen auf oder setzt Vorstellungen zurück, auf die das je individuelle Leben mit seinen Widerfahrnissen und Begünstigungen keine Rücksicht nimmt. Auch für die Vorstellungen von Gott, seien sie bejahend oder verneinend, gilt, mit Nietzsche gesprochen: »Dein Selbst lacht über dein Ich und seine stolzen Sprünge.« Der Gott der metaphysischen, und das heißt der disziplinierenden oder opiumgleich berauschenden Vorstellungen ist in der Tat »tot«. Für diesen ›Gott‹ gilt Eckharts »Wenn der Gedanke vergeht, vergeht auch Gott«. Es wäre ein Gott, den man als Idee oder als Person, RdU c. 6; 205,2–9: Diz wærlîche haben gotes liget an dem gemüete und an einem inniclîchen vernünftigen zuokêrenne und meinenne gotes, niht an einem stæten anegedenkenne in einer glîchen wîse, wan daz wære unmügelich der natûre in der meinunge ze habenne und sêre swære und ouch daz aller beste niht. Der mensche ensol niht haben noch im lâzen genüegen mit einem gedâhten gote, wan, swenne der gedank vergât, sô vergât ouch der got. Mêr: man sol haben einen gewesenden got, der verre ist obe den gedenken des menschen und aller crêatûre. Der got envergât niht, der mensche enkêre denne williclîche abe.

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3. Eckharts Rede von Gott

als Schreckens- oder als Entzückensinstanz aus sich heraussetzen und von außen einwirken oder draußen verkümmern lassen könnte. Dem setzt Eckhart die innere Welt gegenüber, die nicht mit pietistisch-romantisch-psychologischer Innerlichkeit zu verwechseln ist. Sogar die äußeren ›historischen‹ Ereignisse der Heilsgeschichte verlegt Eckhart ins Innere. »Darum sagt das Schriftwort, das ich euch vorgelegt habe: ›Gott hat seinen eingeborenen Sohn in die Welt gesandt.‹ Das sollt ihr nicht in Bezug auf die äußere Welt verstehen, in der er mit uns aß und trank; ihr sollt es mit Bezug auf die innere Welt verstehen. So gewiss der Vater seinen einzigen Sohn in seiner Natur gebiert, so gewiss gebiert er ihn in das Innerste des Geistes, und das ist die innere Welt.« 17

Im Anschluss an diese ›Ortsbestimmung‹ der göttlichen Wirklichkeit folgt die unerhörte Identifizierung: »Hier ist Gottes Grund mein Grund und mein Grund Gottes Grund. Hier lebe ich aus meinem Eigenen, wie Gott aus seinem Eigenen lebt. […] Aus diesem innersten Grunde sollst du alle deine Werke wirken ohne Warum und Wozu.« 18

Was heißt es denn: »Aus meinem Eigenen leben«, das wäre die Frage, die Eckhart uns stellt. Sowohl der gewöhnliche Begriff Gottes wie der des Ich wird hier unterschritten durch den gemeinsamen oder vielmehr identischen Grund, der zugleich das Eigentliche Gottes und ›meiner‹ Menschheit ist. Das eigentliche Handeln entspringt aus diesem Grunde, und zwar sunder warumbe. Ein Handeln ohne Grund und Ziel unterschreitet die psychologische Dimension ebenso, wie der Grund das Ich und den Gott unterschreitet. Um sich dieser Dimension phänomenologisch anzunähern, müsste man, wie oben skizziert, nach dem Anstoß des Wollens oder Handelns fragen, der noch vor dem ›freien Willen‹ liegt. Was bewegt mich, bevor ich zum begründeten oder gezielten Wollen finde? Oder: Wie komme ich dazu, gerade jetzt genau dies oder Pr. 5b; 90,3–8: Her umbe sprichet daz wörtelîn, daz ich vür geleit hân: ›got hât gesant sînen einbornen sun in die werlt.‹ Daz sult ir niht verstân vür die ûzwendige werlt, als er mit uns az und trank; ir sult ez verstân vür die inner werlt. Als wærlîche der vater in sîner einvaltigen natûre gebirt sînen sun natiurlîche, als gewærlîche gebirt er in in des geistes innigestez, und diz ist diu inner werlt. 18 Pr. 5b; 90,8 f.: Hie ist gotes grunt mîn grunt und mîn grunt gotes grunt. Hie lebe ich ûzer mînem eigen, als got lebet ûzer sînem eigen. […] ûzer disem innersten grunde solt dû würken alliu dîniu werk sunder warumbe. 17

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I. Hinfhrung: Eckhart frs 21. Jahrhundert

das zu wollen? Das war die Frage der Tiefenpsychologie, die bei deren Begründern, Freud, Adler und Jung, eine je verschiedene Antwort fand. Wie es sich erwarten lässt, bleiben deren Antworten unbefriedigend, da sie in ihrem theoretischen Bestreben immer nur allgemeine Prinzipien der Motivation aufweisen konnten. Sie konnten jedoch das im Augenblick zündende Motivationsgeflecht nicht eindeutig auf den einzig ›springenden Punkt‹ des Umschlags von Ruhe in Bewegung auseinanderfalten. In intensiven Fallbeschreibungen, die bekanntlich immer etwas von einer Novelle haben, 19 kann man sich diesem ›springenden Punkt‹ eher annähern. Das Wirken sunder warumbe gilt für Eckhart auch Gott gegenüber. Wenn Eckhart öfter ermahnt, alles rein »um Gottes willen« zu tun, so fällt dieses Meinen Gottes auch unter das Richtmaß: »ohne Wozu und Warum«. Für ihn steht also das, was man landläufig »um Gottes willen« tut, gerade nicht unter der Intention des Gehorchens oder des Gefallen-Wollens. »Ich sage in Wahrheit: Solange du deine Werke um des Himmelreichs willen oder um Gottes willen oder um deiner ewigen Seligkeit willen, [also] außenbestimmt wirkst, steht es wahrlich nicht richtig mit dir. Man kann dich dennoch gerne mögen, doch ist es das Beste nicht.« 20

Eckhart zeigt also hier wie auch sonst Verständnis für Menschen, die den traditionellen Frömmigkeitsformen folgen, auch wenn er sich selbst davon abhebt. Der Grund für Eckharts Kritik: Einer solchen Einstellung liegt ein fragwürdiges Gottesbild zugrunde. Man betrachtet damit Gott als ein außen stehendes Gegenüber oder gar als einen Gegenstand. »Denn wahrlich, wer von Gott mehr zu bekommen glaubt in Innigkeit, in Andacht, in süßen Gefühlen und in besonderen Gnadengaben als beim [Herd-]Feuer oder im Stalle –, so tust du nichts anderes, als wenn du Gott hernähmst und ihm einen Mantel um das Haupt wickeltest und ihn unter eine Bank stießest.« 21 Freud, Sigmund und Josef Breuer: Studien über Hysterie. Pr. 5b; 90,12–91,3: Ich spriche wærlîche: al die wîle dû dîniu werk würkest umbe himelrîche oder umbe got oder umbe dîn êwige sælicheit von ûzen zuo, sô ist dir wærlîche unreht. Man mac dich aber wol lîden, doch ist ez daz beste niht. 21 Pr. 5b; 91,3–7: Wan wærlîche, swer gotes mê wænet bekomen in innerkeit, in andâht, in süezicheit und in sunderlîcher zuovüegunge dan bî dem viure oder in dem stalle, sô tuost dû niht anders dan ob dû got næmest und wündest im einen mantel umbe daz houbet und stiezest in under einen bank. 19 20

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3. Eckharts Rede von Gott

Auch wenn Eckhart hier, logisch gesehen, sprunghaft redet – oder, rhetorisch gesehen, in einer Ellipse –, ist die Sache klar: Wer Gott als ›Gegenstand‹ nimmt, benützt ihn zu seinem eigenen Zweck, holt ihn hervor oder schiebt ihn beiseite, wie er ihn braucht oder nicht braucht. Paradox und, frömmigkeitsgeschichtlich gesehen, provozierend ist, dass Eckhart gerade die Gruppe seiner Zuhörer kritisiert, wahrscheinlich die Mehrheit, die das Sakrale dem Profanen vorziehen oder das Mystische in besonderen Räumen und Zuständen suchen. Er hält ihnen vor, sie nähmen Gott als einen Gegenstand. Mit dieser Unterstellung sind hier zwar zunächst die ›Frommen‹ angesprochen; sie trifft aber ebenso die ›Profanen‹, und gerade das ist heute, religionskritisch gesehen, bedenkenswert. In einer anderen Predigt stellt Eckhart die Gottesbeziehung, wie er sie sieht, ungewohnt radikal dar, und zwar wiederum in Abgrenzung von der üblichen Erwartung. Die könnte lauten, man solle Jesus nachfolgen und ihm gleich zu werden versuchen, und das ist natürlich das Ethos der Nachfolge-Christi-Frömmigkeit. Eckhart aber sagt: »Wollt ihr Gott kennen, so sollt ihr nicht nur dem Sohn [Gottes] gleich sein, sondern ihr sollt der Sohn selber sein.« 22 Wiederum wird erkennbar, dass Eckhart nicht von einer idealen oder moralischen Leistung des Menschen ausgeht, in der er sich zu ›Gott‹ erhebt, dass er vielmehr von einer Wesensgleichheit oder sogar Identität Gottes und des wahren Menschen spricht. Den philosophischen Implikationen dieses Gedankens werden die nachfolgenden Kapitel nachgehen. Dem gewöhnlichen Menschenverstand ist aber diese Wirklichkeit so fremd, dass er sich lieber bei eingängigeren Vorstellungen aufhält. Deshalb mokiert sich Eckhart über diejenigen, die Gott als einen vermeintlich brauchbaren Gegenstand benützen: »Aber manche Menschen wollen Gott lieber mit den Augen ansehen, mit denen sie eine Kuh ansehen, und wollen Gott so lieben, wie sie eine Kuh lieben. Die liebst du wegen der Milch und des Käses und um deines eigenen Nutzens willen. So tun es auch all die Menschen, die Gott um des äußeren Reichtums oder um inneren Trostes willen lieben. Aber die lieben Gott nicht richtig, sondern sie lieben ihren eigenen Nutzen.« 23 Pr. 16b; 273,4–6: Ein geschrift sprichet: nieman bekennet den vater dan der sun, und dâ von, wellet ir got bekennen, sô sult ir niht aleine glîch sîn dem sune, sunder ir sult der sun selber sîn. 23 Pr. 16b; 274,1–6: Aber etlîche liute wellent got mit den ougen anesehen, als sie eine kuo anesehent, und wellent got alsô minnen, als sie eine kuo minnent. Die minnest du 22

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I. Hinfhrung: Eckhart frs 21. Jahrhundert

So könnte es auch ein moderner Religionskritiker sagen. Eckharts Spott über die Verdinglichung Gottes, sei es in materieller oder ideeller Weise, ist nur die Oberfläche des Gedankens. Der Kern- und Zielpunkt ist die Intentionslosigkeit oder, wie Eckhart es hier in den Blick nimmt, die Weiselosigkeit. Auch die Korrektur des utilitaristischen Gottesbildes steht unter dem Aspekt der Gottesbeziehung und darüber hinaus des Lebens sunder warumbe. Auf Gott bezogen heißt das: Wir sollen Gott ohne jede Weise, ohne Modus, nehmen. »Denn wer Gott in einer [bestimmten] Weise sucht, der empfängt die Weise und lässt Gott, der in der Weise verborgen ist.« 24 Ohne Weise Gott zu suchen, das heißt, sich auf Gott so zu beziehen, wie er in sich selber ist; denn in verschiedener »Weise«, das heißt dem Erkenntnisinteresse und Gebrauch der Menschen angepasst, ›erscheint‹ er nur für ›uns‹. Wem Gott »ohne Weise« aufgeht, der »lebt mit dem Sohn«. In anderer Formulierung könnte es auch heißen: Der ist der Sohn, oder: In dem ist Gott geboren. Dies alles sind Explikationen der Einheit Gottes und des Wesentlichen im Menschen. An dieser Stelle sagt Eckhart von einem solchen Menschen, der Gott ohne Weise oder sunder warumbe nimmt: »Er [dieser Mensch] ist das Leben selbst.« 25 Nun wird moderner Agnostizismus wiederum sagen, Absolutes, so auch ›Gott‹ in absoluter Seinsweise, sei per definitionem unbestimmbar, darum unerkennbar. Dem würde auch Eckhart zustimmen, das aber heißt für ihn nicht, dass man von Gott, wie vom Leben, nicht reden könnte. Was es heißt, Gott ohne Warum und Wozu zu nehmen, macht er an folgendem Gleichnis klar: »Wenn man tausend Jahre lang das Leben fragte: Wozu lebst du?, würde es antworten, es spräche nichts anderes als: Ich lebe, um zu leben. Das ist darum, weil Leben aus seinem eigenen Grunde lebt und aus sich selbst hervorquillt. Darum lebt es ohne Wozu, indem es sich selbst lebt. Wenn man nun einen wahren Menschen, der aus seinem eigenen Grund lebt, fragte: Wozu tust du,

umbe die milch und umbe die kæse und umbe dînen eigenen nutz. Alsô tuont alle die liute, die got minnent umbe ûzwendigen rîchtuom oder umbe inwendigen trôst; und die minnent got niht rehte, sunder sie minnent irn eigenen nutz. 24 Pr. 5b; 91,7 f.: Wan swer got suochet in wîse, der nimet die wîse und lât got, der in der wîse verborgen ist. 25 Pr. 5b; 81,8–10: Aber swer got suochet âne wîse, der nimet in, als er in im selber ist; und der mensche lebet mit dem sune, und er ist daz leben selbe.

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3. Eckharts Rede von Gott

was du tust?, würde er richtig antworten, spräche er nichts anderes als: Ich handle, um zu handeln.« 26

Wenn in diesem Gleichnis die Beziehung zu Gott mit der Beziehung zum Leben parallel gesetzt wird, so ist das nicht bloße Rhetorik. Gott ist das Leben, das ist bei Eckhart explizit gemeint, nicht als eine schmückende Beifügung, wie man vom ›lebendigen Gott‹ spricht, sondern es ist eine das Wesen bestimmende Gleichsetzung: Das Leben ist Gott, ja sogar: Mein Leben ist Gott. »Was ist Leben? Gottes Wesen ist mein Leben. Ist mein Leben Gottes Wesen, so muss Gottes Sein meins sein und Gottes Istheit meine Istheit, nicht weniger und nicht mehr.« 27 Es handelt sich hier nicht um überschäumende Aussagen, sondern um Versuche der Wesensbestimmung, wo Wesen nicht mehr eigentlich erfassbar ist. Wenn Eckhart in seiner ›Verteidigungsschrift‹ sich gelegentlich darauf berufen hat, seine Aussagen seien »emphatische Redeweise«, so liegt seinen Formulierungen doch eine präzise, freilich eigenwillige ›Metaphysik‹ zugrunde, wie er in der ›Verteidigungsschrift‹ nach der rhetorischen Einschränkung auch selbst erläutert. 28 Auch Eckharts Rechtfertigung des Satzes »Gottes Wesen ist mein Leben« im Prozess ist dem Wortlaut nach eine Beruhigung der Ankläger; in der Sache aber bekräftigt Eckhart seine Sicht der Identität. 29 26 Pr. 5b; 91,10–92,6: Swer daz leben vrâgete tûsent jâr: war umbe lebest dû? solte ez antwürten, ez spræche niht anders wan: ich lebe dar umbe, daz ich lebe. Daz ist dâ von, wan leben lebet ûzer sînem eigenen grunde und quillet ûzer sînem eigene; dar umbe lebet ez âne warumbe in dem, daz ez sich selber lebet. Swer nû vrâgete einen wârhaften menschen, der dâ würket ûz eigenem grunde: war umbe würkest dû dîniu werk? solte er rehte antwürten, er spræche niht anders dan: ich würke dar umbe, daz ich würke. 27 Pr. 6; 106,1–3: Waz ist leben? Gotes wesen ist mîn leben. Ist mîn leben gotes wesen, sô muoz daz gotes sîn mîn sîn und gotes isticheit mîn isticheit, noch minner noch mêr. 28 Responsio II n. 24; 323,20–324,3: Quod autem dicitur in fine deus sic esse proprius homini divino sicut sibimet deo, emphatica locutio est […]. Alioquin non essent opera dei in nobis nostra, nisi deus noster in nobis esset. Nulla enim operatio nostra est, nisi principium operationis nostrum sit, in nobis sit. – »Was aber am Ende [des Abschnitts] gesagt wird, Gott sei so dem göttlichen Menschen eigen wie Gott sich selbst [eigen ist], so ist das emphatische Redeweise. […] Anders wären die Werke Gottes in uns nicht unsere, wenn Gott nicht unser in uns wäre. Denn keine Handlung ist unsere, wenn nicht das Prinzip der Handlung unseres und nicht in uns wäre.« Zu Eckharts locutio emphatica siehe Köbele, Susanne: ›Ausdruck‹ im Mittelalter? Zur Geschichte eines übersehenen Begriffs. Mit Überlegungen zu einer ›emphatischen Ästhetik‹. 29 Siehe Responsio II n. 92; 340,3–8. Die Diskussion dieser Argumente folgt im Kap. 10, unten S. 226.

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I. Hinfhrung: Eckhart frs 21. Jahrhundert

Eine Textpassage, die der zitierten Gleichsetzung Gottes und ›meines‹ Lebens folgt, kann verdeutlichen, dass Eckhart nicht von der gewohnten Gegenüberstellung des Menschen und eines jenseitigen, gegenständlichen Gottes ausgeht. »Ich sprach kürzlich an diesem Orte, und es ist wahr: Was der Mensch von Außen bezieht oder empfängt, das ist nicht recht. Man soll Gott nicht verstehen und achten als außerhalb von einem selbst, sondern als mein eigen und als etwas, das in einem ist. Man soll auch nicht dienen oder handeln um irgendeines Wozu willen, weder um Gottes noch um seiner Ehre willen, einfach um nichts willen, was außerhalb von einem selbst ist, sondern nur um dessen willen, was eines Menschen eigenes Wesen und sein eigenes Leben in ihm ist. – Manche einfältige Menschen meinen, sie sollten Gott sehen, als stünde er da und sie hier. So ist es nicht. Gott und ich, wir sind eins. Durch Erkennen nehme ich Gott in mich auf, durch Lieben gehe ich in Gott ein.« 30

Wiederum wird eine Identität Gottes und des Menschen, hier sogar des »ich«, proklamiert. Gottes Leben und mein Leben sind dasselbe, mein Sein ist Gottes Sein. Durch Eckhart wird aber nicht nur die gewohnte Vorstellung von Gott aufgelöst, sondern damit zusammenhängend auch die des Menschen. Eine solche Relativierung geschieht zum Beispiel gerade da, wo die Gottesrede an ihre äußerste Grenze kommt. In der ›Armutspredigt‹, Nr. 52, ›Beati pauperes spiritu‹, spricht Eckhart von Gott, wie er, ohne Bestimmung durch eine geschöpfliche Relation, an sich ist – »als Gott nicht Gott war, da war Gott, was er war«; 31 in der ›Opferstockpredigt‹, Nr. 109, ›Nolite timere‹, nennt er dies die »Gottheit«. Diese absolute Gottheit unterscheidet er von dem Gott, der der Anfang der Geschöpfe ist – »da war Gott nicht Gott in sich selbst, sondern er war Gott in den Kreaturen«. 32 Diese Definition des auf die Schöpfung bezogenen Gottes wird gesteigert zu dem Satz: »Dass Gott Gott ist, dafür Pr. 6; 113,1–8: Ich sprach einest alhie und ist ouch wâr: waz der mensche ûzer im ziuhet oder nimet, dem ist unreht. Man ensol got niht nemen noch ahten ûzer im, sunder als mîn eigen und daz in im ist; noch man ensol dienen noch würken umbe kein warumbe, noch umbe got noch umbe sîn êre noch umbe nihtes niht, daz ûzer im sî, wan aleine umbe daz, daz sîn eigen wesen und sîn eigen leben ist in im. – Sumlîche einveltige liute wænent, sie süln got sehen, als er dâ stande und sie hie. Des enist niht. Got und ich wir sîn ein. Mit bekennenden nime ich got in mich, mit minnenne gân ich in got. 31 Pr. 52; ed. Steer, 172,7: wan ê die crêatûren wâren, dô enwas got niht got, mêr: er was, daz er was. 32 Pr. 52; ed. Steer, 172,10 f.: dô enwas got niht got in im selben, mêr: er was got in den crêatûren. 30

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3. Eckharts Rede von Gott

bin ich der Grund. Wäre ich nicht, so wäre Gott nicht. Das zu wissen ist nicht notwendig.« 33 Durch diesen un-theistischen Satz kann sich mancher Atheist bestätigt finden, der mit Feuerbach meint, dass der Mensch Gott nach seinem Bilde geschaffen habe. Aber er sollte dann nicht übersehen, dass Eckharts »Durchbruch« sowohl diese relative Gottesvorstellung als auch dieses Menschsein hinter sich lassen will. »In diesem Durchbruch, da ich ohne meinen Willen im Willen Gottes stehe und ohne den Willen Gottes da stehe und ohne alle Werke Gottes und ohne Gott selbst, da bin ich über allen Geschöpfen und bin weder Gott noch Geschöpf, sondern ich bin, was ich war und was ich jetzt und allezeit bleiben werde.« 34

Eckhart spricht hier also von der reinen Existenz, die sich nicht als dies oder das versteht und aus diesem vermeintlichen Etwas-Sein seine Würde und seinen Rang bezieht. Er meint eine Weise des Seins, die ohne auf ein Etwas-Sein zu rekurrieren, nur i s t (siehe dazu Kap. 9 und 10). Nicht von ungefähr werden in dieser reinen Istheit Anklänge an das Zen gefunden. Es ist aber auch nicht zu übersehen, dass ein sprachlicher Archetypus dieser Seinsprädikation in dem Satz »Ich bin der Ich bin« wiedergefunden werden kann. Wie das alles zu verstehen ist, ist der Gegenstand der weiteren Ausführungen dieses Buches. Vorläufig mag es genügen, dass Eckhart sagt: »Das zu wissen ist nicht notwendig.« Eckhart spricht und schreibt nicht für den ›gewöhnlichen Christen‹. Eckhart nennt sie grobe liute, das heißt ›gedankenlose Menschen, die den allgemeinen Meinungen anhängen‹. 35 Er adressiert seine Predigt an denjenigen, der über die gewohnte Christenlehre hinaus spirituell und philosophisch in das Geheimnis Gottes einzudringen versucht. Insofern ist Eckhart, mit Kurt Flasch gesprochen, ein »Philosoph des Christentums«. Dieser Titel ist aber nicht einschränkend zu verstehen, als wäre Eckhart nichts weiter als ein klassischer Philosoph. Vielmehr ist damit in Eckharts Sinn eine Pr. 52; ed. Steer, 178,14 f.: Daz got got ist, des bin ich ein sache; enwære ich niht, sô enwære got niht got. Diz ze wizzenne des enist niht nôt. 34 Pr. 52; ed. Steer, 178,19–23: Mêr: in dem durchbrechenn, dâ ich ledic stân mînes willen in dem willen gotes und ledic stân des willen gotes und aller sîner werke und gotes selben, sô bin ich ob allen crêatûren und enbin noch got noch crêatûre, mêr: ich bin, daz ich was und daz ich blîben sol nû und iemermê. 35 Pr. 4; 67,6: Diz sprechent gemeinlîche grobe liute. 33

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I. Hinfhrung: Eckhart frs 21. Jahrhundert

Überbietung angestrebt, die sowohl das traditionell Philosophische wie das Theologische hinter sich lässt. Manchem vom Dogmatismus der Christenheit enttäuschten Eckhartfreund mag es scheinen, als hätte Eckhart sich vom Christentum ganz entfernt und eine überkonfessionelle reine Gotteserfahrung gelehrt. Das ist im Letzten wahr, insofern die Erfahrung der absoluten Gottheit keine konfessionellen Unterschiede kennen kann. Aber obwohl Eckhart zahlreiche christlich-dogmatische Positionen mit Schweigen übergeht, ist nicht zu übersehen, dass er der Meinung war, aus dem Herzen der christlichen Wahrheit zu sprechen, aus der Inkarnation des Wortes Gottes. Der Glaube ist für Eckhart nur eine vorbereitende Weise der Verbindung mit Gott. Eckhart erläutert das in der Erklärung des Prologs zum Johannesevangelium zu dem Satz: »Alle aber, die ihn aufnahmen, denen gab er Macht, Söhne Gottes zu werden, die an seinen Namen glauben« (Joh. 1,12). Eckhart wendet sich dem Einschub zu: »Der Zwischensatz aber, ›die an seinen Namen glauben‹, ist mit Bedacht gesagt. Man muss nämlich wissen, dass glauben und schauen bzw. vollkommen erkennen sich wie Meinung und Erweis zueinander verhalten, nämlich wie das Unvollendete zum Vollendeten. […] Daraus erhellt, dass der Glaubende noch nicht eigentlich Sohn ist; denn diesem kommt es zu, den Vater zu schauen und zu kennen (Matth. 11,27). Und doch ist er nicht ganz ohne Anteil an der Sohnschaft, vielmehr verhält er sich zu ihr wie die Disposition und das Unvollendete. […] Also ist das Glauben und der Glaube gleichsam eine Bewegung und ein Werden zum Sohnsein hin. Alles aber, was in Bewegung ist, war zuvor in Bewegung und wird in Bewegung sein und hat etwas vom Ausgangs- und Zielpunkt an sich.« 36

Der Glaube ist Vorbereitung und Disposition. Die Vollendungsform ist aber nicht, wie man erwarten könnte, die philosophische Einsicht, die ekstatische Erleuchtung oder die selige Gottesschau als Vorwegnahme der ewigen Seligkeit. Das Ziel ist das Sohn- oder Tochtersein. Dies aber ist ein Spezifikum der eckhartschen Ontologie, eine Umschreibung dafür, dass das Sein Gottes und des Menschen dasselbe ist. Eckhart spricht In Ioh. n. 158; 130,8–5: Quod autem interponitur: ›his qui credunt in nomine eius‹ signanter dictum est. Sciendum enim quod credere et videre sive perfecte cognoscere se habent quasi opinio et demonstratio, utpote imperfectum et perfectum. […] Ex quibus patet quod credens nondum est proprie filius, cuius est videre et noscere patrem, Matth. 11, nec tamen est expers omnino filiationis, sed se habet ad illam ut dispositio et imperfectum. […] Est ergo credere et fides quasi motus et fieri ad esse filium; omne autem quod movetur, movebatur et movebitur, utrumque terminum sapit.

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3. Eckharts Rede von Gott

zu solchen Zuhörern, die diese ontologische Prädikation verstehen wollen oder sollen. Sie können daraus besondere Freude gewinnen. Aber das ontologische Geschehen der Gottesgeburt ist nicht für eine Elite gedacht, sondern für jedermann. Dieses Verstehen oder Wissen ist nicht Bedingung für einen herausgehobenen Gnadenzustand. Sohn oder Tochter Gottes zu sein, ist allen Menschen geschenkt, die Christus zu seinen Freunden, nicht zu Knechten gemacht hat, ob sie es wissen oder nicht. Das ist der Grund für Eckharts Toleranz denjenigen gegenüber, die an den traditionellen Frömmigkeits- und Glaubensvorstellungen festhalten. Auf seine Rede trifft allgemein zu, was er über die Abhängigkeit Gottes sagt, insofern er als Schöpfer gesehen wird: »Das zu wissen ist nicht notwendig.« Eckharts Toleranz gilt auch denen, die die radikalen ethischen Konsequenzen, die sich aus der ontologischen Gleichheit der Menschen und deren Einbezogenheit in den Willen Gottes ableiten, nicht erfüllen können. Aus dieser Einsicht sagt Eckhart: »Hätte ich den Mitmenschen wirklich so lieb wie mich selbst, was ihm dann zu Liebe oder Leid geschähe, sei es Tod oder Leben, es wäre mir gleich lieb, dass es mir geschähe wie ihm, und das wäre wahre Freundschaft.« 37 Eckhart weiß, dass nicht jeder eine so radikale Forderung erfüllen kann oder will: »Nun sagen manche: ›Ich habe meinen Freund, von dem mir Gutes geschieht, lieber als einen anderen Menschen.‹ Das ist nicht richtig. Es ist unvollkommen; doch muss man es dulden. [Es ist] wie bei manchen Menschen, die fahren mit halbem Wind [in den Segeln] übers Meer und kommen auch hinüber. So geht es den Menschen, die den einen Menschen lieber haben als den anderen. Das ist natürlich.« 38

Pr. 12; 195,11–13: Hæte ich in als rehte liep als mich selben, swaz im denne geschæhe ze liebe oder ze leide, ez wære tôt oder leben, daz wære mir als liep, daz ez mir geschæhe als im, und daz wære rehtiu vriuntschaft. 38 Pr. 12; 195, 6–11: Nû sprechent etlîche liute: ich hân mînen vriunt, von dem mir guot geschihet, lieber dan einen andern menschen. Im ist unreht, ez ist unvolkomen. Doch muoz man ez lîden, als etlîche liute, die varnt über sê mit halbem winde und koment ouch über. Alsô ist den liuten, die einen menschen lieber hânt dan den andern; daz ist natiurlich. 37

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Teil II. Philosophische Grundlagen

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Viertes Kapitel »Das Sein ist Gott.«

In seinem geplanten dreiteiligen Hauptwerk ›Opus tripartitum‹, das auf circa 1305 datiert wird, erklärt Eckhart als seine Hauptthese den Satz esse est deus, »Das Sein ist Gott«. 1 Der springende Punkt dieser These liegt in der Subjektstellung des Seins. »Das Sein ist Gott.« Es ist ein Satz über das Sein, erst sekundär über Gott. Die Umkehrung des gewohnten Aussagesinnes ist das Ungewöhnliche. »Gott ist das Sein selbst« oder »Sein ist der erste Name Gottes« sind Standardtheoreme der Scholastik, die in allen Pflichtvorlesungen des Theologiestudiums besprochen wurden, und zwar unter der Problemstellung ›Über die Einfachheit Gottes‹ und ›Über den ersten Namen Gottes‹ der Sentenzenkommentare. 2 Esse est deus spricht aber nicht von einer Bestimmung Gottes, nicht von seinem ersten Namen. Nicht wie gewöhnlich: »Sein ist der erste Name Gottes«, sondern gewissermaßen: »Gott ist der Name des Seins«, das heißt: Gott ist d i e Weise des Seins. Wenn wir Sein denken wollen, können wir den Begriff mit dem reichen Wesen und Leben Gottes erfüllt denken. So werden Menschen schließen, die, wie Eckhart, eine reiche Beziehung zu Gott haben. Für viele andere Menschen, zumindest in der gegenwärtigen europäischen Kultur, ist die Beziehung zu Gott eher durch tradierte Vorstellungen erschwert. Hier können wir Eckharts Vorschlag einsetzen: »Bei der Auslegung und beim Verständnis vieler Fragen ist oft die Vertauschung der Begriffe sinnvoll, besonders beim Göttlichen. Was nämlich in einem und unter einem Wort dunkel bleibt, ist unter einem anderen Wort

Prol. op. prop. n. 1–25; 41–55; Prol. gen. n. 12; 29,16–31,9; zur Hauptthese: Prol. gen. n. 22; 29,2–4. 2 Petrus Lombardus: Sententiae I, d. 8; z. B. Thomas von Aquin, In Sent. I d. 8, q. 1, a. 1: Utrum esse proprie dicatur de Deo; ebd. a. 3: Utrum hoc nomen »Qui est« sit primum inter nomina divina. 1

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II. Philosophische Grundlagen

klar einsichtig, wie im vorliegenden Fall, Gott sei das Sein in allem und überall.« 3 »So möge zum Beispiel der Name ›Gott‹, von dem unsere Predigt handelt, durch einen andern ersetzt werden. Nennen wir ihn das Sein, welches der eine Gott ist. Es steht fest, dass vom Sein selbst alle Dinge sind. Gleichermaßen sind durch das Sein alle Dinge und im Sein sind alle Dinge. Was nämlich außerhalb des Seins ist, das ist sicherlich nichts.« 4

Was also in und unter dem Namen »Gott« dunkel bleibt, kann unter dem Namen »Sein« klar werden. Daraus können wir entnehmen: Wenn wir nach Gott fragen, müssen wir zunächst gefragt haben, was Sein ist. Sein, im ganzen Umfang und Ursprung gedacht, ist dem Denken und Empfinden leichter zugänglich als Gott; denn niemand wird bestreiten, dass wir »aus, durch und im Sein« sind. Dabei muss Sein nicht als eine den Menschen und die Dinge durchdringende und fundierende Substanz gedacht werden, gleichsam als ein Urstoff, ein beherrschendes Baugerüst, Elementarteilchen oder eine Quintessenz. Dann wäre Sein ebenso substantialisiert oder verdinglicht wie gewöhnlich Gott. Vielmehr: Mein Sein ist nichts anderes als Ich-bin (siehe das zehnte Kapitel). Der Satz »Das Sein ist Gott« ist nach Eckharts eigenen Worten das Interpretationsprinzip sowohl für seine Gotteslehre wie für sein Verständnis des Menschen. Am Schluss des ›Allgemeinen Prologs zum dreifachen Werk‹ sagt er selbst, mithilfe dieser These könnten alle oder fast alle Fragen über Gott leicht aufgelöst werden; und was darüber [in der Theologie] geschrieben werde, meistens sogar das Dunkle und Schwierige, könne so mit natürlicher Begründung ausgelegt werden. 5 Welche geistigen Räume dieser Schlüssel aufschließt, erklärt er in drei In Sap. n. 142; 480,4–7: Ubi valde notandum: in multis exponendis et intelligendis quaestionibus frequenter valet mutatio terminorum, maxime in divinis. Quod enim in uno et sub uno nomine latet obscurum, sub alio nomine patet manifestum, ut in proposito, cum dicimus deum esse in omnibus et ubique. 4 Sermo II,2 n. 13; 14,10–14: Verbi gratia varietur nomen dei, de quo nobis sermo. Dicamus esse, quod unus est deus. Constat quod ab ipso esse sunt omnia. Similiter per esse sunt omnia et in esse sunt omnia. Quod enim extra esse est, utique nihil est. Zum Ersatz des Namens »Gott« durch »Sein« siehe auch In Eccli. n. 67; 296,7 f.; In Sap. n. 145; 483,4 f. 5 Prol. gen. n. 22; 39,2–4: Postremo notandum quod ex praemissa prima propositione, si bene deducantur, omnia aut fere omnia, quae de deo quaeruntur, facile solvuntur, et quae de ipso scribuntur – plerumque etiam obscura et difficilia – naturali ratione clare exponuntur. 3

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4. »Das Sein ist Gott.«

»Vorbemerkungen« »zum Verständnis« der These »Das Sein ist Gott«. Diese Vorbemerkungen sollen Interpretationsgrundsätze für sein ganzes Denken sein, das heißt für sein Vorverständnis des Sinns von »Sein«. Eckharts Grundsatz »Das Sein ist Gott« wird, wie er sagt, verständlich, wenn man diese folgenden Vorbemerkungen berücksichtigt. 6

Eckharts erste Vorbemerkung: Die Erstbestimmungen Die Allgemeinbestimmungen des Seins (termini oder perfectiones generales), sagt Eckhart zunächst, sind nicht nach dem Muster von Akzidenzien zu verstehen, das heißt, sie sind nicht nähere Bestimmungen einer Substanz. Was Eckhart hier Allgemeinbestimmungen nennt, heißt in der klassischen Metaphysik transcendentia. Trans-, das heißt hier jenseits der logischen Aussagemuster, der Kategorien. An dieser Stelle werden als Erstbestimmungen »Sein, Einheit, Wahrheit, Weisheit, Güte und Ähnliche« genannt. Zu den Ähnlichen gehört allen voran die Gerechtigkeit. Unter dem Oberbegriff der »Vollkommenheit« werden demnach die klassischen Transzendentia (Sein, Einheit, Wahrheit, Güte) wie die geistigen Vollkommenheiten (Weisheit und Gerechtigkeit) vereinigt. Diese »Inkorporation der geistigen Vollkommenheiten in die Transzendentalienlehre« hat tiefgreifende Auswirkungen auf das Verständnis des Menschen und der Ethik. »Das Transzendente ist transzendental, das heißt allen Menschen gemein.« 7 Das heißt, diese Wesensmerkmale des Menschen, sein Sein, sein Gutsein, sein Weisesein und sein Gerechtsein, sind keine erworbenen oder angeborenen Eigenschaften des Menschen selbst. Sie treten nicht zu seinem Menschsein hinzu und könnten auch wieder verloren gehen, ohne dass der Mensch sein Menschsein verlöre. Mit anderen Worten: Sie empfangen ihr Sein nicht vom Subjekt: Nicht der (seiende) Mensch ist demnach Grund seines wesentlichen Seins. Anders gesagt: Dass der Mensch faktisch existiert, macht ihn nicht zu einem wirklichen, seinem Wesen entsprechenden Menschen. Ein wirklicher Mensch wird der faktisch vorhandene Mensch erst, wenn er dem wahren Menschsein, das Vgl. Prol. gen. n. 8–11; 25,15–29,15; ähnlich Prol. op. prop. n. 1–25; 41,6–57,5. Prol. gen. n. 8; 25,15: Ad evidentiam igitur dicendorum tria sunt praemittenda. 7 Aertsen, Jan A.: Meister Eckhart. Eine außerordentliche Metaphysik, hier S. 16 f. 6

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II. Philosophische Grundlagen

heißt hier seiner Vernunftbestimmtheit, entspricht, auch wenn ein solcher Gedanke heute als ›Essentialismus‹ verpönt wird. Für Eckhart gilt aber auch: Nicht der Mensch macht den weisen Menschen weise. Solche Wesensauszeichnungen wie Weisheit, Gutsein, Gerechtsein verändern sich nicht, vergehen nicht und bestehen nicht gemäß den Seinszuständen des Subjekts. ›Wesenseigenschaften‹ 8 dieser Art kommen also laut Eckhart dem Menschen nicht im Nachhinein zu, so wie sein Alter, seine Größe und seine Haarfarbe. Dass das Sein i s t , empfängt es nämlich nicht in oder von einem Etwas. Anders ist es zum Beispiel bei dem Akzidens, blaue Augen zu haben. Das besteht nur so lange wie der Mensch, zu dem es gehört; aber der Mensch könnte auch weiter bestehen, wenn er die Augenfarbe verlöre. Vielmehr sind Sein, Gutsein, Wahrsein ontologisch vor dem Seienden. Das heißt: Vom Sein hängt alles ab; es selbst aber nicht von einem anderen. Es ist unmittelbar von der Erstursache, die ja wiederum Sein ist. Der traditionelle Begriff Ursache ist in Eckharts eigenem Denken nicht mehr stimmig; er benützt ihn und deutet ihn um. Sein ist ›vom‹ Sein; denn ein anderes als das Sein wäre nicht oder nichts. Das heißt: Sein ist durch sich selbst Sein, das aber trifft nur auf das göttliche Sein selbst zu: »Sein ist Gott.« Es ist das Wirken, die Vervollkommnung und die Wirklichkeit (actualitas) von allem. 9

Thomas von Aquin benützt den Begriff bonum substantiale im Unterschied zum bonum accidentiale. Eckhart wählt perfectio generalis. 9 Prol. gen. n. 8; 25,22–27,4: Non enim ipsum esse et quae cum ipso convertibiliter idem sunt, superveniunt rebus tamquam posteriora, sed sunt priora omnibus in rebus. Ipsum enim esse non accipit quod sit in aliquo nec ab aliquo nec per aliquid, nec advenit nec supervenit alicui, sed praevenit et prius est omnium. Propter quod esse omnium est immediate a causa prima et a causa universali omnium. Ab ipso igitur esse ›et per ipsum et in ipso sunt omnia‹, ipsum non ab alio. Quod enim aliud est ab esse, non est aut nihil est. Ipsum enim esse comparatur ad omnia sicut actus et perfectio et est ipsa actualitas omnium, etiam formarum. – »Denn das Sein selbst und was mit ihm bis zur Vertauschbarkeit identisch ist, kommt nicht wie etwas Späteres zu den Dingen hinzu, sondern ist früher als alles andere in den Dingen. Denn das Sein selbst empfängt sein Sein nicht an etwas noch von etwas noch durch etwas noch kommt es (von außen) herbei noch zu etwas hinzu, sondern es geht voraus und ist früher als alles. Deshalb ist das Sein aller Dinge unmittelbar von der ersten Ursache und von der allumfassenden Ursache aller Dinge. Vom Sein also ›und durch es und in ihm ist alles‹ (Röm. 11,36), es selbst aber ist von nichts anderem. Denn was verschieden ist vom Sein, ist nicht oder ist nichts. Denn das Sein als solches verhält sich zu allem anderen wie dessen Verwirklichung und Vollendung, ja es ist die Wirklichkeit aller Dinge, auch der Formen.« 8

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4. »Das Sein ist Gott.«

Eckharts zweite Vorbemerkung: Das Obere im Niederen In welcher Weise das Sein auf das einzelne Seiende bezogen ist, wird in der zweiten Vorbemerkung angedeutet. 10 Darin wird das Zusammenwirken des Oberen und Niederen skizziert. Es geht um das Verhältnis des Vorgeordneten und Nachgeordneten im menschlichen Geist oder auch um das Verhältnis des Ganzen zu seinen Teilen. Die These klingt auf den ersten Blick ungewohnt: »Zweitens ist vorauszuschicken, dass ganz allgemein das Frühere und Obere durchaus nichts von dem Späteren empfängt, ja es wird auch von nichts affiziert, das in diesem [Nachgeordneten] ist. Sondern umgekehrt affiziert das Frühere und Obere das Untere und Spätere und steigt mit seinen Eigenarten in das Spätere herab und gleicht dieses sich selbst an, insofern die Ursache das Begründete und das Aktive das Passive [sich angleicht]. Denn im Wesen des Ersten und Oberen liegt es, da es ›von Natur reich‹ 11 ist, das Untere mit seinen Eigenschaften, zwischen denen Einheit und Ungeteiltheit besteht, zu beeinflussen und zu affizieren. Immer ist das geteilte Untere im Oberen eins und ungeteilt. Daraus erhellt, dass das Obere in keiner Weise im Unteren aufgeteilt wird, sondern es bleibt ungeteilt, und es versammelt und eint das im Unteren Geteilte.« 12

Man mag fragen, wie diese Betrachtungsweise mit dem modernen naturwissenschaftlichen Prinzip der Reduktion und dem kausalen, entwicklungsstrukturellen Aufbau der realen Welt auf der Basis von fundamentalen Entwicklungsstufen oder Schichtungen zusammenstimmt. Eckhart sieht das »Nachgeordnete und Untere« in dem »Früheren und Oberen« begründet. Für den evolutionistisch denkenden Menschen sind die Paare anders zusammengesetzt: Das Frühere gehört zum Niederen, insofern die Entwicklung von niedriger strukturierten und weniger differenzierten Zuständen der Materie zu komplexeren, das heißt Prol. gen. n. 10; 27,18–29,5. ›Liber de causis‹, These 20. 12 Prol. gen. n. 10; 27,19–26: Secundo est praenotandum quod universaliter priora et superiora nihil prorsus accipiunt a posterioribus, sed nec ab aliquo afficiuntur quod sit in illis; sed e converso priora et superiora afficiunt inferiora et posteriora et in ipsa descendunt cum suis proprietatibus et ipsa sibi assimilant, utpote causa causatum et agens passum. De ratione enim primi et superioris, cum sit »dives per se« [›Liber de causis‹, These 20], est influere et afficere inferiora suis proprietatibus, inter quas est unitas et indivisio. Semper enim divisum inferius unum est et indivisum in superiori. Ex quo patet quod superius nullo modo dividitur in inferioribus, sed manens indivisum colligit et unit divisa in inferioribus. 10 11

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in der Entwicklungsreihe zu späteren und höheren Erscheinungsformen schreitet. Eckhart hat hier andere Strukturzusammenhänge im Auge: Das Frühere und Obere affiziert das Untere und Spätere und das Obere steigt in das Untere hinab, wie das Zitat sagt. Eckhart kennt auch die aufsteigende Entwicklungsreihe in der Naturkausalität. 13 Aber die ontologischen Bezüge sieht er anders. Sowohl diese Terminologie wie auch das Denken dieser Begründungsstruktur erscheinen uns zunächst fremd. Wenn aber Eckhart ein Beispiel für seine These anführt, wird vielleicht verständlich, was er meint. Und darin zeigt sich auch, was seine Sichtweise in den Blick rücken will und was andererseits in der modernen Gegensicht unbeachtet bleiben kann. »Ein einleuchtendes Beispiel für das Gesagte findet sich in den Teilen eines Lebewesens, in die sich die Seele nicht aufteilt; vielmehr bleibt diese ungeteilt und sie vereint die einzelnen Teile in sich, sodass sie die eine Seele, das eine Leben, das eine Sein und das eine Lebendigsein der Teile ist.« 14

Dieses Beispiel gibt dem modernen Leser einen Fingerzeig für das Verständnis. Eckhart betrachtet den Menschen in der Ganzheit seines Daseins. Die Medizin und weite Bereiche der Psychologie kümmern sich um das Funktionieren und das Zusammenspiel der Teile des menschlichen Apparates. Es wird selten nach dem ›geistigen Band‹ gefragt. Wenig kümmert die Wissenschaften vom Menschen heute die ›Seele‹, das ›Ich‹ oder ›Selbst‹, das die Physiologie seiner Organe und das Zusammenspiel oder das Versagen seiner psychischen Funktionen erlebt und erleidet, allein und subjektiv, für und in sich. Und wenn die Struktur des Ich oder das Werden des Selbst untersucht werden, sucht die Wissenschaft weiterhin allgemeine Kriterien oder Strukturkomponenten, um das Subjektive zu objektivieren. Aber selbst wenn mir die Genetiker, Neuropsychologen und Psychoanalytiker noch so genau und Vgl. In Ex. n. 137; 125,8–15: Operatio autem naturae sive generatio e converso incipit ab imperfecto, et quo finis est vicinior, tanto perfectior; et e converso: quanto principio est vicinior, tanto est imperfectior et tardior. Propter quod motus naturalis in principio est tardior et remissior, in fine vero velocior. – »Wirken und Werden der Natur aber beginnt umgekehrt mit dem Unvollkommenen und ist desto vollkommener, je näher es dem Ziel ist; und umgekehrt: Je näher es dem Ursprung ist, desto unvollkommener und langsamer ist es. Deswegen ist die natürliche Bewegung im Anfang langsamer und schlaffer, am Ende aber schneller.« 14 Prol. gen. n. 10; 27,26–29: Exemplum evidens praemissorum est in partibus animalis, in quibus dividitur non anima, sed manens indivisa singulas partes in se unit, ut ipsarum sit una anima, una vita, unum esse et unum vivere. 13

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unwiderlegbar erklären könnten, warum ich an einer Herzinsuffizienz und an Panikattacken leide – sogar wenn sie mir durch ihre Mittel objektiv helfen können: Die Angst, die Verzweiflung und die Hoffnung erleide ich doch allein für mich und in mir. Und hierin kann ich erleben, was Eckhart sagt: dass mein Erleben in jedem Körperteil und in jedem Moment ganz und ungeteilt ist. Denn wenn mir in der Panikattacke eng wird, werden im Körper nicht mein Herz und meine Lungen ›eingeschnürt‹, sondern in meinem Erleben fühle ›ich selbst‹ und nicht meine Lunge die Angst und die Enge in meiner Brust. Außerdem ist hier anzuführen, was die Gestalttheorie unter dem Satz erfasst: »Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.« Eckharts Beispiel von der Seele, die sich nicht in einzelne Teile zersplittert, sondern diese in sich aufnimmt und vereint, zeigt eine Realisierung dieses Prinzips. Wenn wir auf einen Menschen zugehen, richten wir unsere Aufmerksamkeit zunächst nicht auf einzelne Auffälligkeiten, sondern begegnen ihm als der Gestalt »Rebekka« oder »Kurt«. Es ist vielmehr unangenehm und indiskret, wenn jemand mir offensichtlich geradewegs auf eine Missbildung schaut, und umgekehrt empfinde ich es als eine Störung, wenn ich selbst als der Betroffene nicht von einer Selbstfixierung auf eine Unregelmäßigkeit an mir selbst loskomme oder wenn ich als Beobachter von einer Auffälligkeit an einem Gesprächspartner gefesselt bin, die die Gestalt zu zerbrechen droht. Die Vereinigung der einzelnen Teile in der Gestalt nennt Eckhart »die eine Seele, das eine Leben, ein sein und ein leben« 15 (una anima et una vita; unum esse et unum vivere). Wieder ist zu sehen, wie Eckhart die nach Substanz klingenden Begriffe, die Seele und das Leben, verdeutlicht und überbietet durch die Vollzüge »sein« und »leben«. Eckharts Beispiel erinnert an die Sichtweise Alfred Adlers, der das Individuum grundsätzlich nur in seiner Lebensbewegung, nicht in seinen Persönlichkeitsmerkmalen, erfassen wollte und der Überzeugung war, dass das Ganze des »Lebensstils« eines Menschen sich in jedem einzelnen seelischen Phänomen zeige. Für Eckharts Verständnis der Ontologie und Phänomenologie des Lebens wird jener Hinweis in dieser zweiten Vorbemerkung wichtig sein, der bereits zitiert wurde: Im ontischen und naturwissenschaftlichen Bereich gibt es vor allem den Aufstieg vom Niederen zum »sein« und »leben« sind hier klein geschrieben, um Eckharts Verbalformen wiederzugeben.

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Oberen, 16 nicht so im Geistigen und Ontologischen: »Sondern umgekehrt entzündet [hier] das Frühere und Obere das Untere und Spätere und steigt mit seinen Eigenarten in das Spätere herab und gleicht dieses sich selbst an, insofern die Ursache das Begründete und das Aktive das Passive [sich angleicht].« 17 In diesem Satz deutet sich eine Immanenz des Ideellen oder Transzendentalen im Faktischen oder Empirischen an, die auch die Immanenz des Göttlichen im Menschen begründet. Die gewohnte metaphysische Trennung von Diesseits und Jenseits ist damit aufgehoben. Es wird immer wieder zu fragen sein, wie das Obere im Unteren, das Ganze im Teil, die Idee im Faktischen, die Gerechtigkeit im Gerechten, Gott im Menschen/Sohn sich zeigt. Es ist hier schon zu ahnen, dass dies zugleich die Frage nach der Geburt Gottes in der Seele ist.

Eckharts dritte Vorbemerkung: Kein Sachverstndnis ohne Prinzipienerkenntnis Diese Vorbemerkung sagt kurz, dass der zweite und dritte Teil des geplanten ›Opus tripartitum‹ ohne das vorausgehende Thesenwerk von geringem Nutzen sei; denn die Erörterung der theologischen Probleme und die Auslegung der Schriftworte gründeten sich auf jeweils eine der im ersten Teil gesammelten Thesen. Nun liegt uns aber von Eckharts geplantem Hauptwerk nur der dritte Teil ausgeführt vor, die Bibelauslegungen. Ein Quästionenwerk ist nicht erhalten, wenngleich es sich wahrscheinlich im Wesentlichen auf Eckharts Universitätsvorlesungen, das heißt auf den verloren gegangenen oder nicht veröffentlichten Sentenzenkommentar, gestützt hätte. Freilich gehen theologische und philosophische Problemerörterungen in die Bibelauslegungen ein. Umso bedauerlicher ist es, dass auch Eckharts Thesenwerk nicht überliefert, vielleicht auch gar nicht geschrieben wurde. Von ihm kennen wir nur den Problemaufriss. Dessen inhaltliche Ausrichtung muss aus Eckharts Entwürfen in den Vorworten zum ›Dreiteiligen Werk‹ und

Siehe Anm. 13. Prol. gen. n. 10; 27,19–21: Sed e converso priora et superiora afficiunt inferiora et posteriora et in ipsa descendunt cum suis proprietatibus et ipsa sibi assimulant, utpote causa causatum et agens passum.

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aus entsprechenden Stellungnahmen seiner Bibelkommentare erschlossen werden. 18 Der Hinweis Eckharts ist aber mehr als ein Lektüreleitfaden. Da das Thesenwerk Eckharts Transzendentalienlehre enthalten hätte, besagt seine dritte Vorbemerkung, dass seine theologischen und philosophischen Ausführungen immer auf die P r i n z i p i e n seiner Philosophie zurückbezogen werden müssen. Das gilt auch für das deutsche und lateinische Predigtwerk. Insofern ist Eckharts Theologie und Spiritualität philosophisch, als sie sich auf fundamentalen ontologischen Prinzipien aufbaut. Diese greifen aber in die Gotteslehre, die Ethik und in die christliche Frömmigkeit ein. Der philosophischen Grundlegung haben wir uns in einem ersten Schritt durch die Diskussion seiner drei Vorbemerkungen zur Seinsthese (etwa 1305) angenähert. In einem zweiten Schritt soll die Grundsatzerklärung betrachtet werden, die Eckhart seiner Verteidigung im Kölner Prozess (1326) voranstellt. Es zeigt sich, dass das Fundament seines Denkens vom ersten Abschnitt seines wissenschaftlichen Wirkens, dem ersten Pariser Magisterium (und wahrscheinlich schon zuvor), bis zu seinem Lebensende gleich geblieben ist und dass Eckhart diesen philosophischen Grundgedanken bei allen Einzelthemen klar vor Augen hatte und ihn auch als die Voraussetzung seiner Lehre proklamiert hat. Heidegger sagt: »Jeder Denker denkt nur einen einzigen Gedanken«. 19 Vielleicht ist es möglich, diesen »einzigen Gedanken« Eckharts herauszuarbeiten? 20

Die Grundsatzerklrung Eckharts zur ›Verteidigungsschrift‹ Eckhart beginnt mit einer Einleitung, 21 in der er dem Kölner Gericht die Zuständigkeit abspricht. Nebenbei wundert er sich, dass seine Ankläger nur zwölf Anklagepunkte aus seinem Genesiskommentar ausgewählt hätten, da er doch mehr als hundert Schriften verfasst habe, Dazu vor allem Aertsen, Jan A.: Der ›Systematiker‹ Eckhart; auch Goris, Wouter: Eckharts Entwurf des Opus tripartitum und seine Adressaten. Ein Überblick über die Selbstzitate bei Reffke, Ernst: Eckhartiana IV, S. 37–41. 19 Heidegger, Martin: Nietzsche I, S. 437 (Hervorhebung von Heidegger). 20 Siehe unten S. 98. 21 Responsio I n. 75–80; 275,1–277,5. 18

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die seine Gegner, ungebildet, wie sie sind, nicht begreifen könnten. Schließlich erklärt er, die ihm vorgehaltenen Thesen seien alle wahr, wenngleich die meisten »außergewöhnlich und diffizil« (rara et subtilia) seien. 22 Damit wiederholt er eine Charakterisierung seiner Schriften, die er schon im Vorwort zum ›Opus tripartitum‹ mitgeteilt hatte. 23 Sollte sie dort noch wie eine rhetorische Formel geklungen haben, so gewinnt die Aussage hier in der Verteidigungsschrift volle Überzeugungskraft. Er räumt ein, dass er sich irren könne; aber Ketzer könne er nicht sein, denn das erste sei eine Sache des Verstandes, das zweite eine Sache des Willens. 24 Responsio I n. 79; 276,21–23: Quantum igitur ad primum, secundum et tertium dico et fateor me illa dixisse et scripsisse et aestimo, sicut ex declaratione apparebit, omnia esse vera, quamvis rara sint plurima et subtilia. – »Zum ersten, zweiten und dritten [Exzerpt] sage und bekenne ich, dass ich diese [Sätze] gesagt und geschrieben habe, und ich schätze, wie aus der Erklärung hervorgehen wird, dass sie alle wahr sind, wenn sie auch meistens außergewöhnlich und subtil sind.« Diese Bemerkung bezieht sich auf die erste Sammlung von Anklagepunkten, die aus vier Quellen stammen: 1. dem ›Liber Benedictus‹, 2. seiner Rechtfertigung dieses Buches, 3. dem ›Genesiskommentar‹, 4. deutschen Predigten. Als wahr bezeichnet Eckhart hier zunächst die Thesen aus den ersten drei Schriften, die er freiwillig erläutere, obwohl er das Gericht nicht für zuständig hält (ebd. n. 125 f.; 293,1–15). Zu den Predigten will er nur eines sagen: dass er keinen der vorgelegten Sätze dem Wortlaut nach und sofern sie Falsches implizierten und nach Irrtum oder Häresie schmeckten, meine, festhalte oder gepredigt habe. Diesen Vorbehalt muss er machen, um dem Verdacht der Häresie vorzubeugen. »Ich trete aber dafür ein, dass in einigen von ihnen etwas Wahres berührt wird, das bei richtigem und gesundem Verständnis aufrecht erhalten werden kann.« – Hoc unum dico quod nullum eorum, sicut sonant et ut falsum implicant, errorem vel haeresim sapiunt, sentio nec sensi et tenui nec praedicavi. Fateor tamen quod in nonnullis eorum aliqua tanguntur vera, quae sub vero intellectu et sano possent sustineri (Responsio II n. 127; 293,20–23). Mit einem langen Augustinuszitat, weist er die Verantwortung dafür zurück, dass aus seinen Worten Irrtümer herausgelesen würden. Daran schließt er an: »Dennoch will ich ein Übriges tun und auf die einzelnen [beanstandeten] Sätze gesondert antworten.« – Ex abundanti tamen respondebo ad singulos articulos illos seorsum (Responsio II n. 127; 294,10). 23 Prol. gen. n. 2; 21,13: Novas, breves et faciles declarationes […] raras expositiones; – »neue, kurz gefasste und leicht fassbare Erklärungen […] außergewöhnliche Auslegungen«. Prol. gen. n. 7; 25,10–12: Advertendum autem est quod nonnulla in sequentibus propositionibus, quaestionibus et expositionibus primo aspectu monstruosa, dubia aut falsa apparebunt, secus autem si sollerter et studiosius pertractentur. – »Es ist aber zu beachten, dass manches aus den folgenden Thesen, Quästionen und Bibelauslegungen beim ersten Anblick ungeheuerlich, zweifelhaft oder falsch erscheinen wird, anders aber, wenn man es mit Scharfsinn und größerer Hingabe durchdenkt.« 24 Responsio I n. 80; 277,4 f.: Errare enim possum, haereticus esse non possum. Nam primum ad intellectum pertinet, secundum ad voluntatem. 22

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Dann folgen drei Grundsatzerklärungen »zum Verständnis des Vorhergehenden« 25 , das heißt zu Eckharts Wahrheitsanspruch und zur außergewöhnlichen und subtilen Qualität seiner Lehre. Zuerst erklärt er die Bedeutung des in quantum, »insofern«: Wenn auch in Gott mehrere Bestimmungen gleichzeitig zutreffen, zum Beispiel Sein und Erkennen, Wesenheit und Vaterschaft, so ist es doch möglich, sich mithilfe des »Insofern« ausschließlich auf eine dieser Bestimmungen, zum Beispiel auf die Vaterschaft, die den Sohn zeugt, zu beziehen. Dann ist in einem solchen Satz alles andere, das von dem genannten Begriff verschieden ist, ausgeschlossen, zum Beispiel hier die Wesenheit, die nicht zeugt. 26 Zweite Grundsatzerklärung: Dieses Vorverständnis gilt für solche Thesen Eckharts, in denen er zum Beispiel sagt, der gute Mensch, i n s o f e r n e r g u t i s t , sei ungeschaffen, oder der gerechte Mensch sei die Gerechtigkeit, [aber nur] insofern er gerecht ist; und in so weit sei der oder das Gute bzw. Gerechte Gott selbst. Eckharts spezieller Gedanke ist hier, man könne die Wesenseigenschaften »gut«, »gerecht« (und so weiter in der Reihe der mit dem Sein konvertiblen Erstbestimmungen) von den weiteren, das heißt von den akzidentellen Eigenschaften eines Menschen isolieren. ›Absolut‹ gut ist der Mensch also nicht etwa, indem er im Verbund mit all seinen vielen Eigenschaften ein unvollkommenes Geschöpf ist, sondern n u r i n s o f e r n wir auf den Ursprung und die Ermöglichung des Wesensvollzugs schauen. Diese beiden Dimensionen müssen unterschieden werden. Es handelt sich um die Dimension der ›transzendentalen‹ Ermöglichung, um das Gutsein, und um die Dimension der konkreten Realisierung des Guten. Das Ineinander dieser Dimensionen ist Thema dieses Buches. Das Gutsein ist die ›transzendentale‹ Ermöglichung des faktisch Guten. Responsio I n. 81; 277,6: Ad evidentiam igitur praemissorum tria notanda sunt. Responsio I n. 81; 277,7–13: Primum est quod li ›in quantum‹, reduplicatio scilicet, excludit omne aliud, omne alienum etiam secundum rationem a termino. Licet enim in deo sit idem esse et intelligere, dicimus tamen deum non esse malum, quamvis dicamus eum intelligere malum. Et quamvis in deo patre idem sit essentia et paternitas, non tamen generat in quantum essentia, sed in quantum pater, quamvis essentia sit radix generationis. – »Erstens: Das ›Insofern‹, also die Wiederholung, schließt alles Weitere, alles Fremde, sogar das bloß gedachte [Weitere], von einem Begriff aus. Zwar ist ja in Gott Sein und Denken dasselbe, aber trotzdem sagen wir, Gott sei nicht böse, selbst wenn wir sagen, dass er das Böse erkennt. Und obwohl in Gott die Wesenheit und die Vaterschaft dasselbe sind, zeugt er nicht, insofern er Wesenheit, sondern sofern er Vater ist, wenn auch die Wesenheit die Wurzel der Zeugung ist.«

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Im bloßen Hinblick auf das faktisch gute Geschehen und Handeln erschließt sich kein Erweis des ethisch Guten. Die Ethik ist für Eckhart keine Qualität der Handlung, wie sie sich darstellt, auch nicht des Ergebnisses, insofern aus gutem Wollen und Handeln gute Folgen erstehen. Die Frage: Wie soll ich handeln? kann nicht kasuistisch durch eine Schlussfolgerung aus Norm und Situation abgeleitet werden. Das Gute entsteht, wie noch zu erläutern sein wird, ohne Warum und Wozu aus dem augenblicklichen Impuls als »Geburt des Wortes«. Insofern lehrt Eckhart keine konkrete Ontologie, ebenso wenig eine konkrete Ethik, sondern fragt in allem nach dem Prinzip, das Seiendes, Gutes, Gerechtes möglich macht. Aufgrund dieser ersten beiden Erklärungen Eckharts im Vorspann zur Verteidigungsschrift können nach Meinung des Magisters zahlreiche Probleme gelöst werden, die durch die scheinbare Gleichsetzung von göttlichen und menschlichen Prädikationen den Pantheismusverdacht provozierten, zum Beispiel die göttliche Qualität der reinen Seinsbestimmungen im Menschen, also wahr, gut, gerecht; ferner die Ablehnung einer Wertehierarchie unter den Tugenden: gut, besser, am besten. Auch die Gottesgeburt in der Seele kann in der einfachsten Form aufgrund dieser philosophischen Voraussetzungen verstanden werden. 27 Aber offen bleiben wiederum Fragen: Wie kommt die Güte Gottes in den Menschen? Es ist nicht eine besondere metaphysische Einflussnahme, sondern eine Erfahrung des unmittelbaren Angerührtseins. In der Ursprungsbetrachtung, das heißt im Rahmen der Frage nach dem Ermöglichungsgrund, ist das Gute als Gutes ›transzendental‹ ; aber im Prozess des Entstehens oder in der Erfahrung des Menschen ist das wahre Gute im spontanen Entschluss da; ich kann keinen hinreichenden Grund dafür angeben. Das »Transzendentale« ist in Eckharts Denken nicht schlechthin transzendent. Anders als etwa bei Thomas von Aquin, für den die ersten Seinsbestimmungen (seiend, eins, wahr, gut) auf den Menschen analog zutreffen, sofern sie durch Teilhabe am vollkommenen Sein aufgrund der Wirkursächlichkeit Gottes abgeschwächt auch im Menschen präsent sind, 28 schließt Eckhart die Wirk- und Zielursachen im Bereich des Seins und Gottes aus. Das Vgl. Flasch, Kurt: Meister Eckhart – Philosoph des Christentums, S. 136 f., S. 119, 136, 274 mit Bezug auf Quaest. Par. I n. 4; 41,10–12: Die Weisheit ist nicht gemacht, sondern gezeugt (genita); siehe auch Witte, Karl Heinz: Von Straßburg nach Köln. 28 Zum Beispiel Thomas von Aquin, Summa theologiae I q. 44, a. 1. 27

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4. »Das Sein ist Gott.«

heißt: Auch im menschlichen Bereich sind die obersten Seinsauszeichnungen sunder warumbe, ohne Warum und Wozu. Vielmehr sind Sein, Gutsein, Gerechtsein usw. das absolute Sein, die Güte und Gerechtigkeit selbst, das heißt, sie sind unmittelbar Gott im guten und gerechten Menschen. 29 Es wird immer wieder zu fragen sein, wie das »Transzendentale« Eckharts im konkreten Menschen phänomenologisch-psychologisch erscheinen kann. Insofern schließt das Transzendentale das Empirische oder Immanente als dessen Gegenbegriffe nicht völlig aus. Mag es als Transzendentales, sprich: als Gutes, insofern etwas nichts als gut ist, unerfahrbar sein, so gibt es doch eine phänomenologisch-psychologische Äquivalenz. Diese Erfahrungsseite des Transzendentalen nenne ich c i s z e n d e n t a l . Die ›ciszendentale‹ Erfahrensweise ist demnach die Konkretisierung des Transzendentalen. Es handelt sich dabei nicht um Haltungen, Erlebnisse oder Erfahrungen, die wir anstreben, zu denen wir vordringen; vielmehr kommen sie zu uns, wir sind ihnen gegenüber rezeptiv oder passiv. Es ist eine andere Vokabel für die Erlebnisseite von Eckharts Metapher der »Geburt«. Die Nativität, die ›Geburtlichkeit‹ des Menschen bezeichnet eine durchgehende Conditio humana, nämlich sein unaufhörliches Ankommen oder Erwachen in der Präsenz, das jeder Selbstbestimmung immer schon vorausliegt. Die dritte Grundsatzerklärung geht einen Schritt weiter. Sie fasst wesentliche Elemente des ›Johanneskommentars‹ zusammen. Das Thema ist die Zeugung (gignens) oder das Handeln (agens). Sie haben zwei Merkmale. Erstens: »Jedes Zeugende, ja sogar jegliches Handelnde kommt nicht zur Ruhe und hört nicht auf, solange es seine Form dem Passiven oder Gezeugten einprägt, und so, eingeprägt, geschenkt und übermittelt, überträgt die Form das, worin sie besteht, und alles, was zu ihr gehört, also die Handlung und jegliche Eigenschaft. Darum gilt laut dem Philosophen: Bewegtwerden und Bewegung sind dasselbe, und was nicht berührt, handelt nicht.« 30 Vgl. Aertsen, Jan A.: Meister Eckhart. Eine außerordentliche Metaphysik. Responsio II n. 83; 278,7–12: Tertium est quod omne gignens, quin immo omne agens in quantum gignens et agens duo habet ad praesens. Primum est quod ipsum non quiescit naturaliter nec sistit, quousque inducat formam suam in passo et genito, qua inducta et ut sic data et communicata confert id quo est et omne quod illius est, operationem scilicet et proprietatem quamlibet. Hinc est quod secundum philosophum [Aristoteles, ›Metaphysik‹ IX, t. 14, c. 8; 1049 b 35] non contingit moveri quod non contingit motum esse, et quod non tangit non agit.

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Damit ist ausgedrückt, dass das Zeugen und jegliches Handeln nicht ein differentes Produkt, nicht ein für sich bestehendes Gewirktes erzeugen, sondern dass die Aktion oder das Zeugen im Passiven oder Gezeugten als Aktives und Zeugendes präsent ist. Mit anderen Worten: Das Handeln erzeugt ein Handeln, das Zeugen stiftet ein Weiterzeugen. Das zweite Merkmal des lebendigen Handelns konzentriert sich auf die Differenz von Zeugen und Gezeugtem oder Aktiv und Passiv. Zunächst wird die Differenz vonseiten des Aktiven bestimmt. »Jedes Handelnde, sofern es handelt, bzw. jedes Zeugende als solches ist ungezeugt, nicht gemacht, nicht geschaffen, da es nicht von einem anderen ist.« 31 Es ist leicht zu verstehen, dass Gott Vater ungezeugt ist. Er ist als Vater immer nur Zeugender, niemals Gezeugter. Das I n s o f e r n , i n q u a n t u m bedeutet aber, dass etwas nur in der besagten ›Funktion‹ betrachtet werden soll. Also etwas, das nicht nur handelnd oder zeugend existiert, soll nun aber nur in seinem Handeln oder Zeugen betrachtet werden. Dieser Fall wäre gegeben, wenn der Sohn, der gezeugt ist, auch als Zeugender agiert. Das aber entspricht nicht der gewohnten Sprachregelung. Aber Eckhart will es so: Der gezeugte Sohn ist auch weiterzeugend. Das wird Eckharts These in seiner ›späten‹ Gottesgeburtslehre (siehe Kap. 8). Man muss also die Beziehungsaspekte auseinanderhalten. Obwohl er in anderer Beziehung gezeugt ist, ist er – rein in seiner neuen »Handlung und in jeglicher Eigenschaft« betrachtet – ungezeugt, ungemacht, ungeschaffen. »Ja vielmehr als Zeugender, insofern er zeugt und aktives Prinzip ist, steht er in dieser Beziehung in Gegensatz zum Gezeugten, zum Kind, Sohn, Geschaffenen bzw. zum Sein von einem anderen.« 32 In diesem Vorspann zur Verteidigungsschrift spricht Eckhart allerdings nicht ausdrücklich von der Zeugung des Sohnes. Er will zeigen, dass die Beziehungsaspekte, die für die Trinität gelten, allgemeine Prinzipien des Geistes sind. Zur Verdeutlichung führt er hier das beliebte Beispiel des Hauses in der Vorstellung des Baumeisters an. Dieses vorgestellte Haus hat ebenfalls zwei Beziehungsrichtungen. Es kann nach seiner Herkunft aus der erworbenen Kenntnis (sozusagen als »gezeugtes« Haus) betrachtet werden und als

Responsio II n. 84; 278,14 f.: Secundum est quod omne agens in quantum agens sive gignens in quantum gignens est ingenitum, non factum nec creatum, quia non ab alio. 32 Responsio II n. 84; 279,1 f.: Quin immo gignens in quantum gignens et principium activum opponitur relative genito, proli, filio, creato, facto sive esse ab alio. 31

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4. »Das Sein ist Gott.«

Entwurf für das zu bauende Haus (»zeugend«). Hier spricht Eckhart von dem ersten dieser Aspekte: »Das Kunstgebilde, hier das Haus im Geiste des Künstlers, ist gewissermaßen ein gezeugtes Kind, gemacht und sozusagen von außen erschaffen, nämlich [als Abbild] von einem Haus oder [erbaut] von einem Baumeister. Aber als solches zeugt es nicht, ist nicht Vater, und kein produzierendes Prinzip, siehe Joh. 5[,19]: ›Der Sohn kann von sich aus nichts tun‹.« 33

An dieser Stelle beschränkt sich Eckhart im Beispiel auf das in der Idee des Baumeisters von außen konzipierte Bild des Hauses. Für den zweiten Aspekt, den er vorgestellt hat, das Aktive, Zeugende, bringt er hier kein Beispiel. Aber im ›Kommentar zum Johannesevangelium‹ legt er das Beispiel des Hauses im Geiste des Baumeisters, sofern es Modell für den Bau wird, auch für den zuvor aufgestellten Grundsatz aus. Dieser lautet, dass unter der Betrachtung des Weiterzeugens oder unter dem ausschließlichen Gesichtspunkt des Handelns der Zeugende oder Handelnde ungezeugt, nicht geschaffen, nicht von außen angestoßen, also reines Prinzip sei. Im weiteren Zusammenhang versucht Eckhart dort die Struktur der Dreifaltigkeit, um die es bei der Betrachtung des Zeugens und Gezeugtwerdens ja im Hintergrund geht, auch in den Prozessen der Natur aufzuspüren. 34 Zunächst aber zeigt er auf, dass auch das Haus im Geiste des Baumeisters, insofern es schöpferischer Entwurf des zu bauenden Hauses wird, »ursprungsloser Ursprung« (principium sine principio) ist, wenngleich der Entwurf aus dem Vorbild eines äußeren Hauses gewonnen sein kann. »Ein Beispiel für das hier Gesagte, dass nämlich der Ursprung a l s s o l c h e r ursprungslos und daher nicht geschaffen, nicht gezeugt und nicht hervorResponsio II n. 84; 279,2–5: Exempli gratia, forma artis, puta domus in mente artificis, est quaedam proles genita, facta et, ut sic dicam, creata ab extra, domo scilicet aut domificatore. Sed ut sic non est gignens nec pater nec principium producens, Ioh. 5: ›non potest filius a se facere quidquam‹. 34 In Ioh. n. 361; 306,5–9: Haec quidem octo et similia videntur contineri in verbis praemissis: »quem misit deus, verba dei loquitur; non enim ad mensuram dat deus spiritum« [Ioh. 3,34] et videntur consonare rationi naturali et inveniri in omni ente tam artis quam naturae, inquantum ens sunt et divinum. – »Diese acht Gründe [d. h. acht verbindliche Aussagen über die Trinität] nun und ähnliche sind augenscheinlich in den vorausgehenden Worten enthalten: ›Der, den Gott gesandt hat, redet Gottes Worte; denn Gott gibt den Geist nicht nach Maß‹ [Joh. 3,34]. Und sie stimmen offenbar auch mit dem natürlichen Verstand überein und lassen sich in jedem Seienden sowohl der Kunst wie der Natur finden, insofern sie etwas Seiendes und Göttliches sind.« 33

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II. Philosophische Grundlagen

gehend ist, sehen wir in der Kunst: Das Haus im Geist des Künstlers ist zwar erzeugt von dem Haus, das der Künstler draußen sieht, und von ihm hat er den Entwurf konzipiert, aber in dieser Weise ist [das innere Haus] nicht Ursprung und erzeugt nicht das Haus, sondern ist geboren oder gezeugt vom Haus draußen. In Bezug auf das Haus draußen aber, das er mit seiner Kunst schafft und draußen im Stoff hervorbringt, ist es [das Haus im Geist des Künstlers] ›Ursprung ohne Ursprung‹ und Zeugender oder Vater des Hauses und bringt es hervor, und a l s s o l c h e s ist es nicht gemacht, nicht gezeugt und nicht hervorgehend.« 35

Dieses Beispiel aus dem ›Johanneskommentar‹ verdeutlicht die Erklärung, die Eckhart in dem hier kommentierten grundsätzlichen Vorspann zu seiner ›Verteidigungsrede‹ vorträgt. Die Unterscheidung des Gezeugten/Passiven im Aktiven und des Zeugenden/Aktiven im Passiven, die aus der Distanz betrachtet wie eine Begriffsspielerei erscheinen könnten, begründen eine außergewöhnlich starke Hervorhebung der Kreativität und Spontaneität des menschlichen Bewusstseins. Die Zusammenfassung betont nochmals die Quintessenz der Grundsatzerklärung: das, was der Sache nach eins ist, kann in der Beziehungs- und Betrachtungsweise entgegengesetzt erscheinen. Für die Konstitution der menschlichen Selbsterfahrung wird bedeutsam sein, was Eckhart am Schluss dieser Erklärungen sagt: »Aktiv und Passiv sind zwar zwei gleich ursprüngliche Prinzipien, aber deren Bewegung ist nur eine; denn Bewegen und Bewegtwerden entstehen und vergehen – der Natur des einander Zugeordneten entsprechend – in einem zugleich.« 36 Das Ergebnis seiner Vorbemerkungen, bevor Eckhart die gegen ihn erhobenen Vorwürfe im Einzelnen bespricht, soll, wie oben erwähnt wurde, sein: Diese Grundsätze zeigen, dass seine Thesen wahr In Ioh. n. 363; 308,13–19: Exemplum autem huius quod dictum est, scilicet principium ut sic esse sine principio propter hoc non esse factum nec genitum nec procedens, videmus in arte: domus enim in mente artificis genita quidem est a domo, quam artifex extra vidit, et ab ipsa artem concepit, sed ut sic non est principium nec parit domum, sed est parta sive genita a domo extra. Respectu autem domus extra, quam ex arte facit et producit extra in materia »principium est sine principio« et parens sive pater domus et ipsam pariens, et ut sic non est facta nec genita nec procedens. 36 Responsio II n. 85; 279,6–10: Ex quo patet consequenter quod gignens et genitum unum sunt in re, opposita tamen et distincta relatione: sive relatione reali quidem in divinis, ubi ratio et res idem, in creaturis autem distinguuntur sola relatione et ratione. Et hoc est quod actio et passio duo quidem sunt principia aeque prima, sed motus unus. Movere enim et moveri simul oritur et moritur iuxta naturam relativorum. 35

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4. »Das Sein ist Gott.«

sind, und wer ihnen widerspreche, sei ungebildet und ehrfurchtslos. 37 Noch deutlicher wird Eckhart in einer weiteren kurzen Vorbemerkung zu seiner Erwiderung gegen eine nachträglich eingebrachte Liste neuer Vorwürfe: Wie auch in den zuvor widerlegten Anklagepunkten seien auch die nunmehr vorgelegten Sätze durchwegs oder fast immer falsch in dem Sinne, in dem die Ankläger sie läsen. 38 »Wenn sie aber vernünftig und ehrfürchtig verstanden werden, enthalten sie schöne und nutzbringende Wahrheit und sittliche Anleitung. Sie zeigen die Krankheit des Verstandes und die Bosheit der Gegner, ja sogar offene Blasphemie, geradezu Häresie, wenn hartnäckig verteidigt wird, [das Folgende] sei gegen die Lehre Christi, des Evangeliums, der Heiligen und der Kirchenlehrer; 39 und zwar 1. wenn sie sagen, der Mensch könne nicht mit Gott vereint werden 2. das Geschöpf sei nicht aus sich nichts, sondern nur etwas Geringes 3. Gott habe die Welt in einem anderen Nun erschaffen als in dem Nun der Ewigkeit 4. der äußere Akt füge dem inneren Akt irgendetwas moralisch Gutes hinzu 5. der Heilige Geist und seine Gnade werde einem Menschen gegeben, der nicht der Sohn Gottes ist.« 40

Die Diskussion der Vorbemerkungen, die Eckhart eigens seinen Ausführungen zum Satz »Das Sein ist Gott« und zu seiner ›Verteidigungsschrift‹ ad evidentiam, »damit sie einsichtig werden«, vorangestellt Responsio II n. 86; 279,11–14: Ex his igitur manifeste concludo veritatem omnium illorum, quae ex libris meis et dictis obiciuntur, concludo etiam ruditatem et impietatem contradicentium. 38 Responsio II n. 1; 318,3–6: Articuli qui sequuntur continentur in quodam rotulo mihi exhibito, postquam responderam articulis iam supra positis. Sciendum autem quod, sicut in prioribus articulis, sic et in his qui nunc sequuntur semper aut quasi falsi sunt et erronei in sensu, quo ipsos accipiunt qui illos obiciunt. 39 Responsio II n. 1; 318,6–10: Si autem sane intelligantur et pie, pulchram et utilem continent veritatem fidei et morum instructionem. Imbecillitatem intellectus aut malitiam adversariorum ostendunt, quin immo manifestam blasphemiam; haeresim autem, si pertinaciter defendantur, utpote contra doctrinam Christi, evangelii, sanctorum et doctorum. 40 Responsio II n. 2; 318,11–24: Puta, cum dicunt hominem non posse uniri deo; iterum, cum dicunt creaturam non esse nihil ex se, sed esse quid modicum […]; item tertio, cum dicunt deum creasse mundum in alio nunc quam in nunc aeternitatis […]; item quarto, cum dicunt actum exteriorem aliquid adicere bonitatis moralis actui interiori; item quinto, cum putant spiritum sanctum et eius gratiam dari homini, qui non sit filius dei […]. 37

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II. Philosophische Grundlagen

hat, sollte ins Zentrum des philosophischen Denkens Eckharts führen. Durch ihre herausgehobene Stellung und durch den Nachdruck, den er selbst diesen Erklärungen verleiht, signalisieren sie, dass Eckhart die besondere Eigenart seines Denkens, aber auch den Abstand zur durchschnittlichen Denkweise seiner Zeit sehr wohl vor Augen hatte. Am Schluss seiner Vorbemerkungen führt er uns zurück zur ersten These seines ›systematischen‹ Hauptwerks 41 : esse est deus, »Das Sein ist Gott«, und damit schließt sich auch für dieses Kapitel ein Bogen zu seinem Anfang. Eckhart sagt: »Was soll ich weiter sagen? Ebenso verhält es sich nämlich so ziemlich mit allem, wogegen sie Einwände haben, und zwar wenn es heißt: »Gott ist das Sein«, was sie fälschlich für falsch halten.« 42 Wenn wir Heideggers Anregung aufgreifen: »Jeder Denker denkt nur einen einzigen Gedanken«, 43 dann könnte dieser Gedanke Eckharts heißen: esse est deus – »Das Sein ist Gott.« Diese Wahrheit kann sich vielfältig ausdrücken. So wird eine Hauptaufgabe der folgenden Kapitel sein, in den Sinn dieses Satzes tiefer hineinzufragen. Der Satz fragt: Was ist das Sein? Und: Was ist Gott? Umgeformt heißt er auch: Gott ist in einer ausgezeichneten Weise im Seienden, nämlich als Sein. Diesen Satz gilt es als Ergebnis der Seinslehre Eckharts festzuhalten. Das Sein, also Gott, ist im Seienden, das ist im Geschöpf. Dieser Satz wird uns in verschiedener Form wieder begegnen. Sechshundert Jahre nach Meister Eckhart, 1927, stellt Martin Heidegger 44 erneut die Frage nach dem Sinn von Sein, und er macht darauf aufmerksam, dass in der abendländischen Metaphysik diese Grundfrage nach der Wahrheit des Seins selbst verdeckt war durch die Leitfrage nach dem Sein des Seienden oder nach dem Seienden als Seiendem. Wahrscheinlich war es Heidegger nicht klar, wie weit schon Eckhart in der neuplatonischen Tradition der Frage nach dem Sein im Unterschied zum Seienden auf der Spur war. 45 Gleichwohl verdanken So gesagt mit Aertsen, Jan A.: Der ›Systematiker‹ Eckhart. Responsio II n. 2; 319,2 f.: Quid plura? Sic enim fere se habet in omnibus quae obiciunt, puta cum dicitur: »deus est esse«, quod falso putant falsum esse. 43 Siehe oben S. 89; Anm. 19. 44 Heidegger, Martin: Sein und Zeit, S. 1 u. 4 ff. 45 Dazu Beierwaltes, Werner: Platonismus im Christentum, bes. S. XIV f. und Beierwaltes, Werner: Identität und Differenz, S. 131–143, zu Eckhart S. 134, Anm. 130. Ausführlich zu Heideggers »Gelassenheit« und zum Eckhartverständnis Heideggers siehe Beierwaltes, Werner: Heideggers Gelassenheit. 41 42

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4. »Das Sein ist Gott.«

wir es ihm, dass wir angeregt sind, diese Differenz neu zu denken. Zum Verständnis Eckharts folgt daraus der Auftrag, über die Differenz von Seiendem und Sein zu der Frage weiterzulenken, in welcher Weise nach Eckhart ›Gott‹ als Sein im Seienden ist. Der Frage nach Gott geht so die Frage nach dem Sein voraus. Das folgende Kapitel wird sich darum nochmals vertiefter mit der Frage befassen, was das Sein im Verhältnis zum Seienden für Eckhart ist.

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Fnftes Kapitel Sein, Leben, Denken

Alles Seiende ist in Gott Leben Um die Beziehungen der drei Seinsmodi Leben, Sein und Denken zu erläutern, folge ich der Auslegung des Verses: »Was geworden ist, war in ihm Leben« (Joh. 1,3 f.) 1 in Eckharts ›Kommentar zum Johannesevangelium‹. 2 Er sagt, man müsse wissen: »Diese drei, leben, sein und denken 3 , erschöpfen bzw. erfüllen das Seiende im Ganzen.« 4 Zu beachten ist hier zunächst, wie die Verbformen »leben, sein und denken« dem Substantiv »das Seiende« (ens) gegenüberstehen. Diese Differenz bezeichnet eine verschiedene Rangfolge im ontologischen und ontischen, Eckhart sagt dazu: im »abstrakten« und »konkreten« Bereich. Ontologisch gilt abfallend: (reines) sein, leben, denken; im konkreten Bereich gilt aufsteigend: das Seiende, das Lebende, das Denkende. Die zweite Reihe spiegelt den Aufbau des Seienden in der physikalischen, biologischen und mentalen Existenzform. Hier ist das Seiende die unDie übliche Lesart von Joh. 1,3 f. ist: Omnia per ipsum facta sunt et sine ipso factum est nihil quod factum est. [4] In ipso vita erat et vita erat lux hominum. – »Alles ist durch ihn geschaffen und ohne ihn ist nichts geschaffen, was geschaffen ist. [4] In ihm war das Leben und das Leben war das Licht der Menschen.« Eckhart trennt die Verse Joh. 1,3 f. gegen die übliche Lesart wie folgt ab: Omnia per ipsum facta sunt et sine ipso factum est nihil. Quod factum est [4] in ipso vita erat et vita erat lux hominum. – »Alles ist durch ihn geschaffen und ohne ihn wurde nichts geschaffen [oder: das ohne ihn Geschaffene ist nichts]. Was geschaffen ist, [4] war in ihm Leben, und das Leben war das Licht der Menschen.« 2 In Ioh. n. 61–67; 50,10–56,5. 3 Ich übernehme hier für intelligere die gebräuchliche Übersetzung »denken«, mache aber darauf aufmerksam, dass Eckharts Begriff der Vernunfttätigkeit entspricht, und insofern die Konnotation »innerlich vernehmen« hat. Siehe dazu die Bemerkungen zu intus legere Anm. 27 sowie Kap. 7. 4 In Ioh. n. 63; 51,14 f.: Quarta ratio est: ad cuius evidentiam sciendum primo quod haec tria, vivere, esse et intelligere, evacuant sive implent totum ens. 1

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5. Sein, Leben, Denken

terste Schicht, überhöht vom Lebenden, das das Seiende einschließt; und dies wiederum wird überhöht vom Denkenden, das zudem das Lebende in sich enthält. 5 »Im Absoluten aber hat Sein die größere Vollkommenheit von diesen dreien«, da ihm nichts mangeln kann. »Denn mangeln kann etwas nur durch Nichtsein oder Seinsabwesenheit.« »Dem Sein kann aber kein Seinsmodus oder keine Seinsvollkommenheit fehlen.« »Aus gleichem Grund ist leben 6 vornehmer als denken.« 7 Eckhart erläutert diesen Grund nicht. Der Gegensatz ist wohl so zu verstehen: Die vernünftigen Geschöpfe enthalten die lebenden und die bloß seienden Geschöpfe in sich. Das reine Sein, das, wie zuvor besprochen, Gott ist, schließt Leben und Denken in sich ein. Mit anderen Worten: Leben und Denken sind Entfaltungen des reinen Seins. Genauer betrachtet, sind sie mit dem Sein identische Artikulationen der Dynamik des reinen Seins. Die Modi des reinen Seins sind aber konvertibel; darum gilt, dass auch Leben und Denken die jeweils anderen in sich einschließen. Dafür beruft sich Eckhart hier wie an anderen Stellen auf die elfte These des ›Liber de causis‹ :

In Ioh. n. 63; 52,11–53,3: Hinc est quod res creata primo est ens, perfectius est vivens, postremo et supremo est intelligens. Sic ergo intelligens perfectius est quam ens, eo quod includit ens. Similiter et vivens perfectius est quam ens, eo quod ipsum includat. Est ergo vivens perfectius quam ens, non quia vivens, sed ratione esse quod includit. – »Daher ist ein geschaffenes Ding auf der ersten Stufe seiend, auf einer vollkommeneren lebend, auf der letzten und obersten denkend. So ist also das Denkende vollkommener als das Seiende, weil es das Seiende einschließt. Desgleichen ist auch das Lebende vollkommener als das Seiende, weil es dieses einschließt. Das Lebende ist also vollkommener als das Seiende, nicht weil es Lebendes ist, sondern auf Grund des Seins, das es einschließt.« 6 Da Eckhart zwischen vita und vivere unterscheidet, schreibe ich die Verbform im Deutschen gelegentlich klein, auch wenn sie substantiviert ist. 7 In Ioh. n. 63; 52,1–7: Secundo sciendum quod alius est ordo istorum in abstracto, puta cum dicimus esse, vivere et intelligere; alius in concreto, puta cum dicimus ens, vivens, intelligens. In abstracto enim esse est perfectius inter tria. Ipsi enim esse nullus modus sive perfectio essendi deesse potest. Quomodo autem aliquid deesset per esse? Sed potius deest per non esse vel abesse. Pari ratione vivere est nobilius intelligere. – »Zweitens muss man wissen, dass zwischen ihnen eine andere Ordnung ist, wenn wir sie abstrakt nehmen und sagen: Sein, Leben und Denken; eine andere, wenn wir sie konkret nehmen und sagen: Seiendes, Lebendes, Denkendes. Denn abstrakt genommen ist das Sein das Vollkommenere unter den dreien. Denn dem Sein selbst kann keine Weise oder Vollkommenheit des Seins fehlen. Wie könnte auch etwas kraft des Seins fehlen? Vielmehr fehlt etwas infolge Nichtseins oder Fernseins.« 5

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II. Philosophische Grundlagen

»›Von den Erstbestimmungen ist jede in den anderen, und zwar in der Weise, wie eins von ihnen im jeweils anderen sein kann.‹ Und im Kommentar dazu heißt es: Sein und Leben ist in der Intelligenz Intelligenz und einfaches Denken; Sein und Denken ist im Leben einfach leben und das Leben.« 8

Bei allem, was miteinander in Zusammenhang steht, hat für Eckhart das Verhältnis der Durchdringung eine besondere Bedeutung sowohl in der Dynamik des reinen Seins wie in den fundamentalen Relationen des Seienden zu seinen Prinzipien. Darauf stützt sich die erste Erklärung des Verses »Was geworden ist, war in ihm Leben«. Denn: »Alles Aufgenommene ist im Aufnehmenden nach der Natur dessen, worin es aufgenommen ist. So sind die Tätigkeiten des Aktiven im aufnahmebereiten Passiven; und die Zuschreibungen sind so, wie es die Gegenstände erlauben«, denen etwas zugeschrieben wird. 9 Im Absoluten durchdringen sich Sein, Leben und Denken gegenseitig, sind also jeweils nach der Natur des Aufgenommenen, wenn man so sagen könnte. Aber im gegenständlichen, geschöpflichen Bereich reicht das konkrete Lebendigsein des Geschöpfes hinauf in das Leben des Absoluten, in das es aufgenommen ist. Denn eigentlich heißt »lebendig« oder »lebend alles, was aus sich selbst oder von einem inneren Prinzip und in diesem bewegt wird«. 10 Insofern »lebt nur Gott und nur er ist Leben, da er ja das letzte Ziel und das Erstbewegende ist«. 11 Das Geschöpf aber, das von außen bewegt wird und außer ihm selbst liegende Ziele hat, lebt eigentlich nicht, vielmehr nur insofern es in das Leben Gottes oder ins Leben schlechthin aufgenommen ist; denn »was geworden ist, war in ihm Leben«. Allgemein gilt nämlich: »Das Untere ist vornehmer und auf vollkommenere Weise in dem, was ihm der Wesensordnung

8 In Ioh. n. 61; 51,1–5: Secunda ratio, quia, sicut dicitur in ›De causis‹, »primorum omnium quaedam sunt in quibusdam per modum quo licet ut sit unum in alio eorum«. Et ibidem in commento: esse et vivere in intelligentia intelligentia et simplex intelligere est, esse et intelligere in vita simplex vivere et vita est. Zum Zitat aus ›De causis‹ siehe S. 248 und Anm. 15. 9 In Ioh. n. 61; 50,11–13: Primum, quia omne receptum est in recipiente secundum naturam eius in quo est. Actus enim activorum sunt in patiente disposito; et talia praedicamenta, qualia permiserint subiecta. 10 In Ioh. n. 62; 51,7 f.: Tertia ratio est: ad cuius evidentiam sciendum quod vivum dicitur sive vivens omne, quod ex se ipso vel a principio intra et in ipso movetur. 11 In Ioh. n. 62; 51,8 f.: Solus deus, utpote finis ultimus et movens primum, vivit et vita est.

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5. Sein, Leben, Denken

nach übergeordnet ist.« 12 So führt diese Erläuterung des Johannesverses zurück auf das Ergebnis des vorangehenden Kapitels: Dort hieß es: Das Sein, also Gott, ist im Menschen; hier lautet der Satz: Der Mensch lebt im Sein, also in Gott.

Geistiges Sein – ens in anima Bei der Auslegung des Satzes »Ich und der Vater sind eins« (Joh. 10,30) legt Eckhart dar 13 , wie die Erstbestimmungen des Seins, esse, unum, verum, bonum, sich entfalten. Sie sind ›Transzendentalien‹ in doppelter Beziehung, nämlich als Bestimmungen Gottes und als Ermöglichungsgründe für menschliches Wesen. Sie sind untereinander austauschbar, kommen eigentlich Gott zu, und sie sind zugleich den Seienden gemeinsam, indem alles an den Erstbestimmungen teilhat. 14 Das Sein sei aber, an und für sich selbst betrachtet, auf das Wesen gerichtet, absolut und unbestimmt. In diesem Sinne könne das unbestimmte Sein nur wieder unbestimmtes Sein bedingen. Dem Einssein (unum) kommt die erste und zugleich geringste Bestimmtheit unter den Erstbestimmungen des Seins zu, da es das Sein vom Vielen abgrenzt, und so ist das Eine seinem Sinn und seiner Eigenart nach das erste Prinzip des Hervorbringens. Das Eine ist darum »Vater« der ganzen Gottheit und der Schöpfung. Alles Weitere geht aus dem Einen hervor, da es das Erste ist. So ist das Wahre, das dem Sohn zugesprochen wird, das erste Hervorgegangene, das zwar verschieden, aber doch eins ist mit dem Vater, und die gemeinsame Einheit von Vater und Sohn, unum und verum, bringen gemeinsam das Gute als Liebe und Band dieser beiden hervor, das selbst wiederum eins ist, den Heiligen Geist. Ausgehend von dieser trinitarischen Explikation des Seins kündigt Eckhart an: »Es bleibt noch zu sehen, wie das Sein entsprechend dem Sinn (ratio) oder der Eigentümlichkeit (proprietas) des Einen UrIn Ioh. n. 63; 53,4 f.: Tertio notandum quod inferius nobilius et perfectiori modo est in suo superiori ordine essentiali. 13 In Ioh. n. 511–513; 442,5–445,2. 14 In Ioh. n. 512; 7 f.: Notandum quod haec quattuor, esse, unum, verum, bonum, proprie deo conveniunt, convertuntur et sunt communia participata ab omnibus. – »Diese vier, das muss man beachten, Sein, Eins, Wahr und Gut treffen eigentlich auf Gott zu, sie sind austauschbar, und sie sind gemeinsam, von allen geteilt.« 12

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II. Philosophische Grundlagen

sprung (principium) ist und wie von ihm das All und die Gesamtheit alles geschaffenen Seienden hervorgeht.« 15 Für die weitere Auslegung der Einheitsspekulation, die in den späten Predigten Eckharts eine überragende Rolle einnimmt, ist diese Bemerkung Eckharts grundlegend, da sie den gesamten Prozess- und Vollzugscharakter der Welt und des Geistes dem Seinssinn des Einen und dessen Entfaltung unterstellt. Eckhart fährt mit einer Einteilung des Seienden fort, die dem Verständnis seiner wesentlichen Eigenlehren den Rahmen setzt. »Man muss also wissen, dass das Seiende seinem ganzen Umfang nach in einer ersten Einteilung unterteilt wird in das reale Seiende außerhalb der Seele, das in die zehn Kategorien eingeteilt wird, und in das Seiende in der Seele oder das geistige Seiende.« 16

Diese Unterscheidung muss man im Auge behalten; denn meistens spricht Eckhart von dem zuletzt genannten geistigen Seienden, das heißt von den rationalen, ideellen Prinzipien des Seienden und nicht von der physikalischen Realität, vom äußeren, der Kausalität und den Kategorien unterliegenden weltlich Seienden. Gleichwohl ist aber unter dem Seienden in der Seele das Geschöpfliche gemeint, wie es sich der Erkenntnis und der Vernunft des Menschen zeigt. Die Unterscheidung, die Eckhart hier anspricht ist nicht einfach gleich zu setzen mit der Trennung von realem Geschöpf und dessen virtuellem, ›präexistenten‹ Sein als Schöpfungsidee im Wissen Gottes. Entlang dieser Trennlinie wird oft das duplex esse aufgefasst, das zweifältige Sein der Geschöpfe, von dem Eckhart gelegentlich spricht. Doch bei genauerem Hinsehen ist erkennbar, dass mit dieser Unterscheidung dieselbe Einteilung gemeint ist wie zuvor zitiert, das Sein in der Seele und das Sein In Ioh. n. 514; 445,3 f.: Restat videre quomodo esse sub ratione sive proprietate unius principium est et ab ipso procedit universitas et integritas totius entis creati. 16 In Ioh. n. 514; 445,4–6: Sciendum ergo quod ens secundum totum sui ambitum prima sui divisione dividitur in ens reale extra animam, divisum in decem praedicamenta, et in ens in anima sive in ens cognitivum. An etwas späterer Stelle erklärt er, In Ioh. n. 540; 471,6–9: Notandum ergo quod, sicut iam prius supra dictum est, tota plenitudo entis dividitur in ens reale extra animam, quod pertinet ad factionem et creationem, item in ens in anima sive ab anima, quod pertinet ad doctrinam et cognitionem. – »Man muss also beachten, wie schon soeben gesagt wurde: Die ganze Fülle des Seienden teilt sich auf in das reale Seiende außerhalb der Seele, das mit dem Machen und Schaffen zu tun hat, und in das Seiende, das in der Seele ist oder von der Seele stammt, und das gehört zur Lehre und Erkenntnis.« 15

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5. Sein, Leben, Denken

außerhalb. 17 Für Eckhart ist es aber entscheidend, diese beiden Seinsweisen auseinander zu halten. Darum betont er: »Ganz anders muss man aber reden vom Seinssinn der Dinge und deren Erkenntnis und anders von den Dingen außen in der Natur, wie man auch anders reden muss von der Substanz und anders vom Akzidens. Die das nicht beachten, fallen häufig in Irrtum.« 18

In Gen. I n. 25; 79,10–13: Undecimo ›creavit deus in principio caelum et terram‹, quia rationes rerum in deo respiciunt duplex esse, puta esse intellectuale in anima, quod per caelum intelligitur – Psalmus: ›fecit caelos in intellectu‹ – et iterum ad esse materiale extra animam, quod per terram significatur. – »Elftens ›schuf Gott im Ursprung Himmel und Erde‹, weil die Ideen der Dinge in Gott auf ein doppeltes Sein hinblicken, nämlich auf das geistige Sein in der Seele, das unter Himmel zu verstehen ist – ›er machte die Himmel im Geist‹ (Ps. 135,5) – und auf das materielle Sein außerhalb der Seele, das durch Erde bezeichnet wird.« Im folgenden Zitat wird das virtuelle Sein sowohl vom Wort Gottes wie vom Geist des Menschen ausgesagt: In Gen. I n. 77; 121,21– 123,14: Nota quod omnis creatura duplex habet esse. Unum in causis suis originalibus, saltem in verbo dei; et hoc est esse firmum et stabile. Propter quod scientia corruptibilium est incorruptibilis, firma et stabilis; scitur enim res in suis causis. Aliud est esse rerum extra in rerum natura, quod habent res in forma propria. Primum est esse virtuale, secundum est esse formale, quod plerumque infirmum et variabile. […] Et nota quod aquae illae perfectissime et propriissime benedicunt verbum dei, in quo in silentio sine verbo exteriori et super tempus laudant et benedicunt semper verbum, quod est in silentio paterni intellectus verbum sine verbo aut potius super omne verbum. Exemplum praemissorum est de domo in mente artificis, ubi cognoscitur et scitur domus, et ab inde formatur et accipit esse formale extra domus in materia. – »Merke: Jedes Geschöpf hat ein zwiefaches Sein. Das eine in seinen ursprünglichen Ursachen, jedenfalls im Wort Gottes, und das ist ein festes und beständiges Sein. Deswegen ist (auch) das Wissen von vergänglichen Dingen selbst unvergänglich, fest und beständig. Denn das Wissen erfasst ein Ding in seinen Ursachen. Das andere Sein ist das Sein, das die Dinge in der äußeren Wirklichkeit, in der ihnen eigentümlichen Form haben. Das erste ist das Sein in der Kraft (ihrer Ursache), das zweite ist das durch die (eigene) Form bestimmte Sein, und das ist meist unstet und veränderlich. […] Merke, dass jene Wasser [die oberen, die durch die Feste von den unteren geschieden sind, vgl. Gen. 1,6] am vollkommensten und eigentlichsten das Wort Gottes preisen. In ihm stehend loben und preisen sie in der Stille ohne vernehmbares Wort und erhaben über die Zeit ständig das Wort, das in der Stille des väterlichen Geistes lebt, das Wort ohne Wort oder vielmehr das über jedes Wort erhabene Wort. Ein Beispiel für das Gesagte ist das Haus im Geist des Baumeisters. Hier wird es erkannt und gewusst, und von hier aus wird das materielle Haus geformt und erhält sein geformtes Sein in der Außenwelt.« 18 In Ioh. n. 514; 445,3–14: Aliter autem loquendum est omnino de rerum rationibus et cognitione ipsarum, aliter de rebus extra in natura, sicut etiam aliter loquendum est de substantia et aliter de accidente. Quod non considerantes frequenter incidunt in errorem. 17

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II. Philosophische Grundlagen

Für einen modernen Leser ist es ungewohnt, diese Unterscheidung im Auge zu behalten, da unsere gesamte Einstellung auf die Verfassung der realen Welt mit ihrem Wie, Was, Woher, Wodurch und Wozu gerichtet ist, also auf die Einteilung der Dinge in die Kategorien. Eckhart sagt aber, dass diese auf das geistige Sein nicht anwendbar seien. Natürlich unterliegen die neuropsychologisch und allgemeinpsychologisch messbaren, ›objektivierbaren‹ psychischen Prozesse auch der kategorialen Betrachtung. Das geistige Sein oder das subjektive Erleben ist davon frei. Dies betrifft Eckharts Lehren von der Gottesgeburt in der Seele, von der Einheit der Wesensauszeichnungen des Menschen, zum Beispiel die Einheit des Guten mit dem ursprünglichen Gutsein, des gerechten Menschen mit der Gerechtigkeit selbst, das heißt mit Gott. Diese Lehren sind nur zu verstehen, wenn man berücksichtigt, dass dabei nicht von der physikalischen oder empirisch psychologischen Natur des Menschen die Rede ist, sondern von seinem geistigen Sein. Andererseits handelt es sich aber auch nicht um metaphysische Gedankenspielereien, sondern sie haben einen phänomenologischen Anhalt. Eckhart selbst gibt zu verstehen, dass die physikalische Natur ein anderes Gesetz hat als das »Sein in der Seele«. Naturprozesse unterliegen einer äußeren Veränderung; sie wirken und werden bewirkt. Insofern haben sie Wirkursachen und Ziele. Der »Metaphysiker« aber betrachtet die Dinge in ihrem Wesen. Darin aber gibt es keine Wirkung und kein Ziel als äußere Ursachen, sondern nur innere Seinsgründe, Form- oder Wesensursachen. »Daher kommt es, dass die Metaphysik, deren Gegenstand das Seiende als Seiendes ist, nur die zwei inneren Gründe betrachtet; die Physik aber, deren Gegenstand das veränderliche Seiende ist, untersucht nicht nur die zwei inneren, sondern auch die äußeren Ursachen.«19

Die Naturdinge kennen nicht den Bauplan der Dinge, sondern unter ihnen wird eine Dinggestalt durch die nächstliegende gleichgeartete Ursache hervorgebracht, das Feuer durch ein Feuer. 20 Von dem ursächIn Ioh. n. 443; 380,7–10: Hinc est quod metaphysica, cuius subiectum est ens in quantum ens, duas tantum causas intrinsecas considerat; physica autem, cuius subiectum est ens mobile in quantum mobile, non duas tantum intrinsecas, sed etiam extrinsecas causas speculatur. 20 In Ioh n. 31; 24,8–12: Adhuc autem notandum quod effectus est aliter in causa proxima univoca, puta ignis in igne, ubi principium, ignis scilicet generans, habet quidem formam ignis generati, sed non habet rationem ignis. Natura enim corporalis ut sic non 19

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lichen Zusammenhang der Naturdinge ist also der intellektuelle Begründungszusammenhang zu unterscheiden. Innere, geistige Abfolgen werden nicht von Ursachen bewirkt, sondern aufgrund der ratio (Idee, Grund, Gesetz) erzeugt. Eckhart benützt dafür aus der Tradition die Fachbegriffe causa formalis oder causa essentialis. Hier sollte man causa aber nicht mit »Ursache«, sondern eher mit »Grund« übersetzen. Denn die eckhartschen Begriffe Form oder Wesen mit dem der Ursache zu verbinden (also ›Wesensursache, Formursache‹), ist für unser heutiges Verständnis irreführend, weil das neuere Kausalitätsdenken Vorstellungen impliziert, die den Blick auf Eckharts Denken verdunkeln. Nachfolgend würden sie auch die Phänomene, die wir mit Eckharts Augen betrachten wollen, unzugänglich machen. Eckhart benützt für die Übertragung der Form oder des Wesens die Begriffe transformare, informare, mhd. überbilden, înbilden, die den Sinngehalt dieser Umwandlungen eher verdeutlichen als das Ursache-Wirkungs-Schema. Gebern, geburt, generare, gignere, dieses Wortfeld, das im Lateinischen wie im Mittelhochdeutschen sowohl die Zeugung wie die Geburt bezeichnet, wird am häufigsten verwendet, um den Prozess zu benennen. Aber Eckhart liebt in diesem Zusammenhang auch Wörter, die noch stärker als Metaphern charakterisiert zu sein scheinen: redundat, germinat, floret et spirat sive diffunditur, [das Eine] »fließt, sprosst, blüht und haucht oder ergießt sich«. 21 Namen für den Prozess, den Eckhart als causa essentialis oder formalis anspricht, sind weiterhin: leuchten (lucere) und leben (vivere). Und dementsprechend ist das Erzeugte: Samen, Wort, Kind, Sohn, Bild, Licht, Leben (vita). All diese Begriffe heben hervor, dass die Natur des Erzeugers und des Erzeugten eins ist. Gelegentlich benützt Eckhart für den Übergang innerhalb des geistig Seienden, bei dem Wirk- und Zielursache schweigen, auch die Metapher des Sprudelns (bullitio), die deutlich die in-sich-wachsende Dehnung und Ausfaltung des Innenbleibenden

distinguit inter rem et rationem, quia non novit rationem, quam solum accipit et novit rationale sive intellectivum. – »Zudem ist aber zu bemerken: auf andere Weise ist die Wirkung in der nächsten gleichartigen Ursache, etwa das Feuer im Feuer, wo der Wirkgrund, nämlich das erzeugende Feuer, zwar die Form des erzeugten Feuers hat, aber nicht das Gesetz des Feuers. Denn die körperliche Natur als solche unterscheidet nicht zwischen Ding und Gesetz, weil sie das Gesetz nicht kennt; denn dieses erfasst und kennt allein ein mit Vernunft oder Verstand begabtes Wesen.« 21 In Ioh. n. 514; 446,5 f.

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betont. 22 Im Unterschied dazu steht nachfolgend das »Überquellen« in die äußeren Ursachen hinein: Das Sein »gießt sich nach außen aus und sprudelt hinaus«, effundat et ebulliat extra. 23 Überquellend drängt die Kraft des Wirkenden hinaus und gibt der äußeren Sache einen Stoß oder Impuls. Die zur äußeren Verursachung weiter gehörenden metaphorischen Vorstellungen sind gewöhnlich das Schaffen (creare) und Machen (facere). In anderer Betrachtung haben solche Weisen des Hervorbringens (producere) im Modus der causa formalis Sprachcharakter, denn die ratio ist zugleich Wort, was auch im griechischen Begriff Logos ausgedrückt sei. 24 Darum meint die Metapher von der »Geburt des Wortes« nicht nur die transzendentale Geburt des Wortes Gottes, sondern auch das äußere »Worten« (geworten) des inneren Wortes. Mit diesen terminologischen Betrachtungen ist der Bereich angedeutet, für den alles gilt, was Eckhart von den Analogieverhältnissen, den Transzendentalien oder von den univoken Prinzipiierungsverhältnissen sagt, mit anderen Worten: In diesem Bereich vollzieht sich auch die Geburt des Wortes in der Seele, in diesem Bereich lebt der Mensch eigentlich. Es ist der Bereich der inneren Erfahrung. Diese muss jedoch von psychologisch zu fassenden Erlebnissen unterschieden werden. Es bleibt zunächst offen, wie viel von der inneren Erfahrung, die Eckhart meint, ›bewusst‹ sein kann. Eckhart grenzt diesen Bereich, wie soeben gesehen, vom ens reale ab und nennt ihn durchwegs intellectivum oder ens in anima, andernorts ens cognitivum, ens verum oder ens intellectuale. Flasch spricht vom »Erkenntnissein«. 25 Dabei wäre aber »Erkenntnis« in weitem Umfang zu fassen; denn das Sein des Seienden ist eine »Form«, »sie ist im eigentlichen Sinn das Prinzip des Seins, des Erkennens, des Liebens und Handelns«. 26 In moderner Sprache wäre wahrscheinlich der Begriff »Intelligibilität« am angemessensten; man könnte auch die Begriffe »Vernunft«, »Bewusstsein« oder »Erleben« In Sap. n. 283; 615,11–15; In Ex. n. 16; 21,7–22,6. Siehe auch Anm. 41, S. 251, Anm. 21 u. 22. 23 In Ex. n. 16; 22,2–5: Vita enim quandam dicit exseritionem, qua res in se ipsa intumescens se profundit primo in se toto, quodlibet sui in quodlibet sui, antequam effundat et ebulliat extra. – »Leben besagt nämlich gewissermaßen eine Aussaat, in der sich eine Sache in sich selbst ausdehnt und sich zunächst in sich ganz verschwendet, alles Ihre in alles Ihre hinein, bevor sie sich ausgießt und nach außen übersprudelt.« 24 In Gen. I n. 3; 61,14. 25 Flasch, Kurt: Meister Eckhart – Philosoph des Christentums, S. 125. 26 In Ioh. n. 338; 287,4 f.: In ipsa [forma] et per ipsam solam res habet esse, ipsa principium formaliter essendi, cognoscendi, amandi et operandi. 22

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benützen, wenn diese nicht in einem spezifischen Sinne festgelegt wären. Am besten scheint mir der Komplex ›inneres Vernehmen‹ anzudeuten, was Eckhart mit dem intellectivum anspricht. Auf die grundlegenden Weisen des Seins angewandt, wäre also immer im Blick zu behalten: Sein, Einssein, Wahrsein, Gutsein, Rechtsein, Erkennen, Lieben, Freiheit sind innere ›Erfahrungen‹, keine im Außen vorhandene Verhaltensweisen oder Erlebnisse. Wenn Eckhart von ihnen spricht, meint er nicht die empirisch feststellbaren Bewusstseinsakte oder Haltungen, sondern deren ›transzendentale‹ Ermöglichung und deren ›ciszendentale‹ Erscheinungsweise. Eckharts Analyse der Begründungsverhältnisse in der inneren Erfahrung, mit anderen Worten: die Analyse der G e n e s e von Erkenntnis, Liebe, Gerechtigkeit und Tugenden allgemein schließt sich an den Prolog des Johannesevangeliums an. Sie wird nach dem Muster der Entstehung des Wortes erklärt, das »bei Gott« ist: »und Gott war das Wort«. Das Wort ist zugleich Idee, Logos, es ist »im Anfang«, das heißt, es ist im Prinzip (mhd. grunt) und es ist zugleich das erste Prinzipiat, das heißt das Begründete. Denn das sind die vier Bedingungen der Wesenübergabe: 1. Das Prinzip enthält sein Prinzipiat in sich. Dieses tritt nicht aus dem Prinzip heraus, sondern bildet eine Einheit mit ihm. 2. Das Prinzipiat ist nicht nur im Prinzip, sondern ist darin auch (ontologisch) früher und edler als in sich selbst. 3. Das Prinzip selbst ist immer reiner Geist (intellectus), in dem es nichts anderes gibt als ›inneres Vernehmen‹ (intelligere 27 ).

Vgl. das oben zu »Denken« Gesagte, S. 100 und Anm. 3. Dass der Intellekt (nous) mit nichts etwas gemein hat, geht auf ein Zitat aus Anaxagoras in Aristoteles ›Über die Seele‹ III; 429 b 22–24 zurück. Es wird von Eckhart oft zitiert. – Die Übersetzung von intelligere als »Erkenntnis« oder »Denken« ist üblich, engt den Sinn des Wortes aber ein. Intellectus gibt Eckhart selbst mittelhochdeutsch mit vernunft, vernünfticheit wieder. Das hierzu gehörende Verb »vernehmen« mit seiner Konnotation des Hörens kommt dem Sinn Eckharts durch seine rezeptive Qualität nahe – gerade im Kontrast zu der Hervorhebung des intellectus agens bei Dietrich von Freiberg. Dementsprechend kann vielleicht die Übersetzung »inneres Vernehmen«, die ich gelegentlich benütze, helfen, unbelastet von terminologischen Vorbegriffen zu denken, was Eckhart mit intelligere meint. Eckhart weist übrigens des Öfteren auf die Etymologie intus legere hin, z. B. In Gen. II n. 83; 375,24 f.: Sed intellectus iuxta nomen suum intus, in se ipso rem legit; hoc enim est intelligere, id est intus legere. Rursus re ipsam intus legit in suis principiis. – »Der Intellectus – entsprechend seinem Namen – liest die Sache innen, in

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4.

Im Prinzip selbst ist die Wirkung virtuell gleich unzeitlich mit dem Prinzip. 28 Diese ›Umstände‹ der inneren Erfahrung beschreiben zugleich die Konstitution der ratio, das heißt des Gestaltungsprinzips aller geistigen Erfahrung: Dieses Gestaltungsprinzip ist im Geist (in intellectu), wird durch geistige Prozesse gebildet und ist nichts als Geist. 29 Dies impliziert eine weitere Bestimmung der Wesensgründe und verdeutlicht zugleich, was ›Geist‹ ist: Sie sind lebendig, Leben in Sein und Denken. »Denn sowohl Sein wie Denken (intelligere) sind im Leben Leben, oder besser: Sie sind Leben und leben, wie aus dem ›Liber de causis‹ 30 erhellt. Und darum folgt im Johannesprolog: ›Und was geworden ist, war in ihm Leben‹ (Joh. 1,3 f.); denn die Form des Hauses ist im Geist (mens) des Baumeisters Leben.« 31 sich selbst; das heißt nämlich intelligere: intus legere (innen lesen). Andererseits aber liest er auch durch die Sache sie selbst innen in ihren Prinzipien.« 28 In Ioh. n. 38; 32,5–15: Notandum quod quattuor sunt condiciones cuiuslibet principii essentialis naturales: – Prima, quod in ipso contineatur suum principiatum sicut effectus in causa. Et hoc notatur, cum dicitur: ›in principio erat‹. – Secunda, quod in ipsa non solum sit, sed etiam praesit et eminentius sit suum principiatum quam illud in se ipso. – Tertia, quod ipsum principium semper est intellectus purus, in quo non sit aliud esse quam intelligere, nihilo nihil habens commune, ut ait Anaxagoras, III De anima. – Quarta condicio, quod in ipso et apud ipsum principium sit effectus virtute coaevus principio. – »Es ist zu bemerken: Vier natürliche Bedingungen gehören dazu, dass etwas ein wesenhafter Ursprung ist: – Erstens, dass das aus ihm Entsprungene in ihm enthalten ist wie die Wirkung in ihrer Ursache. Das wird bezeichnet, wenn es heißt: Im Anfang war es‹. – Zweitens, dass das (aus der Ursache) Entsprungene in ihr nicht nur ist, sondern auch vorher und auf eine erhabenere Weise ist als in sich selbst. – Drittens, dass der Ursprung immer reiner Verstand ist, in dem kein anderes Sein ist als das Denken, der nach dem im 3. Buch ›Von der Seele‹ angeführten Wort des Anaxagoras mit nichts etwas gemein hat. – Viertens, dass in und bei dem Ursprung die Wirkung der Kraft nach gleichen Alters mit dem Ursprung sei. 29 In Ioh. n. 38; 32,2 f.: Iterum et ratio in intellectu est, intelligendo formatur, nihil praeter intelligere est. – »Ferner auch ist die Idee in der Vernunft, durch Denken wird sie gebildet, sie ist nichts als Denken.« 30 Liber de causis, prop. 11, n. 103 f.: Primorum omnium quaedam sunt in quibusdam per modum quo licet ut sit unum eorum in alio. Quod est quia in esse sunt vita et intelligentia et in vita sunt esse et intelligentia et in intelligentia sunt esse et vita. – »Alle Erstbestimmungen sind in jeder von ihnen in der jeweils geeigneten Weise, sodass eines von ihnen im anderen sein kann. Das ist so, denn im Sein sind Leben und Denken, im Leben sind Sein und Denken, im Denken sind Sein und Leben.« Der Satz wird von Eckhart hier nicht wörtlich zitiert. Weitere Bezüge auf diese These aus ›De causis‹ siehe S. 102 und S. 248. 31 In Ioh. n. 139; 117,8–2: Adhuc sexto: omnis causa et principium essentiale vivum

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Als eine weitere Bestimmung des geistigen Seins, das heißt, des innerenVernehmens, sei noch ihre Verborgenheit erwähnt. »Unbekannt, versteckt und verborgen« (incognitum, latens et absconditum) sind jede Wesensursache, alles Obere und alles Göttliche als solches. Denn nichts wird durch etwas erkannt, das ihm fremd und nicht von derselben Natur ist. Darum ist alles Obere, alles Göttliche nur sich selbst und dem von ihm Geborenen bekannt. 32 Es handelt sich also nicht um eine Unbewusstheit – im psychologischen Sinne –, die ja immer noch ein Zustand des Bewusstseins ist. Die Bewusstseinskräfte, das sind die Seelenvermögen Erkennen und Lieben, können das ihnen ontologisch vorausliegende Leben des Geistes nicht thematisieren, als würden sie es erschließen, vergegenständlichen, erforschen. Vielmehr ist ihre Tätigkeit schon selbst eine Lebensbewegung des Geistes, der »abgetrennt, unvermischt«, in eigener Wirklichkeit lebt, der auch nicht durch eine Definition zu fassen ist, da er jeder Äußerung vorausliegt und die Vorstellung hintergeht. Das ist der ontologische Grund dafür, dass Eckhart im ›Gottesgeburtszyklus‹ ausführlich darlegt, warum die Seelenvermögen, Erkennen und Wollen, keinen Zugang zur Gottesgeburt haben, dass wir aber gleichwohl die Kraft und das Licht, das die Gottesgeburt in uns zündet, als Erleuchtung erfahren. 33 Es ist gleichzeitig eine Überaliquod est et vita; quod autem est in vita, vita est. Nam et esse et intelligere in vita vita sunt vel potius vita est et vivere, ut patet ex ›De causis‹. [Vgl. Anm. 8 u. 30] Et hoc est quod hic sequitur: ›quod factum est in ipso vita erat‹ ; nam et forma domus in mente artificis vita est. 32 In Ioh. n. 195; 163,6–164,2: Notandum primo quod in his verbis docemur, […] quod omnis causa essentialis, omne superius et omne divinum, in quantum huiusmodi, est incognitum, latens et absconditum, praecipue deus, supremum et prima causa essentialis omnium […]. Nihil enim cognoscitur per aliud sive alienum a se, sicut nec est per aliud. Notum est autem omne superius, omne divinum, in quantum huiusmodi, sibi soli et genito a se ipso, quod non est aliud nec alienum ab ipso. Generat enim unumquodque alterum se, non aliud a se. – »Es ist erstens Folgendes zu bemerken: In diesen Worten werden wir darüber belehrt, […] dass jede Wesensursache, alles Obere und alles Göttliche als solches unbekannt, versteckt und verborgen ist, vorzüglich Gott, das oberste Wesen und die erste Wesensursache von allem. […] Denn nichts wird durch etwas erkannt, was von ihm verschieden oder ihm fremd ist, wie es auch nicht (es selbst) durch ein von ihm Verschiedenes ist. Bekannt aber ist alles Obere, alles Göttliche als solches allein sich selbst und dem von ihm Geborenen. Dieses ist ja nicht von ihm verschieden noch ihm fremd. Denn ein jedes Wesen zeugt ein anderes Selbst, nicht etwas von ihm Verschiedenes.« 33 Siehe unten Kap. 14 u. 16; ferner Witte, Karl Heinz: Von der Psychologie des Lassens und Empfangens zu einer Ontologie der absoluten Präsenz.

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einstimmung avant la lettre mit jener »Umkehr der Phänomenologie«, die Michel Henry in seiner Lebensphänomenologie vollzogen hat. 34 Das ›Erscheinen‹ des Lebens und alles Lebendigen ist unsichtbar. Es gibt kein Sehen, keine Evidenz und kein Denken, die sich dem Leben gegenüberstellen könnten. Vielmehr sind diese cogitationes selbsterfahrene, »pathische« Affektionen der Selbst-Offenbarung des Lebens. »Nicht das Denken gibt uns den Zugang zum Leben; es ist das Leben, welches dem Denken den Zugang zu sich erlaubt, sich selbst zu erproben und letztlich das zu sein, was es jeweils ist: die Selbstoffenbarung einer ›cogitatio‹.« 35 »Das Unsichtbare geht jedem Sichtbaren voraus.« 36

Die in sich aufwallende, rckbezgliche Lebensbewegung: »Ich bin der ich bin.« Bei der Untersuchung der Grundbestimmungen des Seins, die zugleich ›Namen‹ Gottes sind, ist die Selbstprädikation, mit der sich Gott im Dornbusch der Wüste offenbart, »Ich bin der ich bin« (Deut. 3,14), auch für Meister Eckhart ein Schlüsseltext. »Ich« zu sein kommt im eigentlichen Sinne allein Gott zu, ebenso die Wortformen »bin« und »der«. 37 Das Pronomen der ersten Person »ich« bezeichnet ein »reines Subjekt« (Eckhart sagt »Substanz«) schlechthin, das durch kein Außen bestimmt ist: »Substanz ohne Qualität, ohne jede Fremdbestimmung eines Akzidens, ohne diese oder jene Form, ohne Dies und Das. Dies kommt allein Gott zu, der jenseits des Akzidens ist, jenseits Art und jenseits Gattung. 38 Dies sind die Charakteristika des Ich – und vor allem Gottes, indem er Ich ist. Man könnte auch sagen, insofern ihm alle Wesensmerkmale und Eigenschaften abgesprochen werden, die eine Henry, Michel: Inkarnation, Kap. 15: Die ursprüngliche Selbst-Offenbarung des Lebens als Grund der phänomenologischen Methode. Beantwortung des allgemein-philosophischen Problems der Möglichkeit, das Leben zu denken, S. 137–148, hier 144. 35 Henry, Michel: Inkarnation, S. 145 (Hervorhebungen von Henry). 36 Henry, Michel: Inkarnation, S. 8. 37 In Ex. n. 14; 20,2 f.: Notanda sunt hic quattuor. Primo quod haec tria ›ego, sum, qui‹ propriissime deo conveniunt. 38 In Ex. n. 14; 20,3–6: Li ›ego‹ pronomen est primae personae. Discretivum pronomen meram substantiam significat: meram, inquam, sine omni accidente, sine omni alieno, substantiam sine qualitate, sine forma hac aut illa, sine hoc aut illo. Haec autem deo et ipsi soli congruunt, qui est super accidens, super speciem, super genus. 34

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5. Sein, Leben, Denken

Definition ermöglichen. Gott entzieht sich also jeder Definition. Das heißt mit anderen Worten, an Gott kann man nicht mit der Frage, was er sei, herantreten. Er ist »ich«; aber auch als Ich ist er durch keine Eigenschaften bestimmt, die wir gewöhnlich mit der Wer-Frage verbinden. Martin ist der Sohn von Peter und Anna, geboren an jenem Tag an diesem Ort. Er hat eine bestimmte Schule besucht, übt einen Beruf aus, ist verheiratet oder geschieden usw. »Ich bin der ich bin« heißt in dieser Betrachtungsweise nur »Ich bin ich«; auch die Formeln »Ich bin« oder »Ich bin der« würden über die auf sich selbst weisende Bezeichnung hinaus keine inhaltliche Aussage machen. Eine solche eigenschaftslose Selbstständigkeit kommt keinem konkreten Seienden zu, sei es Ding, Tier oder Mensch. Sie alle haben ein Wesen, das heißt eine Washeit; sie sind dies oder das. So wird auch Gott gewöhnlich gesehen, als ein höchstes Wesen, dessen Eigenschaften so edel und erhaben sind, dass sie alle bekannten Eigenschaften übertreffen. Auch Eckhart kennt diese Weise, von Gott zu sprechen; aber durchwegs ist er darauf aus, unser Denken und Sprechen über Gott oder die Gottheit von solchen Vorstellungen zu reinigen. Auch als konkreter Mensch bin ich es gewohnt, mich oder den Anderen mit Was- oder Wer-Merkmalen zu identifizieren. Die Historiker bemühen sich, herauszufinden, wer oder was Meister Eckhart von Hochheim ›wirklich‹ war. Aber es muss noch gefragt werden, in welcher Weise Eckhart von sich »ich« sagt (siehe Kap. 9 und 10). Man könnte meinen, die ausschließlich verneinende Bestimmung Gottes, »Substanz ohne Qualität«, identifiziere Eckhart mit der Leere oder dem Nichts, sei es im Sinne östlicher Philosophie oder der negativen Theologie. Aber die in der Definition des Pronomens »ich« angeführten Verneinungen wollen keine Zuschreibung begründen, auch nicht diejenige der Nichtheit. Denn die verneinende Aussage charakterisiert in keiner Weise die Substanz, wie Eckhart sagt, als würde das zugeschriebene »Nicht« in irgendeiner Weise an Gott eine nicht zu benennende Washeit festmachen. Also: Was ist er? Antwort. Er ist ein oder das Nichts. Vielmehr sagt das »Nicht« in der Verneinung nur, dass etwas Denkbares, das wir aus der geschöpflichen Ebene kennen, bei Gott ausgeschlossen ist. 39 Hier bezeichnen die negativen Aussagen also In Ex. n. 179; 154,6–13: Sciendum ergo quod affirmationes ex sui natura faciunt venire in cognitionem alicuius, quod sit ipsa substantia eius de quo dicuntur vel aliquid eius, puta proprietas vel accidens. Negationes vero ex sui natura non sic, sed solam

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den »Ausschluss« alles Fremdbestimmenden, Hinzukommenden, Überformenden. Doch auch der Begriff »Ausschluss« ist fast noch zu negativ bestimmt. In Wahrheit ist diese Verneinung nur ein Akt unseres Denkens, in Gott und dem Sein selbst gibt es keine Verneinung. Vielmehr ist die Kraft des Seins ein absolutes Ja, das keine Verneinung zulässt. Das absolute Ja ist eo ipso das Nein zu jeder Verneinung (negatio negationis), ohne ein Nein ›sprechen‹ zu müssen. Von dieser ontologischen Grundverfassung gilt es auszugehen, wenn man sagt, dass Gott das Böse ›hasst‹ und ›bestraft‹ und das Gute ›belohnt‹. Seinem Wesen nach kann Gott nicht hassen oder bestrafen; er kann auch nicht belohnen oder nicht-belohnen. Die Dynamik des Ja ist so ausufernd gedacht, dass ein Nein daneben oder darin keinen Platz hat: Darum lautet eine dritte Erklärung des Gottesnamens »Ich bin der ich bin«: »Es ist zu bemerken, dass die Wiederholung, wenn [der Schrifttext] zweimal sagt: ›Ich bin der ich bin‹, die reine Bejahung anzeigt, mit Ausschluss alles Negativen von Gott selbst.« 40

Dieses Sein ist Leben, das an sich, in sich und für sich webt, waltet und wirkt. »Wiederum bezeichnet die Wiederholung auch eine Art rückbezüglicher Hinwendung dieses Seins in und auf sich selbst und ein Wohnen und Haltfinden in sich; ferner gleichsam ein Aufwallen oder Sichselbstgebären. Es ist in sich brausend und innen in sich und in sich hinein fließend und wallend, Licht im Licht und ins Licht, sich selbst im Ganzen und sich zur Ganzheit remotionem sive privationem perfectionis, quam terminus negatus significat. Negatio siquidem tollit totum quod invenit, nihil ponens. Caecitas enim, ut ait Anselmus, non plus ponit in oculo quam in lapide. Negationes ergo dictae de deo hoc solum ostendunt quod nihil istorum, quae in rebus extra sunt et quae sensibus apprehenduntur, in deo est. – »Hierzu muss man wissen, dass bejahende Aussagen ihrer Natur nach zur Erkenntnis von etwas führen, was entweder die Substanz des Dinges ist, dem die Aussage gilt, oder etwas an ihr, eine Eigenschaft oder ein Akzidens. In der Natur der Verneinungen liegt das nicht. Sie besagen lediglich, dass eine Auszeichnung, die der verneinte Begriff bezeichnet, nicht vorhanden ist oder fehlt, wo sie sein sollte. Die Verneinung hebt ja alles auf, was sie beinhaltet, ohne etwas zu setzen. Blindheit zum Beispiel setzt nach Anselm im Auge nicht mehr als in einem Stein. Verneinende Aussagen über Gott besagen also lediglich, dass nichts von dem, was in der Außenwelt ist und was die Sinne wahrnehmen, in Gott ist.« Die Ansicht Anselms ist jedoch phänomenologisch nicht zu halten. Die Blindheit eines Menschen ist sicher etwas anderes als die eines Steines. Insofern ist »Blindheit« keine rein verneinende Aussage. 40 In Ex. n. 15; 21,7 f.: Tertio notandum quod repetitio, quod bis ait: ›sum qui sum‹, puritatem affirmationis excluso omni negativo ab ipso deo indicat.

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durchdringend, das sich selbst im Ganzen und sich der Ganzheit zuwendet und allerseits spiegelt, nach dem Wort des Weisen [aus dem ›Buch der 24 Philosophen‹]: ›Die Einheit zeugt – oder zeugte – die Einheit, und auf sich selbst strahlte sie ihre Liebe – oder ihre Glut – zurück‹.« 41

Die Einleitung des Satzes spricht in der Erläuterung des Ich vom Sein; die Metaphorik spielt aber, indem sie die Rückbezüglichkeit und die Geburt erwähnt, auf den Intellekt an. Die auf sich selbst zurückbezogene Hinwendung und das Anhalten sind Qualifizierungen der neuplatonischen Intelligenzen aus dem ›Liber de causis‹ und auch das Zitat aus dem ›Buch der 24 Philosophen‹ weist auf eine wahrscheinlich trinitarisch inspirierte Erkenntnislehre hin. 42 Nebenbei sei erwähnt, dass der barock anmutende Stil an die Iterationen und Wortgruppenreime aus Eckharts deutschen Predigten erinnert. 43 Wie die in sich verflochtene Dynamik Gottes so durchdringen sich hier auch die Sprachmuster; aber auch die Erstbestimmungen Gottes oder seine Wesensvollzüge (actus); Ich, Sein, Erkennen, Lieben durchdringen sich in diesem Satz; und im anschließenden Satz bringt Eckhart auch das Leben ins Spiel. »Daher heißt es: ›In ihm war das Leben‹ (Joh. 1,4). Leben bedeutet nämlich eine Art Aussaat, durch die etwas in sich selbst aufquillt und sich zunächst ganz und gar in sich ergießt, jedes Teilchen mit sich selbst durchdringend, bevor es sich ausgießt und nach außen heraussprudelt.« 44

Hier lebt Sein; es ist fern von der ›Existenz‹ Gottes, fern vom ewigen In-sich-Ruhen des unbewegten Bewegers, fern vom höchsten SeienIn Ex. n. 16; 21,8–15: Rursus [repetitio indicat] ipsius esse quandam in se ipsum et super se ipsum reflexivam conversionem et in se ipso mansionem sive fixionem; adhuc autem quandam bullitionem sive parturitionem sui – in se fervens et in se ipso et in se ipsum liquescens et bulliens, lux in luce et in lucem se toto se totum penetrans, et se toto super se totum conversum et reflexum undique, secundum illud sapientis: »monas monadem gignit – vel genuit – et in se ipsum reflexit amorem – sive ardorem«. Zum ersten Spruch der 24 Philosophen siehe Flasch, Kurt: Was ist Gott? Das Buch der 24 Philosophen, S. 24–29. Der Spruch lautet: Deus est monas monadem gignens, in se unum reflectens ardorem (Flasch, ebd., S. 25). Die Rückwendung zu sich selbst ist ein Zitat aus dem ›Liber de causis‹, prop. 6 und 14, und ist dort auf die Intelligentia bezogen. 42 Flasch, Kurt: Was ist Gott? Das Buch der 24 Philosophen, S. 28. 43 Siehe dazu Steer, Georg: Die Interpretation der deutschen und lateinischen Predigten Meister Eckharts; vgl. auch im Blick auf einen von Eckhart inspirierten Text Witte, Karl Heinz: Vorsmak des êwigen lebennes, hier S. 188–197. 44 In Ex. n. 16; 22,3–6: Propter hoc Ioh. 1,4 dicitur: »in ipso vita erat«. Vita enim quandam dicit exseritionem, qua res in se ipsa intumescens se profundit primo in se toto, quodlibet sui in quodlibet sui, antequam effundat et ebulliat extra. 41

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II. Philosophische Grundlagen

den, das die »Ursache« (causa efficiens) von allem ist, aber auch vom faktisch Seienden in seiner bloßen Vorhandenheit. 45 Sein ist Leben. Die Gleichsetzung von Gott, Sein und Leben wird in dieser Passage ausgesprochen: Die Kennzeichen sind die durch sich selbst erregte und in sich selbst brandende absolute Bejahung, ein In-sich-Brausen, das in sich sprudelnd die Trinität ist und übersprudelnd aus sich heraus die Schöpfung ergießt. In Gott wie im Sein wie im Leben gibt es nicht Ursache und Wirkung. Das heißt: Das Lebendige wird nicht durch äußere Anstöße bewegt. Leben ist vielmehr Selbstbewegtheit, die Lebendiges aus sich selbst bewegt, aufblühend, aufwallend, mitteilend sein lässt. Was in diesem lebendigen Strudel mitlebt, wird vom Leben angesteckt, entzündet, durchformt. In etwas abstrakterer Sprache wird diese Mitteilungsbeziehung – in Abgrenzung von Wirk- und Zweckursächlichkeit –, wie bereits angesprochen, Wesens- oder Formursache (causa essentialis/formalis) genannt. Diese Weise der Formübertragung soll geistig lebendige, erlebte Prozesse bestimmen. Das wird uns immer wieder begegnen. Eine ausführliche Erläuterung dieses thematischen Zusammenhangs gibt Eckhart in einem lateinischen Predigtentwurf, Sermo XLIX,3 über das Schriftwort ›Cuius est imago haec et superscriptio?‹ – »Wessen Bild und Aufschrift ist das?« (Matth. 22,20). Es drängen sich in diesem Kapitel so viele Themen Eckharts zusammen, dass seine Ausführungen zum Bild eine kleine Zusammenfassung seiner Grundanschauung bieten. Darin wird erläutert, wie die Wesensform im Sein selbst übertragen wird; es handelt sich in gewisser Weise um eine Reduplikation oder eine Rückwendung in sich selbst. Die causa formalis oder essentialis überträgt eine Seinsgestalt wie ein Urbild in das Abbild. Was ist hier mit »Bild«, imago gemeint? Zunächst wird der thematische Umkreis genannt, in dem Eckhart seine Bildlehre ansiedelt. Quero-Sánchez, Andrés: Sein als Freiheit, S. 8 f. versteht das Spezifische des Seinskonzepts Eckharts – auch im Unterschied zur aristotelisch-scholastischen Tradition – als Differenz des faktisch Seienden zum idealen Sein (kursiv von A.Q.-S): »Das Charakteristische an der metaphysischen Position Eckharts liegt aber vor allem darin, wie die noch durchzuführende Diskussion zeigen wird, dass er die Erstursächlichkeit Gottes, i. e. die göttliche Verleihung des Seins, nicht ›realistisch‹, sondern allein ›idealistisch‹ auffasst, Gott also nicht so sehr als die Erstursache des Daseins bzw. Soseins des Seienden, als vielmehr als den idealen (nicht ideellen!) Grund des Seiendseins betrachtet.«

45

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5. Sein, Leben, Denken

»Es ist da zu suchen, wo die Seele wahrhaft Licht ist«, »wo das Oberste, wo der Scheitel der Seele an das Licht der Engel rührt«, »im Obersten der Seele«. 46 Damit verweist Eckhart in das ›topologische‹ Zentrum seiner Gottes- und Seelenlehre. Denn das ist jener ›Ort‹, der sonst auch »das Innerste, das Verborgenste«, der »Grund« oder das »Wesen der Seele«, das »Etwas in der Seele«, das »Fünklein« genannt wird. Das ist der Ort, an dem die Gottesgeburt in der Seele geschieht. 47 Das Innerste der Seele ist also insofern »Bild«, als sich darin wie in einem Spiegel Gott selbst ein-bildet oder überformt. Das Oberste der Seele, jener Ursprungsort der Gotteserfahrung ist aber verborgen. Das heißt: Vom dort anwesenden Bild (imago) Gottes hat das Erkenntnisvermögen kein Vorstellungsbild (species). Jenes Bild hat also nichts mit Sichtbarkeit zu tun; es ist ja das Bild »des unsichtbaren Gottes«, den »niemand je gesehen hat« 48 . »In dasselbe Bild werden wir hinübergeformt.« 49 An dieser Stelle begnügt sich Eckhart mit Stichworten und empfiehlt dem Leser: »Leg das im Einzelnen aus, wie du es weißt.« 50 Präziser wird Eckhart im anschließenden Entwurf unter dem Stichwort »Bild«, imago. Es beginnt mit einer Definition: »Ein Bild ist im eigentlichen Sinne ein einfaches Ausfließen. Dieses lässt formbestimmend das ganze, reine, bloße Wesen hinüberfließen. Dieses Ausfließen betrachtet der Metaphysiker und sieht von der Kausalität und der Finalität ab. Unter die letztgenannten Wirkprinzipien fallen die Naturobjekte [hingegen] in der Forschung des Naturwissenschaftlers.« 51 Sermo XLIX,1 n. 505; 421,8–11: Nota duo: primo, quod »imago« secundum Augustinum ibi quaerenda est, ubi anima vere lux est, non exstincta ex contagione ad corpus; item ubi nihil habens ›figuram huius mundi‹ admittitur; item ubi superius in anima, ubi vertex animae nectitur lumini angelico. Ebd. 422,12 f.: Patet ubi quaerenda, quia in supremo animae. – »Mache zwei Bemerkungen: 1. dass ›Bild‹ nach Augustinus dort zu suchen ist, wo die Seele wahrhaft Licht ist, nicht durch die Berührung mit dem Körper; ferner wo nichts zugelassen wird, das das Zeichen dieser Welt hat; ferner wo das Oberste in der Seele, wo der Scheitel der Seele mit dem Engelslicht verbunden ist.« – »Es ist offenkundig, wo man zu suchen hat, nämlich im Obersten der Seele.« 47 Pr. 101; 339,16 f.: Wan daz muoz sîn in dem allerlûtersten, edelsten und subtîlsten, daz diu sêle geleisten mac. – »Das muss sein in dem Allerreinsten, Edelsten und Feinsten, das die Seele erreichen kann.« 48 Kol. 1,15: qui est imago dei invisibilis primogenitus omnis creaturae; Joh. 1,18: Deum nemo vidit umquam, hier von Eckhart zitiert, Sermo XLIX,1 n. 506; 422,4.8. 49 2 Kor. 3,18: in eandem imaginem transformamur, zitiert Sermo XLIX,1 n. 507; 423,2 f. 50 Sermo XLIX,1 n. 508; 423,15: Pertracta singula, ut nosti. 51 Sermo XLIX,3 n. 511; 425,14–426,2: Nota quod imago proprie est emanatio simplex, 46

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II. Philosophische Grundlagen

Daran schließt sich eine noch eindrucksvollere Charakterisierung der Entstehung eines Bildes an: »Ein Bild ist also ein Ausfließen vom Inneren her, worin alles Äußere schweigt und ausgeschlossen ist. Es ist irgendwie Leben, und zwar wenn du dir etwas vorstellst, das aus sich selbst und in sich selbst anschwillt und in sich selbst sprudelt, aber noch nicht heraussprudelt.« 52 Der Prozess des Aufwallens, der hier im Inneren angesiedelt ist, kennzeichnet das sich selbst zugewandte überreiche Sein Gottes, das im erregten Aufblühen sich selbst als das »Bild« (das Wort oder den Sohn) seiner selbst erzeugt. Der Prozess im Sein wird hier als ›Bildung‹ erörtert; er ist dreifach. »Es gibt im Sein eine Produktion in drei Stufen.« 53 Entscheidend ist, dass in der ersten Stufe, die gerade skizziert wurde, Ursache und Ziel fehlen; die folgenden werden hier nicht berücksichtigt. Das Bild quillt gleichsam auf, entzündet sich im Wehen und Walten des Seins selbst: »Die erste Stufe der Produktion im Sein, von der hier die Rede ist –, darin geht etwas aus sich hervor, von sich selbst her und in sich selbst.« 54 Natürlich ist es schwer, eine reine Formübertragung ohne Vermittlung durch eine Ursache in zutreffende Metaphern zu kleiden. Unseren modernen technisch orientierten Vorstellungen kommen auch in Eckharts Bildsprache Kausalverknüpfungen in den Sinn. Eckhart meint eine ›Bewegung‹, die nicht ins Außen tritt, sondern eine innere Dynamik des Selbst. Wenn wir von den Vorstellungen der Optik absehen, nähert sich das Erscheinen des Bildes im Spiegel einer unmittelbaren Formübertragung vielleicht am besten an. Daraus folgt: »Das Bild lässt sich mit dem, dessen Bild es ist, nicht zusammenzählen, als ob es zwei Substanzen wären, vielmehr ist das eine im andern: ›Ich bin im Vater, und der Vater ist in mir‹ (Joh. 14,10 f.). Ferner, der Gerechte hängt von der Gerechtigkeit als seiner Formursache ab, nicht wie von etwas Äußerem oder Anderem außer ihm oder von einem Anderen, als es selbst ist, von einem ihm Fremden.« 55 formalis transfusiva totius essentiae putae nudae, qualem considerat metaphysicus circumscripto efficiente et fine, sub quibus cadunt naturae in consideratione physici. 52 Sermo XLIX,3 n. 511; 426,2–4: Est ergo imago emanatio ab intimis in silentio et exclusione omnis forinseci, vita quaedam, ac si imagineris rem ex se ipsa et in se ipsa intumescere et bullire in se ipsa necdum cointellecta ebullitione. 53 Sermo XLIX,3 n. 511; 426,5: Est enim triplex gradus productionis in esse. Koch (LW IV, 426) übersetzt »Stufen des Hervorbringens zum Sein«. 54 Sermo XLIX,3 n. 511; 426,5 f.: Primus [gradus productionis in esse], de quo nunc dictum est, quo quid producit a se et de se ipso et in se ipso. 55 Sermo XLIX,2 n. 510; 425,1–4: Ex hoc quinto et secundo iam dicto supra: imago cum

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5. Sein, Leben, Denken

Die Unterscheidbarkeit der zwei im Einen betrifft Gott Vater und Sohn, Gott und den gottförmigen Menschen, die Gerechtigkeit und den Gerechten, die Güte und den Guten, das Leben und den Lebendigen, schließlich auch das Sein und das Seiende, wie weiter unten im Zusammenhang mit der Seinsanalogie erhellt. Für all diese Phänomene trifft die Charakteristik zu, die Eckhart hier dem Bild gibt. Das Spiegelbild hat sein tatsächliches Sein im Original. Jenes ist nicht in der Weise der Teilhabe ein Stück des Abgebildeten, das in den Spiegel abgeschwächt transportiert wurde, sondern was immer sich im Spiegel zeigt, ist in Wirklichkeit im Urbild; aber es ist zugleich ohne irgendwelche Abstriche vollkommen im Abbild. Idealiter gedacht, sind das Bild und das Abgebildete nicht zwei, sondern eins im Urbild. »Aus dem Vorhergehenden erhellt erstens: Das Bild ist im eigentlichen Sinn nur in der lebendigen, geistigen, ungeschaffenen Natur, da ja Wirk- und Zielursache gedanklich ausgeschlossen worden sind. Zweitens: Das Bild hat die Wesensart der Geburt oder des Sprösslings und Sohnes, da es ja in derselben Natur hervorgeht und dem Hervorbringenden in allem gleich und ähnlich ist.« 56

Logoslehre – In principio erat verbum Nach diesem Blick auf die Verflechtungen der Grundbestimmungen Gottes, sollen einige Züge der Beziehungslehre Eckharts dargestellt werden, die sowohl die trinitarischen Beziehungen als auch die Beziehung zwischen Gott und Mensch betreffen, aber auch für bestimmte, pauschal gesagt, für die geistigen Beziehungen im menschlichen Bereich zutreffend sind. Den Zugang eröffnet Eckharts Kommentar zum Prolog des Johannesevangeliums. Der erste Abschnitt dieses Kommentars wird durch eine deutliche Gliederung abgegrenzt. Er beginnt mit dem ersten Ka-

illo cuius est non ponit in numerum nec sunt duae substantiae, sed est unum in altero, »et ego in patre, et pater in me«. Rursus, iustus dependet a iustitia formali dependentia, non quasi ab extraneo sive ab alio extra se, alio a se, alieno sibi. 56 Sermo XLIX,3 n. 512; 427,1–4: Ex praemissis patet primo quod imago proprie est tantum in vivo intellectuali increato, utpote circumscripto et non cointellecto efficiente aut fine. Secundo, quod imago habet rationem partus sive prolis et filii, utpote procedens in eadem natura, aequalis et similis per omnia producenti.

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II. Philosophische Grundlagen

pitel (n. 3) und reicht bis zu einem deutlichen Schlusssatz für diesen Abschnitt (n. 27): »Das möge als eine [erste] Auslegung des Textes ›Im Anfang war das Wort‹ bis ›Es war ein Mensch, von Gott gesandt‹ für jetzt genügen.« 57 Dieser ersten Auslegungsreihe vorangestellt ist die Bemerkung: »Der Ausspruch ›Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott‹ und mehrere folgende sind enthalten in den Worten: ›Und Gott sprach: Es werde Licht, und es ward Licht; und Gott sah, dass das Licht gut war, und er schied das Licht und die Finsternis‹« (Gen. 1,3). 58

Dadurch wird die folgende Logosspekulation unter das Motiv des Lichtes gestellt und zugleich in Verbindung mit der Schöpfungslehre gebracht. Die Auslegung des Eingangsverses des Johannesevangeliums erläutert demnach, wie etwas »hervorgeht«, wie Eckhart sagt; wie es ›entsteht, erscheint, sich entfaltet‹ wären vergleichbare Ausdrücke. Die erste, beherrschende These ist: Was hervorg e h t , ist zuvor schon in dem, das es hervorb r i n g t . Dieselbe These ist uns schon bei der Erläuterung des Verses »Was geworden ist, war in ihm Leben« begegnet. Diese Beziehungsweise gilt von Natur aus und ganz allgemein sowohl für das Göttliche wie für Naturprozesse und für Artefakte. 59 In den nächsten Punkten wird festgelegt, welcher Art solche Entstehungsprozesse sind: »Das Hervorgehende ist im Hervorbringenden, und zwar ist es in ihm wie der Same in seinem Ursprung, wie das Wort im Sprechenden, ferner ist es in ihm

In Ioh. n. 27; 22,1 f.: Haec ergo sufficiant ad praesens quantum ad unum modum exponendi quod dicitur: »in principio erat verbum« usque ibi: »fuit homo missus a deo«. 58 In Ioh n. 4; 5,1–5: Secundum hoc ergo exponendum quod hic dicitur: »in principio erat verbum«. Notandum primo quod hoc ipsum quod hic dicitur: »in principio erat verbum, et verbum erat apud deum«, et plura quae sequuntur, continentur sub illis verbis quibus dicitur: »dixitque deus: fiat lux, et facta est lux; et vidit deus lucem quod esset bona, et divisit lucem ac tenebras«, Gen 1. 59 In Ioh. n. 4; 5,7–10: Ad evidentiam ergo eius quod dicitur: ›in principio erat verbum‹ usque ibi: ›fuit homo missus a deo‹ notandum primo quod naturaliter et generaliter, tam in divinis de quibus hic est sermo, quam etiam in naturalibus et artificialibus, sic se habet quod productum sive procedens ab aliquo prius est in illo. – »Zum Verständnis des Textes ›Im Anfang war das Wort‹ bis ›Es war ein Mensch, von Gott gesandt‹ ist also erstens Folgendes zu bemerken: Es ist naturgemäß und gilt allgemein, sowohl im Bereich des Göttlichen, von dem hier die Rede ist, als auch in Natur und Kunst, dass das von einem Hervorgebrachte oder aus ihm Hervorgehende vorher in jenem ist.« 57

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5. Sein, Leben, Denken

wie die Idee, in der und durch die hervorgeht, was vom Hervorbringenden hervorgebracht wird.« 60

Dies zeigt nochmals an, für welche Art der Natur- und ›Kunst‹-Prozesse Eckharts Aussagen gelten. Es sind nicht die faktischen, physikalischbiologischen oder im empirischen Sinne psychologischen Entstehungsbedingungen gemeint, sondern die Vorgänge, die das Erleben oder Bewusstsein möglich machen, also das, was in der Seele ist, ens in anima. Nun werden aber zwei Begründungsverhältnisse unterschieden, die univoken und die analogen (n. 5). Univok heißt eindeutig, identisch, wesensgleich; analog heißt ähnlich, aber wesensverschieden. Daraus folgt, dass das analog Hervorgehende »immer niedriger, geringer, unvollkommener als das Hervorbringende ist und ihm ungleich; bei gleichartigen, univoken Dingen ist es ihm aber immer gleich: Es nimmt nicht etwa nur an derselben Natur wie das Ursprüngliche teil, sondern empfängt dessen Natur von seinem Ursprung schlechthin ganz, ohne Abzug und in derselben Vollkommenheit«. 61

Zur Verdeutlichung dieser Verhältnisse dient hier (n. 6) der Vergleich der Truhe im Geist des Kunsthandwerkers mit der materiellen Truhe, die er draußen hergestellt hat. Selbst wenn diese materielle Truhe zerstört wird, bleibt sie im Geist des Künstlers erhalten, und dort ist sie nicht aus Holz, sondern sie ist »Leben und Denken des Künstlers, sein lebendiger Entwurf«. 62 Die Anfertigung der Truhe in der Werkstatt ist nur ein analoges Hervorgehen aus dem Künstler; aber die Idee der Truhe geht im Künstler aus dem Künstler univok hervor. In seinem Geist hat die Truhe als Idee dieselbe Natur und Trägerschaft, nämlich Geist und inneres Leben des Künstlers zu sein, aber gleichzeitig ist die Idee vom Künstler unterscheidbar. Dieses Merkmal, dass der Hervorgehende ein anderer, aber nichts anderes ist als der Ursprung, erlaubt

In Ioh. n. 4; 6,12–14: Habes ergo quattuor, scilicet quod procedens est in producente, item quod est in ipso ut semen in principio, ut verbum in dicente, item quod est in ipso ut ratio, in qua et per quam procedit quod producitur a producente. 61 In Ioh. n. 5; 7,4–7: Ubi notandum quod in analogicis semper productum est inferius, minus, imperfectius et inaequale producenti; in univocis autem semper est aequale, eandem naturam non participans, sed totam simpliciter, integraliter et ex aequo a suo principio accipiens. 62 In Ioh. n. 6; 8,1 f.: Arca enim in mente artificis non est arca, sed est vita et intelligere artificis, ipsius conceptio actualis. 60

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Eckhart, hier die Beziehung von Vater und Sohn zu unterstellen, insofern ja der Sohn definitionsgemäß ein anderer der Person, aber nichts anderes der Natur nach ist.

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Sechstes Kapitel Die Seinsanalogie

Wurde als Resultat der These »Das Sein ist Gott« festgehalten, dass Gott als das Sein in einer ausgezeichneten Weise im Seienden, sprich: im Menschen, ist, so lesen wir im ›Kommentar zum Johannesevangelium‹ eine Erläuterung desselben Verhältnisses aus dem Gesichtspunkt des Prinzips und des Prinzipiats. Das Prinzipiat, also das Gewordene, ist in ausgezeichneter Weise im Prinzip, dem Ursprung, und zwar in geistigen Prozessen univok, wesensgleich, in geschöpflichen Hervorgängen analog.

Die Analogie bei Thomas von Aquin und bei Eckhart Um diese zweite Hervorgehensweise in Eckharts Sinn richtig zu verstehen, ist ein genauerer Blick auf seine Analogielehre sinnvoll. Deren Quintessenz ist zuvor schon in den Ausführungen über das Sein, die Weisheit und Güte angeklungen, 1 wenn es heißt, dass sie als austauschbare Erstbestimmungen des Seins unmittelbar aus Gott hervorgehen. Dieser Zusammenhang tritt auch unter dem Namen Transzendentalienlehre auf. Im vorausgehenden Abschnitt ist das analoge Begründungsverhältnis neben dem univoken als Charakteristikum der Prinzipienlehre skizziert worden, wenn es heißt, das Hervorgehende sei entweder wesensgleich oder nur analog im Hervorbringenden zuvor enthalten. Das Problem der Analogie tritt für das übliche Verständnis dann auf, wenn derselbe Name verwendet wird, um ein Phänomen zu bezeichnen, das in verschiedenen Seinsstufen vorkommt. So könnte man fragen, ob »Intelligenz« bei Mensch und Tier wesensgleich ist und dieser Name darum für beide eindeutig (univok) gilt. Oder ist 1

Zum Beispiel oben S. 83 f.

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»Intelligenz« bei beiden verschieden und ist darum die Bezeichnung nur namensgleich (aequivok)? Oder ist »Intelligenz« bei Mensch und Tier ähnlich, das heißt teilweise verschieden und teilweise gleich? Dann spräche man bei beiden von »Intelligenz« im analogen Sinne. Ein anderes Beispiel: Ein Freund ist entfernt, aber ich habe ein Bild von ihm. Sein Bild ist nicht er selbst, sondern analog. Wäre es univok, so wäre er so präsent, dass er sozusagen ›hier‹ wäre oder auch gar nicht ›hier‹ sein müsste und doch anwesend, sozusagen bilokal oder holografisch. In der Philosophie spricht man von Analogie, wenn dieselben Bezeichnungen für Gott und den Menschen verwendet werden. »Seinsanalogie« heißt dann, dass das Sein Gottes und des Menschen ähnlich sind. Sie stehen in einer proportionalen Beziehung: Der Mensch hat Sein in einem abgeschwächten Sinn. Der Mensch ist ›Bild Gottes‹. Das drückt ebenfalls eine analoge Beziehung aus. Der Mensch hat die gleichen Eigenschaften wie Gott, vor allem Geist, Leben, Liebe, aber in einem abgeschwächten Sinne. Dies ist im Wesentlichen das Verständnis der Analogie bei Thomas von Aquin, und man darf sagen, dass Analogie gemeinhin so verstanden wird. Wenn absolute Gerechtigkeit und ›menschliche‹ Gerechtigkeit nebeneinander zu stehen scheinen, sagt man, die menschliche Gerechtigkeit sei der Gerechtigkeit Gottes nur analog, das heißt ein abgeschwächter Modus des Gerechtseins, der in einer gewissen – je nach Tugendrang – proportionalen Beziehung zur göttlichen Gerechtigkeit steht. In gleicher Weise sieht die klassische thomistische Lehre die Seinsanalogie. Danach gibt es ein vom göttlichen Sein verschiedenes, irgendwie ähnliches, selbstständiges Sein im Geschöpf, das allgemeine geschöpfliche Sein (esse commune, esse formale) oder, wie Eckhart es nennt, das dem Seienden innewohnende formstiftende Sein (esse formaliter inhaerens). Dieses ist nach der geläufigen Vorstellung dem göttlichen Sein analog, das heißt: Es ist abgeschwächt, ähnlich, aber wesensverschieden Seiendes. Es ist nun zu erläutern, dass Eckhart etwas anderes meint, wenn er von Analogie spricht. Eckharts entscheidende Festlegung seiner Analogielehre ist, dass die Seinsweise, die eine Analogie begründet, also das wirkliche Sein, die Intelligenz, die Gerechtigkeit usw., nur im ersten, die Vergleichbarkeit stiftenden Analogat gegeben ist. 2 2 Siehe Quaest. Par. I n. 10; 46,7–9: Item: in his quae dicuntur secundum analogiam, quod est in uno analogatorum, formaliter non est in alio, ut sanitas solum est in animali

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6. Die Seinsanalogie

Die wichtigste Belegstelle für Eckharts Analogielehre findet sich in den ›Predigten und Vorlesungen zum Ecclesiasticus (Jesus Sirach)‹ innerhalb einer Vorlesung über den Vers Qui edunt me, adhuc esurient, et qui bibunt me, adhuc sitient. – »Wer mich isst, den hungert weiterhin; wer mich trinkt, den dürstet immer noch« (Jes. Sir. 24,29). 3 Zur Veranschaulichung wird dort auf ein Beispiel zurückgegriffen, das schon Aristoteles bringt: Die wirkliche Gesundheit findet sich nur in dem Lebewesen selbst, in analoger Weise spricht man aber auch von gesunder Nahrung und gesundem Urin. In diesen gibt es aber Gesundheit als reale Beschaffenheit so wenig wie in einem Stein; die analoge ›Gesundheit‹ zeigt nur jene eindeutige Gesundheit an, die in dem gesunden Lebewesen ist. Ebenso ist in einem Reif, der einen Weinausschank anzeigt, kein realer Wein; aber er ist eine Analogie für das Weinfass in jener Wirtschaft, in der der Wein ausgeschenkt wird. 4 Diese traditionellen Beispiele für die Analogie können freilich Eckharts Seinslehre nur insofern veranschaulichen, als eine ontologische (hier materielle) Seinsteilhabe der Gesundheit oder des Weins in den betreffenden Analogata ausgeschlossen wird. Das abgeleitete oder symbolische Enthaltensein der Gesundheit oder des Weins kann die Weise, wie das göttliche Sein oder die Gerechtigkeit nach Eckharts Lehre in den Menschen anwesend ist, nicht repräsentieren. Eckharts Formulierung der Seinsanalogie lautet: »Das Seiende aber oder das Sein und jede Vollkommenheit, besonders die allgemeine Vollkommenheit, nämlich Sein, Eines, Wahres, Gutes, Licht, Gerechtigkeit und ähnliche, werden von Gott und den Geschöpfen a n a l o g ausgesagt. Daraus folgt, dass sie das Gutsein und das Gerechtsein und die ihnen eigene Güte gänzlich von einem anderen außer sich haben, zu dem sie in analoger Beziehung stehen, das ist Gott.« 5 formaliter, in diaeta autem et urina non est plus de sanitate quam in lapide. – »Ferner: In den Seinsweisen, die analog ausgesagt werden, ist, was in einem Analogat ist, streng genommen nicht im anderen: Zum Beispiel ist die Gesundheit eigentlich nur im Lebewesen, in der Nahrung und im Urin aber ist sie nicht mehr als in einem Stein.« 3 In Eccli. n. 42–61; 270,8–290,7. Der Schriftvers ist nach der Vulgata zitiert. Die ›Einheitsübersetzung‹ bringt den Vers unter Jes. Sir. 24,21. 4 In Eccli. n. 52; 280,9–13: Verbi gratia: sanitas una eademque, quae est in animali, ipsa est, non alia, in diaeta et urina, ita quod sanitatis, ut sanitas, nihil prorsus est in diaeta et urina non plus quam in lapide, sed hoc solo dicitur urina sana, quia significat illam sanitatem eandem numero quae est in animali, sicut circulus vinum, qui nihil vini in se habet. 5 In Eccli. n. 52; 281,1–5: Ens autem sive esse et omnis perfectio, maxime generalis,

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II. Philosophische Grundlagen

Dieses oder jenes konkrete Gutsein und die konkrete Gerechtigkeit des Menschen haben demnach keinen eigenen realen Bestand im Menschen selbst. 6 »Aber jedes geschaffene Seiende steht zu Gott in analoger Beziehung im Sein, im Wahrsein und Gutsein. Darum hat jedes geschaffene Seiende v o n G o t t u n d i n G o t t , n i c h t i n s i c h s e l b s t als geschaffenem Seienden zu sein, zu leben, vernünftig zu sein (sapere), und zwar positiv und wurzelhaft.« 7

Das widerspricht diametral modernem Selbstverständnis, schon weil recht sein und weise sein selbstverständlich als menschliche Eigenschaften betrachtet werden, wenn sie nicht gar als Namen oder Sprachgebilde ohne Sachbezug gelten sollen. Dass Eckharts Verständnis der Analogie auch zu seiner Zeit nicht üblich und sogar angefochten war, sagt er selbst: »Es ist aber auch zu bemerken, dass manche diese Natur der Analogie falsch verstehen, verwerfen und bis heute darüber im Irrtum sind.« 8 Gemeint sind damit die Anhänger der Analogielehre des Thomas von Aquin, die analoges Sein, Gutsein und dergleichen als proportional ähnliches, aber selbstständiges Sein im Geschöpf verstanden. Selbstbewusst grenzt Eckhart sich von diesen »Irrenden« ab (nos autem) und verweist auf seine Ausführungen im ersten Buch des ›Liber propositionum‹. 9 Eckhart gibt puta esse, unum, verum, bonum, lux, iustitia et huiusmodi, dicuntur de deo et creaturis analogice. Ex quo sequitur quod bonitas et iustitia et similia bonitatem suam habent totaliter ab aliquo extra, ad quod analogantur, deus scilicet. 6 In Eccli. n. 53; 282,1 f.: Analogata nihil in se habent positive radicatum formae secundum quam analogantur. – »Die analogen Seinsweisen haben nichts in sich, das positiv in der [geschöpflichen] Form wurzelt, gemäß derer sie in Analogie gesetzt sind.« 7 In Eccli. n. 53; 282,2–4: Sed omne ens creatum analogatur deo in esse, veritate et bonitate. Igitur omne ens creatum habet a deo et in deo, non in se ipso ente creato, esse, vivere, sapere positive et radicaliter. 8 In Eccli n. 53; 282,7–8: Notandum etiam quod hanc naturam analogiae quidam male intelligentes et improbantes erraverunt usque hodie. 9 In Eccli. n. 53; 282,8 f.: Nos autem secundum veritatem analogiae intelligendo, sicut ex primo ›Libro propositionum‹ declaratur dicamus quod ad significandum hanc veritatem analogiae rerum omnium ad ipsum deum dictum est optime: »qui edunt me, adhuc esuriunt«. – »Wir aber, die wir die Analogie wahrheitsgemäß verstehen, wie sich aus dem 1. Buch der Thesen erweist, wollen sagen, dass zur Kennzeichnung dieser Wahrheit der Analogie aller Dinge mit Gott selbst treffend gesagt ist: ›Wer mich isst, hungert weiter‹.« Der Hinweis auf das ›Opus propositionum‹ zeigt, dass die Transzendentalienlehre und später die Prinzipienlehre des ›Johanneskommentars‹ als Ausfaltung der Analogielehre zu verstehen sind.

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6. Die Seinsanalogie

damit einen Hinweis darauf, dass seine Analogielehre im Zusammenhang mit seiner Transzendentalienlehre und konkret mit der These »Das Sein ist Gott« gelesen werden solle. Welche Provokation in diesem Vortrag steckt, kann ermessen, wer berücksichtigt, dass Eckhart seine Vorlesung wahrscheinlich kurz nach seiner Rückkehr aus Paris vom ersten Magisterium als Theologieprofessor im Jahre 1304 gehalten hat, als gerade frisch ernannter Provinzial der Saxonia, vor den versammelten Ordensoberen sowie Leitern und Abgeordneten der deutschen Dominikanerklöster. 10 Eckhart griff damit in die Diskussion um die Verbindlichkeit der Lehre des Thomas ein; vergeblich, denn schon fünf Jahre später werden dessen Schriften zur Ordensdoktrin erhoben. Die Heiligsprechung im Jahr 1323 setzte der Diskussion im Dominikanerorden ein Ende.

Sein und Seiendes So viel zur problematischen Intention dieser Erklärung der Analogie. Eckharts Gedankengang ist aber nur angemessen zu würdigen und einzuordnen, wenn man den Rahmen beachtet, in dem das Lehrstück vorgetragen wird, nämlich in einer Vorlesung über den Vers Qui edunt me, adhuc esuriunt, »Wer mich isst, hungert weiterhin« (Jes. Sir. 24,29). Die Rede ist von der Weisheit als einem Attribut Gottes. In diesen Zusammenhang ordnet Eckhart die Analogielehre selbst ein. Nach der zitierten Abweisung der (nach Eckharts Meinung) allgemein verbreiteten Fehldeutung der Analogie, fährt er fort: »Wir wollen sagen, dass das Wort ›Wer mich isst, hungert weiter‹ bestens geeignet ist, diese Wahrheit des analogen Bezugs aller Dinge auf Gott selbst anzuzeigen. Sie essen, weil sie sind; sie hungern, weil sie von einem anderen sind.« 11 Eckhart deutet diese Aussage so: Jedes Seiende i s t , und als solches Ist-Sein isst und trinkt es Gott. Insofern er das Sein im Seienden ist, ist Gott dessen ständige Nahrung. Aber das Seiende ist nicht Die Vorlesung scheint entweder auf dem Generalkapitel im Mai 1304, worauf das Explizit in Handschrift C hindeutet, oder/und auf dem Provinzialkapitel im September 1304 gehalten worden zu sein. Die Argumente hierzu referiert Eckhart Triebel auf www.eckhart.de unter dem Stichwort »Texte: Sermones et lectiones«. 11 In Eccli. n. 53; 282,10–12: Dicamus quod ad significandum hanc veritatem analogiae rerum omnium ad ipsum deum dictum est optime: ›qui edunt me, adhuc esuriunt‹. Edunt, quia sunt, esuriunt, quia ab alio sunt. 10

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II. Philosophische Grundlagen

das Sein selbst, sondern von dem Sein geworden und gehalten. Das Seiende ist nicht autark, deshalb hat das Seiende nie genug von Gott, sondern hungert und dürstet, selbst wenn es Gott isst und trinkt. 12 Anders ausgedrückt: »Als Sein ist Gott zuinnerst in allen Dingen, und so isst ihn jedes Seiende. Er ist aber auch draußen, weil er über allem und so außer allem ist [sodass das Seiende von ihm abhängt]. Also isst [ihn] alles, weil er drinnen, und hungert, weil er draußen ist.« 13

Im Rahmen der Vorlesung ist die Analogielehre die neunte von elf Auslegungen des Bibelverses. Die vorgestellten Zitate zeigen schon, dass es wiederum um die besondere Art des Bezogenseins von Mensch und Gott geht, hier in der Formulierung des Drinnen- und Draußenseins Gottes. Gott ist als Sein im Geschöpf; und trotzdem hungert und dürstet alles nach dem Sein, nach Gott. »Denn ohne Sein ist das ganze Weltall nicht mehr wert als eine Mücke, die Sonne nicht mehr als Kohle und die Weisheit nicht mehr als Unwissenheit.« 14 Wäre »Sein« hier im Sinne der scholastischen Vorhandenheit (existentia) verstanden, läge darin ein Affront. Denn Weltall, Sonne und Weisheit haben ja Sein im Sinne der Existenz. Außerdem: Die Wesensidee des Universums, der Sonne oder gar der Weisheit, die ja ›vor‹ der Schöpfung und ohne die hinzutretende Existenz als essentia gedacht wird, hat sicher keinen geringen Wert. Oder soll man den Satz als rhetorische Figur verstehen, als katachrestische Hyperbel, die Eckhart auch sonst liebt: eine Übertreibung, die eine undenkbare Vorstellung benützt, um dem Gemeinten eine besondere Schärfe zu verleihen? Die genannten Seienden, die als solche ja ›Sein haben‹, wären »ohne Sein« wertlos? Aber wären sie dann überhaupt noch Seiende? Für den gewöhnlichen Menschenverstand ein unsinniger Gedanke. Dann soll wohl nichts anderes betont werden als die Unerlässlichkeit des Seins, damit Seiendes ist? Das wäre jedoch ein ›weißer Schimmel‹ und als solcher Eckharts nicht In Eccli. n. 47; 275,5 f.: Et sic omne ens edit deum, utpote esse; sitit autem omne ens ipsum esse. – »Jedes Seiende isst Gott als Sein; es dürstet aber jedes Seiende nach dem Sein selbst.« 13 Eccli. n. 54; 282,13–283,2: Deus est rebus omnibus intimus, utpote esse, et sic ipsum edit omne ens; est et extimus, quia super omnia et sic extra omnia. Ipsum igitur edunt omnia, quia intimus, esuriunt, quia extimus. 14 In Eccli. n. 44; 273,7–9: Sine esse enim non plus valet totum universum quam musca, nec plus sol quam carbo, nec sapientia plus quam ignorantia. 12

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6. Die Seinsanalogie

würdig; ein solcher Gedanke bräuchte auch nicht die ausführliche Entfaltung von Argumenten. Wir müssen vielmehr dem Gedanken nachgehen, dass für Eckhart im Seienden etwas ist und zugleich nicht ist. »Das Sein, nach dem jedes Seiende aus der Zahl der Seienden dürstet, hungert und strebt, hat es nicht aus sich, sondern aus einem Anderen, einem Oberen.« 15 Und doch ist dieses ersehnte Sein i n dem Seienden; es kann aber auch abwesend sein. Eckhart wählt die bedenkenswerte Formulierung: »Das Sein haftet nicht, hängt nicht und beginnt nicht im Seienden; es verweilt nicht, wenn das Obere selbst – sogar nur in Gedanken – abwesend ist.« 16 Das Sein des Seienden als Vorhandensein oder Etwas-Sein kann nicht verloren gehen, wohl aber, in Eckharts Augen, das Sein, esse. Dieses ist demnach eine besondere Qualität, die dem Seienden, wie wir aus diesem Text entnehmen, Wert, ja vielmehr »Sein« verleiht, wie es hier ausdrücklich heißt. Am schärfsten hat Andrés Quero-Sánchez diesen Sachverhalt herausgearbeitet, 17 den er so formuliert: Das Seiende hat als Geschaffenes faktisches »Sein«; ihm fehlt aber das wirkliche, ideale »Sein«. Um dieses eigentliche »Sein« vom »Sein« der bloßen Existentia abzuheben, schreibt er das eigentliche stets kursiv. Quero-Sánchez’ Befund und dessen Analysen sind erhellend; überzeugend ist auch die Einordnung eckhartschen Denkens in eine »idealistische« Tradition, das heißt in eine am Ideal orientierte Philosophie, in pointierter Abgrenzung von dem metaphysischen Realismus des Thomas von Aquin und Albertus Magnus. Gleichwohl benütze ich das Denkmodell ›Idealismus‹ und die damit einhergehenden Formulierungen nicht, weil im gemeinen Sprachgebrauch ›idealistisch‹ meist mit ›unrealistisch‹ assoziiert wird. Von diesem Verständnis distanziert Quero-Sánchez Eckhart freilich ausdrücklich. Für Eckhart ist das Sein zwar keine Sache (res) im Sinne des Dies oder Das, aber doch die höchste Wirklichkeit (actualitas) und – das ist das Entscheidende – eine Wirklichkeit, die i n den Dingen ist. Darum ziehe ich eine phänomenologische Annäherung vor, um der Wahr-Nehmung des In-Seins Gottes oder des Seins in den Dingen näherzukommen. Dazu ist es zunächst notwendig, einen erweiterten, mit Leben erfüllten Begriff des In Eccli. n. 45; 274,4 f.: Patet igitur quod omne ens et de numero entium non habet ex se, sed ab alio superiori esse quod sitit, esurit et appetit. 16 In Eccli. n. 45; 274,5–7: Propter quod in ipso non figitur nec haeret nec inchoatur esse; nec permanet absente, etiam per intellectum, ipso superiori. 17 Quero-Sánchez, Andrés: Sein als Freiheit, einführend zu Eckharts Idealismus S. 26– 37. 15

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II. Philosophische Grundlagen

Seins zu gewinnen. Denn »besser und eigentlicher gesagt, empfängt das Seiende kontinuierlich das Sein, als dass es ein festes oder auch nur anfängliches Sein selbst hätte.« 18 Das erinnert an eine Formulierung, die Eckhart wählt, um den Schein aufzulösen, »Tugenden« seien aus überdauerndem Habitus, gleichsam aus Charaktereigenschaften ableitbar. Er sieht sie vielmehr als je aktuelle Konfigurationen, die sich in einem unaufhörlichen Werden (continuo fieri) realisieren, um so einen vermeintlich stabilen Tugendhabitus, also die überdauernden Charaktereigenschaften, aufzulösen. »Und das ist, was wir sagen wollen: Die Tugenden, zum Beispiel die Gerechtigkeit und ähnliche, sind nämlich eher aktuelle Justierungen (actu configurationes) als etwas innebleibend Geformtes, das einen Halt und eine Wurzel im tugendhaften Menschen hätte, und sie sind in unaufhörlichem Entstehen (continuo in fieri) wie der Glanz [des Lichts] auf seinem Träger und das Bild im Spiegel.« 19

Diese Sicht Eckharts auf das Sein dürfte, wenn wir sie ernsthaft mit vollziehen, unsere Haltung zum Leben gründlich verändern. Dazu soll in späteren Ausführungen mehr gesagt werden. In sich und aus sich ist alles Seiende leer, deshalb dürstet und sehnt es sich nach dem Sein. 20 Diese Aussage nimmt in diesem frühen lateinischen Werk schon die berühmte Formulierung der deutschen Predigt Nr. 6 vorweg, die Geschöpfe seien ein reines Nichts. 21 Es zeigt sich erneut, dass die negativen Formulierungen über das Geschöpfliche nicht im strengen Sinne ontologisch zu nehmen sind, sondern, in moderner Lesart, existenziell. Bloß in und aus sich betrachtet, sind und fühlen sich die Menschen (Geschöpfe) in der Tat nichtig und leer. Und tatsächlich suchen sie sich ständig zu füllen. In einer primitiven ›Ontologie‹ gebrauchen sie dazu Substanzen und Erlebnisse. Man könnte In Eccli. n. 45; 274,8 f.: Et potius et proprius accipit continue esse quam habeat fixum aut etiam inchoatum ipsum esse. 19 In Sap. n. 45; 368,4–7: Et hoc est quod volumus dicere. Virtutes enim, iustitia et huiusmodi, sunt potius quaedam actu configurationes quam quid figuratum immanens et habens fixionem et radicem in virtuoso et sunt in continuo fieri, sicut splendor in medio et imago in speculo. Siehe dazu unten S. 130. 20 In Eccli. n. 45; 274,9 f.: Sic ergo sitit et appetit esse omne ens, utpote in se et ex se nudum. 21 Pr. 6; 69,8–70,3: Alle crêatûren sint ein lûter niht. Ich spriche niht, daz sie kleine sîn oder iht sîn: sie sint ein lûter niht. Swaz niht wesens enhât, daz ist niht. Alle crêatûren hânt kein wesen, wan ir wesen swebet an der gegenwerticheit gotes. 18

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6. Die Seinsanalogie

denken, auch Gott sei eine entsprechende Substanz, wie Karl Marx gemeint hat, Religion sei das »Opium des Volkes«. Für Eckhart ist aber Gott keine Substanz neben oder über anderen Seienden. Den Unterschied zwischen dem ›Substanzmittelgebrauch‹ und dem Gebrauch Gottes erklärt Eckhart so: »Im Durst empfängt [das Seiende] Sein. Deshalb isst und hungert es immerzu; denn im Hungern empfängt es das Sein, durch das es ist und das es isst. Anders ist es bei allem anderen, das nicht nach dem Sein selbst und nach seiner Ursache dürstet, sondern nach einem qualifizierten Sein (tale esse). Im Dürsten und Streben nach diesem empfinge es nämlich nicht Sein, sondern ein Dieses-Sein; aber durch ein so qualifiziertes, wäre es kein [eigentlich] Seiendes, sondern ein Dieses-Seiendes.« 22

So wird in diesen Aussagen die Differenz von Sein und Seiendem herausgestellt. Derselbe Unterschied kann auch in die Begriffe Erst- und Zweitursache gefasst werden. Die Erstursache, das Sein oder Gott, ist Ursache des Seins der Dinge oder Ursache des Seienden, sofern es Seiendes ist. 23 Darum ist auch die Erstursache in den Prozess des Hungerns, Essens und Weiterhungerns eingebunden, ein Zirkel, den Eckhart später in den Worten Bernhards von Clairvaux mit der Liebe, die die Liebe liebt, vergleicht: »eine Bewegung im Kreis, sodass die Liebe kein Ende findet« 24 . Anders bei den Zweitursachen: Deren Wirkungen kommen, in der Metaphernsprache, die Eckhart hier benützt, zur Ruhe, wenn sie am Ziel sind: »Deshalb trinken und essen zwar die Wirkungen ihre so oder so gearteten Zweitursachen, aber sie dürsten nicht nach diesen noch suchen oder begehren sie sie.« 25 Als Beispiele nimmt Eckhart das Haus, das zwar zu seinem Werden die Baukunst des Baumeisters als Zweitursache braucht, das dann aber beruhigt da steht. Ebenso

In Eccli. n. 46; 275,11–14: Sitiendo igitur accipit esse. Propter quod semper edit et esurit, quia esuriendo accipit esse quo est et quod edit. Secus de omni alio quod non sitit esse ipsum et causam, sed tale esse. Hoc enim sitiendo et appetendo non acciperet esse, sed hoc esse, nec per ipsum tale esset ens, sed ens hoc. 23 Diese Sichtweise Eckharts zeigt, dass die ›ontologische Differenz‹ von Sein und Seiendem von Eckhart vielleicht vorausgedacht ist (vgl. unten S. 160 u. oben S. 89), jedoch ist Sein nicht im Sinne des späten Heidegger als »Wahrheit des Seins« oder als »Seyn« gedacht, wie er es in den 1930er und 1940er Jahren häufig schreibt. 24 In Eccli. n. 59; 287,10: Amare autem amorem circulum facit, ut nullus sit finis amoris. 25 In Eccli. n. 48; 276,11–13: Propter quod effectus talium causarum bibunt quidem et edunt causas suas, sed ipsas non sitiunt, non quaerunt nec appetunt. 22

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II. Philosophische Grundlagen

werden die Jungen der Tiere genährt, umsorgt und gepflegt, bis sie ihr Reifeziel erreicht haben; dann beachten sich Eltern und Kinder nicht mehr als andere Artgenossen. 26 Doch der Einfluss der Erstursache hört nicht auf, und das ist das entscheidende Demonstrationsziel des ganzen Abschnitts, der auf das Wesen der Seinsanalogie zuläuft. Die Erstursache oder das Sein oder Gott ist zugleich außer wie i n den Dingen. »Die erste Ursache aber, welche Gott ist, beeinflusst ihre Wirkung ebenso durch Bewahrung im Sein, wie sie sie im Werden beeinflusst oder beeinflusst hat; und umgekehrt hängt die Wirkung, obgleich abgeschlossen, [stetig] von der ersten Ursache ab, ebenso in ihrem Sein wie in ihrem Werden. Deshalb isst jede Wirkung die erste Ursache und hungert nach ihr.« 27

Zurück zur Analogie. Die Geschöpfe sind, sie sind zu ihrem Teil gut, richtig, klug, lebendig. Eckharts Analogielehre sagt, dass sie das, was sie haben, was ihren Wert und ihre Würde ausmacht, nicht aus sich selbst haben, selbst wenn es in ihnen anzutreffen ist. Empirisch psychologisch können sogar neuropsychologische, sozioökonomische, bildungsgeschichtliche, biografische Herleitungen für die charakterlichen und ethischen Prägungen aufgezeigt werden. Aber die Frage nach der Möglichkeit des Gutseins, des Klugseins und Gerechtseins ist damit nicht beantwortet. Was macht es möglich, dass ich bin und lebe? Dass ich geboren bin. Die Frage nach der Möglichkeit des Lebens wie des guten Lebens findet ihre Antwort in der grundlosen, unverfügbaren Ankünftigkeit, im Gegebensein des Lebens, in der anfänglichen Faktizität meiner Geburt. Das Geborensein ist jedoch nicht nur ein historisch-biografisches Ereignis meines Auf-die-Welt-Kommens, sondern eine – meistens vergessene – existenziale, phänomenologische Struktur meines Seins.

In Eccli. n. 48; 276,15–19. In Eccli. n. 48; 277,4–6: Causa vero prima, quae deus est, non minus influit effectum conservando in esse quam influat aut influxerit in ipso fieri; et e converso effectus, quamvis completus, non minus dependet a causa prima in suo esse quam in suo fieri. Propter quod ipsam causam primam omnis effectus edit et esurit.

26 27

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Siebtes Kapitel Transzendenz in der Immanenz

Innere Prozesse Beim Konzept des Innen und Außen müssen wir umdenken, wenn wir Eckhart verstehen wollen. Gewöhnlich stellen wir uns diese beiden Bereiche nach dem Modell eines Behälters vor, der als das Äußere den Inhalt als das Innere umschließt. In dieser Weise wird auch der Gott im Himmel vorgestellt. Auch der Schöpfer, der wie ein Töpfer die Menschen formt und ihnen das Leben einhaucht, entspricht der Vorstellung von innen und außen. Sogar wenn gefragt wird, ob ›vor‹ dem oder ›jenseits‹ des Urknalls ein göttlicher Initiator gedacht werden könne, ist er als eine Instanz ›außerhalb‹ des Kosmos vorgestellt. So wird auch der Aufenthalt des gewöhnlichen Gottes ›außerhalb der Zeit‹ als ein quasi-räumliches Jenseits vorgestellt, aus dem der Mensch kommt und in das er nach seinem Tode wieder eingeht. In ›übernatürlichen‹ Gnadenzuständen kann Gott auch in den Menschen eingehen. Er ist dann irgendwie ›in‹ der Seele, die wie eine Flüssigkeit oder wie ein Gas im Behälter unseres Leibes oder auch in manchen innersten Winkeln des Gehirns vorgestellt wird. Mit Eckhart kann man nicht mehr in solcher räumlichen Weise vom Innen sprechen, in dem sich Denken, Wollen, Fühlen, Gottesbegegnung und gar das Leben ereignen. Das Leben, das Ereignis Gottes und des Menschen, i s t selbst das Innen. Leben aus dem Grunde des Lebens, das ist aus Gottes Grund. Dieser Grund ist zugleich der Grund der Seele oder das Wesen der Seele. Die differenzierteste Abhandlung über diesen transzendentalen und zugleich immanenten Grund findet sich im sogenannten ›Gottesgeburtszyklus‹, das sind die Predigten 101–104, auf den unsere Betrachtung des Öfteren zurückkommen muss. 1 Hier wird die Frage nach dem »Ort« der Gottesgeburt und nach der rechten 1

DW IV,1; S. 279–610.

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II. Philosophische Grundlagen

Haltung, die auf das Geschehen der Gottesgeburt vorbereitet, explizit gestellt und beantwortet: Die Gottesgeburt geschieht »in dem Reinsten, das der Seele möglich ist, in dem Edelsten, in dem Grunde, ja, im Wesen der Seele, das ist im Verborgensten der Seele. Dort ist ›das Mittel Schweigen‹ (Sap. 18,14 f.); denn dorthin ist nie ein Geschöpf und nie eine Vorstellung gelangt; da hat die Seele auch kein Wirken und kein Erkennen. Sie kennt dort kein Vorstellungsbild, weder von sich selbst noch von irgendeinem Geschöpf«. 2

Dementsprechend gibt es vonseiten des Menschen auch keine Annäherung an die Geburt des Wortes. Es handelt sich aber auch nicht um ein rein jenseitiges Geschehen. Das Wirken Gottes im Grunde der Seele, das der Mensch nur geschehen lassen kann, ist zugleich die Quelle des Lebens, die sich in die Tätigkeiten der Seele, das sind die Bewusstseinsakte, ergießt und sie überformt. Das Licht, das in der Geburt das Wesen der Seele durchdringt, fließt auch über in die Kräfte der Seele, durchdringt also Erkennen und Wollen, modern gesprochen das Bewusstsein, und erhellt, klärt und erleuchtet den Menschen von innen, jedoch nur, wenn die Aufmerksamkeit nicht auf eine Hilfe und Maßgabe von außen abirrt: »Dieses Licht kann der Mensch wohl wahrnehmen. Wenn er sich zu Gott kehrt, schimmert und glänzt in ihm ein Licht und gibt ihm zu erkennen, was er tun und lassen soll, und sehr gute Wegweisung, von der er vorher nichts wusste noch etwas verstand.« 3

Hier haben wir einen Hinweis auf das unvorbereitete, ereignishafte Hervorbrechen – wie ein Blitz 4 – des Wahren, Guten und Rechten aus Pr. 101; 343,38–344,2: Ez ist in dem lûtersten, daz diu sêle geleisten mac, in dem edelsten, in dem grunde, jâ, in dem wesene der sêle, daz ist in dem verborgensten der sêle. Dâ ist ›daz mittel swîgen‹, wan dar enkam nie crêatûre în noch nie kein bilde, noch diu sêle enhât dâ weder würken noch verstân, noch enweiz dâ umbe kein bilde, weder von ir selber noch von keiner crêatûre. 3 Pr. 102; 413,45–48: Dises liehtes wirt der mensche wol gewar. Swenne er sich ze gote kêret, alzehant glestet und glenzet in im ein lieht und gibet im ze erkennenne, waz er tuon und lâzen sol und vil guoter anewîsunge, dâ er vor niht abe enweste noch enverstuont. 4 Pr. 103; 488,128–129: Jâ, in der wârheit, swenne disiu geburt in der wârheit geschehen ist, sô enmügen dich alle crêatûren niht gehindern, mêr: sie wîsent dich alle ze gote und ze dîrre geburt, als wir vinden ein glîchnisse an dem blitzen. Swenne der blitze triffet, sô ersleht er, swaz dâ ist. Ez sî boum oder tier oder mensche, daz kêret er mit der vart ze im. – »Ja, wahrhaftig, wenn diese Geburt in Wahrheit geschehen ist, dann können dich alle 2

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7. Transzendenz in der Immanenz

der verborgenen Quelle des inneren Lebens, aus dem diese geboren werden. Im Kern ist das Geschehen des geistlichen Lebens – also Ethik, Religion, Mystik und Gotteserfahrung – reines E r l e i d e n ; 5 denn die Geburt geschieht aufseiten des Menschen in einem reinen Unwissen, einem Vergessen, das zugleich ein unbekantes bekantnisse ist, ein unbewusstes Erkennen, 6 potenzielle Empfänglichkeit. 7 Im ›Gottesgeburtszyklus‹ ist der Blick vom Menschen her auf den Grund gerichtet, in dem Gott in der Seele geboren wird, freilich im Scheitern des Suchens, in der Rücknahme des Bemühens auf die reine Empfänglichkeit, die alles Handeln Gott überlässt. Angesprochen wird ein ›Ort‹, der im unzugänglichen Wesen der Seele liegt und den Gott in der Zeugung des Wortes für sein Wirken gleichsam in Besitz nimmt. Die Formulierungen lesen sich, als sei diese »Stätte« ein gemeinsamer Grund zwischen Gott und dem Menschen, ein Ungeschaffenes, das Fünklein, ein Etwas in der Seele, durch das Gott in der Seele wirkt. Die späten Kölner Predigten nehmen auch diese Sicht nochmals zurück. In den frühen Erfurter Texten hatte Eckhart noch gefordert, der Mensch solle sich aller Habe so weit entledigen, dass nur noch Gott in ihm eine Stätte findet. Das klingt noch an das Bild des inneren Raumes an. In der ›Armutspredigt‹, Nr. 52, ›Beati pauperes spiritu‹, geht er einen Schritt weiter, und das betont er: »Jetzt sagen wir es anders.« Wenn sich im Menschen noch eine Stätte für Gottes Wirken finde, so stehe dieser Mensch noch nicht in der letzten Armut. 8 Die Armut des Kreaturen nicht hindern, sondern sie weisen dich alle auf Gott hin und zu dieser Geburt. Dafür finden wir ein Gleichnis in dem Blitz. Wenn der Blitz trifft, erschlägt er alles, was da ist. Es sei Baum oder Tier oder Mensch, alles kehrt er mit einem Schlag zu sich hin.« 5 Pr. 103; 476,23: Dû solt ez alleine lîden. 6 Pr. 103; 477,36–38: Solt dû got götlîche wizzen, sô muoz dîn wizzen komen in ein lûter unwizzen und in ein vergezzen dîn selbes und aller crêatûren. – »Um Gott auf göttliche Weise wissen zu können, muss dein Wissen in ein reines Unwissen gelangen und in ein Vergessen deiner selbst und aller Geschöpfe.« – Pr. 103; 478,40 f.: Ist diz diu næhste wîse, daz ich erhebe mîn gemüete in ein unbekantez bekantnisse, daz doch niht sîn enmac? – »Ist das die geeignetste Weise, dass ich mein Bewusstsein zu einer unerkannten Erkenntnis erhebe? Das kann doch nicht sein.« 7 Pr. 103; 478,47–479,1: Sîn name enist niht anders dan ein mügelich enpfenclicheit, diu zemâle wesennes niht enmangelt noch ouch darbende enist, mêr: aleine ein mügelich enpfenclicheit, in dem dû volbrâht solt werden. – »Ihr [der Finsternis] Name ist nur mögliche Empfänglichkeit, der es an keinerlei Sein fehlt und die nichts entbehrt, sondern sie ist nur mögliche Empfänglichkeit, in der du vollendet werden wirst.« Zur »Finsternis« und »Empfänglichkeit« ausführlich in Kap. 14 und 15. 8 Pr. 52; ed. Steer, 176,8–11: Nû sagen wir anders. Ist daz sache, daz der mensche aller

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II. Philosophische Grundlagen

Geistes geht für Eckhart bekanntlich so weit, dass der Mensch sowohl seiner selbst als auch Gottes ledig sein soll. Der Grund hierfür ist die Einheit des Seins schlechthin, die die Letztstruktur jedweder Wirklichkeit ist. Ihr gibt Eckhart den Namen »Gottheit«. Diese Einheit kann keinen Unterschied mehr kennen zwischen den Wesensvollkommenheiten Gottes, keinen Unterschied unter den göttlichen Personen, zwischen der Schöpfungsidee und der Gottheit in deren absolutem Wirken. Insofern diese Einheit des Seins der Urgrund jedweder Wirklichkeit ist, bin auch »ich« in dieser Einheit. »Darum bitte ich Gott, mich Gottes quitt zu machen; denn mein wesentliches Sein steht oberhalb Gottes, sofern wir Gott als den Ursprung der Geschöpfe begreifen. Denn in demselben Sein Gottes, aufgrund dessen Gott oberhalb von Sein und Unterschied steht, da war ich selbst. Und dort wollte ich mich selbst und dort erkannte ich mich selbst als den, der diesen Menschen schuf.« 9

Hier ist der Unterschied zwischen »ich« und »diese[m] Menschen« zu beachten. Eckhart spricht, wenn er hier »ich« sagt, nicht von dem real existierenden Geschöpf mit Identitätsausweis und biometrischen Merkmalen, dieses nennt er Heinrich, Burkhard oder Konrad, sondern von dem sich selbst im Nun der Ewigkeit erfahrenden »ich«. Was wie eine maßlose Übersteigerung des menschlichen Narzissmus klingen kann – »Dass Gott Gott ist, dafür bin ich der Grund; wäre ich nicht, so wäre Gott nicht Gott. Dies zu wissen ist nicht notwendig« 10 –, es ist in Wahrheit nur als letzte Reduktion aller geschöpflichen Eigenschaften zu verstehen bis auf den absoluten Urpunkt der Erfahrung des Innestehens im Leben, ohne Eigenschaft, ohne washafte Identität, ohne Warum. Dieses Leben des »ich« ist nach der letzten Lehre Eckharts zugleich das Leben der Gottheit. Auch dieses offenbart sich nur als

crêatûren und gotes und sîn selbes ledic stât, und ist noch alsô in im, daz got stat vinde in im ze würkenne, sô sprechen wir: als lange daz ist in dem menschen, sô enist der mensche niht arm in dem næhsten armuot. Vgl. Pr. 52; ed. Quint, 500,3–6. 9 Pr. 52; ed. Steer, 179,2–6: Her umbe sô bite ich got, daz er mich quît mache gotes, wan mîn wesenlich wesen ist obe gote, alsô als wir got nemen begin der crêatûren; wan in dem wesene gotes, dâ got ist obe wesene und ob underscheide, dâ was ich selbe, und dâ wolte ich mich selben und bekante mich selben ze machenne disen menschen. Vgl. Pr. 52; ed. Quint, 502,6–9. 10 Pr. 52; ed. Steer, 178,14 f.: Daz got got ist, des bin ich ein sache; enwære ich niht, sô enwære got niht got. Diz ze wizzenne des enist niht nôt. Vgl. Pr. 52; ed. Quint, 504,2 f.

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7. Transzendenz in der Immanenz

unerkennbare verborgene Finsternis der Ur-Einheit 11 , wenn alle Vorstellungen abgestreift sind. Die Vorstellung macht Unterschiede: Gott als Schöpfer und Erlöser, als Allmächtiger, Weiser, Vater, Sohn und Heiliger Geist. Wie vom Menschen alles positiv Unterscheidende, die kreatürlichen Eigenschaften, abgestreift ist, so auch von Gott. Dann treffen der absolute Gott und der Ur-Mensch (»ich«) in der Unterschiedslosigkeit des Einen zusammen: »Diese unbewegliche Absolutheit (abegescheidenheit) bringt den Menschen zur größten Gleichheit mit Gott. Denn dass Gott Gott ist, das verdankt er seiner unbeweglichen Absolutheit, und aufgrund dieser Absolutheit hat er seine Reinheit, seine Einfachheit und seine Unwandelbarkeit.« 12 In einer anderen Sicht ist diese abegescheidenheit Demut: »Was oben war, das wurde innen. Du sollst geinnigt werden, und zwar von dir selber in dich selber, sodass er in dir sei, nicht, dass wir etwas nehmen von dem, was über uns ist; wir sollen es vielmehr in uns nehmen und sollen es nehmen von uns in uns selbst.« 13

Das Faszinierende an dieser Wende des Denkens ist, dass die Dimension Oben–Unten außer Kraft gesetzt wird, und damit die Gegensätzlichkeit der Positionen Gottes und des Menschen. Diese allgemeine ontologische oder anthropologische Charakterisierung »Mensch« ist aber genau genommen nicht zutreffend. Nicht der Mensch ist das Gegenüber Gottes, wie auch nicht das Geschöpf als Gegenüber verstanden werden kann. 14 In der Eckhart-Forschung behilft man sich mit den Präzisierungen, die auch Eckhart benützt: der gerechte Mensch, der Pr. 22; 389,7 f.: Ez ist diu verborgen vinsternisse der êwigen gotheit und ist unbekant und wart nie bekant und enwirt niemer bekant. 12 VA; 412,3–6: Disiu unbewegelîchiu abegescheidenheit bringet den menschen in die grœste glîcheit mit gote. Wan daz got ist got, daz hât er von sîner unbewegelîchen abegescheidenheit, und von der abegescheidenheit hât er sîne lûterkeit und sîne einvalticheit und sîne unwandelbærkeit. Die Authentizität des Traktats ›Von abegescheidenheit‹ ist nicht gesichert. Wenn Eckhart nicht selbst der Autor sein sollte, so hat der Verfasser jedoch Eckharts Lehren kongenial erfasst und meisterhaft dargestellt. 13 Pr. 14; 237,10–13: [D]at ouen was, dat wart in. du salt geinneget werden inde van dich seluer in dich seluer, dat hey in dir sy. neit, dat wir eit nemen van deme, dat bouen ons sy; wir solent in ons nemen inde solent neimen van ons in ons seluer. 14 Pr. 25; 13,11–16,3, hier 13,11–13: Ich spriche: menscheit und mensche ist unglîch. Menscheit in ir selber ist als edel: daz oberste an der menscheit hât glîcheit mit den engeln und sippeschaft mit der gotheit. – »Ich sage: ›Menschheit‹ und ›Mensch‹ sind ungleich. Menschheit ist in sich selbst so edel: Das Oberste der Menschheit hat Gleichheit mit den Engeln und Verwandtschaft mit der Gottheit.« 11

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II. Philosophische Grundlagen

gute Mensch, der edle Mensch, homo divinus usw. Dabei ist aber zu bedenken, dass diese Beifügungen nicht den ontologischen Status, die Substanz des Menschen, das heißt seine Menschheit bezeichnen. Auf dessen Substanz kommt es nicht an. Das Innen, von dem hier die Rede ist, ist nicht Eigenschaft oder Gehalt wie in einem Träger oder Gefäß. Die perfectiones generales sind unmittelbar von Gott, ja als solche Gott selbst. 15 Eigentlich sind sie das Sein und Leben Gottes im Menschen. So auch die »Demut« (siehe dazu das dreizehnte Kapitel). Insofern sie die Seinsweise ist, in der sich der Mensch – aber auch Gott – nicht auf ein Eigenes, das heißt auf einen Unterschied berufen kann, ist sie das ursprünglich eine Sein und Leben selbst. In diesem Einssein sind Oben und Unten aufgehoben. Das Eine ist zugleich das Innen Gottes und des »ich«. Das Innen ist also nicht als Innerlichkeit misszuverstehen, wenn es, wie oben zitiert, heißt: »Du sollst geinnigt werden, und zwar von dir selber in dich selber, sodass er in dir sei, nicht, dass wir etwas nehmen von dem, was über uns ist; wir sollen es vielmehr in uns nehmen und sollen es nehmen von uns in uns selbst.« 16 Mit dieser ›Ortsverschiebung der Transzendenz‹ Gottes aus dem Oben ins Innen ist in Wahrheit für die wesentlichste Gotteserfahrung die Transzendenz aufgehoben. Die Transzendenz Gottes zum weltlichen, real existierenden »Konrad« oder »Heinrich« allerdings bleibt unendlich weit, sofern diese, von ihrer physischen und psychischen oder biologischen Konstitution ausgehend, nach Gott fragen. Diese weltliche Konstitution begründet nicht das innere, sich selbst entfaltende Leben. Leib und Seele (Psyche) sind nicht meine ›Selbstheit‹ oder ›Ichheit‹, sie sind nicht ›mein‹ eigentliches Sein. Mein Vorhandensein besagt für mein Selbstsein nichts. Das ist die Bedeutung des skandalösen Satzes: »Alle Geschöpfe sind ein reines Nichts. Ich spreche nicht [davon], dass sie gering seien oder ein Seiendes seien: Sie sind ein reines Nichts. Was kein Sein hat, das ist Nichts. Alle Geschöpfe haben kein Sein; denn ihr Sein hängt an der Präsenz Gottes.« 17 Prol. gen. n. 8; 25,15–19. Siehe dazu oben Kap. 4. Pr. 14; 237,10–13: [D]at ouen was, dat wart in. du salt geinneget werden inde van dich seluer in dich seluer, dat hey in dir sy. neit, dat wir eit nemen van deme, dat bouen ons sy; wir solent in ons nemen inde solent neimen van ons in ons seluer. 17 Pr. 6; 69,8–70,3: Alle crêatûren sint ein lûter niht. Ich spriche niht, daz sie kleine sîn oder iht sîn: sie sint ein lûter niht. Swaz niht wesens enhât, daz ist niht. Alle crêatûren hânt kein wesen, wan ir wesen swebet an der gegenwerticheit gotes. 15 16

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7. Transzendenz in der Immanenz

Eckhart spricht den Geschöpfen nicht die Seiendheit ab, sondern das Sein. Dies jedoch nur, insofern das Geschöpfliche von außen, in seiner von ›Gott‹ abgelösten, weltlichen Existenz betrachtet wird. Die von Eckhart prädizierte Seinslosigkeit würde das ganze neuzeitliche objektivierte, wissenschaftlich bemühte Verständnis des Seienden betreffen. Eckhart verlangt also, dass wir unser Leben im inneren, lebendigen mitmenschlichen Zusammenhang und immer bezogen auf den lebendigen Ursprung betrachten, und so auch die Dinge, die uns bereichern und beschenken. Das Sein des Geschöpfs, insofern es Sein ist ohne Hinblick auf das Seiende, wird nach Eckhart unmittelbar aus dem Sein Gottes empfangen. Dieser Gedanke, der immer wieder auftaucht, und auf dem Eckharts gesamtes Denken beruht, wird weiterer Auslegung bedürfen. Ist also einerseits die Transzendenz Gottes für Heinrich und Konrad so unendlich wie diejenige des Seins für das Nichts, so ist andererseits zwischen Gott und dem »ich« weder Transzendenz noch im klassischen Sinne Immanenz, sofern diese in Abgrenzung von einem Außen verstanden wird. Das Innen ist das einwohnende Prinzip; es ist insofern alles durchdringend, da es in keiner Weise als ›Ort‹ oder Horizont gedacht werden kann, sondern reines Walten (Prozess, Vollzug) ist. Es ist die eine Bewegung, aus deren unerkennbarer Finsternis die Ausstrahlungen des Übergangs erleuchten: das göttliche trinitarische Leben, die Geburt des Lebens aus den »schwangeren« Kräften der Seele 18 , das innerste Geheimnis des kreatürlichen Seins selbst 19 .

Gott ist das Innere der Dinge – innerkeit Aufgabe und Leistung der Vernunft bestimmt Eckhart wie folgt: »Seinem Namen gemäß liest der Intellekt die Sache inwendig in ihm selbst; denn das heißt ›intelligere‹, nämlich inwendig lesen. Außerdem liest er auch durch die Sache diese selbst inwendig in deren Prinzipien.« 20 18 Pr. 104; 586,2–5: Und sô diu lîdende vernunft von der würkenden swanger worden ist, sô behebet und bekennet si diu dinc mit helfe der würkenden vernunft. – »Und sobald die leidende Vernunft von der wirkenden schwanger geworden ist, erhebt und erkennt sie die Dinge mithilfe der wirkenden Vernunft.« 19 Pr. 80; 383,2: Daz er einvaltic ist an sînem wesene, her umbe ist er diu innerkeit aller dinge. – »Da er [Gott] in seinem Sein einfach ist, darum ist er das Innere aller Dinge.« 20 In Gen. II n. 83; 375,23–25: Intellectus iuxta nomen intus in se ipso rem legit; hoc enim est intelligere, id est intus legere. Rursus re ipsam intus legit in suis principiis.

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II. Philosophische Grundlagen

Hier wird ein inniges Verhältnis der Sache und der Vernunft angezeigt. »Intellectus« ist Prinzipienerkenntnis. Dies ist intus legere, innen lesen. Das Innen ist sowohl das Innere der Vernunft wie der Sache. Vernünftiges Erkennen hat demnach doppelten Zugang zum Erkannten: Es schaut ins Innere der Vernunft und ins Innere der Sache und findet in beiden dasselbe, die Prinzipien. Die Vernunft liest die Sache in der Vernunft, und sie liest die Sache in oder durch die Sache oder auf dem Wege der Sache (um auf diese umständliche Weise den Ablativ zu übersetzen, wenn es heißt re legit, und nicht, wie zu erwarten wäre, rem legit: »sie liest die Sache«). Was heißt: Die Sache durch sie selbst lesen? Es sollen keine Erkenntniskriterien an die Sache herangetragen werden, die nicht in der Sache selbst liegen. Das mag an Husserls »Zu den Sachen selbst« erinnern. Wichtiger ist aber, dass Eckhart mit dieser Bestimmung des Intellekts einen Hinweis auf eine Quelle der Erfahrung gibt, die v o r dem »methodischen Zweifel« der Moderne liegt. Wissenschaftliche Erkenntnis in der Moderne versteht die Sache nicht in der Vernunft, sondern benützt Sinn und Verstand, um die Sache ›draußen‹ objektiv zu erfassen, und dazu benützt sie ein methodisches Instrumentarium. Dieses ist Konsequenz des methodischen Zweifels, das heißt, dass Erkenntnisse gesichert werden müssen, damit sie als wahr gelten können. Eckhart liest die Sache in der Vernunft und durch die Sache selbst. Das heißt, er vertraut darauf, dass er die Sache, wo immer sie ihm begegnet, in deren Prinzip »lesen« kann. Das mag naiv erscheinen, als ob damit einer blind gläubigen Annahme der eigenen Vorurteile Raum gegeben würde. Das wäre der Fall, wenn jeder Zweifel ausgeschlossen würde. Es ist aber zu unterscheiden, ob der Zweifel vor der Erfahrung liegt oder ihr nachfolgt. Natürlich kann und soll ich meinen Erfahrungen kritisch gegenüberstehen, sie prüfen, erwägen, korrigieren. Der methodische Zweifel will aber vorauseilend sichern. Das mag im wissenschaftlich-technischen, militärisch-ökonomischen Komplex sinnvoll sein. Im psychischen Erleben und Verhalten kennen wir dies Wollen und Streben als Zwangsneurose: Bevor ich etwas als wahr oder richtig anerkenne, halte ich jede Meinung, jeden Entschluss, letztlich jeden Gedanken oder Satz in der Schwebe, beurteile ihn, verwerfe ihn, mache einen neuen Versuch und komme an kein Ende. Eckharts Vernunftprinzip baut hingegen auf eine Wahrheit in der Sache selbst. Die Sache ist für ihn nicht an sich undurchsichtig und muss erschlossen werden, sondern sie ist bereits im Hinsehen oder 140 https://doi.org/10.5771/9783495860649 .

7. Transzendenz in der Immanenz

besser im Umgang mit ihr erschlossen. Die Dinge sprechen zu uns, haben eine eigene Intelligibilität. Das ist nicht die Weise, wie der Naturwissenschaftler die Welt betrachtet. Deshalb besteht Eckhart auf der Unterscheidung der beiden Seinsweisen. Es geht ihm um das ens in anima, also um die Weise, wie etwas im Geiste erscheint. Wer das nicht berücksichtigt, sagt er, fällt oft in Irrtum, wie bereits im fünften Kapitel erläutert wurde. »Ganz anders muss man aber reden vom Seinssinn der Dinge und deren Erkenntnis, und anders von den Dingen außen in der Natur, wie man auch anders reden muss von der Substanz und anders vom Akzidens. Die das nicht beachten, fallen häufig in Irrtum.« 21

Es geht also darum, zu verstehen, von welcher Seinsweise Eckhart überhaupt spricht und wie diese beschaffen ist. Eckhart unterscheidet »das reale Seiende außerhalb der Seele, eingeteilt in die zehn Kategorien« und »das Seiende in der Seele oder das Erkenntnissein«. 22 Die Seinsweise, die Eckhart bedenkt, ist also nicht diejenige, die durch die Kategorien bestimmt ist. Die Kategorien sind die vorgegebenen Aussage- und Anschauungsweisen, mit denen wir die Dinge erfassen. Mithilfe der Kategorien sagen wir, wie die Dinge sind, draußen in ihrer Natur. Aber es gibt eine andere Weise, von den Dingen zu reden. Dabei sind es nicht andere Dinge. Überraschend ist zu beobachten, dass Eckhart den Unterschied nicht in die Dinge legt, als gäbe es zwei Seinsbereiche, genauer: zwei Bereiche von Seiendem, etwa den profanen und den heiligen. Vielmehr spricht er de rerum rationibus et cognitione ipsarum, über den Seinssinn und die Erkenntnisweise der Dinge. Dieselben Dinge betrachtet Eckhart also in der Natur und in unserer ›Kognition‹. Hier nehmen wir ihre rationes wahr; wir nehmen sie auf in ihrer Ratio, in ihrem Seinssinn. Dieser teilt sich in der Weise mit, wie wir die Dinge aufnehmen. Eckhart spricht vom geschaffenen Seienden. Hierfür wird eine verschiedene Betrachtungsweise geforIn Ioh. n. 514; 445,3–14: Aliter autem loquendum est omnino de rerum rationibus et cognitione ipsarum, aliter de rebus extra in natura, sicut etiam aliter loquendum est de substantia et aliter de accidente. Quod non considerantes frequenter incidunt in errorem. 22 In Ioh. n. 514; 345,3–6: Restat videre quomodo esse sub ratione sive proprietate unius principium est et ab ipso procedit universitas et integritas totius entis creati. Sciendum ergo quod ens secundum totum sui ambitum prima sui divisione dividitur in ens reale extra animam, divisum in decem praedicamenta, et in ens in anima sive in ens cognitivum. 21

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II. Philosophische Grundlagen

dert, je nach der »Sache draußen in der Natur« einerseits und dem Seinssinn der Dinge andererseits. Finden wir die Zweiteilung der Betrachtungsweise in unserer Erfahrung wieder? Handelt es sich um zwei getrennte metaphysische Seinsbereiche, um einen Schichtenbau des Seienden, um die Unterscheidung des Transzendentalen vom Empirischen, des Idealen vom Faktischen, des Ontologischen vom Ontischen, des Bewusstseins von der Welt? Welchen »phänomenalen Anhalt« (Heidegger) haben Eckharts Argumente? »Der Intellekt erfasst entsprechend seinem Namen [intus legere – »innen lesen«] die Sache selbst innen, in ihren wesentlichen und ursächlichen Gründen.« 23 Im Bereich der Vernunft, das heißt im inneren Leben, ist für Eckhart die Wirkursache außer Kraft gesetzt. Sie ist eine äußere Ursache, als solche der Sache selbst nicht immanent. Die Dinge in Eckharts Sinn »innen« zu lesen, heißt also, sie aus dem Äußeren des gegenständlichen Weltzusammenhangs herauszunehmen. Denn das Prinzip oder der Grund liegt in gleicher Weise in der Vernunft wie in der Sache und nicht im Zugriff von außen. Der Wesensgrund der Sache wirkt, was sie im Inneren ist. Das vernünftige Erkennen erfasst den Wesensgrund und stiftet ihn. Das Erkennen ist Sein und Leben. Die Dinge sind, indem sie in ihren Wesensgründen erkannt werden, ›eigentlich‹. Wirklich sind sie für unser geistiges Sein nicht als reale Objekte, sondern als Umgebung, vielleicht sogar als der Umfang unseres aktuellen Lebens. Das ist nicht die Welt, die Natur, die Umwelt in einem abstrakten Sinn, sondern das Spielfeld unserer Tätigkeiten. Was mich in dieser Weise umfängt, sind nicht tote Gegenstände und Systeme, sondern bedeutsame, empfundene, mit Gefühlen und Werten besetzte Genossen meines Lebens; zu ihnen gehören die Mitlebenden, aber auch Mitseiendes. Dieser Umfang meines Lebens ist nicht nur durch räumliche Nähe begrenzt, sondern durch die Nähe der Bedeutsamkeit, der Begegnis, in der die räumlich fernen Dinge mir etwas sagen. In unserer medial vernetzten Lebenswelt ist dieser Umkreis meines Lebens um zahlreiche Dimensionen erweitert. Lebenswirklichkeit ist Umgang mit der bedeutsamen Welt und den mitlebendigen Anderen. Vor jedem Denken sind wir immer schon

23 In Gen. II n. 80; 374,28 f.: Secundo, quia accipit intellectus iuxta nomen suum intus in principiis essentialibus et causalibus ipsam rem.

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ins Leben gestimmt, gepasst, gekonnt. Wir bewegen uns in einem unthematischen Können, das jeweils unser Handeln, Entscheiden, Werten und Schaffen ermöglicht. Dieser Ermöglichungsgrund ist immanent, wenngleich er außer unserer Verfügung liegt. Wenn wir uns darauf besinnen, kommt es uns wie ein Geschenk vor, dass wir alles Mögliche ›noch‹ können. Philosophisch nennt man den Ermöglichungsgrund »transzendental«. Eine unbestimmte, aber dezidiert wirksame Beimischung einer supra-faktischen Erlebnisqualität gibt es nicht nur im Bereich des Erlebens und Verhaltens, sondern auch in den Dingen: Die Fahne, die Monstranz, das Kreuz, das Kopftuch, die Kippa, der Bart, sie haben nicht zuerst eine sinnlich materielle Existenz, der dann eine Bedeutung aufgesetzt ist. Ein verzückter oder ein böser Blick sind nicht ein Produkt der Augenmuskulatur, sondern ›Sprache‹ des Lebens. Was sie sind, verdanken sie nicht ihrer Natur oder ihrer Bestimmung als Artefakte, sondern einer Bedeutung, die gewöhnlich symbolisch genannt wird: Sie bedeuten etwas. Die Vernunft liest diese Bedeutung der Dinge. »Sie nimmt entsprechend ihrem Namen die Sache in sich auf, in ihren wesentlichen und ursächlichen Gründen.«24 In den oben genannten Beispielen handelt es sich um einzelne ausgezeichnete, ›belebte‹ Dinge. Wie aber, wenn Eckharts These wäre, dass alles Geschöpfliche eine solche transzendentale Wesens- und Begegnisqualität hat? Die Dinge, besonders aber die Menschen, haben im Hinblick auf die Bedeutung der Symbole dieselbe Seinsweise wie ein Kunstwerk. Das Bild empfängt, wie Eckhart sagt, sein ganzes Sein, das heißt hier, was es ist, nicht von dem materiellen Träger, sondern von dem, was es abbildet. 25 Im Spiegel ist das Bild verloren, sobald der Mensch, den es abbildet, fortgeht; es ist aber auch da, sobald und solange der Mensch präsent ist. Die ›Substanz‹ des ›David‹ von Michelangelo ist nicht der Marmor, sondern sie hat ihr Sein im Geist, in der Kunst des Künstlers. Beim gestalteten Kunstwerk bleibt dieses ›geistige‹ Sein nicht draußen in der Idee, als wäre diese nur in die Skulptur hineinprojiziert. Die Idee, das wahre Sein, die Wirklichkeit des Bildes, ist vielmehr in der Gestalt 24 In Gen. II n. 80; 374,28 f.: Secundo, quia accipit intellectus iuxta nomen suum intus in principiis essentialibus et causalibus ipsam rem. 25 In Ioh. n. 23; 5 f.: Imago enim, in quantum imago est, nihil sui accipit a subiecto in quo est, sed totum suum esse accipit ab obiecto, cuius est imago.

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aus Marmor, obwohl sie nicht der Marmor ist. Bild und Marmor sind verschieden, und doch sind der Träger und das Bild nicht trennbar. Bei einer Kopie würde der Träger ersetzt; das Bild kann nicht ohne Träger sein. Das Beispiel zeigt eine seltsame Verflechtung von Abhängigkeit und Selbstständigkeit. Die gestaltende Idee, die der konstituierende Ursprung des Kunstwerks ist, kann von der physischen Anwesenheit des Künstlers losgelöst sein; denn wie Eckhart mit Berufung auf Aristoteles sagt: Genau genommen, schafft nicht Polyklet die Statue, sondern seine Kunst. 26 Andererseits ist die wirksame Präsenz der gestaltenden Idee unabdingbar, sonst würde die Skulptur zu einem steinernen Klotz und das Fresko zu einem bedeutungslosen Stück Wand. Gleichzeitig zeigt das Beispiel, dass der Kunstcharakter und – allgemeiner – die Bedeutung, obwohl sie im Ding sind, gesehen werden müssen. Das »Sein« des Bildes, um die Terminologie Eckharts wieder aufzugreifen, in unserem Beispiel also: was den Marmor zum ›David‹ macht, ist ein ens in anima oder ens cognitivum, ein geistiges oder ein empfundenes Seiendes. Die Bildlehre Eckharts, die hier etwas erweitert entfaltet wurde, soll die Beziehungen nicht nur zwischen Gott Vater und Sohn, zwischen Gott und der Seele, sondern auch die Sinnübertragungen in eindeutigen Ursprungsbeziehungen in der Kunst und in seelisch-geistigen Naturbeziehungen verdeutlichen. Gott schafft Himmel und Erde »im Anfang«, in principio, im Ursprung oder im Grund; und »im Anfang« war das Wort. Diese biblischen Formulierungen nimmt Eckhart philosophisch. Darin meint »im Anfang« nicht den Beginn der Zeiten, sondern eine eigenwillige Ursprungsdynamik. Die Schöpfung geschieht nicht in der Welt, also auch nicht ›vor‹ dem Urknall, sondern in principio, im Ursprung oder Grund. Mit anderen Worten: Gott schafft nicht die einzelnen fertigen

In Ioh. n. 37; 31,13–32,3: Constat quod Polycletus, ut verbo utar philosophi, non est principium statuae, antequam artem accipiat faciendi statuam, nec principiare potest, si desinat artem habere. Patet ergo quod a principio, postquam est artifex et quamdiu est artifex potens principiare, apud ipsum manet ars ipsa. – »Offenbar ist Polyklet, um ein Wort des Philosophen zu gebrauchen, nicht der Ursprung der Bildsäule, bevor er sich die Bildhauerkunst erworben hat, noch kann er ihr Ursprung sein, wenn er diese Kunst nicht mehr besitzt. Es erhellt also, dass von dem Beginn an, da er Künstler ist, und solange er Künstler ist mit der Fähigkeit zu gestalten, die Kunst bei ihm weilt.«

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Dinge, sondern die rationes ideales, den Logos oder die Idee der Dinge. 27 Für das theologische Standarddenken steht fest, dass die Ideen aller Geschöpfe in der Erkenntnis Gottes, das heißt im Sohn, voraus enthalten sind. Die faktische Schöpfungstat ist davon unterschieden. Für Thomas ist Gott der Verursacher allen Seins, und zwar in erster Linie die Wirkursache, die Exemplarursache und die Finalursache. 28 Eckhart hingegen schließt auch in der Analyse des Schöpfungsberichts aus, dass Gott die Causa efficiens und die Causa finalis der Welt ist. 29 Der Grund ist: Für Gott gibt es kein Außen. Da Gott das Sein ist, kann es nichts außerhalb von ihm geben; denn außerhalb des Seins ist nichts. Das aber heißt, dass alles in Gott ist, und schon erhebt sich das Schreckgespenst des Pantheismus. Das Schreckliche daran ist nach allgemeiner Meinung, dass das Geschöpf damit in göttlichen Rang erhoben würde. Doch auf Eckhart trifft dieser Verdacht sicher nicht zu. Er hat sich jedenfalls immer dagegen gewehrt, er billige dem Geschöpf als Geschöpf göttlichen Rang zu. Er wollte nie für die Größe des Geschöpfs eintreten, sondern immer ganz entschieden für die richtigen Konsequenzen aus dem Gottesbegriff. Das aber musste für ihn heißen, dass es nicht zweierlei Sein geben kann, ein göttliches und ein geschöpfliches. Dasselbe musste für die konvertiblen Erstbestimmungen des Seins gelten. Es kann keine doppelte Wahrheit oder Güte geben. Eckharts Lösung des Problems war, dass er das Sein Gottes, der GerechIn Gen. I n. 5; 61,13–15: De primo sciendum quod principium, in quo creavit deus caelum et terram, est ratio idealis. […] Graecus habet logos, id est ratio. 28 Thomas von Aquin, Summa theologiae I q. 44: Die Fragestellungen zu a. 1: Primo, utrum Deus sit causa efficiens omnium entium. Secundo, utrum materia prima sit creata a Deo, vel sit principium ex aequo coordinatum ei. Tertio, utrum Deus sit causa exemplaris rerum, vel sint alia exemplaria praeter ipsum. Quarto, utrum ipse sit causa finalis rerum. 29 In Gen. I n. 4; 63,5–9: Adhuc autem ipsa rerum ratio sic est principium, ut causam extra non habeat nec respiciat, sed solam rerum essentiam intra respicit. Propter quod metaphysicus rerum entitatem considerans nihil demonstrat per causas extra, puta efficientem et finalem. Hoc est ergo principium, ratio scilicet idealis, in quo deus cuncta creavit, nihil extra respiciens. – »Ferner aber ist die Idee der Dinge in der Weise Ursprung, dass sie keine äußere Ursache hat oder auf sie hinblickt; vielmehr blickt sie lediglich auf das Wesen der Dinge, das in ihr ist. Deswegen beweist der Metaphysiker, der die Seinsheit der Dinge betrachtet, nichts durch äußere Ursachen, nämlich durch die Wirk- und Zweckursache. Das also ist der Ursprung, nämlich die Idee, worin Gott alles schuf, ohne auf etwas Äußeres hinzublicken.« 27

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tigkeit, der Güte, der Liebe, des Friedens i m Menschen postulierte, freilich als die »analoge« Anwesenheit Gottes. Die präexistenten Urbilder der Geschöpfe, eben als Wesensmerkmale (rationes ideales), in gewisser Weise als ideale Baupläne, sind in den Dingen präsent und wirksam. Sie sind immanent, und sofern sie die grundlegenden Ermöglichungen der Realexistenz sind, kann man sie ›transzendental‹ nennen. Dann aber sind sie Transzendentalien in der Immanenz. Wie Eckhart zeigt, ist die Idee der Dinge aber nicht nur in der Erkenntnis Gottes, sondern auch im Menschen. Im Künstler ist die vorgestellte Truhe Leben, und aus diesem Leben heraus schafft er die Truhe. Der lebendige Entwurf ist nicht als eine technische ›Blaupause‹ zu betrachten, sozusagen im präexistenten Archiv, sondern als eine lebendige Quelle, die aus ihrer inneren Lebendigkeit übersprudelt. 30 Sie ist Leben, aber auch Licht, das die Menschen erleuchtet, das auch in der Finsternis scheint. Damit ist ausgedrückt, dass dieses Licht einerseits dem stofflichen, irdischen Licht überlegen ist, dass es aber andererseits gerade die weltlich-geschöpfliche Wirklichkeit zu erhellen vermag. »Damit steht also fest, dass in den geschaffenen Dingen nichts leuchtet als deren Seinssinn.« 31 Alles, was in den geschaffenen Dingen ›leuchtet‹, tut dies nicht aus eigener natürlicher Kraft, sondern aus seiner Verbindung mit der ursprünglichen Lebendigkeit. Der Sinn der Dinge, mit anderen Worten: deren Intelligibilität, ihre transzendentale Ermöglichungskraft, ihre Bedeutung in der ›symbolischen Ordnung‹ sind deren wirkliches Wesen. Eckhart fasst das In-Sein des Prinzips, das heißt des transzendentalen Ursprungs im geschöpflich Seienden, so zusammen: »Man muss wissen: Das Wort, der Logos oder der ›Seinssinn‹ der Dinge, ist so in ihnen, und zwar ganz in den einzelnen, dass sie trotzdem ganz außerhalb jedes einzelnen sind, ganz drinnen, ganz draußen. Das ist deutlich im Lebewesen und in allen seinen Arten und in jedem Einzelwesen innerhalb der Arten. Deswegen bleibt das ganze Wesensmerkmal der Dinge unbeweglich und unzerstört, mögen auch die Dinge selbst bewegt, verändert oder zerstört werden. Denn nichts ist so ewig und so unveränderlich wie die Idee des Kreises, der vergeht. Denn wenn der Kreis vergeht, wie sollte dann mit ihm verVgl. In Ex. n. 16; 22,5 f.: antequam effundat et ebulliat extra – »bevor es ausfließt und übersprudelt«. 31 In Ioh. n. 11; 11,9 f.: Constat ergo quod in rebus creatis nihil lucet praeter solam rerum ipsarum rationem. 30

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gehen, was ganz außerhalb des vergänglichen Kreises ist? / Also ist der ›Seinssinn‹ das ›Licht in der Finsternis‹, das heißt i n den geschaffenen Dingen, ohne jedoch von ihnen eingeschlossen, mit ihnen vermischt oder von ihnen erfasst zu sein.« 32

Der Gedanke vom In-Sein des Unvergänglichen, sprich: des Zeitfreien, Transzendental-Symbolischen im Geschöpflichen, ist die Botschaft der Auslegung des Johannesprologs oder, mit einer deutschen Predigt gesagt: Gott ist »das Innen (die innerkeit) aller Dinge«. 33 Mit der zuvor zitierten Erläuterung sieht Eckhart seine Intentionserklärung aus dem Vorwort seines Kommentars bestätigt, und zwar namentlich deren zweiten Teil, worin er angekündigt hatte, die biblischen Aussagen über Gott und das Wort Gottes auch auf den Bereich der Naturdinge und der Kunst übertragen zu wollen: »So erhellt, wie der Text ›im Anfang war das Wort‹ bis ›es war ein Mensch, von Gott gesandt‹ sich durch die Begriffe und Eigentümlichkeiten der Naturdinge auslegen lässt; außerdem erhellt, dass die Worte des Evangelisten selbst, wenn man sie richtig betrachtet, uns über die Natur der Dinge und ihre Eigentümlichkeiten sowohl im Sein als im Wirken belehren, und dass sie, indem sie unseren Glauben aufrichten, uns über die Natur der Dinge unterrichten. Denn der Sohn Gottes selbst, ›das Wort im Anfang‹, ist die Idee, ›gewissermaßen eine schöpferische Kraft‹, ›voll aller lebendigen unveränderlichen Ideen, die alle eins in ihr sind‹, wie Augustinus in ›Von der Dreifaltigkeit‹ (Buch 1, Kapitel 6 gegen Ende) sagt.« 34 In Ioh. n. 12; 11,14–12,7: Quintodecimo sciendum quod ›verbum‹, logos sive ratio rerum sic est in ipsis et se tota in singulis, quod nihilominus est se tota extra singulum quodlibet ipsorum, tota intus, tota deforis. Patet hoc in animali et in qualibet eius specie et quolibet singulari specierum. Et propter hoc motis rebus, mutatis aut corruptis, tota rerum ratio manet immobilis nec corrumpitur. Nihil enim tam aeternum et immutabile quam ratio circuli qui corrumpitur. Quomodo enim corrumperetur corrupto circulo quod totum est extra circulum qui corrumpitur? / Est ergo ratio ›lux in tenebris‹, id est rebus creatis, non inclusa, non permixta, non comprehensa. 33 Pr. 80; 382,9–383,2: Diu rîcheit gotes diu liget an vünf dingen. Daz êrste: daz er diu êrste sache ist, her umbe ist er ûzgiezende sich in alliu dinc. – Daz ander: daz er einvaltic ist an sînem wesene, her umbe ist er diu innerkeit aller dinge. […] – »Der Reichtum Gottes liegt in fünf Dingen. Zum ersten darin, dass er die erste Ursache ist; deshalb gießt er sich aus in alle Dinge. – Zum zweiten darin, dass er einfach in seinem Wesen ist; deshalb ist er das ›Innen‹ aller Dinge. […]« 34 In Ioh. n. 13; 12,11–17: Patet ergo quomodo ›in principio erat verbum‹ usque ibi: ›fuit homo missus a deo‹ exponitur per rationes et proprietates rerum naturalium; iterum etiam quod ipsa verba evangelistae bene inspecta docent nos naturas rerum et ipsarum proprietates, tam in essendo quam in operando, et dum fidem astruunt, nos de rerum 32

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Als »Beispiel für alles Vorausgehende« fügt Eckhart dann seine fünfzehnteilige Bestimmung der Gerechtigkeit im Gerechten an und daran anschließend seine Lehre vom Bild im Original und vom Original im Bild. 35 Wenn wir also den »phänomenalen Anhalt« der Lehre Eckharts vom In-Sein des Transzendentalen im Ontischen erläutern wollen, müssen wir vor Augen haben, dass die bekannten Lehren vom Gerechten in der Gerechtigkeit und vom Sein des Bildes im Abgebildeten zwar den ideellen Ursprung des irdischen Rechtseins und des Bildseins lehren wollen, dies aber nicht, um diese idealen Wesensauszeichnungen des Menschen in den Himmel der Ideen hinauszuverlagern, sondern um das In-Sein des Transzendentalen in der Schöpfung zu betonen. Deshalb heißt es am Anfang der Auslegung des Johannesprologs, nachdem erklärt wurde, dass das Geschöpf (das Hervorgehende) zuvor wie ein Samen oder eine Idee im Schaffenden (dem Hervorbringenden) ist: »Drittens ist zu beachten, dass das, was von einem anderen hervorgebracht ist, im ganzen Umfang dessen Wort ist, das jenes spricht, verkündet und ausbreitet, von dem es hervorgeht.« 36 Die Weise, wie Gott im Geschöpflichen, besonders im Menschen ist, bestimmt Eckhart demnach als »Wort«-Sein. Die Geschöpfe, als aus dem Prinzip Hervorgehende betrachtet, sind also auf ihre Weise ›Worte Gottes‹. Als Worte sprechen die Dinge von Gott, verkünden ihn und breiten ihn im Seienden aus. Das In-Sein des transzendentalen Ursprungs in den Geschöpfen ist also zu erfahren, wenn die Dinge zu uns sprechen. Dies ist ein weiterer Gedanke Eckharts, der uns als Hinweis auf die ciszendentale Ankunft des Transzendentalen im Menschen dienen kann. Die beiden Dichter, die in ihren Gedichten am stärksten aus der Sprache der Dinge sprechen konnten, sind Hölderlin und Rilke. Die philosophische Dringlichkeit dieser Seinsweise der Dinge findet sich bei Heidegger betont, wenn er zum Beispiel sagt: »Wie lange noch wollen wir meinen, es gäbe da zunächst eine Natur an sich und eine Landschaft an sich, die dann mit Hilfe von ›poetischen Erlebnissen‹ naturis instruunt. Ipse enim filius dei, ›verbum in principio‹, ratio est, »ars quaedam« »plena omnium rationum viventium incommutabilium, et omnes unum in ea«, ut ait Augustinus, ›De trinitate‹ I, VI capitulo ultimo. (Augustinus, ›De trinitate‹ I [c. 10, n. 11; CCL 50, 241 f.]). 35 In Ioh. n. 14–22; 13–19 (Gerechtigkeit); n. 23–27; 19–22 (Bild). 36 In Ioh. n. 4; 6,5 f.: Tertio notandum quod productum ab aliquo universaliter est verbum illius, dicens, nuntians et enuntians illud a quo procedit.

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7. Transzendenz in der Immanenz

mythisch gefärbt werde? Wie lange noch sperren wir uns, das Seiende als seiend zu erfahren?« 37

Vielleicht kann das folgende Gedicht von Rainer Maria Rilke zur Erläuterung des Hervortretens ohne Grund und Ziel aus der Offenbarung des dinglichen Wesens selbst beitragen: Rainer Maria Rilke: Wilder Rosenbusch38 Wie steht er da vor den Verdunkelungen des Regenabends, jung und rein; in seinen Ranken schenkend ausgeschwungen und doch versunken in sein Rose-sein; die flachen Blüten, da und dort schon offen, jegliche ungewollt und ungepflegt: so, von sich selbst unendlich übertroffen und unbeschreiblich aus sich selbst erregt, ruft er dem Wandrer, der in abendlicher Nachdenklichkeit den Weg vorüberkommt: Oh sieh mich stehn, sieh her, was bin ich sicher und unbeschützt und habe was mir frommt. In der ersten Schicht der Aussage wird hier der Rosenbusch beschrieben: Er hebt sich vom nächtlichen Dunkel ab: junge, flache, offene Blüten. Aber das ist nicht eigentlich, was das Gedicht sagt. Es spricht davon, dass der Rosenbusch dem Wanderer etwas sagt: »Oh sieh mich stehn, sieh her, was bin ich sicher / und unbeschützt und habe was mir frommt.« Aber es ist, als ob hier etwas in die Sprache des Dichters gehoben wäre, was nicht sprachlich ist: Was der Rosenbusch hier dem Dichter sagt, ›bildet‹ sich dem Dichter ›ein‹– in Eckharts Sinn des Wortes – durch das Wie des Stehens und des Rose-seins. Da ist keinerlei Ursache und kein Ziel, aber auch keine beschreibbare Gestalt. Es ist eben nicht die Form der Blüten, der Blätter und der Wuchs des Strauches, die dem Dichter und Leser etwas bedeuten. Es ist ein nicht SichtHeidegger, Martin: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, S. 21; siehe vor allem auch Heidegger, Martin: Das Ding. 38 Rilke, Rainer Maria: Gedichte 1910–1926, S. 324; S. 815: entstanden am 1. 6. 1924. 37

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II. Philosophische Grundlagen

bares, das Sinn vermittelt: jung und rein, schenkend, versunken, ungewollt, ungepflegt, von sich selbst übertroffen, erregt, sicher, unbeschützt, habend. Aber um die ›Bildung‹ des ›Wilden Rosenbuschs‹ mit seiner Botschaft aufzunehmen, müssen wir auch diesen Bildsinn noch vergessen. Würden wir die Metaphern konkret auslegen, hätten wir den Klang und das Leben sowohl des Rosenbuschs wie des Gedichts durch unseren Zugriff verfehlt. Das innere Leben erfassen wir als sprach- und bildlosen Anklang, als Resonanz unseres Lebens auf das Leben des Rosenbuschs und des Gedichts. Eckhart drückt diesen Vorgang in seiner ›Opferstockpredigt‹, Nr. 109, ›Nolite timere‹, einmal ähnlich wunderbar aus wie Rilke: »Ich schaue die Lilien auf dem Felde an und ihr Leuchten, ihre Farbe und all ihre Blätter; aber ihr Schwelgen sehe ich nicht. Warum? Weil ihr Schwelgen 39 in mir ist. Auch dass ich sprechen kann, das ist in mir, und ich spreche es aus mir heraus. Alle Geschöpfe schmecken mir als äußerem Menschen [eben] als Geschöpfe: Wein als Wein, Brot als Brot, Fleisch als Fleisch. Aber mir als innerem Menschen schmecken die Dinge nicht als Geschöpfe, sondern als Gaben Gottes. Doch mir als dem innersten Menschen schmecken sie [sogar] nicht als Gaben Gottes, sondern als je und immerdar.« 40

Eckhart spricht also eine dreistufige Reduktion des Phänomens der Wahrnehmung an: vom sinnlichen Erfassen der dinglichen (weltlichen) Existenz, über die innere Sinnerfahrung (Bedeutung) bis hin zur innersten Lebensaffektion, die zeitlos und gegenstandslos ist. In dieser innersten Erfahrung bleiben auch die weltlichen Dinge nicht

Ich übernehme Eckharts Wort auch in die Übersetzung. Das mittelhochdeutsche der swelge ist nach Auskunft der Wörterbücher sonst nirgends belegt. Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch II, S. 769 gibt an: »Saft, Geruch?«, Steer, DW IV,2, S. 770, Anm. 25 schlägt »Duft« vor. –Swelgen heißt mittelhochdeutsch konkret »schlucken, verschlucken, saufen«. Die Bedeutung »schwelgen = genießen, ergötzen« ist laut Grimm’schem Wörterbuch nur im Neuhochdeutschen belegt. Dem Sinn nach liegt hier für »schwelgen« die Bedeutung »aus innerer Lebenskraft ausstrahlen, erblühen« nahe, wofür es aber keinen lexikalischen Beleg gibt. 40 Pr. 109; 769,43–771,49: Ich sihe ane die liljen ûf dem velde und ane irn liehten schîn und ane ir varwe und ane alliu iriu bleter, aber ir swelgen ensihe ich niht. War umbe? Dâ ist ir swelge in mir. Aber daz ich spriche, daz ist in mir und ich spriche ez ûzer mir. Alle crêatûren die smackent mînem ûzern menschen als crêatûren: wîn als wîn, brôt als brôt, vleisch als vleisch. Aber mînem innern menschen ensmacket ez niht als crêatûren, mer: als gâben gotes. Aber mînem innersten menschen ensmacket ez niht als gâben gotes, mêr: als ie und iemer. 39

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7. Transzendenz in der Immanenz

außen, auch nicht nur im Geiste dankbar empfangen, sondern sie reichen in die innere Ewigkeit. Wie aber passt dieser Seinssinn des Geschöpfs zu dem Satz: »Die Geschöpfe sind ein reines Nichts«?

Nichts und Sein Zu einer Annäherung an das Phänomen des Nichts bei Eckhart kann jener Text führen, der das Lassen oder die abegescheidenheit unter dem Titel »Armut« am radikalsten vor Augen führt, die Armutspredigt, Nr. 52, ›Beati pauperes spiritu‹. Dort heißt es: »Arm ist ein Mensch, der nichts will, nichts weiß und nichts hat.« 41 Das klingt wie eine radikale Abwesenheit des Wollens, Wissens und Habens. Aber wie soll ein solcher Zustand faktisch möglich sein? Gewiss wäre er auch durch die strengste Askese nicht erreichbar. Man muss grob gesprochen sagen, dass eine solche Forderung im Rahmen einer realistischen Psychologie sinnlos ist. In einer anderen Predigt, die der ›Armutspredigt‹ in manchen Aspekten nahesteht, in Predigt 2, ›Intravit Jesus in quoddam castellum‹, macht Eckhart sich diesen Einwand einmal selbst. Er bezeichnet zunächst den radikal für Gott offenen Menschen, eine geistliche »Jungfrau«, als einen Menschen, »der von allen fremden Vorstellungen frei ist, so frei, wie er war, als er nichts war«. 42 Dagegen meint er: »Seht, nun könnte man fragen, wie ein Mensch, wenn er geboren und in seinem Vernunftleben vorangeschritten ist, so frei von allen Vorstellungen sein kann, wie da, als er nichts war. Denn er weiß doch vieles; das sind ja alles Vorstellungen. Wie kann er denn davon frei sein?« 43

Eckhart antwortet auf diesen Einwand: »Wäre ich so vernünftig, dass alle Vorstellungen in der Weise der Vernunft in mir stünden, [und zwar alle Vorstellungen] die alle Menschen jemals gebildet haben sowie die [Schöpfungsideen, die] in Gott selbst sind; und hegte ich sie Pr. 52; ed. Steer, 168,23 f.: Daz ist ein arm mensche, der niht enwil und niht enweiz und niht enhât. 42 Pr. 2; 25,1 f.: Juncvrouwe ist alsô vil gesprochen als ein mensche, der von allen vremden bilden ledic ist, alsô ledic, als er was, dô er niht enwas. 43 Pr. 2; 25,2–5: Sehet, nû möhte man vrâgen, wie der mensche, der geborn ist und vor gegangen ist in vernünftic leben, wie er alsô ledic müge sîn aller bilde, als dô er niht enwas, und er weiz doch vil, daz sint allez bilde; wie mac er denne ledic sîn? 41

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II. Philosophische Grundlagen

ohne ›Eigenschaft‹ [also ohne sie mir zuzurechnen], sodass ich keine dieser Vorstellungen mit ›Eigenschaft‹ [als mein Eigentum] in meinem Tun und Lassen ergriffen hätte, [also] ohne Vor oder Nach, sondern stünde ich in diesem gegenwärtigen Nun frei und ledig da, und [bereit], den liebsten Willen Gottes ohne Unterlass zu tun: wahrlich, dann wäre ich ›Jungfrau‹, ohne dass mich alle solche Vorstellungen behindern könnten, wahrlich so [ohne Behinderung durch Vorstellungen], wie ich war, als ich nichts war.« 44

Es ist gut zu sehen, dass Eckhart hier den Zustand des realen Ich anerkennt, der voll von Vorstellungen ist und ohne sie nicht sein kann. Er erwägt aber auch eine Freiheit davon, die dem Nichts des Vorstellens, man könnte sagen der ›Gedankenleere‹ gleichkommt. Dieser Satz steht in einer Irrealis-Konstruktion: Wenn ich ohne Eigenanspruch sein könnte, wäre ich so frei, wie ich war, als ich nichts war. Drei Probleme dieses Satzes sind zu klären: 1. Was bedeutet der Irrealis? 2. Was heißt hier eigenschaft? 3. Was ist mit dem Ausdruck gemeint: dô ich niht enwas? 1. Sagt der Irrealis, dass was hier vorgeschlagen wird, nicht real werden kann? Jedenfalls spricht er einen Zustand an, der nicht einfach da ist, nicht dem Wollen jederzeit verfügbar. Und doch gibt es die Ahnung dieser Augenblickserfahrung am Rande unseres thematischen Zeitbewusstseins: ein Moment der gesammelten Konzentration, des gegenstandslosen Gewärtigseins, des bedingungslosen Ja. Von solchen mystischen Erleuchtungs- und Zeitenthobenheitserfahrungen wird in allen Kulturen berichtet. Es sind keine jenseitigen Entrückungen in eine Anderswelt, sondern Berührungen mit dem Grund, ciszendentale, hereinbrechende Augenblicke, die faktisch immer nur ahnbar oder vage erinnerbar sind. Sie sind ›real‹, wirklich wirksam, aber nicht dingfest zu machen. 2. Für eigenschaft geben die Wörterbücher an: »Eigentum«, »Eigentümlichkeit«, »Zustand desjenigen, der eigen ist, Hörigkeit, Leibeigenschaft«. Bei Eckhart ist das Wort oft eine Entsprechung des Terminus proprietas, der ebenfalls »Eigentümlichkeit« heißt und in der Trinitätslehre eine besondere Rolle spielt, nämlich zur Bezeichnung Pr. 2; 25,6: Wære ich alsô vernünftic, daz alliu bilde vernünfticlîche in mir stüenden, diu alle menschen ie enpfiengen und diu in gote selber sint, wære ich der âne eigenschaft, daz ich enkeinez mit eigenschaft hæte begriffen in tuonne noch in lâzenne, mit vor noch mit nâch, mêr: daz ich in disem gegenwertigen nû vrî und ledic stüende nâch dem liebesten willen gotes und den ze tuonne âne underlâz, in der wârheit sô wære ich juncvrouwe âne hindernisse aller bilde als gewærlîche, als ich was, dô ich niht enwas.

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7. Transzendenz in der Immanenz

der Beziehungen, durch die sich die göttlichen Personen unterschiedlich aufeinander beziehen. 45 Aus diesen Festlegungen entnehme ich, dass eigenschaft hier die Haltung bezeichnet, die sich in der Meinung ausdrückt: ›Dieses zitierte Vorstellen, Tun und Lassen ist jeweils meines‹, also vielleicht mein ›Eigenanspruch‹. Damit ist ein erster Bedeutungshinweis gewonnen auf das Nichts, das die Freiheit von Bildern und Vorstellungen kennzeichnet. Ich rechne sie mir nicht zu, ich gebe ihnen keinen Wert, ich erhebe keinen Anspruch auf meine Gedankenbewegungen. 3. Was heißt dô er/ich niht enwas? Die gewohnte Übersetzung fügt vor niht ein »noch« ein: »Wie er war, als er noch nicht war«, um damit auf das Sein in der präexistenten Idee in Gott oder im Logos hinzuweisen. Diese Interpretation ist zweifellos möglich und sinnvoll. Es könnte sich aber leicht der Anklang eines virtuellen Dies-oder-DasSeins einschleichen. Tatsächlich sind ja nach der herrschenden Meinung des Thomas von Aquin die Ideen in Gott mehrfach und unterschieden, wie immer das zu denken sein mag. 46 Demnach wäre der Mensch, wie er war, als er noch nicht war, eine der Ideen im göttlichen Logos. 47 In diesem Sinne wird im letzten Zitat gesagt, nicht einmal wenn die »Bilder«, »die in Gott selbst sind«, »in der Weise der Vernunft in mir stünden«, könnten sie mich hindern, sofern ich keines mit eigenschaft ergriffen hätte. In jenem Stand, als ich noch nicht war, wäre ich ein solches präexistentes Bild. Aber passt eine solche Aussage zu der radikalen Armut bzw. abegescheidenheit, von der Eckhart hier in Predigt 2 und in der ›Armutspredigt‹ spricht? Solche SchöpfungsThomas von Aquin, Summa theologiae I q. 32, a. 2: Et ideo essentia significatur in divinis ut quid, persona vero ut quis, proprietas autem ut quo. – »Und darum bezeichnet man in Gott das Wesen als Was, die Person als Wer, die Eigenschaft als Wodurch.« Ebd. a. 3 co: Es gibt vier proprietates: innascibilitas, paternitas, filiatio und processio – Ungeborensein, Vaterschaft, Sohnschaft, Hervorgang (für den Heiligen Geist). Dies sind zugleich die notiones der Personen, deren Kennmarken, hinzu kommt noch die notio für Vater und Sohn: communis spiratio, die gemeinsame Hauchung des Geistes. 46 Thomas von Aquin, De veritate, q. 3, a. 2 co: Et ideo necesse est in deo ponere singulorum proprias rationes, et propter hoc necesse est ponere in eo plures ideas. – »Und darum ist es notwendig, in Gott je eigene Erkenntnisgründe der Einzeldinge vorauszusetzen, und darum ist es notwendig, in ihm eine Vielzahl von Ideen anzusetzen.« 47 Da für diese Interpretation gelegentlich Eckharts Rede vom duplex esse als Begründung angeführt wird, ist zu berücksichtigen, was oben (S. 104) über das duplex esse im Zusammenhang mit der Zweifaltigkeit des Seins in anima und extra animam gesagt wurde. 45

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II. Philosophische Grundlagen

ideen müssten, wenn hier auf sie angespielt würde, wohl in jenen Bereich des »Gottes« gesetzt werden, den wir »als Beginn der Geschöpfe betrachten« 48 , und nicht in die »Gottheit« 49 oder in »Gott« ›vor‹ der Schöpfung, von dem Eckhart sagt: »Denn bevor es die Geschöpfe gab, war Gott nicht Gott, sondern er war, was er war.« 50 Das heißt, Gott war kein Etwas. Parallel zu dieser abegescheidenheit Gottes ist die Freiheit des Menschen, wie sie war, als er niht enwas, als die Ununterschiedenheit zu verstehen, die auch noch ›vor‹ den Ideen liegt. Darum ziehe ich es vor, von dem Stand des Menschen, »als er n i c h t s war«, zu sprechen. Diese Formel bezeichnet wiederum, dass es in der letzten Einheit der »Gottheit« keine Washeit gibt; denn Eckhart spricht hier ausdrücklich von dem Gott, der nicht Schöpfer, ja nicht einmal Gott ist, der vielmehr »war, was er war«. Diese Waslosigkeit oder Undefinierbarkeit gehört auch dem gänzlich abegescheidenen, armen Menschen, der ist, wie er war, »als er nichts war«. Dem Nichts-Wollen und Nichts-Wissen der Armut entspricht demnach das Nichts, das der Arme war, als er nichts war. Die Armut, die sogar noch die Bestimmungen Gottes als des Schöpfers und Erlösers unberücksichtigt lässt, betrifft auch die Armut des Wollens und Wissens. Sie ist so leer und frei, ohne Unterschiedenheit, dass sie Nichts genannt werden kann. Was ist also dieses Nichts? Dieses Nichts ist die Verneinung der Bestimmtheit und Unterschiedenheit, und darum Kennzeichen der Einheit. Es ist die Verneinung des Etwas-Wollens und Etwas-Wissens. Das wird erläutert durch den Satz: »Was ich wollte, das war ich, und was ich war, das wollte ich.« 51 Wollen und Sein sind identisch. Es wird auf das Sein rekurriert, das zwar ohne Intention und Gegenstandsbezug ist, aber nicht wesenlos leer, sondern ursprunghafte Fülle, wie Eckhart oft betont: Indem Gott nichts, das heißt nichts konkret Seiendes ist, ist er alles, das heißt das Sein in allem. Das gilt auch vom Menschen. »Das heißt 52 , dass Gott ungetrennt ist von allen Dingen, denn Gott ist in allen Dingen, weil er ihnen inniger ist, als sie [es] sich selbst sind. Darum ist

Pr. 52; ed. Steer, 178,2: alsô als wir got nemen begin der crêatûren. So heißt es in der ›Opferstockpredigt‹, Pr. 109; 767,34 und 772,60–62. 50 Pr. 52; ed. Steer, 172,7: wan ê die crêatûren wâren, dô enwas got niht got, mêr: er was, daz er was. 51 Pr. 52; ed. Steer, 172,4 f.: Daz ich wolte, daz was ich, und daz ich was, daz wollte ich. 52 Eckhart bezieht sich hier darauf, dass der Evangelist Lukas schreibt: Ecce, mitto ange48 49

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7. Transzendenz in der Immanenz

Gott von allen Dingen ungetrennt. So soll auch der Mensch von allen Dingen ungetrennt sein. Das heißt: Indem der Mensch an sich selbst nichts und seiner selbst verloren ist, so ist er ungetrennt von allen Dingen und ist alle Dinge. Denn soweit du nichts an dir selbst bist, so weit bist du alle Dinge und ungetrennt von allen Dingen. Darum: Soweit du ungetrennt bist von allen Dingen, so weit bist du Gott und alle Dinge; denn Gottes Gottheit liegt daran, dass er von allen Dingen ungetrennt ist.« 53

Für den Menschen, sogar für ihn als »ich« (»du«), wird hier nahegelegt, von sich selbst her »nichts« zu sein. Das ist natürlich parallel zu sehen zu dem Satz: »Alle Geschöpfe sind ein reines Nichts.« 54 Auch dies ist für eine Ontologie des Realen unsinnig und wurde dementsprechend in der Bulle ›In agro dominico‹ verurteilt. 55 Verständlich wird der Satz nur, wenn man Eckharts Erläuterung interpretiert: »Ich sage nicht, dass sie klein sind oder etwas sind. Was nicht Sein hat, das ist nichts. Alle Geschöpfe haben kein Sein, denn ihr Sein hängt von der Gegenwart Gottes ab.« 56 Nach scholastischer Doktrin haben die Geschöpfe natürlich ein relativ selbstständiges Sein, »analog« im Sinne des Thomas von Aquin. Eckhart will jedoch nicht, dass wir seinen Satz, die Kreaturen seien nichts, so abschwächen, wie er leicht zu verstehen wäre, eben im gewöhnlichen Sinne der proportionalen Analogie. Natürlich sind sie klein oder etwas. Eckhart sagt hier nicht, dass sie nicht etwas, also nicht seiend sind, sondern dass sie kein Sein haben. Wie aber zuvor gesehen, ist es das Sein, durch das Gott und der gottförmige Mensch alle Dinge sind, sofern Gott ungetrennt ist und »ich« nichts bin. Dieses Sein ist also nicht die Washeit (esse essentiae, lum meum (»Siehe, ich sende meinen Engel«), und nicht wie die Bezugsstelle Mal. 3,1: Ecce, ego mitto … (Siehe, ich sende …). 53 Pr. 77; 340,1–8: Ez meinet, daz got ungescheiden ist von allen dingen, wan got ist in allen dingen, wan er ist in inniger, dan sie in selben sint. Alsô ist got ungescheiden von allen dingen. Alsô sol ouch der mensche ungescheiden sîn von allen dingen, daz ist: daz der mensche an im selber niht ensî und zemâle sîn selbes abegegangen sî; sô ist er ungescheiden von allen dingen und ist alliu dinc. Wan, als verre dû niht enbist an dir selben, als verre bist dû alliu dinc und ungescheiden von allen dingen. Dar umbe: als verre dû ungescheiden bist von allen dingen, als verre bist dû got und alliu dinc, wan gotes gotheit liget dar ane, daz er ungescheiden ist von allen dingen. 54 Pr. 4; 69,8: Alle crêatûren sint ein lûter niht. 55 Bulle a. 26; 599,87 f.: Omnes creaturae sunt unum purum nichil. Non dico quod sint quid modicum vel aliquid, sed quod sint unum purum nichil. 56 Pr. 6; 69,8–70,3: Ich spriche niht, daz sie kleine sîn oder iht sîn: sie sint ein lûter niht. Swaz niht wesens enhât, daz ist niht. Alle crêatûren hânt kein wesen, wan ir wesen swebet an der gegenwerticheit gotes.

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II. Philosophische Grundlagen

esse hoc et hoc) noch die Dassheit (esse existentiae). Eckharts Grundthese ist ja: »Das Sein ist Gott.« 57 Das aber impliziert für Eckhart, dass Gott als das Sein auch das Sein der Geschöpfe ist. »Das Sein empfängt nämlich, dass es ist, nicht in etwas oder von etwas oder durch etwas noch kommt es zu etwas hinzu oder darüber, sondern es kommt zuvor und ist früher als alles. Darum ist das Sein aller Dinge unmittelbar von der Erstursache und von der gemeinsamen Ursache aller Dinge.« 58

Das Erstaunliche in diesem Satz ist, dass für das Sein eines Dinges die Zweitursachen ausgeschlossen werden. Schließlich ist es doch der Baumeister, der das Haus ins Sein setzt; sind es Boden, Sonne und Regen, die aus dem Samen den Baum werden lassen. Freilich hat jede Zweitursache eine vorausgehende Ursache bis hin zur ersten; aber dass die Dinge ihr Sein »unmittelbar«, also ohne Zwischenschritte, von der Erstursache haben, entspricht nicht den gängigen Sichtweisen der Ontologie. Wir haben hier wieder den Fall, den wir öfters beobachten können. Eckhart benützt die Sprache der Tradition, die für sein Denken gar nicht mehr passend ist. Er sagt, das Sein sei »von der Erstursache«; aber müsste es nicht eigentlich heißen: Das Sein ist die Erstursache? Aber auch diese Formulierung wäre unklar. Das Sein ist, wenn überhaupt die ›Ursache‹ des Seienden; aber die Unterscheidung zwischen esse und ens ist gewöhnlich nicht scharf. Und ist nicht der Begriff der Ursache im Bereich des Seins überhaupt ungeschickt? Tatsächlich sagt Eckhart auch einmal, dass »in den uranfänglichen oder ursprünglichen allerersten Ursachen der Name Prinzip viel passender ist als der Name Ursache«. 59 Eckhart spricht in der zitierten Grundsatzerklärung aus dem ›Prologus generalis ad opus tripartitum‹ von einem anderen Sein als Thomas von Aquin. Deshalb verteidigt er sich im Kölner Prozess gegen Prol. gen. n. 11; 29,12: Esse est deus; ebenso n. 12; 29,16. Prol. gen. n. 8; 25,24–27,1: Ipsum enim esse non accipit quod sit in aliquo nec ab aliquo nec per aliquid, nec advenit nec supervenit alicui, sed praevenit et prius est omnium. Propter quod esse omnium est immediate a causa prima et a causa universali omnium. 59 Sermo II,2 n. 6; 8,6–9: In causis autem primordialibus sive originalibus primo-primis, ubi magis proprie nomen est principii quam causae, principium se toto et cum omnibus suis proprietatibus descendit in principiatum. – »In den uranfänglichen oder ursprünglichen allerersten Ursachen aber, wo der Name Prinzip viel passender ist als der Name Ursache, da steigt das Prinzip ganz und gar und mit allen seinen Eigentümlichkeiten in das Prinzipiat hinab.« 57 58

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7. Transzendenz in der Immanenz

die Anklage: »›Das Sein selbst empfängt nämlich, dass es ist, nicht in etwas oder von etwas‹ usw.« – Eckhart greift also genau den Satz aus der Anklageschrift heraus, in dem er die Seinsvermittlung durch die Zweitursachen bestritten und von einer unmittelbaren Seinsgabe der Erstursache, das heißt Gottes, an die Geschöpfe gesprochen hatte. Seine Antwort ist zunächst erstaunlich kurz und ohne Erläuterung: »Hierzu ist zu sagen, dass dies wahr ist; es muss aber unterschieden werden zwischen dem Sein, das die Form stiftend [dem Seienden] innewohnt, und dem absoluten Sein, das Gott ist.« 60 Gleich anschließend verteidigt er die Grundthese Esse est deus, »Das Sein ist Gott« mit ähnlichen Worten, aber etwas genauer: »Dazu ist zu sagen, dass dies wahr ist vom absoluten Sein, nicht von dem Sein, das [dem Seienden] formstiftend innewohnt.« 61 Den Anklägern von Avignon scheint diese Klarstellung genügt zu haben; denn der Artikel taucht in den bekannten Prozessunterlagen dort nicht mehr auf. Das heißt aber nicht, dass die Sache damit klar ist. 62 Eckhart hat gewusst, dass seine Formulierungen dem Wortlaut nach dem Grundsatz zu widersprechen scheinen, »dass Gott n i c h t das formbestimmende Sein aller Dinge ist« 63 . Thomas hat diesen Grundsatz mit einem klassischen Argument begründet: »Wenn nämlich Gott das Sein aller Dinge ist, dann wäre der Satz: ›Der Stein ist ein Seiendes‹, nicht wahrer als der Satz: ›Der Stein ist Gott‹.« 64 Wenn Eckhart sagt, Gott, ja sogar der Mensch sei alle Dinge, oder, das Sein sei Gott, scheint er mit dem allgemein anerkannten Argument des Thomas in Widerspruch zu geraten. Er weist in seiner Verteidigung den Widerspruch formal ab, erklärt aber nicht, wie denn das Sein Gottes, also das esse absolutum bzw. das esse absolute et simpliciter zu verste-

Responsio I n. 116; 289,4 f.: Ad quartum cum dicitur: »Ipsum esse non accipit quod sit in aliquo nec ab aliquo« etc. Dicendum quod verum est, distinguendum tamen de esse formaliter inhaerente et de esse absoluto, quod est deus. 61 Responsio I n. 117; 289,6 f.: Dicendum quod hoc verum est de esse absoluto, non de esse formaliter inhaerente. 62 Das ist auch daran zu erkennen, dass der ›Traktat von der Minne‹ (wohl in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts) genau diesem Problem mit Bezug auf Eckhart eine ausführliche Diskussion widmet; siehe Ruh, Kurt: Traktat von der Minne; Witte, Karl Heinz: Traktat von der Minne. 63 Thomas von Aquin, Summa contra gentiles I c. 26, n. 1: quod deus non est esse formale omnium. 64 Thomas von Aquin, Summa contra gentiles I c. 26, n. 8: Si enim deus est esse omnium, non magis dicetur vere lapis est ens, quam lapis est deus. 60

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II. Philosophische Grundlagen

hen ist, 65 das unmittelbar in allen Dingen sein soll. Das thomistische Missverständnis der Seinslehre Eckharts erklärt sich, wenn man annimmt, dass die Kritiker den Unterschied von Sein und Seiendem, auf den Eckhart hinarbeitet, nicht kennen. Der Einwand des Thomas, der Satz: ›Der Stein ist ein Seiendes‹, sei nicht wahrer als der Satz: ›Der Stein ist Gott‹ ist dann stimmig, wenn man in Eckharts These »Esse est deus« das Sein (esse) als das Seiende, in Eckharts Worten als esse hoc et hoc versteht. Dann wären nämlich der Stein und Gott dasselbe Seiende, mit anderen Worten: sie h ä t t e n dasselbe Sein. Das Sein, von dem Eckhart spricht, kann man aber nicht haben, von ihm kann man nur sagen: »IST« oder »Ich bin«. Das wird im neunten und zehnten Kapitel ausführlich erläutert. Im Hinblick auf das absolute Sein sind Gott oder Mensch alles, sofern sie von sich her nichts sind. Der Satz ist, wie gezeigt, nur verständlich, wenn vorausgesetzt wird, dass »absolutes Sein« oder »absolut sein« bei Eckhart einen anderen Seinssinn haben als in der metaphysischen Tradition. Absolut zu sein bedeutet für Eckhart, keine Washeit zu haben und insofern nichts zu sein. So aber ist das Nichts des Seienden als Sein alles. Wenn in den Interpretationen betont wird, für Eckhart sei das bestimmte Sein, das Dies oder Das, nichtig – »Die Geschöpfe sind ein reines Nichts« –, dann ist damit Eckharts Satz zwar richtig zitiert, man sollte dabei aber die Seinslosigkeit des Bestimmten und die Seinsfülle des Absoluten nicht »ontotheologisch« nehmen, das heißt als leeres Seiendes einerseits und als vollkommenes Seiendes andererseits. Vom Nichts (der Washeit) zum Absoluten und zurück herrscht keine dimensionale Stufung wie von Minus nach Plus. Absolut sein durchkreuzt als gründend abgründige Präsenz jede Form des Seienden. Das ist Eckharts Bruch mit der Dingontologie des esse formaliter inhaerens, der Bruch mit dem Sein als Form des Seienden. Wenn man diesen Bruch nicht mit vollzieht, bleibt der Blick auf die bei Eckhart »gelassenen« oder gar »vernichteten« Weltdinge immer noch von der Perspektive des vermeintlich real Seienden bestimmt, das natürlich die klassische Ontologie beherrscht, auch wenn sie vom Nominalismus und neuzeitlich vom wissenschaftlichen Objektivismus Vgl. In Ioh. n. 52; 43,11 f.: Omne autem citra deum est ens hoc aut hoc, non autem ens aut esse absolute, sed hoc est solius primae causae, quae deus est. – »Aber alles diesseits Gottes ist ein Dies-oder-Das-Seiendes, nicht jedoch [ist es] absolut seiend oder absolut sein; aber dieses [Letzte] gehört allein zur Erstursache, die Gott ist.«

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7. Transzendenz in der Immanenz

abgelöst wird. Man stellt dann – entgegen dem anfangs zitierten hermeneutischen Grundsatz Eckharts 66 – das reine Sein (esse absolutum) nach Maßgabe »des real Seienden außerhalb der Seele« (ens reale extra animam) vor – und denkt es nicht als inneres Sein bzw. als Wirklichkeit des geistigen Lebens ( ens in anima bzw. ens cognitivum). Man vergisst dann, dass für Eckhart Gott nicht mehr ein höchstes Seiendes in der Jenseitswelt ist, sondern das lebendige Sein als das Innen (diu innerkeit) der Dinge. Sein und mit ihm die konvertiblen Transzendentia gehören einer anderen Seinsweise an als die Seienden und die Konkreta als Weltdinge. Das heißt: Die Tugenden sowie das Menschsein schlechthin sind keine Errungenschaften, edle Haltungen oder Eigenschaften, sondern sie sind von Gott selbst erfüllte Weisen zu sein. »Der Gerechte, von dem jetzt im Beispiel die Rede ist, ist durch sich selbst, durch das, was er in sich selbst [als Seiendes] ist, nicht Licht. Darum folgt [im Johannesprolog 1,8] sogar über den gerechten Johannes den Täufer: ›Er war nicht das Licht‹. Und das ist die vierzehnte These: Der Gerechte oder das Gerechte, als in sich selbst finster, leuchten nicht; aber in der Gerechtigkeit selbst, ihrem Ursprung, leuchten sie, und die Gerechtigkeit leuchtet im Gerechten, doch das Gerechte, insofern es das Untergeordnete ist, hat sie nicht erfasst. / Zudem aber fünfzehntens: D i e G e r e c h t i g k e i t i s t a l s s o l c h e g a n z i n j e d w e d e m G e r e c h t e n . Eine mittelmäßige Gerechtigkeit ist ja keine Gerechtigkeit. Darum: Wenn sie ganz in jedwedem Gerechten ist, so ist sie auch ganz außerhalb jedes Gerechten. Darum heißt es: ›Die Finsternis hat es [das Licht] nicht erfasst‹.« 67

66 Siehe oben S. 104 f.: In Ioh. n. 514; 445,3–14: Aliter autem loquendum est omnino de rerum rationibus et cognitione ipsarum, aliter de rebus extra in natura, sicut etiam aliter loquendum est de substantia et aliter de accidente. Quod non considerantes frequenter incidunt in errorem.– »Ganz anders muss man aber reden vom Seinssinn der Dinge und deren Erkenntnis, und anders von den Dingen außen in der Natur, wie man auch anders reden muss von der Substanz und anders vom Akzidens. Die das nicht beachten, fallen häufig in Irrtum.« 67 In Ioh. n. 22; 18,10–19,2: Iustus enim, de quo nunc est sermo in exemplo, secundum se, secundum id quod est in se ipso, lux non est. Unde de ipso Iohanne baptista iusto sequitur: ›non erat ille lux‹. Et hoc est quartumdecimum quod iustus sive iustum, in se ipso tenebrosum, non lucet; in ipsa vero iustitia, suo principio, lucet, et ipsa iustitia in iusto lucet, sed iustum ipsam non comprehendit, utpote inferius. / Adhuc autem quintodecimo manifestum est quod iustitia se tota est in iusto quolibet. Media enim iustitia non est iustitia. Quod si tota est in quolibet iusto, est et tota extra quodlibet et quemlibet iustum. Et hoc est quod dicitur: ›tenebrae eam non comprehenderunt‹.

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II. Philosophische Grundlagen

In dem In-Sein, das das Seiende zugleich ganz überschreitet, wie es dieses erfüllt, ist ausgedrückt, dass das Sein von ganz anderer Seinsart ist als das Seiende, dass aber das Seiende nicht erscheinen könnte, wenn es vom Sein nicht erleuchtet wäre. Diese Formulierungen legen erneut nahe, dass Eckhart die »ontologische Differenz« vorausgedacht hat, von der Heidegger sagt, in der Metaphysik sei das Sein zugunsten des Seienden vergessen worden. 68

Dem widerspricht für die neuplatonische Metaphysik Beierwaltes, Werner: Identität und Differenz, S. 131–143, zu Eckhart S. 134, Anm. 130.

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Achtes Kapitel Theologie und Philosophie der Gottesgeburt

Die ontologische Fundierung der Gottesgeburtslehre In diesem Kapitel muss die Entfaltung der Gottesgeburtslehre Eckharts in verschiedenen Differenzierungsstufen dargestellt werden. Das mag manchem Leser, der vor allem an der spirituellen Dimension der Gottesgeburt interessiert ist, vielleicht unnötig abstrakt und theoretisch vorkommen. Es ist jedoch notwendig, die Gedanken Eckharts in ihrer philosophisch-theologischen Fundierung und Entwicklung darzustellen, um dem Meister selbst treu zu bleiben, bevor spirituelle Übertragungen und Spekulationen berechtigt sein können. Die Gottesgeburtslehre gilt mit Recht als das Herzstück der Botschaft Eckharts. Darum ist dieses Thema auch der Mittelpunkt dieses Buches, zunächst sachlich theoretisch. Eckharts Gedanke der Gottesgeburt wurzelt theologisch in der Zeugung des Sohnes oder des Wortes in der Trinität sowie in der Fleischwerdung des Logos bzw. des Gottessohnes, also in der Menschwerdung, in der Inkarnation. Der menschgewordene Logos ist in seiner göttlichen Natur und in seiner Person derselbe Sohn, den der Vater in der Trinität zeugt. Meister Eckhart überträgt diese heilsgeschichtlichtheologische Identität in die ontologische Dimension. Da alles, was Gott wirkt, ein einziges Werk ist, das alles im Ganzen durchformt, darum ist die trinitarische Zeugung sowie die Geburt Christi zugleich die Gottesgeburt in der Seele: »Ich wiederhole, was ich öfter gesagt habe, dass die ewige Geburt in genau derselben Weise in der Seele geschieht, wie sie in der Ewigkeit geschieht, nicht weniger und nicht mehr, denn es ist eine Geburt. Und diese Geburt geschieht im Wesen und im Grunde der Seele.« 1 1 Pr. 102; 407,2–6: Ich spriche aber, als ich mê gesprochen hân, daz disiu êwige geburt geschihet in der sêle in aller der wîse, als si geschihet in der êwicheit, noch minner noch

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II. Philosophische Grundlagen

Dies ist die frühe Gestalt der Gottesgeburtslehre Eckharts, geäußert schon im ›Gottesgeburtszyklus‹, also wohl vor 1305. Aber auch in diesem frühen Stadium war die Lehre von der Gottesgeburt für Eckhart nicht neu; denn er wiederholt, was er schon öfter gesagt hat. Wir dürfen diesen Satz als Aussage über Eckharts eigene und eigenständige Lehre lesen. Andererseits ist der Gedanke, dass Gott in der Seele des Menschen geboren wird, auch in der theologischen Tradition gut verankert. Traditionell wird bei den lateinischen Kirchenvätern und im Mittelalter die Gottesgeburt durch Maria auf die ›Geburt‹ der Tugenden oder guten Werke im Herzen der Gläubigen bezogen. 2 Eckharts Gottesgeburtslehre hat jedoch einen anderen Akzent. Der Sohn wird in der Seele »geboren« (mhd. gebern/geborn, lat. nascitur). Eckhart verankert also die Gottesgeburtslehre in der Trinität und in der Inkarnation, wie zuvor erwähnt. Der Prozess der Sohnesgeburt heißt, vom Vater aus betrachtet, in der scholastischen Sprache »Zeugung« (generatio, generare, gignere, mhd. ebenfalls gebern). Die Erweiterung und Umdeutung der Gottesgeburtslehre zur Zeugung oder Geburt des Wortes bzw. des Sohnes in der Seele in der gleichen Weise und als derselbe Sohn wie in der Trinität dürfte Eckharts Eigenlehre sein. Kurt Ruh hat versucht, Eckharts Quellen für seinen Gottesgeburtsgedanken zu ermitteln. Er kommt zu dem Schluss: »So muss es nach wie vor offen bleiben, ob es überhaupt eine hochmittelalterliche Instanz […] gegeben hat, auf die Eckhart in dieser Lehre hätte zurückgreifen können.« 3 Diese Lehre hat Eckhart mit unterschiedlichen Akzenten von Anfang an vertreten, und diese Thematik war Gegenstand des Prozesses und der Verurteilungsbulle. Im deutschen Werk Eckharts findet die Gottesgeburt eine umfangreiche Entfaltung. In der frühen Gestalt der Gottesgeburtslehre liegen schon die Keime für die sachliche Entfaltung bzw. Differenzierung. Sie wird im ›Gottesgeburtszyklus‹ durch die folgenden Kennmarken bestimmt: 1. Der Vater zeugt in seiner Selbsterkenntnis den wesensgleichen Sohn. 2. Die Geburt des Wortes oder Sohnes im Menmê, wan ez ist éiniu geburt. Und disiu geburt geschihet in dem wesene und in dem grunde der sêle. 2 Vgl. Rahner, Hugo: Die Gottesgeburt, hier S. 390 f. Eckhart selbst zitiert Origenes mehrmals als Vertreter dieser patristischen Lehre von der Geburt Gottes in jedem guten Gedanken, z. B. Pr. 41; 293,2–6; siehe dazu Quints Anm. 2 in DW II, S. 293. 3 Ruh, Kurt: Meister Eckhart. Theologe, Prediger, Mystiker, S. 140–142, hier S. 142.

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8. Theologie und Philosophie der Gottesgeburt

schen ist dieselbe Geburt wie die Zeugung in Ewigkeit. 3. Diese Geburt geschieht im Grunde der Seele. Diese Kernideen werden im gesamten deutschen Predigtwerk Eckharts ausgefaltet. Denn aus der ontologischen Gleichsetzung der Zeugung in der Trinität und der Geburt des Wortes oder Sohnes in der Seele folgen alle Merkmale der Gottesgeburt, die in den klassischen Gottesgeburtstexten Eckharts genannt werden. 1. Zunächst wird die Wesensnotwendigkeit der Zeugung in der klassischen Gottesgeburtslehre weiter ausgearbeitet. Während durch die menschliche Zeugung Vater und Sohn in Sein und Leben selbstständig sind, sodass der Sohn auch bleibt, wenn der Vater stirbt, trifft das für Gott Vater und Sohn nicht zu. »So steht es nicht beim Vater und seinem ewigen Wort; sondern, ob er will oder nicht will, er muss dieses Wort sprechen und ohne Unterlass gebären; denn er lebt natürlich mit dem Vater zusammen als eine Wurzel in der ganzen Natur des Vaters.« 4 2. Die Gleichheit des Sohnes in der Seele mit dem inkarnierten Logos findet sich in zahlreichen Predigten. »Alles, was Gott gefällt, das gefällt ihm in seinem eingeborenen Sohn. Alles, was Gott liebt, das liebt er in seinem eingeborenen Sohn. Nun soll der Mensch so leben, dass er eins sei mit dem eingeborenen Sohn und dass er der eingeborene Sohn ist. Zwischen dem eingeborenen Sohn und der Seele gibt es keinen Unterschied.«5

3.

Da es in Gott nur eine Geburt geben kann, ist der Sohn in der Trinität, in Christus und in der Seele jedes Einzelnen derselbe Sohn, wenn auch nicht der empirisch-begrenzten Menschheit nach. »Wo der Vater seinen Sohn in mir gebiert, darin bin ich derselbe Sohn und nicht ein anderer. Wir sind wohl verschieden

4 Pr. 49; 435,4–6: Alsô enist ez niht umbe den vater und umbe sîn êwic wort; mêr: er welle oder enwelle, er muoz diz wort sprechen und gebern âne underlâz; wan ez ist mit dem vater als ein wurzel in aller der natûre des vaters natiurlîche, als der vater selber ist. Weitere Belege für die Wesensnotwendigkeit der Zeugung des Sohnes: z. B. Pr. 6; 112,1–3; Pr. 49; 433,9–434,2. 5 Pr. 10; 169,1–4: Allez, daz gote gevellet, daz gevellet im in sînem eingebornen sune; allez, daz got minnet, daz minnet er in sînem eingebornen sune. Nû sol der mensche alsô leben, daz er ein sî mit dem eingebornen sune und daz er der eingeborne sun sî. Zwischen dem eingebornen sune und der sêle enist kein underscheit. Die Gleichheit des göttlichen und menschlichen Sohnes wird auch in folgenden Predigten gelehrt: Pr. 30; 96,6–8; Pr. 76; 325,3–13; 326,3–327,2; 328,7–329,4; Pr. 98; 242,33–244,44; Pr. 101–104.

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II. Philosophische Grundlagen

4.

der Menschheit nach; aber dort bin ich derselbe Sohn und nicht ein anderer.« 6 Indem Eckhart hier »ich« sagt, was jedes Ich einschließt, verwehrt er uns die Annahme, es handle sich um ein allgemein göttlich-übernatürliches Wesen. Die Identität des Sohnes und des »ich« ist vielmehr gerade menschlich in einem hervorgehobenen Sinn. Gemeint ist nicht die konkrete, eigenschaftsbestimmte Menschlichkeit des Konrad oder Heinrich; aber auch nicht ein allgemeines Menschenwesen, die Washeit (quiditas). Vielmehr wird gemäß dem Verständnis Eckharts ›mein‹ Menschsein erst eigentlich, indem die Inkarnation des Sohnes es transformiert, überbildet: sodass jeder Mensch in seiner Natur – in Gemeinschaft mit dem eingeborenen Sohn Gottes – selbst Sohn oder Tochter Gottes geworden ist. 7 Das Wesen des Gebärens als Erkenntnis oder Vernunft, als Einheit und Gleichheit stiftend oder als Lust ist ein weiteres in Eckharts ›klassischer Gottesgeburtslehre‹ breit ausgeführtes Thema. »Was hört der Sohn von seinem Vater? Der Vater kann nur gebären; der Sohn kann nur geboren werden. Alles, was der Vater hat und was er ist, die Abgründigkeit des göttlichen Wesens und der göttlichen Natur, das gebiert er zugleich in seinem eingeborenen Sohn. Das hört der Sohn von dem Vater; das hat er uns geoffenbart, dass wir derselbe Sohn seien.« 8

5.

Schließlich wird die ›Zeit‹ der Gottesgeburt in der Seele, die ja dieselbe ist wie die Zeugung in der Ewigkeit, als das »gegenwärtige Nun« bestimmt. »Die Seele steht in einem gegenwärtigen Nun. Da gebiert der Vater seinen eingeborenen Sohn in sie, und in derselben Geburt wird die Seele wieder in Gott zurück geboren. Das

6 Pr. 4; 73,1–20: Dâ der vater sînen sun in mir gebirt, dâ bin ich der selbe sun und niht ein ander; wir sîn wol ein ander an menscheit, aber dâ bin ich der selbe sun und niht ein ander. 7 Der Gottessohn als »ich«: Pr. 4; 72,9–73,2; Pr. 5b; 90,6–9; Pr. 6; 109,2–110,2; Pr. 75; 301,1–3. 8 Pr. 29; 84,5–9: Waz hœret der sun von sînem vater? Der vater enkan niht dan gebern, der sun enkan niht dan geborn werden. Allez, daz der vater hât und daz er ist, die abgründicheit götlîches wesens und götlîcher natûre, daz gebirt er zemâle in sînem eingebornen sune. Daz hœret der sun von dem vater, daz hât er uns geoffenbâret, daz wir der selbe sun sîn. Das Wesen des Gebärens ferner: Pr. 11; 177,1–5; Pr. 12; 193,9–194,6; Pr. 16; 265,6–265,8; Pr. 31; 116,8–118,5; Pr. 37; 219,3–7 (daz vünklîn der vernünfticheit); Pr. 38; 193,8–194,6; Pr. 40; 275,3–277,1; Pr. 41; 293,1–294,3; Pr. 44; 341,10–343,8; Pr. 46; 378,73–79,3; Pr. 49; 437,1–438,2; Pr. 50; 456,7–458,5; Pr. 59; 627,1–628,2.

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ist eine Geburt, sooft sie in Gott zurück geboren wird, gebiert der Vater seinen eingeborenen Sohn in sie hinein.« 9 Dies sind die Hauptmerkmale der klassischen Gottesgeburtslehre Eckharts, die als Differenzierungsstufe der frühen Form angesehen werden kann. Die Identifizierung einer reinen »frühen« Form ist aber nur dann möglich, wenn die Thematik auf den oben umrissenen Kern reduziert auftritt. Diese Abgrenzung und die Entfaltung können aber nicht historisch verstanden werden. Es ist ja durchaus denkbar, dass Eckhart in manchen ›klassischen‹ Predigten nur solche Gedanken vorlegt, die in der hier gezeichneten Entwicklungslinie einer ›früheren‹ Stufe angehören. Entfaltung meint also hier nur begriffliche, nicht chronologische Differenzierung. Gedankliche Parallelen zu den lateinischen Schriften, zum Beispiel zu den ›Pariser Quästionen‹ und zum ›Opus tripartitum‹ geben einstweilen nur Anlass zu vorsichtigen Hypothesen. So kann man zum Beispiel eine Verankerung der Gottesgeburt in der Vernunft (vernünfticheit), die sich vor allem in der Predigtsammlung ›Paradisus anime intelligentis‹ findet, als Parallele zur Lehre vom Vorrang des Intellekts vor dem Sein in den ›Pariser Quästionen‹ verstehen. Aufgrund dieser Parallelen werden einige Predigten in den zeitlichen Umkreis der ersten Magistertätigkeit (1302–1303) Eckharts in Paris gesetzt. 10 Zum Beispiel tritt die Vernunft zusammen mit der Geburt in Predigt 37, ›Vir meus servus tuus mortuus est‹, auf: »Wird das Fünklein der Vernunft bloß in Gott genommen, so lebt der Mann 11 . Dort geschieht die Geburt, dort wird der Sohn geboren. Die Geburt geschieht nicht einmal im Jahr noch einmal im Monat noch einmal am Tage, sondern alle Zeit, das heißt über der Zeit in der Weite, in der es kein Hier noch ein Jetzt gibt, noch Natur noch Denken.« 12

Pr. 10; 171,8–11: Diu sêle, diu dâ stât in einem gegewertigen nû, dâ gebirt der vater in sie sînen eingebornen sun, und in der selben geburt wirt diu sêle wider in got geborn. Daz ist ein geburt, als dicke si widergeborn wirt in got, sô gebirt der vater sînen eingebornen sun in sie. Ferner: Pr. 10; 166,9–167,2; Pr. 29; 86,1–4; Pr. 38; 230,4–231,6. 10 Largier, EW I, S. 736–738. 11 Eckhart setzt hier allegorisch die Vernunft mit dem Mann gleich. 12 Pr. 37; 219,3–7: Daz vünkelîn der vernünfticheit, blôz in gote genomen, dâ lebet der man. Dâ geschihet diu geburt, dâ wirt der sun geborn. Diu geburt engeschihet niht eines in dem jâre noch eines in dem mânôte noch eines in dem tage, mêr: alle zît, daz ist obe zît in der wîte, dâ noch hie noch nû enist, noch natûre noch gedanke. 9

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II. Philosophische Grundlagen

Die Datierung dieser Predigten ist jedoch unsicher. Und vor allem wird die Geburt des Sohnes in der Vernunft auch noch in den eindeutig späten Predigten gelehrt, ja es gilt sogar durchwegs, dass der Ort der Gottesgeburt die Vernunft ist, da ja die Geburt des Sohnes in der Trinität als ein Geschehen der Selbsterkenntnis des Vaters aufgefasst wird. 13 Kurt Flasch hat darauf aufmerksam gemacht, dass schon in der ersten Pariser Quaestio die Weisheit, insofern sie sich auf den Intellekt bezieht, unerschaffbar (non creabilis) genannt wird. Er leitet daraus ab, dass Weisheit, Gutsein und Wahrheit nicht nach »Art des handwerksanalogen Herstellens« gedacht sind. »Wir erschließen den einzig würdigen Sinn des Gottseins, indem wir Gutsein und Gerechtigkeit, ihre Zeugungskraft und irdische Anwesenheit denken.« Die hierfür »passende Metapher« sei »Erzeugen und Geborenwerden«. 14 Er verankert damit Eckharts Gottesgeburtslehre, terminologisch gesprochen, in der Intellekt- und in der Transzendentalienlehre, die bereits mehrmals erwähnt wurden. Die Erstbestimmungen des Seins (transcendentia, perfectiones generales et spirituales), Einheit, Wahrheit, Gutsein, Gerechtsein usw., sind im Menschen nur »analog«: Das heißt in Eckharts Verständnis: Sie bleiben in ihrem ermöglichenden Ursprung und haben kein eigenes, weltliches, geschaffenes Sein, sondern sind unmittelbar und wesenhaft von Gott, und sie sind Gott selbst. Mit anderen Worten: Die göttliche Güte selbst ist die transzendentale Ermöglichung des einzelnen Guten im Menschen. Oder: Die Güte Gottes konkretisiert oder inkarniert sich in einzelnen guten Wesensarten und Handlungen des Menschen. Diese sind Wort oder Sohn Gottes, im Menschen geboren, von Gott selbst im Menschen gezeugt. Sie sind aber nicht geschaffen, als bliebe Gott dort oben, und seine Wirkung finde sich hier unten. Gott, die Zeugung und der oder die Geborene sind vielmehr wesensgleich. Das heißt: Güte, Gerechtigkeit, Weisheit sind im Menschen gezeugt oder geboren. Tatsächlich sagt Eckhart im ›Sapientiakommentar‹ : »Wiederum ist zu bemerken, dass der Gerechte als solcher von der Gerechtigkeit allein sein ganzes Sein hat und empfängt und dass er durch die GerechEs gibt eine Reihe von Parallelen zur Gottesgeburt in den lateinischen ›Sermones‹ ; doch da diese nicht historisch geordnet sind, lassen sich daraus keine werkgeschichtlichen Mutmaßungen gewinnen. 14 Flasch, Kurt: Meister Eckhart – Philosoph des Christentums, S. 274 (Hervorhebung von Flasch), ebenso S. 136. 13

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tigkeit allein sowohl Kind als auch der im eigentlichen Sinne von der Gerechtigkeit gezeugte Sohn ist und dass die Gerechtigkeit, und sie allein, der Erzeuger oder der den Gerechten zeugende Vater ist. Auch ist hierzu nachdrücklich zu bemerken, dass bei der Rechtfertigung des Sünders, ja sogar in jedem Akt und Wirken der Gerechtigkeit, ein Abbild und Ausdruck der Dreifaltigkeit liegt. Da gibt es nämlich notwendig die ungezeugte Gerechtigkeit, von der und nach der der Gerechte gebildet und gezeugt wird; da gibt es notwendig die gezeugte Gerechtigkeit, ohne die der Gerechte nicht geboren wäre; und es gibt drittens notwendig die Liebe des Zeugenden zum Geborenen und des Geborenen zum Zeugenden, die von beiden ausgeht und ausfließt wie von einem Einen.« 15

Dieses ausführliche Zitat kann zeigen, dass die Gottesgeburtslehre Eckharts keineswegs eine mystisch-spekulative Erlebnisbekundung im deutschen Predigtwerk ist, sondern dass sie aus den philosophischen Überlegungen des scholastischen Meisters abgeleitet ist, und zwar schon in dem relativ frühen lateinischen Bibelkommentar. Der Hintergrund ist, wie gezeigt, tatsächlich die Transzendentalienlehre, die hier auch schon mit der Trinitätsdynamik verknüpft ist. Eine Entsprechung im deutschen Werk findet sich zum Beispiel in der zweiten ›Gerechtigkeitspredigt‹, Nr. 39, ›Iustus in perpetuum vivet et apud dominum est merces eius‹ 16 :

In der Übersetzung wird, entsprechend dem mittelhochdeutschen Sprachgebrauch Eckharts zwischen »zeugen« und »geboren« abgewechselt, während im Lateinischen für beide Begriffe generare oder genitum steht. In Sap. n. 64; 392,10–393,5: Rursus notandum quod iustus, in quantum huiusmodi, totum esse suum habet et accipit a sola iustitia et est proles et filius proprie genitus a iustitia, et ipsa iustitia et sola est parens sive pater generans iustum. Et est hic signanter notandum quod in iustificatione impii, quin immo in quolibet actu iustitiae sive operatione est imago et expressio trinitatis. Est enim necessario iustitia ingenita, a qua et secundum quam formatur iustus et gignitur; est etiam necessario iustitia genita, sine qua non esset iustus genitus; est et tertio necessario amor gignentis ad genitum et geniti ad gignentem, procedens et emanans ab utroque tamquam ab uno. 16 Diese zweite Gerechtigkeitspredigt (Pr. 39) bezieht sich auf die erste (Pr. 6) zurück: Pr. 39; 252,1: Etwenne hân ich gesprochen, waz ein gereht mensche sî; aber nû spriche ich in einem andern sinne anders: daz ist ein gereht mensche, der in die gerehticheit îngebildet und übergebildet ist. – »Früher habe ich [darüber] gesprochen, was ein gerechter Mensch ist; aber heute sage ich es mit einem anderen Bezug anders: Das ist ein gerechter Mensch, der in die Gerechtigkeit hineingebildet und transformiert ist.« Zur Interpretation der philosophiehistorischen Bedeutung beider Predigten siehe Flasch, Kurt: Predigt 6: ›Iusti vivent in aeternum‹ und Flasch, Kurt: Predigt 39: ›Iustus in perpetuum vivet‹ ; siehe auch unten S. 261, Anm. 37. 15

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II. Philosophische Grundlagen

»Der Gerechte lebt in Gott und Gott in ihm; denn Gott wird in dem Gerechten geboren und der Gerechte in Gott; denn von einer jeden Tugend des Gerechten wird Gott geboren, und er wird erfreut von jeder Tugend des Gerechten, und nicht allein von jeder Tugend, sondern von jedem Werk des Gerechten, wie klein es auch sei, das von dem Gerechten in der Gerechtigkeit gewirkt wird, von dem wird Gott erfreut, ja durchfreut.«17

Mit dem ›Kommentar zum Johannesevangelium‹ (ca. 1313) tritt ein neuer Abschnitt in der Gottesgeburtslehre ein. Während in der Transzendentalienlehre das Wahre, Gute, Gerechte usw. vorwiegend als Seinsweisen bestimmt wurden, die univok oder analog ausgesagt werden, stellt der ›Johanneskommentar‹ die Beziehung des Gründens stärker als ein wechselseitiges Enthaltensein des Prinzips im Prinzipiat dar: der Sohn im Vater und umgekehrt. Ausgehend vom Prolog des Johannesevangeliums, »Im Anfang war das Wort«, wird in diesem Kommentar das Verhältnis des Gerechten und der Gerechtigkeit als Ineinander des Hervorbringenden und des Hervorgebrachten betrachtet, das heißt als Zeugung bzw. Geburt. In der Auslegung wird zu fragen sein, was dieses Wechselverhältnis für die Beziehung zwischen Gott und dem Menschen, ja überhaupt für das Verständnis Gottes bedeutet. Wenn man im Auge behält, dass »Gerechtigkeit« hier zugleich für Gott und für das Rechtsein des Menschen steht, gewinnt der folgende Satz eine zentrale Bedeutung für das Wesen des Menschen und seine Würde. »E i n s o l c h e r M e n s c h , Gottes Sohn, als Guter der Sohn der Güte, ein gerechter Sohn der Gerechtigkeit – insofern er allein deren Sohn ist, so ist sie [die Gerechtigkeit] ungezeugt-zeugend –, und ihr geborener Sohn hat dasselbe eine Wesen, das die Gerechtigkeit selbst hat und ist, und er t r i t t i n a l l e E i g e n s c h a f t e n d e r G e r e c h t i g k e i t und der Wahrheit ein.« 18

Pr. 39; 252,3–253,1: Der gerehte lebet in gote und got in im, wan got wirt geborn in dem gerehten und der gerehte in gote; wan von einer ieglîchen tugent des gerehten wirt got geborn und wirt ervröuwet von einer ieglîchen tugent des gerehten, und niht aleine von einer ieglîchen tugent, mêr: von einem ieglîchen werke des gerehten, swie kleine ez sî, daz von dem gerehten in der gerehticheit geworht wirt, von dem wirt got ervröuwet, jâ durchvröuwet. Wesentliche Parallelstellen sind: Pr. 16; 272,11–273,3; Pr. 28; 62,1–5; Pr. 29; 92,3 f.; Pr. 45; 371,9 f.; Pr. 46; 384,4–385,4; Pr. 84; 459,1–460,3. 18 BgT; 11,15–1: Ein sôgetân mensche, gotes sun, guot der güete sun, gereht sun der gerehticheit, alsô verre als er aleine ir sun ist, sô ist si ungeborn-gebernde, und ir geborn sun hât daz selbe eine wesen, daz diu gerehticheit hât und ist, und tritet in alle die eigenschaft der gerehticheit und der wârheit. 17

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8. Theologie und Philosophie der Gottesgeburt

In diesem Satz ist nicht nur die Gleichsetzung der Transzendentalien mit der Gottesgeburt ausgedrückt, sondern auch die Wesensgleichheit zwischen Vater und Sohn, das heißt analog zwischen dem gerechten Menschen, soweit er gerecht ist, und der Gerechtigkeit Gottes. Das entspricht noch der Transzendentalienlehre. Was aber neu hinzukommt, ist, dass das Prinzipiierte, der Sohn oder der Gerechte, auch mit der Zeugungskraft des Ursprungs ausgestattet wird. 19 Festzumachen ist dieser Schritt an der Formulierung: »Er [der Sohn] tritt in alle Eigenschaften der Gerechtigkeit und der Wahrheit ein.« Diese Betonung der Übergabe a l l e r Wesenseigenschaften des Vaters an den Sohn hat drei theoretische Implikationen: Erstens ist sie eine Konsequenz der stringenten Deutung der Vater-Sohn-Beziehung entsprechend Eckharts Prinzipienlehre. Danach ist das Hervorgebrachte ebenso im Hervorbringenden wie das Hervorbringende im Hervorgebrachten, also ist der Sohn im Vater wie der Vater im Sohn. Da Vater und Sohn hier auch für Gott und Mensch stehen, ist die Brisanz dieser These spürbar. Damit ist zweitens eine terminologische Unklarheit verbunden, welche die Anhänger der thomistischen Dreifaltigkeitslehre beargwöhnen mussten: Wenn der Sohn in alle Eigenschaften des Vaters eintritt, heißt es dann, dass der Sohn dieselbe Eigenschaft (proprietas) wie der Vater hat? Zeugt also der Sohn auch den Vater, der Mensch Gott? In den Frühstadien dieser Diskussion wird die letzte Frage verneint: »Nach den angeseheneren Lehrern ist das Zeugungsvermögen in Gott Vater eher die Wesenheit als die Vaterschaft. Demnach zeugt Gott Vater den Sohn als Gott, aber nicht als einen Vater.« 20 Hingegen wird drittens diese Frage in den späten deutschen Predigten bejaht, und das führt gerade zu dieser theologisch problematischen These: Der Sohn wird auch Vater und zeugt den, von dem er gezeugt ist. Dieser Vertiefung der Gottesgeburtslehre wird sich der nächste Abschnitt zuwenden.

Dieser Gedanke, der den Johanneskommentar beherrscht, ist vorbereitet in der Pariser Quaestio 7, ›Utrum essentia divina esset actualior quam proprietas‹ – »Ist das göttliche Wesen wirklicher als die Eigenschaft? (LW I,2; 463–465) und In Ex. n. 28; 34,1–4. Die Lehre wird in den späten deutschen Predigten noch weitergeführt. Siehe auch Vinzent, Markus: Questions on the attributes (of God). 20 In Ex. n. 28; 34,1–3: Rursus potentia generandi in patre est essentia potius quam paternitas, ut dicunt meliores. Propter quod deus pater generat filium deum, sed non generat ipsum patrem. 19

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II. Philosophische Grundlagen

Gottesgeburt und Seelenfnklein in den Klner Predigten Die biblische Botschaft vom Mensch gewordenen Logos hat, wie soeben gezeigt, bei Eckhart ein dreifaltiges ontologisches Fundament. Es sind zugleich drei Aspekte des »Grundes«: 1. Die konkreten Auszeichnungen des Lebens gründen im Prinzip (in principio). Das kann die Weise betreffen, in der Wahrheit, Güte, Gerechtigkeit usw. in deren transzendentalen Ursprüngen verankert sind (Analogie, Transzendentalienlehre, Prinzipienlehre): Der Gerechte wird aus der Gerechtigkeit geboren, ist das Kind der Gerechtigkeit. 2. Der Vater oder das eine Wesen Gottes zeugt den Sohn oder das Wort. Jeder Mensch, das heißt »ich« bin als dieser »Sohn« geboren. 3. Der ›Ort‹ dieser Geburt ist das Wesen oder der Grund der Seele oder auch das vünkelîn der vernünfticheit, eine Kraft oder ein Licht in der Seele. Dementsprechend hat die Geburt des Sohnes oder des Wortes also (1) einen Ereignisaspekt: das Gut- und Gerechtsein des Menschen, (2) einen personalen oder Identitäts-Aspekt: das Wort oder den Sohn, und (3) einen ›topologischen‹ oder ›substanzialen‹ Aspekt: das Wesen, das Innerste oder den Grund der Seele. Diese drei Aspekte sind aber der Sache nach eins. Es ist ein einmaliger Glücksfall, dass der Meister uns in der sogenannten ›Kölner Predigtreihe‹, (Pr. 10–15, 22, 51) durch ein Geflecht von Rückverweisen und durch Hinweise auf Predigtorte einen Einblick in seine Denkwerkstatt in einer Zeit gestattet, in der er den End- und Gipfelpunkt seiner Spekulation erreicht, mutmaßlich in der Zeit seines Wirkens in Köln, frühestens vom Jahr 1323 an bis spätestens zum Antritt seiner Gerichts- und Todesreise nach Avignon im Frühjahr 1327. Wir können beobachten, wie Eckhart, nach einigen vorbereitenden Stationen, in der Predigt 22, ›Ave gratia plena‹, einen Höhepunkt seiner Lehre von der Gottesgeburt in der Seele erreicht, der sich zugleich als Wendepunkt erweist. Die ›Kölner Predigtreihe‹ bietet darüber hinaus Gelegenheit, eine außergewöhnliche letzte Gestalt der Gottesgeburtslehre herauszuarbeiten. Diese Predigten sind untereinander durch Rückbezüge und Ortsangaben verflochten, sodass sich eine relative Chronologie dieser Predigten für 1323–1326 erstellen lässt. Da darin eine Weiterentwicklung der Gottesgeburtslehre vorgetragen wird, kann man aufgrund von Parallelen einige andere undatierte Predigten dieser späten Werkperiode zuordnen. Das sind vor allem die Predigt 48, ›Ein meister sprichet: alliu glîchiu dinc minnent sich under einander‹ sowie die Predigt 2, ›Intravit Iesus in quoddam castellum et mulier 170 https://doi.org/10.5771/9783495860649 .

8. Theologie und Philosophie der Gottesgeburt

quaedam, Martha nomine, excepit illum in domum suam‹. Auch die ›Armutspredigt‹, Nr. 52, und die ›Opferstockpredigt, Nr. 109, gehören dazu. 21 Drei Themenkomplexe kann man der ›Kölner Predigtreihe‹ zuordnen, die hier gehäuft vorkommen. Es ist, wie schon erwähnt, (1.) die Weiterführung des Geburtsthemas. Wenn der Sohn (»ich«) in seiner Geburt alles übertragen bekommt, dann auch die Vaterschaft: Der Sohn wird zum Vater und gebiert den Vater. Ferner findet (2.) das Ziel des Geburtsprozesses, die Sohnschaft, zurück in den Ursprung, das ist die unerkannte und ewig unerkennbare Verborgenheit und Finsternis der Gottheit. Und schließlich (3.) wird immer wieder eine ungeschaffene und unerschaffbare »Kraft« genannt, die die gesamte Dynamik der in sich zurücklaufenden Geburt trägt, die aus dem Ursprung austritt und in die Finsternis der Einheit mündet. In der Predigt 22, ›Ave, gratia plena‹, treten diese Themen gemeinsam auf. Darum folge ich den Erläuterungen dieses Textes und weise auf die Parallelen nur in den Anmerkungen hin.

Dass ich Vater bin Dieses Element der Gottesgeburtslehre, das in Predigt 22 erstmals auftaucht und überhaupt nur in den Kölner Predigten vorkommt, ist die Wendung, dass der Sohn (oder »ich«) auch Vater ist. Diese Wendung geht zusammen mit einer Aussage über die »Ungeborenheit« des »ich«: »Hier [in principio; im Anfang der ersten Lauterkeit] habe ich ewig geruht und geschlafen in der verborgenen Erkenntnis des ewigen Vaters, innenbleibend und ungesprochen. Aus dieser Lauterkeit hat er mich ewig als seinen eingeborenen Sohn geboren in das identische Bild seiner ewigen Vaterschaft, damit ich Vater sei und den gebäre, von dem ich geboren bin.« 22

Zur Entwicklung der Gottesgeburtslehre, vor allem in der ›Kölner Predigtreihe‹ siehe Witte, Karl Heinz: Von Straßburg nach Köln: Die Entwicklung der Gottesgeburtslehre Eckharts in den Kölner Predigten. 22 Pr. 22; 382,6–383,1: Hie hân ich êwiclîche geruowet und geslâfen in der verborgenen bekantnisse des ewigen vaters, inneblibende ungesprochen. Ûz der lûterkeit hât er mich êwiclîche geborn sînen einbornen sun in daz selbe bilde sîner êwigen vaterschaft, daz ich vater si und geber den, von dem ich geborn bin. 21

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II. Philosophische Grundlagen

Hier wird die Sohnschaft in eine Art ›Entwicklung‹ gesetzt, die »mich« als Sohn betrifft: Ich bin ewig ungezeugt in der verborgenen Finsternis der ersten Lauterkeit. Ich bin ewig als der eingeborene Sohn gezeugt. Ich werde in das »Bild der Vaterschaft« gezeugt, damit ich selbst Vater bin. »Bild der Vaterschaft«, das ist der Sohn, der aber alle Eigenschaften des Vaters hat, also auch das Vatersein, also das Zeugen. Diese Formulierung entspricht nicht der scholastischen Sprachregelung. Es wird eine dynamische Bewegung in das Vater-Sohn-Verhältnis gelegt: Der Hervorgang aus der Einheit des Wesens führt den Sohn wieder zurück in die Einheit, die wiederum zeugt und lebendig macht. 23 In diesem Zyklus ist eine dynamische, immanente Innerlichkeit von Gott und Mensch begründet.

Finsternis der Ureinheit In der Dynamik des Hervorgangs des Sohnes wurde im letzten Zitat schon der Ursprung in der ersten Lauterkeit angesprochen. Dieser Predigt 13 wiederholt, dass der Vater in »uns« das Vatersein erzeugt. Pr. 13; 217,12– 218,1: Philippus sprach: herre, zeige uns den vater, sô genüeget uns. Ez meinet ze dem êrsten, daz wir suln vater sîn. Aber der Gedanke wird hier fortgeführt und vertieft: Pr. 13; 218,5 f.: Alsô ist ez: der himelische vater der gebirt in mich sîn glîch, und von der glîcheit sô kumet ûz ein minne, daz ist der heilige geist. – »Der himmlische Vater gebiert in mir sein Gleichnis, und aus der Gleichheit entspringt eine Liebe, das ist der Heilige Geist.« Prägnant ist die Formulierung in Pr. 14; 239,4–8: [N]ochtant in genoeget den edelen oitmoedegen mynschen da myt neit, dat hey der eynege geboren sun is, den der vader ewenclichen geboren hait, hey in wylt och vader syn inde treden in de selue gelicheit der eweger vaderschafft inde geberen den, van dem ich Ewenclichen geboren byn, also as ich sprach zo mergarden. – »Jedoch genügt es dem edlen, demütigen Menschen nicht damit, dass er der einzig geborene Sohn ist, den der Vater ewig gezeugt hat; er will auch Vater sein und eintreten in die identische Gleichheit der ewigen Vaterschaft und den zeugen, von dem ich ewig gezeugt bin, wie ich im [Kloster] Mariengarten [das heißt in Predigt 22] gesagt habe.« Dieser letzte Satz geht in die Kölner Anklageschrift ein, wird aber in der Avignoner Prozessphase nicht mehr verfolgt. Vgl. Responsio II n. 87; 339,8–11; ähnlich Responsio I n. 55; 217,1–7: Nobilis homo non est contentus in hoc, quod ipse est ille unigenitus filius, quem pater aeternaliter genuit, nisi ipse etiam velit esse pater et nisi intret in eandem similitudinem aeternae paternitatis et generet illum, a quo ego aeternaliter genitus sum. – »Der edle Mensch ist nicht damit zufrieden, dass er selbst jener eingeborene Sohn ist, den der Vater ewig gezeugt hat, wenn er nicht auch selbst Vater sein will und wenn er nicht eintritt in dieselbe Ähnlichkeit mit der ewigen Vaterschaft und den zeugt, von dem ich ewig gezeugt bin.« NB.: Die Ankläger übersetzen hier geberen/geboren mit generare, nicht mit nasci.

23

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8. Theologie und Philosophie der Gottesgeburt

Aspekt wird auch auf die Beziehung Gottes zur Seele angewandt. »Er hat die Seele in der allerhöchsten Vollkommenheit geschaffen und in sie alle seine Klarheit in der ersten Lauterkeit gegossen; und doch ist er [Gott] unvermischt [mit der Seele] geblieben.« 24 Es ist wichtig, zu bemerken, dass hier nicht der Vater sein Gegenbild, den Sohn, in die Seele gegossen hat, sondern »Gott« hat seine »Klarheit« und »Lauterkeit« in sie gegossen, ohne sich mit ihr zu vermischen. Das heißt: Sowohl in Gott wie in der Seele gibt es einen Ursprung ohne Differenzierung, ohne Teilung oder Unterschied, das ist eine andere Formulierung für die Ursprungs-Einheit des Grundes, der für Gott und die Seele identisch ist. Das spielt auf Eckharts Formel an: »Es ist Gott eigentümlich, ununterschieden zu sein, und er selbst unterscheidet sich [gerade] durch seine Ununterschiedenheit; der Kreatur hingegen ist es eigentümlich unterschieden zu sein.« 25 Diese ursprüngliche Einheit, Reinheit, das heißt Ununterschiedenheit wird auch als das Dunkel, das Verborgene, Unerkannte und Unerkennbare bezeichnet. Das sind zugleich Charakteristika des Anfangs wie des Endes. Aber diese Charakteristika des göttlichen Wesens, Reinheit und Verborgenheit des Ursprungs und Zieles der Gottheit, bleiben nicht statisch. In diese Einheit des Ursprungs und des Endes wird der Hervorgang des Sohnes mit seiner »Braut«, der Seele, sowie beider Rückkehr in die finstere Kammer der Gottheit eingebunden. Passend zu dem Ort, an dem diese Predigt 22 gehalten wurde, dem Zisterzienserinnenkloster St. Mariengarten in Köln, schildert Eckhart den Weg des Sohnes mit der Seele in der Sprache der Brautmystik – eine Seltenheit in Eckharts deutschem Werk. »Darum ging er [aus der heimlichen Schatzkammer seiner ewigen Vaterschaft] hinaus und kam springend wie ein Rehböcklein und erlitt seinen LiePr. 22; 380,2–4: Er hât die sêle geschaffen nâch der allerhhsten volkomenheit und hât in sie gegozzen alle sîne klârheit in der êrsten lûterkeit, und ist er doch unvermischet bliben. 25 In Ioh. n. 99; 13 f.: Quarto, quia dei proprium est esse indistinctum et ipse sola sua indistinctione distinguitur, creaturae vero proprium est esse distinctum. Ebenso In Sap. n. 154; 490,4: indistinctione distinguitur. Vgl. Pr. 10; 173,1–5: Ich predigete einest in latîne, und daz was an dem tage der drîvalticheit, dô sprach ich: der underscheit kumet von der einicheit, der underscheit in der drîvalticheit. Diu einicheit ist der underscheit, und der underscheit ist diu einicheit. Ie der underscheit mêr ist, ie diu einicheit mêr ist, wan daz ist underscheit âne underscheit. – »Ich hielt einmal eine lateinische Predigt, das war am Tag der Dreifaltigkeit: Die Einzigkeit ist der Unterschied, und der Unterschied ist die Einzigkeit. Je größer der Unterschied ist, desto größer ist die Einzigkeit, denn das ist Unterschied ohne Unterschied.« 24

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II. Philosophische Grundlagen

besschmerz. Und er ging so nur hinaus, um mit seiner Braut zurückzukehren in seine Kammer. Diese Kammer ist die stille Finsternis der verborgenen Vaterschaft. Von wo er ausgegangen war vom Allerhöchsten, dahinein wollte er mit seiner Braut wieder eingehen in dem Allerlautersten und wollte ihr die verborgene Heimlichkeit seiner verborgenen Gottheit offenbaren, dort, wo er mit sich selbst ruht mit allen Geschöpfen.« 26

Ursprung und Ziel der Inkarnation wie der Erlösung und Heiligung der Seele in der Gottesgeburt ist »die verborgene Finsternis der ewigen Gottheit«. »Es ist die verborgene Finsternis der ewigen Gottheit, und sie ist unerkannt und wurde nie erkannt und wird niemals erkannt. Gott bleibt dort in sich selbst unerkannt, und das Licht des ewigen Vaters hat da ewig hineingeschienen, und die Finsternis begreift nichts von dem Licht.« 27

26 Pr. 22; 388,8–14: Her umbe gienc er ûz und kom springende als ein rêchböckelîn und leit sîne pîne von minne; und niht engienc er alsô ûz, er enwölte wider îngân in sîne kamer mit sîner brût. Disiu kamer ist diu stille vinsternisse der verborgenen vaterschaft. Dâ er ûzgienc von dem allerhœhsten, dâ wollte er wider îngân mit sîner brût in dem allerlûtersten und wolte ir offenbâren die verborgene heimlicheit sîner verborgenen gotheit, dâ er ruowet mit im selber mit allen crêatûren. 27 Pr. 22; 389,7–10: Ez ist diu verborgen vinsternisse der êwigen gotheit und ist unbekant und wart nie bekant und enwirt niemer bekant. Got blîbet dâ in im selber unbekant, und daz lieht des êwigen vaters hât dâ êwiclîche în geschinen, und diu vinsternisse enbegrîfet des liehtes niht. Siehe dazu die Diskussion der Parallelstelle in Pr. 14 unten S. 322 ff., Pr. 14; 240,8–13: Der mynsche, der alsus in alle synen werken neyt in meynt noch in mynt dan got, dem geit got syne gotheit. […] »dat licht luchtet in de dosternysse, inde dat licht dat inbegryff der dusternis neit«; dit meynt, dat got neyt aleyne eyn begynne in is Ale onsser werken inde onsses weses, hey is och eyne enden inde eyn rouwe alen wesses. – »Der Mensch, der so in allen seinen Werken nichts meint als Gott, dem gibt Gott seine Gottheit. […] ›Das Licht leuchtet in der Finsternis, und das Licht hat die Finsternis nicht begriffen.‹ Das bedeutet, dass Gott nicht allein ein Anfang ist aller unserer Werke und unseres Seins; er ist auch eine Ruhe und ein Ende alles Seins.« Die zitierte Stelle aus Pr. 22 wird auch in Pr. 51; 476,12–477,2 zitiert; siehe dazu die Diskussion unten S. 322 und Anm. 46. Beachtlich ist auch die Stelle Pr 15; 252,7–253,6: ›Das leste ende‹ des wesens ist das vinsterniss oder das vnbekantniss der verborgenen gothait, dem dis lieht schinet, vnd dis vinsterniss enbegraiff das nit. – »Das letzte Ziel des Seins ist die Finsternis und die Unbekanntheit der verborgenen Gottheit, für die dieses Licht scheint.«

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8. Theologie und Philosophie der Gottesgeburt

»Eine Kraft in der Seele«: »ungeschaffen und unerschaffbar« Unter diesem Titel verbirgt sich ein komplexes Thema der Predigten Eckharts, das hier nur in einigen Zügen beleuchtet werden kann. Es ist ein Hauptmotiv der ›Mystik‹ Eckharts. In den Diskussionen darüber, ob Eckhart Mystiker genannt werden sollte, spielt die Frage, was diese »Kraft in der Seele« ist, eine Hauptrolle. Das Thema ist in vielen Spätpredigten Eckharts zentral. In Predigt 22 heißt diese Kraft »Fünklein«. Es wird »vor« die Erschaffung der Geschöpfe verlegt: 28 »Ich sprach kürzlich an einem [anderen] Ort: Als Gott alle Geschöpfe schuf, hätte er da nicht zuvor etwas geboren, das ungeschaffen ist, das in sich die Urbilder aller Geschöpfe getragen hätte: das ist der Funke –. Wie ich gerade erst im Sankt-Makkabäer-Kloster [in Predigt 12] gesprochen habe – dass Ihr nicht umsonst hier gewesen seid: Dies Fünklein ist Gott so verwandt, dass es ein einzig Eines ist, ununterschieden, und dass [es] in sich das Urbild aller Geschöpfe trägt, [Ur]-Bild ohne [Vorstellungs]-Bild, und Bild über Bild.« 29

Ein Ungeschaffenes und, wie es sonst heißt, ein Unerschaffbares, das ist ein Göttliches in der Seele. Mit anderen Worten: In der geschaffenen Seele, die den Leib lebendig macht, ist etwas Göttliches, das Fünklein oder die Kraft. Sofern es das »Urbild aller Geschöpfe« in sich trägt ist es der Sohn in der Gottheit. Dieses ist so ununterschieden wie Gott, das In Pr 20a und 20b scheint die Zuordnung des Fünkleins unklar zu sein. Das vünkelîn ist einerseits geschaffen (Pr. 20a; 332,3) und zugleich ist es nicht eine kraft der sêle (Pr. 20a; 333,2 f.). Außerdem bleibt unklar, ob die sinderesis mit dem vünkelîn gleichgesetzt wird (Pr. 20a; 333,4–334,4 und Pr 20b; 348,10–349,2). 29 Pr. 22; 380,5–381,2: Ich sprach niuwelîche an einer stat: dô got geschuof alle crêatûren, und hæte dô got niht vor geborn etwaz, daz ungeschaffen wære, daz in im getragen hæte bilde aller crêatûren: daz ist der vunke – als ich ê sprach ze sant Magfire, daz ir niht vergebens hie ensît gewesen – diz vünkelîn ist gote alsô sippe, daz ez ist ein einic ein ungescheiden und daz bilde in im treget aller crêatûren, bilde sunder bilde und bilde über bilde. Der Rückverweis auf das Makkabäerkloster der Benediktinerinnen in Köln, bezieht sich wohl auf Pr. 12; 197,8–198,2: Als ich mêr gesprochen hân, daz etwaz in der sêle ist, daz gote alsô sippe ist, daz ez ein ist und niht vereinet. Ez ist ein, ez enhât mit nihte niht gemeine noch enist dem nihtes niht allez daz gemeine, daz geschaffen ist. Allez daz geschaffen ist, daz ist niht. Nû ist diz aller geschaffenheit verre und vremde. Wære der mensche aller alsô, er wære alzemâle ungeschaffen und ungeschepfelich. – »Wie ich öfter gesagt habe: Etwas ist in der Seele, das Gott so verwandt ist, dass es eins ist und nicht vereint. Es ist eins, es hat mit nichts etwas gemein, noch ist ihm nichts gemein von allem, das geschaffen ist. Alles, was geschaffen ist, ist nichts. Nun ist aber dies [Etwas] aller Geschaffenheit fern und fremd. Wäre der Mensch als Ganzer so, wäre er ungeschaffen und unerschaffbar.« 28

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II. Philosophische Grundlagen

heißt eins mit allem, aber gleichwohl unvermischt, also, wie es oben hieß, »durch seine Ununterschiedenheit unterschieden«. Mit dieser Lehre vom Ungeschaffenen in der Seele hat Eckhart Anstoß erregt, von der Anklageschrift über seine öffentliche Erklärung in der Kölner Dominikanerkirche bis hin zur Verurteilungsbulle. 30 In Predigt 13 stellt Eckhart klar, dass er mit diesem Ungeschaffenen nicht die Seele und auch nicht einen Teil der Seele benennt, sondern etwas, das in der Seele ist und sich mit dem geschaffenen Sein der Seele nicht vermischt. Es ist die göttliche Vernunft (intellectus) selbst; denn Gott ist Vernunft: »Es gibt in der Seele eine Kraft, von der ich öfters gesprochen habe –, und wäre die Seele im Ganzen so, dann wäre sie ungeschaffen und unerschaffbar. Nun ist es aber nicht so. [Denn] andererseits hat sie eine Ausrichtung und eine Abhängigkeit von der Zeit, und insofern berührt sie das Geschaffensein und ist sie geschaffen –. Vernunft, diese Kraft ist nicht fern noch außerhalb. Was jenseits des Meeres ist oder tausend Meilen entfernt, das ist ihr so eigentlich bekannt und so gegenwärtig wie dieser Ort, an dem ich hier stehe. Diese Kraft ist eine Jungfrau und folgt dem Lamm nach, wohin es geht. Diese Kraft nimmt Gott nackt in seinem Ist-Sein. Sie ist eins in der Einzigkeit, nicht gleich in Gleichheit.« 31

Die Predigt 12 wiederholt denselben Gedanken und bringt diese Kraft in Verbindung mit der Definition der Vernunft des Anaxagoras und Aristoteles, sie habe »mit nichts etwas gemein«. Dieses Etwas in der Seele sei »Gott so verwandt, dass es eins ist und nicht vereint«. 32 Predigt 11 wiederholt die Vernunftdefinition und spricht von der ZeitSiehe auch Pr. 13; 220,4–9. In den Prozessunterlagen: Responsio I n. 59; 315,4 f.; Proc. Col. II n. 17; 321,22 f.; Protestatio, Acta n. 54; 548,31–33; Votum Aven. n. 22; 572,15–17; Bulle, Acta n. 65, art. 27; 599,91 f. 31 Pr. 13; 220,4–222,2: Ein kraft ist in der sêle, von der ich mêr gesprochen hân, – und wære diu sêle alliu alsô, sô wære si ungeschaffen und ungeschepfelich. Nû enist des niht. An dem andern teile sô hât si ein zuosehen und ein zuohangen ze der zît, und dâ rüeret si geschaffenheit und ist geschaffen – vernünfticheit: dirre kraft enist niht verre noch ûzer. Daz enent des mers ist oder über tûsent mîle, daz ist ir als eigenlîche kunt und gegenwertic als dise stat, dâ ich inne stân. Disiu kraft ist ein juncvrouwe und volget dem lambe nâch, swar ez gât. Disiu kraft nimet got blôz zemâle in sînem istigen wesene; si ist ein in der einicheit, niht glîch mit der glîcheit. 32 Zitat und Übersetzung in Anm. 29. Das Zitat des Anaxagoras aus Aristoteles, De anima findet sich auch in Pr. 29; 88,5–7 und Pr. 28; 66,2–5; dort auch die Metapher der ellende und wüestenunge. Neben Pr. 11 und 12 auch Pr. 46; 382,8 f.; Pr. 68; 149,1 f.; BgT; 11,6–11; BgT; 29,2 f.; VeM; 116,1–6. 30

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8. Theologie und Philosophie der Gottesgeburt

und Raumlosigkeit oder »Ewigkeit« dieser Kraft. Beachtlich ist, das hier jene Kraft, die ja die Vernunft ist, Gott »in seiner Kleiderkammer«, das heißt nackt erfasst. Ein Bezug zur Trinität ist hier nur angedeutet. 33 Diese Aussagen werden in Predigt 10 verstärkt. Die Kraft erfasse Gott nicht, sofern er gut oder wahr sei, sondern dringe weiter in den Grund. Dieser ist gleichgesetzt mit Gottes »Einheit«, »Einöde«, »Wüste«, mit der »Gottheit« und mit dem »Eigentum seiner eigenen Natur«. Diese Einheit, heißt es, sei die »Einung«, in der »die drei Personen ein Gott« sind. Aus dieser Einheit folgt die Einung zwischen Gott und der Seele. »Wenn der Seele ein Kuss widerfährt von der Gottheit, so steht sie in ganzer Vollkommenheit und in Seligkeit; da wird sie umfangen von der Einheit.« 34 Pr. 11; 182,9–184,2: Daz dritte meinet eine edele kraft der sêle, diu ist sô hôch und sô edel, daz si got nimet in sînem blôzen eigenen wesene. Disiu kraft enhât mit nihte niht gemeine; si machet von nihte iht und al. Si enweiz von gester noch von êgester, von morne noch von übermorne, wan ez ist in der êwicheit weder gester noch morne, dâ ist ein gegenwertigez nû; daz vor tûsent jâren was und daz über tûsent jâr komen sol, daz ist dâ gegenwertic, und daz jensît mers ist. Disiu kraft nimet got in sînem kleithûse. Ein geschrift sprichet: in im, übermitz im und durch in. In im daz ist in dem vater, übermitz im daz ist in dem sune, durch in daz ist in dem heiligen geiste. – »Die dritte meint eine edle Kraft der Seele. Die ist so hoch und edel, dass sie Gott in seinem reinen eigenen Wesen nimmt. Diese Kraft hat mit nichts etwas gemein. Sie macht aus nichts etwas und alles. Sie weiß weder von gestern noch von vorgestern; denn in der Ewigkeit gibt es weder gestern noch morgen. Da ist ein gegenwärtiges Nun, das vor tausend Jahren war und das nach tausend Jahren kommen wird. Das ist da gegenwärtig, und auch was jenseits des Meeres ist. Diese Kraft nimmt Gott in seiner Kleiderkammer [d. h. nackt]. Eine Schrift sagt: ›In ihm, mit ihm und durch ihn‹ (Röm. 11,36). ›In ihm‹, das heißt: in dem Vater, ›mit ihm‹, das heißt: in dem Sohn, ›durch ihn‹, das heißt: in dem heiligen Geist.« 34 Pr. 10; 171,12–173,1: Ich hân gesprochen von einer kraft in der sêle; an irm êrsten ûzbruche sô ennimet si got niht, als er guot ist, si ennimet niht got, als er diu wârheit ist: si gründet und suochet vort und nimet got in sîner einunge und in sîner einœde si nimet got in sîner wüestunge und in sînem eigenen grunde. Dar umbe enlât si ir niht genüegen, si suochet vürbaz, waz daz sî, daz got in sîner gotheit ist und in sînem eigentuome sîner eigenen natûre. Nû sprichet man, daz kein einunge grœzer sî, dan daz die drîe persônen sîn ein got. Dar nâch sprichet man, daz kein einunge grœzer sî dan got und diu sêle. Wenne der sêle ein kus beschihet von der gotheit, sô stât si in ganzer volkomenheit und in sælicheit; dâ wirt si umbevangen von der einicheit. In dem êrsten berüerenne, dâ got die sêle berüeret hât und berüerende ist ungeschaffen und ungeschepfelich, dâ ist diu sêle als edel als got selber ist nâch der berüerunge gotes. Got berüeret sie nâch im selber. – »Ich habe von einer Kraft in der Seele gesprochen; in ihrem ersten Ausbruche erfasst sie Gott nicht, sofern er gut ist, sie erfasst Gott auch nicht, sofern er die Wahrheit ist. Sie dringt bis auf den Grund und sucht weiter und erfasst Gott in seiner Einheit und in seiner Einöde; sie erfasst Gott in seiner Wüste und in seinem eigenen Grunde. Des33

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II. Philosophische Grundlagen

Die Zusammenstellung zeigt, dass die Kraft der Vernunft, die auch »Etwas in der Seele« oder »Fünklein« heißt, in den späten Predigten der Kölner Zeit identisch ist mit jenem Grund der Gottheit, der mit dem Grund der Seele identisch ist. Sowohl der Kraft wie dem Grunde kommen die Prädikate »ungeschaffen« und »unerschaffbar« sowie »Einheit«, »Einöde« und »Wüste« zu. Das signalisiert, dass sie auch gleichzusetzen ist mit jener »ersten Lauterkeit« (der Predigt 22), aus der der Sohn hervorgeht, der auch Vater wird und mit der Seelenbraut in die verborgene Finsternis zurückkehrt, aus der er hervorgegangen ist. Damit führt diese »Kraft« zurück in die Einheit. Die verschiedenen Gesichtspunkte sind Leben desselben Einen.

Ein Wendepunkt in der Gottesgeburtslehre Nicht durch einen Rückverweis wie die anderen Texte der ›Kölner Predigtreihe‹, sondern durch dichte inhaltliche Parallelen zeigt die Pr. 48, ›Ein meister sprichet: alliu glîchiu dinc minnent sich under einander‹, dass sie zu dieser Gruppe zu zählen ist. In dieser Predigt nennt Eckhart jene Kraft ein »Licht«, gibt aber zu erkennen, dass er von derselben ›Sache‹ spricht. Auch die Aussage, dieses »Licht« nehme Gott »ohne Bedeckung und nackt« gehört zu den Standardformulierungen Eckharts, 35 ebenso die Ungeschaffenheit und Ungeschöpflichkeit. 36 Eckhart nennt dies Licht auch einen zeit- und raumlosen »Funken«. 37 So

halb lässt sie sich nichts genügen; sie sucht weiter danach, was das sei, das Gott in seiner Gottheit und im Eigentum seiner eigenen Natur ist. Nun sagt man, dass keine Einung größer sei als die, dass die drei Personen ein Gott seien. Danach – so sagt man – sei keine Einung größer als die zwischen Gott und der Seele. Wenn der Seele ein Kuss widerfährt von der Gottheit, so steht sie in ganzer Vollkommenheit und in Seligkeit; da wird sie umfangen von der Einheit. Im ersten Berühren, in dem Gott die Seele als ungeschaffen und unerschaffbar berührt hat und berührt, da ist die Seele gemäß der Berührung Gottes ebenso edel wie Gott selbst. Gott berührt sie gemäß seiner selbst.« 35 Pr. 48; 418,2–4: Diz lieht pflige ich alwege ze rüerenne in mînen predigen, und diz selbe lieht nimet got sunder mittel und sunder decke und blôz, als er in im selben ist. 36 Pr. 48; 418,1 f.: Ich hân etwenne gesprochen von einem liehte, daz ist in der sêle, daz ist ungeschaffen und ungeschepfelich. 37 Pr. 48; 419,1–3: [S]wenne sich der mensche bekêret von im selben und von allen geschaffenen dingen –, als vil als dû daz tuost, als vil wirst dû geeiniget und gesæliget in dem vunken in der sêle, der zît noch stat nie enberuorte.

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8. Theologie und Philosophie der Gottesgeburt

weit die Übereinstimmungen mit den Formulierungen der ›Kölner Predigtreihe‹. Es zeigt sich hier aber auch ein neuer Aspekt, der nicht gegen eine Verbindung mit jenem Korpus spricht, sondern eher für eine intensivere Vertiefung der Thematik. Diesem »Funken ist weder am Vater noch am Sohn noch am Heiligen Geist noch an den drei Personen [zusammen] genug, sofern jede [Person] in ihrer Eigenschaft [Proprietät] besteht«. 38 Diese These wird ausgedehnt: »Diesem Licht genügt [auch] nicht die Einheit der göttlichen Natur, sofern sie fruchtbar ist.« 39 Damit ist die Zeugung des Sohnes in der Trinität wie in der Seele, die Gottesgeburt, jenes Zentrum der Lehre Eckharts, für den letzten Aspekt der ›mystischen Einheit‹ zurückgestellt. Mit einer sich steigernden Bekräftigung, einem Überbietungsgestus, den Eckhart liebt, wenn er zu einer unerhörten Aussage ansetzt, gibt er zum Schluss dieser Predigt eine wirklich erstaunliche Erklärung ab: »Ich will noch etwas sagen, das noch wunderlicher klingt. Ich sage es bei guter Wahrheit und bei der ewigen Wahrheit und bei der immerwährenden Wahrheit: Diesem selben Licht genügt nicht das einfache unveränderliche göttliche Sein, das weder gibt noch nimmt, sondern es will wissen, woher dieses Sein kommt. Es will in den einfachen Grund, in die stille Wüste, in die nie eine Differenz hineinlugt, weder Vater noch Sohn noch Heiliger Geist. In diesem Innigsten, wo niemand zu Hause ist, da ist jenem Licht genug, und da ist es inniger als in ihm selbst ist; denn dieser Grund ist eine einfache Stille, die in sich selbst unbeweglich ist, und aus dieser Unbeweglichkeit wird alles bewegt, und [daraus] empfangen alle Leben, die in sich selbst vernünftig leben.« 40

38 Pr. 48; 420,1–3: Im [dem Funken] engenüeget noch an vater noch an sune noch an heiligen geiste noch an den drin persônen, als verre als ein ieglîchiu bestât in ir eigenschaft. 39 Pr. 48; 420,3 f.: […] daz disem liehte niht engenüeget an der einbærkeit der vruhtbærlîchen art götlîcher natûre. 40 Pr. 48; 420,4–421,3: Ich wil noch mê sprechen, daz noch wunderlîcher hillet: ich spriche ez bî guoter wârheit und bî der êwigen wârheit und bî iemerwernder wârheit, daz disem selben liehte niht engenüeget an dem einvaltigen stillestânden götlîchen wesene, daz weder gibet noch nimet, mêr: ez wil wizzen, von wannen diz wesen her kome; ez wil in den einvaltigen grunt, in die stillen wüeste, dâ nie underscheit îngeluogete weder vater noch sun noch heiliger geist; in dem innigesten, dâ nieman heime enist, dâ genüeget ez jenem liehte, und dâ ist ez inniger, dan ez in im selben sî; wan dirre grunt ist ein einvaltic stille, diu in ir selben unbewegelich ist, und von dirre unbewegelicheit werdent beweget alliu dinc und werdent enpfangen alliu leben, diu vernünfticlîche lebende in in selben sint.

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II. Philosophische Grundlagen

Mit dieser Erklärung überschreitet Eckhart den Umkreis der Gottesgeburtslehre. Man kann es so verstehen, dass die Intensivierung des Geburtsgedankens durch die Rückgeburt des Sohnes in den Vater, in der der Sohn selbst wiederum Vater wird – besonders in den Predigten 22, 14 und 15 –, eine neue Stufe der Einheitserfahrung anzeigt: Der Blick gleitet von den Differenzierungsschritten in der Gottheit hinüber auf das ewig Eine, das sie durch den Ausbruch aus dem Einen und die sich wiederholende Rückkehr aus der Entfaltung bildet, als Zusammenfallen von Ursprung und Ziel, von Anfang und Ende, oder von Ruhe, aus der die Bewegung entspringt und in die sie zurückkehrt. Dieser Gedanke wird ebenfalls in den Predigten 22, 14 und 15 und zusätzlich in Predigt 48 stark entfaltet, gipfelt aber in den spirituellen Höhepunkten des eckhartschen Predigtwerks, in der ›Armutspredigt‹, Nr. 52, ›Beati pauperes spiritu‹, der ›Opferstockpredigt‹, Nr. 109, ›Nolite timere‹ und der ›Bürgleinpredigt‹, Nr. 2, ›Intravit Jesus in quoddam castellum‹. 41 In den Predigten 52 und 109 fehlt die Erwähnung der Gottesgeburt. 42 Predigt 2 nimmt eine Stellung des Übergangs ein.

Es ist hier nicht der Platz zu untersuchen, inwiefern diese Idee in vorausgehenden Predigten vorbereitet wurde. Während in den besprochenen Spätpredigten die Rückkehr aus der Entfaltung der trinitarischen Personen zur Einheit im Mittelpunkt steht, ist auch die Überschreitung der Wahrheit und Liebe Gottes als seine Eigenschaften eine ähnliche Vorstufe des Einheitsgedankens. Diese Dynamik berührt insofern die Entfaltung der Personen, als die Wahrheit (Erkenntnis) eine Approbation des Sohnes und die Liebe (Güte, Willen) eine Approbation des Heiligen Geistes ist. Einzelne Predigten außerhalb des Kreises der ›Kölner Predigtreihe‹ enthalten Teilgedanken der geschilderten Trias (Vatersein, Finsternis, ungeschaffene Kraft) und der Betonung der Einheit vor der Personwerdung, z. B. Pr. 21, 28, 29, 42, 72 und 83; aber es scheint, dass dieser Komplex nirgendwo sonst so dicht zusammengehalten wird wie in den Kölner Predigten. 42 Man hat daraus eine systematische Zweiteilung der Lehre Eckharts und eine Bevorzugung der Einheitslehre gegen die Gottesgeburtslehre ableiten wollen. Ich sehe in den beiden Polen eher eine dynamische Vertiefung und eine Kreisbewegung der Einheit, die den Ausgang und die Rückkehr ›durchläuft‹. Siehe Ueda, Shizuteru: Die Gottesgeburt in der Seele und der Durchbruch zur Gottheit; Keel, Hee-Sung: Meister Eckhart. An Asian perspective, S. 38–48. McGinn, Bernard: Die Mystik im Abendland, Bd. 4: Fülle, der diese Unterscheidung ebenfalls bespricht, bemerkt, dass die Lehre vom grunt in mancher Hinsicht über die Lehre von der Gottesgeburt hinausgeht (S. 212) bzw. dass die Identität im grunt tiefer sei als die Gottesgeburt (ebd. S. 212, Anm. 18). 41

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8. Theologie und Philosophie der Gottesgeburt

Empfngnis – Dankbarkeit der Gabe – Einzig Eines Die Predigt 2, ›Intravit Jesus in quoddam castellum‹, stellt zunächst das Empfangen der Gabe, das heißt, die Geburt des Sohnes in der Seele im Bild der Jungfrau dar. 43 Die jungfräuliche Empfängnis geschieht im reinen, eigenschaftslosen und vorstellungsfreien Menschen. Auch wenn er durch seine natürliche Vernunft Vorstellungsbilder in sich trägt, kann er sie »ohne Eigenanspruch« behalten; er trägt keines »in Tun und Lassen mit Vor oder Nach«. Er steht vielmehr »im gegenwärtigen Nun frei und ledig, nach dem liebsten Willen Gottes zu handeln«. 44 Das sind Formulierungen, die die klassischen Voraussetzungen der Gottesgeburt beschreiben, wie sie auch im ›Gottesgeburtszyklus‹ und zum Beispiel in der Predigt 1 zu finden sind. 45 Entscheidend für diese Predigt ist aber, dass die Jungfrau zum Weib wird, also nicht nur empfängt, sondern gebiert. »Dass der Mensch Gott in sich empfängt, das ist gut; und in dieser Empfänglichkeit ist er Jungfrau. Dass aber Gott fruchtbar in ihm wird, das ist besser; denn Fruchtbarkeit der Gabe, das ist nur Dankbarkeit der Gabe, und da ist der Geist ein Weib in der zurückgebärenden Dankbarkeit.« 46 Die Quint’sche Edition von Pr. 2 wurde einer gründlichen Überprüfung unterzogen und neu ediert von Steer, Georg und Heidemarie Vogl: Die bürgelîn-Predigt Meister Eckharts. Ich zitiere die Predigt nach der Edition von Quint in DW I, teile aber jeweils die Textstellen bei Steer und Vogl mit, Textänderungen vermerke ich nur, wenn sie den Sinn ändern. 44 Siehe oben S. 151. Pr. 2; ed. Quint, 25,6–26,3: Wære ich alsô vernünftic, daz alliu bilde vernünfticlîche in mir stüenden, diu alle menschen ie enpfiengen und diu in gote selber sint, wære ich der âne eigenschaft, daz ich enkeinez mit eigenschaft hæte begriffen in tuonne noch in lâzenne, mit vor noch mit nâch, mêr: daz ich in disem gegenwertigen nû vrî und ledic stüende nâch dem liebesten willen gotes und den ze tuonne âne underlâz, in der wârheit sô wære ich juncvrouwe âne hindernisse aller bilde als gewærlîche, als ich was, dô ich niht enwas. Vgl. ed. Steer u. Vogl, 221,12–18: gegenwertigen / fehlt. – »Wäre ich so vernünftig, dass alle Vorstellungen in der Weise der Vernunft in mir stünden, [und zwar alle Vorstellungen] die alle Menschen jemals gebildet haben sowie die [Schöpfungsideen, die] in Gott selbst sind; und hegte ich sie ohne ›Eigenschaft‹ [also ohne sie mir zuzurechnen], sodass ich keine dieser Vorstellungen mit ›Eigenschaft‹ [als mein Eigentum] in meinem Tun und Lassen ergriffen hätte, [also] ohne Vor oder Nach, sondern stünde ich in diesem gegenwärtigen Nun frei und ledig da, und [bereit], den liebsten Willen Gottes ohne Unterlass zu tun: wahrlich, dann wäre ich ›Jungfrau‹, ohne dass mich alle solche Vorstellungen behindern könnten, wahrlich so [ohne Behinderung durch Vorstellungen], wie ich war, als ich nichts war.« 45 Siehe oben S. 37. 46 Pr. 2; ed. Quint, 27,4–9: Daz der mensche got enpfæhet in im, daz ist guot, und in der 43

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II. Philosophische Grundlagen

Die Bezugnahme auf die Gottesgeburt, die ein Zurückgebären Jesu in den Vater einschließt, ist deutlich. Im Folgenden wird aber die Fruchtbarkeit der Gabe, die mit eigenschaft geschieht, die also mit Selbstbezug an Gebete, Fasten, Wachen und an allerhand äußere Übungen gebunden ist, mit »Werken« gleichgesetzt. 47 Die vielsagenden Parallelstellen aus Eckharts lateinischem Predigtwerk zum Thema des Dankens sprechen ebenfalls von den »Werken«, die wir »in Gott zurücktragen« sollen. 48 Bei den Früchten, die eine Jungfrau bringt, die ein Weib ist, kommt aber etwas hinzu: Diese Früchte sind so »groß, nicht geringer noch größer, als Gott selbst ist«. 49 Bei diesem Empfangen und dankbarem Zurückgebären handelt es sich also um ein Geschehen innerhalb Gottes und der gottvereinten Seele. Diese Frau ist »ohne Zahl gebärend und sie wird fruchtbar aus dem alleredelsten Grunde, noch besser gesprochen: aus demselben Grunde, daraus der Vater sein ewiges Wort gebiert, daraus wird sie fruchtbar, indem sie [ebenfalls] gebiert«. 50 Dass hier nicht nur von dem Aspekt der Fruchtbarkeit die Rede ist, die in der Sohnesgeburt als »Ausbruch« aus der Einheit beenpfenclicheit ist er maget. Daz aber got vruhtbærlich in im werde, daz ist bezzer; wan vruhtbærkeit der gâbe daz ist aleine dankbærkeit der gâbe, und dâ ist der geist ein wîp in der widerbernden dankbærkeit, dâ er gote widergebirt Jêsum in daz veterlîche herze. Vgl. ed. Steer u. Vogl, 223,28–32. 47 Pr. 2; ed. Quint, 29,9–11: Dar umbe sô enbringest dû ouch dekeine vruht, dû enhabest dîn werk getân. Daz setze ich vür ein jâr, und diu vruht ist nochdenne kleine, wan si ûz eigenschaft gegangen ist nâch dem werke und niht von vrîheit. Vgl. ed. Steer u. Vogl, 226,52–57. – »Darum bringst du auch nur Frucht, wenn du dein Werk getan hast. Das vergleiche ich mit einem Jahr, und die Frucht ist gleichwohl klein; denn sie geht aus Eigenmacht hervor und nicht aus Freiheit.« Die Anspielung auf das Jahr bedeutet in Eckharts Vergleich: Solche Menschen bringen nur ein Kind pro Jahr hervor, wie es bei Eheleuten üblich ist. 48 Die Textstellen aus Sermones XXVIII,2 n. 282; XLIII n. 430–433; XXXII n. 327–330; XXXIX n. 388 sind bei Steer, Georg und Heidemarie Vogl: Die bürgelîn-Predigt Meister Eckharts, S. 158–164 zusammengestellt. 49 Pr. 2; ed. Quint, 30,3–5: Ein juncvrouwe, diu ein wîp ist, diu ist vrî und ungebunden âne eigenschaft, diu ist gote und ir selber alle zît glîch nâhe. Diu bringet vil vrühte und die sint grôz, minner noch mêr dan got selber ist. Vgl. ed. Steer u. Vogl, 227,58–60. – »Eine Jungfrau, die ein Weib ist, die ist frei und ungebunden ohne Eigenschaft, die ist Gott und sich selbst jederzeit gleich nah. Die bringt viele Früchte und die sind groß, nicht geringer noch größer, als Gott selbst ist.« 50 Pr. 2; ed. Quint, 31,1–4: [Â]ne zal gebernde und vruhtbære werdende ûz dem aller edelsten grunde; noch baz gesprochen: jâ, ûz dem selben grunde, dâ der vater ûz gebernde ist sîn êwic wort, dar ûz wirt si vruhtbære mitgebernde. Vgl. ed. Steer u. Vogl, 222,62–64.

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8. Theologie und Philosophie der Gottesgeburt

steht, sondern in der Rückkehr zur Einheit, kommt auch in der Wendung zum Ausdruck: »Dieser Jesus ist mit ihr vereint und sie mit ihm, und sie leuchtet und scheint mit ihm als ein einzig Eines und als ein lauteres, klares Licht in dem väterlichen Herzen.« 51

Nochmals die »Kraft in der Seele« Ist also in den Ausführungen über das Weib, das die empfangene Gabe dankbar in Gott zurückgebiert, bereits eine Andeutung enthalten, dass das Ausgebären des Sohnes nicht nur (trinitarisch) innebleibend ist, sondern auch rückgebärend die gottgebärende Seele in die Einheit des Grundes oder des Vaters aufnimmt, so ist in einem folgenden Doppelabschnitt zunächst wieder von der Gottesgeburt in einer »Kraft in der Seele« die Rede. Dieser Abschnitt (der virtus-Teil) und seine Verknüpfung mit dem folgenden bürgelîn-Teil 52 wirft nun einige Interpretationsschwierigkeiten auf. Steer und Vogl stellen fest, dass die »Kraft«, von der hier die Rede ist, »nicht die Bedeutung von Seelenvermögen haben kann«. Dem ist – auch schon aufgrund der Ausführungen über die »ungeschaffene und unerschaffbare« Kraft in der ›Kölner Predigtreihe‹ (oben S. 175 bis S. 178) zuzustimmen. Die sich bei Steer und Vogl anschließende Folgerung: dass »also auch nicht die obersten Seelenvermögen intellectus und voluntas gemeint sind«, 53 muss allerdings differenziert werden. Dass Gott Vernunft (intelligere) ist, wissen wir schon aus der ersten Pariser Quaestio. Dass Intellekt neben Sein und Leben vor allem Geist, Vernunft ist, legt der ›Kommentar zum Johannesevangelium‹ vielfach aus. In dem vorliegenden Zusammenhang interessiert vor allem die Verbindung der göttlichen Vernunft mit der Vernunft als »Kraft der Seele«. Eckhart kennt die Vernunft als eine »oberste Kraft«, aus der die beiden »Kräfte«, Vernunft und Wille, ausfließen.

Pr. 2; ed. Quint, 31,6–8: [D]irre Jêsus ist mit ir vereinet und si mit im, und si liuhtet und schînet mit im als ein einic ein und als ein lûter klâr lieht in dem veterlîchen herzen. Vgl. ed. Steer u. Vogl, 227,67–69. 52 Steer, Georg und Heidemarie Vogl: Die bürgelîn-Predigt Meister Eckharts, S. 149 f.: »II. Die kraft in der Seele (virtus-Teil)«; S. 150 f.: »III. Das bürgelîn (castellum-Teil)«. 53 Steer, Georg und Heidemarie Vogl: Die bürgelîn-Predigt Meister Eckharts, S. 168. 51

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»Die Meister sagen, dass aus dem obersten Teil der Seele zwei Kräfte ausfließen. Die eine heißt Wille, die andere Vernunft. Dieser Kräfte Vollkommenheit liegt in der obersten Kraft, die Vernunft heißt. Die kann niemals ruhen. Sie will nicht Gott, sofern er der Heilige Geist ist und sofern er der Sohn ist. Sie flieht den Sohn.« 54

Wir hören, dass diese oberste Kraft nicht ein oberstes Seelenvermögen als geschöpfliche Potenz ist, gleichwohl ist sie die Vernunft, und zwar die göttliche Vernunft. Von ihr wird auch gesagt, dass sie Gott bloß will ohne Rücksicht auf seine Weisen, die Güte oder die Wahrheit. »Ich habe von einer Kraft in der Seele gesprochen. In ihrem ersten Ausbruch nimmt sie Gott nicht, sofern er gut ist. Sie nimmt Gott [auch] nicht, sofern er die Wahrheit ist. Sie geht in den Grund und sucht weiter und nimmt Gott in seiner Einung und in seiner Einöde. Sie nimmt Gott in seiner Wüste und in seinem eigenen Grunde. Darum lässt sie es sich nur genügen, indem sie weiter sucht, was das sei, das Gott in seiner Gottheit ist und in seinem Eigentum seiner eigenen Natur.« 55

Diese Belege bestätigen über die Argumente von Steer und Vogl hinaus, dass die in Predigt 2 angesprochene kraft das Wesen oder der Grund der Seele ist. 56 Es ist also nicht die Vernunft als oberstes Seelenvermögen. Es ist aber gleichwohl die Vernunft Gottes, die sich im Grund der Seele inkarniert. Es ist also keineswegs »konstruiert«, 57 mit Quint die Sohnesgeburt in der Vernunft als der »obersten Kraft«, die zugleich das Wesen der Seele ist, wiederzufinden. Denn nach dem gesamten ›Gottesgeburtszyklus‹ geschieht die Geburt im Grunde der Seele. Dass diese Geburt die Weise der Vernunft hat, liegt in der Konstitution der Geburt Pr. 26; 31,1–4: Die meister sprechent, daz ûz dem obersten teile der sêle vliezent zwô krefte. Diu eine heizet wille, diu ander vernünfticheit, und der krefte volkomenheit liget an der obersten kraft, diu dâ heizet vernünfticheit, diu enkan niemer geruowen. Si enwil niht got, als er der heilige geist ist und als er der sun ist, und vliuhet den sun. Ebenso Pr. 48; 420,1–3. 55 Pr. 10; 171,12–15: Ich hân gesprochen von einer kraft in der sêle; an irm êrsten ûzbruche sô ennimet si got niht, als er guot ist, si ennimet niht got, als er diu wârheit ist: si gründet und suochet vort und nimet got in sîner einunge und in sîner einœde; si nimet got in sîner wüestunge und in sînem eigenen grunde. Dar umbe enlât si ir niht genüegen, si suochet vürbaz, waz daz sî, daz got in sîner gotheit ist und in sînem eigentuome sîner eigenen natûre. 56 Steer, Georg und Heidemarie Vogl: Die bürgelîn-Predigt Meister Eckharts, S. 168– 172. 57 Steer, Georg und Heidemarie Vogl: Die bürgelîn-Predigt Meister Eckharts, S. 172. 54

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des Wortes durch die vollkommene Selbsterkenntnis Gottes, was für die gesamte augustinisch-thomasische Tradition der Trinitätslehre gilt. Aber auch in den deutschen Predigten Eckharts wird diese Zuordnung einige Male ausgesprochen. Zum Beispiel mit deutlichem Anklang an die Predigt 101 des ›Gottesgeburtszyklus‹ : »So wird das ewige Wort innen im Herzen der Seele gesprochen, im Innersten, Lautersten, in dem Haupt der Seele, von der ich soeben sprach, in Vernunft: Darin geschieht die Geburt.« 58 Insofern ist es durchaus konsistent, dass die ›Bürgleinpredigt‹ von dieser Kraft in der Seele sagt, dass »der ewige Vater seinen ewigen Sohn ohne Unterlass in dieser Kraft gebiert, sodass diese Kraft den Sohn des Vaters und sich selbst als denselben Sohn in der ewigen Kraft des Vaters mitgebiert.« 59 In diesem virtus-Teil der ›Bürgleinpredigt‹ wird von »noch einer Kraft« gesprochen. Die sei ohne Unterlass »glimmend und brennend« (nach Quint) oder »aufsteigend und brennend (nach Steer und Vogl) mit all ihrem Reichtum, ihrer Süßigkeit und Wonne.« 60 Diese zweite »Kraft« wird meistens mit dem Willen identifiziert. Wiederum beharren Steer und Vogl mit Recht darauf, dass hier nicht das gleichnamige Seelenvermögen gemeint ist. Es scheint jedoch, dass sie diese »zweite Pr. 38; 229,5–230,1: Alsô wirt daz êwige wort gesprochen inwendic in dem herzen der sêle, in dem innersten, in dem lûtersten, in dem houbete der sêle, dâ ich nû von sprach, in vernünfticheit: dâ geschihet diu geburt inne. Ebenso Pr. 37; 219,3 f.: Daz vünkelîn der vernünfticheit, blôz in gote genomen, dâ lebet der man. Dâ geschihet diu geburt, dâ wirt der sun geborn. – »Das Fünklein der Vernunft, bloß in Gott genommen, darin lebt der ›Mann‹. Dort geschieht die Geburt; dort wird der Sohn geboren. Ferner: Pr. 76; 316,5– 317,1: Daz inner bekennen ist daz, daz sich vernünfticlîche ist fundierende in unserer sêle wesene; doch enist ez niht der sêle wesen, mêr: ez ist dar în gewurzelt und ist etwaz lebens der sêle, wan wir sagen, daz daz verstân sî etwaz lebens der sêle, daz ist vernünftigez leben, und in dem lebene wirt der mensche geborn gotes sun und ze dem êwigen lebene. – »Das innere Erkennen ist das, was sich vernünftig im Wesen unserer Seele gründet. Doch es ist nicht das Wesen der Seele, sondern es wurzelt darin und ist etwas vom Leben der Seele; denn wir sagen, dass das Verstehen etwas vom Leben der Seele ist. Das ist Vernunftleben, und in diesem Leben wird der Mensch als Gottes Sohn geboren, und zwar zum ewigen Leben.« 59 Pr. 2; ed. Quint, 32,6–8: Wan der êwige vater gebirt sînen êwigen sun in dirre kraft âne underlâz, alsô daz disiu kraft mitgebernde ist den sun des vaters und sich selber den selben sun in der einiger kraft des vaters. Vgl. ed. Steer u. Vogl, 229,74–77. 60 Pr. 2; ed. Quint, 35,4–36,2: Noch ein kraft ist, diu ist ouch unlîplich; si vliuzet ûz dem geiste und blîbet in dem geiste und ist zemâle geistlich. In dirre kraft ist got âne under lâz glimmende und brinnende mit aller sîner rîcheit, mit aller sîner süezicheit und mit aller sîner wunne. Vgl. ed. Steer u. Vogl, 232,95–98: glimmende / klimmende; brinnende / bernende. 58

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(anderiu) Kraft« inhaltlich mit der ersten identifizieren. 61 Andererseits wird die ›erste Kraft‹ auf den »Vater in seiner Gebärungskraft« und die zweite auf den Heiligen Geist in seiner »antreibenden Liebeskraft« und auf die Liebe bezogen. 62 Das entspricht nun in der Tat den Regeln der augustinisch-thomasischen Trinitätslehre. Wenn also diese zweite Kraft den Willen repräsentiert, dann wiederum nicht das zweite der oberen Seelenvermögen. Vielmehr geht der Heilige Geist aus der zweiten Processio in der Trinität in der Weise des Willens hervor; darum ist Liebe der zutreffende Name des Heiligen Geistes. 63 Und wiederum reicht der göttliche trinitarische Wille in die Seele als zweiter Ausbruch neben der Geburt: »In dem Einen gebiert der Vater seinen Sohn in dem innersten Quellen. Da blüht der Heilige Geist aus, und da entspringt in Gott ein Wille, der zur Seele gehört. Solange der Wille von allen Geschöpfen und allem Geschaffensein unberührt bleibt, ist der Wille frei.« 64

Die zweite Kraft, die in der ›Bürgleinpredigt‹ erwähnt wird, kann also der Wille sein, der die Gottesgeburt in das Ausblühen des Heiligen Geistes fortsetzt, ohne jedoch ein geschöpfliches Seelenvermögen zu sein. Eine weitere Belegstelle für das gemeinsame Wirken Gottes und des den Sohn gebärenden Menschen, das im Willen, das heißt in der Liebe, in den Heiligen Geist mündet: »Wenn der Wille so vereint wird, dass es ein einzig Eines wird, gebiert der Vater vom Himmel seinen eingeborenen Sohn in sich in mich. Warum in sich in mich? Da bin ich eins mit ihm. Er kann mich nicht ausschließen. Und in diesem Werk empfängt der Heilige Geist sein Wesen und sein Werden von mir wie von Gott.« 65 Siehe Steer, Georg und Heidemarie Vogl: Die bürgelîn-Predigt Meister Eckharts, S. 150: In der Inhaltsangabe dort wird diese zweite Kraft so eingeführt: »Über diese (sc. die erste) kraft ist noch mehr zu sagen.« Ferner: »Es ist unerfindlich, von einer blüejenden und grüendenden kraft eine klimmende und bernende Kraft unterscheiden zu wollen, wenn im Predigttext selbst diese Unterscheidung nicht gemacht wird«, ebd. S. 169. 62 Steer, Georg und Heidemarie Vogl: Die bürgelîn-Predigt Meister Eckharts, S. 169. 63 Thomas von Aquin, Summa theologiae I q. 37, a. 1 co. 64 Pr. 5b; 84,1–3: In disem ein gebirt der vater sînen sun in dem innersten gequelle. Dâ blüejet ûz der heilige geist, und dâ entspringet in gote ein wille, der behœret der sêle zuo. Die wîle der wille stât unberüeret von allen crêatûren und von aller geschaffenheit, sô ist der wille vrî. 65 Pr. 25; 11,1–6: Swenne der wille alsô vereinet wirt, daz ez wirt ein einic ein, sô gebirt der vater von himelrîche sînen eingebornen sun in sich in mich. War umbe in sich in mich? Dâ bin ich ein mit im, er enmac mich ûzgesliezen niht, und in dem werke dâ 61

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8. Theologie und Philosophie der Gottesgeburt

Diese Belege sind dazu angetan zu zeigen, dass die »Kraft«, die in diesem Abschnitt erläutert wird, als Träger der Gottesgeburt in der Gestalt des Sohnes und, wenn es zwei Kräfte sind, wie es dem überlieferten Wortlaut entspricht, ebenso als Träger der Gottesgeburt in der Gestalt des Heiligen Geistes verstanden werden kann. So verstanden gehört dieser virtus-Teil der ›Bürgleinpredigt‹ inhaltlich zu dem ersten Themenkomplex, von dem Eckhart am Schluss dieses Abschnitts spricht: »Wie ich am Anfang sagte, womit wir unsere Predigt begannen: Jesus ging hinauf in ein Bürglein und wurde von einer Jungfrau empfangen, die ein Weib war. Warum? Das musste notwendig so sein, dass sie eine Jungfrau war und auch ein Weib. Jetzt habe ich euch gesagt, dass Jesus empfangen wurde.« 66

Der erste Themenkomplex der ›Bürgleinpredigt‹ beschäftigt sich nach diesen Worten mit dem Empfangen. Dazu gehört die Empfängnis durch die Jungfrau und das Fruchtbringen der Frau. Beides sind Aspekte der Gottesgeburt, das heißt der Vereinigung der Seele mit dem Sohn und dem Heiligen Geist in der ungeschaffenen und unerschaffbaren »Kraft«.

enpfæhet der heilige geist sîn wesen und sîn werden von mir als von gote. Siehe auch: Pr. 75; 300,1–4: Suln wir dar în komen, sô müezen wir klimmen von natiurlîchem liehte in daz lieht der gnâde und dar inne wahsen in daz lieht, daz der sun selber ist. Dâ werden wir geminnet in dem sune von dem vater mit der minne, diu der heilige geist ist, diu dâ êwiclîche entsprungen ist und ûzgeblüejet ist ze sîner êwigen geburt. – »Um da [in die Geburt des Sohnes im väterlichen Herzen] hineinzukommen, müssen wir hinaufklettern aus dem natürlichen Licht in das Licht der Gnade und darin in das Licht wachsen, das der Sohn selbst ist. Da werden wir in dem Sohn vom Vater geliebt mit der Liebe, die der Heilige Geist ist, die da ewig entsprungen und ausgeblüht ist zu seiner ewigen Geburt.« Ähnlich BgT; 41,11–42,8. 66 Pr. 2; ed. Quint, 38,2–6: Als ich sprach in dem beginne, dâ mite wir unser predige begunden: Jêsus gienc ûf in ein bürgelîn und wart enpfangen von einer juncvrouwen, diu ein wîp was. War umbe? Daz muoste sîn von nôt, daz si ein juncvrouwe was und ouch ein wîp. Nû hân ich iu geseit, daz Jêsus enpfangen wart. Vgl. ed. Steer u. Vogl, 235,115–11.

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II. Philosophische Grundlagen

Das Bürglein (Burgstädtchen) Der letzte Teil wird dann ausführen, was über die Thematik des Empfangens und der Gottesgeburt hinausgeht: »Ich habe euch aber [noch] nicht gesagt, was das Bürglein ist. So will ich nun davon sprechen.« 67 Die im ersten Themenkomplex der ›Bürgleinpredigt‹ entfaltete Lehre repräsentiert, wie gezeigt, noch den Stand der Gottesgeburtslehre in den Kölner Predigten. Nun aber folgt ein Schritt über diesen Stand hinaus. 68 Eckhart zählt zunächst einige Namen auf, unter denen er gelegentlich von jener Kraft gesprochen hat: »eine Kraft in dem Geiste, die allein frei sei«; »eine Hut des Geistes«; »ein Licht des Geistes«; ein »Fünklein«. 69 Jetzt aber nennt er es »weder dies noch das; aber dennoch ist es ein Was, das höher über dem Dies und Das ist als der Himmel über der Erde«. 70 Weiterhin wird gesagt, was dieses Bürglein nicht ist – es ist unnennbar, ledig und frei –, 71 bis die Verneinungen in eine positive Aussage münden: »Es ist so sehr eins und einfach, wie Gott eins und einfach ist, sodass man in keiner Weise [sprich: in keinem Erfahrungsmodus] dahin schauen kann.« 72 Diese Benennung der Einheit ist die Hauptaussage der Belehrung über das Bürglein. Sie wird im Folgenden mehrmals wiederholt, und bietet damit das Gerüst, an das die differenzierenden Aussagen, die durchwegs verneinend sind, angegliedert werden. Gleichzeitig werden diese Einheitsaussagen so in die logische Abfolge verschränkt, dass die differenzierenden Aussagen als Folgerungen oder Bedingungen Nachdruck bekommen. Dieser Nachdruck wird noch erhöht durch eingestreute Beschwörungen und Wahrheitsbeteuerungen, zum Beispiel

Pr. 2; ed. Quint, 38,6 f.: [I]ch enhân iu aber niht geseit, waz daz bürgelîn sî, alsô als ich nû dar abe sprechen will. Vgl. ed. Steer u. Vogl, 235,119 f. 68 Pr. 2; ed. Quint, 39,6: Dar umbe nenne ich ez nû in einer edelern wîse dan ich ez ie genante. Vgl. ed. Steer u. Vogl, 236,125 f. – »Darum nenne ich es nun in einer edleren Weise, als ich es je genannt habe.« 69 Pr. 2; ed. Quint, 39,1–4; ed. Steer u. Vogl, 235,121–124. 70 Pr 2; ed. Quint, 39,4–6: Ich spriche aber nû: ez enist weder diz noch daz; noch denne ist ez ein waz, daz ist hœher boben diz und daz dan der himel ob der erde. Vgl. ed. Steer u. Vogl, 236,124 f. 71 Pr. 2; ed. Quint, 40,2: von allen namen vrî und von allen formen blôz, ledic und vrî zemâle. Vgl. ed. Steer u. Vogl, 236,127 f. 72 Pr. 2; ed. Quint, 40,3 f.: Ez ist sô gar ein und einvaltic, als got ein und einvaltic ist, daz man mit dekeiner wîse dar zuo geluogen mac. Vgl. ed. Steer u. Vogl, 236,128–130. 67

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8. Theologie und Philosophie der Gottesgeburt

»Könntet ihr mit meinem Herzen erkennen, ihr verstündet es gut, denn es ist wahr, und die Wahrheit sagt es selbst.« 73 Die Kernaussage entfaltet sich in den folgenden Schritten (Die Hervorhebungen zeigen, wie sich der Gedanke um die Einheitsaussage rankt): 1. »So eins und einfach ist dies Bu¨rglein u¨ber jeder Weise [modus]«, dass jene Kräfte [die Vernunft und die Liebe] »da nicht hineinzulugen wagen«. »So wirklich eins und einfach ist dies Bu¨rglein und so u¨ber alle Weise und alle Kra¨fte ist dies einzig Eine, dass da keine Kraft noch Weise hineinlugen kann« 2. »noch Gott selbst« »Gott selbst lugt da niemals einen Augenblick hinein noch hat er je da hineingelugt, sofern er sich in Modus und Proprietät der Personen verhält.« »Das ist gut einzusehen, denn dies einzig Eine ist ohne Weise und Eigenschaft.« 3. »Soll Gott jemals da hineinschauen, das muss ihn kosten alle seine göttlichen Namen und persönlichen Eigenschaften.« »Außer sofern er ein einfaches Eines ist, ohne jede Weise und Eigenschaft«, »und so ist er weder Vater noch Sohn noch Heiliger Geist und ist doch ein Was, das weder dies noch das ist.« 4. »Seht, so, sofern er eins und einfach ist, so kommt er in das Eine, das ich ›Bürglein in der Seele‹ nenne,« »und anders kommt er auf keine Weise da hinein, sondern [nur] so kommt er hinein und ist [schon] darin.« 74 Pr. 2; ed. Quint, 41,5–7: Möhtet ir gemerken mit mînem herzen, ir verstüendet wol, waz ich spriche, wan ez ist waˆr und diu wârheit sprichet ez selbe. Vgl. ed. Steer u. Vogl, 237,135–137. 74 Pr. 2; ed. Quint, 42,1: Sehet, nû merket! Alsô ein und einvaltic ist diz bürgelîn boben alle wîse, dâ von ich iu sage und daz ich meine, in der sêle, daz disiu edele kraft, von der ich gesprochen hân, niht des wirdic ist, daz si iemer ze einem einigen mâle einen ougenblik geluoge in diz bürgelîn und ouch diu ander kraft, dâ ich von sprach, dâ got ist inne glimmende und brinnende […] und sô enboben alle wîse und alle krefte ist diz einic ein, daz im niemer kraft noch wîse zuo geluogen mac noch got selber. Mit guoter wârheit und alsô wærlîche, als daz got lebet! Got selber luoget dâ niemer în einen ougenblik und geluogete noch nie dar în, als verre als er sich habende ist nâch wîse und ûf eigenschaft sîner persônen. Diz ist guot ze merkenne, wan diz einic ein ist sunder 73

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II. Philosophische Grundlagen

Die ›Bürgleinpredigt‹ macht fünf Schritte über die klassische Gottesgeburtslehre hinaus und vollendet damit die Theorieentwicklung, die in der ›Kölner Predigtreihe‹ zu beobachten ist: 1. Sie rückt die Gottesgeburt ausdrücklich in den Hintergrund. 2. Sie betont wiederholt die Einheit, das einzig Eine im gemeinsamen Grunde Gottes und der Seele. 3. Sie schließt die personbildenden Unterscheidungen vom Zugang zu diesem einzig Einen aus. 4. Damit legt sie den Grund für eine deutliche Trennung von Gott und Gottheit, die in der ›Armutspredigt‹, Nr. 52, und in der ›Opferstockpredigt‹, Nr. 109, ausgefaltet werden. 5. Das bedeutet aber, dass auch jene »Kräfte«, das heißt hier die Aktvollzüge Gottes, die in der Trinität die Personen konstituieren, intellectus und voluntas, »Erkenntnis« und »Wille«, in die letzte stille Wüste, in die verborgene, finstere Einheit des Grundes der Gottheit nicht »hineinlugen« können, das heißt kein Licht der Unterscheidung in die Einheit hineinwerfen. Darin liegt zugleich eine Relativierung der Intellektlehre.

wîse und sunder eigenschaft. Und dar umbe: sol got iemer dar în geluogen, ez muoz in kosten alle sîne götlîche namen und sîne persônlîche eigenschaft: daz muoz er alzemâle hie vor lâzen, sol er iemer mê dar în geluogen. Sunder als er ist einvaltic ein, âne alle wîse und eigenschaft: dâ enist er vater noch sun noch heiliger geist in disem sinne und ist doch ein waz, daz enist noch diz noch daz. Sehet, alsus als er ein ist und einvaltic, alsô kumet er in daz ein, daz ich dâ heize ein bürgelîn in der sêle, und anders kumet er enkeine wîse dar în; sunder alsô kumet er dar în und ist dâ inne. Vgl. ed. Steer u. Vogl, 237,138–239,154: glimmende und erinnende/klimmende und bernende.

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Teil III. Phnomene des Menschseins

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Neuntes Kapitel Wegweiser fr ein neues Selbstverstndnis des Menschen

Die folgenden Ausführungen stützen sich zunächst weitgehend auf die Predigt 15, ›Homo quidam nobilis‹ –»Ein edler Mensch ging hinaus in fremde Länder – von sich fort – und kam reicher wieder heim.« 1 Die Bemerkungen Eckharts weisen in Richtung des Lassens, in dem der Mensch sich eigentlich und reicher wiederfindet: Wer alles gelassen hat, »der besitzt alles, denn nicht-haben, das heißt alles haben.« 2 Wenn ich einzelne Dinge habe, kann ich nicht alle Dinge haben; aber nichts zu haben ist die Möglichkeit, alles zu haben.

Das Liebenswerte der Dinge Das ist der Weg des Lebens, den Eckhart vorschlägt. Sein Lassen hat im Wesen nicht den Charakter des Verzichts, der Entbehrung, sondern des Eintritts in die Möglichkeit der Erfüllung. Dieses lassende Einräumen der Erfüllung ›sieht‹ Heidegger im Wesen des Kruges: »Das Wesen der fassenden Leere ist in das Schenken versammelt.« 3 Vielleicht ist dies die Wesensart der Dinge, dass sie in ihrem Wesen, verbal verstanden, das heißt so, wie sie wesen, eine Ahnung der Erfüllung in sich tragen. Damit gewönne auch die Welt der Dinge ein anderes, nicht gegenständliches Wesen. Sie wären in ihrer Möglichkeit ›wahr‹ genommen. Wenn die Dinge von sich her nichts sind, wie Eckhart sagt, harren sie als Möglichkeitswesen der Erfüllung. So werden sie nicht empirisch, sondern ›transzendental‹ gefasst. Dieser Begriff sei hier nicht kritisch als strenger Kontrastbegriff zu ›empirisch‹ benützt, indem er jene Zue

1 Pr. 15; 244,3–5: ›Es was ain edel mentsch, der gieng us in fromde land von im selber vnd kam richer wider hain‹ (Lk 19,12). e e 2 Pr. 15; 244,7 f.: […] der hát allú ding, wán niht enhaben das ist alliu ding haben. 3 Heidegger, Martin: Das Ding, hier S. 175 (orig. S. 164).

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gangsart zu Dingen benennt, die sich nicht »mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen […] beschäftigt« 4 . Empirisch sind sie zwar seiend, aber solange sie in den Augen des Menschen auf ihr Selbstständigsein, auf ihre Faktizität eingeschränkt sind, fallen sie in Wahrheit ins Nichts. So können sie das eine oder andere ›Bedürfnis‹ befriedigen, ein momentanes Verlangen stillen, aber die Sehnsucht und manchmal die Leere oder der Ekel können durch die Befriedigung auch größer werden. Der Mensch, der aus der bloßen ›geschöpflichen‹, gegenständlichen Qualität der Dinge schöpft, verkennt ihren Ursprungssinn. Ich kann die Dinge nur lieben, indem ich in ihnen das Gute liebe, das heißt dasjenige, worin sie uns taugen, und das heißt für Eckhart: dass ich Gott in ihnen liebe. Eckhart erinnert seine Zuhörer: »Ich habe schon öfter gesagt, dass der Mensch niemals an einem Geschöpf Freude oder Wohlgefallen finden könnte, wenn nicht ein Gleichnis Gottes darin läge.« 5 Und so sagt er es in Predigt 109: »Mit der Liebe, darin sich Gott liebt, mit der liebt er alle Geschöpfe, nicht als Geschöpfe, sondern die Geschöpfe als Gott.« 6 Die Dinge haben eine Innen-Dimension. Das heißt: Sie sind nicht schlechthin geschaffen und hergestellt, sondern sie w e r d e n stets zu unserem Gebrauch, sie fließen stets aus Gott aus und Gott fließt in sie ein. Der Schaffensprozess bezieht den Menschen mit ein, indem der Prozess der Gottesgeburt selbst das Wesen der Seele ist. Insofern fließt das Wesen der Dinge in gleicher Weise aus Gott und dem beseelten Blick des Menschen. Der Rückgang vom Verhaftetsein an die geschöpflichen Dinge in deren Grund ist also ein Eintreten in deren Möglichkeit und damit zugleich deren erfülltes, liebendes Entwerfen. Die Möglichkeit bleibt nicht leer, sondern wird erfüllt vom ›Willen Gottes‹. Der Wille Gottes ist nicht ein forderndes Verordnen, sondern die Erfüllung des Wesens (verbal) der Dinge. »Und gäbe mir Gott irgendetwas außerhalb seines Willens, ich beachtete es nicht; denn das Geringste, das mir Gott i n seinem Willen gibt, das macht mich selig.« 7 Dass Gott mir alles aus Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, hier Bd. 3, S. B25. Pr. 60; 16,2 f.: Ich hân ez ouch mê gesprochen, daz der mensche niemer ze keiner crêatûre liebe noch wollust enmöhte gehaben, gotes glîchnisse enwære dar ane. 6 Pr. 109; 765,24 f.: Mit der minne, dâ sich got inne minnet, dâ mite minnet er alle crêatûren, niht als crêatûren, mer: crêatûren als got. 7 Pr. 15; 244,14–245,2: Vnd geb mir got dehain ding uswendig sines willen, ich achtete e sin nit; wán das minst, das mir got in sinem willen git, das macht mich salig. 4 5

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seinem Willen gibt, was immer ich habe oder erhalte, das ist für Eckhart keine Frage; denn: »Alle Geschöpfe sind aus Gottes Willen geflossen.« 8 Das ist für jeden scholastischen Theologen eine Selbstverständlichkeit, aber Eckhart geht es hier um einen prinzipiellen Zusammenhang. Der Wille ist eigentlich das Begehren des Guten, das aus der Güte, dem Gutsein Gottes, fließt. So weit noch immer scholastisches Gemeingut. Dann aber folgt das Eckhart eigene Thema: »Alles Gute fließt aus dem Überfließen der Gottheit Gottes. Ja, aber der Wille Gottes schmeckt mir nur in der Einheit, wo die Ruhe der Gottheit Gottes in allen Geschöpfen ist, worin sie [die Gottheit] ruht und alles, was Sein und Leben je gewann, als in ihrem äußersten Ziel: Dort sollst du den Heiligen Geist lieben, wie er dort in der Einheit ist, nicht in sich selbst, sondern dort, wo er mit der Gottheit Gottes einzig in der Einheit schmeckt, wo alle Güte ausströmt aus dem Überfluss der Gottheit Gottes.« 9

Hier deutet sich schon die radikale Gotteslehre Eckharts an. Er unterscheidet Gott und dessen Gottheit, spricht aber auch von der Ruhe, das heißt der Vollendung Gottes in den Kreaturen, die in der Einheit der Gottheit ihre Ruhe finden, derselben Einheit, aus der die Gottheit Gottes ausströmt. Diese Aussagen sind nicht bloße Spekulation über ›himmlische‹ Vorstellungen, sondern sie werden mit der Wiederholung des biblischen Leitverses auf den Menschen zurückbezogen: »Dieser Mensch kommt reicher wieder heim, als er ausgegangen war.« 10 Der moderne, der Religion gegenüber distanzierte wie auch der für sie aufgeschlossene Mensch wird sich fragen, ob und wie er die Vorschläge Eckharts für sich selbst ernst nehmen kann: Ein Mensch, Pr. 15; 245,3: Alle creaturen sint usser gottes willen geflossen. o o Pr. 15; 245,5–11: Alles gut flússet us der úberflússikait der g u t h e i t gottes. Ja vnd o o smakt mir der will gottes allain in der ainikait, da die gottes ruw der g u t h a i t in allen o creaturen ist; in dem si da ruwet vnd alles, das wesen vnd leben ie gewan, als in ir lesten end, da solt du den hailgen gaist minnen, als er da ist in der ainikait; niht an im selber, o e e svnder da er smeket mit der g u t h a i t gottes allain in der ainikait, da allú guti us o flússet uss der úberflússikait der g u t h e i t gottes. So die Textrekonstruktion Quints. Darin versteht er, entsprechend der allgemeinen scholastischen Transzendentalienlehre, das konkrete Gutsein als abgeleitet aus der transzendenten Güte (Gutheit). In der Hando schrift steht aber überall, wo Quint gutheit einsetzt, gotheit. In der Übersetzung oben habe ich den Wortlaut der Handschrift wiederhergestellt. Eckhart spricht dann von der E i n h e i t der Gottheit, die allen Differenzierungen, auch den Transzendentalien und den Personen, vorausliegt. Zum Letzten siehe Kobusch, Theo: Transzendenz und Transzendentalien, bes. S. 50–54. 10 Pr. 15; 245,11: Dirre mentsch kumet richer wider hain, denn er us gegangen was. 8 9

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der im Vielen alles gelassen hat, finde sich selbst und alles im gegenwärtigen Nun der Einheit wieder. 11 Was kann es heißen, dieser Mensch lebe in reiner Freiheit und reiner Bloßheit? 12 Er sei frei, auch weil er keine Sache meistern muss, denn ihm sei alles zu eigen, was Gott zu eigen ist. 13 Diese Aussagen sind aus unserem üblichen Selbstverständnis heraus kaum zu verstehen. Wie aber versteht Eckhart das Wesen des Menschen?

Eckharts revolutionres Verstndnis des Menschseins: Was ist der Mensch? – ber Aristoteles hinaus Die weithin immer noch gängige Vorstellung versteht den Menschen als geistbegabtes, lebendes Etwas. Dazu passt Eckharts Erklärung: »Mensch heißt so viel wie ein vernünftiges Ding, das sagt ein heidnischer Meister.« 14 Das gibt die bekannte Definition wieder, der Mensch sei »ein vernunftbegabtes Lebewesen«, zoon logon echon, animal rationale, die natürlich auch Eckhart durchweg benützt. Hier wird der Mensch als Spezies einer Gattung zugerechnet: ein Tier, das Sprache, Geist, Logos h a t . Der Mensch ist ein Etwas. Genauer kommentierend geht Eckhart in der deutschen Predigt Nr. 15, ›Homo quidam nobilis‹, auf die Lehre des Aristoteles vom Menschen ein: »Aristoteles nahm sich ein Buch vor und wollte von allen Dingen sprechen. Nun beachtet, was Aristoteles von diesem Menschen sagt: Homo, das heißt so viel wie ein Mensch, den eine bestimmte Form kennzeichnet, und die gibt ihm Sein und Leben zusammen mit allen Geschöpfen, mit vernünftigen und unvernünftigen.« 15

e

Pr. 15; 246,4 f.: […] wán er sich selber vnd allú ding in dem gegenwúrtigen nu der ainikait vindet. 12 Pr. 15; 246,5 f.: Dirre mentsch lebt nu in ainer ledigen frihait vnd in ainer lutern bloshait. 13 Pr. 15; 246,6–8: […] wan er enhát sich enkainer ding ze vnderwinden noch an ze nemende lútzel noch vil; wán alles das gottes aigen ist, das ist sin aigen. 14 Pr. 80; 379,1 f.: Mensche sprichet als vil als ein verstendic dinc, daz sprichet ein heidenischer meister. o 15 Pr. 15; 249,1–4: Aristotiles nam ain buch fúr sich vnd wolt sprechen von allen dingen. Nun merkent, was Aristotiles spricht von disem mentschen. Homo, das ist als vil gee sprochen als ain mentsch, dem forme zuo gefuget ist, vnd git im wesen vnd leben mit allen creaturen, mit redlichen vnd mit vnredlichen. 11

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Das Menschsein ist durch seine Wesensform bestimmt. Wenn wir nach seinem Wesen fragen, also: Was ist der Mensch?, zeigt er sich als animal rationale. Der Mensch ist demnach definitionsgemäß im Wesen und Leben »mit allen Geschöpfen, vernünftigen und unvernünftigen« in eine Gattung zusammengefügt, jedoch durch die Vernunft spezifiziert. Von dieser Spezifität des Menschen heißt es: »In der Vernunft erkennt der Mensch die je verschiedenen Vorstellungsbilder und Formen aller Geschöpfe.« 16 Das ist es nach Eckharts Worten, was für Aristoteles den Menschen zum Menschen macht: »Das schrieb Aristoteles dem Menschen zu: Der Mensch sei dadurch Mensch, dass er alle Erkenntnisbilder und Formen versteht. Darum sei ein Mensch ein Mensch. Das war die höchste Bestimmung, mit der Aristoteles zeigen konnte, was ein Mensch ist.« 17 Aristoteles sagt in ›De anima‹ : »Die Seele erkennt vernünftig nie ohne Vorstellungsbilder.« 18 Indem er die Formen der Dinge in seiner Vorstellung hat, erkennt der Mensch. Dass damit die spezifische Welterkenntnis des Menschen, die von der Sinneswahrnehmung ausgeht, gemeint ist, bedarf keiner Frage. Eckhart fährt fort: »Jetzt will ich auch zeigen, was ein Mensch ist.« 19 Das klingt, als wolle er eine Steigerung ankündigen. Zunächst bringt er den rätselhaft klingenden Satz: »Homo heißt Mensch, dem Substanz ›zugeworfen‹ ist, und [die] gibt ihm Sein, Leben und Vernünftigsein.« 20 Das Wort »zugeworfen« verstehe ich hier im Sinne von »zugeordnet«; denn man spricht vom Menschen unter der Kategorie der Substanz. 21 In der Sprache des Aristoteles ist dieser Mensch, Pr. 15; 249,10 f.: Also verstát der mentsch vernúnfteklichen aller creatur bild vnd form mit vnderschaid. 17 Pr. 15; 249,11–250,3: Dis gab Aristotiles dem mentschen, das der mentsch da von ain e mentsch si, das er allú bild vnd form verstat; darum si ain mentsch ain mentsch. vnd das e was die hochst bewisung, dar an Aristotiles bewisen moht ainen mentschen. 18 Aristoteles, De anima III c. 7; 431 a 16 f. Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae I q. 5, a. 2, obj. 3: Non contingit intelligere sine phantasmata. 19 Pr. 15; 250,4: Nun will ich och wisen, was ain mentsch si. o 20 Pr. 15; 250,4–6: Homo sprichet als vil als ain mentsch, dem substanci zu geworfen ist, vnd git im wesen vnd leben vnd ain vernúnftiges wesen. o 21 Ain mentsch, dem substanci zu geworfen ist steht parallel zur ersten Definition, die Eckhart zuvor (siehe Anm. 15) gegeben hat: Pr. 15; 249,8 f.: ain mentsch, dem forme zuo gefueget ist, vnd git im wesen vnd leben mit allen creaturen. Die lateinische Entsprechung könnte praedicatur sein; so in Aristoteles Latinus, Guillelmus de Morbeca translator Aristotelis Categoriae. (ALD – Aristoteles Latinus Database, Brepolis; Bayerische Staatsbibliothek, Datenbank Infosystem). Substanz ist die erste der 10 Kategorien (praedicamenta) des Aristoteles. 16

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zum Beispiel Sokrates, die erste Wesenseinheit (substantia prima). Ihm kommt zusammen mit den anderen Menschen ein zweiter gemeinsamer Wesensbestand (substantia secunda) zu, das Menschsein. Dieses Was-er-ist kommt ihm wesensmäßig zu, aber der Mensch ist nicht das Menschsein. 22 Vielmehr ist das Substanzsein des Menschen seine Auszeichnung, sie ist seine Washeit (quod quid est), also was er ist, seine Definition. Sie begründet, wie Eckhart sagt, sein Sein, sein Leben und sein Vernunftsein. Der nächste Satz aber zeigt, dass es Eckhart nicht nur um die gewohnte Lehre vom Menschsein oder von der Erkenntnisfähigkeit schlechthin des Menschen geht, sondern um ein ausgezeichnetes Vernunftsein des Menschen, um die r e i n e Vernunft. Und damit geht Eckharts Verständnis der menschlichen Erkenntnisfähigkeit über die zuvor genannte ›aristotelische‹ Sicht hinaus, der Mensch könne ausschließlich mithilfe von Erkenntnisbildern erkennen, die von den Sinnen ausgehen. »Ein vernünftiger Mensch ist, wer sich selbst vernünftig erkennt und in sich selbst von jeder Materie und Form getrennt ist.« 23 Die vernünftige Seele des Menschen kommt auch nach Thomas von Aquin zu ihrer Vollendung, wenn sie vom Körper getrennt ist; dazu beruft auch er sich auf Aristoteles. 24 In der Tat wurzelt Eckharts Intellektlehre in Aristoteles und dessen Überlieferung wie auch auf Augustins Geistlehre. Als Ebenbild Gottes ist der Mensch Geist (intellectus). Als solcher kann er nach Aristoteles »gewissermaßen alles« sein. 25 Er ist Mikrokosmos. Eckhart sagt: »Der Intellekt ist nämlich, s o f e r n e r I n t e l l e k t i s t , Gleichnis alles Seienden und umfasst in sich die Gesamtheit der Seienden, nicht nur dies oder das mit Ausschluss [des andern]. Daher ist auch sein Gegenstand das Seiende schlechthin, nicht nur dieses oder jenes.« 26 Auf diesem Grundgedanken bauen sich die Differenzierungen der eckhartschen Eigenlehre über die Vernünftigkeit der Seele auf. Der Intellekt ist Gleichnis Aristoteles: Kategorien, Kap. 5, S. 3–10, 2 a 11–4 b 20. Pr. 15; 250,6 f.: Ein vernúnftiger mentsch ist, der sich selber vernúnfteklichen verstát vnd in im selber abgeschaiden ist von allen materien vnd formen. 24 Siehe Thomas von Aquin, Summa contra gentiles II c. 79, n. 3 und n. 12 f. 25 In Gen. I n. 115; 4–6: Ratio huius est quod »intellectus« ut sic est, »quo est omnia fieri«, non hoc aut hoc determinatum ad speciem. Unde secundum philosophum »est quodammodo omnia« et totum ens. Vgl. Aristoteles, De anima III c. 8; 431 b 21. 26 In Gen. I n. 115; 155,24–26: Hinc est quod Graecus vocat hominem microcosmon, id est minorem mundum. Intellectus enim, in quantum intellectus, est similitudo totius entis, in se continens universitatem entium, non hoc aut illud cum praecisione. Unde et eius obiectum est ens absolute, non hoc aut illud tantum. 22 23

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des ganzen Seienden an sich, und das Seiende im Ganzen ist sein Inhalt. Hier ist also nicht von der Detailerkenntnis des Verstandes die Rede. Eckhart weist darauf mit einem Vorbehalt hin: »sofern (in quantum) der Intellekt Intellekt ist und nichts sonst«. Das heißt: Hier ist nur vom reinen Geist die Rede, also nicht von der Erkenntnis als kraft der sêle, potentia animae 27 , modern gesprochen: nicht von der psychologisch zu fassenden Bewusstseinstätigkeit des Denkens und Erkennens. Die Bewusstseinstätigkeiten werden einer (phänomenologischen) Reduktion unterworfen, alle Situationsbedingtheit, alle räumlich-zeitlichen und persönlichen Beschränktheiten werden eingeklammert, sodass nur die reine Wachheit des Geistes in ihrer Möglichkeit, mit Eckharts Wort: in abegescheidenheit, präsent ist. Dann kann Eckhart sagen: »Je mehr er [der Mensch] klar und vernünftig a l l e s i n s i c h erkennt, ohne sich nach außen zu kehren, desto mehr ist er ein Mensch.« 28 Hier ist die Überschreitung des scholastischen Gemeinverständnisses der menschlichen Erkenntnis deutlich, denn danach kann nur Gott ohne Wendung nach außen alles in sich selbst erkennen. 29 Allerdings hat vor allem Kurt Flasch gezeigt, dass in der deutschen Dominikanerlinie, besonders bei Albertus Magnus und Dietrich von Freiberg, fußend auf der arabischen Aristoteleslektüre, diese Bestimmung, alles in sich erkennen zu können, der reinen Vernunft an sich und insofern auch der Vernunft des Menschen zugeschrieben wurde. Auf dieser Tradition baut Eckhart hier auf. 30 Die Bedingung der Möglichkeit einer solchen Erkenntnis ist für Eckhart die Einfachheit des Intellekts. In dieser Einfachheit liegt seine höchste Auszeichnung: »Eine e i n f a c h e Erkenntnis ist so rein in sich selbst, dass sie das reine göttliche Sein ohne Vermittlung erkennt.« 31 Diese Einfachheit der VerVgl. Pr. 101; 344,43–347,58. Der Ort der Gottesgeburt ist nicht die krefte, sondern das wesen oder der grunt der Seele. Vgl. auch In Ioh. n. 521; 450: Gratia autem, ut dictum est, signum non facit, cum sit in essentia, non in potentia animae. Essentia enim ad esse respicit, potentia ad opus. – »Die Gnade aber tut, wie gesagt, kein Zeichen [Wunder], da sie im Wesen ist, nicht in den Vermögen der Seele. Das Wesen bezieht sich nämlich auf das Sein, das Vermögen auf das Tun.« 28 Pr. 15; 250,7–10: [I]e me er aellú dinc clarlich vnd vernúnfteklich bekennet in im selber svnder uskeren: ie me es ain mentsch ist. 29 Vgl. Thomas von Aquin, Summa contra gentiles III c. 56. 30 Vgl. Flasch, Kurt: Meister Eckhart. Die Geburt der »Deutschen Mystik« aus dem Geist der arabischen Philosophie. 31 Pr. 15; 250,17 f.: Ein ainualtig verstantniss ist so luter in im selber, das es begriffet das e luter blos gotlich wesen svnder mittel. 27

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nunft ist noch aristotelisch; denn eine solche unmittelbare Erkenntnis sei den »abgeschiedenen Geistern« (substantiae oder intelligentiae separatae) gegeben, heißt es mit einem Verweis auf Aristoteles’ Metaphysik: »Der höchste unter den Meistern, der je aus natürlichem Wissen gesprochen hat, nennt dies ›abgeschiedene Geister‹.« 32 Diese von Materie und Form und damit von jeder Vermittlung abgetrennten Geister sind für manchen Kosmologen die Beweger der Himmelskörper, aber auch die Engel und – dies allerdings umstritten – der reine menschliche Geist, sofern er sich von allen weltlichen Einflüssen freigemacht hat. »Und sie schauen das reine Wesen Gottes ohne Unterschied«, sagt Eckhart. 33 Das reine Wesen Gottes ist einfach, darum sieht der Geist in seiner Schau Gottes keine unterschiedlichen Vorstellungsgehalte. Damit hat Eckhart den Gipfelpunkt der natürlichen Vernunft erreicht. Was der absolute Geist erkennt, ist für Eckhart der Höhe- und zugleich der Endpunkt der aristotelischen Metaphysik: »Dieses reine, nackte Wesen nennt Aristoteles ein ›Was‹.« 34 Gemeint ist hier nicht ein Etwas (aliquid), sondern die Washeit, die Wesensbestimmung des Menschen, das to ti e¯n einai, quod quid erat esse des Aristoteles. Bei Eckhart heißt es meistens quod quid est oder quiditas. 35 Das Wesen, die Washeit des Menschen ist das Menschsein, genauer das Vernünftigsein des Menschen. Damit ist für Eckhart – ähnlich wie zuvor anlässlich der Bestimmung der Vernunfterkenntnis – wiederum »das Höchste« ausgesagt, zu dem Aristoteles gelangen konnte, ja es ist überhaupt das Höchste, das mit natürlichem Verstand erkannt werden kann. »Das ist das Höchste, was Aristoteles je aus natürlichem Wissen gesprochen hat, und darüber höher hinaus vermag kein Meister etwas auszusagen, es sei denn, er spräche im Heiligen Geist.« 36 Hier wird es deutlich gee

Pr. 15; 251,5–7: Der hohst vnder den maistern, der von natúrlichen kúnsten ie gesprach, der nemmet dis abgeschaiden gaist. Bezug auf Aristoteles, Metaphysik XII c. 8; 1073 a und b. 33 Pr. 15; 251,9 f.: Vnd sie schowent das bloss wesen gottes sunder vnderschaid. 34 Pr. 15; 251,10 f.: Dis luter bloss wesen nemmet Aristotiles ain ›was‹. Siehe Aristoteles, Metaphysik VII c. 1; 1028 a 10–15. Siehe dazu auch Mojsisch, Burkhard: Meister Eckhart. Analogie, Univozität und Einheit, S. 120–122. 35 Vgl. Quint, DW I, S. 251, Anm. 4; Aristoteles, Metaphysik VII c. 4; 1029 b 22– 1030 a 6. 36 Pr. 15; 251,11–13: Das ist das hoechst, das Aristotiles von natúrlichen kúnsten ie gee e sprach, vnd úber das so enmag kain maister hoher gesprechen, er sprach dann in dem hailgen gaist. 32

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sagt: Es gibt für die christliche Philosophie und Theologie in dem hailgen gaist etwas Weitergehendes. Was ist gemeint? Die Antwort ist aus der Entgegensetzung zu entnehmen, die an dieser Stelle unmittelbar folgt: »Nun sage i c h , dass diesem edlen Menschen das Wesen nicht genügt, das die Engel ohne Erkenntnisform begreifen und an dem sie ohne Vermittlung hängen; ihm genügt nur das einzig Eine.« 37 Das einic ein Eckharts ist als »e i n z i g Eines« zu verstehen und nicht, wie oft übersetzt wird, als »ein einiges Eines«. Das hat erhebliche Konsequenzen für die gesamte Problematik des Einsseins von Gott und dem Obersten in der Seele des Menschen. Die gebräuchliche Übersetzung 38 ist ein Pleonasmus. Die Übersetzung »einzig« für einic ist nicht nur durch die Wörterbücher gerechtfertigt, sondern auch durch den Gebrauch Eckharts in den lateinischen Werken. Er benützt die Zusammensetzung unum et unicum häufig im Zusammenhang mit dem reinen Sein. 39 Auch in einer deutschen Predigt deutet er die Steigerung der Einheit zur Einzigkeit an, wenn er sagt: »Gottes Reichtum, Weisheit und Wahrheit, das ist in Gott ganz und gar eins; es ist nicht eins, es ist Einzigkeit.« 40 Das Ziel der Frage Eckharts nach dem Wesen des Menschen ist mit dem einzig Einen erreicht. Darin findet sich seine Neubestimmung des Menschen – über Aristoteles hinaus: Der Mensch ist – in seinem Wesen, das heißt in seinem Geist – das göttliche einzig Eine, mit dem er im Intellekt eins ist. Die Frage ›Was ist der Mensch?‹ zielt für Eckhart also über das allgemeine Wesen, die Humanitas, hinaus, aber auch über das hinaus, was oft als die ›mystische Vereinigung‹ (unio mystica) der Seele mit dem reinen, bloßen Sein Gottes verstanden wird. Dieses fasst Eckhart zunächst mit Aristoteles als Was, quiditas. Aber darüber hinaus setzt er den Menschen in Verbindung mit einer letzten Wirklichkeit, mit dem »einzig Einen«. Es tut sich die Frage auf, wie dieses Ipse, dieses identische, um nicht zu sagen individuelle Einzige den Gegenpart im Menschen findet. Kann es wirklich, wie es häufig geäußerte e

Pr. 15; 251,13–15: Nun sprich ich, das disem edlen mentschen genuget nit an dem wesen, das die engel begriffent vnformlichen vnd dar an hangent svnder mittel; im e begnuget nit ›dan‹ an dem ainigen ain. 38 Siehe z. B. Quint, DW I, S. 434. 39 Zum Beispiel In Gen. I n. 174; 203,27 f.; In Gen. II tab. c. 1; 337,10; In Gen. II n. 179; 649,9; In Ex. n. 138; 67,6; In Sap. n. 114; 451,2; In Sap. n. 146; 484,5. 40 Pr. 21; 368,10 f.: Gotes rîchtuom und wîsheit und wârheit ist alzemâle ein in gote; ez enist niht ein, ez ist einicheit. 37

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Ansicht der Eckhartforschung ist, nur im Allgemeinen, in der von allen geteilten Menschheit statthaben, oder fordert das einzig Eine den Menschen als Einzelnen? Wenn das »reine, bloße Sein« Gottes überboten wird durch das einzig Eine, ist dann mit diesem der einzige Gott gemeint? Meint dann das Sprechen in dem hailgen gaist im Unterschied zu den natúrlichen kúnsten ein spezifisch christliches Selbstverständnis des Menschen? Freilich in Eckharts eigener, heute selten geteilten Sichtweise?

Wer bin ich? – ber Platon hinaus Wir können zur Weiterführung eine andere Predigt nutzen, die ebenfalls mit einem Überbietungsgestus eine Position der vorchristlichen Philosophie hinter sich lässt, die Predigt 28, ›Ego elegi vos de mundo‹. Hier wird angesprochen, was Eckhart sonst das »Fünklein« oder eine »Kraft« nennt. Hier nennt er es »etwas«: »Es gibt etwas, das über dem geschaffenen Sein der Seele ist und an das kein Geschaffensein rührt [und] das nichts ist […]. Es ist göttlicher Art verwandt, es ist in sich selbst eins, es hat mit nichts etwas gemein. Hier hinken manche große Gelehrte. Es ist eine Fremde und eine Wüste und ist mehr namenlos, als dass es einen Namen hätte, und ist mehr unerkannt, als dass es erkannt wäre.« 41 Pr. 28; 66,2–7: Ez ist etwaz, daz über daz geschaffen wesen der sêle ist, daz kein geschaffenheit enrüeret, daz niht ist. […] Ez ist ein sippeschaft götlîcher art, ez ist in im selben ein, ez enhât mit nihte niht gemeine. Hie hinkent manige grôze pfaffen ane. Ez ist ein ellende und ist ein wüestenunge und ist mê ungenennet, dan ez namen habe, und ist mê unbekant, dan ez bekant sî. Vgl. Pr. 29; 88,5–7: Ich spriche, daz etwaz obe der sêle geschaffener natûre ist. Und etlîche pfaffen die enverstânt des niht, daz etwaz sî, daz gote alsô sippe ist und alsô ein ist. Ez enhât mit nihte niht gemeine. – »Ich sage, dass etwas oberhalb der geschaffenen Natur der Seele ist. Und manche Gelehrten verstehen nicht, dass es etwas gibt, das Gott so verwandt ist und so eins ist. Es hat mit nichts etwas gemein.« – Bis in den Wortlaut hinein verwandt sind die Predigten 12; 197,8–198,5 und Pr. 29; 88,4–10. Die Ausführungen über das »ungeschaffene Etwas in der Seele« sind bekanntlich Gegenstand des Prozesses von der Anklage (Acta n. 46, Proc. Col. I n. 59; 218,4–6; Acta n. 48, Proc. Col. II n. 137; 298,12 f.) über die Kölner Erklärung Eckharts (Acta n. 54; 540,34–37) bis zum Art. 26 der Bulle (Acta n. 65; 599,91 f.). – Zur Übersetzung von daz kein geschaffenheit enrüeret, daz niht ist oben: Quint übersetzt: »An das kein Geschaffensein, das (ja) nichts ist, rührt.« Ich schlage vor, die Bestimmung daz niht ist nicht auf »Geschaffensein« zu beziehen, sondern auf das »Etwas«, »das nichts [Seiendes] ist«. 41

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Dieses Etwas ist über dem geschaffenen Wesen der Seele, aber auch über dem Wesen des Engels; denn auch dieser ist geschaffen. Aus den weiteren Angaben lässt sich folgern, dass die reine göttliche Vernunft gemeint ist, denn ihr kommt das Prädikat »Einheit« zu, und sie wird mit der berühmten Formulierung, die Anaxagoras zugeschrieben wird, aus Aristoteles ›De anima‹, Buch III bestimmt: »Es hat mit nichts etwas gemeinsam.« 42 Eckhart spricht also dasselbe Vernunftsein an, das oben in der Auseinandersetzung mit Aristoteles zunächst als ein Was und dann, über die natürliche Vernunft hinausgehend, als das einic ein bezeichnet worden war. Auch hier wird eine kritische Distanzierung eingefügt: »Dabei hinken manche große Gelehrte.« – Hie hinkent manige grôze pfaffen ane. Interessant wäre es, zu wissen, welche »großen pfaffen« Eckhart hier im Sinn haben mag. Naheliegend ist aber, dass er sich auf Platon bezieht, den er wenige Zeilen später ebenso betitelt: »Nun äußert sich Plato, der große Pfaffe, er hebt an und will von großen Dingen reden. Er spricht von einer Lauterkeit, die nicht in der Welt ist. 43 – Sie ist weder in der Welt noch außer der Welt, es ist etwas, das weder in der Zeit noch in der Ewigkeit ist, das weder Äußeres noch Inneres hat. Aus ihr treibt Gott, der ewige Vater, die Fülle und den Abgrund seiner ganzen Gottheit hervor. Das gebiert er hier in seinem eingeborenen Sohn und [bewirkt], dass wir derselbe Sohn sind. Sein Gebären ist sein Innebleiben, und sein Innebleiben ist sein Ausgebären. Es bleibt immer das Eine, das in sich selber quillt.« 44 Pr. 28; 66,5: ez enhât mit nihte niht gemeine; siehe Aristoteles, De anima III c. 4; 429 b 23 f. u. ö. 43 Quint lässt an dieser Stelle (DW II, S. 67,2) den Satz fortlaufen, als sei die folgende Aussage bis ez enhât ûzerlich noch inerlich noch die Lehre Platons. Ich lese jedoch diesen Text als Eckharts Stellungnahme. Mojsisch, Burkhard: Meister Eckhart. Analogie, Univozität und Einheit, S. 142, zitiert den Satz in der Interpunktion Quints. Auch McGinn, Bernard: The mystical thought of Meister Eckhart, S. 23 trennt hier nicht zwischen dem Platonzitat und Eckharts Stellungnahme, die ich vermute. Er schreibt sogar noch die Aussage über den »Vater« sowie »die Fülle und den Abgrund der Gottheit« und – verwunderlicher noch – die Versicherung, »dass wir derselbe Sohn sind« Platon zu; ebenso McGinn, Bernard: Die Mystik im Abendland, Bd. 4: Fülle, S. 193. 44 Pr. 28; 67,1–68,4: Nû sprichet Plâtô, der grôze pfaffe, der væhet ane und wil sprechen von grôzen dingen. Er sprichet von einer lûterkeit, diu enist in der werlt niht. – Si enist niht in der werlt noch ûzer der werlt, ez enist weder in zît noch in êwicheit, ez enhât ûzerlich noch innerlich. Her ûz drücket im got, der êwige vater, die vüllede und den abgrunt aller sîner gotheit. Daz gebirt er hie in sînem eingebornen sune und daz wir der selbe sun sîn, und sîn gebern daz ist sîn inneblîben, und sîn inneblîben ist sîn ûzgebern. Ez blîbet allez daz eine, daz in im selben quellende ist. 42

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Eckhart sagt hier, dass das »Ungeschaffene«, die lûterkeit, sprich: das Absolute, weder in der Welt noch außer der Welt, weder in der Zeit noch in der Ewigkeit zu suchen ist. Das steht gegen das übliche platonische und metaphysische Verständnis, das eine klare Trennung von Welt und Überwelt voraussetzt. Diese Unterscheidung Eckharts wirft ein Licht auf den viel diskutierten Platonismus Eckharts, wie zuvor der Aristotelismus kritisch beleuchtet wurde. Die Rückbezüge auf die aristotelische und platonische Philosophie bestehen in der Tat, vor allem im Sprachgebrauch, der sich der aristotelischen und platonischen Redeweisen bedient. Aber im Kern seiner Menschen- und Gotteslehre, das heißt mit der Einheit des »Fünkleins« und mit der Identität des einzig Einen, wahrt er eine spezifische Eigenlehre. Das kommt auch in der Aufhebung der ontologischen Dimensionen zu Ausdruck: »Sie [die Lauterkeit] ist weder in der Welt noch außer der Welt, es ist etwas, das weder in der Zeit noch in der Ewigkeit ist, das weder Äußeres noch Inneres hat.« Das heißt: Das rein Absolute ist für Eckhart kein metaphysisch Seiendes. Dies ist der Ursprungsort der Gottheit und zugleich der Sohnesgeburt und, wie es an anderer Stelle heißt: »Hier ist Gottes Grund mein Grund und mein Grund ist Gottes Grund.« Dieser un-irdische und un-himmlische ›Ort‹ kann nicht positiv bestimmt werden. Er ist, wie Eckhart zuvor gesagt hat, »namenlos« und »unbekannt«. Gleichwohl bringt er im zitierten Zusammenhang sozusagen Hilfsbezeichnungen: »Es ist eine Fremde und eine Wüste und ist mehr namenlos, als dass es einen Namen hätte, und ist mehr unerkannt, als dass es erkannt wäre.« 45 Diese Benennungen sind im Sinne der negativen Theologie apophatisch zu verstehen, das heißt, sie sind mehr unpassend als passend. Über dieses klassische Verständnis hinaus rührt Eckhart überhaupt an die Grenzen der Metaphysik, wenn er die oben angesprochenen Disjunktionen von Welt und Nicht-Welt, Zeit und Ewigkeit, Innen und Außen mit einem Weder-Noch verneint. In der metaphysischen Logik gibt es kein Zwischen-den-genannten-Instanzen. Und auch der Hinweis auf die Sohnesgeburt, in der »wir derselbe Sohn sind«, mit der Eckhart ja sicher Platon und andere grôze pfaffen »hinken« lässt, zielt mit seiner paralogischen Präzisierung auf eine neu zu denkende Dimension des Sowohl-als-auch: »Sein Gebären ist sein

Pr. 28; 66,6 f.: Ez ist ein ellende und ist ein wüestenunge und ist mê ungenennet, dan ez namen habe, und ist mê unbekant, dan ez bekant sî.

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Innenbleiben, sein Innenbleiben ist sein Ausgebären.« 46 Eine ähnliche verschränkende Auflösung der metaphysischen ›Raumordnung‹ findet sich in Predigt 14, ›Surge illuminare Iherusalem‹ : Hier werden die Dimensionen »oben – unten« sowie »innen – außen« aufgelöst, wenn es heißt, Gott solle »enthöht« werden, »was oben war, wurde innen«. 47 Diese Charakteristika zeigen: Wir befinden uns im Zentrum der eckhartschen Lehre, dem »einzig Einen«, das zuvor als Überbietung des aristotelischen Wesensbegriffs angezeigt wurde und auf das Eckhart hier zusteuert: »Es bleibt alles das Eine, das in sich selbst aufquillt.« Der darauf folgende Satz schlägt unvermittelt ein scheinbar neues Thema an, eine Evokation des Ich, mit der die Predigt 28 zu Ende geht: »›Ego‹, das Wort ›ich‹, ist niemandem eigen als Gott allein und 48 seiner Einzigkeit. ›Vos‹, dieses Wort bedeutet so viel wie ›ihr‹, dass ihr eins seid in der Einzigkeit, das heißt: Das Wort ›ego‹ und ›vos‹, ›ich‹ und ›ihr‹, das bedeutet die Einzigkeit. Dass wir eben diese Einzigkeit sind und diese Einzigkeit bleiben mögen, dazu helfe uns Gott. Amen.« 49

Dieser Übergang vom Einen, das in sich selbst quillt, zum Ego zeigt uns also das einzig Eine als Gottes Ich in seiner Einzigkeit an und besagt, dass »wir«, jeder als »ich«, eins in dieser Einzigkeit sein können. Es handelt sich aber nicht um einen unmotivierten Sprung vom einzig Einen zum »Ich«; denn dieser Schlussakkord greift auf eine vorausgehende Passage 50 zurück, die den ganzen Abschnitt über das ungeschaffene »Etwas« 51 einleitet. Thema dieser Einleitung ist die Hinordnung der geschaffenen Natur auf das Einswerden und auf das Zeugen des Gleichen: »Alles, was Gott wirkt, das wirkt er in dem Einen sich selbst gleich.« 52 Dieses Einswerden kann aus der Natur allein nicht Pr. 28; 68,3: Sîn gebern daz ist sîn inneblîben, und sîn inneblîben ist sîn ûzgebern. Pr. 14; 237,10: dat ouen was, dat wart in:; dazu Witte, Karl Heinz: Predigt 14: ›Surge illuminare Iherusalem‹, hier S. 24–27. 48 Quint hat mit Pfeiffer für vnd der Hss. Str , Mai , Bra (fehlend in BT) in eingesetzt. 3 1 2 Außerdem übersetzt er, wie gewohnt, einicheit, das ich mit dem Standard der Lexika als »Einzigkeit« auffasse, mit »Einheit« (so im ganzen Abschnitt). 49 Pr. 28; 68,5–69,4: Ego, daz wort ich, enist nieman eigen dan gote aleine vnd sîner einicheit. Vos, daz wort daz sprichet als vil als ir, daz ir ein sît in der einicheit. Daz ist: daz wort ego und vos, ich und ir, daz meinet die einicheit. Daz wir diu selbe einicheit sîn und diu einicheit blîbende sîn, des helfe uns got. Âmen. 50 Pr. 28; 63,3–65,8. 51 Pr. 28; 66,1–69,2. 52 Pr. 28; 63,7 f.: Allez, daz got würket, daz würket er in dem einen im selben glîch. 46 47

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gelingen, sondern besteht in der Gleichheit Gottes und des »Etwas in der Seele«, in dem einzig Einen, das durch die Zeugung des Sohnes gestiftet wird. Dieses einzig Eine bin »ich« (oder »ihr«), wie der Schlusssatz des Abschnitts versichert: »Dass wir eben diese Einzigkeit sind und diese Einzigkeit bleiben mögen, dazu helfe uns Gott. Amen.«. Mit diesem greift Eckhart also am Ende der Predigt den folgenden Eröffnungssatz des Abschnitts wieder auf: »Mir kam einmal der Gedanke – es ist noch nicht lange her: Dass ich ein Mensch bin, das hat auch ein anderer Mensch mit mir gemein; dass ich sehe und höre und esse und trinke, das tut auch das Vieh; aber dass ich bin, das gehört keinem Menschen sonst zu als mir allein, keinem Menschen noch Engel noch Gott, außer soweit ich eins mit ihm bin. Es [dass ich bin] ist eine Lauterkeit und eine Einzigkeit.« 53

Wesentlich ist, zu beachten, dass hier nicht schlechthin von einem substantialen »Ich« ( d a s Ich) die Rede ist, dem Bestimmungen zukommen könnten, sondern dass sich die »Reinheit und Einzigkeit« im »I c h b i n « vollzugshaft verwirklicht. So löst sich auch ein scheinbarer Widerspruch auf, den man aus der Aussage einer anderen Predigt herauslesen könnte: »Nun beachtet das Wörtlein, er sagt: ›Ich bin ein Licht der Welt‹. ›Ich bin‹, damit berührt er das Wesen. Die Meister sagen: Alle Geschöpfe können wohl ›ich‹ sagen; denn das Wort ist allgemein. Nur das Wort ›sum, bin‹, das kann niemand in eigentlicher Weise sagen als Gott allein. ›Sum‹ heißt so viel wie etwas, das alles Gut in sich trägt, das aber ist allen Geschöpfen versagt, dass eines alles das besäße, was den Menschen ganz und gar trösten könnte.« 54

Hier weist das »ich« schlicht auf die jeweilige Individualität eines Seienden innerhalb seiner Art hin; verschieden davon und einzigartig für Gott und den Menschen ist das Ich-bin (sum). Weil ein kreatürliches 53 Pr. 28; 63,2–8: Ich gedâhte einest – des enist niht lanc: Daz ich ein mensche bin, daz ist ouch einem andern menschen gemeine mit mir; daz ich gesihe und hœre und izze und trinke, daz tuot ouch ein ander vihe; aber daz ich bin, daz enist keines menschen mê dan mîn aleine, weder menschen noch engels noch gotes, dan als verre als ich ein mit im bin; ez ist ein lûterkeit und ein einicheit. 54 Pr. 79; 365,9–366,3: Nû merket daz wörtelîn, daz er sprichet: ›Ich bin ein lieht der werlt‹. ›Ich bin‹ – dâ rüeret er daz wesen. Die meister sprechent: alle crêatûren mugen wol sprechen ›ich‹, und daz wort ist gemeine; aleine daz wort ›sum, bin‹, daz enmac nieman eigenlîche gesprechen wan got aleine. ›Sum‹ ist als vil gesprochen als ein dinc, daz allez guot inne treget, und daz ist allen crêatûren versaget, daz deheiniu allez daz habe, daz den menschen genzlîche getrœsten müge.

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»Ich« keine absolut vollkommenen, beseligenden Eigenschaften tragen kann, muss das menschliche »Ich-bin«, das mit der Einzigkeit des göttlichen »Ich-bin« identisch ist, als eigenschaftslos, unpersonal, abegescheiden gedacht werden. Insofern aber ist es der Möglichkeit nach alles. Der Mensch ist das einzig Eine, und als solcher ist er »ego, ich« in der Weise des »Ich bin«, insofern er zugleich eins mit der Einzigkeit Gottes ist. Damit sind wir bei Eckharts Wesensbestimmung des Menschen angelangt, die freilich weit über Aristoteles und Platon, das heißt für Eckhart über die natürliche Philosophie, hinausführt. Dieses Selbstverständnis des Menschen, dass er nicht nur ein vernunftbegabtes Lebewesen, sondern in seiner Geistigkeit mit Gott zusammen ein einzig Eines ist, und zwar durch die gleich wesentliche Zeugung des Sohnes oder des Wortes Gottes, dieser Gedanke ist sogar dem geläufigen christlichen Selbstverständnis und erst recht dem modernen Menschenbild fremd. Was folgt aus der Neubestimmung des Menschseins für unser Denken und Leben? Betrachten wir zwei Typen einer ›Definition‹ des Menschen: 1. Typus: a) Die klassische Definition: »Der Mensch ist ein vernunftbegabtes, gemeinschaftsbezogenes Lebewesen.« b) Dasselbe, etwas stärker biologisch angereichert: »Der Mensch ist ein Lebewesen, der Gattung der Säugetiere angehörend, das sich durch folgende besondere Eigenschaften auszeichnet: aufrechter Gang, Sprache, Erfindertum, Vorausdenken und Nachahmung.« 55 2. Typus: a) Griechisch: »Ungeheuer ist viel. Doch nichts ungeheuerer als der Mensch.« b) Christlich: »Denn alles Fleisch, es ist wie Gras / und alle Herrlichkeit des Menschen / wie des Grases Blumen. / Das Gras ist verdorret / und die Blume abgefallen. / Aber des Herren Wort bleibet in Ewigkeit.« 56 a) nach der Definition des Aristoteles, b) nach Wiktionary (de.wiktionary.org/wiki/ Mensch). Strukturell gehören hierher auch die neueren Wesensbestimmungen, z. B. die Weltoffenheit (Scheler), die Exzentrizität (Plessner), das Mängelwesen (Gehlen). 56 a) Sophokles, Antigone, 1. Chorlied, v. 332 f. (Übers. F. Hölderlin), b) J. Brahms, Ein deutsches Requiem (op. 45), nach 1 Petr. 1,24 f. 55

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Es ließe sich manches über den historischen Kontext, die Implikationen und Hintergründe der jeweiligen Deutung des Menschen sagen; doch hier soll nur auf das unterschiedliche Vorgehen der beiden ›Definitions‹-Typen aufmerksam gemacht werden. Der erste Typus versucht, im Sinne einer klassischen Definition, vorzustellen, w a s der Mensch ist. Das geschieht, indem der Definitionsgegenstand, hier der Mensch, in einen Zusammenhang mit anderen gestellt wird, hier übereinstimmend mit anderen Lebewesen im Unterschied von leblosen Dingen und Ideen und im Unterschied zu Lebewesen, denen die menschlichen Eigenschaften fehlen oder die sie in anderer Ausprägung haben. Der zweite Typus sagt, w i e der Mensch ist. Dazu benützt die Sprache aber keine sachlichen Aussagen oder Bezeichnungen wie im ersten Typus, sondern Umschreibungen oder Vergleiche. So können wir den Menschen nicht ›sehen‹, wenn wir die Aussagen direkt auf ihn anwenden; ein einzelner Mensch muss sich uns vielmehr erst in seinem Seinsoder Lebensvollzug offenbaren, damit uns diese Umschreibungen treffen. Die erste Definition bezeichnet eine Sache, die Leben und Vernunft hat; sie ordnet den einzelnen Menschen ein in die Gattung und die Spezies, so wie heute manche den Menschen in die Gattung der Primaten einordnen. Die zweite Definition versucht, das Leben des Menschen selbst zu beschwören, und das geschieht durch eine wertende Charakterisierung (»ungeheuer«), durch einen Vergleich (»Gras«) und einen Zuspruch (»des Herren Wort bleibet«). Diese zweite Definition kann nur verstehen, wer dieses Leben in sich selbst wiederfindet, und so erhebt sie zwar einen universellen Anspruch, kann aber nur eine individuelle Realisierung finden. Während die erste Definition den Sammelbegriff für ein allgemeines Wesen meint, die Menschheit, an der die einzelnen Exemplare, die Menschen, teilhaben, fasst die zweite die individuell Erlebenden zusammen unter einem gemeinsamen Geschick. Dieses Gemeinsame ist kein Allgemeines wie die Menschheit, sondern eher eine Seinsbedingung, die mit dem Menschsein gegeben ist. Das Wesen des Menschen ist hier eher verbal, ›existenziell‹ bestimmt und meint den Menschen, ›wie er west, leibt und lebt‹. Wenn auch Eckhart gelegentlich die aristotelische Bestimmung des Menschen als animal rationale benützt, so ist doch der tatsächliche Gebrauch des Begriffs »Mensch« und »Menschheit« eher vom zweiten Typus der ›Wesens‹-Bestimmung geprägt.

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Allgemeine Menschheit oder individuelles Menschsein? Viele Eckhartforscher gehen von einem »Vorrang des Allgemeinen vor dem Einzelnen« bei Eckhart aus. »Das Universale dachte Eckhart als realisiert. Insofern sind nur alle einzelnen Menschen zusammen d e r Mensch.« 57 Scheinbar kann man sich für diese Ansicht auf Eckhart berufen; er ist in seinen Aussagen auf den ersten Blick unklar. Man könnte zum Beispiel den Satz anführen: »Ich sage: Menschheit ist am ärmsten oder verachtetsten Menschen so vollkommen wie am Papst oder am Kaiser, denn die Menschheit an ihr selbst ist mir lieber als der Mensch, den ich an mir trage.« 58 Das heißt jedoch nur: Die Menschheit, Humanitas eines Menschen, ist nicht vom sozioökonomischen Status bestimmt. Sehen wir genauer hin: »Ich sage: Menschheit und Mensch sind verschieden. Menschheit ist in sich so edel: Das Oberste der Menschheit hat Gleichheit mit den Engeln und Verwandtschaft mit der Gottheit. Die größte Einheit, die Christus mit dem Vater besessen hat, die k a n n a u c h i c h g e w i n n e n , wenn ich alles ablegen könnte, das da als dies und das bestimmt ist, und wenn i c h m i c h a l s M e n s c h h e i t nehmen könnte.« 59 Die Aussagen über »das Oberste an der Menschheit« zeigen deutlich, dass diese durch die Vernunft konstituiert wird. 60 Insofern ist hier wiederum die besondere Intellektlehre Eckharts einzutragen. Die Analyse der Predigt 15 hat gezeigt, dass die Vernunft über die allgemeine Erkenntnis des reinen Seins Gottes hinaus, das der intelligentia separata möglich ist, zur Erkenntnis des Flasch, Kurt: Meister Eckhart – Philosoph des Christentums, S. 155. Wesentliche weiterführende Beiträge zur Bestimmung der Individualität und Subjektivität bei Eckhart bieten Marie-Anne Vannier, Yves Meesen, Jean Devriendt und Maxime Mauriège in: Schwaetzer, Harald und Marie-Anne Vannier: Zum Subjektbegriff bei Meister Eckhart und Nikolaus von Kues. 58 Pr. 46; 18,2–5: Ich spriche: menscheit ist an dem ermsten oder versmæhesten menschen als volkomen als an dem bâbeste oder an dem keiser, wan menscheit in ir selber ist mir lieber dan der mensche, den ich an mir trage. 59 Pr. 25; 13,11–14,2: Ich spriche: menscheit und mensche ist unglîch. Menscheit in ir selber ist als edel: daz oberste an der menscheit hât glîcheit mit den engeln und sippeschaft mit der gotheit. Diu grste einunge, die Kristus besezzen hât mit dem vater, diu ist mir mügelich ze gewinnenne, ob ich künde abegelegen, daz dâ ist von disem oder von dem, und künde mich genemen menscheit. 60 Das trifft auch für Thomas von Aquin zu, siehe Summa contra gentiles IV, c. 81, n. 10: Humanitas non est aliud realiter quam anima rationalis – »Die Menschheit ist der Sache nach nichts anderes als die vernünftige Seele«; vgl. Summa theologiae I q. 3, a. 3, co. 57

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und zur Identität mit dem einzig Einen führt. Vor allem ist aber anzumerken, dass Eckhart in dem zuletzt angeführten Zitat sagt, dass es » m i r « möglich ist, die Einheit Christi und des Vaters zu gewinnen, wenn » i c h « das Dies und Das lassen und mich als Menschheit nehmen könnte. Auch Eckharts häufige Forderungen allgemeiner Nächsten- und Fernstenliebe legen auf den ersten Blick den Vorrang des Allgemeinen nahe: »Ich sage ein Weiteres und sage ein Schwereres: Wer unmittelbar in der Bloßheit dieser Natur stehen will, der muss allem Personhaften entgangen sein, sodass er dem Menschen, der jenseits des Meeres ist, den er mit Augen nie gesehen hat, ebenso Gutes gönnt wie dem Menschen, der bei ihm ist und sein vertrauter Freund ist. Solange du deiner Person mehr Gutes gönnst als dem Menschen, den du nie gesehen hast, so steht es wahrlich unrecht mit dir, und du hast noch nie nur einen Augenblick lang in diesen einfaltigen Grund gelugt.« 61

Bei der genaueren Betrachtung dieser Aussage tun sich Fragen auf: Was würde ich sehen, wenn ich in den einvaltigen grunt lugen dürfte? Würde ich ein Allgemeinmenschliches erblicken? – Ich wäre in der ›Erkenntnis‹ eins mit dem einfachen Grund. Hier, im »Innersten des Geistes«, in der »Innenwelt«, »hier ist Gottes Grund mein Grund und mein Grund Gottes Grund. Hier lebe ich aus meinem Eigenen, wie Gott aus seinem Eigenen lebt.« 62 In der gleichen Weise wäre aber auch Pr. 5b; 87,9–88,4: Ich spriche ein anderz und spriche ein swærerz: Swer in der blôzheit dirre natûre âne mittel sol bestân, der muoz aller persônen ûzgegangen sîn, alsô daz er dem menschen, der jensît mers ist, den er mit ougen nie gesach, daz er dem alsô wol guotes günne als dem menschen, der bî im ist und sîn heimlich vriunt ist. Al die wîle dû dîner persônen mêr guotes ganst dan dem menschen, den dû nie gesæhe, sô ist dir wærlîche unreht noch dû geluogtest nie in disen einvaltigen grunt einen ougenblik. 62 Pr. 5b; 90,5–9: Ir sult ez verstân vür die inner werlt. Als wærlîche der vater in sîner einvaltigen natûre gebirt sînen sun natiurlîche, als gewærlîche gebirt er in in des geistes innigestez, und diz ist diu inner werlt. Hie ist gotes grunt mîn grunt und mîn grunt gotes grunt. Hie lebe ich ûzer mînem eigen, als got lebet ûzer sînem eigen. – »Ihr soll es mit Bezug auf die innere Welt verstehen. So wahrhaftig der Vater in seiner einfachen Natur seinen Sohn natürlich gebiert, so wahrhaftig gebiert er ihn in das Innigste des Geistes, und dies ist die Innenwelt. Da ist Gottes Grund mein Grund und mein Grund Gottes Grund. Hier lebe ich aus meinem Eigenen, wie Gott aus seinem Eigenen lebt.« Quint übersetzt ûzer mînem eigenen mit »außerhalb« statt wie ich mit »aus«. Wenige Zeilen später ist der Sinn von ûzer jedoch eindeutig: wan leben lebet ûzer sînem eigenen grunde und quillet ûzer sînem eigene (Pr. 5b; S. 92 f.). Hier übersetzt Quint: »weil das Leben aus seinem eigenen Grunde lebt und aus seinem Eigenen quillt« (DW I, S. 449). 61

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dein oder sein Grund Gottes Grund, und auch du und der Mensch jenseits des Meeres leben aus ihrem Eigenen wie Gott aus seinem Eigenen lebt: »In diesem Wort spricht der Vater meinen Geist und deinen Geist und eines jeden Menschen Geist gleich [mit] demselben Wort. In demselben Wort-Sprechen bist du und [bin] ich ein natürlicher Sohn Gottes wie dasselbe Wort.« 63 Die Betonung des »ich« oder »du« spricht gegen einen Vorzug des Allgemeinen. Es gilt also, genauer zu bestimmen, in welcher Weise Eckhart vom Menschsein und dem die Menschen Verbindenden spricht. Zu einer Präzisierung kann ein Ausschnitt aus der kurzen Predigt 46, ›Haec est vita aeterna‹, beitragen, in dem Eckhart sowohl die Konstitution der Menschheit wie die Realisierung dieses Menschheitlichen durch den Einzelnen diskutiert. Diese Predigt kreist ganz um das Thema: »Wenn der Mensch Gott erkennen soll, worin seine ewige Seligkeit besteht, dann muss er mit Christus ein einziger Sohn des Vaters sein.« 64 Und darum wird gefragt: »Wie soll der Mensch dazu gelangen, dass er ein einziger Sohn des Vaters ist?« 65 Die leibliche Geburt erzeugt viele verschiedene Söhne, aber in der ewigen Geburt kann es nur einen Sohn geben, da es in Gott nur einen natürlichen Hervorgang gibt. 66 Damit ist aber bei Eckhart nicht die Singularität des einen Jesus Christus gemeint, sondern die eine und identische Sohnschaft des »natürlichen« Sohnes Gottes und aller Töchter und Söhne Gottes. Der Einheit des Hervorgangs entspricht die Einheit in der Menschwerdung. ›Menschwerdung‹ meint nicht nur die Menschwerdung des Logos in Christus, sondern auch die ›neue‹, eigentliche Menschwerdung des Menschen, indem er seine Sohnschaft oder Tochterschaft übernimmt. Die Inkarnation besteht nicht in der Annahme d e s Menschen oder dieses MenPr 49; 435,8–10: In disem worte sprichet der vater mînen geist und dînen geist und eines ieglîchen menschen geist glîch dem selben worte. In dem selben sprechenne bist dû und ich ein natiurlich sun gotes als daz selbe wort. 64 Pr. 46; 378,7 f.: Sol der mensche got bekennen, in dem sîn êwigiu sælicheit bestât, sô muoz er ein einiger sun sîn mit Kristô des vaters. 65 Pr. 46; 379,5: Wie sol der mensche hie zuo komen, daz er ein einiger sun sî des vaters? 66 Pr. 46; 378,9–379,2 f.: Wan in gote enist niht wan ein natiurlîcher ursprunc; und dar umbe sô enist dâ niht wan ein natiurlîcher ûzvluz des sunes, niht zwêne, mêr: einer. – »Denn in Gott gibt es nur einen natürlichen Ursprung; und darum gibt es da nur einen natürlichen Ausfluss des Sohnes, nicht zwei, sondern einen.« Der eine natürliche Hervorgang ist nach allgemeiner scholastischer Lehre die Selbsterkenntnis des Vaters im Sohn. Der Hervorgang des Heiligen Geistes entspringt nicht aus der Natur des Vaters, sondern aus dem Willen. 63

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schen, sondern das ewige Wort »nahm eine freie, ungeteilte menschliche Natur an, die bloß war, ohne ein [vermittelndes] Vorstellungsbild; denn die einfache Form der Menschheit ist ohne Bild«. 67 Die menschliche Natur oder die Menschheit ist die Wesensform des Menschen. Wenn hier gesagt wird, sie sei »ohne Bild«, heißt das, sie werde nicht, wie im gewöhnlichen Erkenntnisakt, durch Abstraktion gebildet. Vielmehr wird in der Inkarnation »das Bild des Vaters, das der ewige Sohn ist, zum Bild der menschlichen Natur«. 68 Dadurch ist die menschliche Natur überbildet, das heißt, die natürliche Wesensbestimmung der Menschheit, vernünftige Seele (anima rationalis) zu sein, die den Körper formt, wird überhöht durch die Gottesgeburt in der Seele. »Denn wie es wahr ist, dass Gott Mensch geworden ist, so wahr ist es, dass der Mensch Gott geworden ist.« 69 Die Konstitution der Menschheit als Bild des Vaters, das heißt als der einzige Sohn, besteht darin, dass wir uns nicht mehr in der gleichsam defizienten menschlich-geschöpflichen Natur »nehmen«, sondern »dass ihr euch nach derselben Natur nehmt, die da Gott geworden ist«. 70 Um dahin zu gelangen, müssen alles Zufällige, auch dieser Mensch, insofern er etwas (iht) ist, und alles Nichthafte, das Unterschiede setzt, gelassen werden. Die Abkehr betrifft also dasjenige am einzelnen Menschen, durch das er verschieden vom anderen ist und das zugleich das Eigentümliche ist. Das ist aber nicht das »ich« oder »das Eigene« des individuell charakterisierten Menschen, wie der Fortgang der Predigt zeigen wird. Indem ich dieser und nicht der andere bin, bin ich durch ein Nicht konstituiert. Die Gedankenentwicklung führt also zunächst die gewohnte Reduktion der geschöpflich »zufälligen« Bestimmtheit durch. Aber dieses Abschälen des zufälligen, ontisch Bestimmten öffnet den Raum für das göttliche Wirken oder das »Bild« des Vaters. Dieses wird in der Gottesgeburt übertragen. Das natürliche Menschsein (menscheit) ist demnach durch die Inkarnation »überbildet«.

Pr. 46; 380,1 f.: [Ez] nam an sich eine vrîe, ungeteilte menschlîche natûre, diu dâ blôz was sunder bilde; wan diu einvaltige forme der menscheit diu ist sunder bilde. 68 Pr. 46; 380,4 f.: daz bilde des vaters, daz der êwige sun ist, bilde der menschlîchen nature. 69 Pr. 46; 380,5–381,1: Wan als daz wâr ist, daz got mensche worden ist, als wâr ist daz, daz der mensche got worden ist. 70 Pr. 46; 382,2 f.: [D]az ir iuch nâch der selben natûre nemende sît, diu dâ got worden ist. 67

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9. Wegweiser fr ein neues Selbstverstndnis des Menschen

Im Text der Predigt 46 folgt ein Hinweis auf die Weise, in der sich diese Identität vollzieht: »Seht, der Mensch, der in dieser Weise ein Sohn ist, der nimmt Bewegung und Wirken und alles, was er nimmt, das nimmt er ganz in seinem Eigenen.« Dieser Gedanke wird vertieft: »Und so wie der Sohn dem Sein und der Natur nach eins ist mit dem Vater, so bist du eins mit ihm dem Sein und der Natur nach und hast dies alles in dir, wie der Vater es in sich hat; du hast es nicht von Gott zu Lehen, denn Gott ist dein eigen.« 71 Hier wird also ein Eigenes genannt, das selbstverständlich nicht jene eigenschaft ist, die als »Ich-Bindung« 72 verstanden wird. »Ich« bin nicht nur Gott eigen, sondern in meinem Eigenen ist mir Gott eigen. 73 Dieses Eigene ist zugleich das Innere, das Eckhart oft mit dem Grund des Lebendigen gleichsetzt. Es lässt sich also deutlich eine Doppelstruktur sowohl des Ich wie des Eigenen im Sprachgebrauch Eckharts herausschälen: Ein zu lassendes Ich oder ein zufälliges Eigenes und ein wesentliches Ich, das, wie im Zitat die Anrede zeigt, dein und mein Eigenes ist. Dessen ontologische oder phänomenologische Wesensart muss noch bestimmt werden. Zusammenfassend gilt: Es ist also nicht die durch die metaphysische Abstraktion bestimmte allgemeine Menschheit, die durch die Sohnschaft in die Einheit des einzig Einen eingeht, sondern das von Eckhart neu bestimmte Wesen des Menschseins, durch das jeder einzelne Mensch (»ich«) der eine Sohn, die eine Tochter Gottes ist. 74 Damit kommt das Menschsein in einer transzendentalen Individualität zur Vollendung. Pr. 46; 383,1 f.: Sehet, der mensche, der alsô ein sun ist, der nimet bewegunge und würkunge und allez, daz er nimet, daz nimet er allez in sînem eigene. Pr. 46; 383,6–8: Und alsô als der sun ein ist mit dem vater nâch wesene und nâch natûre, alsô bist dû ein mit im nâch wesene und nâch natûre und hâst ez allez in dir, als ez der vater hât in im; dû enhâst ez von gote ze lêhene niht, wan got ist dîn eigen. 72 So übersetzt z. B. Quint, DW I, in Pr. 1; 11,5, hier S. 430, und Pr. 2; 25,8, hier S. 434. 73 Vgl. Pr. 14; 239,13 f. 74 Auf diesen Umstand fällt ein bezeichnendes Licht durch eine Argumentation, die Johannes Hiltalingen von Basel berichtet. Inkriminiert ist Eckharts Satz, Votum dom. Ben., S. 564,124–127: Quidquid deus pater dedit filio suo unigenito in humana natura, hoc totum dedit mihi. Hic nihil excipio, nec unionem nec sanctitatem, sed totum dedit mihi sicut sibi. – »Was immer Gott Vater seinem eingeborenen Sohn in der menschlichen Natur gegeben hat, das hat er ganz mir gegeben. Hiervon nehme ich nichts aus, weder die Vereinigung noch die Heiligkeit, sondern er hat mir alles so gegeben wie ihm.« Der Satz ist ein Exzerpt aus Pr. 5a; 77,11–17; vgl. Responsio I n. 61; 219,1–19. Eckhart rechtfertigt diese These laut Johannes von Basel, De decem quaestionibus, q. 1 unter anderem so: Votum dom. Ben., S. 565,134–144: Constat etiam quod deus assump71

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III. Phnomene des Menschseins

Für diesen Vollendungszustand nimmt Eckhart das Beispiel des Paulus, der schrieb: »Ich habe gewünscht, selber verflucht und von Christus getrennt zu sein um meiner Brüder willen, die doch dem Fleisch nach mit mir verwandt sind« (Röm. 9,3). 75 Wir erfahren, dass in dieser Selbstentäußerung die Aufgabe jeglicher Habensstruktur liegt, in der man Gott haben oder von ihm etwas haben könnte, ja auch davon, sich selbst zu finden. Und doch ist es jener Stand, in dem der Mensch wahrer Mensch ist, ein letztes Eines ohne jede Beeinträchtigung: »Das Höchste und das Wesentlichste, das der Mensch lassen kann, ist, dass er Gott um Gottes willen lässt. Damit ließ Paulus Gott um Gottes willen; er ließ alles, was er von Gott haben konnte, und ließ alles, was ihm Gott geben konnte, und alles, was er von Gott empfangen konnte. Als er das ließ, da ließ er Gott um Gottes willen, und da blieb ihm Gott, wie er ein Ist seiner selbst ist, sit naturam humanam in atomo, Christo scilicet, supposito propter naturam salvandam communem mihi et omnibus hominibus. […] Ex quibus tamen non sequitur, ut imperiti putant, quod ego aut alius quis purus homo totum acceperit perfectionis, quidquid Christus habuit. – »Es steht auch fest, dass Gott die menschliche Natur in Adam, das heißt in Christus angenommen hat, um die N a t u r zu heilen, d i e m i r u n d a l l e n M e n s c h e n g e m e i n s a m i s t . […] Daraus folgt dennoch nicht, wie die Unkundigen meinen, dass ich oder ein anderer als reiner Mensch das Ganze der Vollkommenheit empfangen hätte, das Christus hatte« (vgl. Responsio I n. 139 f.; S. 299,9–300,10). Diese Begründung wird von dem späteren Papst Benedikt XII., dem Kardinal Fournier, in seinem Gutachten gegen Eckhart mit dem Argument zurückgewiesen, dass es eine allgemeine menschliche Natur realiter nicht gebe, Votum dom. Ben., S. 565,145–153: Sed re vera secundum expositionem et sonum verborum haec falsa sunt et haeretica, nec valet aliquid quod pro se inducit de natura communi, cum nulla res talis sit omnibus hominibus communis, sed esse specificum sit solum secundum cogitationem conceptum vel considerationem recipitur, et sic non posset esse vera assumptio, sed potius fictitia. Sed verbum sic assumpsit individuam Christi naturam, quod nullo modo meam. – »Aber in Wahrheit ist dies nach seiner Auslegung und dem Wortlaut falsch und häretisch, und es kann nichts gelten, was er für sich über die gemeinsame Natur anführt, da es eine solche allen Menschen gemeinsame Sache nicht gibt, da sie [die Natur] vielmehr ein spezifisches Sein ist, das nur im Denken begriffen und durch Überlegung angenommen wird und da es so [in einer gemeinsamen Natur] keine wahre Annahme der Menschennatur geben könnte, sondern nur eine fiktive. Aber das Wort [Gottes] hat die individuelle Natur Christi so angenommen, dass sie in keiner Weise meine ist.« Der Gutachter lehnt also ab, dass das Einigungsmoment in der abstrakten allgemeinen Menschennatur liegen könnte, ohne zu begreifen, dass Eckhart von einer durch die Sohnschaft »überbildeten« Natur spricht. Jedoch stimmt die Kritik darin mit Thomas von Aquin überein. 75 Röm. 9,3: Optabam enim ego ipse anathema esse a Christo pro fratribus meis, qui sunt cognati mei secundum carnem.

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9. Wegweiser fr ein neues Selbstverstndnis des Menschen

nicht nach einem Empfangen seiner selbst noch nach einem Gewinnen seiner selbst, sondern in einer Istheit, die Gott in sich selbst ist. Er gab Gott nie etwas noch erhielt er je etwas von Gott. Es ist ein Eines und eine reine Einung. Darin ist der Mensch wahrer Mensch, und in diesen Menschen fällt kein Erleiden, so wenig wie Erleiden [Passivität] in göttliches Wesen fallen kann.« 76

Das Höchste und Eigenste des Menschen ist also niemals bestimmt durch ein irgendwie Anderes, und sei es Gott oder Menschsein entsprechend einer definitorischen Fremdbestimmtheit. »Alles, was du nimmst, das nimmst du in deinem Eigenen; und was du nicht in deinem Eigenen nimmst, solche Werke sind sämtlich vor Gott tot. Das sind die Werke, zu denen du durch fremde Ursachen außerhalb deiner bewegt wirst, denn sie kommen nicht aus dem Leben: Darum sind sie tot; denn [nur] das Ding lebt, das Bewegung aus seinem Eigenen nimmt. Und so denn: Wenn des Menschen Werke leben sollen, so müssen sie aus seinem Eigenen genommen werden, nicht von Fremdem noch von außerhalb seiner, sondern in ihm.« 77

Eckhart spielt hier auf die Motivation der Werke an, die sogar äußerlich bleibt, wenn sie Gottes zuliebe getan werden. 78 Lebendig ist nur, was aus sich selbst, also von innen bewegt wird. Demnach gilt auch in der Ethik der Ausschluss der Wirk- und der Finalursache. Von innen bewegt ist nur, was unmittelbar durch die Tugend selbst, in Eckharts Texten vor allem durch die »Gerechtigkeit« »überbildet« wird, das heißt, was durch die causa essentialis in unmittelbarem Kontakt geprägt Pr. 12; 196,6–197,8: Daz hœhste und daz næhste, daz der mensche gelâzen mac, daz ist, daz er got durch got lâze. Nû liez sant Paulus got durch got; er liez allez, daz er von gote nemen mohte und liez allez, daz im got geben mohte, und allez, daz er von gote enpfâhen mohte. Dô er daz liez, dô liez er got durch got, und dô bleip im got, dâ got istic ist sîn selbes, niht nâch einer enpfâhunge sîn selbes noch nâch einer gewinnunge sîn selbes, mêr: denne in einer isticheit, daz got in im selber ist. Er gap gote nie niht, noch er enpfienc nie niht von gote; ez ist ein ein und ein lûter einunge. Hie ist der mensche ein wâr mensche, und in disen menschen envellet kein lîden, als wênic als in götlich wesen gevallen mac. 77 Pr. 46; 382,9–384,4 f.: Und alsô: allez, daz dû nimest, daz nimest dû in dînem eigene; und swaz werke dû niht ennimest in dînem eigene, diu werk sint alliu tôt vor gote. Daz sint diu werk, dar zuo dû ûzer dir beweget bist von vremden sachen, wan sie engânt von lebene niht: dar umbe sint sie tôt; wan daz dinc lebet, daz bewegunge nimet von sînem eigene. Und alsô: suln des menschen werk leben, sô müezen sie genomen werden von sînem eigene, niht von vremden dingen noch ûzer im, sunder in im. 78 Vgl. Pr. 39; 254,1–3 und die weiteren Parallelen zur Stelle. 76

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wird. 79 Das innere Werk aber ist sowohl Gottes als auch das eigene des Menschen. 80 Solche Hinweise auf das Eigene des Menschen sowie Eckharts Äußerungen über das Ich präzisieren die Fragestellung. Das Problem lautet: Wie gehen die Menschheit und das Eine oder Einzelne zusammen? Die Antwort heißt: Im »ich«. Es scheint nicht, dass Eckhart ein Konzept der Individualität mitgeteilt hätte. Doch Eckhart spricht vom Einzelnen und spricht den Einzelnen an. Auch im ›Kommentar zum Johannesevangelium‹ hebt er hervor, dass jenes »Wir«, in dem wir Söhne Gottes sind, nur Bedeutung hat, wenn es mich in meiner eigenen Person einschließt: »Denn wenig bedeutete es mir, dass das Wort für die Menschen Fleisch wurde in Christus, jener von mir verschiedenen Person, wenn es nicht auch in mir persönlich [Fleisch annähme], damit ich Gottes Sohn wäre.« 81 Die Aussage ist insofern bedeutsam, als sie zeigt, dass die Ich-Aussagen in den deutschen Predigten, die Eckharts Einheitskonzept formen, nicht nur rhetorische Emphase sind. Auch dem akademisch gebildeten Fachpublikum sagt er, dass nicht ein Abstraktallgemein-Menschheitliches Gottes Sohn ist, sondern dass »ich« es bin. Diese mühsame begriffshistorische Auseinandersetzung mag klingen, als sei sie von bloß fachgelehrtem Spezialisteninteresse. Sie musste aber so gründlich exegetisch durchgeführt werden, weil damit eine These berührt wird, die in der Eckhartinterpretation umstritten ist, nämlich die Frage, inwiefern Eckharts Ich-Aussagen eine VorwegnahDieser Gedanke wird von Eckhart des Öfteren ausgelegt, besonders im Johanneskommentar, z. B. In Ioh. n. 307; 255,1–256,2; vgl. ebd. n. 583–586; 510,7–513,13. 80 Vgl. Pr 5a; 80,23–81,5: Wir mugen und müssen uss unserm aigen wúrken uon innan. Súllen wir denn leben in im oder durch in, so sol er unser aigen sin und súllen wir uss unserm aigen wúrken; also als got alle ding wúrkt uss sinem aigen und durch sich selber, also súllen wir uss demm aygen wúrken, das er ist in uns. Er ist all zumaul unser aygen, und alle ding sind unser aigen in im. – »Wir können und müssen aus unserm Eigenen von innen wirken. Sollen wir in oder durch ihn leben, so soll er unser Eigen sein, und wir sollen aus unserm Eigenen wirken; wie Gott alles aus seinem Eigenen wirkt und durch sich selbst, so sollen wir aus dem Eigenen wirken, das er in uns ist. Er ist ganz und gar unser Eigen, und alles ist in ihm unser Eigen.« 81 In Ioh. n. 117; 101,14–102,2: Parum enim mihi esset ›verbum caro factum‹ pro homine in Christo, supposito illo a me distincto, nisi et in me personaliter, ut et ego essem filius dei. Wenig später wird mithilfe der Spiegelmetapher erklärt, dass jeder einzelne (singuli) durch e i n Bild gerecht wird (n. 119; 104,10–12), oder es heißt, dass »in einem jeden von uns Gottes Sohn Mensch wird (in quolibet nostrum filius dei fit homo, n. 118; 103,13). Vgl. auch Pr. 75; 300,7–301,2 und Pr. 101; 336,4 f. 79

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9. Wegweiser fr ein neues Selbstverstndnis des Menschen

me des Ich-Denkens im Idealismus des 19. Jahrhunderts, besonders bei Fichte und Schelling, enthalten. Es ist unverkennbar, dass die hier vorgelegte Deutung eine solche Affinität nahelegt. Gleichwohl soll die These nicht philosophiehistorisch oder komparatistisch untersucht werden, sondern durch eine gründliche Lektüre und intensive Interpretation. Darin gilt es zu untersuchen, wie Eckharts Ich-Rede in ein modernes Verständnis nicht des allgemeinen, sondern ›meines und deines‹ Menschseins transponiert werden kann. Das soll im folgenden Kapitel geschehen.

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Zehntes Kapitel Was sagt Eckhart, wenn er »ich« sagt?

Eckharts Rede vom Ich Wenn Eckhart vom Ich redet, sind zwei Modi zu unterscheiden: Er spricht ü b e r das Ich im Sinne einer Definition, und andererseits sagt er »ich«, wenn er von sich selbst spricht. In der Predigt 77, ›Ecce mitto angelum meum‹, 1 gibt er eine Definition des Pronomens »ich, ego«: »Das Wort ›ich‹ bedeutet die Istheit der göttlichen Wahrheit; denn es ist der Hinweis auf ein ›Ist‹.« 2 Eckhart hätte leicht sagen können, das »ich« bezeuge Gottes »Sein«; aber er wählt hier wohl absichtsvoll die substantivierte Prädikatsform: »Ist«. ›Gott ist das Sein oder Gott existiert‹, diese Sätze prädizieren etwas von Gott, als ob Sein oder Existieren eine zum Wesen gehörige Eigenschaft Gottes wäre. Hingegen kann »ich« in der direkten Rede nicht als Prädikat verwendet werden. »Ich« ist nur die Anzeige einer Identität: »Ich bin es, der redet.« Es sagt für sich selbst kein Was aus, anders als Sein oder Existieren. Indem also Eckhart durch »ich« ein »Ist« angezeigt wissen will, sagt er, dass nicht ein allgemeiner Wesensbestand gemeint ist, sondern ein konkret einSiehe dazu Beccarisi, Alessandra: Predigt 77: ›Ecce mitto angelum‹. Pr. 77; 339,5 f.: Und alsô meinet daz wort ›ich‹ die isticheit götlîcher wârheit, wan ez ist ein bewîsunge eines istes. Beccarisi, Alessandra: Predigt 77: ›Ecce mitto angelum‹, S. 97,14–16 übersetzt: »Und so meint das Wort ›ich‹ die ewige Rückwendung göttlicher Wahrheit auf sich selbst, denn es (= das ›ich‹) ist die Bezeugung eines ewig auf sich selbst Rückgewandten.« Ähnlich die weiteren Übersetzungen von isticheit, istic. Dieser ausschließlichen Inanspruchnahme des Begriffs isticheit für die Intellekttheorie kann ich nicht zustimmen; sie hat ihr Verständnis begründet in Beccarisi, Alessandra: Philosophische Neologismen zwischen Latein und Volkssprache. istic und isticheit bei Meister Eckhart und Beccarisi, Alessandra: Isticheit nach Meister Eckhart. Wege und Irrwege eines philosophischen Terminus. Isticheit hat zweifellos auch eine ontologische Bedeutung, freilich im Sinne der »Identitätsvermischung« (McGinn, Bernard: Die Mystik im Abendland, Bd. 4: Fülle, S. 208–220), die in der Sicht des »Grundes« mitgegeben ist.

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10. Was sagt Eckhart, wenn er »ich« sagt?

malig-einziges ›Nun‹. Dass Gott von sich »ich« und »ist« sagt, das heißt, »dass er allein i s t « 3 , er allein, das heißt, nur er i s t , und er ist nichts anderes als i s t ; aber auch alles, was i s t , ist in Wahrheit Gott. Hier wird ein reines Prinzip angesprochen, das durch sich und für sich i s t , also kein so oder so Seiendes, weder Objekt noch Subjekt, die immer im Bezug aufeinander bedingt sind. Dieses reine »I s t « lebt, das heißt bewegt sich aus sich selbst, ohne aus sich herauszutreten. Das meint: »Ist« sagt »ich«. Von einem witzigen, wenngleich sprachgeschichtlich fragwürdigen Vorschlag berichtet McGinn, danach könnte man isticheit als »Ist-ich-heit« (is-me-ness) verstehen. 4 Das heißt wiederum, wie oben schon problematisiert wurde: Das Sein Gottes als »ist« ist kein Allgemeines, insofern das Allgemeine das durch Abstraktion gewonnene Gemeinsame des Verschiedenen ist. Es ist das Einzige (und) Universelle. 5 So kann aber auch das »Sein« des Menschen als »ich« kein Allgemeines sein. Eckhart sagt: »Obwohl Martin als Einzelwesen Mensch ist, ist er als Einzelner, das heißt als Martin, nicht mitteilbar, doch als Mensch ist er mitteilbar.« 6 Marie3 Pr. 77; 339,6: […] wan ez ist ein bewîsunge eines istes. Darumbe bewîset ez, daz er aleine ist. 4 McGinn, Bernard: Die Mystik im Abendland, Bd. 4: Fülle, S. 163. Dort heißt es in Anm. 50: »Wackernagel (›The Aphorisms‹, 33) meint, man könnte das Wort im Englischen als ›is-me-ness‹ (ist-ich-cheit) wiedergeben, was hier für die deutsche Übersetzung übernommen wurde.« Die Angabe ›The Aphorisms‹ bezieht sich auf Wackernagel, Wolfgang: Some legendary aspects of Meister Eckhart: The Aphorisms of the twelve masters, in: Eckhart Review, 1998, 30–41. 5 Vgl. In Ex. n. 147; 132,8–133,9: Quarto: »grandis est huius nominis cura loquendi et timida in ipso, quia significat substantiam creatoris, in qua significatione non participat cum aliquo suorum creatorum«. Propter quod »sapientes« Hebraeorum dicunt hoc »nomen« »separatum« deo simpliciter tamquam proprium et singulare. Unde et Thomas [›Summa theologiae‹] p. I q. 13, a. 11 dicit »quod nomen tetragrammaton est impositum ad significandum ipsam dei substantiam incommunicabilem et, ut sic liceat loqui, singularem.« – »Viertens: ›Erhaben und voller Scheu ist die Sorgfalt, mit der man diesen Namen [JAHWE] aussprechen muss, weil er das Wesen des Schöpfers bezeichnet und damit dasjenige, worin Gott mit keinem seiner Geschöpfe etwas gemeinsam hat.‹ Deswegen sagen die ›gelehrten‹ Juden, dieser Name sei Gott schlechthin ›vorbehalten‹ [Maimonides] gleich einem einmaligen Eigennamen. Darum sagt auch Thomas [in seiner ›Summa theologiae‹], p. I, q. 13, a. 11: ›Das Tetragramm ist Gott als Name beigelegt worden, um sein nicht mitteilbares und, wenn man so sagen darf, einmaliges Wesen selbst zu bezeichnen.‹« 6 In Gen. II n. 216; 440,5–7: Licet Martinus, singulare suppositum, sit homo, singulare tamen, Martinus scilicet, est incommunicabile, homo communicabile. – »Obwohl Martin, diese einzelne Person, Mensch ist, so ist doch sein Einzel(-sein), das (im Eigen-

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III. Phnomene des Menschseins

Anne Vannier knüpft an dieses Zitat die folgende bedenkenswerte Bemerkung an: »Eckhart unterzieht hier auf seine Weise die Definition von Richard von St. Viktor einer Relektüre, derzufolge ›eine göttliche Person eine nicht mitteilbare Existenz des göttlichen Wesens ist‹. Martin hat Teil an diesem Mysterium; er hat etwas vom Nicht-Mitteilbaren in sich, eben das Etwas in der Seele.« 7

Als absolutes Sein ist Gott von allen Dingen ungetrennt, und so ist er alle Dinge. 8 Und wenn der Mensch an und für sich nichts ist, so ist er [bist dû] ebenfalls »alles und ungetrennt von allen Dingen«; und so »bist du Gott und alle Dinge«. 9 Das heißt aber nicht, dass sich Gott, ich und die Dinge ein gemeinsames Sein teilen, sondern dass sie im Prinzip, in principio, und das heißt im Sohn, also in der Geburtsbewegung eins sind. Prinzipsein begründet bei Eckhart nicht teilhaben oder gleich sein lassen, sondern Identität. Dieser Begriff steht in Spannung mit dem der Individualität. Dieses Problem veranschaulicht Eckhart am Beispiel eines Künstlers, der ein Bild von einem Menschen machen will. 10 Er fertigt kein Bild von Konrad oder von Heinrich; denn das Bild von Konrad wäre nicht das von Heinrich noch das des Menschen. »Nun kann und versteht Gott alles in allem, und darum hat er dich ihm gänzlich gleich gemacht und zu einem Bild seiner selbst.« 11 Ebenso macht der göttliche ›Bildhauer‹ sicher auch sein Bild des Konrad oder Heinrich zum Bild Gottes. Jeder Einzelne ist das Bild Gottes. Alessandra Beccarisi – sie sei hier stellvertretend zitiert – folgert jedoch: »In diesem Bild wären Heinrich, Konrad und der Meister nicht in ihrer Individualität dargestellt, sondern in ihrer gemeinsamen Identität abgebildet. Daraus ergibt sich, dass es nicht mehr möglich wäre, einen namen) Martin (zum Ausdruck kommt), nicht mitteilbar, während sein Mensch(-sein) mitteilbar ist.« (Übers. v. Konrad Weiß in LW I,1; S. 692). 7 Vannier, Marie-Anne: Eckhart und die Frage nach dem Subjekt, S. 20. 8 Pr. 77; 340,2 f.: Alsô ist got ungescheiden von allen dingen. 9 Pr. 77, 340,5–7: Wan, als verre dû niht enbist an dir selben als verre bist dû alliu dinc und ungescheiden von allen dingen. Dar umbe: als verre dû ungescheiden bist von allen dingen, als verre bist dû got und alliu dinc. – »Denn soweit du an dir selbst nichts bist, so weit bist du alles und ungetrennt von allen Dingen. Darum, soweit du von allen Dingen ungetrennt bist, so weit bist du Gott und alle Dinge.« 10 Pr. 77; 342,5–343,2. 11 Pr. 77; 342,11: Nû mac got alzemâle und kan, und dar umbe sô hât got dich im alzemâle glîch gemachet und ein bilde sîn selbes.

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10. Was sagt Eckhart, wenn er »ich« sagt?

Unterschied zwischen den drei Menschen zu erkennen.« Der Mensch ist zwar Gottes Bild, jedoch: »Dieses Bild schließt den Menschen als Individuum aus, schließt aber alle Menschen nach ihrer Identität, das heißt als Intellekt ein.« 12 Das ist jedoch mit der Weise, in der Eckhart von sich »ich« sagt, nicht kompatibel. Sowohl die Begriffe Individualität wie Identität sind hier unterbestimmt. Ausgeschlossen ist eine Individualität, die von den Eigenschaften der Person her bestimmt wäre. Gemeinsam ist allen Menschen ihre ontologische Identität mit Gott und im Intellekt, sofern das Oberste der Seele eins mit Gott ist. Das ist nicht zu bezweifeln. Offen bleiben aber die folgenden Fragen: Kann Individualität nur als Eigenschaftsbestimmtheit der Person gedacht werden? Ist der einzelne Mensch nicht mehr in Bezug auf den anderen identifizierbar, wenn ›er‹ mit Gott identisch ist? Ist ›er‹ als Einzelner überhaupt mit Gott identisch oder ›nur‹ seine »Istheit« oder sein intellectus, sofern »er«, »du« oder »ich« überhaupt von der Istheit oder von dem intellectus getrennt werden können? Wäre dann etwa meine isticheit doch nur ein Teil von mir, wenn auch der wesentliche? Meint Identität, so verstanden, Wesensgleichheit und nicht Individualität? Aber was für eine Identität wäre das? – Die Gleichheit der einzelnen Söhne mit dem Ursohn Christus erläutert Eckhart am Beispiel des geprägten Siegels, dessen Form bei jedem Stempeln identisch ist, obwohl jedes Pergamentblatt ein anderes ist. 13 Hier kehren sich die Bezüge der Gleichheit und Verschiedenheit um: Das Bild ist dasselbe (non alius), die Trägersubstanz ist verschieden (aliud). Die Analogie Gott/Bild = Siegel/Pergamentabdruck in Eckharts Gleichnis ist konsistent, wenn nur die gemeinsame Identität des Siegels im Blick ist, die Individualität des Stempels aber nur als zufällige materielle Zerstückelung betrachtet wird. Ist die Individualität des Sokrates durch die Differenz der Materie bestimmt, wie zum Beispiel Thomas von Aquin lehrt? Wenn es aber um die Beziehung des einzelnen Menschen zu Gott geht, sagt jeder Einzelne mit Eckhart – im Bild gesprochen jeder Stempelabdruck – »ich«, und er sagt zum anderen »du«. In Bezug auf Gott, oder besser: von Gott her gedacht, müssen wir zweifelsohne von einer gemeinBeccarisi, Alessandra: Predigt 77: ›Ecce mitto angelum‹, S. 114. Votum Aven. n. 72; 581,19 f.: […] sicut uno sigillo formantur multae membranae et una facie generantur multae imagines plurium speculorum. – »[…] wie durch ein Siegel viele Pergamentblätter gestempelt und von einem Gesicht viele Bilder in zahlreichen Spiegeln erzeugt werden.«

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samen Identität sprechen. Aber was besagt dies für den Einzelnen? Er soll gewiss seine persönliche Unterscheidung aufheben; aber werde »ich« zu einem Allgemeinen, wenn ich die biologisch-psychologisch differenzierenden Besonderheiten einklammere? Eine hilfreiche Bestimmung des »Ich« lautet in der Definition der Predigt 77: »Das Wort ›ich‹ deutet auf eine Vollständigkeit der Benennung ›ich‹ hin, denn es ist kein Eigenname: Es steht für einen Namen [als Pronomen] und für die Vollkommenheit [Vollständigkeit] des Namens und meint eine Unbeweglichkeit und Unberührbarkeit, und deshalb weist es darauf hin, dass Gott unbeweglich und unberührbar und eine ewige Stetigkeit ist.« 14

Eckharts Definition des Ich als Pronomen gibt sicher keine ontologischphänomenologische Letztbestimmung der Ipseität Gottes und des je einzelnen Lebendigen. Aber die semantische und performative Bestimmung der Ich-Funktion gibt einen Anhalt für die sachliche Reduktion des »Ich« in seiner Personalität und Eigenschaftlichkeit. Das in Eckharts Sinn transzendentale »ich« entspringt hingegen, wie gezeigt, aus seiner Geburtlichkeit, nicht aus einer hinlänglichen Reduktion oder Deduktion. 15 Die Begriffe Vollkommenheit, Unbeweglichkeit, Unberührbarkeit, Stetigkeit kommen hier dem wahren Ich, und das ist Gott, in seiner ontologischen Wesenheit zu. Für das Pronomen »ich« könnten dafür etwa die Analoga Eindeutigkeit, Singularität, Unaustauschbarkeit (in der direkten Rede) stehen. Sie schließen das Allgemeine aus und deuten auf ein Einmaliges hin. Selbst wenn das Pronomen seinem eigenen Bedeutungsgehalt nach leer und allgemein zu sein scheint, insofern es viele Realisierungen zulässt: In seinem Gebrauch ist es ein Bezugswort und kann darum nicht selbstständig sein. Pr. 77; 340,10–341,1: Ze dem dritten sô meinet daz wort ›ich‹ umbe etwaz volkomenheit des namen ›ich‹, wan ez enist kein eigen name: ez ist umbe einen namen und umbe volkomenheit des namen und meinet eine unbewegelicheit und unberüerlicheit, und dar umbe meinet ez, daz got unbewegelich und unberüerlich ist und êwigiu stæticheit ist. 15 Insofern wäre die Kritik von Kühn, Rolf: Ungeteiltheit – oder Mystik als Ab-Grund der Erfahrung, S. 11, Anm. 71 an meinem Gebrauch der Performanz des »ich« berechtigt, wenn damit von dem sprachlichen »ich« auf das metaphysische Ich der Einheit geschlossen würde. Sein Hinweis bezieht sich auf einen Abschnitt meines Aufsatzes Witte, Karl Heinz: Eckhart lesen und mit ihm leben. Untersuchungen zum Selbstverständnis des Menschseins und zum Ich-Sagen Eckharts, in: Meister-Eckhart-Jahrbuch 7 (2013), im Druck. 14

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10. Was sagt Eckhart, wenn er »ich« sagt?

Konkret bin »ich« insofern das einzig Eine, als mit diesem Wort einzig und allein und unverwechselbar »ich«, der Sprecher dieses Satzes, bezeichnet bin. Ontologisch kann in dieser Ausschließlichkeit nur Gott von sich »ich« sagen, sofern er den Rang des Vollkommenen hat: »›Ich‹ ist das Pronomen der ersten Person. Als unterscheidendes Pronomen kennzeichnet es die reine Substanz, ich sage: die reine, ohne jede Beifügung, ohne alles Fremde, die Substanz ohne Qualität, ohne diese oder jene Form, ohne Dies oder Das. Dies aber kommt Gott und ihm allein zu, der über dem Akzidens ist, über der Art, über der Gattung. Ich sage: ihm allein. Darum sagt er im Psalm: ›Einzigartig bin ich‹.« 16

»Substanz ohne jede Eigenschaft«: Das wäre in moderner Sprache das reine Subjekt. Genauer: Es ist die zutreffende Bestimmung des »ich« als des Sprechers in der ersten Person. Mag also das Ich-Sein ontologisch nur Gott zukommen, so ist doch im Sprechakt und darüber hinaus im Denkakt jedes »ich« ein Einzelnes. Dieses Ich existiert allerdings nicht als Substanz; denn dann müsste es als welthaftes Seiendes Eigenschaften haben. Eine reine Substanz ist nur Gott. Das Pronomen »ich« bezieht sich hingegen auf keine Washeit; da es kein Name ist, hat es keine Definition. Im Satz: »Ich bin ich« ist die Doppelheit der Bedeutung des »Ich« ablesbar. Dem Subjekt »ich« kommt für sich keine Bestimmtheit zu; das Prädikat »ich« weist in der deutschen Sprache jedoch auf die bestimmte Person hin. Das Englische und das Französische setzen an dieser Stelle »me« und »moi«. Mich als »Ich«-Sagenden gibt es nur im Vollzug des Sprechens. Freilich gibt es auch eine Art »Ich«-Tun; denn bei allen Akten des Denkens, Wollens, Fühlens und Handelns gibt es ein begleitendes, präreflexives Wissen, dass »ich« es bin, der denkt, fühlt und handelt. Blicken wir zurück auf die oben (im zweiten Kapitel) entwickelte Frage, was Eckharts Problemstellung ›fürs Leben‹, das heißt für ein alternatives Selbstverständnis besagt. Das einzig Eine ist ›das Ich‹ des Menschen, sofern es mit der Einzigkeit Gottes identisch ist. Das Pronomen ist aber kein Substantiv. Dieses »ich« als Subjekt kann streng genommen nur von sich selbst sprechen. So gesehen ist die IndividuaIn Ex. n. 14; 20,3–8: Li ›ego‹ pronomen est primae personae. Discretivum pronomen meram substantiam significat: meram, inquam, sine omni accidente, sine omni alieno, substantiam sine qualitate, sine forma hac aut illa, sine hoc aut illo. Haec autem deo et ipsi soli congruunt, qui est super accidens, super speciem, super genus. Ipsi, inquam, soli. Propter quod in Psalmo ait: ›singulariter sum ego‹.

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III. Phnomene des Menschseins

lität keineswegs etwas Zufälliges, das der Reduktion, der Selbstverleugnung, dem Lassen und abescheiden anheimfällt. Das Universelle hat nur in der individuellen Brechung Bedeutung. Deshalb sagt Eckhart: »Dass die Geburt [des Gottessohnes durch Maria] überhaupt geschieht, was hilft mir das, wenn sie nicht in mir geschieht. Aber dass sie in mir geschieht, daran liegt alles.« 17 Oder: »Was hülfe es mir, dass Maria voll der Gnaden wäre, wenn ich nicht auch voll der Gnaden bin? Und was hülfe es mir, dass der Vater seinen Sohn zeugt, wenn ich ihn nicht auch zeuge?« 18 Hier geht es um die individuelle, ja, sagen wir ›ich-liche‹ Aneignung der ›Heilstatsachen‹. Aber es handelt sich nicht nur um einen Aufruf zu besonderer Innerlichkeit und persönlichem Engagement. Eckharts Ich-Aussagen haben eine grundsätzliche Bedeutung, die das Gottesverhältnis des Menschen bestimmt. Weder die Heilsökonomie noch die Geburt Gottes im Herzen des Menschen betrifft den allgemeinen Menschen, sondern »mich«. Man kann nicht ü b e r d a s Ich sprechen, ohne es zu einem Objekt zu machen. Das heißt: Die hier angesprochene Erfahrung des Menschseins als des einzig Einen gibt es nur in der ersten Person, als ich, für mich. Eckhart aber sagt: »Dass die Gottesgeburt in mir geschieht, daran liegt alles.« Wir dürfen diesen Satz so verstehen: Es liegt alles daran, dass die Gottesgeburt in jedem Menschen als »ich« geschieht. Das Heil, das heißt in Eckharts Sinn die »Gerechtigkeit«, ist keine objektive Tatsache. Es kann nicht den Anderen, den Vielen oder Wenigen überlassen bleiben. Es kommt auf ›mich‹ an; das aber heißt nun keineswegs auf mein eigenschaftliches, persönlich gebundenes ›subjektives‹ Verstehen, Können und Wollen, sondern auf »mich« in einer unbedingten, letztgültigen Weise. Eckhart nennt diese Weise: »wie ich war, als ich nichts war«. 19 Diese Formulierung findet sich an einer Stelle in Predigt 2, ›Intravit Iesus in quoddam castellum‹, wo Eckhart diese Seinsweise abhebt vom alltäglichen, geschöpflich empirischen Status. Diese Stelle wurde zuvor schon zitiert und kommentiert. 20 Er diskutiert den Einwand: Wenn der Mensch geboren ist und in seinem vernünftigen Leben fortgeschritten Pr. 101; 336,4 f.: Daz disiu geburt iemer geschehe und aber in mir niht engeschihet, waz hilfet mich daz? Aber daz si in mir geschehe, dâ liget ez allez ane. 18 Pr. 75; 300,7–301,2: Waz hülfe mich, daz Marîâ gnâden vol wære, ich enwære denne ouch gnâden vol? Und waz hülfe mich, daz der vater sînen sun gebære, ich engebære in denne ouch? 19 Pr. 2; 26,3: als ich was, dô ich niht enwas. 20 Siehe oben S. 152 f., Anm. 44. 17

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10. Was sagt Eckhart, wenn er »ich« sagt?

ist, dann hat er doch viel Wissen, zahlreiche Ideen gesammelt, das heißt viele Vorstellungen: Wie kann er dann so frei von allen Vorstellungen sein, dass er im geistlichen Sinne Jungfrau heißen kann, dass er ist, »wie er war, als er nichts war?« 21 Diese Frage betrifft den natürlichen Zustand, in dem auch unser Ich geformt, von Eigenschaften und lebensgeschichtlichen Einflüssen geprägt ist. Eckhart diskutiert in seiner Antwort die Möglichkeit, von all diesen empirisch sozio-psychologischen Bedingungen abzusehen. Er spricht einen Zustand der reinen Vernunft an, in dem ich sein könnte: »Wäre ich so vernünftig, dass alle Vorstellungen in der Weise der Vernunft in mir stünden, [und zwar alle Vorstellungen] die alle Menschen jemals gebildet haben sowie die [Schöpfungsideen, die] in Gott selbst sind; und hegte ich sie ohne ›Eigenschaft‹ [also ohne sie mir zuzurechnen], sodass ich keine dieser Vorstellungen mit ›Eigenschaft‹ [als mein Eigentum] in meinem Tun und Lassen ergriffen hätte, [also] ohne Vor oder Nach, sondern stünde ich in diesem gegenwärtigen Nun frei und ledig da, und [bereit], den liebsten Willen Gottes ohne Unterlass zu tun: wahrlich, dann wäre ich ›Jungfrau‹, ohne dass mich alle solche Vorstellungen behindern könnten, wahrlich so [ohne Behinderung durch Vorstellungen], wie ich war, als ich nichts war.« 22

Eckharts These steht hier im Konjunktiv. Es muss gefragt werden, in welcher Weise es eine so bedingungslose, zeitlose, freie Seinsweise ›gibt‹, die zwar den konkreten Realitätsbezug durch Vorstellungen enthält, davon aber ungetrübt bleibt.

Pr. 2; 24,8–25,5: Juncvrouwe ist alsô vil gesprochen als ein mensche, der von allen vremden bilden ledic ist, alsô ledic, als er was, dô er niht enwas. Sehet, nû möhte man vrâgen, wie der mensche, der geborn ist und vor gegangen ist in vernünftic leben, wie er alsô ledic müge sîn aller bilde, als dô er niht enwas, und er weiz doch vil, daz sint allez bilde; wie mac er denne ledic sîn? – »Jungfrau, das heißt gerade so viel wie: ein Mensch, der von allen fremden Vorstellungen frei ist, so frei, wie er es war, als er nichts war. Seht, nun könnte man fragen, wie der Mensch, der geboren ist und fortgeschritten ist im vernünftigen Leben, wie der so frei von allen Vorstellungen sein könnte wie, als er nichts war; denn er weiß doch viel, und das sind alles Vorstellungen. Wie kann er dann frei sein?« 22 Pr. 2; 25,6–26,3: Wære ich alsô vernünftic, daz alliu bilde vernünfticlîche in mir stüenden, diu alle menschen ie enpfiengen und diu in gote selber sint, wære ich der âne eigenschaft, daz ich enkeinez mit eigenschaft hæte begriffen in tuonne noch in lâzenne, mit vor noch mit nâch, mêr: daz ich in disem gegenwertigen nû vrî und ledic stüende nâch dem liebesten willen gotes und den ze tuonne âne underlâz, in der wârheit sô wære ich juncvrouwe âne hindernisse aller bilde als gewærlîche, als ich was, dô ich niht enwas. 21

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III. Phnomene des Menschseins

Zuvor soll aber der Boden für diese Frage noch stärker befestigt werden, indem sich zeigt, dass Eckhart nicht nur gelegentlich, sondern durchwegs und am zentralen ›Ort‹ seiner Predigt dieses »ich« der höchsten Einheit, das eigenschaftslos ist, kennt.

Eckharts Rede von sich Die vorausgegangenen Überlegungen haben thematisiert, was Eckhart ü b e r das Ich sagt. Das Aufregende der deutschen Predigten Eckharts liegt noch mehr in der Weise, wie er in seiner Gottesbeziehung von sich selbst als »ich« spricht. Eine der radikalsten Aussagen Eckharts lautet: »Was ist Leben? Gottes Sein ist mein Leben. Ist mein Leben Gottes Sein, so muss Gottes Sein meines sein und Gottes Istheit meine Istheit, nicht weniger und nicht mehr.« 23 Hier sagt Eckhart nicht direkt »ich«, sondern spricht von seinem Leben, seinem Sein und seiner isticheit. Alle drei Prädikationen, die der Sache nach eins sind, werden mit denselben Prädikationen Gottes gleichgesetzt. »Mein« Leben, Wesen, Sein und Istheit sind Gottes Leben, Wesen, Sein und Istheit. Es wäre ein Wunder, wenn dieser brisante Satz nicht in die Anklageschrift eingegangen wäre. Er wird dort folgendermaßen zitiert: »Mein leben (vivere) ist Gottes Sein, oder mein Leben (vita) ist Gottes Wesen, Gottes Washeit [ist] meine Washeit.« 24 Eckharts Erläuterung zu dieser These lautet: »Dazu ist zu sagen, dass dies falsch ist, wie es klingt. Wahr ist allerdings, ehrfürchtig und moralisch, dass das ganze Sein des Gerechten, insofern er gerecht ist, vom Sein Gottes ist, jedoch in analogem Sinne. Fest steht nämlich, dass niemand gerecht ist, außer von der Gerechtigkeit, wie auch niemand weiß ist, wenn nicht von der Weiße; gemäß jenem Satz: ›Zu leben ist mir Christus‹ oder wiederum: ›Ich lebe, aber nicht mehr ich, Christus lebt in mir‹. Darum soll der Mensch angespornt sein, dass er gerecht ist und gerecht handelt.« 25 Eckhart Pr. 6; 106,1–3: Waz ist leben? Gotes wesen ist mîn leben. Ist mîn leben gotes wesen, sô muoz daz gotes sîn mîn sîn und gotes isticheit mîn isticheit, noch minner noch mêr. 24 Responsio II n. 92; 340,1 f.: Vivere meum est esse dei, vel vita mea est essentia dei, quidditas dei quidditas mea. Die Ankläger übersetzen hier isticheit mit quidditas. 25 Responsio II n. 92; 340,3–8: Dicendum quod falsum est et error, sicut sonat. Verum quidem est, devotum et morale quod hominis iusti, in quantum iustus, totum esse est ab esse dei, analogice tamen. Constat enim quod nemo iustus est nisi ab iustitia, sicut nec albus est nisi ab albedine, secundum illud: ›mihi vivere Christus est‹ et iterum: ›vivo 23

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10. Was sagt Eckhart, wenn er »ich« sagt?

beruft sich also wieder auf seine eigenartige Transzendentalien– und Analogielehre. Gemeint ist danach nicht die Gleichsetzung Gottes und des Geschöpfes, insofern es Geschöpf mit geschöpflichen Eigenschaften ist. Aber das Rechtsein und Gerechtsein des Menschen für sich betrachtet, stammt aus Gottes Sein, das heißt aus der Gerechtigkeit Gottes; es ist nicht menschliche Errungenschaft. Von den aus dem Sein Gottes unmittelbar entspringenden Wesensauszeichnungen ausgehend, kann Gott auch mit dem gerechten Menschen selbst, insofern er gerecht ist und von sich »ich« sagt, gleichgesetzt werden. Es seien nur einige bekannte Beispiele angeführt, die teilweise schon zitiert wurden: »Er zeugt mich als seinen Sohn und als denselben Sohn. Ich sage darüber hinaus: Er zeugt mich nicht nur als seinen Sohn, sondern er zeugt mich als sich und sich als mich und mich als sein Sein und seine Natur. In diesem innersten Quell, da quelle ich aus im Heiligen Geist, da ist e i n Leben, ein Sein und ein Werk.« 26 »Gott und ich, wir sind eins.« 27 »Aus dem reinen Sein hat er mich ewig gezeugt als seinen eingeborenen Sohn in das identische Bild seiner ewigen Vaterschaft, damit ich Vater sei und den zeuge, von dem ich gezeugt bin.« 28

Hier tritt Eckhart als »ich«-Sagender auf, nicht als ›der‹ oder ›ein‹ Mensch. Seine Aussagen sind nicht Prädikate einer kategorial bestimmten Substanz, auch nicht Wesensbeschreibungen einer Person, sondern ›Wortung‹, Verbalisierung eines ›transzendental-existenziellen‹ Vollzugs – »Damit etwas in eigentlicher Weise gewortet werden kann, muss es von innen herauskommen und sich aus einer inneren Form bewegen.« 29 Die ungewohnte Verbindung »Wortung« und ego, iam non ego, vivit in me Christus‹. Propter quod debet homo esse sollicitus, ut sit iustus et iuste agat. 26 Pr. 6; 109,8–11: Er gebirt mich sînen sun und den selben sun. Ich spriche mêr: er gebirt mich niht aleine sînen sun, mêr: er gebirt mich sich und sich mich und mich sîn wesen und sîne natûre. In dem innersten quelle dâ quille ich ûz in dem heiligen geiste, dâ ist ein leben und ein wesen und ein werk. 27 Pr. 6; 113,7: Got und ich wir sîn ein. 28 Pr. 22; 382,8–383,1: Ûz der lûterkeit hât er mich êwiclîche geborn sînen einbornen sun in daz selbe bilde sîner êwigen vaterschaft, daz ich vater si und geber den, von dem ich geborn bin. 29 Pr. 4; 66,3 f.: [S]waz eigenlîche gewortet mac werden, daz muoz von innen her ûz komen und sich bewegen von innerer forme.

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III. Phnomene des Menschseins

»transzendental-existenziell« versucht, den außergewöhnlichen Charakter von Eckharts Denken einzufangen. »Wortung« besagt, dass die Ich-Aussagen keine Seins-Aussagen sind, die einem Seienden, der Person Eckhart von Hochheim, Eigenschaften oder Zustände zuschreiben. Sie sind vielmehr spontanes Selbst-gewahr-Werden oder sich auslegende Gewissheiten. Sie sind also nicht Prozesse, die im meta-physischen Jenseits ihren Ursprung haben und sich auf das empirische Ich auswirken, sodass sie in Sprache gefasst werden können. Vielmehr ist ›Wortung‹ je mein Leben selbst, das aus sich selbst quillt und mich gebiert. 30 Der Lebensvollzug ist ›transzendental-existenziell‹. Transzendental, insofern mein Leben aus einem nicht empirisch verfügbaren Möglichkeitsgrund fließt, existenziell jedoch, da es immer m e i n Leben ist, in dem sich das Leben im gegenwärtigen nû konkret für mich ermöglicht. Wenn ich »ich« sage, spricht sich eine phänomenologisch unbezweifelbare Gewissheit aus. Eckhart führt eine Reduktion auf dieses reine, unbedingte »ich«-Sagen durch und weist es in seiner Radikalität als die letzte sich selbst ›bedingende‹ Ermöglichung des absoluten Seins aus; aber nicht eines abstrakten allgemeinen Seins, sondern immer meines Seins, das als Grund derselbe Grund ist wie Gottes Grund. Dieses »ich« ist einerseits vom transzendentalen Subjekt des Idealismus und andererseits von dem realen Ich der Person abzugrenzen. 31 Saskia Wendel fasst die Beziehung des göttlichen und des menschlichen Ich »als Modell der Identität in Differenz«. Sie ist, soviel ich sehe, auch die erste, die Eckharts »ich« nicht nur aus dessen ›ich-theoretischen‹ Definitionen, sondern aus der lebendigen Rede zu verstehen sucht: »I c h hat hier – wie übrigens schon hinsichtlich des i c h , das Gott bezeichnet – eine indexikalische Funktion. Das heißt: I c h ist kein Designator mit deiktischer Funktion, sondern selbstreferentiell und nicht in eine Aussage in dritter Person bzw. durch das Pronomen e r / s i e ersetzbar. Diese Unhintergehbarkeit der Ich-Perspektive bzw. des Ich-Indexicals in Aussagen erster Person verweist auf die diesen Aussagen zugrundeliegende präreflexive Gewissheit der Jemeinigkeit des i c h b i n u n d n i c h t v i e l m e h r n i c h t , denn das Das ist der eigentliche Sinn dessen, was Burkhard Hasebrink des Öfteren als die »Performativität« in Eckharts Sprechen analysiert hat, z. B. Hasebrink, Burkhard: mitewürker gotes. Zur Performativität der Umdeutung in den deutschen Schriften Meister Eckharts. 31 Vgl. Mojsisch, Burkhard: Die Theorie des Ich in seiner Selbst- und Weltbegründung bei Meister Eckhart, hier S. 270. Er benennt dieses Begründungsverhältnis »univok-korrelationale Transzendentalkausalität«. 30

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10. Was sagt Eckhart, wenn er »ich« sagt?

Individuum kann Ich-Indexicals nur formulieren, weil es im Grund seiner selbst je schon i c h ist und darum immer schon weiß.« 32

Als Zwischenbilanz der Untersuchung des Problems der Vereinbarkeit von »Menschheit« und »ich« bei Meister Eckhart ist festzuhalten: Gottes Sein ist kein Allgemeines, sondern einmaliges »ist«, einzig Eines, und so zugleich »ich«. Durch die Identität des menschlichen Wesensgrundes mit Gottes Sein ist auch der Mensch wesentlich »ist«, einzig Eines und »ich«. Insofern betrifft diese Identität nicht eine allgemeine Wesensform. »Menschheit« oder Menschsein ist vielmehr ebenfalls gemäß der Einzigkeit (einicheit) des einzig Einen gedacht. Dieser Befund kommt schön in folgendem zusammenfassenden Zitat zum Ausdruck: »Du sollst ihn bildlos erkennen, unvermittelt und ohne Gleichnis. Soll ich aber Gott auf solche Weise unvermittelt erkennen, so muss ich schlechthin er, und er muss ich werden. Genauerhin sage ich: Gott muss schlechthin ich werden und ich schlechthin Gott, so völlig eins, dass dieses Er und dieses Ich ein Ist werden und sind und in dieser Istheit ewig ein Werk wirken.« 33

Diese Ausgangsposition hat insofern Relevanz für die scheinbare Aktualität Eckharts, dessen Einheitslehre bekanntlich viele neureligiöse Menschen, Meditations- und Zen-Anhänger anspricht. Das einzig Eine hat bei Eckhart aber ursprünglich nichts zu tun mit einem allgemeinen abstrakten höchsten Wesen, mit absolutem Bewusstsein oder kosmischer Allverbundenheit, mit keinem gestaltlos-unendlichen Lebensstrom, mit keinem Nirwana und mit keiner leeren Weite. Ob es strukturelle Verwandtschaften gibt, müssten komparatistische Studien zeigen. Ein interreligiöser Dialog ist nur sinnvoll, wenn die jeweiligen Ursprungserfahrungen und die spezifischen Kontexte erschlossen sind; nicht wenn man sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigt. Eckharts Verständnis des Menschen und seiner Gottverbundenheit sind durch und durch ›westlich‹ und trotzdem dem heutigen Denken fremd, und wenn eine Annäherung möglich sein sollte, steht sie uns erst bevor. Wendel, Saskia: Affektiv und inkarniert. Ansätze deutscher Mystik als subjekttheoretische Herausforderung, S. 212 (Hervorhebungen von Wendel). 33 Pr. 83; 447,2–7: Dv´ solt in bekennen ane bilde, ane mittel und ane glichnis. Sol aber o ich also got bekennen ane mittel, so mus vil bi ich er werden und er ich werden. Me o sprich ich: Got mvs vil bi ich werden vnd ich vil bi got, alse gar ein, das dis er vnd dis ich ein ist werdent vnd sint vnd in der istikeit ewiklich éin werk wirkent. 32

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III. Phnomene des Menschseins

Armutspredigt Auch die Erfahrung der Identität des »Ich« mit dem einzig Einen Gottes steht unter dem Vorzeichen des Lassens und der abegescheidenheit. Dafür mag folgendes Zitat aus der lateinischen Predigt XXII stehen: »Halte auch fest, dass ›ich‹ die bloße Substanz bezeichnet, und trotzdem soll man das Ich verleugnen.« 34 Der Satz zeigt nochmals, dass die Definition des Ego aus der Erläuterung zu Ego sum qui sum auch das menschliche Ich einschließt. Wenn es aber bloße Substanz ohne Eigenschaften ist, w i e o d e r a l s w a s kann es dann »verleugnet« werden? Von der bloßen Substanz lässt sich nichts abziehen. Ihre »Verleugnung« wäre die Behauptung der Nicht-Existenz; doch die wäre absurd. Eckharts Aussage ist nur sinnvoll, wenn das Wort »ich« hier in einer zweifachen Bedeutung gesagt ist, einerseits ist es die reine Substanz (Subjekt), andererseits ist es etwas, das man verleugnen soll. Statt »verleugnen« (abnegare) sagt Eckhart in den deutschen Predigten meistens »lassen«. Das Ich, welches gelassen werden kann, ist das empirische Ich mit meinen persönlichen Kennzeichen, meiner Geschichte und meinem sozialen Status. Eckharts Aufforderung: »Nimm dich selbst wahr, und wo immer du dich findest, da lass dich«, 35 kann auch entsprechend der phänomenologischen Methode als Anweisung zur Reduktion gelesen werden. Die Frage ist dann, was bleibt übrig, wenn ich meine Umstände und Eigenschaften einklammere? Wenn mein Alter, mein Geschlecht, meine Geschichte, mein erworbenes Wissen, meine Fertigkeiten weggedacht würden, kann ich dann nicht mehr von mir als »ich« sprechen? Kein Zweifel: Eckhart tut es, wie zuvor bei den Ausführungen zum Stand, »wie ich war, als ich nichts war«, schon deutlich geworden ist. Aber verwunderlicher noch: Eckhart bringt die unerhörtesten Ich-Aussagen gerade in den Texten, die mit der Bewegung des Lassens am weitesten gehen. Den Endpunkt der Reduktion, die gelâzenheit 36 als Gelassenhaben oder abegescheidenheit, erörtert Eckhart bekanntlich auch unter dem Titel »Armut«. Wenn wir Eckharts Aufforderung, alles Ichhafte zu lassen, so verstünden, als wolle er j e d e s Ich aufheben, müsste es ver34 Sermo XXII n. 213; 199,1 f.: Nota enim quod li ›ego‹ meram substantiam significat, et nihilominus ipsum oportet abnegare. 35 RdU c. 4; 196,3 f.: Nim dîn selbes war, und swâ dû dich vindest, da lâz dich. 36 RdU c. 21; 283,3.

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10. Was sagt Eckhart, wenn er »ich« sagt?

wundern, dass er in der ›Armutspredigt‹, Nr. 52, ›Beati pauperes spiritu‹, zu den radikalsten Ich-Aussagen findet. Aber gerade diese Aussagen zeigen, dass in der radikalsten Armut »ich« bleibt – oder vielmehr »ich« bleibe –, und zwar gerade dann, wenn jede Bestimmtheit des Ich durch Intentionen oder Objekte des Wollens, Wissens, Habens verlassen wurde. Wenn man diese Ich-Prädikationen Eckharts im Zusammenhang liest, meint man nicht eine Abhandlung über die Armut, sondern über die Metaphysik des Ich zu lesen. 37 Es stellt sich aber die Frage, ob die Ich-Aussagen in dieser direkten Rede einen besonderen Sinn haben, dass sie nicht nur propositional eine Theorie entwickeln, sondern prozessual, performativ Lebensentfaltungen verbalisieren: »Als ich in meiner ersten Ursache stand, da hatte ich keinen Gott, und da war ich Ursache meiner selbst; da wollte ich nichts und begehrte ich nichts, denn ich war ein lediges Sein und ein Erkenner meiner selbst im Genuss der Wahrheit. Da wollte ich mich selbst und wollte nichts sonst; was ich wollte, das war ich, und was ich war, das wollte ich, und hier stand ich Gottes und aller Dinge ledig. Als ich aber aus freiem Willensentschluss ausging und mein geschaffenes Sein empfing, da hatte ich einen Gott; denn, ehe die Kreaturen waren, war Gott nicht Gott: Er war vielmehr, was er war. Als die Kreaturen aber wurden und sie ihr geschaffenes Sein empfingen, da war Gott nicht in sich selber Gott, sondern in den Kreaturen war er Gott.« 38 »Darum bitten wir Gott, dass wir Gottes quitt werden und dass wir die Wahrheit dort erfassen und die Ewigkeit genießen, wo die obersten Engel und die Fliege und die Seele gleich sind, dort, wo ich stand und wollte, was ich war, und war, was ich wollte.« 39

So findet auch Mojsisch, Burkhard: Meister Eckhart. Analogie, Univozität und Einheit, S. 119, Anm. 50, dass Eckhart neben Predigt 77 auch in den Predigten 28, 52 und 109, die nur Ich-Aussagen enthalten, seine »Theorie des Ich« entwickelt habe. 38 Pr. 52; ed. Steer, 172,1–9: Dô ich stuont in mîner êrsten sache, dô enhâte ich keinen got, und dô was ich sache mîn selbes; do enwolte ich niht, noch enbegerte ich niht, wan ich was ein ledic sîn und ein bekenner mîn selbes nâch gebrûchlîcher wârheit. Dô wolte ich mich selben und enwolte kein ander dinc; daz ich wolte, daz was ich, und daz ich was, daz wolte ich, und hie stuont ich ledic gotes und aller dinge. Mêr: dô ich ûzgienc von mînem vrîen willen und ich enpfienc mîn geschaffen wesen, dô hâte ich einen got; wan ê die crêatûren wâren, dô enwas got niht got, mêr: er was, daz er was. Dô die crêatûren gewurden und sie enpfiengen ir geschaffen wesen, dô enwas got niht got in im selben, mêr: er was got in den crêatûren (ed. Quint, 492,3–493,2). 39 Pr. 52; ed. Steer, 172,16–18: Her umbe sô biten wir got, daz wir gotes quît werden und daz wir nemen die wârheit und gebrûchen der êwicheit, dâ die obersten engel und diu 37

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III. Phnomene des Menschseins

»Darum bitte ich Gott, dass er mich Gottes quitt mache; denn mein wesentliches Sein ist oberhalb von Gott, sofern wir Gott als Ursprung der Kreaturen fassen. In jenem Sein Gottes nämlich, wo Gott über allem Sein und über aller Unterschiedenheit ist, dort war ich selber, da wollte ich mich selber und erkannte mich selber [willens], diesen Menschen [mich] zu schaffen. Darum bin ich Ursache meiner selbst meinem Sein nach, das ewig ist, nicht aber meinem Werden nach, das zeitlich ist. Und darum bin ich ungeboren, und nach der Weise meiner Ungeborenheit kann ich niemals sterben. Nach der Weise meiner Ungeborenheit bin ich ewig gewesen und bin ich jetzt und werde ich ewig bleiben. Was ich aufgrund meines Geborenseins bin, das wird sterben und zunichte werden, denn es ist sterblich; darum muss es mit der Zeit verderben.« 40 »In meiner Geburt wurden alle Dinge geboren, und ich war Ursache meiner selbst und aller Dinge; und hätte ich gewollt, so wäre weder ich noch wären alle Dinge; wäre aber ich nicht, so wäre auch Gott nicht: dass Gott Gott ist, dafür bin ich die Ursache; wäre ich nicht, so wäre Gott nicht Gott. Dies zu wissen ist nicht nötig. / Ein großer Meister sagt, dass sein Durchbrechen edler sei als sein Ausfließen, und das ist wahr. Als ich aus Gott floss, da sprachen alle Dinge: Gott ist; dies aber kann mich nicht selig machen, denn hierbei erkenne ich mich als Kreatur. In dem Durchbrechen aber, wo ich ledig stehe meines eigenen Willens und des Willens Gottes und aller seiner Werke und Gottes selber, da bin ich über allen Kreaturen und bin weder Gott noch Kreatur, bin vielmehr, was ich war und was ich bleiben werde jetzt und immerfort. Da empfange ich eine Prägung (îndruk), die mich bringen soll über alle Engel. In diesem Aufschwung empfange ich so großen Reichtum, dass Gott mir nicht genug sein kann mit allem dem, was er als Gott ist, und mit allen seinen göttlichen Werken; denn mir wird in diesem Durchbrechen zuteil, dass ich und Gott eins sind. Da bin ich, was ich war, und da nehme ich weder ab noch zu, denn ich bin da eine unbewegliche Ursache, die alle Dinge bewegt. Hier findet Gott keine Stätte in dem Menschen, denn der Mensch erringt mit dieser Armut, was er ewig gewesen ist und immerfort bleiben wird. Hier ist vliege und diu sêle glîch sint in dem, daz ich stuont und wolte, daz ich was, und was, daz ich wollte (ed. Quint, 493,7–494,2). 40 Pr. 52; ed. Steer, 178,5–10: Her umbe sô bite ich got, daz er mich quît mache gotes, wan mîn wesenlich wesen ist obe gote, alsô als wir got nemen begin der crêatûren; wan in dem wesene gotes, dâ got ist obe wesene und ob underscheide, dâ was ich selbe, und dâ wolte ich mich selben und bekante mich selben ze machenne disen menschen. Her umbe sô bin ich mîn selbes sache nâch mînem wesene, daz êwic ist, und niht nâch mînem gewerdenne, daz zîtlich ist. Her umbe sô bin ich geborn, und nâch mîner gebornen wîse sô bin ich sterblich. Nâch mîner ungebornen wîse sô bin ich êwîcliche gewesen und bin nû und sol êwiclîche blîben. Daz ich bin nâch gebornheit, daz sol sterben und ze nihte werden, wan ez ist zîtlich; her umbe sô muoz ez mit der zît verderben (ed. Quint, 502,6–503,5).

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10. Was sagt Eckhart, wenn er »ich« sagt?

Gott eins mit dem Geiste, und das ist die äußerste Armut, die man finden kann.« 41

»Als ich in meiner ersten Ursache stand …« – Aus dem Kontext sowie auch aus dem Gebrauch des Ursachenbegriffs bei Eckhart ist vorab festzuhalten, dass wir bei Eckhart die causa prima nicht als Wirkursache verstehen können, sondern Eckharts Philosophie des principium oder des »Grundes« unterstellen müssen. Demnach besagt der Satz: Ich bin selbst Prinzip und zugleich Prinzipiiertes. Im Begriff des Grundes heben sich Gründend- und Gegründetsein ineinander auf wie Vater und Sohn, wenn dieser alles von jenem empfängt und in diesem Allempfangen gerade die Rückgabe beschlossen liegt. Diese »Proto-Relationalität« 42 spiegelt auch die ontologische Struktur der beiden Weisen des »ich« und »des Ich«: In der ersten Weise ist es als principium gesehen, in der zweiten als principiatum. Aber hier geht Eckhart insofern noch einen Schritt weiter, als er die Unterscheidung von Prinzip und Prinzipiat auch auf ›Gott‹ und »mich« anwendet. Ich als Prinzip h a t t e keinen Gott; denn dann würde ich ihn als Prinzipiat, also bedingt, ansehen. Was man haben kann, ist nicht aus sich gründend. Das heißt: Gott ist nicht die Ursache dessen, dass ich bin, sobald man Gott überhaupt als Ursache, die nicht ohne Prinzipiat sein kann, denkt. So gedacht ist Gott begin der crêatûren. Denn nur geschaffen Seiende, Weltdinge ha41 Pr. 52; ed Steer, 178,12–189,4: In mîner geburt dâ wurden alliu dinc geborn, und ich was sache mîn selbes und aller dinge; und hæte ich gewolt, ich enwære niht, noch alliu dinc enwæren niht; und enwære ich niht, sô enwære ouch got niht. Daz got got ist, des bin ich ein sache; enwære ich niht, sô enwære got niht got. Diz ze wizzenne des enist niht nôt. / Ein grôz meister sprichet, daz sîn durchbrechen edeler sî dan sîn ûzvliezen, und daz ist wâr. Dô ich ûz got vlôz, dô sprâchen alliu dinc: got der ist; und diz enmac mich niht sælic machen, wan alhie bejehe ich mich crêatûre. Mêr: in dem durch brechenn, dâ ich ledic stân mînes willen in dem willen gotes und ledic stân des willen gotes und aller sîner werke und gotes selben, sô bin ich ob allen crêatûren und enbin noch got noch crêatûre, mêr: ich bin, daz ich was und daz ich blîben sol nû und iemermê. Dâ enpfâhe ich einen îndruk, der mich bringet über alle engel. In disem îndrucke enpfâhe ich sôgetâne rîcheit, daz mir niht genuoc enmac gesîn got nâch allem dem, daz er got ist, und nâch allen sînen götlîchen werken; wan ich enpfâhe in disem durchbrechen, daz got und ich ein sîn. Dâ bin ich, daz ich was, und dâ nime ich niht abe noch zuo, wan ich bin dâ ein unbewegelîchiu sache, diu alliu dinc beweget. Alhie envindet got keine stat in dem menschen, wan der mensche erkrieget mit dirre armuot, daz er ist gewesen und iemermê blîben sol. Alhie ist got ein in dem geiste, und daz ist diu næhste armuot, die man vinden mac« (vgl. ed. Quint, 503,6–505,9). 42 Zu diesem Begriff siehe Kühn, Rolf: Ungeteiltheit – oder Mystik als Ab-Grund der Erfahrung, S. 280–291.

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III. Phnomene des Menschseins

ben Wirkursachen. Das Sein selbst, das letzte Prinzip, ist nicht Ursache, höchstens (in katachrestischem Sprachgebrauch) ›Ursache‹ oder Grund für sich selbst. Der Schlüsselsatz zum Verständnis lautet: »Bevor es die Geschöpfe gab, war Gott nicht Gott; er war, was er war.« 43 Jenes Subjekt, das hier als »Gott« bezeichnet wird, war nicht Gott als Prädikat. Wenn man sagen würde: »Dieser Heinrich war nicht Mensch«, dann würde man ihm absprechen, was sein Wesen ausmacht: was etwas ist, quod quid est. Insofern aber ist Gott kein Was; sonst könnte man ihn definieren. Würde man sagen: »Herr Schneider war damals noch nicht Schneider«, hieße das: Er hatte noch nicht diesen Beruf. Wenn Gott Gott ist, hat er den Beruf, das heißt die Eigenschaften und Funktionen eines Gottes. Dies hat Gott aber nur aus der Perspektive des Menschen und für den Menschen sowie allgemein für die Schöpfung. Aber ›vor‹ der Schöpfung w a r Gott waz er was. Auf die Frage: »Was war Gott seinem Wesen nach (quod quid erat)?«, heißt die Antwort: »Er w a r «; also nicht: »Er war Gott«; 44 nicht: »Er war das Sein«, allenfalls: »Er war e s t , I s t « oder Sum qui sum, »Ich bin der Ich-bin«. Gott, insofern er ist, was er ist, insofern er also jeder washaften Bestimmung, mithilfe derer er definiert werden könnte, entgeht, kennt keine Ursache. Darüber hinaus: Wäre er Ursache, wäre er als solche bestimmt, also nicht in sich und durch sich selbst Prinzip seiner selbst. In dieser unvordenklichen Prinzipienhaftigkeit ist Gott, was er war; die Predigt 109, ›Nolite timere‹, nennt dies »Gottheit«. Wie kann Eckhart mit Blick auf dieses letzte Prinzip »ich« sagen? Es ist ein Stand, in dem Sein und Wollen identisch sind: Eckhart sagt von sich: »Was ich wollte, das war ich, und was ich war, das wollte ich.« 45 Wollen kann nicht mehr transitiv, objekthaft gedacht werden; denn so würde es ›mir‹ eine Bestimmung auferlegen: Ich wäre nicht wirklich arm. Parallel zu der Aussage über Gott könnte man sagen: »Bevor ich geboren wurde, war ich nicht ich.« So würde dem eigenschaftslosen Subjekt eine eigenschaftliche Identität abgesprochen. Pr. 52; ed. Steer, 172,7: Ê die crêatûren wâren, dô enwas got niht got, mêr: er was, daz er was (vgl. ed. Quint, 492,8 f.). 44 Wenn hier die Vergangenheitsform »war« steht, bezieht sich das zunächst zurück auf die klassische Formulierung des Aristoteles ti e¯n einai, quod quid erat esse. Außerdem erläutert er, dass im Satz »Im Anfang war das Wort« das erat bedeutet semper natum est und semper nascitur, also »ist immer geboren worden« und »wird immer geboren« (In Ioh. n. 8; 9,7), das heißt die Zeitlosigkeit. 45 Pr. 52; ed. Steer, 172,4 f.: daz ich wollte, daz was ich, und daz ich was, das wollte ich. 43

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10. Was sagt Eckhart, wenn er »ich« sagt?

Was mich als Mich definiert, sind gewöhnlich meine unveränderlichen Kennzeichen, meine Geschichte und meine erworbenen Vorstellungen. 46 Doch dies ist ein Ich »nach meinem Werden, das zeitlich ist« 47 . Man kann auch sagen: In jenem Wutanfall habe ich mich vergessen, da war ich nicht ich. Immer ist hier ein unbestimmtes ›Ich-bin‹ gegenwärtig, das über eine bestimmte Person spricht. Diese Person ist geschichtlich geworden und hat konkrete Eigenschaften. Dagegen: »Ich« als mein reines, eigenschaftsloses ewiges Sein, besser mein Ist, meine Istheit (isticheit) ist frei, ohne jede zuständliche, erworbene Wesensbestimmung: »Jedoch: In dem Durchbrechen, wo ich ledig stehe meines eigenen Willens und des Willens Gottes und aller seiner Werke und Gottes selber, da bin ich über allen Kreaturen und bin weder Gott noch Kreatur, bin vielmehr, w a s i c h w a r und was ich bleiben werde jetzt und immerfort.« 48 Dort, in jenem Durchbrechen, gibt es keine Washeit, die ich habe oder prädikativ bin (also ›Ich bin dies oder das.‹). Insofern bin ich dort auch nicht Mensch als vernünftiges Lebewesen, »sondern ich bin, was ich war und was ich bleiben werde nun und immerfort.« Mein Wesen oder meine Washeit ist »Ich-bin«: Dâ bin ich, daz ich was. Das kann man übersetzen als »Ich bin, was ich war«, mit anderen Worten: »Was ich jetzt bin, war ich damals schon.« Aber selbst wenn mir durch diese Sätze eine Washeit zugesprochen wird, wird diese ›mir‹ als dem unbestimmt bleibenden Träger dieser Washeit zugesprochen. Um dieses »ich« geht es in jenem Durchbrechen. Als dieses ›Subjekt‹ bin ich nicht etwas, sondern »›Ich-bin‹ ist mein Wesen« oder »Meine Washeit ist, dass ich bin«. Mit Blick auf das »Ich-bin« Gottes formuliert Eckhart genau diese Identität von Was-Sein und Dass-Sein so: »Wenn er [Jahwe] also sagt: ›Ich bin, der ich bin‹, lehrt er: Das Subjekt ›Ich-bin‹ ist identisch mit dem an zweiter Stelle stehenden Prädikat ›Ich-bin‹, das Benennende selbst ist das Benannte selbst, die Wesenheit Vgl. Pr. 2; 25,2–5: Sehet, nû möhte man vrâgen, wie der mensche, der geborn ist und vor gegangen ist in vernünftic leben, wie er alsô ledic müge sîn aller bilde, als dô er niht enwas, und er weiz doch vil, daz sint allez bilde; wie mac er denne ledic sîn? – »Seht, nun könnte man fragen: Ein Mensch, der geboren ist und fortgeschritten ist in vernünftigem Leben, wie könnte der frei sein von allen Vorstellungen, wie er es war, als er nichts war; denn er weiß doch viel und das sind alles Vorstellungen. Wie kann der denn ledig sein?« 47 Pr. 52; ed. Steer, 178,6: nâch mînem gewerdenne, daz zîtlich ist. 48 Pr. 52; ed. Steer, 178,20–23: Mêr: in dem durchbrechenn, dâ ich ledic stân mînes willen in dem willen gotes und ledic stân des willen gotes und aller sîner werke und gotes selben, sô bin ich ob allen crêatûren und enbin noch got noch crêatûre; mêr: ich bin, daz ich was und daz ich blîben sol nû und iemermê. 46

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III. Phnomene des Menschseins

ist das Sein, die Washeit ist die Obheit [Dassheit].« 49 Im Rahmen der ontotheologischen Gotteslehre hat dieser Satz den wenig aufregenden Gemeinsinn, dass in Gott Sein und Wesen identisch sind; aber auf den Menschen angewendet, ist die Idee noch unausgeschöpft: Unter meinem so oder so bestimmten Mensch- und Personsein liegt als Grund ein apodiktisches »Ich-bin«, ein reines Dass: sein selbst, leben selbst. Eckharts Aufruf zur abegescheidenheit meint eine solche radikale Reduktion. Sein Satz: Mêr: in dem durchbrechenn, dâ ich ledic stân mînes willen in dem willen gotes und ledic stân des willen gotes und aller sîner werke und gotes selben, sô bin ich ob allen crêatûren und enbin noch got noch crêatûre, heißt in leicht pointierter Übersetzung: »In dem Durchbrechen bin ich ohne meinen Willen im Willen Gottes, und ich bin ohne den Willen Gottes und ohne alles Wirken Gottes und ohne Gott selbst. So bin ich jenseits aller Geschöpfe, und so bin ich weder Gott noch Geschöpf.« Alle diese Verneinungen sagen, dass ich keine Washeit habe, dass ich nichts bin. Die Fortsetzung dieses Satzes lautet: Mêr: ich bin, daz ich was und daz ich blîben sol nû und iemermê. Dieses daz kann Relativpronomen sein, aber auch Konjunktion. Darum könnte man nach dem Ausschluss der Washeit auch so übersetzen: »Sondern ich bin, d a s s ich war und d a s s ich jetzt und immer bleiben werde.« Die philosophische Grundlage ist also auch für die Ich-Aussagen in der ›Armutspredigt‹ eine Überbietung des aristotelischen Wesensbegriffs durch ein neues, nicht ontologisches, das heißt durch ein nicht washaft seiendes »ist« oder »ich«. Das Was, quod est oder die quiditas bleibt auf die vorchristliche, das heißt vor-inkarnatorische, dingorientierte Philosophie eingeschränkt, wie anhand der Predigten 15 und 28 im vorausgehenden Kapitel gezeigt wurde. Das »ich« der Selbstgewissheit ist das einzig Eine, das keinen Namen, also keine Definition und kein Erkennen kennt.

In Ex. n. 20; 26,2–5: Cum ergo dicit: »sum qui sum«, docet ipsum subiectum »sum« esse ipsum praedicatum »sum« secundo positum, et quod ipsum agnominans est ipsum agnominatum, essentia est esse, quiditas est anitas.

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10. Was sagt Eckhart, wenn er »ich« sagt?

Wie leben? – Er gebirt mich sich und sich mich. »Er gebiert mich [als] sich und sich [als] mich.« 50 Dieser aufregendste unter den aufregenden Sätzen Eckharts gibt nochmals einen Schlüssel zum Verständnis der Einheit und der Ich-Aussagen. Hier ist die Identität von Gottes »ich« (»sich«) und mir als »ich« (»mich«) deutlich ausgesprochen. Darüber hinaus aber wird meine Identität auf den Sohn, auf die Natur Gottes, auf das Ausfließen im Heiligen Geist, auf das identische Leben, Sein (wesen) und Handeln bezogen: »Er zeugt mich als seinen Sohn und als denselben Sohn. Ich sage darüber hinaus: Er zeugt mich nicht nur als seinen Sohn, sondern er gebiert mich [als] sich und sich [als] mich und mich [als] sein Sein und seine Natur. In diesem innersten Quell, da quelle ich aus im Heiligen Geist, da ist e i n Leben, ein Sein und ein Werk.« 51

Besonders beachtenswert ist, dass die Zeugung hier reziprok ist: Er zeugt mich und sich. Im Durchgang durch die Zeugung des Wortes und meiner als des Sohnes zeugt Gott im reinen Sein als Leben sich selbst. Gott selbst ist nicht ohne ›mich‹. An theologischer Wucht und Provokation sind die Ich-Aussagen Eckharts nur den Selbstprädikationen Jesu als des Gottessohnes, die das Johannesevangelium überliefert, zur Seite zu stellen, wo es etwa heißt: »Ich und der Vater sind eins« (Joh. 10,30) oder »Wie mich der lebendige Vater gesandt hat und wie ich durch den Vater lebe, so wird jeder, der mich isst, durch mich leben« (Joh. 6,57). Tatsächlich wird die Identität von Ich und Gott ja in dem Satz wie im Johannesevangelium in der Gottessohnschaft gegründet. Nicht die Menschheit ist der Sohn, sondern jeder Einzelne, und so auch »ich«. 52 Einen entscheidenden Hinweis gibt uns aber die Wahl der Verben: »Er gebiert mich« und »Da quelle ich aus«. Die Metaphorik des Quellens, Fließens, Sprießens wählt Eckhart gerne, wenn es um die Selbstbewegung des Einen geht: »Das Eine fließt, sprosst, blüht und haucht oder ergießt sich dem ihm eigentümlichen Gehalt nach in jedes

Pr. 6; 109,9 f.: Er gebirt mich sich und sich mich. Pr. 6; 109,8–11: Er gebirt mich sînen sun und den selben sun. Ich spriche mêr: er gebirt mich niht aleine sînen sun, mêr: er gebirt mich sich und sich mich und mich sîn wesen und sîne natûre. In dem innersten quelle dâ quille ich ûz in dem heiligen geiste, dâ ist ein leben und ein wesen und ein werk. 52 Vgl. In Ioh. n. 117; 101,12–102,1; siehe oben S. 209 und Anm. 59. 50 51

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III. Phnomene des Menschseins

Seiende, sei es geschaffen oder ungeschaffen.« 53 Dieselbe Metaphorik findet sich gerade bei der Erläuterung des Gottesnamens. Denn die Wiederholung »Ich bin der ich bin« deutet ein Quellen und Sich-Gebären an, »gleichsam ein Aufwallen oder Sichselbstgebären – in sich brausend und in sich und auf sich fließend und wallend, Licht, das in Licht und zu Licht (erstrahlt), das sich selbst ganz durchdringt, das von allen Seiten ganz auf sich selbst zurückfließt und zurückstrahlt.« 54

Diese bildreiche Beschwörung des in sich wallenden Lebens des göttlichen Seins ist im ›Exoduskommentar‹ die dritte Erläuterung des Gottesnamens Ego sum qui sum. Die erste lautete, das Pronomen sei mera substantia, reines Subjekt. Diese beiden Charakterisierungen, die Qualitätslosigkeit und das gegenstands- und intentionslose In-sich-Fließen umschreiben die Seinsweise des Ich-bin, das freilich keine Substantivierung duldet, das keine (äußere, vorausgehende) Veranlassung und kein zielgerichtetes Handeln besagt. Diese Charakterisierung ist die ›Anwendung‹ der methodischen Forderung Eckharts an den »Metaphysiker«, die Wirk- und die Zielursache aus seinem Denken herauszuhalten. So muss auch das »Ich bin« von Kausal- und Finalursache freigehalten werden. Wenn ich das versuche, löse ich mich von dem gewöhnlichen psychologischen Vorstellen ab: Was ich will, weiß (erkenne), habe (mir aneigne), hat – psychologisch – immer eine Vorgeschichte, eine biogenetische oder psychogenetische Ätiologie und eine Folge, auf die ich – mehr oder weniger bewusst – hinarbeite oder gegen die ich mich wende. Das ist phänomenologisch eine Umschreibung der Person, als die ich mich historisch, intersubjektiv, intentional in der Welt vorfinde und zu realisieren versuche. Denken wir mit Eckhart einen Lebensvollzug ohne Warum und Wozu, ist er immer auch ohne Vor und Nach, und das heißt ohne Veränderung. Die Person ändert sich, indem sie neue Eigenschaften, Lebensziele und Maßgaben gewinnt. Aber immer ›bin ich‹ es, der ich alle diese Änderungen erfahre und doch derselbe bleibe.

In Ioh. n. 515; 446,4–6: Ipsum unum ex sui ratione propria redundat, germinat, floret et spirat sive diffunditur in omne ens tam increatum quam creatum. 54 In Ex. n. 16; 21,10–22,1: [Q]uandam bullitionem sive parturitionem sui – in se fervens et in se ipso et in se ipsum liquescens et bulliens, lux in luce et in lucem se toto se totum penetrans, et se toto super se totum conversum et reflexum undique. 53

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10. Was sagt Eckhart, wenn er »ich« sagt?

»Das reine Ich genießt sein einzigartiges Gegebensein voll in jeder Phase des Bewusstseinsstroms, in jedem Akt der Empfindung. Es prägt jedes Erleben nicht als ein spezielles Erleben oder als Inhalt des Erlebens oder als Gegenstand der Reflexion, sondern als der Agent-in-der-ersten-Person, d e s s e n Erleben es jeweils ist. Das reine Ich ist nicht nur zahlenmäßig eins und absolut individuell in Bezug auf seinen Bewusstseinsstrom, sondern es ist nicht-reflexiv seiner selbst gewahr als auf einzigartige Weise einzig.« 55

Eine solche Beschreibung des »Ich-selbst« in der präreflexiven Selbstgewissheit ohne ein bestimmtes Ich-Erleben gibt einen phänomenalen Anhalt für das Wesen des Ich-bin, das die Basis für Eckharts Gotteserfahrung bereitstellen könnte. Sehr prägnant skizziert der japanische Philosoph Ryôsuke Ôhashi den Rückgang auf den Durchbruch der Subjektivität in ihren Grund, indem es »zum ›Kein-Subjekt‹ bzw. ›Kein-Ich‹ wird, was aber keine ohnmächtige Ichlosigkeit bedeutet, sondern heißt, dass erst in dieser Abgründigkeit des KeinIch das von der Ichheit befreite Ich besteht. Der paradoxe Sachverhalt gilt: ›Es gibt kein Ich, das sieht. Deshalb sehe ich‹.« 56

Dies ist die rein phänomenologische Annäherung an das reine Ich-bin. Eine weitergehende, die konkrete Spiritualität angehende Frage wäre: Kann es unterhalb des transzendentalen Wesens des reinen Ich einen ontisch-existenziellen, ›ciszendentalen‹ Erfahrungsraum geben, in dem das eckhartsche reine Ich-bin lebt? Das wäre nur möglich, wenn wir aus dem gewohnten Verfallensein ans Besorgen aussteigen (könnten). Es gibt Erfahrungen eines solchen reinen Vollzugs. Sie werden uns geschildert: beim Laufen, beim Schreiben, Malen, Musizieren. Vielleicht konnte auch Eckharts Martha beim Kochen in einen solchen reinen Vollzug gelangen: »Solche Menschen stehen bei den Dingen, nicht in Übersetzung von KHW. Hart, James D.: Who one is, S. 158: The pure I enjoys its unique givenness fully in each phase, each act of sensation, of the stream of consciousness. It informs each experience not as a special experience or content of experience or object of reflection but as the first-person agent w h o s e experience each is. The pure I is not merely numerical one and absolutely individual in regard to its stream of consciousness but it is non-reflective aware of itself as uniquely unique (Hervorhebung von Hart). 56 Ôhashi, Ryôsuke: Die »Phänomenologie des Geistes« als Sinneslehre, S. 13. Diese Formulierung ist das Ergebnis einer Analyse des »Sehens/Sich sehen lassens« mit Bezug auf Eckharts Diktum in Pr. 12, ›Qui audit me‹ : »Das Auge, mit dem mich Gott sieht, ist das Auge, mit dem ich ihn sehe; …«, das J. G. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Teil I. Werke, Bd. 6, S. 209, zitiert. 55

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III. Phnomene des Menschseins

den Dingen […], als ob sie da oben am Umkreis der Ewigkeit stünden.« 57 In der spirituellen und religiösen Praxis werden zum Beispiel das »immerwährende« oder »Herzensgebet«, die »Achtsamkeitsmeditation« (Vipassana, auch in der Dialektisch-Behavioralen Therapie angewendet) und das absichtslose Sitzen (Zazen) so geschildert. Aber Eckhart meint keine Übungen, sondern das Leben selbst. Rainer Maria Rilke verstand viel von dieser Haltung; er nennt sie »reinen Bezug«. Die ›Sonette an Orpheus‹ sind voll davon, zum Beispiel Nr. XIII, »das Gültigste von allen«: 58 Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter dir, wie der Winter, der eben geht. Denn unter Wintern ist einer so endlos Winter, daß, überwinternd, dein Herz überhaupt übersteht. Sei immer tot in Eurydike –, singender steige, preisender steige zurück in den reinen Bezug. Hier, unter Schwindenden, sei, im Reiche der Neige, sei ein klingendes Glas, das sich im Klang schon zerschlug. Sei – und wisse zugleich des Nicht-Seins Bedingung, den unendlichen Grund deiner innigen Schwingung, daß du sie völlig vollziehst dieses einzige Mal. Zu dem gebrauchten sowohl, wie zum dumpfen und stummen Vorrat der vollen Natur, den unsäglichen Summen, zähle dich jubelnd hinzu und vernichte die Zahl. In Rilkes Versen erhebt sich ein gelingendes Trotzdem aus einer Grundstimmung der Wehmut und des Verlustes zur uneingeschränkten Bejahung, sogar zum Jubel. Dieser melancholische Untergrund ist Meister Eckhart fremd. Doch sonst spricht Rilke Themen an, die Eckhart nahekommen, wenn wir dessen Einblicke übertragen in die Lebenserfahrung eines übersensiblen ›weltlichen Mystikers‹, der schmerzhaft die Pr. 86; 485,5–7: [U]nd die liute stânt bî den dingen und niht in den dingen […], dan ob sie stüenden dort oben an dem umberinge der êwicheit. 58 Rilke, Rainer Maria: Gedichte 1910–1926, S. 263 f. Die Bezeichnung »das Gültigste von allen«: aus einem Brief an Katharina Kippenberg vom 2. 4. 1922, zit. ebd. S. 753. 57

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10. Was sagt Eckhart, wenn er »ich« sagt?

Vollendung des Fin de Siècle erleidet. Allem voran ist es der Abschied, der Eckharts abescheiden spiegelt, bei beiden im Wesen unvermeidbar, aber nur aus einer tieferen Einsicht bejahend zu vollziehen. Dabei bleibt Rilkes Erfahrung uneingeschränkt in seiner weltlichen Subjektivität, deren Vermögen aufgerufen werden: zu überwintern, zu singen, zu preisen, zu steigen, zu jubeln, sich hinzu zu rechnen und »die Zahl« zu vernichten. Hier wird nicht gefragt, woher die Kraft des Vermögens kommt. Diese Haltung hat mit der Geliebten und der Welt auch Gott gelassen. Und doch gibt es eine unbenannte beglückende Erfahrung. Sie ist ohne Objekt und Intention. Darin erfährt sie ›Ich bin‹ (»Sei!«), aber zugleich »den unendlichen Grund deiner innigen Schwingung«, in dem auch das Nicht-Sein möglich ist. Hier darf das Nicht-Sein nicht als die letzte Auslöschung verstanden werden, vielmehr erscheint das Sein als ein Vorletztes, das auch noch gelassen werden kann oder muss, damit der »reine Bezug« möglich wird. So ruft ja auch Eckhart aus: »Aber ich sage: Gott ist weder Sein noch Vernünftig-Sein.« 59 Wie für Eckhart so erfüllt sich auch für Rilke das Höchste des Daseins ohne Zahl und Zeit, im zeitfreien Augenblick, im gegenwärtigen nû: im »unendlichen Grund deiner innigen Schwingung, / daß du sie völlig vollziehst dieses einzige Mal«.

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Pr. 52; ed. Steer, 174,16: Ich spriche: got enist niht wesen noch vernünftic wesen.

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Elftes Kapitel Eckharts Verstndnis des richtigen Lebens

»Wer meine Lehre vom Rechtsein und dem richtigen Leben versteht, der versteht alles, was ich sage.« 1

Eckharts Gerechtigkeitsbegriff auf dem Hintergrund der Tradition An den Anfang dieses Kapitels habe ich einen berühmten und viel zitierten Ausspruch Eckharts als Motto gestellt. Die Übertragung ins Neuhochdeutsche mag überraschen: Für gerehticheit wähle ich »Rechtsein«, und das gerehte übersetze ich mit »richtiges Leben«. Was versteht Eckhart unter gerehticheit? Als Professor der Theologie kennt Eckhart natürlich die Tradition und die zeitgenössische Diskussion über das Thema. Die seit Platon bekannte Definition der Gerechtigkeit (lat. iustitia) heißt: Jedem das Seine zuteilen. Diese Definition streift Eckhart auch einmal. Doch führt sein Beispiel gerade weg von der üblichen Bedeutung des Wortes Gerechtigkeit. Er spricht von einem Menschen, der hört, »dass die Gerechtigkeit (iustitia) eine gewisse Rechtheit oder Geradheit (rectitudo) ist, durch die einem jeden zugeteilt wird, was das Seine ist«. 2 TraditioPr. 6; 10,2 f.: Swer underscheit verstât von gerehticheit und von gerehtem, der verstât allez, daz ich sage. Zur Übersetzung: Mhd. underscheit kann »Unterschied« und »Lehre« bedeuten. Hier kommt es weniger auf den Unterschied an, sondern auf die Beziehung der Gerechtigkeit zum Gerechten. Vorabdruck von Teilen dieses Kapitels in Witte, Karl Heinz: Meister Eckharts Verständnis des richtigen Lebens. 2 In Ioh. n. 48; 39,9 f.: Exempli gratia: audito quod iustitia sit quaedam rectitudo »qua redditur unicuique quod suum est«, nonnulli foris stantes et […] ›audientes non audiunt neque intelligunt‹. […] Et alius qui auditum mente pertractans afficitur ad iustitiam, dulcescit cordi ipsius. – »Ein Beispiel: Wenn davon die Rede ist, dass die Gerechtigkeit eine gewisse Geradheit ist, ›kraft deren man einem jeden zuteilt, was sein ist‹, so hören das zwar manche, die draußen stehen, […] und ›hören es doch nicht und verste1

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11. Eckharts Verstndnis des richtigen Lebens

nell wird das Thema Gerechtigkeit im Zusammenhang der sozialen und juristischen Probleme diskutiert; denn dort geht es darum, jedem zu geben, was ihm zusteht. Im scholastischen Lehrplan fällt das Thema unter die Tugendlehre: Hier geht es zum Beispiel um die Definition und die Rangordnung der theologischen und weltlichen Tugenden: Wohin gehört die Gerechtigkeit hier? Sie ist seit Platon und in der mittelalterlichen Tradition eine Kardinaltugend neben Klugheit (prudentia), Mäßigung (temperantia) und Tapferkeit (fortitudo). 3 Es wird zwischen der allgemeinen gerechten Einstellung oder Haltung und der Gerechtigkeit im Recht und vor Gericht unterschieden. Eine wichtige Unterscheidung gilt auch der austeilenden (iustitia distributiva) und der ausgleichenden Gerechtigkeit (iustitia commutativa). All diese Themen spielen in Eckharts Verständnis der gerehticheit oder iustitia in seinem ganzen Werk keine Rolle. Mit anderen Worten: Es fehlt damit der gesamte Bestand der scholastischen Abhandlungen über die Gerechtigkeit, mit denen Eckhart andererseits als Magister der Theologie natürlich vertraut war. Das ist Indiz genug dafür, dass es Eckhart beim Thema Gerechtigkeit um etwas anderes geht als um eine ethische Norm. Beachtenswert ist der folgende Hinweis Eckharts: »Darum sagte ich in Paris, dass an dem gerechten Menschen alles erfüllt ist, was die Heilige Schrift und die Propheten von Christus gesprochen haben. Denn wenn du recht bist, wird an dir alles vollbracht, was im alten und neuen Testament vorhergesagt wurde.« 4 Hier ist einerseits wieder deutlich, dass der »gerechte« Mensch der ist, der »recht« lebt; wörtlich sagt Eckhart: »wenn dir recht ist«. Darin kommt zum Ausdruck, dass Eckharts »Gerechtigkeit« keine Eigenschaft oder Haltung ist, sondern ein Eingestimmtsein. ›Eigenschaft‹ und ›Haltung‹, wie »Gerechtigkeit« gewöhnlich verstanden wird, schreiben diese Qualität eher dem Menschen zu als etwas, das ihn überdauernd auszeichnet. ›Eingestimmtsein‹ betont mehr die Rezeptivität, das Aufgehen und Angesteckt- und Überformtsein von der »Gerechhen es auch nicht‹ (Matth. 13,13). […] Ein anderer, der das Gehörte in seinem Gemüte erwägt und sich zur Gerechtigkeit hingezogen fühlt –, seinem Herzen wird es süß.« 3 Thomas von Aquin, Summa theologiae I–II q. 61, a. 2. 4 Pr. 24; 421,1–422,3: Dar umbe sagete ich ze Parîs, daz an dem gerehten menschen ervüllet ist, swaz diu heilige schrift und die prophêten ›von Kristô‹ ie gesageten; wan, ist dir reht, allez, daz in der alten und in der niuwen ê gesaget ist, daz wirt allez an dir volbrâht.

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III. Phnomene des Menschseins

tigkeit«, die den Menschen erst ›richtig‹ macht. Diesem Rechtsein wird ein außergewöhnlich hoher Rang zugesprochen. Der richtig lebende Mensch wird mit Jesus Christus gleichgesetzt, insofern er die gleiche erhöhte m e n s c h l i c h e Natur des Sohnes Gottes geerbt hat. Man kann dementsprechend sagen, dass Eckhart den Begriff »Gerechtigkeit« nicht im Sinne der philosophischen, sondern der theologischen Tradition benützt. Hier hat das Wort eher den Sinn von Rechtheit, Richtigkeit, Gerechtfertigtsein vor Gott. Augustinus und Anselm von Canterbury sind die zwei Hauptvertreter dieser Rechtheitslehre. Sie wirkt in Martin Luthers Frage nach der Rechtfertigung fort. Sie fragt, wie der durch die Sünde verlorene Stand der Ur-Rechtheit (iustitia originalis) im Leben wiederhergestellt werden kann. Es ist nachdenkenswert, dass die Einschätzung einer solchen menschlichen Lebensqualität heute kaum noch mit einem passenden Wort bezeichnet werden kann. »Rechtschaffenheit, Gerechtfertigtsein« haben einen so antiquierten Sinn, dass sich niemand gerne damit bezeichnen lassen möchte. Die Alltagssprache hat dafür fast nur noch die Floskel parat: »Du bist okay.« Eckhart erläutert den Zusammenhang von Gerechtigkeit und Rechtheit so: Gott sei »das Rechtsein der Gerechtigkeit« (rectitudo iustitiae) selbst, und alles, was in ihm und was er selbst ist, sei die »Rechtheit oder Gerechtigkeit« (iustitia sive rectitudo) 5 . Einmal schildert er, wie jemand in seinem Herzen entzückt wird, affiziert von der Definition der Gerechtigkeit (iustitia), nämlich dass sie eine »Rechtheit« (rectitudo) sei, »durch die jedem gegeben werde, was das Seine ist«. 6 In der deutschen Predigt Nr. 10, ›In diebus suis placuit deo et inventus est iustus‹, fasst er die Begriffsbestimmung so zusammen: »›Gerechtigkeit‹ ist der Grund aller Dinge in der Wahrheit.« 7 In dieser 5 In Gen. I n. 223; 251,5 f.: Deus autem est ipsa rectitudo iustitiae, et omne, quod in ipso est, et id, quod ipse est, rectitudo sive iustitia est. 6 In Ioh. n. 48; 39,9 f.: Exempli gratia: audito quod iustitia sit quaedam rectitudo »qua redditur unicuique quod suum est«, nonnulli foris stantes et […] ›audientes non audiunt neque intelligunt‹ […] Et alius qui auditum mente pertractans afficitur ad iustitiam, dulcescit cordi ipsius. Übers. siehe Anm. 2. Fröhling, Edward: Der Gerechte werden, S. 374–377, betont in seinem Kapitel über den Begriff der Gerechtigkeit vor allem deren ontischen Aspekt »als eine das ganze Leben umgreifende Verfasstheit des Menschen«. 7 Pr. 10; 161,6–162,1: Mîn lîp und mîn sêle ist mêr in gote, dan sie in in selben sîn; und daz ist gerehticheit: diu ursache aller dinge in der wârheit. Als sant Augustînus sprichet: got ist der sêle næher, dan si ir selber sî. – »Mein Leib und meine Seele sind mehr in Gott, als sie in sich selbst sind; und das ist Gerechtigkeit: die Ursache aller Dinge in der Wahrheit. Wie Sankt Augustinus spricht: Gott ist der Seele näher, als sie sich selbst nahe

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11. Eckharts Verstndnis des richtigen Lebens

Definition der »Gerechtigkeit«, das heißt des Rechtseins, wird schon vorweggenommen, was Eckhart differenziert entfalten wird. Das Rechtsein ist eigentlich eine Wesensvollkommenheit Gottes, also vertauschbar mit Sein, Wahr- und Gutsein, und insofern Gott das transzendentale Sein im Menschen oder in den Dingen ist, sind diese in Wahrheit recht oder richtig. Die Zugehörigkeit der Lehre Eckharts von der iustitia oder gerehticheit zum Kapitel der Rechtfertigung (rectitudo) und nicht zur Lehre von der Tugend der Gerechtigkeit (iustitia) hat zur Folge, dass die übliche Übersetzung einen irreführenden Beiklang hat. Ein für Eckhart so zentraler Satz wie die folgende Erklärung über die Einheit des »Gerechten« und der »Gerechtigkeit« spricht nämlich nicht von einem sozialen oder juristischen Phänomen, sondern von der Richtigkeit, der Geradheit des Lebens, und wie sie im Menschen zu finden ist. »Ein solcher Mensch – Gottes Sohn, ein Guter als Sohn der Güte, ein ›Gerechter‹ als Sohn der ›Gerechtigkeit‹ –, insofern er ausschließlich deren Sohn ist, i s t die ›Gerechtigkeit‹, ungeboren-gebärend, und der aus ihr geborene Sohn hat dasselbe eine Sein, das die ›Gerechtigkeit‹ hat und ist, und er tritt ganz in die Eigenschaft der ›Gerechtigkeit‹ und Wahrheit ein.« 8

Die Aussage kann durch zahlreiche Parallelen aus Eckharts gesamtem Werk belegt werden. Sie ist zentral für sein Verständnis des menschlichen Lebens. Wenn wir sie als Aussage über das Richtigsein lesen, besagt sie: Alles, was am Menschen »richtig« ist, ist ein unmittelbarer Ausfluss der Richtigkeit des Lebens selbst. »Richtigkeit« ist dabei ein anderes Wort für Gutsein, Wahr- oder Echtsein, Weisesein, Freiheit, Liebe, Vernunft, also für das gesamte wirkliche Sein oder Leben des Menschen. Insofern ist die Lehre vom Rechtsein des Menschen, die Eckharts Werk sozusagen als eine ontologische Ethik durchzieht, keine Ethik des normgerechten Verhaltens oder der Gesinnung, sondern jede »rechte« Ethik des Menschen ist die sich inkarnierende Ethik des Lebens.

ist.« Diese Definition des Rechtseins geht zurück auf Anselm von Canterbury, De veritate c. 12; I, 194,26. 8 BgT; 11,15–19: Ein sôgetân mensche, gotes sun, guot der güete sun, gereht sun der gerehticheit, alsô verre als er aleine ir sun ist, sô ist si ungeborn-gebernde, und ir geborn sun hât daz selbe eine wesen, daz diu gerehticheit hât und ist, und tritet in alle die eigenschaft der gerehticheit und der wârheit.

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III. Phnomene des Menschseins

Eckharts »Gerechtigkeit«: Lebensgerecht leben Was den Menschen wahrhaft menschlich macht, nennt Eckhart »gut« sein, und ebenso »wahr, weise, gerecht«. Diese Auszeichnungen des Menschen sind Seinsweisen. Sie sind nicht Eigenschaften, Haltungen oder Gesinnungen, wie bereits erwähnt. Als solche wäre die Güte eines Menschen etwas, das man von ihm trennen kann. Der Mensch könnte gut sein oder auch nicht, mehr oder weniger gut; das würde an seinem Menschsein nichts Wesentliches ändern. Es würde nur eine seiner Eigenschaften gegen eine andere ausgetauscht. Eckhart verbindet hier mit dem Gutsein: »sein, wissen, lieben« 9 , also Tätigkeiten oder Erfahrungen, in denen sich das Leben des Menschen konkretisiert und vollzieht. In Güte, Wahrheit, Gerechtigkeit: »Da ist und lebt und wohnt er. Da erkennt er sich selbst und alles, was er erkennt; und [darin] liebt er alles, was er liebt; und er wirkt mit der Güte in der Güte und die Güte [wirkt] mit ihm und in ihm alle Werke der Güte.« 10

Ein Grundzug der metaphysischen und »naturphilosophischen« Position 11 Eckharts ist, dass er jede reale Differenzierung im Konkreten immer aus der Einheit des Grundes denkt. Das heißt für die alltägliche Erfahrung: Ein konkretes einzelnes Gutes ist immer auf ein mögliches bestes Gutsein bezogen, jedes misst sich an einer Vollendungsgestalt als dem Ermöglichungsgrund des konkreten Gutseins. Dieser ist aber nicht als transzendent vorgestellt, sondern das vollkommen Gute ist im einzelnen Guten sozusagen als ein Splitter anwesend. Weder Einheit noch Grund kennen aber ein An-und-für-sich, weder als Phase noch als Ausgang einer Entwicklung. So ist die Einheit je schon Ursprung, das heißt, der Entfaltung ist die Einheit eingeschrieben. Darum sind die Grundbestimmungen des Seins – Sein, Eines, Wahres, Gutes – ineinander gegründet und auseinander verzweigt. So sind sie untereinander austauschbar und haben gleichwohl jede ihre je eigene Gewichtung. Doch darüber hinaus gibt jedes dem Sein einen »Aspekt« (respicit), BgT; 9,11. BgT; 9,16–18: Dâ ist und lebet und wonet er. Dâ bekennet er sich selben und allez, daz er bekennet, und minnet allez, daz er minnet; und [er] würket mit der güete in der güete und diu güete mit im und in im alliu ir werk. 11 Dass Eckhart seine Auslegungen als gleichbedeutend für diese beiden Disziplinen und zugleich für die Ethik betrachtet, geht aus seinen bekannten Intentionserklärungen im Proömium zum Johanneskommentar (In Ioh. n. 2–3; 4,4–17) hervor; vgl. oben Kap. 2. 9

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eine »Sinnrichtung« (ratio) und »Eigentümlichkeit« (proprietas), wie Eckhart in seiner ›Auslegung des Johannesevangeliums‹ unter dem Satz »Ich und der Vater wir sind eins« (Joh. 10,30) erläutert. 12 So weit stimmt Eckhart im Wesentlichen mit dem Hauptstrom der scholastischen Metaphysik überein; aber mit zwei Gedanken führt er die allgemeine Transzendentalienlehre weiter – und das hat weitreichende Konsequenzen für die Auslegung: Erstens sind für ihn die ersten Seinsbestimmungen nicht allgemeine Merkmale des konkreten Seienden, sondern Gott selbst. Jedoch nicht nur so, dass sie Vollkommenheiten sind, die auch Gott zugerechnet werden, sondern so, dass ihr Sein selbst Gottes Sein ist; und sofern sie im Menschen anzutreffen sind, sind sie u n m i t t e l b a r von Gott selbst, wie allgemein das Prinzip im Prinzipiat und das Prinzipiat im Prinzip ist. Die zweite Besonderheit besteht darin, dass Eckhart nicht nur die klassischen konvertiblen Seinscharaktere (esse, unum, verum, bonum) zu diesen mit Gott identischen Transzendentalien zählt, sondern auch die »geistigen Auszeichnungen« (perfectiones spirituales), zum Beispiel Liebe, Freiheit und Gerechtigkeit in dem erläuterten Sinn. Sie alle haben keinen Ort in der Substanzontologie, sie haben weder akzidentelle noch substanzielle Seinsweisen, das heißt: Sie sind nicht etwas (hoc et hoc), sondern Sein selbst. 13 Sie sind Weisen oder Charaktere des Seins, man könnte sagen, sie seien die Lebensbewegung des Seins. Dieses strömt und fließt zurück in Zeugung und Geburt: In Ioh. n. 511–518; 442,6–448,9; hier bes. 443,8–444,5: Esse autem, tum quia ad intus et essentiam respicit, tum quia absolutum et indeterminatum, nullius productionis principium est secundum sui rationem. […] propter hoc ipsi uni competit ex sui ratione et proprietate esse primum productivum et patrem totius divinitas et creaturarum. – »Das Sein aber, weil es das Innere und das Wesen betrifft und weil es absolut und unbestimmt ist, ist entsprechend seiner Seinsweise kein Prinzip für irgendeine Hervorbringung. […] Deswegen kommt es dem Einen an sich entsprechend seiner Sinnrichtung und Eigentümlichkeit zu, das erste Hervorbringende und der Vater für die ganze Gottheit und die Geschöpfe zu sein.« 13 Prol. gen. n. 8; 25,15–20: Primum est quod de terminis generalibus, puta esse, unitate, veritate, sapientia, bonitate et similibus nequaquam est imaginandum vel iudicandum secundum naturam et modum accidentium, quae accipiunt esse in subiecto et per subiectum et per ipsius transmutationem et sunt posteriora ipso et inhaerendo esse accipiunt. – »Das erste ist, dass die allgemeinen Seinsbestimmungen, Sein, Einheit, Wahrheit, Weisheit, Güte und ähnliche, keineswegs vorgestellt und beurteilt werden dürfen nach der Natur und Weise von Akzidenzien, die ihr Sein in ihrem Träger, durch den Träger und durch dessen Veränderung erhalten und die später als der Träger sind und ihr Sein empfangen, indem sie dem Träger anhaften.« 12

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III. Phnomene des Menschseins

»Die Güte ist nicht geschaffen noch gemacht noch geboren, sondern sie ist gebärend und gebiert den Guten. Und [auch] der Gute, soweit er gut ist, ist ungemacht und ungeschaffen, aber er ist geboren als Kind und Sohn der Güte. Die Güte gebiert sich und alles, das sie ist, in dem Guten. Sein, Wissen, Lieben und Wirken gießt sie ganz und gar in den Guten, und der Gute nimmt sein ganzes Sein, Wissen, Lieben und Wirken aus dem Herzen und dem Innigsten der Güte und allein von ihr. Gutes und Güte sind nur e i n e Güte und ganz eins in allem ohne Gebären und Geborenwerden. Doch das Gebären der Güte und das Geborenwerden in dem Guten ist ganz e i n Sein, ein Leben.« 14

Zwischen der vollkommenen Güte und dem einzelnen Guten besteht also keine ontologische Differenz, sie sind identisch, zeigen vielmehr nur eine Perspektive oder Bewegungsrichtung an, die sich im Gebären oder Geborenwerden gestaltet, das jedoch nur ein einziges Sein ist. Ferner wird in diesem Zitat die Gleichsetzung von Geburt, Sein und Leben ausgesprochen. Eckhart kennt solche Gleichsetzungen, behält aber die Differenzierungen, je nach dem Aspekt seiner Betrachtung bei. Eckhart hält es mit der neuplatonischen These aus dem ›Liber de causis‹ : »Von den Erstbestimmungen ist jedes in den anderen, und zwar in der Weise, wie eins von ihnen im jeweils anderen sein kann. Das ist so, weil im Sein Leben und Vernunft sind und weil im Leben Sein und Vernunft sind und weil in der Vernunft Sein und Leben sind.« 15

Allerdings spitzt Eckhart die These doch stärker auf das Leben zu, indem er den Vers 3 des Johannesprologs so liest: »Was geschaffen ist, war in ihm Leben.« 16 . Er sagt: BgT; 9,6–15: Diu güete enist noch geschaffen noch gemachet noch geborn; mêr si ist gebernde und gebirt den guoten, und der guote, als verre sô er guot ist, ist ungemachet und ungeschaffen und doch geborn kint und sun der güete. Diu güete gebirt sich und allez, daz si ist, in dem guoten; wesen, wizzen, minnen und würken giuzet si alzemâle in den guoten, und der guote nimet allez sîn wesen, wizzen, minnen und würken von dem herzen und innigesten der güete und von ir aleine. Guot und güete ensint niht wan e i n güete al ein in allem sunder gebern und geborn-werden; doch daz gebern der güete und geborn-werden in dem guoten ist al ein wesen, ein leben. 15 Le ›Liber de causis‹, hg. von Adriaan Pattin, prop. 11, n. 103 f.: primorum omnium quaedam sunt in quibusdam per modum quo licet ut sit unum eorum in alio. quod est quia in esse sunt vita et intelligentia et in vita sunt esse et intelligentia et in intelligentia sunt esse et vita. 16 Die übliche Lesart von Joh. 1,3 f. ist: Omnia per ipsum facta sunt et sine ipso factum est nihil quod factum est. [4] In ipso vita erat et viat erat lux hominum. – »Alles ist durch ihn geschaffen und ohne ihn ist nichts geschaffen, was geschaffen ist. [4] In ihm 14

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»Jede Wesensursache und jeder Wesensursprung ist etwas Lebendiges und Leben; was aber im Leben ist, ist Leben. Denn auch Sein und Denken (intelligere) sind im Leben Leben, oder besser: Das Leben (vita) ist auch leben (vivere). Das geht aus der [oben zitierten] These des ›Liber de causis‹ hervor.« 17

Das Wirken der Gerechtigkeit im Subjekt Das rechte Leben bemisst sich also nicht an persönlichen Eigenschaften, Haltungen und Handlungen des Menschen, sofern sie von außen betrachtet werden. Es ist mit dem Menschsein, ja mit dem Leben mitgegeben; aber gleichwohl muss die Frage gestellt werden, wie das Leben selbst sich im Einzelnen als rechtes Leben konkretisiert, wenn nicht durch Normkonformität, ethisches Streben, Idealität und moralische Sozialisierung. Da das transzendentale Rechtsein nicht dem einzelnen Menschen, sondern dem Leben selbst entspringt, stiftet die ›Gerechtigkeit‹ des je Einzelnen auch eine tiefe Einheit. Sie umfasst die Einzelnen, durchdringt sie und erfüllt sie mit Lebenskraft und setzt sie gemeinsam in die Einheit des rechten Lebens. »Wiederum ist zum Verständnis des zuvor Gesagten zu bemerken, dass man sich nicht vorstellen darf, wie die meisten Stumpfsinnigen meinen, als ob die Gerechtigkeit in mehreren Gerechten jeweils eine andere sei, geteilt und gezählt und in die einzelnen Gerechten eingewurzelt, wie es sich – wie schon gesagt wurde – mit den körperlichen Akzidentien verhält. Vielmehr sind alle Gerechten gerecht durch die der Zahl nach e i n e Gerechtigkeit, [hier ist] eine Zahl jedoch ohne Zahl und eine einzige ohne Einheit oder, um genauer zu reden, [eine Einheit] über der Einheit. Daher sind alle Gerechten als Gerechte eins […]. Wenn nämlich mehrere Gerechte durch eine jeweils andere Gerechtigkeit gerecht wären, so wären sie entweder nur dem Namen nach (aequivoce) gerecht zu nennen oder die Gerechtigkeit verhielte sich zu den Gerechten [immer] im gleichen Sinne (univoce). Nun aber verhält sie sich [zu den Gerechten] im analogen Sinne, beispielgebend und [dem Gerechten] vorwar das Leben und das Leben war das Licht der Menschen.« Eckhart trennt die Verse Joh. 1,3 f. gegen die übliche Lesart wie folgt ab: Omnia per ipsum facta sunt et sine ipso factum est nihil. Quod factum est [4] in ipso vita erat et vita erat lux hominum. – »Alles ist durch ihn geschaffen und ohne ihn wurde nichts geschaffen [oder: das ohne ihn Geschaffene ist nichts]. Was geschaffen ist, war in ihm Leben, und das Leben war das Licht der Welt.« 17 In Ioh. n. 139; 117,8–2: Adhuc sexto: omnis causa et principium essentiale vivum aliquod est et vita; quod autem est in vita, vita est. Nam et esse et intelligere in vita vita sunt vel potius vita est et vivere, ut patet ex ›De causis‹.

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geordnet. Sie fällt nicht unter die Zahl und auch nicht unter die Zeit. Und das ist etwas allen geistigen und göttlichen [Vollkommenheiten] Gemeinsames, gemäß dem Wort des Psalms (146,5): ›seine Weisheit ist ohne Zahl‹, wie ich zu jener Stelle bemerkt habe.« 18

Der eigentliche Grund für die in den geistlichen Vollkommenheiten gestiftete Einheit zwischen den Menschen liegt darin, dass der Mensch nicht aus eigenem Habitus das Gute konstituiert, sondern dass das Menschsein vielmehr dadurch konstituiert wird, dass er sich den Wesensauszeichnungen annähert. 19 Wie können wir diese These verstehen? Eckhart expliziert sie mithilfe von zwei Erläuterungen. 1. Gerechtigkeit und Weisheit geben dem Menschen in Wirklichkeit erst das Sein. Ohne Wahrsein, Gutsein und Rechtsein ist der Mensch nicht wirklich, sondern leer und nichtig, wesenlos. Doch auch diese Formulierung ist noch der Substanzontologie entlehnt, als ob ein Mensch ein Etwas in der Welt wäre, dem gute und schlechte Merkmale angehängt werden können: Eigentlich ist oder lebt ein solcher Mensch nicht. Der Mensch ist überhaupt kein Etwas, er ist nicht dies oder das, sondern er ist, und das heißt: Er ist Sein, Wahrsein, Gutsein, Rechtsein,

18 In Sap. n. 44; 366,1–367,3: Rursus ad evidentiam praemissorum notandum quod non est imaginandum, sicut plerique tardiores aestimant, quasi iustitia sit alia in pluribus iustis, divisa et numerata, fixa et radicem habens in ipsis iustis, sicut se habet – et iam dictum est – de accidentibus corporalibus. Sed potius omnes iusti iusti sunt ab una numero iustitia, numero tamen sine numero et una sine unitate vel proprius loquendo una super unitatem. Quapropter omnes iusti, inquantum iusti, unum sunt […] Si enim alia et alia iustitia plures iusti essent iusti, aequivoce essent iusti, aut iustitia se haberet ad iustos univoce. Nunc autem se habet analogice, exemplariter et per prius, nec cadit sub numero sicut nec sub tempore. Et hoc est quid generale omnibus spiritualibus, divinis, secundum illud Psalmi: ›Sapientiae eius non est numerus‹, sicut ibidem notavi. 19 In Sap. n. 74; 404,4–8: Notandum breviter quod, quia perfectiones spirituales, puta sapientia, iustitia et huiusmodi, non accipiunt esse a subiectis, sed habent causam extra efficienter et dant esse formaliter ipsis subiectis suis, proprie non accedunt nec accidunt per consequens subiectis, sed potius e converso subiecta formantur et informantur accedendo ad perfectiones huiusmodi, secundum illud Psalmi: ›accedite ad eum, et illuminamini‹. – »Es ist kurz zu bemerken: Weil die geistigen Vollkommenheiten, wie die Weisheit, die Gerechtigkeit und dergleichen, ihr Sein nicht von ihren Trägern empfangen, sondern eine außerhalb von diesen wirksame Ursache haben und ihren Trägern das Sein als Form geben, treten sie nicht eigentlich zu den Trägern hinzu und folglich sind sie keine Akzidentien, sondern umgekehrt werden vielmehr die Träger, indem sie zu derartigen Vollkommenheiten hinzutreten, geformt und überformt, gemäß dem Wort des Psalms (33,6): ›Tretet zu ihm, und ihr werdet erleuchtet‹.«

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11. Eckharts Verstndnis des richtigen Lebens

und dies ist die Weise, wie er lebt. Die Grundbestimmungen sind der Vollzug und die Explikation seines Lebens. Hier ist Sein also nicht als Vorhandensein (existentia) gedacht; denn auch in Ungerechtigkeit und Dummheit sind die Menschen ja zweifellos vorhanden; aber natürlich in größter Mangellage (privatio), und so sind sie für sich selbst nichts, wie uns Eckhart immer wieder versichert. Hier tut sich natürlich das komplexe Phänomen des Bösen, Negativen, Unvollkommenen auf, das später noch eingehender besprochen werden muss (siehe Kapitel 12). Es deutet sich an, dass der Mangel nicht etwas selbstständig Seiendes ist, sondern nur erscheinen kann, indem etwas unter dem Gesichtspunkt einer Vollständigkeit betrachtet wird. Ein Ding, dem etwas mangelt, ist aber gleichwohl an sich etwas. Es besteht nicht durch den Mangel, sondern durch das Sein, das es trägt. Insofern auch das Mangelhafte ist, ist es unmittelbar im Sein. Das ist auch der Grund dafür, dass sich auch der Arme und der Leidende immer wieder freuen können. Dass das Sein Gott ist, dass es zugleich Weisheit, Rechtsein, Licht, Leben, Liebe, Erkennen, Freiheit ist, zeigt: Sein ist Fülle und Vollzug, sich selbst entzündendes, sprudelndes Leben. Eckhart spricht bei der Auslegung des Gottesnamens »Ich bin, der ich bin« von einer »rückbezüglichen Hinwendung in und auf sich selbst«, von einem »in sich Wohnen und Halten«. 20 Das Sein »wallt auf und gebiert sich selbst, es glüht in sich, es schmilzt in sich und verflüssigt sich in sich hinein, sprudelnd, Licht im Licht und ins Licht, sich im Ganzen und als Ganzes durchdringend, das sich insgesamt auf sich in Gänze zurückwendet und von allen Seiten zurückstrahlt. […] Daher heißt es: ›In ihm war das Leben‹ (Joh. 1,4). Leben bedeutet nämlich eine Art Aussaat, durch die etwas in sich selbst aufquillt und sich zunächst ganz und gar in sich ergießt, jedes Teilchen mit sich selbst durchdringend, bevor es sich ausgießt und nach außen heraussprudelt.« 21

In Ex. n. 16; 21,8–10: Rursus ipsius esse quandam in se ipsum et super se ipsum reflexivam conversionem et in se ipso mansionem sive fixionem. 21 In Ex. n. 16; 21,10–22,6: Adhuc autem quandam bullitionem sive parturitionem sui – in se fervens et in se ipso et in se ipsum liquescens et bulliens, lux in luce et in lucem se toto se totum penetrans, et se toto super se totum conversum et reflexum undique […]. Propter hoc Ioh. 1 dicitur: ›In ipso vita erat‹. Vita enim quandam dicit exseritionem, qua res in se ipsa intumescens se profundit primo in se toto, quodlibet sui in quodlibet sui, antequam effundat et ebulliat extra. 20

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Gerechtigkeit gehört nicht nur in diese Dimension des lebendigen Seins, sondern rechtes Leben ist dieses lebendige Sein. Oder: So zu sein, ist das rechte Leben. 2. Weisheit und Gerechtigkeit formen und überformen den Menschen, wenn er sich diesen Wesensauszeichnungen annähert. Wie dies geschieht, ist das Thema des ›Kommentars zum Johannesevangelium‹. In diesem Werk hat Eckhart nicht, wie zuvor erläutert, die Rückführung der Erstbestimmungen auf Gott im Blick, sondern in umgekehrter Blickrichtung untersucht er, wie die perfectiones generales, also Wahr-, Gut- und Gerechtsein, aus dem göttlichen Ursprung, dem Prinzip, hervorgehen. Eckharts These ist, dass es in »Natur« und »Kunst« eine Begründungsform gibt, die die außenbezogenen Kausalitätsformen, Wirkund Zielursache, ausschließt. 22 Das ist für das gegenwärtige objektivierende Denken so ungewohnt, weil die Wissenschaft, die uns prägt, Kausalität nur als Effizienz- oder Wirkursächlichkeit kennt. Diese ist im allgemeinen Bewusstsein in einem solchen Maße vorherrschend, dass sogar unsere seelisch-geistigen Gründe und Motive zunächst von der Psychoanalyse, jetzt von der Hirnforschung auf naturgesetzlich determinierende Kausalketten zurückgeführt werden. Wenn wir aber keinen Bereich des Lebens gelten lassen, der ohne naturwissenschaftliche Kausalität auskommt – freilich in einer anderen Dimension n e b e n der physikalischen Welt –, können wir es gleich aufgeben, Eckhart mit heutigen Denkmodellen verstehen zu wollen. Es geht nicht 22 Vgl. In Gen. I n. 4; 64,5–9: Adhuc autem ipsa rerum ratio sic est principium, ut causam extra non habeat nec respiciat, sed solam rerum essentiam intra respicit. Propter quod metaphysicus rerum entitatem considerans nihil demonstrat per causas extra, puta efficientem et finalem. Hoc est ergo principium, ratio scilicet idealis, in quo deus cuncta creavit, nihil extra respiciens. – »Ferner aber ist die Idee der Dinge in der Weise Ursprung, dass sie keine äußere Ursache hat oder auf sie hinblickt; vielmehr blickt sie lediglich auf das Wesen der Dinge, das in ihr ist. Deswegen beweist der Metaphysiker, der die Seinsheit der Dinge betrachtet, nichts durch äußere Ursachen, nämlich durch die Wirk- und Zweckursache. Das also ist der Ursprung, nämlich die Idee, worin Gott alles schuf, ohne auf etwas Äußeres hinzublicken.« In Sap. n. 283; 615,12–16: Imago autem ex sui ratione et proprietate est formalis quaedam productio in silentio causae efficientis et finalis, quae proprie creaturam extra respiciunt et significant ebullitionem. Imago autem, utpote formalis emanatio, sapit proprie bullitionem. – »Das Bild aber ist aufgrund seines Wesens und seiner Wesenseigentümlichkeit eine formbestimmte Hervorbringung beim Schweigen der Wirkursache und der Zielursache, die im eigentlichen Sinne das Geschöpf von außen betrachten und ein Ausquellen darstellen. Das Bild als ein formbestimmtes Ausfließen, bedeutet im eigentlichen Sinne ein Quellen (in sich).«

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11. Eckharts Verstndnis des richtigen Lebens

um die Ursachen, die psychophysischen Prozesse, die – naturwissenschaftlich gesehen – den Gefühlen, Gedanken, Haltungen und Erlebnissen zugrunde liegen, sondern um die innere Erfahrung selbst. Das Fühlen, Wollen und Handeln wurzeln, leben, entfalten sich in und aus einem spontan auftauchenden Affekt, auf den man aufmerksam wird, dem man seinen Lauf lässt oder den man hemmt. Ein Beispiel für Eckharts Idee vom Entstehen auf nicht-kausale Weise lässt sich aus seiner Auffassung von der Tugend entnehmen; denn gerehticheit, iustitia ist ja, wie anfangs aufgewiesen, im fachlichen Umfeld Eckharts mit dem Phänomen der Tugenden verknüpft, die als Haltung oder Bereitschaft (habitus) zu richtigem oder ethisch wertvollem Handeln verstanden werden. Eckharts Gerechtigkeits- und Tugendlehre, die, wie gezeigt, aus seiner Transzendentalien- und Prinzipienlehre entspringt, ist kaum mit dem seinerzeit gängigen Verständnis des Habitus kompatibel; denn dieser ist eine erworbene, eingeübte Bereitschaft, die auf Einsicht beruht. Für Eckhart entspringt aber, wie seine Transzendentalienlehre besagt, die richtige Meinung und Haltung u n m i t t e l b a r aus dem Rechtsein, und das heißt letztlich aus Gott selbst. Die Bedeutung des Habitus tritt dadurch weit zurück. Weil Eckhart aber den Tugendhabitus auch nicht ganz leugnen kann – damit würde er offen gegen eine unverzichtbare Sprachregelung seines Faches verstoßen –, deutet er den stabilen Charakter des Tugendhabitus in ein aktuelles Geschehen um, aus der scholastisch verstandenen Lebenshaltung wird ein spontanes Geschehen: »Und das ist, was wir sagen wollen: Die Tugenden, zum Beispiel die Gerechtigkeit und ähnliche, sind nämlich aktuelle Um- und Einstellungen (actu configurationes) eher denn etwas innebleibend Geformtes, das einen Halt und eine Wurzel im tugendhaften Menschen hätte, und sie sind in unaufhörlichem Entstehen (continuo in fieri) wie der Glanz [des Lichts] auf seinem Träger und das Bild im Spiegel.« 23

Was als bleibender Bestand erscheint, ist für Eckhart ein nicht endender Zufluss. Tugendhaltungen werden nicht willentlich beschlossen und ›erworben‹, sondern erfahren, rezipiert, in einer scharfen FormuIn Sap. n. 45; 368,4–7: Et hoc est quod volumus dicere. Virtutes enim, iustitia et huiusmodi, sunt potius quaedam actu configurationes quam quid figuratum immanens et habens fixionem et radicem in virtuoso et sunt in continuo fieri, sicut splendor in medio et imago in speculo.

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lierung könnte man sogar sagen: erlitten. Das konkrete geschöpfliche Erscheinen der Tugenden wird terminologisch gefasst: Sie sind aktuelle »Um- und Einstellungen«, und sie sind »ständig im Entstehen« begriffen. Was also dem psychologischen Blick als stabiler Habitus des Menschen imponiert, indem die Tugend scheinbar im tugendhaften Menschen ihren Halt und ihre Wurzel hat (habens fixionem et radicem in virtuoso) – wir würden psychologisch von Haltung, Charakter, Persönlichkeit sprechen –, wird von Eckhart in eine vorausliegende Dynamik aufgelöst. 24 Die tugendhafte Ausrichtung auf ein Gutes ist Ergebnis eines unaufhörlichen Zuflusses und Einflusses: Das teilt sie mit unserem gesamten Sein als Leben, das uns ja ebenfalls in jedem Augenblick neu und ständig zufließt und uns immerdar w e r d e n lässt, 25 auch wenn wir dieser Dynamik in unserem Bewusstsein selten gerecht werden.

In geburt wîse In der Predigt 26, ›Mulier, venit hora et nunc est‹, findet Eckhart für die Weise, in der wir von Gott empfangen, einen deutschen Terminus. Gott offenbare uns alles, was er hat; er gebe es in geburt wîse. 26 Der mittelIn Sap. n. 45; 367,10–368,7: Sunt quaedam conformationes et configurationes ad iustitiam et ad ipsum deum, a quo sunt et cui configurant et conformant, secundum illud Cor. 3: ›in eandem imaginem transformamur tamquam a domini spiritu‹ ; et Hebr. 1 de primo iusto, filio dei, dicitur quod est ›splendor gloriae et substantiae eius‹. ›Splendor‹, inquit, ›gloriae‹. – »Wir sagen (nur), dass sie gewisse Gleichgestaltungen und Gleichbildungen mit der Gerechtigkeit und mit Gott sind, von dem sie sind und dem sie (die Gerechten) gleichgestalten und gleichbilden, gemäß dem Wort 2 Kor. 3,18: ›In dasselbe Bild werden wir verwandelt als vom Geist des Herrn‹ und vom ersten Gerechten, dem Sohn Gottes, wird (Hebr. 1,3) gesagt, er sei ›der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Bild seiner Wesenheit‹. ›Abglanz‹, heißt es, ›der Herrlichkeit‹.« 25 In Sap. n. 292; 627,3 f.: Ex his patet quod omnis creatura, quamvis perfectissima, et continue – quia non continue et semper actu – accipit esse a deo, et suum esse est in continuo fluxu et fieri. – »Daraus geht hervor, dass jedes Geschöpf, auch wenn es ganz vollkommen ist, sowohl ständig – weil es [selber] nicht ständig und immer im Akt ist – sein Sein von Gott empfängt als auch sein Sein in ständigem Fließen und Werden ist.« 26 Pr. 26; 29,4–6: Und hæte got noch mê, er enmöhte dir ez niht verbergen, und er müeste dir ez offenbâren, und er gibet dirz; und ich hân etwenne gesprochen: er gibet dirz und gibet dirz in geburt wîse. – »Und besäße Gott noch mehr, er könnte es nicht vor dir verbergen, er müsste es dir offenbaren, und ich habe mal gesagt: Er gibt es dir und er gibt es dir in der Weise der Geburt.« 24

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hochdeutsche Terminus geburt lässt sich im Neuhochdeutschen nicht eindeutig wiedergeben. Er bezeichnet gleichzeitig die Zeugung, wenn das Hervorbringen (vonseiten des Vaters), und die Geburt, wenn das Hervorgebracht-Werden (des Sohnes) angesprochen wird. Natürlich ist damit zuerst und vor allem die Geburt des Wortes in der Seele gemeint, deren Ursprung und Wirkweise dem Bewusstsein in der Finsternis verborgen bleibt, dessen Ausstrahlung aber als eine nie gekannte Einsicht den Erleuchteten beglücken kann. Denn dies ist für Eckhart die Erleuchtung. »Dieses Licht kann der Mensch wohl wahrnehmen. Sobald er sich zu Gott kehrt, funkelt und glänzt in ihm ein Licht und gibt ihm zu erkennen, was er tun und lassen soll, und weitere gute Anregungen, von denen er zuvor nichts wusste oder verstand.« 27 Hier haben wir einen »phänomenalen Anhalt« für die ontologische Herkunft des richtigen Lebens. Der ontologisch gegebene ständige Zufluss des Seins und mit diesem der Wahrheit, des Guten und Rechten konkretisiert sich auch psychologisch im Phänomen des Einfalls. Wissen und Verstehen kommen zum Menschen, sofern und sobald er »sich zu Gott kehrt«, sagt Eckhart. Das darf mit dem mittelalterlichen Frommen ganz naiv verstanden werden, indem der Mensch sich in Andacht, Liebe, Vertrauen dem Ruf des inneren Wortes öffnet, das Jesus spricht, wenn die Seele nicht »fremde Gäste« hat, »mit denen sie redet. Sie muss allein sein und selbst schweigen, um Jesus reden zu hören. Ja, dann tritt er ein und beginnt zu sprechen.« Eckhart vertraut auf diese Art der Inspiration. 28 Für den kreativ Schreibenden und Denkenden wie für jeden Künstler hat die Eingebung dieselbe Erscheinungsweise. Pr. 102; 413,45–415,68: Dises liehtes wirt der mensche wol gewar. Swenne er sich ze gote kêret, alzehant glestet und glenzet in im ein lieht und gibet im ze erkennenne, waz er tuon und lâzen sol und vil guoter anewîsunge, dâ er vor niht abe enweste noch enverstuont. 28 Pr 1; 15,4–10: Sehet, daz wizzet vür wâr: wil ieman anders reden in dem tempel, daz ist in der sêle, dan Jêsus aleine, sô swîget Jêsus, als er dâ heime niht ensî, und er ist ouch dâ heime niht in der sêle, wan si hât vremde geste, mit den si redet. Sol aber Jêsus reden in der sêle, sô muoz si aleine sîn und muoz selber swîgen, sol si Jêsum hœren reden. Eyâ, sô gât er în und beginnet ze sprechene. Waz sprichet her Jêsus? Er sprichet, daz er ist. – »Seht, das sollt ihr wirklich wissen: Will ein anderer als Jesus allein in dem Tempel reden, das ist in der Seele, so schweigt Jesus, als wäre er dann nicht daheim; und er ist auch nicht in der Seele daheim, denn sie hat fremde Gäste, mit denen sie redet. Soll aber Jesus in der Seele reden, dann muss sie allein sein und selbst schweigen, um Jesus reden zu hören. Ja, so tritt er ein und beginnt zu sprechen. Was spricht der Herr Jesus? Er spricht, was er ist.« 27

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Sie ist Frucht eines Zufalls, selbst wenn in der Vorbereitung oder Ausarbeitung viel Fleiß, Technik und Anstrengung stecken. Beim genaueren Hinsehen geschieht auch in jeder Entscheidung, die unser Leben wirklich betrifft, in jeder Entscheidung aus dem Herzen dasselbe, ob wir nun Gott, das Gewissen oder – in zeitgenössischer – Manier eher so kühle Tugenden wie ›Fairness‹ zur Begründung bemühen. Es ist in der Erfahrung ›ciszendental‹. Für das Erscheinen und Ergriffenwerden von der Gerechtigkeit heben wir zunächst ihr Erscheinen als Ankunft und Rezeptivität heraus. Eckharts Antwort auf unsere Frage, wie das Rechtsein im richtig Lebenden zur Wirkung kommt, nämlich in geburt wîse, führt uns demnach in eine phänomenologische Psychologie. Dazu gibt es in seinem Werk viele Fingerzeige. Es ist die Weise, wie Gedanken, Gefühle, Entscheidungen, Lebenshaltungen in unserem Bewusstsein entstehen. Die Ausstrahlung der transzendentalen »Geburt« mündet in eine Phänomenologie der spontan erlebten Einfälle, Gedankenblitze, Umstimmungen, Einsichten und Erleuchtungen. Das Geschehen der transzendentalen Geburt selbst bleibt verborgen, unbekannt, unerkennbar, »immemoriabel«, wie die Lebensphänomenologie sagt. Die Frage an den Eckhart-Interpreten von heute ist: Kann dieses Beziehungsverhältnis, das ganz von Gott her gedacht wird, uns einen Aufschluss darüber geben, wie wir die Phänomene sehen können, die Eckhart als die Grundbedingungen unseres spirituellen Lebens (perfectiones generales und spirituales) versteht: Sein, Eines, Wahres, Gutes, Gerechtigkeit, Licht, Leben, Liebe, Erkennen, Freiheit – von denen im Übrigen die wissenschaftlichen Psychologen und Psychiater gar nicht sprechen?

Eckharts Beispiel: Affiziert von der Rechtheit Eckhart gibt ein Beispiel für das Affiziertwerden, das hier ausführlicher zitiert werden soll, da es charakteristisch ist für seine Vorgehensweise, wenn es nicht um philosophische Argumente, sondern um die persönliche Erlebnisweise geht: »Ein Beispiel: Wenn man hört, dass die Gerechtigkeit eine gewisse Rechtheit ist, ›in der man einem jeden zuteilt, was sein ist‹, so hören das zwar manche, die draußen stehen, ›fern, im Lande der Unähnlichkeit‹, und ›hören es doch

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nicht und verstehen es auch nicht‹ (Matth. 13,13). […] Aber ein anderer, der dem Gehörten nachsinnt und zur Gerechtigkeit entflammt (afficitur) wird, spürt Ergötzen in seinem Herzen. Er weiß schon, wie das Wort ist, denn das Wort ist gut und lieblich: ›So ist mein Geliebter, und er ist mein Freund‹ (Hohel. 5,16). Denn das Geliebte entflammt den Liebenden. […] So weiß einer, der von dem Wort, das die Wahrheit ist, ergriffen wird, wie es ist, denn es ist ja süß; aber er weiß noch nicht, was es ist, sondern er sucht noch nach dem, was es ist.« 29

Die Hauptaussage ist klar und einfach: Man kann, wenn man dafür offen ist, von der Wahrheit einer Idee innerlich tief angerührt werden. Diese Sachaussage wird durch eine Reihung von Satzsplittern und Anspielungen aus der Heiligen Schrift ›belegt‹. Doch soll damit hier nicht eine Autorität zur Bestätigung angeführt werden; die Zitate haben vielmehr den Effekt des Wiedererkennens. Sie geben fast keine Information (deshalb sind die meisten im obigen Zitat auch ausgelassen worden). Vielmehr vermitteln sie eine Stimmung der Bewegtheit, wie wenn der Leser durch einen ›Wahrheitsraum‹ spazieren würde, in dem ihm der Sinn der These, ihre Wahrheit, als Klang zugespielt würde. Durch diese Affektion wird aber kein washaftes Wissen erzeugt, sondern nur ein Gefühl, das durch sich selbst angenehm ist. Es ist aber keineswegs eine dumpfe eintönige Befindlichkeit, sondern ein belebtes, reichhaltiges Gefühl. Charakteristisch für Eckharts Stil in den lateinischen Schriften ist aber, dass er diese emotionale, ja meditative Durchformung des Erlebten nicht mit eigenen Worten ausmalt, sondern sich wiederum einer Fülle von Zitaten aus der Bibel oder von Kirchenvätern und Schriftstellern bedient, wie in der Fortsetzung unseres Beispiels: »Augustin sagt im 10. Buch der ›Bekenntnisse‹ : ›Du versenkst mich in meinem Innern in ganz ungewohntes Ergriffensein, ich weiß nicht, in was für eine Süßigkeit.‹ Und Hugo von St. Viktor fragt in der Rolle der Seele [aus dem Hohenlied]: ›Was ist das Süße, das mich zuweilen zu berühren und so heftig und lieblich zu ergreifen weiß, dass ich bald beginne, mich geradezu

In Ioh. n. 48; 39,9–40,10: Exempli gratia: audito quod iustitia sit quaedam rectitudo »qua redditur unicuique quod suum est«, nonnulli foris stantes et »longe in regione dissimilitudinis« »audientes non audiunt neque intelligent«, Matth. 13. […] Et alius qui auditum mente pertractans afficitur ad iustitiam, dulcescit cordi ipsius. Iam novit quale sit verbum, quoniam verbum bonum et suave, Cantica: »talis est dilectus meus, et ipse est amicus meus«. Amatum enim afficit amantem. […] Sic affectus verbo, quod est veritas, novit quidem quale est, quoniam dulce est, sed nondum quid sit, sed adhuc quaerit quid sit.

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ganz fremd und, ich weiß nicht wohin, entrückt zu finden? Denn plötzlich fühle ich mich erneuert und ganz verwandelt, und es beginnt ein Glücksgefühl, größer, als ich zu sagen vermag. Das Bewusstsein heitert sich auf, in Vergessenheit gerät das ganze Elend vergangener Schmerzen, es jauchzt die Seele, es erstarkt der Geist, das Herz wird erleuchtet, das Sehnen gestillt. Schon sehe ich mich anderswo, ich weiß nicht wo, und halte gleichsam etwas innen in den Armen der Liebe, und ich weiß nicht, was es ist.‹« 30

Das ist ein Beispiel, auf welche Weise Eckhart in seine philosophische Abhandlung betrachtende Passagen einfügt, die natürlich von den meisten philosophierenden Kommentatoren übersprungen werden. Nach dieser unentbehrlichen ›Abschweifung‹ fällt Eckhart wieder in seinen sachlichen Ton zurück: »Auf diese Frage, was es sei, antwortet der dritte Satz [des Johannesprologs]: ›Und Gott war das Wort‹ (Joh. 1,1). Denn der Gerechte, das Wort der Gerechtigkeit, ist die Gerechtigkeit selbst: ›Ich und der Vater sind eins‹ (Joh. 10,30). Denn »der Gerechte« bezeichnet allein die Gerechtigkeit, wie oben gesagt worden ist.« 31

Damit greift Eckhart die prinzipielle Belehrung über die Gerechtigkeit und das rechte Leben wieder auf, und er schließt wieder eine jener Bemerkungen an, die er häufig wiederholt und aus denen wir die Richtlinien für unsere Interpretation entnehmen. Es geht hier um das Phänomen der ›Gerechtigkeit‹, das uns bei Eckhart zunächst unter dem theologischen Aspekt der Richtigkeit, Rechtheit, Rechtfertigung begegnet ist. Für unsere Interpretation gibt Eckhart den Hinweis, dass wir dieses Phänomen jeweils unter dem Doppelaspekt betrachten sollen: als Prinzip oder als Prinzipiat, mit anderen Worten: als reales ›psychologisches‹ Phänomen oder gemäß seiner ermöglichenden Herkunft. 30 In Ioh. n. 49; 40,11–41,5: Augustinus ›Confessionum‹ I, 10 dicit sic: ›intromittis me in affectum multum inusitatum introrsus, ad nescio quam dulcedinem‹. Et Hugo de Sancto Victore in persona animae quaerit dicens: ›quid est dulce quod‹ ›aliquando me tangere solet, et tam vehementer atque suaviter afficere, ut iam tota quodammodo a memet ipsa alienari et, nescio quo, abstrahi incipiam? Subito enim innovor et tota immutor, et bene mihi esse incipit, ultra quam dicere sufficiam. Exhilaratur conscientia, in oblivionem venit omnis praeteritorum dolorum miseria, exsultat animus, virescit intellectus, cor illuminatur, desideria iucundantur, iamque alibi, nescio ubi, me esse video et quasi quiddam amoris amplexibus intus teneo, et nescio quid illud sit‹. 31 In Ioh. n. 50; 41,6–9: Et huic quaestioni, quid illud sit, respondet quod hic tertio sequitur: ›et deus erat verbum‹. Iustus enim, verbum iustitiae, est ipsa iustitia, infra Ioh. 10: »ego et pater unum sumus«. Iustus enim solam iustitiam significat, ut supra dictum est.

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Von diesen beiden Dimensionen des Seins, die Eckhart in seiner gesamten Ontologie unterscheidet, muss unterschiedlich geredet werden, wie Eckhart sagt: »Die das nicht beachten, fallen häufig in Irrtum.« 32 Dieser Irrtum bestünde in einer Fehldeutung entweder des Faktischen oder des »Transzendentalen«, und damit in einem Missverständnis der Beziehung dieser beiden Seinsweisen. Eckharts Gesamttendenz warnt dabei eher vor einer Unterschätzung der Wirklichkeit des ›Transzendentalen‹, wenn man sich von der scheinbaren ›normativen Kraft des Faktischen‹ blenden lässt. Im Beispiel des konkreten ethischen Handelns, also des richtigen Lebens oder des ›Gerechten‹ bzw. Guten, wie Eckhart sagt, bestünde der Fehler darin, auf die konkrete gerechte Handlung oder das gute Ereignis zu schauen und zu meinen, man käme ohne die ›Gerechtigkeit‹ oder die ›Güte‹ selbst aus, die man in die spekulativen Gefilde einer bloßen Idee abtun könne. Der philosophische Hintergrund für diese Einschätzung lautet: »Warum es aber ein Wort ist, das lernen wir, wenn es [im Johannesprolog] weiter heißt: ›Dies war im Anfang bei Gott‹. Das Ziel ist nämlich ganz allgemein dasselbe wie der Ursprung. Es kennt kein Warum und Wozu, sondern ist selbst das Warum und Wozu aller und für alle: ›Ich bin der Anfang und das Ende‹ (Offb. 1,8). Ähnlich verhält es sich mit jedem Ursprung (principium) und dem daraus Hervorgegangenen (principiatum) in Kunst und Natur, freilich mehr oder weniger, je nachdem etwas in höherem [oder geringerem] Maße Ursprung ist als ein anderes.« 33

Wir dürfen sagen: Für Eckhart ist das innere Wort (das Prinzipiat) dasselbe wie der Gedanke (das Prinzip), wenngleich sie verschiedenen Status haben. Der Übergang vom Prinzip zum Prinzipiat ist die Übertragung einer Form ohne ein zwischengeschaltetes Medium. Das ist im Materiellen nicht möglich; dort braucht es zur Herstellung einer Kopie eine Matrize. Aber welches Zwischenglied bildet den Übergang vom erfahrenen Denken zum inneren Wort? Genau darum, weil wir einen In Ioh. n. 514; 445,3–14: Aliter autem loquendum est omnino de rerum rationibus et cognitione ipsarum, aliter de rebus extra in natura, sicut etiam aliter loquendum est de substantia et aliter de accidente. Quod non considerantes frequenter incidunt in errorem. 33 In Ioh. n. 50; 41,10–15: Quare autem sit verbum, docemur, cum sequitur: ›hoc erat in principio apud deum‹. Finis enim universaliter est id ipsum quod principium. Non habet quare, sed ipsum est quare omnium et omnibus, Apoc. 1: ›ego sum principium et finis‹. Et similiter se habet de omni principio et principiato in arte et natura, plus tamen et minus, secundum quod aliquid est verius principium alio. 32

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Übergang im Erleben nicht wahrnehmen können, empfinden wir den Unterschied nicht. Anders ist es, wenn das innere Wort im Sprechen geäußert werden soll. Dann schalten sich natürlich Laute und Vokabeln dazwischen. Eine Metapher für das unmittelbare Hervortreten eines anderen, das doch dasselbe ist wie das Ursprüngliche, ist für Eckhart die Metapher der Geburt. Die mittelalterliche Vorstellung sieht darin einen Anderen aus dem empfangend-gebärenden Schoß heraustreten, der doch in seiner Natur nichts Anderes ist als der zeugend-gebärende Ursprung. Natürlich ist diese Metapher angesichts unserer heutigen Kenntnis des Zusammenwirkens von Samen und Eizelle nicht mehr ohne Rückübersetzung stimmig. Nur das Bild des linearen Hervortretens kann demnach weiterführen, wenn wir die »Geburt« des Gotteswortes oder des Sohnes in der Seele, jenes zentrale Konzept Eckharts, verstehen wollen. Für eine andere Weise, die unmittelbare Formübertragung zu verdeutlichen, bedient sich Eckhart des (Spiegel-)Bildes, das oben schon aufschien. Das Bild hat seine »Substanz«, das heißt sein Stand und Halt gebendes Sein, nicht im Spiegel, sondern im Menschen, der sich spiegelt. Solange der Mensch vor dem Spiegel steht, ist auch das Bild da. Auch hier braucht es für das Bildsein im engeren Sinne des Bildes kein Mittleres über die Anwesenheit des Abgebildeten hinaus. Wiederum dürfen wir uns bei dieser Metapher nicht durch unsere Kenntnisse der Optik stören lassen. Eher ist an einen ideellen Spiegel, zum Beispiel an die Spiegelung in der Geometrie, zu denken.

Der Durchgang zur Gottesgeburt durch das Nichts der abegescheidenheit Wenn die Gerechtigkeit mit dem Sohn Gottes in die Seele hinein gezeugt wird, was ist dann die Bedingung der Empfängnis aufseiten des Menschen? Es ist das Leerwerden, das Lassen aller irdisch-weltlichen Errungenschaften, mit Eckharts Begriff: die abegescheidenheit. Von den frühesten Schriften Eckharts angefangen hören wir: Wo der Mensch sich selbst lässt und allen Eigenwillen, und wo er alles, was er sich zugute hält, aufgibt, da muss Gott von nôt, mit Notwendigkeit, in den Willen eintreten, in die Vernunft und in das Wesen des Menschen. 34 Es handelt sich hier nicht nur um eine Aufforderung zur from34

RdU; 187,1–3: Swâ der mensche in gehôrsame des sînen ûzgât und sich des sînen

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men Selbstlosigkeit, sondern um eine metaphysische Gesetzmäßigkeit. Es ist eine Anwendung des Gesetzes vom Abscheu der Natur vor der Leere, horror vacui 35 . Aber dennoch hat das, was von des Menschen Leere gesagt wird, eine reale, existenzielle Repräsentanz. Bei Eckhart klingt das an, wenn er zum Beispiel in Predigt 1, ›Intravit Jesus in templum‹, sagt: »Wenn die Seele in das unvermischte Licht kommt, so fällt sie in ihr Nichtes-Nichts – so fern vom geschaffenen Etwas, im Nichtes-Nicht –, sodass sie durch nichts aus eigener Kraft in ihr geschaffenes Etwas zurückkommen kann.« 36 Das ist nicht nur ein abstrakter Gedanke, sondern er spricht von der Lebenserfahrung und also auch vom rechten Leben. Gerade angesichts der tiefsten spirituellen Erfahrung kann der Mensch aus eigener Kraft nichts tun. Auf diesen Sturz in die Leere, auf das Nichts im Leben des Menschen weisen immer wieder die Ermahnungen Eckharts. Dabei handelt es sich nicht um einen willentlichen Verzicht, etwa um die sogenannte ›Abtötung des Fleisches‹. Eckhart weiß, dass solche Akte der Askese immer noch vom Eigenwillen bestimmt sein können. So haben wir Eckhart zu fragen, was denn, menschlich gesehen, dieses Nichts sein mag, dem der richtig Lebende sich aussetzen muss, damit Gottes Gerechtigkeit in ihm geboren wird. Beim Versuch einer Antwort beschränke ich mich auf die ›Gerechtigkeitspredigt‹, Nr. 6, ›Iusti vivent in aeternum‹. 37 Diese Predigt entfaltet sich in drei Schritten: 1. Rechtsein ist rechtes Geben. 2. Rechtsein ist rechtes Empfangen. 3. Rechtsein ist Leben. 38 erwiget, dâ an dem selben muoz got von nôt wider îngân; wan sô einez im selber niht enwil, dem muoz got wellen glîcher wîs als im selber. – »Wo der Mensch in Gehorsam aus seinem Ich herausgeht und sich des Seinen entschlägt, ebenda muss Gott notgedrungen hinwiederum eingehen; denn wenn einer für sich selbst nichts will, für den muss Gott in gleicher Weise wollen wie für sich selbst.« 35 Aristoteles, Physik IV, c. 6–9; 213a–217b. 36 Pr. 1; 14,2–4: Swenne diu sêle kumet in daz ungemischte lieht, sô sleht si in ir nihtes niht sô verre von dem geschaffenen ihte in dem nihtes nihte, daz si mit nihte enmac wider komen von ir kraft in ir geschaffen iht. In der Übersetzung behalte ich auch im folgenden den klangvollen, unübersetzbaren mittelhochdeutschen Ausduck nihtes niht meistens bei. 37 Pr. 6; 99–115: Eine Interpretation bei Flasch, Kurt: Predigt 6: ›Iusti vivent in aeternum‹. Die zweite Gerechtigkeitspredigt, Nr. 39; 251–268, ›Iustus in perpetuum vivet et apud dominum est merces eius‹ enthält die Gottesgeburtslehre in der höchsten Entfaltung, die erst in den Kölner Predigten erreicht wurde. Eine Interpretation bei Flasch, Kurt: Predigt 39: ›Iustus in perpetuum vivet‹. 38 Pr. 6; 99,1–101,15 (1.); 102,1–105,3 (2.); 105,4–115,6 (3.).

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Zu 1. Rechtes Geben heißt Gott allein die Ehre geben, und das heißt, sein eigenes Sein und Streben auf Nichts, auf nichts Weltliches zu setzen. Wenn öfter allgemein gesagt wird, man solle sich selbst und alles Geschöpfliche und Eigene lassen, könnte man das wie einen Topos konstatieren und auf sich beruhen lassen. Aber an dieser Stelle zählt Eckhart im Einzelnen auf, was den rechten Menschen auszeichnet: Sich selbst vergessen; in keinem Ding Befriedigung suchen; keinerlei Rücksichten kennen, weder auf Oberes noch auf Mitweltliches noch auf sich selbst; kein Gut suchen, keine Ehre, keine Zufriedenheit, nicht Lust, Nutzen, Innerlichkeit, Heiligkeit, Lohn, Himmelreich. Wer all dieses hinter sich gelassen hat, der ist ein rechter Mensch. 39 Zur Verdeutlichung muss hier wohl angemerkt werden, dass hier nicht gesagt wird, dass all solche Haltungen nicht auch gut sein können, sondern dass in diesem faktisch Guten nicht »Gottes Ehre« liegt, das heißt, dass diese Haltungen aus sich nicht »gerecht« sind. Es wird vielmehr nach dem Prinzip der Ethik bzw. der Gerechtigkeit gefragt. Dieses ist in menschlicher Perspektive das Lassen alles Warum und Wozu, das heißt, alles nur um seiner selbst willen zu tun. Sollte sich hier die Frage erheben, ob für dieses Lassen nicht auch ein Wille maßgebend sei, ist weiter zu fragen, woher denn dieser Wille seinen Anstoß nimmt. Er wird ebenfalls aus einer ihn herausfordernden Bereitschaft gezündet, die wiederum passiven Charakter hat. Mit anderen Worten: Dem rechten Menschen sind alle materiellen, ideellen und sozialen Werte verloren gegangen, aus denen wir Menschen gewöhnlich unsere Motivation und das Gefühl des Rechtseins gewinnen. Aus diesem Verzicht lässt sich keine Ethik gewinnen, keine eudämonistische, keine des Gottesdienstes, keine utilitaristische, keine Konsensethik. Es ist sogar zu bePr. 6; 101,7: Gotes ist diu êre. Wer sint, die got êrent? Die ir selbes alzemâle sint ûzgegangen und des irn alzemâle niht ensuochent an keinen dingen, swaz ez joch sî, noch grôz noch klein, die niht ensehent under sich noch über sich noch neben sich noch an sich, die niht enmeinent noch guot noch êre noch gemach noch lust noch nutz noch innicheit noch heilicheit noch lôn noch himelrîche und dis alles sint ûzgegangen, alles des irn, dirre liute hât got êre, und die êrent got eigenlîche und gebent im, daz sîn ist. – »Gottes ist die Ehre. Wer sind die, die Gott ehren? Die aus sich selbst gänzlich ausgegangen sind und des Ihrigen ganz und gar nichts suchen in irgendwelchen Dingen, was immer es sei, weder Großes noch Kleines; die auf nichts unter sich noch über sich noch neben sich noch an sich sehen; die nicht nach Gut noch Ehre noch Gemach noch Lust noch Nutzen noch Innigkeit noch Heiligkeit noch Lohn noch Himmelreich trachten und sich alles dieses entäußert haben, alles Ihrigen, – von diesen Leuten hat Gott Ehre, und die ehren Gott im eigentlichen Sinne und geben ihm, was sein ist.«

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zweifeln, dass Kants Ethik des kategorischen Imperativs dieser Beraubung aller menschlichen Autonomie standhalten würde. Kein Wunder, dass dieser Satz in die Anklageschrift aufgenommen wurde. Nicht nur das: Er ging auch in die Verurteilungsbulle des Papstes Johannes XXII ein. 40 Dieser Verzicht auf jegliches eigenmächtige Streben nach Heiligkeit und Himmelreich sowie nach Gut und Ehre klang doch zu verdächtig, ebenso wie die Forderungen der Armutsbewegung, zum Beispiel der radikalen Franziskaner, die der mächtige Papst in Avignon als Ketzerei verurteilen musste. Zu 2. Rechtes Empfangen heißt »alle Dinge in gleicher Weise von Gott in Empfang nehmen, was immer es sei, groß oder klein, angenehm oder leidvoll, alles gleich, keines weniger und keines mehr, eines wie das andere. Wägst du ein Seiendes mehr als das andere, so ist das unrecht. Du sollst deinen eigenen Willen gänzlich hinter dir lassen«. 41

Könnte beim rechten Geben – selbst im Loslassen – noch ein Moment der Aktivität, eine Illusion von Selbstbestimmung bestehen bleiben, so wird mit der zweiten Stufe der Gerechtigkeit uneingeschränkte Rezeptivität, bedingungsloses Hinnehmen gefordert. Hier muss man deutlich vor zwei möglichen Missverständnissen warnen. 1. Der Ausschluss der Selbstbestimmung meint nicht Fremdbestimmung durch eine äußere, transzendente Gesetzgebung. Gemeint ist die innere Struktur des Bestimmtseins. Der Satz wurde nicht inkriminiert; darum ist anzunehmen, dass die Ankläger ihn tatsächlich in einem moralischen Sinne missverstanden haben. Gemeint ist nicht die quietistische, ja masochistische Unterwerfung unter das Schicksal. 2. Es geht bei Eckhart um Responsio II n. 89; 339,16–21: Tricesimus quintus articulus. In sermone ›Iusti in perpetuum vivent‹ sic dicit: »Qui nec intendunt res nec honores nec commodum nec delectationem nec utilitatem nec devotionem internam nec sanctitatem nec praemium nec regnum caelorum, sed omnibus istis renuntiaverunt, quidquid est suum, in illis hominibus honoratur deus. – »35. Artikel: In der Predigt ›Iusti in perpetuum vivent‹ sagt er: ›Die nichts erstreben, weder Ehre noch Annehmlichkeit, noch Vergnügen noch Nutzen noch innere Innigkeit noch Heiligkeit noch Lohn noch das Himmelreich, sondern all dem entsagen, was ihres ist, in diesen Menschen wird Gott geehrt‹.« Ebenso Bulle a. 8; Acta. n. 65; 598,36–38. 41 Pr. 6; 102,1–5: Dirre mensche ist gereht in e i n e r wîse [des Gebens], und in einem andern sinne sô sint die gereht, die alliu dinc glîch enpfâhent von gote, swaz ez joch sî, ez sî grôz oder klein, liep oder leit, und al glîch, noch minner noch mêr, einz als daz ander. Wigest dû daz ein iht mêr dan daz ander, sô ist im unreht. Dû solt dînes eigen willen alzemâle ûzgân. 40

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Ontologie, und zunächst nicht um Psychologie und Aszetik. Passivität, Rezeptivität (die »Passibilität« der Lebensphänomenologie) sind für Eckhart nur sekundär existenzielle Haltungen. Primär sind sie conditio humana. Jede Aktivität des Ich wurzelt in einem vorgängigen Gegebensein des Lebens, der Kraft und Potenz. Zu 3. Was ist das Leben des Gerechten? »Gottes Sein ist mein Leben. Ist mein Leben Gottes Sein, so muss was Gottes ist, meines sein, und Gottes Istheit ist meine Istheit, nicht weniger und nicht mehr.« 42 Natürlich ist auch dieser ungeheuerliche Satz in die Anklage aufgenommen worden. Wie erläutert Eckhart selbst diese Zumutung? Im Prozess räumt er dazu ein, der Satz klinge zwar falsch und irrtümlich, aber gemäß seinem eigenen Seinsverständnis sei es »fromm und moralisch, dass dem gerechten Menschen, soweit er gerecht ist, das ganze Sein vom Sein Gottes zukommt, freilich im analogen Sinn. Es steht nämlich fest, dass niemand gerecht ist außer durch das Rechtsein, wie auch nichts weiß ist außer durch das Weißsein; das entspricht dem Satz: ›Leben ist mir Christus‹ (Phil. 1,21) und auch ›Ich lebe, doch nicht ich, Christus lebt in mir‹ (Gal. 2,20). Darum soll der Mensch sorgen, dass er richtig ist und richtig handelt.« 43

In der Predigt heißt es, die Gerechten lebten ewig in voller Gleichheit bei Gott, weder drunter noch drüber. 44 Wiederum ist es rätselhaft und mit den gewohnten Vorstellungen kaum zu verstehen, was diese Gleichheit mit Gott für den irdischen Menschen bedeuten soll: Der Abschnitt dieser Erläuterung beginnt mit einem Paukenschlag: »Die [dem] Nichts gleich sind, die sind allein Gott gleich.« Und er endet ebenso heftig: »Alle Liebe dieser Welt gründet sich auf Selbstliebe. Hättest du die aufgegeben, hättest du die ganze Welt aufgegeben.« Und dazwischen steht, einem in dieser Weise vernichteten Menschen Pr. 6; 106,1–3: Waz ist leben? Gotes wesen ist mîn leben. Ist mîn leben gotes wesen, sô muoz daz gotes sîn mîn sîn und gotes isticheit mîn isticheit, noch minner noch mêr. Die Anklageschrift (Responsio II n. 91; 430,1–2) übersetzt hier wesen mit esse und isticheit mit quidditas. 43 Responsio II n. 92; 340,3–8: Dicendum quod falsum est et error, sicut sonat. Verum quidem est, devotum et morale quod hominis iusti, in quantum iustus, totum esse est ab esse dei, analogice tamen. Constat enim quod nemo iustus est nisi a iustitia, sicut nec albus nisi ab albedine, secundum illud: ›mihi vivere Christus est‹ et iterum: ›vivo ego, iam non ego, vivit in me Christus‹. Propter quod debet homo esse sollicitus, ut sit iustus et iuste agat. 44 Pr. 6; 106,4: Sie lebent êwiclîche bî gote, rehte glîch bî gote, noch unden noch oben. 42

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gebe Gott alles, was er hat. 45 Auch dieser Abschnitt wurde in die Anklage aufgenommen. 46 Dass solche Ansichten von der Kirche verboten wurden, zeigt, dass sie dem System noch gefährlich sein konnten. Dieselben Forderungen, heute geäußert, wären natürlich mit dem ›System‹ heute ebenso wenig vereinbar, wenn sie mehrheitlich gelebt würPr. 6; 107,5–109,1: Wer sint die alsô glîch sint? Die nihte glîch sint, die sint aleine gote glîch. Götlich wesen enist niht glîch, in im enist noch bilde noch forme. Die sêlen, die alsô glîch sint, den gibet der vater glîch und entheltet in nihtes niht vor. Swaz der vater geleisten mac, daz gibet er dirre sêle glîch, jâ ob si glîch stât ir selber niht mêr dan einem andern, und si sol ir selber niht næher sîn dan einem andern. Ir eigen êre, ir nutz und swaz ir ist, des ensol si niht mêr begern noch ahten dan eines vremden. Swaz iemannes ist, daz sol ir weder sîn vremde noch verre, ez sî bœse oder guot. Alliu minne dirre werlt ist gebûwen ûf eigenminne. Hætest dû die gelâzen, sô hætest dû al die werlt gelâzen. – »Wer sind die, die in solcher Weise gleich sind? Die nichts gleich sind, die allein sind Gott gleich. Göttliches Wesen ist nichts gleich, in ihm gibt es weder Bild noch Form. Die Seelen, die in solcher Weise gleich sind, denen gibt der Vater gleich und enthält ihnen nichts vor. Was der Vater zu leisten vermag, das gibt er einer solchen Seele in gleicher Weise, fürwahr, wenn sie sich selbst nicht mehr gleicht als einem andern, und sie soll sich selbst nicht näher sein als einem andern. Ihre eigene Ehre, ihren Nutzen und was immer das Ihre ist, das soll sie nicht mehr begehren noch beachten als das eines Fremden. Was immer zu irgendjemand gehört, das soll ihr weder fremd noch fern sein, es sei böse oder gut. Alle Liebe dieser Welt ist gebaut auf Eigenliebe. Hättest du die gelassen, so hättest du die ganze Welt gelassen.« 46 Responsio II n. 93; 340,9–11: Tricesimus septimus articulus habet sic: »Debet anima iusta esse apud deum et iuxta deum, recte aequaliter nec infra nec supra. Qui sunt illi, qui sic sunt aequales? Illi qui non habent similitudinem, in quibus non est aliqua imago nec aliqua forma, illi sunt omnes deo similes, quia esse dei non est simile, essentia dei non est similis, et in eo nec est imago nec forma. Animae, quae sic stat aequaliter, illi dat pater aequaliter et nihil retinet quod non det ei. Quidquid pater habet, hoc dat ei aequaliter, si ipsa stat aequaliter et non sit plus sibi ipsi quam alteri, et ipsa non debet sibi ipsi esse propinquior quam alteri. Suum proprium honorem et suam propriam utilitatem et quidquid suum est, illud non debet ipsa magis desiderare nec curare quam unius extranei. Quidquid est cuiuscumque, hoc non debet ei esse alienum nec distans, sive sit bonum sive malum.« – »Der 73. Artikel: ›Die gerechte Seele soll bei Gott und neben Gott sein, ganz gleich, nicht unterhalb nicht oberhalb. Wer sind die, die in solcher Weise gleich sind? Solche, die kein Gleichsein kennen, in denen kein Bild und keine Form ist, alle diese sind Gott gleich, da [auch] das Sein Gottes kein Gleiches kennt und auch das Wesen Gottes kein Gleiches kennt; und in ihm gibt es auch kein Bild und keine Form. Einer Seele, die so [in der vergleichslosen Weise] gleich steht, gibt der Vater in gleicher Weise und er hält nichts zurück, das er ihr nicht gäbe. Alles, was der Vater hat, gibt er ihr in gleicher Weise, wenn sie selbst in gleicher Weise steht und wenn sie nicht höher über ihr selbst steht als über einem anderen. Ihre eigene Ehre, ihren eigenen Nutzen und alles, was ihr eigen ist, das soll sie nicht mehr begehren und besorgen als das eines Anderen außer ihr. Was immer diesem Anderen eigen ist, soll ihr weder fremd noch fern sein, es sei gut oder böse.‹« 45

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den; doch sind wir weit entfernt von einer revolutionären oder spirituellen Armutsbewegung. Damit Eckharts Einsichten überhaupt bei den Menschen ankommen und gesellschaftlich wirksam werden könnten, dazu bedürfte es einer Revolution des Denkens, die leider nach zeitgenössischen menschlichen Maßstäben nicht zu erwarten ist. Michel Henry greift Eckharts Satz aus der Gerechtigkeitspredigt auf: »Gottes Sein ist mein Leben.« 47 Leben ist für ihn die aus sich selbst entspringende und in sich selbst mündende Offenbarung, die nicht einem ›Anderen‹, dem geschaffenen Menschen außerhalb Gottes, eine ›Botschaft‹ mitteilt, sondern sich als Leben in das Leben des Lebendigen ergießt. Insofern ist das Leben Selbstoffenbarung und Geburt des Lebens. »Mit dieser Idee einer reinen Offenbarung […] stehen wir dem Wesen gegenüber, welches vom Christentum in das Prinzip aller Dinge verlegt wird. Gott ist diese reine Offenbarung, die nichts anderes als sich selbst offenbart.« 48 Insofern die Selbstoffenbarung Gottes nichts jenseitig Fremdes offenbart, sondern sich selbst, und insofern sich diese Offenbarung im Leben des offenen Menschen selbst ereignet, ist die Transzendenz Gottes aufgehoben. Henrys Botschaft – und in seiner Sicht auch die Botschaft Eckharts – ist, dass Ethik, Rechtsein, Menschlichkeit kein ›weltliches‹ Prinzip außerhalb des Lebens selbst brauchen, dass sich vielmehr das Wort des Lebens und des Rechtseins selbst im Herzen des Menschen erzeugt, wenn nur, wie Eckhart sagt, die fremden Gäste darin schweigen.

Nachdenken ber die Menschenwrde Richtiges Leben und Gerechtigkeit haben einen engen Bezug zur Menschenwürde. Die gegenwärtige Zivilisation hat größte Mühe, eine Ethik zuverlässig zu b e g r ü n d e n , die ein Fundament legt für die individuellen Menschenrechte und die Achtung der Menschenwürde, die ja wesentliche Errungenschaften der Rechtspragmatik des Westens und der Vereinten Nationen sind. Über deren Geltung herrscht grundsätzlich Einigkeit; aber immer noch muss die Realisierung der Menschenrechte und Menschenwürde im Kampf durchgesetzt werden. Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass in Deutschland erst durch das Verfas47 48

Henry, Michel: Hinführung zur Gottesfrage, hier S. 261 f. Henry, Michel: ›Ich bin die Wahrheit‹, S. 41.

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11. Eckharts Verstndnis des richtigen Lebens

sungsgericht ein »Luftsicherheitsgesetz« annulliert werden musste, das den Abschuss von zivilen Flugzeugen im Gefahrenfall erlauben wollte. Damit wäre die Tötung Unschuldiger ein Mittel zur Abwehr terroristischer Bedrohung geworden. Das heißt: Damit wäre ein Grundsatz der Menschenwürde missachtet worden: Menschen dürfen sich selbst und andere niemals bloß als Mittel, sondern sie sollen sich und andere in allem Tun immer zugleich als Selbstzweck behandeln. 49 Die Würde des Menschen wird allgemein begründet aus dem Eigenwert und der Autonomie des Menschen, die Achtung verlangen, und aus der Gleichwertigkeit und Gleichheit vor dem Gesetz. Aber woher leiten sich diese Wesensauszeichnungen ab? Für einen Utilitarismus oder Pragmatismus ist es leicht, den Eigenwert, die Gleichwertigkeit, die Autonomie und die Gleichheit der Würde zu widerlegen. 50 Angesichts der ubiquitären Selbstwertzweifel und der gegenläufigen Überwertigkeitskomplexe sind diese Grundannahmen nicht einmal s i c h e r e s Resultat der Selbsterfahrung. (Eine weitergehende Frage muss sein, wie subjektive G e w i s s h e i t überhaupt zustande kommen kann.) Auch eine Konsensethik, die gegenwärtig in den westlichen Demokratien Lippenbekenntnisse für die Menschenwürde ablegt, könnte unschwer zu einem andersartigen Konsens finden, wie es die Volksmeinung und die politischen und wissenschaftlichen Eliten häufig genug demonstrieren. Menschenwürde und Menschenrechte scheinen ein idealistisches oder metaphysisches Erbe oder (je nach Präferenz) ein Relikt in der modernen positivistischen Ideologie zu sein. Darum wird beispielsweise in der Bioethik ernsthaft gefordert, auf den Begriff der Menschenwürde im rechtlichen Diskurs ganz zu verzichten, da dieser Begriff als ideologische Waffe gegen den wissenschaftlichen Fortschritt verwendet werden könnte. 51 Vom pragmatischen Standpunkt aus ist das konsequent, wenn zum Beispiel die Befürworter des AbKant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, hier S. BA 74 f.: »Denn vernünftige Wesen stehen alle unter dem Gesetz, dass jedes derselben sich selbst und alle anderen niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck an sich selbst behandeln solle.« 50 Gesang, Bernward: Kann man die Achtung der Menschenwürde als Prinzip der normativen Ethik retten?, bes. S. 494 f., der sich als Utilitarist versteht, will die Menschenwürde nur noch als gegeben betrachten, wenn die fundamentalen personalen Menschenrechte eines Menschen erfüllt sind; Menschenwürde wird dann also nur faktisch, aber nicht (entsprechend der Verfassung) als unantastbar und als Begründung der Menschenrechte gesehen. 51 Hoerster, Norbert: Ethik des Embryonenschutzes, S. 14. 49

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III. Phnomene des Menschseins

bruchs Leben erhaltender Geräte das Recht auf ein würdiges Sterben als Teil der Menschenwürde einfordern, wie sich auch die Gegner dieser Sterbehilfe auf die Menschenwürde berufen, um Leben zu erhalten. Eine pragmatische Lösung wäre es in diesem Konflikt, auf das Prinzip der Menschenwürde zu verzichten. So könnte man gleich auf jede Ethik verzichten oder deren Geltung rationalistisch so beschränken, dass von ihrer Idee nichts mehr übrig bleibt. Die weltweite Empörung über Unrecht und die oft überwältigende Hilfsbereitschaft in Katastrophenfällen zeigen, dass die moderne Gesellschaft kein Problem mit der Geltung der Ethik an sich und entsprechend mit der Menschenwürde hat. Die Beratungsgremien kennen aber keinen Konsens für deren Begründung sowie deren Diagnose und Praxis. Worauf berufen wir uns, wenn wir fordern, dass demokratische Politiker in nicht-westlichen Staaten die Einhaltung der Menschenrechte fordern? Es ist möglich, dass Kulturen keinen ausformulierten Begriff der Menschenwürde kennen, obwohl er aus deren religiösen und philosophischen Traditionen herausgearbeitet werden kann. So ist es auch im Abendland geschehen. Das Bewusstsein der Menschenwürde hat jüdische und christliche Wurzeln. Die griechische und römische Antike mit ihren geschichtsbildenden philosophischen Theorien (Platon, Aristoteles, Cicero, Seneca) hat für die Idee der Menschenwürde nicht Pate gestanden, wenngleich deren Philosophien sie hätten begründen können. In einer sehr überzeugenden Studie hat Hans-Joachim Sander 52 dargetan, dass die Etablierung der Menschenrechte der Sprachlosigkeit der Ohnmächtigen zu einer Sprachfähigkeit verholfen hat, und damit sei eine Macht der Ohnmacht zu Worte gekommen gegenüber der Macht der gesellschaftlichen, staatlichen und religiösen Institutionen. Insofern sprechen außenpolitische Forderungen der Menschenrechte nur dann die Sprache der Menschenwürde, wenn sie einer zukünftigen Sprachmacht der Ohnmächtigen zur Verlautbarung verhelfen. Das muss leise und von unten geschehen. Das Eintreten für die Menschenrechte darf nicht zur Demonstration der Macht und der Überheblichkeit der Macht werden. Die Frage bleibt offen, ob sich die Inhalte der Ethik und die Inhalte der Menschenwürde oder deren Verletzung rational ableiten lassen. Wenn das nicht möglich wäre, spräche das dann gegen die hier anvi52

Sander, Hans-Joachim: Macht und Ohnmacht.

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sierte Rationalität oder gegen die Menschenwürde? Vielleicht ist eine andere Rationalität vonnöten. Jürgen Habermas hat einen interessanten Hinweis darauf gegeben, wie das Bewusstsein der Menschenwürde sich gesellschaftlich verankert und zu rechtlicher Konkretion gestaltet. Er nennt dies ein Bewusstsein für die »normative Substanz der gleichen Menschenwürde eines jeden, die die Menschenrechte gewissermaßen ausbuchstabieren«. In der Rechtsfindung der Richter zeige sich: »Die Erfahrung verletzter Menschenwürde hat eine E n t d e c k u n g s f u n k t i o n – etwa angesichts unerträglicher sozialer Lebensverhältnisse und der Marginalisierung verarmter sozialer Klassen; angesichts der Ungleichbehandlung von Frauen und Männern am Arbeitsplatz, der Diskriminierung von Fremden, von kulturellen, sprachlichen, religiösen und rassischen Minderheiten; auch angesichts der Qual junger Frauen aus Immigrantenfamilien, die sich von der Gewalt eines traditionellen Ehrenkodexes befreien müssen; oder angesichts der brutalen Abschiebung von illegalen Einwanderern und Asylbewerbern.« 53

Das philosophisch Bedeutsame dieser Argumentation liegt darin, dass hier für die Begründung des Wertes und des Rechts der Menschenwürde keine rational deduktive Herleitung veranschlagt wird, sondern eine phänomenale Gewissheit, man könnte auch sagen: eine unwidersprochene Selbstverständlichkeit oder ein aufbegehrendes Gerechtigkeitsgefühl. Natürlich ist dieser originäre Affekt kulturell, sozial und lebensgeschichtlich ›belehrt‹ oder auch verbogen oder gar pervertiert, etwa nach der Maxime: ›Gerechtigkeit – und zwar jeweils die eigene – muss durchgesetzt werden, und wenn die Welt zugrunde ginge‹. 54 Dem gegenüber steht der ›Glaube‹, dass ein ursprüngliches gefühlshaftes Eingestimmtsein in das gemeinsame Leben möglich und gegeben ist, in die Freude und das Leid des Anderen, die mit meiner Freude und Leidensfähigkeit korrespondieren. Dieser ›Glaube‹ ist keine thematische Überzeugung, sondern eine quasi-instinkthafte Gewissheit, die sich in der gefühlten Empörung über die Unerträglichkeit der Ungerechtigkeit auslebt. Diese Empathie und Sympathie sprechen sich, je nach der kulturellen, historischen Situation auch in Philosophie, Ethik und Recht aus und ermöglichen eine »Erziehung des MenschenHabermas, Jürgen: Das utopische Gefälle, hier S. 45 (Hervorhebungen von Habermas). 54 Der Satz Fiat iustitia etsi pereat mundus soll auf Papst Hadrian VI. (1459–1523) zurückgehen. 53

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geschlechts« (Lessing). Dies ermöglicht, was Habermas die Entwicklung »zu einer w e i t e r g e h e n d e n Ausschöpfung des normativen Gehalts verbürgter Grundrechte wie zur Entdeckung und Konstruktion neuer Grundrechte« nennt. »Dabei dringt die im Hintergrund stehende Intuition zunächst ins Bewusstsein der Betroffenen und dann in die Rechtstexte ein, um dort begrifflich artikuliert zu werden.« 55 Darin sieht Habermas eine »r e a l i s t i s c h e Utopie«. 56 Wir begegnen hier einer Begründungsform, die wir noch genauer analysieren müssen, um Eckharts ›Prinzipien‹- und ›Transzendentalienlehre‹ mit heutigen Sinnen zu verstehen. Alltagssprachlich sagen wir, Phänomene wie Gerechtigkeit, Menschenwürde, Menschenrechte leiteten sich aus Erfahrung oder Intuition ab, sie seien evident. Aber sicher sind sie in anderem Sinne evident als Axiome im rationalen oder mathematischen Syllogismus, auch anders als die Postulate der reinen oder praktischen Vernunft Kants. Es sind, das ist die These, die uns bei Eckhart anspricht, Phänomene sowie Begründungs- und Entstehensformen, die sich in der Theologie, Philosophie, Psychologie (im klassischen Sinne) und in der Kunst finden. Aus dieser These Eckharts folgt: In der Weise solcher ›prinzipieller‹ Begründungsformen kommen wir im Alltag immer schon zu subjektiven Gewissheiten und Entscheidungen. Und doch sind sie unserem Verständnis seltsam fremd, weil wir von einer wissenschaftlichen, objektivierenden Denkweise dominiert werden, die an die Dinge grundsätzlich von außen herantritt und deren Gültigkeit aus abstrakten Prinzipien und Beweisverfahren, zum Beispiel durch Induktion und Deduktion, beurteilt. Eckharts Ethik würde für diese Anerkennung der Würde des Menschen eine fundamentale Grundlegung anbieten. Sie beruht in der Offenbarkeit der Wesensstruktur des Lebens selbst. Eine des Menschen würdige Ethik kann sich nur aus der selbst erfahrenen und miteinander erlittenen, gelebten Gewissheit des Lebens ›begründen‹ ; denn das ist die Weise, wie sich Leben jedem mitteilt. Dies wäre ein Schluss aus Meister Eckharts Philosophie, und er würde in Eckharts Sinn für Christen und Nicht-Christen gelten. Das Leben des Menschen ist für Eckhart die in der Gottesgeburt inkarnierte Selbstoffenbarung und Selbstmitteilung Gottes. Diese »Gottesgeburt« geschieht in der Seele, besser: im Herzen jedes Menschen, ob er es will oder nicht; laut Eckhart muss das 55 56

Habermas, Jürgen: Das utopische Gefälle, S. 46 (Hervorhebungen von Habermas). Habermas, Jürgen: Das utopische Gefälle, S. 52 (Hervorhebungen von Habermas).

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11. Eckharts Verstndnis des richtigen Lebens

nicht einmal geglaubt, sondern kann gewusst werden. 57 Darin liegt seine Würde, Eckhart sagt: sein »Adel«, seine edelkeit. Ob wir das allerdings akzeptieren können, ist eine schwierige Frage. Man darf aber für diese Aussagen einen Satz anwenden, den Eckhart in anderem Zusammenhang sagt: Diz ze wizzenne des enist niht nôt. Akzeptabel ist dieser Satz nicht, wenn nach der gewohnten theistischen Vorstellung Gott als der Gesetzgeber droben und draußen eine über- oder hinterweltliche Macht wäre. Alles hängt davon ab, wie der Name Gott und die Beziehung des Menschen zu Gott zu verstehen sind. Das größte Hindernis, Eckharts Lehre von Gottes Wesen und Wirken zu verstehen, liegt wohl immer noch in dem, was er am Schluss seiner Gerechtigkeitspredigt tadelt: »Einige einfältige Menschen meinen, sie sollten Gott betrachten, als stünde er dort und sie hier. So ist es nicht. Gott und ich, wir sind eins.« 58 Gott ist nicht oben und nicht außen, sondern innen. Das soll im folgenden Kapitel eingehender erläutert werden.

Pr. 39; 252,3–253,3: Der gerehte lebet in gote und got in im, wan got wirt geborn in dem gerehten und der gerehte in gote; wan von einer ieglîchen tugent des gerehten wirt got geborn und wirt ervröuwet von einer ieglîchen tugent des gerehten […], von dem wirt got ervröuwet, jâ durchvröuwet; wan ez enblîbet niht in sînem grunde, ez enwerde durchkützelt von vröude. Und diz ist groben liuten ze gloubenne und erliuhten ze wizzenne. – »Der Gerechte lebt in Gott und Gott in ihm, denn Gott wird in dem Gerechten geboren und der Gerechte in Gott; denn durch eine jegliche Tugend des Gerechten wird Gott geboren und [Gott] wird erfreut durch eine jegliche Tugend des Gerechten. […] Dadurch wird Gott erfreut, ja durchfreut; denn nichts bleibt in seinem Grunde, das nicht von Freude durchkitzelt würde. Und das müssen einfache Menschen glauben, aufgeklärte (erleuchtete) aber können es wissen.« 58 Pr. 6; 113,2–7: Man ensol got niht nemen noch ahten ûzer im […]. Sumlîche einveltige liute wænent, sie süln got sehen, dâ stande und sie hie. Des enist niht. Got und ich wir sîn ein. 57

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Zwlftes Kapitel Wie ist richtiges Leben im falschen mglich?

Der Satz enthält eine Anspielung auf eine berühmte Sentenz, die Theodor W. Adorno in seinen ›Minima Moralia‹ niedergeschrieben hat: Sie lautet: »Es gibt kein richtiges Leben im falschen.« 1 Die Überschrift dieses Kapitels ändert diese Sentenz in eine Frage, die voraussetzt, dass es im falschen Leben ein richtiges geben kann. Das ist im vorausgehenden Kapitel teilweise schon ausgeführt worden. Adorno blickt auf das Leben im Ganzen, und zwar unter der gesellschaftlichen Perspektive und vor allem nach den Fehlschlägen der Aufklärung sowie der Katastrophe des Holocaust. Seine Analyse sagt, dass individuelle Lebensgestaltung durch die Kulturindustrie, durch den Produktionszwang und durch die unausweichliche Diktatur der Konsumindustrie dem Individuum immer schwerer gemacht wird. Ja eigentlich sei es unmöglich, eigenen, das heißt selbst empfundenen Geschmack, eigene Ethik, eigenen Lebensstil zu entwickeln. Denn obwohl durch die Aufweichung der institutionellen und familiären oder sozialen Gruppennormen die »Individualisierung« zum Schlagwort geworden ist, wird das Verhalten doch durch die Werbepropaganda, die Medienherrschaft und die Subgruppenmentalität kollektiv genormt. Es gibt nur noch sich zersplitternde Meinungs- und Lebensstiltypen. Dem kann man sich tendenziell nicht entziehen. Auch wenn es in Momenten privates kleines Glück geben kann, bleibt dem redlichen Menschen nur die radikale Verneinung und Kritik des gesellschaftlichen Lebens, gespeist aus der unverbrüchlichen Hoffnung, dass ein anderes Leben möglich sein und werden muss. Dabei darf man nicht dem Irrtum verfallen, dass die Nischen, in denen wir Alternativen finden, schon nachhaltig das richtige Leben ermöglichen; denn solche Nischen gibt es nur von Gnaden des Systems, das heißt durch Anpassung an die herrschenden Zwänge der Erwerbsbedingungen und politischen Handlungsspiel1

Adorno, Theodor W.: Minima Moralia, S. 19.

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räume. Adorno macht diese Zusammenhänge an der bürgerlichen Rückzugsneigung in die behagliche Wohnkultur deutlich, die doch – sei es durch Massenproduktion, Pseudostil oder nostalgische Kultivierung des Alten, Übriggebliebenen – kollektiv genormt ist. Der Schlusssatz dieser Skizze lautet dann: »Es gibt kein richtiges Leben im falschen«.

Das Nichts in der Welt Es ist verwunderlich, dass Eckhart in seinem Werk nie zu den politischen und kirchlichen Intrigen und Verbrechen seiner Zeit auch nur mit einem Wort Stellung nimmt. Dabei war die Zeit reich an erschütternden Streitthemen, zum Beispiel die Zerschlagung des Templerordens, die Übersiedlung der Päpste nach Avignon, die Fehden Ludwigs IV. von Bayern mit Friedrich dem Schönen und später mit Papst Johannes XII., der sich im Armutsstreit mit den Franziskanern zu unsinnigen Glaubenssätzen hinreißen ließ und selbst als Ketzer bezeichnet wurde, die Verfolgung der Beginen und Begarden. Eckharts schriftliches Werk ist ganz dem gelehrten Diskurs und der spirituellen Führung durch Reden und Predigten gewidmet. Es ist durchströmt von der Gewissheit eines guten, ja »gottwissenden« Lebens. Aber die Gegenseite, das Leiden, die Erfahrung der Leere und des Nichts, ist immer auch gegenwärtig, allerdings immer nur als Durchgang zur Gottheit. Einer der Sätze Eckharts, die der gewohnten Denkweise fremd sind, sagt: »Alle Geschöpfe sind ein reines Nichts. Ich sage nicht, dass sie klein sind oder dass sie etwas sind: Sie sind ein reines Nichts. Was kein Sein hat, das ist Nichts. Alle Geschöpfe haben kein Sein, denn ihr Sein hängt an der Gegenwart Gottes. Wendete sich Gott nur einen Augenblick von allen Geschöpfen ab, so würden sie zu Nichts.« 2

Was reines Nichts heißen soll, wird im zweiten Satz dieses Zitats gesagt. Die Geschöpfe sind nicht nur nichtig, weil sie gering sind und weil Pr. 4; 69,8–70,4: Alle crêatûren sint ein lûter niht. Ich spriche niht, daz sie kleine sîn oder iht sîn: sie sint ein lûter niht. Swaz niht wesens enhât, daz ist niht. Alle crêatûren hânt kein wesen, wan ir wesen swebet an der gegenwerticheit gotes. Kêrte sich got ab allen crêatûren einen ougenblik, sô würden sie ze nihte. Siehe dazu Büchner, Christine: Gottes Kreatur – »ein reines Nichts«?.

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sie nur »etwas«, das heißt dies oder das sind. Sie sind nur faktisch seiend neben anderem Seienden und sie sind abhängig von Gott, ohne den sie nicht einmal etwas noch etwas Geringes wären. Natürlich sagt auch die klassische Ontologie des Mittelalters, dass Gott die Geschöpfe im Sein erhält; aber sie würde niemals die Geschöpfe als Nichts bezeichnen. Der zitierte Satz wurde auch dementsprechend in die Anklageschrift aufgenommen und in der Bulle ›In agro dominico‹ (Artikel 26) als der Häresie verdächtig verurteilt. Interessant ist die Begründung, die das Gutachten von Avignon dafür anführt, warum Eckharts Aussage dem Wortlaut nach häretisch sei: »Denn sie verneint, dass Gott als Schöpfer der Dinge ihnen Sein gebe, sie verneint, dass das Endziel der Schöpfung das Sein sei […], und sie verneint in den Geschöpfen, dass sie sind und wirksam sind sowie dass das vernunftbegabte Geschöpf Verdienst erwirbt oder versäumt und dass es beseligt oder verdammt wird.« 3

Es ist offenkundig, dass die Gutachter ein anderes Seinsverständnis zugrunde legen als Eckhart. Sie glauben, dass die Dinge dieser Welt trotz des allgemeinen Schöpfungs- und Erhaltungswillens Gottes relativ selbstständig sind und dass die Möglichkeit verdienstvoller Werke sowie der Belohnung oder Bestrafung voraussetze, dass der Mensch relativ eigenständig wirken kann. Diese Eigenständigkeit bestreitet Eckhart, da er ja alles Sein sowie alles gute Wirken und die Beseligung des Menschen als transzendentales Sein, das heißt als Erfülltsein von Gott sieht: Das Sein ist Gott, ebenso das Wahrsein, das Gutsein, das Gerechtsein und so weiter. Eckhart führt dazu sogar einen Satz aus dem Johannesprolog an: Omnia per ipsum factum est, et sine ipso factum est nihil (Ioh. 1,4). Diesen Satz versteht er folgendermaßen: »Alles ist durch ihn gemacht worden und das ohne ihn Geschaffene ist nichts.« Das klingt paradox, und die Gutachter lassen diese Rechtfertigung nicht gelten. Ihr Standpunkt ist, dass die Geschöpfe etwas in sich und für sich selbst sind, wenngleich sie von Gott abhängen. Ja die Tatsache, dass sie wirklich von Gott abhängen, beweist ihrer Meinung nach sogar, dass die Geschöpfe reales Sein haben; denn eine reale Ab-

Votum Aven. art. 6, n. 31; 574,8–11: Hunc articulum, prout verba sonant, haereticum reputamus, quia hoc negat deum creatorum rerum dantem esse eis, negat creationem terminari ad esse […], negat in creaturis esse, operari et creaturam rationale mereri et demereri et beneficari et damnari.

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hängigkeit gründe sich auf eine reale Seiendheit, das heißt, eine reale Abhängigkeit gibt es nur für ein reales Seiendes. 4 »Darum darf man die Geschöpfe nicht ›reines Nichts‹ nennen, sondern ›Etwas‹. Auch wenn ›alles durch ihn geschaffen wurde, und ohne ihn nichts ist‹, darf man trotzdem nicht sagen, dass das Geschöpf ein reines Nichts ist oder dass die Schöpfung ins Nichts mündet.« 5

Dieses Seinsverständnis der Kritiker Eckharts ist auch heute noch so selbstverständlich, dass wir eher Schwierigkeiten haben zu verstehen, was Eckhart meint. Die Dinge ohne Gott zu betrachten und zu behandeln, das heißt ja, sie in ihrer materialen, faktischen Seinsweise im Ursache-Wirkung-Verbund zu verstehen. Auf diese Weise sind sie reduziert auf ihr bloßes welthaftes Sein oder Objektsein. Sie sind jeder Bedeutung entkleidet, aber auch jeder sinnlichen, gemüthaften und spirituellen Affektivität für mich, wie sie sich anfühlen, wie sie schmecken, wie sie in mein Leben getreten sind, was sie mir sagen. Rilkes ›Archaischer Torso Apolls‹ ist dann ein Stück Marmor, das gerade noch einen menschlichen Körper ohne Kopf und Gliedmaßen abbildet; aber es könnte niemals wahr sein, dass er ›lebt‹ : »denn da ist keine Stelle, / die dich nicht sieht«, und niemals könnte er die Einsicht in mir entzünden: »Du musst dein Leben ändern.« 6 Wenn wir die Dinge rein materiell ohne ihr inneres Leben nehmen, halten wir, wie die Bibel sagt, Staub in der Hand. Der Rausch des toten Besitzes hält nicht lang. In der bloß materialen Objekthaftigkeit und Sachbestimmtheit sind die Votum Aven. art. 6, n. 33; 574,16–120: Quamvis enim creaturae dependeant a deo creante, sunt tamen aliquid in se ipsis et secundum se ipsa[s] formaliter per actionem creantis. Immo ex hoc quod realiter dependent a deo, cum realis dependentia fundetur in reali entitate, probatur creaturas habere esse reale. – »Obwohl nämlich die Geschöpfe vom Schöpfergott abhängen, sind sie dennoch etwas in sich selbst und entsprechend ihrer Eigenheit, [und zwar] eigentlich aufgrund des Schöpfungshandelns. Ja sogar weil sie real von Gott abhängen – insofern eine reale Abhängigkeit in einer realen Entität besteht –, erweist sich, dass die Geschöpfe reales Sein haben.« 5 Votum Aven. art. 6, n. 33; 674,16–21: Haec non excludunt errorem. Quamvis enim creaturae dependeant a deo creatore, sunt tamen aliquid in se ipsis et secundum se formaliter per actionem creantis. Immo es hoc quod realiter dependent a deo, cum realis dependentia fundetuur in reali entitage, probatur creaturas hhabere esse reale. Undo non debent dici purum nihil, immo aliquid. Licet etiam »omnia per ipsum facta sint et sine ipso sit nihil«, non tamen dici debet quod creatura sit purum nihil vel quod creation terminetur ad nihil. 6 Rilke, Rainer Maria: Gedichte 1895–1910, S. 513: ›Archaischer Torso Apolls‹ : »Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt …«. 4

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III. Phnomene des Menschseins

Dinge letztlich »nichts«. Denn damit entgeht mir, was eigentlich oder wesentlich ist. Ich klammere mich an »das Nichts«, das die Dinge sind, sagt Eckhart. Sogar wenn ich Gott zu Hilfe nehme, um etwas zu suchen, finde ich die Dinge nur in ihrem »Nichts«. Dann ist Gott mir eine Kerze, die mir suchen hilft, und wenn ich das Gesuchte gefunden habe, lege ich die Kerze beiseite. 7 Dann habe ich die Dinge nicht in Gott oder sogar als Gott. »Du machst es so: Was immer du mit Gott suchst, das ist Nichts, was es auch sei. Es sei Nutzen oder Belohnung oder Innerlichkeit oder was es auch sei: Du suchst Nichts, darum findest du auch Nichts. Dass du Nichts findest, das liegt nur daran, dass du Nichts suchst. Alle Geschöpfe sind ein reines Nichts.« 8

Fazit: Eckhart sieht im rein materiellen Bezug zu den Weltdingen die Möglichkeit des absoluten Nihilismus. Eckharts Aufruf, alles Geschöpfliche zu lassen, heißt dann, die Dinge und uns selbst in dieser bloß materialen Objekthaftigkeit und Sachbestimmtheit loszulassen und sie »im Inneren« zu nehmen; denn dann sind sie uns »alles«. Das ist natürlich die Überwindung des rein welthaft drohenden Nihilismus. »Dieses oder das zu sein ist nicht alles; denn solange ich dies und das bin oder dies und das habe, bin ich nicht alles und habe ich nicht alles. Scheide [es] ab, sodass du weder dies noch das bist und weder dies noch das hast, dann bist du alles und hast alles.« 9

Das heißt: Die Dinge sind zugleich die Möglichkeit der höchsten Beseligung. »Gott ist in allen Dingen, da er [in] ihnen inniger ist, als sie [es] sich selbst sind. So ist Gott nicht unterschieden von allen Dingen. So soll der Mensch [auch] nicht unterschieden sein von allen Dingen, das heißt, dass der Mensch in sich selbst nichts ist und sich seiner selbst völlig entäußert hat; so ist er nicht unterschieden von allen Dingen und ist alle Dinge. Denn soweit du in dir selbst nichts bist, so weit bist du alle Dinge und nicht unterschieden von Pr. 4; 69,1–4. Pr. 4; 69,5–8: Alsô tuost dû: swaz dû mit gote suochest, daz ist niht, swaz ez joch sî, ez sî nutz oder lôn oder innerkeit oder swaz ez joch sî; dû suochest niht, dar umbe vindest dû ouch niht. Daz dû niht vindest, daz enist kein sache anders, wan daz dû niht suochest. Alle crêatûren sint ein lûter niht. 9 Pr. 77; 336,1–4: Diz wesen oder daz enist niht alliu dinc, wan, sô lange ich diz und daz bin oder diz und daz hân, sô enbin ich niht alliu dinc noch enhân niht alliu dinc. Scheit abe, daz dû noch diz noch daz sîst noch diz noch daz habest, sô bist dû alliu dinc und hâst alliu dinc. 7 8

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allen Dingen. Darum: Soweit du von allen Dingen nicht unterschieden bist, so weit bist du Gott und alle Dinge, denn Gottes Gottheit liegt darin, dass er nicht unterschieden ist von allen Dingen. Daher nimmt der Mensch, der nicht unterschieden ist von allen Dingen, die Gottheit dort, wo Gott selbst seine Gottheit hernimmt.« 10

Wie kann Gott, wie kann der Mensch von allen Dingen ununterschieden sein? Die Antwort enthüllt die letzte und tiefste Wahrheit, die Eckhart »ohne Vermittlung aus dem Herzen Gottes gekommen« 11 ist. Doch das ist nicht der Lauf der Welt und des Weltbewusstseins. Die Eckhart gegenüber siegreiche Theologie und Philosophie glaubt an die selbstständige Realität der Dinge in ihrer Unterschiedenheit und kann nicht mit Eckhart erkennen, dass die Geschöpfe für sich allein genommen »ein reines Nichts« sind. Vielmehr leiten sie den Übergang zur Eroberung der Außenwelt ein, die immer differenzierter und objektiver wird. Die Theologie hat Gott ins Jenseits verbannt und bejaht, dass der Mensch mit seinen natürlichen Kräften auch ohne ›Gott‹ vollständig ist. Die Folge ist, dass sie dem autonomen Menschen und der Vormacht der physikalischen Welt immer mehr Raum überlassen musste. Beginnend mit der galileischen Entsinnlichung, Entsubjektivierung und Mathematisierung der Erkenntnis, die tendenziell absolut sein will, über den Sieg des Darwinismus gegen den mythologischen ›Gott‹ als Artenproduzent bis hin zur Frage nach dem Schöpfer des Urknalls wurde ›Gott‹ immer mehr zum Lückenbüßer und als solcher immer überflüssiger. Erst die Installation des jenseitigen lenkenden und leitenden ›Gottes‹ mit dessen anschließender Entmachtung machte den Schmerz der Leere möglich, der sich schon 1796 (im Jahrzehnt der Französischen Revolution) in Jean Pauls ›Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei‹ niederschlägt.

Pr. 77; 340,1–10: Got ist in allen dingen, wan er ist in inniger, dan sie in selben sint. Alsô ist got ungescheiden von allen dingen. Alsô sol ouch der mensche ungescheiden sîn von allen dingen, daz ist: daz der mensche an im selber niht ensî und zemâle sîn selbes abegegangen sî; sô ist er ungescheiden von allen dingen und ist alliu dinc. Wan, als verre dû niht enbist an dir selben, als verre bist dû alliu dinc und ungescheiden von allen dingen. Dar umbe: als verre dû ungescheiden bist von allen dingen, als verre bist dû got und alliu dinc, wan gotes gotheit liget dar ane, daz er ungescheiden ist von allen dingen. Dar umbe: der mensche, der ungescheiden ist von allen dingen, der nimet die gotheit, dâ got selbe sîne gotheit nemende ist. 11 Pr. 52; ed. Steer, 180,9 f.; ed. Quint, 506,3. 10

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III. Phnomene des Menschseins

»Christus fuhr fort: ›Ich ging durch die Welten, ich stieg in die Sonnen und flog mit den Milchstraßen durch die Wüsten des Himmels; aber es ist kein Gott. […] Und als ich aufblickte zur unermesslichen Welt nach dem göttlichen Auge, starrte sie mich mit einer leeren bodenlosen Augenhöhle an; und die Ewigkeit lag auf dem Chaos und zernagte es und wiederkäuete sich. – Schreiet fort, Misstöne, zerschreiet die Schatten; denn Er ist nicht!‹« 12

Die unhintergehbare Diagnose des Nihilismus hat Friedrich Nietzsche gestellt und begründet. Nietzsches Definition des Nihilismus kann auch für Eckhart gelten: »Nihilism: es fehlt das Ziel; es fehlt die Antwort auf das ›Warum?‹ was bedeutet Nihilism? – daß die obersten Werte sich entwerthen.« 13 Auch für Eckhart ist Gott kein oberster Wert, und seine radikale Ethik verzichtet freiwillig auf das Ziel und fordert die Warumlosigkeit. Wenn wir Eckharts Aussagen über Gott von einem strikt weltlich pragmatischen Standpunkt aus lesen, liegt ein Anklang an den Nihilismus nahe. Dieser liegt Eckhart natürlich fern; aber es ist erschütternd, dass Nietzsches »unheimlichster aller Gäste« schon – freilich als Gegenbild zu Eckharts Weg – seinen Schatten vorauswirft. 14 Schon die Reaktion der Gutachter weist in diese Richtung: Eckhart leugne, »dass das vernunftbegabte Geschöpf Verdienst erwirbt oder versäumt und dass es beseligt oder verdammt wird«, das spricht ihm die christliche Gottbezogenheit ab. Freilich verkehrt dieses Urteil Eckharts Absicht eher ins Gegenteil; denn er sagt ja gerade, dass dem Menschen die Gottförmigkeit und Beseligung geschenkt ist. 15 Dieselbe Jean Paul: Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei (1796– 1797), hier S. 273. 13 Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente (1885–1887), Nr. 9 [35] (27), S. 350. 14 Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente (1885–1887), Nr. 2 [127], S. 125 f.: »Der Nihilismus steht vor der Tür: woher kommt uns dieser unheimlichste aller Gäste? […] Der Untergang des Christentums – an seiner Moral (die unablösbar ist –) welche sich gegen den christlichen Gott wendet, der Sinn der Wahrhaftigkeit, durch das Christentum hoch entwickelt, bekommt E k e l vor der Falschheit und Verlogenheit aller christlichen Welt- und Geschichtsdeutung. Rückschlag von ›Gott ist die Wahrheit‹ in den fanatischen Glauben ›Alles ist falsch‹. Buddhismus der T h a t …« (Hervorhebungen von Nietzsche). 15 In Ioh. n. 395; 336,11–13: Praeterea nono sic: omnes sancti accipiunt dona sua, deiformitatem scilicet, ab ipso deo immediate sicut omnes potentiae animae et membra corporis accipiunt esse ab ipsa anima immediate, ut dictum est supra. – »Außerdem neuntens: Alle Heiligen empfangen seine Gaben, nämlich die Gottförmigkeit, von Gott selbst u n m i t t e l b a r, so wie alle Seelenkräfte und die Gliedmaßen des Körpers ihr Sein von der Seele selbst unmittelbar empfangen, wie oben gesagt wurde.« In Ioh n. 396; 337,1 f.: Praeterea decimo sic: omnis anima et omnis creatura se habet ad deum in omni 12

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Tendenz kommt in zahlreichen anderen Beurteilungen der beanstandeten Artikel zum Ausdruck. Wenn man Eckharts ›mystischer‹ Einheitslehre die Spitze abschneidet, kann man manchen seiner Äußerungen einen Atheismus unterstellen. Schon der Vergleich des ›Gottes‹, der um eines Nutzens willen gesucht wird, mit einer Kuh, die Milch schenkt, oder einem Gebrauchsgegenstand, den man hervorholt und nach Gebrauch wieder einwickelt und aufräumt, ist Eckhart nur möglich, wenn er demgegenüber einen sublimierten Gottesbezug hat und zugleich in einer rationalisierenden, ›aufgeklärten‹ Reflexionsstufe spricht, die man gemeinhin dem »Mittelalter« nicht unterstellt. Aber es gibt Sätze, die blasphemisch klingen könnten, wenn man sie gegen Eckharts Aussageabsicht von der Intensivierung der Gottheitserfahrung ablösen würde. Da heißt es, in der mystischen Einheitserfahrung könne »mir Gott nicht genug sein, mit allem, was er als Gott ist, und mit all seinen göttlichen Taten«. 16 Freilich in gegenteiliger Richtung ›gotteslästerlich‹ klingt die Begründung für dieses Ungenügen Gottes, die sich unmittelbar anschließt: »Denn ich empfange in diesem Durchbrechen, dass Gott und ich eins sind.« 17 Noch schärfer formuliert Eckhart den modernen existenzialistischen Atheismus: »Und hätte ich gewollt, dass ich nicht wäre und dass alle Dinge nichts wären –, und wäre ich nicht, so wäre auch Gott nicht. Dass Gott Gott ist, dafür bin ich der Grund. Wäre ich nicht, so wäre Gott nicht Gott.« Mit der Vergangenheitsform verlegt Eckhart das Geschehen in den Ursprung des individuellen Seins, den Kern der Selbstheit und Selbstbestimmung, die nicht zeitlich, sondern ebenso ursprünglich wie endgültig ist. Da gibt es die Möglichkeit, zu sich selbst und damit zu Gott radikal nein zu sagen. So sieht es Eckhart, freilich im Irrealis. Der moderne Existentialismus vollzieht den Schritt. Für Sartre ist es nicht notwendig zu beweisen, dass Gott nicht existiert. Er schiebt diese Frage beiseite, weil der Mensch sich ganz in eigener Freiheit und Verantwortung finden perfectione pure passive; de natura autem passivi est esse nudum et indistinctum. – »Außerdem zehntens: Jede Seele und jedes Geschöpf verhält sich zu Gott bei jeder Vollkommenheit rein passiv; zur Natur des Passiven aber gehört Nacktheit und Ununterschiedenheit.« 16 Pr. 52; ed. Steer, 178,23–25; ed. Quint, 303,2–4: In disem îndrucke enpfâhe ich sôgetâne rîcheit, daz mir niht genuoc enmac gesîn got nâch allem dem, daz er got ist, und nâch allen sînen götlîchen werken. 17 Pr. 52; ed. Steer, 178,25 f.; ed. Quint, 505,4 f.: wan ich enpfâhe in disem durchbrechen, daz got und ich eins sîn.

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müsse. 18 Wenn Eckhart sagt: »Als die Geschöpfe wurden und ihr Geschaffensein empfingen, war Gott nicht Gott in sich selbst, sondern Gott in den Geschöpfen«, klingt das ebenfalls nach einer relativen ›Existenz‹ Gottes. Ebenso wenn ich Ursache sein könnte, dass Gott Gott ist, oder wenn es heißt: »Gott entsteht und vergeht« 19 , oder: »Gott entsteht. Wo alle Geschöpfe von Gott sprechen, da entsteht Gott.« 20 Damit wird die ›Existenz‹ des theistischen Gottes beiseite geschoben, freilich um die Gegenwärtigkeit Gottes hervorzuheben, auch mit einem Hinweis auf die Freiheit: »Als ich aus f r e i e m W i l l e n s e n t s c h l u s s [aus der Ureinheit] ausging und mein geschaffenes Sein empfing, da hatte ich einen Gott; denn ehe die Geschöpfe waren, war Gott nicht Gott: er war vielmehr, was er war.« 21 Hier zielt die Freiheit auf eine geschöpfliche Bindung an Gott, die jedoch im »Durchbruch« zugunsten der Einheitserfahrung wieder aufgegeben wird: »Wann immer ich in Gott wieder einkehre, bleibe ich da nicht; so ist mein Durchbrechen edler als mein Ausfließen.« 22 Selbstverständlich wäre es unsinnig, Eckhart zum modernen Atheisten zu machen; denn im Zusammenhang ist ja hier der Durchbruch durch Gott hindurch zur Gottheit gemeint. Es ist aber zum Verständnis der Zuspitzungen Eckharts nicht unerheblich zu bemerken, dass er die Grenzerfahrung des Nihilismus unterschwellig anspricht. Wollte man für sein Wirken und seine Verbannung aus dem Kanon der Schulwerke eine ›geschichtsphilosophische‹ Pointe formulieren, könnte man sagen: Das westliche Bewusstsein hat die Verschiebung Gottes ins Jenseits zugunsten der Selbstständigkeit des Menschen und der Welt vorangetrieben in die Sinnentleerung der Dinge und die Nichtigkeit des Menschen, während Eckharts alternative Perspektive auf eine immanente christliche Einheitserfahrung verdrängt wurde. Angestoßen durch die Rezeption östlicher Strömungen scheint nun eine Wiederentdeckung Eckharts und anderer mystischer Quellen für die westliche Spiritualität möglich zu werden. Sartre, Jean Paul: Ist der Existentialismus ein Humanismus? Pr. 109; 767,37: Got der wirt und entwirt. 20 Pr. 109; 771,56: Got der wirt. Dô alle crêatûren gotes sprechent, dô wirt got. 21 Pr. 52; ed. Steer, 172,5–7; ed. Quint, 492,7–9: Mêr: dô ich ûzgienc von mînem vrîen willen und ich enpfienc mîn geschaffen wesen, dô hâte ich einen got; wan ê die crêatûren wâren, dô enwas got niht got, mêr: er was, daz er was. 22 Pr. 109; 773,64 f.: Swenne ich widerkume in got, enblîbe ich dâ niht, sô ist mîn durchbrechen edeler dan mîn ûzvliezen. 18 19

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Eckharts ›spiritueller Nihilismus‹ Einer der wesentlichen Unterschiede zwischen der üblichen westlichen Innerlichkeit und derjenigen Eckharts könnte darin liegen, dass die religiösen Frömmigkeitsübungen sowie die psychologische Selbsterfahrung sich vorwiegend auf positive Gegebenheiten konzentrieren: Gebete, Glaubensinhalte, Visionen, Betrachtungen und Andachten dort, Erinnerungen, Konflikte, Traumata, Träume, Wünsche, Fantasien hier. Es ist, was Eckhart »etwas« (iht) nennt, Seiendes. Dieses ist für Eckhart geschöpflich, weltlich, nicht »göttlich«. Auch im ›Gottesgeburtszyklus‹ findet sich die Entgegensetzung, die sich durch das ganze Werk Eckharts zieht: »Licht und Finsternis können miteinander nicht bestehen, ebenso wenig Gott und Geschöpf. Soll Gott eingehen, so muss gleichzeitig das Geschöpf hinaus.« 23 Die wichtigste Eigenschaft des Geschöpfes ist gerade, dass es, obwohl seiend, zugleich nichts ist. In theologischer Sprache ist es aus Nichts geschaffen und verfällt dem Nichts, sobald es von Gott aus dem Sein entlassen wird. Im Gegensatz zum scholastischen Hauptstrom, der die Eigenständigkeit der Dinge in der Welt betont, stellt Eckhart, wie gerade ausgeführt, deren Nichtigkeit in den Vordergrund, wenn man die Dinge für sich, als Seiende ohne ihre Abhängigkeit vom Sein, das ist von Gott, betrachtet. Dem Etwas haftet die Nichtigkeit so sehr an, dass Etwas und Nichts sogar gleichgesetzt werden können: »Ich habe einmal gesagt: Wer nichts sucht, dass der nichts findet, wem kann er das klagen? Er hat gefunden, was er suchte. Wer etwas sucht und anstrebt, der sucht und erstrebt nichts, und wer um etwas bittet, der erhält nichts. Aber wer nichts sucht und nichts erstrebt als nur Gott, dem entdeckt und gibt Gott alles, was er in seinem göttlichen Herzen verborgen hält, damit es ihm zu eigen wird, wie es Gott zu eigen ist, nicht weniger und nicht mehr, wenn er ihn ohne jede Vermittlung erstrebt.« 24

Pr. 102; 413,44 f.: wan lieht und vinsternisse enmügen niht mit einander bestân, noch got und crêatûre. Sol got îngân, sô muoz überein diu crêatûre ûz. 24 Pr. 11; 187,1–7: Ich sprach etwenne: der niht suochet, daz der niht vindet, wem mac er daz klagen? Er vant, daz er suochte. Swer iht suochet oder meinet, der suochet und meinet niht, und der umbe iht bitet, dem wirt niht. Aber der niht ensuochet noch niht enmeinet dan lûter got, dem entdecket got und gibet im allez, daz er verborgen hât in sînem götlîchen herzen, daz ez im als eigen wirt, als ez gotes eigen ist, weder minner noch mêr, ob er in aleine meinet âne mittel. 23

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Der japanische Philosoph Keiji Nishitani (1900–1990) hat dem Nichts bei Eckhart eine faszinierende Auslegung gewidmet. 25 Er geht von Eckharts Unterscheidung zwischen »Gott« und »Gottheit« aus und nennt letztere »absolutes Nichts«, insofern in diesem »Ort« »jegliche Seinsart transzendiert ist«, und zwar alle Formen des kreatürlichen Seins wie auch die Formen des göttlichen Seins, zum Beispiel Gott als Schöpfer und Gott als Liebe oder Güte. Dieser Ort ist zugleich der Grund Gottes und der Grund der Seele. »Ich möchte es Selbst-Identität der Seele nennen, welche selbstidentisch mit der Selbst-Identität Gottes ist. Für die Seele ist dies der absolute Tod, eine Wüste, und zugleich das absolute, aus sich selbst quellende Leben.« 26 Die Subjektivität des Ich-bin ist aufgehoben in der Subjektivität der Gottheit, sofern sich beider jeweilige Bestimmtheit als dies oder das ›vernichtsen‹. Nishitani betont, dass in dieser Aufhebung der Grenzen keinerlei »Selbstberauschung« enthalten ist. Das ungeschaffene Ich-bin ist »nicht außerhalb des ›kreatürlichen‹ Selbst und des zeitlichen Lebens zu suchen, als wäre es etwas anderes als ich selbst«. »Ist es allzu kühn, diesen Standort Eckharts als eine Realisation (im Sinne der Verwirklichung und des Gewahrwerdens zugleich) des absoluten Nichts, gerade in unserem praktischen, alltäglichen Leben, doch jenseits jedes intellektuellen Zugangs, zu bezeichnen? Jedenfalls ist gerade die Unterscheidung zwischen Gott und Gottheit mit der Eröffnung des Weges des Ich bin verbunden.« 27

Dieser Weg des Ich-bin im absoluten Nichts der Seinsarten durchschreitet nach Nishitani sogar den Nihilismus des modernen atheistischen Existentialismus. Während Eckhart (in Lassen und Abgeschiedenheit) das Ego radikal negiert, um zu einer absoluten Bejahung des Ich-bin im Grund des Lebens zu finden, sei für Sartre »das Nichts nicht der Ort, an dem das ego, oder Selbst-Bewusstsein, negiert wird, nicht der Ort der ego-Losigkeit selbst«. Vielmehr sei bei Sartre das Selbst zwar auf Nichts gestellt, und es setze sich das Subjekt in der freien Wahl selbst seine Selbstbejahung. »Es handelt sich hierbei jedoch nicht um eine Selbstbejahung, welche den Grund des Nichts durchlaufen und durchbrochen hätte.« 28 Nietzsche hingegen sei zu einer Position 25 26 27 28

Nishitani, Keiji: Was ist Religion?, S. 120–130. Nishitani, Keiji: Was ist Religion?, S. 122. Nishitani, Keiji: Was ist Religion?, S. 124 (Hervorhebungen von Nishitani). Nishitani, Keiji: Was ist Religion?, S. 126.

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gelangt, welche die des Ego vollständig transzendiert. Aber seine Negation bringe eine Bejahung hervor, die sich auf das »Leben« oder auf den »Willen zur Macht« gründe, das heißt sich noch nicht als das freie Ich-bin setze. »Jedenfalls scheint Nietzsche Eckharts Standort auf dem absoluten Nichts, das sich unmittelbar unter dem alltäglich aktuellen Leben befindet, nicht zu erreichen.« 29 Bei Eckhart wird die Erfahrung des Nichts in der alltäglichen Existenz auf dem Wege zum Ich-bin nicht konkret ausformuliert. Wenn sie aber angesprochen wird, so ist das so ernsthaft, dass der moderne Nihilismus ohne Rest darin aufgehen könnte. Freilich ist bei Eckhart im Nullpunkt des absoluten Nichts zugleich auch die Umkehr oder Gegenbewegung angesiedelt, Nishitani nennt es den Durchgang. Ja, um diesen geht es Eckhart vor allem. Es wird zu fragen sein, welche phänomenale Erfahrung dem Einbruch des Heilsamen entspricht (siehe das 15. und 16. Kapitel). Doch Eckharts existenzielle oder metaphysische Bejahung als Verneinung der Verneinung (negatio negationis) kann nur greifen, wenn zuvor die Dimension der Verneinung oder, wie Nishitani es nennt, das »Feld des Nichts« abgesteckt ist. In der Predigt 1, ›Intravit Jesus in templum et coepit eicere vendentes et ementes‹, fasst Eckhart eindrucksvoll zusammen, was geschieht, wenn der Mensch auf das Geschäftemachen (mit Gott) und auf die selbstbezogene Leistungsoptimierung verzichtet. Ein solcher Mensch sollte so frei und ledig sein, wie Christus und wie Gott in all seinen Werken: »So sollte dieser Mensch da stehen, um die allerhöchste Wahrheit empfangen und darin leben zu können: ohne Vor und ohne Nach und ohne Hindernis durch all die Handlungen und Vorstellungen, auf die er sich jemals verstanden hat, ledig und frei, in diesem Augenblick die göttliche Gabe neu zu empfangen und sie wieder ohne Hindernis in demselben Licht mit dankbarem Lob einzugebären – in unserm Herrn Jesus Christus.« 30

Ohne auf Vergangenes oder Zukünftiges zu schauen, in diesem Augenblick ledig und frei zu stehen, das ist sicherlich eine Haltung höchster existenzieller Konzentration. Sicher ist es auch eine AusnahmeerfahNishitani, Keiji: Was ist Religion?, S. 126. Pr. 1; 11,10–12,4: Alsô solte der mensche stân, der der aller hhsten wârheit wolte enpfenclich werden und dar inne lebende âne vor und âne nâch und âne hindernisse aller der werke und aller der bilde, diu er ie verstuont, ledic und vrî in disem nû niuwe enpfâhende götlîche gâbe und die wider îngebernde âne hindernisse in disem selben liehte mit dankbærem lobe in unserm herren Jêsû Kristô.

29 30

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rung, ein Moment, in dem man rücksichtslos alles in die Waagschale legt. In Grenzerfahrungen der höchsten Gefahr und Entschlossenheit wird davon berichtet. Manche Extremsportler suchen solche Erlebnisse. In unseren Vorstellungen, Katastrophenfantasien und Albträumen begegnen sie uns. Mit Eckhart gelesen, wären solche Panikvorstellungen der Anlass zu einer so extremen Entschlossenheit, wie sie das Zitat formuliert. Auch lebensverändernde Entscheidungen können uns an diesen Punkt des Ohne-Vor-und-Nach bringen. Eckhart sieht in dieser Entschiedenheit des Augenblicks eine Lebenshaltung. Dann wäre es nicht nur eine Ausnahmeerfahrung, sondern ein immerwährender Hintergrund, der in der geburtlichen Widerfahrnis als Freude oder Leid durchbricht. Es lässt sich ahnen, was Eckhart meint, auch wenn wir uns diesem Anspruch vielleicht nicht gewachsen fühlen. Aber nur ein wenig davon könnte manches in unserem Leben ändern. Ein Ingrediens dieser Haltung ist auch der Verzicht auf Hindernisse. Eckhart spricht von Werken, das heißt wohl von zuvor gefällten Entscheidungen, Handlungen, Errungenschaften, Status, und er nennt Vorstellungen, das sind lieb gewordene Ideen, Überzeugungen, auch Glaubens- und Werthaltungen. Sie hindern, die göttliche Gabe n e u zu empfangen. Auch wenn wir in unseren Vorstellungen das Attribut »göttlich« als willkommen oder unwillkommen konkretisieren, wäre das ein Hindernis. Wer weiß schon, was göttlich ist? Was eine Gabe ist, kann man hingegen leichter wissen. Aber beim Empfangen, das heißt beim dankbaren Annehmen, haben manche Menschen schon wieder Schwierigkeiten. Die Gaben ledig und frei zu empfangen, das heißt, sie voraussetzungs- und folgenlos entgegenzunehmen. Hier gibt es keine Verpflichtung zur Gegengabe, zum angemessenen Tribut. Es heißt lediglich, die Gabe »wieder einzugebären«, also sie fruchtbar zu machen, sie ins Leben einzupflanzen. Eine solche Haltung kritischer Gegenwärtigkeit, freier Absichtslosigkeit, ohne Blick auf Verdienst und Pflicht hat, so könnte man mit der bekannten Redensart sagen, »ihre Sache auf nichts gestellt«. Sie beruft sich auf nichts, sie erwartet nichts und sie klammert sich an nichts. Man kann in diesem Sinne von Eckharts ›spirituellem Nihilismus‹ sprechen. »Wenn die Seele in das unvermischte Licht kommt, verfällt sie in ihr ›Nichtesnicht‹, fern vom geschaffenen Etwas, im ›Nichtesnicht‹. So kann sie mit Nichts aus eigener Kraft in ihr geschaffenes Etwas zurückkommen.« 31 Wenige Zei31

Pr. 1; 14,2–4: Swenne diu sêle kumet in daz ungemischte lieht, sô sleht si in ir nihtes

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len später schärft Eckhart diesen Stand der Seele, die auf ihre Selbstvergewisserung verzichtet, nochmals ein: »Die Seele hat gewagt, zu nichts zu werden, und kann auch aus sich selbst zu sich selbst nicht wieder gelangen, so weit ist sie sich selbst abhanden gekommen.« 32 Wenn die Formulierungen ohne die Gegenbewegung, die Gottes Haltgeben zusagen, gelesen werden, klingen sie radikal, verzweifelt, finster, und sie können leicht als eine Andeutung des modernen Nihilismus der Gott-ist-tot-Erfahrung verstanden werden. Dieser Hinweis ist kein rhetorisches Spiel. Tatsächlich ist der ›spirituelle Nihilismus‹, der durch Eckharts Spiritualität des Lassens und der abegescheidenheit aufgebrochen wird, eine Existenz ohne ›Gott‹, insofern dieser als Stützpfeiler, als Garant von Sinn, Moral und Heilsvergewisserung dient. Nietzsche definiert den neuzeitlichen Nihilismus, der nicht hintergehbar ist. Er führt offensiv in diese Krise, in der es zwischen Sein und Nichts auf des Messers Schneide steht, und es ist eine schwierige Frage, ob es mit ihm einen Weg hinaus geben kann. Es soll hier nicht entschieden werden, ob er in der Finsternis bleibt, in die ihn sein »Wille zur Wahrheit« gebracht hat, 33 oder ob es bei ihm Andeutungen eines Durchbruchs gibt. Es soll aber ein Hinweis auf die denkwürdige Charakteristik der »frohen Botschaft« Jesu angeführt werden, die Nietzsche in den Abschnitt Nr. 33 (jener Symbolzahl des Lebens Jesu) aus dem ›Antichrist‹ gepackt hat. Man könnte meinen, Nietzsche habe mit Eckharts Augen auf die Botschaft Jesu geblickt. 34 niht sô verre von dem geschaffenen ihte in dem nihtes nihte, daz si mit nihte enmac wider komen von ir kraft in ir geschaffen iht. 32 Pr. 1; 14,6 f.: Diu sêle hât gewâget ze nihte ze werdenne und enkan ouch von ir selber ze ir selber niht gelangen, sô verre ist si sich entgangen. 33 Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral III Nr. 27; S. 410 f.: »Und hier rühre ich wieder an mein Problem, an u n s e r Problem, meine u n b e k a n n t e n Freunde (– denn noch w e i s s ich von keinem Freunde): welchen Sinn hätte u n s e r ganzes Sein, wenn nicht den, dass in uns jener Wille zur Wahrheit sich selbst a l s P r o b l e m zum Bewusstsein gekommen wäre? … An diesem Sich-bewusst-werden des Willens zur Wahrheit geht von nun an – daran ist kein Zweifel – die Moral z u G r u n d e : jenes grosse Schauspiel in hundert Akten, das den nächsten zwei Jahrhunderten Europa’s aufgespart bleibt, das furchtbarste, fragwürdigste und vielleicht auch hoffnungsreichste aller Schauspiele …« (Hervorhebungen von Nietzsche). 34 Nietzsche zitiert aus Eckharts Traktat ›Von Abgeschiedenheit‹ den Satz »Das schnellste Thier, das euch trägt zur Vollkommenheit, ist Leiden« (VA 432; 10 f.; zit. Nietzsche, Friedrich: Schopenhauer als Erzieher, Nr. 4, S. 372) und aus der ›Armutspredigt‹ den Satz: »Möchte man nicht heute in Hinsicht der Moral sagen, wie Meister

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»In der ganzen Psychologie des ›Evangeliums‹ fehlt der Begriff Schuld und Strafe; insgleichen der Begriff Lohn. Die ›Sünde‹, jedwedes Distanz-Verhältnis zwischen Gott und Mensch ist abgeschafft, – e b e n d a s i s t d i e › f r o h e B o t s c h a f t ‹ . Die Seligkeit wird nicht verheissen, sie wird nicht an Bedingungen geknüpft: sie ist die e i n z i g e Realität – der Rest ist Zeichen, um von ihr zu reden … 35 Die F o l g e eines solchen Zustandes projicirt sich in eine neue P r a k t i k , die eigentlich evangelische Praktik. Nicht ein ›Glaube‹ unterscheidet den Christen: der Christ handelt, er unterscheidet sich durch ein a n d r e s Handeln. […] Das Leben des Erlösers war nichts anderes als d i e s e Praktik, – sein Tod war auch nichts andres … Er hatte keine Formeln, keinen Ritus für den Verkehr mit Gott mehr nöthig – nicht einmal das Gebet. Er hat mit der ganzen jüdischen Buss- und Versöhnungs-Lehre abgerechnet; er weiss, wie es allein die P r a k t i k des Lebens ist, mit der man sich ›göttlich‹, ›selig‹, ›evangelisch‹, jeder Zeit ein ›Kind Gottes‹ fühlt. N i c h t ›Busse‹, n i c h t ›Gebet um Vergebung‹ sind Wege zu Gott: die e v a n g e l i s c h e P r a k t i k a l l e i n führt zu Gott, sie eben i s t ›Gott‹.« 36

Dies ist einer der hellsichtigen Blicke Nietzsches auf die Botschaft Jesu, gerade im Zentrum jenes Pamphlets ›Antichrist‹, das den Untertitel »Fluch auf das Christentum« trägt. Hier sagt Nietzsche auch: »Im Grunde gab es nur Einen Christen, und der starb am Kreuz. Das ›Evangelium‹ s t a r b am Kreuz.« 37 Von solchen Bemerkungen aus wäre die Frage nach der Position Nietzsches in einer Theologie nach dem ›Tode Gottes‹ gerade auch im Hinblick auf den »Durchbruch« Eckharts zur »Gottheit« neu zu diskutieren. Wie dieser Durchbruch bei Eckhart erscheint, soll noch gezeigt werden (siehe Kap. 16). Doch zuvor verweilen wir weiter bei dem Nichts und der Finsternis, in die der Mensch notwendig gerät, wenn er sich auf die Gottesgeburt in der Seele besinnt. Es wurde bemerkt, dass neuzeitliche Strömungen der Verinnerlichung im Inneren jeweils ein Etwas gesucht haben. Tatsächlich geht es in dieser Bewegung immer um etwas, sei es um die eigene Fehlerhaftigkeit oder um Heiligungserfahrungen, sei es um die Poesie des LeEckhardt: ›ich bitte Gott, dass er mich quitt mache Gottes!‹« (Pr. 52; ed. Steer, 178,1; zit. Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft, B. 4. R. 292, S. 533). 35 Auslassungpunkte von Nietzsche. 36 Nietzsche, Friedrich: Der Antichrist, N. 33, S. 205 f. (Hervorhebungen von Nietzsche). 37 Nietzsche, Friedrich: Der Antichrist, Nr. 39, S. 211 (Hervorhebung von Nietzsche).

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bens, das Wundersame, oder um das Verdrängte, die infantilen Wünsche. Es geht in den Andachts- und Selbstgestaltungsbemühungen meistens um ein ›Wissen‹. Eckhart geht es jedoch um Nichts, das Wesentliche vollzieht sich im »Unwissen«. Im ›Gottesgeburtszyklus‹ wird – ganz im Sinne der abendländischen Tradition – die Frage ausdrücklich gestellt: Gott habe doch den Menschen geschaffen, damit er weiß, Unwissen sei doch ein Mangel. 38 Außerdem wird auf die üblichen Andachtsübungen hingewiesen, in denen man die Gottesgeburt zu erlangen hofft, »zum Beispiel manche Vorstellungen von Gott: Gott ist gut, weise, barmherzig, oder was es sein mag, das die Vernunft aus sich schöpfen kann«. 39 Aber Eckhart predigt das Unwissen. Sein Paradox lautet: Um die einzige, unermessliche, ewige Wahrheit zu erkennen und zu schauen, sollen alle Seelenkräfte, alle Sinne, die Vernunft und das Gedächtnis, gesammelt und in den Grund gekehrt werden, in dem der Schatz verborgen liegt. Das klingt nach einer bewussten Anstrengung, aber: »Damit dies geschieht, musst du alle Tätigkeiten aufgeben und in ein Unwissen kommen, um dies zu finden.« 40 Dieses Unwissen entfaltet sich in Stille und Schweigen. Also nur wenn nichts in der Seele ist, kann man das innere Wort hören, im Unwissen. »Wo man nichts weiß, da zeigt und offenbart es sich.« 41 Ähnlich lautet das Fazit der Predigt 1 über die Austreibung der Händler aus dem Tempel, die viele inhaltliche Parallelen zum ›Gottesgeburtszyklus‹ hat:

Pr. 102; 125–134. Pr. 103; 475,15–19: Dar umbe sô hân wir hie ein vrâge: ob der mensche dise geburt iht vinden müge in etlîchen dingen, diu doch götlich sint und aber von ûzen îngetragen sint durch die sinne, als etlîche bildunge von gote, alsô daz got guot sî, wîse, erbarmherzic oder swaz des ist, daz diu vernunft in ir schepfen mac, daz doch götlich ist; in der wârheit: ob man in disem allem dise geburt iht vinden müge? – »Darum stellt sich uns hier eine Frage: Kann der Mensch diese Geburt irgendwie in einigen Dingen finden, die doch göttlich sind, die aber von außen durch die Sinne hereingetragen werden, zum Beispiel manche Vorstellungen von Gott: Gott ist gut, weise, barmherzig, oder was es sein mag, das die Vernunft aus sich schöpfen kann – das ja auch göttlich ist. In Wahrheit: Kann man in dem allem diese Geburt irgendwie finden?« 40 Pr. 102; 417,82–96: Wie unglîche mê wir uns entziehen solten von allen dingen und samenen alle unsere krefte ze schouwenne und ze bekennenne die einige, ungemezzene, êwige wârheit! Her zuo samene alle dîne krefte, alle dîne sinne, alle dîne vernunft und allez dîn gehugnisse: daz kêre in den grunt, dâ dirre schatz inne verborgen liget. Sol diz geschehen, sô muost dû allen werken entvallen und komen in ein unwizzen, solt dû diz vinden. 41 Pr. 102; 419,125: Dâ man niht enweiz, dâ wîset ez sich und offenbâret ez sich. 38 39

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»Seht, das sollt ihr wirklich wissen: Will jemand anders im Tempel, das ist in der Seele, reden als Jesus allein, dann schweigt Jesus, als sei er dort nicht daheim, und er ist auch dort nicht daheim, in der Seele, denn sie hat fremde Gäste, mit denen sie redet. Soll aber Jesus in der Seele reden, muss sie allein sein und muss selbst schweigen, wenn sie Jesus reden hören soll.« 42

Dieses Hören als Haltung ist nicht nur eine Metapher, sondern exemplarisch für die Haltung des Empfangens, Eckhart sagt, lîden – »Leiden, Erleiden«. Jede Theologie der Gotteserfahrung im Sinne Eckharts müsste auf einer Phänomenologie des Leidens im Sinne des Empfangens aufruhen; in diesem Zusammenhang wäre dann überhaupt erst ein Verständnis des Leidens zu gewinnen, wiederum im Sinne des Leidens als Empfängnis. »Ja, aus unermesslicher Liebe hat Gott unsere Seligkeit ins Leiden gelegt; denn wir erleiden mehr, als wir wirken, und wir empfangen ungleich mehr, als wir geben.« 43 Dies ist aber nicht als ein Aufruf zu ethisch-aszetischer Dankbarkeit oder selbstquälerischer Leidensmystik zu verstehen, sondern spricht die Seinsweise des Geistes an. Der menschliche tatkräftige Verstand sowie seine empfangende Vernunft müssen leer sein, damit die reine Vernunft, die »abgetrennt« und »unvermischt« ist und »mit nichts etwas gemein« hat, 44 sie erfüllen kann. Diese reine Vernunft ist für Eckhart Gott. Deshalb heißt es: »Du sollst nicht meinen, dass deine Vernunft dahin wachsen könnte, dass du Gott erkennen kannst. Vielmehr, damit Gott göttlich in dir leuchtet, dazu bringt dich dein natürliches Licht überhaupt nicht weiter, sondern es muss zu einem reinen Nichts werden und sich selbst völlig verlieren.« 45

Pr. 1; 15,4–9: Sehet, daz wizzet vür wâr: wil ieman anders reden in dem tempel, daz ist in der sêle, dan Jêsus aleine, sô swîget Jêsus, als er dâ heime niht ensî, und er ist ouch dâ heime niht in der sêle, wan si hât vremde geste, mit den si redet. Sol aber Jêsus reden in der sêle, sô muoz si aleine sîn und muoz selber swîgen, sol si Jêsum hren reden. 43 Pr. 102; 423,146 f.: Jâ, von unmæziger minne hât got unser sælicheit geleget in ein lîden, wan wir mê lîden dan würken und unglîche mê nemen dan geben. 44 Entsprechend der Definition des Anaxagoras, überliefert von Aristoteles, De anima III c. 4, von Eckhart öfters zitiert, z. B. In Gen. I n. 168; 199,24–26 und In Ioh n. 318; 265–266,1. 45 Pr. 103; 476,26–28: Dû ensolt des niht wænen, daz dîn vernunft dar zuo wahsen müge, daz dû got erkennen mügest. Mêr: sol got götlîche in dir liuhten, dar envürdert dich dîn natiurlich lieht zemâle niht zuo, mêr: ez muoz ze einem lûtern nihte werden und sîn selbes ûzgân zemâle. 42

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12. Wie ist richtiges Leben im falschen mglich?

Hier lesen wir die Formel »zu einem reinen Nichts werden« als Voraussetzung der Gotteserfahrung, als Durchgang, den ich Eckharts ›spirituellen Nihilismus‹ genannt habe. Gegen diese Radikalität wehrt sich der ›gesunde‹ wie der religiöse Menschenverstand. Und so hält sich Eckhart selbst den Einwand entgegen: »Wenn der Mensch so in einem reinen Nichts steht, ist es für ihn dann nicht besser, etwas zu tun, das ihm die Finsternis und das Elend vertreibt, zum Beispiel dass er betet oder liest oder eine Predigt hört oder andere Tätigkeiten, die ja doch Tugenden sind, um sich damit zu behelfen?« 46

Die Antwort ist, wie schon öfters zitiert: Nein! Nur still bleiben und schweigen sind angemessen. Ja sogar: »Du kannst niemals besser da stehen, als wenn du dich in Finsternis und Unwissen setzt. […] Nein, wahrhaftig, daraus gibt es kein Zurück.« 47 Dies ist der Umschlagspunkt, an dem aus Eckharts ›spirituellem Nihilismus‹ als Durchgangsstadium der moderne existenzielle Nihilismus wird, wenn die Gotteserfahrung ausbleibt. Der moderne Nihilismus macht ernst mit der auch von Eckhart bestätigten Tatsache, dass Gott kein Element unseres Erlebens ist, kein Lückenbüßer für unser Nichtwissen, kein Garant unserer Moral. Aber er nimmt das spirituelle Nichts Eckharts nicht als Durchgang, sondern als Endpunkt. Der Mensch des Alltags andererseits kann sich diesem geistigen Nichts, das Eckhart vor die Gotteserfahrung gesetzt hat, entziehen, und das tut der moderne Mensch, indem er das Nichts mit allerhand Fiktionen und Konsumanlässen anfüllt. Davon ist auch das religiöse Leben nicht frei, solange eine geistliche Erfüllung nur behauptet und nicht aus der puren Empfängnis erfahren ist. Eckhart sagt: »Wenn du aber doch [aus der Finsternis] zurückkehrst, kann das nicht aufgrund einer Wahrheit sein, sondern es muss etwas anderes [der Grund] sein: entweder die Sinne oder die Welt oder der Teufel. Und wenn du dieser Rückkehr folgst, fällst du notwendig in Mangel, und du kannst so weit zurückkehren, dass du im ewigen Fall endest.« 48

Pr. 103; 483,81–83: Sô der mensche alsô stât in einem lûtern nihte, enist denne niht bezzer, er tuo etwaz, daz im daz dünsternisse und daz ellende vertrîbe, alsô daz der mensche bete oder lese oder predige hœre oder ander werk, diu doch tugende sint, daz man sich dâ mite behelfe? 47 Pr. 103; 478,43 f.: Dû enkanst niemer baz gestân, dan daz dû dich zemâle setzest in ein dünsternisse und in ein unwizzen. […] Nein, entriuwen, dâ enmac kein widerkêren sîn. 48 Pr. 103; 479,50–53: Ist aber, daz dû widerkêrest, daz enmac niht sîn von keiner 46

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III. Phnomene des Menschseins

Gemeint ist hier die selbstmächtige Ausflucht aus dem Unvermögen, Gott durch die Anstrengung des Suchens zu erringen, gemeint ist die »Rückkehr« aus der Leere in den Ersatz. Ist dies nicht eine gute Andeutung dafür, wie man im modernen Leben versucht, der Leere und Sinnlosigkeit, dem Nichts zu entkommen? Natürlich spricht man nicht mehr vom Teufel; aber er ist doch vielleicht eine gute Chiffre für die globalen Versuchungen zum unendlichen Konsum, der »im ewigen Fall«, das heißt im heroischen Nihilismus endet. Erfüllung kann in Eckharts Sinn nur geschehen, wenn zuvor die Schale leer bleibt.

Mangel und Snde Die vorausgehende Darstellung der Spannung von Allem und Nichts, von Gott, Nicht-Gott und Gottheit kann den Verständnisrahmen geben für Eckharts Lehre vom Bösen und von der Sünde. Die Frage nach dem Bösen beherrscht die gegenwärtige Welt. Jeden Tag sehen und lesen wir in den Nachrichten Berichte von Völkermord, grausamsten Verbrechen, menschenverachtenden Einstellungen, Verkehrung der Werte. Das Böse wird zum Guten und das Gute wird zum Bösen gemacht. Mit dem Bösen meinen wir das moralisch und sozial Böse, das vom Menschen in schädigender Weise ausgeht. Das nicht-menschliche, von der Natur oder dem Schicksal verhängte ›Böse‹ ist das Übel. Beide Formen des Negativen sind nicht klar voneinander zu trennen. Auch bei Eckhart lässt sich oft nicht entscheiden, ob er mit seinem Wort malum das sachlich Schlechte oder das moralisch Böse meint. Im ›Kommentar zum Buch der Weisheit‹ greift Eckhart zu Anfang jene Verse aus dem Weisheitsbuch auf, die von den Gerechten handeln. Er wählt den Satz aus: »Sie sind unter die Söhne Gottes gerechnet.« – Computati sunt inter filios dei (Sap. 5,5). Eckharts Kommentar dazu lautet: »Es ist festzuhalten, dass das Schlechte oder Böse (malum) aufgrund seiner Natur nicht unter das Seiende gerechnet und gezählt wird, da es nicht seiend ist.« 49 Eckhart fügt zur Erläuterung einen Vers wârheit wegen, ez muoz ein anderz sîn: entweder die sinne oder diu werlt oder der tiuvel. Und volgest dû dem kêre, von nôt vallest dû in gebresten, und dû maht alsô verre kêren, daz dû hâst den êwigen val. 49 In Sap. n. 54; 381,1 f.: Notandum ergo quod malum ex sui natura non computatur inter entia, cum non sit ens, nec numeratur.

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aus einem anderen Kapitel des Weisheitsbuches an: »Wenn wir nicht sündigen, wissen wir, dass wir bei dir gezählt sind.«– Si non peccaverimus, scimus quoniam apud te sumus computati (Sap. 15,2). Und Eckhart kommentiert: »So ergibt sich also, dass das Gerechnete und Gezählte i s t , das heißt, Sein hat; das nicht Gerechnete, nicht Gezählte ist umgekehrt nicht, das heißt, hat kein Sein. […] Die Guten sind also und sind gezählt, das Böse aber ist nicht und ist auch nicht gerechnet. Und das ist es, was hier zum Lob der Guten gesagt wird: ›Sie sind gezählt‹, und der Sinn ist, dass sie gerechnet sind – und das ist es, was folgt: ›unter die Söhne Gottes‹.« 50

Das Übel »zählt« nicht, weil es nichts Seiendes ist. Gott kann das Böse überhaupt nicht ›sehen‹ ; denn für ihn gibt es nur Seiendes, das heißt Gutes. Das Böse fällt aus sich selbst ins Nichts. Doch das Übel so zu betrachten ist für Menschen von heute ganz ungewohnt. Kein Zweifel, dass in der öffentlichen Wahrnehmung das Böse und das Übel zählen. Auf dem Übel liegt meistens sogar das Hauptaugenmerk unserer Zeitgenossen. Dass das Böse nichts Seiendes ist, also an sich kein Wesen hat, ist Allgemeingut der scholastischen Philosophie und Theologie, über das Eckhart nicht hinausgeht. So können wir auch bei Thomas von Aquin lesen: »Kein Wesen (nulla essentia) ist an sich schlecht.« Es ist vielmehr ein Mangel (privatio). »Die Privation aber ist kein Wesen, sondern sie ist ›eine Negation in der Substanz‹. Das Schlechte ist also kein Wesen in den Dingen.« – »Ein jedes Ding hat entsprechend seinem Wesen ein Sein. Insofern es aber Sein hat, hat es ein Gutes. Denn wenn das Gute das ist, wonach alles strebt, muss man gerade das Sein ein Gutes nennen, weil alles nach dem Sein strebt. Also ist ein jedes gut, insofern es Wesen hat. Gut und schlecht werden aber einander entgegengesetzt. Folglich ist nichts schlecht, insofern es ein Wesen hat. Also ist kein Wesen schlecht.« 51 In Sap. n. 54; 7–13: Sic patet ergo quod computata et numerata sunt, id est habent esse, non computata, non numerata e converso non sunt, id est non habent esse. […] Boni ergo sunt et computati sunt, mala autem nec sunt nec computata sunt. Et hoc est quod hic in laudem bonorum dicitur: ›computati sunt‹, et est sensus quod ipsi computati sunt – et hoc est quod sequitur – ›inter filios dei‹. 51 Thomas von Aquin, Summa contra gentiles III c. 7, n. 2 u. 3: Malum enim, ut dictum est nihil est aliud quam privatio eius, quod quis natus, est et debet habere: sic enim apud omnes est usus huius nominis malum. Privatio autem non est aliqua essentia, sed est negatio in substantia. Malum igitur non est aliqua essentia in rebus. Adhuc: Unumquodque secundum suam essentiam habet esse. Inquantum autem habet esse, habet 50

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Nur die Einordnung des Bösen und der Sünde in Eckharts Lehre von der Gegenwart Gottes kennzeichnet seinen Standpunkt. Eckhart betrachtet die Bevorzugung negativer Schlagzeilen als »unvernünftige Gedanken«. In der Auslegung des Weisheitsspruchs: »Von Gedanken ohne Vernunft entfernt sich der Heilige Geist« – Aufert se a cogitationibus, quae sunt sine intellectu, spiritus sanctus (Sap. 1,5), nennt er das Unvernünftige: »was aus Leidenschaft [getrieben] geschieht und plötzlich, ohne vernünftige Überlegung und Entscheidung getan wird«. Das kann nicht sittlich und religiös gut sein; es ist also vom Heiligen Geist verlassen. 52 Aber Eckhart setzt die Aussage noch verblüffender fort: »Ein unvernünftiger Gedanke ist jeder böse Gedanke oder über Böses oder sogar über Vergangenes oder Zukünftiges oder über irgendein Seiendes, das Nichts einschließt, das heißt eine Verneinung. Das alles hat ja die Bedeutung des Nichtseienden oder des bloßen Schattens eines Seienden. Der Gegenstand der Vernunft aber ist das Seiende. Ein solches Seiendes und die Fülle des Seienden aber ist der Heilige Geist.« 53

Dies ist wieder ein Beispiel für Eckharts Radikalität. Böses zu denken, aber auch ü b e r Böses oder Übles nachzudenken ist für ihn unsinnig. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum er sich zu den schlimmen Ereignissen seiner Zeit nicht äußert. Ja sogar über Vergangenes und Zukünftiges sowie über das, was nicht ist, nachzudenken, hat keinen vernünftigen Sinn. Deutlich unterscheidet Eckhart hier zwischen dem Verstand, der auch unvernünftige Gedanken bilden kann, nichtige Vorstellungen, und der Vernunft, die sich auf das Sein richtet. Vernunft (intellectus) ist nicht an einzelne intentionale Akte des Bewusstseins gebunden, sondern sie ist sozusagen das ›offene Bewusstsein‹ selbst, aliquid boni: nam, si bonum est quod omnia appetunt, oportet ipsum esse bonum dicere, cum omnia esse appetunt. Secundum hoc igitur unumquodque bonum est quod essentiam habet. Bonum autem et malum opponuntur. Nihil igitur est malum secundum quod essentiam habet. Nulla igitur essentia mala est. 52 In Sap. n. 9; 330,3–6: Notandum quod ea, quae ex passione sunt et fiunt subito absque consultu rationis et electione, non habent rationem boni divini sive moralis et virtutis, talia autem sunt quae sunt sine intellectu. Et hoc est quod hic dicitur: »spiritus sanctus aufert se a cogitationibus, quae sunt sine intellectu«. Ex passione (aus Leidenschaft) trägt hier die Bedeutung des Passiven, Erleidenden, Getriebenen. 53 In Sap. n. 10; 230,12–331,3: Adhuc autem secundo: cogitatio sine intellectu est omnis cogitatio mala vel de malo aut etiam de praeterito vel futuro sive de ente quocumque includente nihil, id est negationem. Haec enim omnia dicunt rationem non entis vel umbram entis. Obiectum autem intellectus est ens. Tale autem ens et entis plenitudo est spiritus sanctus.

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dessen Inhalt das Sein selbst und als solches Gott ist. So ist die Vernunft die ›innere Wahr-Nehmung‹ (intus legere), die nur wirklich Seiendes zum Inhalt hat. Böses, Übel, Vergangenes, Zukünftiges, Nichtiges sind fiktive Gedankengebilde. Über sie kann man ›räsonieren‹, von ihnen kann man sprechen, und trotzdem sind sie vor der Vernunft eigentlich nichts. Das Gute ist, und was ist, ist gut. Das ist – ontologisch – der unverrückbare Standpunkt Eckharts. Das heißt aber nicht, dass das Böse nicht schlimm wäre und verharmlost werden dürfte. Die realen Folgen dieses Bösen, das unendliche Leiden, sind ja unübersehbar. Der Böse kann weit von dem abweichen, was richtig ist und mit aller Kraft durchsetzen, was himmelschreiend böse, moralisch entsetzlich, in theologischer Sprache eine Todsünde ist. Dieses Böse trifft die volle Strenge des menschlichen Abscheus sowie des weltlichen und göttlichen Gerichts, auch in Eckharts Sinn. Seine ontologische Sichtweise fragt aber, mit welchen Mitteln kann der Böse eigentlich Böses tun? Die Antwort lautet: Nur mit Mitteln, die an sich nicht böse sind. Sei es das Gerät, mit dem einer das Unrecht tut, sei es die Körperkraft, die er einsetzt, es ist an sich gut, dass es diese Mittel gibt. Aber die Tat ist böse, weil sie nicht zum Guten getan wird. In diesem Sinne ist das Böse – in Eckharts Sinn – subjektiv ein Irrtum, eine Abwendung von dem, was besser oder eigentlich vernünftig ist, aufgrund eines Vermögens, das in sich gut ist, aber zum Schaden verwendet wird. Das heißt natürlich wiederum nicht, dass durch das böse Handeln nicht ein objektiv Schädliches, Schlimmes und Leidvolles erzeugt wird. Aber es scheint, dass Eckhart sich um die objektiv bösen Folgen des Handelns nicht kümmert, und das ist angesichts des himmelschreienden Unrechts, der sadistischen, ja industriellen Vernichtung des Lebendigen eine schmerzliche Lücke für den modernen Leser Eckharts.

Snde und Hlle: die Qual des Nichts Die subjektive Einschätzung herrscht auch bei der Betrachtung der Sünde und der Hölle vor. »Die Sünde, und zwar jede Sünde ist Knechtschaft. Durch sie dient man Gutem und Bösem, ja sie selbst ist dieser Dienst. Deswegen allein steht die Sün-

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de der Freiheit entgegen. Sünde liegt vor, wann immer die Ordnung der Dinge aufgehoben wird und das Obere dem Niederen unterworfen wird, die Vernunft der Sinnlichkeit. Sünde ist immer ein Rückzug vom Einen ins Viele.« 54

Hier wird, was vorher unter dem Aspekt der Nichtigkeit gesagt wurde, als die Sünde definiert. Sie ist die Bindung an das Nichtige und Zerstreuung ins Vielerlei. Ihr steht das Freisein zum Guten gegenüber. Die Umkehrung der Rangordnung, das heißt die Bevorzugung des Geringeren vor dem Besseren, ist ebenfalls subjektiv gewertet; denn der Sünder oder der Weltverfallene weiß innerlich, dass er das Falsche wählt und leidet daran. Denn es ist für Eckhart nicht das ›Höllenfeuer‹, das brennt und schmerzt, sondern das Nicht oder Nichts: »Es gibt [im Theologiestudium] eine Frage: Was brennt [transitiv die Verdammten] in der Hölle? Die Standardantwort der Meister ist: Der Eigenwille [brennt]. Aber ich sage wahrhaftig: Das Nicht brennt in der Hölle.« 55 Eckharts Beispiel für diesen Sachverhalt sprengt die gewohnte Denkweise. Die sagt: Legte man mir eine glühende Kohle in die Hand, würde mich die Kohle brennen. Doch damit täte man der Kohle unrecht, meint Eckhart. Eigentlich brennt mich das Nicht; denn die Kohle hat etwas an sich, das meine Hand nicht hat: das Feuer. Hierbei muss man Eckhart konzedieren, dass er die antike Elementenlehre im Sinn hat. Danach ist das Feuer von edlerer Qualität als das Fleisch meiner Hand. Das Nicht, nämlich dass meine Hand nicht das edle Wesen des Feuers hat, das brennt mich. Denn hätte meine Hand alles an ihr, was die Kohle hat und bewirkt, dann hätte sie voll die Natur des Feuers. Dann könnte man alles Feuer, das je gebrannt hat, auf meine Hand schütten: das könnte mir nicht wehtun. 56

Sermo XVII,1; 138,6–10: Nota primo quomodo peccatum et omne peccatum servitus est, quo et quod servit bonis et malis. Propter hoc solum peccatum obstat libertati. Peccatum autem, ut nunc, est, quotiens ordo rerum tollitur et superius subicitur inferiori, ratio sensibilitati. Secundo nota quod peccatum est semper recessus ab uno in multa. 55 Pr. 5b; 88,8–10: Ez ist ein vrâge, waz in der helle brinne? Die meister sprechent gemeinlîche: daz tuot eigener wille. Aber ich spriche wærlîche, daz niht in der helle brinnet. 56 Pr. 5b; 89,1–10: Nû nim ein glîchnisse! Man neme einen brinnenden koln und lege in ûf mîne hant. Spræche ich, daz der kol mîne hant brante, sô tæte ich im gar unreht. Sol aber ich eigenlîche sprechen, waz mich brenne: daz tuot daz niht, wan der kol etwaz in im hât, des mîn hant niht enhât. Sehet, daz selbe niht brennet mich. Hæte aber mîn hant allez daz in ir, daz der kol ist und geleisten mac, sô hæte si viures natûre zemâle. 54

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Ebenso ist es für Eckhart in der Hölle. Auch die Verdammten schmerzt und brennt ein Nicht: Sie entbehren die Verbindung mit Gott. »Denn die in der wahren seligen Anschauung Gottes stehen, besitzen etwas, das die nicht haben, die von Gott getrennt sind. Allein dieses Nicht quält die Seelen, die in der Hölle sind, mehr als ihr Eigenwille oder irgendein Höllenfeuer. Darum sage ich wahrhaftig: So viel Nicht an dir haftet, so weit bist du unvollkommen. Darum: Wollt ihr vollkommen sein, so sollt ihr ohne Nicht sein.« 57

In dieser Passage geht Eckhart von einem Status der endgültigen Gottabgewandtheit aus: Die mutmaßlichen Verdammten sind in ihrer Beziehung zu Gott vollkommen durch das Nicht bestimmt. Aber sogleich wendet er sich ratgebend den Zuhörern in Anwendung desselben Prinzips zu. Er weiß, dass das Alltagsleben der Menschen durchwegs ebenfalls von Nicht-Erfahrungen und Nicht-Haltungen bestimmt ist, das heißt vom Ausschluss dessen, was die Menschen ihrem eigentlichen Begehren nach bejahen müssten. Diese Haltung wäre nach der Logik dieses Abschnitts tendenziell »Sünde« oder »Hölle«. Doch Eckhart wendet genau diesen Gedanken, der die Negation betonen würde, ins positive: »Wollt ihr vollkommen sein, so sollt ihr ohne Nicht sein.« Diese Ermahnung wirft eine aufschlussreiche existenzielle Fragestellung auf, nämlich wie weit sich das Leben auf Bejahung ausrichten und aufbauen könnte. Aber abgesehen davon lässt sich in Eckharts Ermahnung jene Denkfigur wiedererkennen, die die letzte Vollkommenheit Gottes bezeichnet: die negatio negationis, die »Verneinung der Verneinung«, das ist die absolute Bejahung. Wenn die Haltung in der Sünde und der Verdammnis vom Nicht bestimmt ist, fällt ein neuer Blick auf das Mythologem des »Jüngsten Gerichts«. Die Verurteilung, die Strafe und die Höllenqual werden nicht ans Ende der Zeiten verlegt, sondern sie liegen in der Haltung des lebendigen Sünders selbst. Eigentlich straft nicht Gott, sondern

Der danne næme allez daz viur, daz ie gebrante, und schutte ez ûf mîne hant, daz möhte mich niht gepînigen. 57 Pr. 5b; 89,7–90,2: Ze glîcher wîse alsô spriche ich: wan got und alle die, die in dem angesihte gotes sint, nâch rehter sælicheit etwaz inne hânt, daz die niht hânt, die von gote gesundert sint, daz niht aleine pîniget die sêlen mê, die in der helle sint, dan eigener wille oder kein viur. Ich spriche wærlîche: als vil dir niht zuo haftet, als verre bist dû unvolkomen. Her umbe wellet ir volkomen sîn, sô sult ir nihtes blôz sîn.

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der Sünder selbst entzieht sich der beseligenden Gegenwart Gottes schon durch die aktuelle Sünde, die jederzeit im Nun der Ewigkeit als Endzustand festgeschrieben wird. So besteht auch die Todsünde nicht darin, dass ihr für das letzte Gericht der ewige Tod angedroht wird, sondern Eckhart fasst die Beeinträchtigung des Wesens durch das Böse selbst als Tod. Deshalb sagt er, »dass der Sünder im gleichen Augenblick, in dem er sündigt, stirbt, obwohl er zu leben scheint«. 58 Aber »in allem, was Furcht erregt, fürchtet man den Tod«, sagt Eckhart, »denn der Tod ist Beraubung des Lebens, ›Leben aber ist für die lebenden Wesen Sein‹.« 59 Daraus folgt, »dass der Mensch in jeder Sünde, die er begeht, stirbt, um nicht zu sterben. Er stirbt, um nicht zu sterben, und stirbt eher, als er stirbt.« 60 Ein etwas verstaubtes Verständnis wird hier die verdinglichende Katechismussprache mithören: Die Seele ist tot, der Körper lebt weiter. Das mag sogar richtig sein, sofern man damit eine sinnvolle Bedeutung verbinden kann. Aber die Besinnung könnte auch dahin führen zu sehen, wie durch manche Lebens- und Handelnsweise das Leben abstirbt und fast zu einem Vegetieren im Todeszustand wird. Der bairische Dialekt kann das wunderbar ausdrücken, indem er vom Substantiv Tod ein Verb bildet: dodeln: »I dodl grad no. – Ich lebe nur halbtot dahin.« Nicht als Ausdruck der mangelnden Gesundheit, sondern der Lebensfreude genommen, wäre das ein Äquivalent für den Zustand eines ›Sünders‹, der lebendig bereits tot ist. Es geht darum zu verstehen, dass die Sünde eigentlich nicht eine Handlung, sondern eine Ausrichtung des Geistes ist. In einem deutschsprachigen scholastischen Diskussionsbeitrag, Predigt 105, ›Ich hân gesprochen in einer predige‹, vertritt Eckhart »gegen alle Theologieprofessoren, die jetzt leben« 61 den Standpunkt, dass gute und böse Werke ihre Wirklichkeit im Geist haben und nicht in der Tat. Die Streitfrage mag uns heute etwas spitzfindig vorkommen, doch für Eckhart handelt es sich um ein wichtiges Prinzip. In Gen. I n. 190; 217,11: Notandum quod peccator mox, ut peccat, moritur, quamvis vivere videatur. 59 In Gen. II n. 103; 385,14 f.: Primo, quod in omni quod timetur mors timetur. Ratio est primo, quia mors est privatio vitae et »vivere viventibus est esse« (Aristoteles, De anima II c. 4; 415 b 13). 60 In Gen. II n. 105; 386,4: Tertio notandum quod in omni peccato homo peccando moritur ne moriatur. Et ne moriatur moritur et prius quam moriatur moritur. 61 Pr. 105; 634,8–10: [I]ch bin gebeten, daz ich den sin erliuhte. Und daz wil ich tuon, und doch ist ez wider alle die meister, die nû lebent. 58

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»Verstünden sie, was Geist ist und in welcher Weise das Werk dem Geist entspricht und was Werk und Zeit an sich selbst sind, so sprächen sie keineswegs, dass ein gutes Werk oder eine Tat je verloren wäre oder verloren werden könnte, obwohl [doch] das Werk mit der Zeit vergeht und zunichte wird.« 62

Alle Theologen sagen zu Eckharts Lebzeiten, dass ein gutes Werk, das getan wird, solange ein Mensch in Todsünden lebt, für die Ewigkeit verloren ist. Dem widerspricht Eckhart. Zwar gehen faktisch alle Werke und Taten als Ereignisse in Raum und Zeit unter, sobald sie getan sind. Dass die Werke gut sind, entspringt aber nicht »aus der Todsünde«, sondern »aus dem Grunde des menschlichen Geistes, der in sich selbst natürlich gut ist, auch wenn er nicht in der Gnade lebt«. 63 Im Geist aber sind die »Früchte« oder die »Kraft« der guten Taten zu Geist geworden, der ewig bestehen bleibt; die Tat selber hingegen ist vergangen. »Das bleibt in dem Geist und fiel nie heraus und kann so wenig vergehen wie der Geist an sich selbst; denn er ist es [das Gute des Werkes] selbst.« 64 Insofern Eckharts Blick in allem auf das Wesen und das Wesentliche der Dinge und Menschen geht, ist die Beurteilung des Bösen keine Verharmlosung, sondern dieses gewinnt eine umso größere Tragik, je weiter es von dem eigentlichen Wesensbestand abweicht. Die Tragik des Bösen ist ja, das scheinbar Böse scheinbar zu wollen; aber das ›radikal Böse‹ weder erreichen noch wollen zu können; denn zur Definition des Wollens gehört es, etwas Gutes wollen zu müssen. Goethes Mephisto hat dieses Gesetz des Bösen erkannt, wenn er sagt: »Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft« 65 . Die Tragik des Bösen kommt, wie zuvor zitiert, besonders im Leiden des Verdammten zum Ausdruck. Dabei ist unerheblich, ob Pr. 105; 652,211–217: Verstüenden sie, waz geist ist und in welher wîse daz werk antwürtet dem geiste und waz werk und zît an im selber ist, sô enspræchen sie mit nihte, daz kein guot werk oder getât iemer verlorn werde oder möhte verlorn werden, aleine gât werk hine mit der zît und wirt ze nihte. 63 Pr. 105; 649,154–161: Nû merket den sin kurzlîche, als ez in der wârheit ist: diu werk, diu der mensche tuot, die wîle er in tôtsünden ist, sô entuot er doch diu werk niht ûz tôtsünden. Wan disiu werk sint guot, sô sint tôtsünde bœse. Mêr: er würket sie ûz dem grunde sînes geistes, der guot ist in im selber natiurlîche, aleine er niht enist in der gnâde. 64 Pr. 105; 653,224–228: Diz blîbet in dem geiste und enkam nie her ûz, und enmac als wênic vergân als der geist an im selber, wan er ist ez selber. 65 Goethes Faust, Teil I, Vers 1336. 62

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III. Phnomene des Menschseins

wir mit Eckhart das Mythologem der Hölle in Anspruch nehmen oder das Verdammtsein im lebenden Sünder sehen, der nach Eckhart ein lebender Toter ist. Da das Böse kein eigenständiges Seiendes ist, sondern als Mangel unablässig am Seienden als an einem Guten klebt, kann das Böse das Gute niemals »vollständig zerstören, auslöschen oder zum Schweigen bringen«. 66 Sogar »in den Verdammten erlischt weder das natürliche Streben nach dem Sein noch der Widerspruch des inneren Gewissens (synderesis) gegen das Böse«. Die Synderesis ist ein inneres ›Wissen‹, das jedoch »weder zeitgebunden noch materiell« ist. Deshalb »ruft sie ständig, auch wenn sie in Raum und Zeit nicht zu hören ist«, »sie widerspricht dem Bösen und drängt und sagt ja zum Guten«. 67 Ein böser Mensch ist seiend, insofern er als Mensch gut, lebendig, klug ist; er ist nicht, insofern er böse ist. Durch das Böse mindert er sein Sein. Ja, er ist umso böser oder nichtiger, je mehr ihm Gutes, das heißt Sein fehlt, das heißt je mehr Sein oder Gutsein er vernichtet. 68 Das In Gen II n. 163; 411,23 f.: Hinc est quod malum nunquam corrumpit totaliter bonum neque exstinguit neque obmutescere facit. 67 In Gen. II n. 164; 412, 3–9: Hinc iterum est secundo quod neque in damnatis appetitus naturalis ad esse exstinguitur neque synderesis remurmurans malo, Is.: ›vermis eorum non morietur‹, item quod »in daemonibus naturalia manent integra« et splendida, iterum etiam quod neque in Cain neque in aliquo peccatore synderesis tacet, sed semper clamat, remurmurans malo et ad bonum inclinans voce consona, quam neque tempus neque locus unquam intercipit aut minuit, quamvis vox eius foris in tempore et loco non audiatur, eo quod neque sit temporalis neque materialis. – »Daher kommt es zweitens, dass auch in den Verdammten weder das natürliche Streben nach dem Sein noch der Widerspruch der Synderesis gegen das Böse erlischt – ›ihr Wurm wird nicht sterben‹ (Jes. 66,24) – dass ferner ›in den bösen Geistern das, was zu ihrer Natur gehört, unversehrt‹ und strahlend bleibt (Dionysius Areopagita, De div. nom. c. 4; § 23, PG 3, 725) und dass endlich weder in Kain noch sonst in einem Sünder die Synderesis schweigt. Vielmehr ruft sie ständig, widerspricht dem Bösen und stimmt dem Guten zu und macht zu ihm geneigt; weder Zeit noch Ort löschen sie jemals aus noch tun ihr Abbruch, wenngleich ihre Stimme, die ja weder zeitlich noch stofflich ist, draußen in Zeit und Raum nicht zu hören ist.« 68 In Sap. n. 14; 335,4–8: Ex quo patet primo quod hoc est plus malum, quod plus boni privat; et hoc est in rebus peius, in quo deficit maius bonum vel plura bona vel plura esse, quodcumque sit illud, sive poena sive culpa, sive haec poena sive alia poena, sive haec culpa sive alia. Universaliter enim hoc est peius illo, in quo deficit nobilius esse vel plures modi essendi. – »Daraus zeigt sich, dass das ein Mehr an Übel ist, was ein Mehr an Gutem raubt, und in der Wirklichkeit ist das schlechter, in dem ein größeres Gutes oder viel Gutes oder viel Sein verloren geht, was dieses auch immer sei: Strafe oder Schuld, diese Strafe oder jene Strafe, diese oder jene Schuld. Ganz allgemein ist nämlich 66

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12. Wie ist richtiges Leben im falschen mglich?

Leben zu rauben ist böser, als einen Fingerring zu stehlen. Sofern aber ein Mensch böse ist, ist er nicht oder Nichts. Das heißt: Das Böse ist nicht real seiend, sondern nur eine Betrachtungsweise, eine Wertung, die den Mangel in Bezug auf das fehlende Sein berücksichtigt und in dieser Hinsicht bis zu der Einschätzung gelangen kann, dieses oder jenes Böse sei so seinslos, wesenlos, bodenlos, dass es Nichts ist. Wollten wir die Frage stellen: Existiert also der Böse oder der Teufel nicht?, so müssten wir antworten: Doch, er existiert, insofern er ist; aber sofern er nichts als böse ist, definiert er sich ausschließlich durch seinen eigenen Willen, der gegen das Sein und das Gute, also gegen Gott gerichtet ist. So ist er als das Nichts bestimmt, selbst wenn er unter dem Aspekt des Wirklichseins aus Gott als dem Sein existiert. Er will es aber nicht wahr haben. Dies wäre eine Bestimmung der Todsünde, aber auch der radikalen Weltlichkeit des Geschöpfes. Das Geschöpf, sprich: der Mensch, der sich als der absolut ›irdische‹ Herr seines Lebens betrachtet, ist ein »reines Nichts«: Er existiert, da er lebt; aber er existiert sozusagen den Nihilismus, ob er es weiß oder nicht. Dabei ist er allerdings – in Eckharts Sicht – im Irrtum über das Wesen des Seins. Sein ist ein anderer Name für Leben. Einer der aufregendsten Sätze Eckharts, der nicht häufig genug zitiert werden kann, lautet: »Was ist Leben? Gottes Wesen ist mein Leben. Ist mein Leben Gottes Wesen, so muss Gottes Sein meines sein und Gottes Istheit meine Istheit, nicht weniger und nicht mehr.« 69 Diese unvergleichliche Wesensbestimmung des Lebens folgt unmittelbar auf eine ebenso erschütternde Bestimmung des »Lebens« derer, die in der Hölle sind. Auch deren Leben »fließt unmittelbar aus Gott«, und das heißt nichts anderes als: Das Leben der ›Verdammten‹ ist als Leben das Leben Gottes. »So begehrenswert ist das Leben an sich, dass man es um seiner selbst willen begehrt. Die in ewiger Qual in der Hölle sind, wollten nicht ihr Leben verlieren, auch die Teufel und die [verlorenen] Seelen nicht; denn ihr Leben ist so edel, dass es ohne alle Vermittlung von Gott in die Seele fließt. Darum weil es so unmittelbar von Gott fließt, darum wollen sie leben.« 70 das, in dem ein höheres Sein verloren geht oder mehr Seinsweisen, schlimmer als das andere.« 69 Pr. 6; 106,1–3: Waz ist leben? Gotes wesen ist mîn leben. Ist mîn leben gotes wesen, sô muoz daz gotes sîn mîn sîn und gotes isticheit mîn isticheit, noch minner noch mêr. 70 Pr. 6; 105,12–106,1: Sô begirlich ist daz leben in im selber, daz man ez umbe sich selber begert. Die in der helle sint in êwiger pîne, die enwölten niht ir leben verliesen,

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III. Phnomene des Menschseins

Wenn man liest: »Sie wollen leben, weil das Leben unmittelbar aus Gott fließt«, könnte man meinen, die Verdammten müssten eigentlich glücklich sein. Doch sie leben zwar, aber sie leben nicht aus dem Leben, nicht aus dem Sein, aus Gott. Durch diese Unterscheidung kommt ein existenzielles oder subjektives Moment hinein. Rein seinshaft betrachtet s i n d auch die Verdammten, aber sie sind in existenzieller Weise n i c h t und nichts. Eckhart sagt folgerichtig: »Indem das Wesen aber das Gute und das Reine anblickt, wird jedes Seiende gut und rein und schön. Deswegen sagt Dionysius [Areopagita], dass [sogar] in den Dämonen die glänzendsten Naturanlagen erhalten geblieben sind.« 71 Das Wesen der Verdammten ist also nicht ihre Bosheit, sondern diese ist ein Abfall, eine Minderung ihres Wesens. Dasselbe gilt natürlich für jeden Sünder und Verbrecher. Es gilt auch für das Übel, also für noch vîende noch sêlen, wan ir leben ist sô edel, daz ez sunder allez mittel vliuzet von gote in die sêle. Dar umbe wan ez von gote alsô vliuzet sunder mittel, dar umbe wellent sie leben. 71 In Sap. n. 140; 478,5–479,5: Adhuc autem tertio: ad occurrendum praedictis imaginariis notandum quod deus respicit et attingit ubique omnia quantum ad ipsorum essentias directe et per se. Ratio est, quia deus est esse purum et plenum. Esse autem nihil aliud prorsus respicit nec novit nisi rerum essentiam. Sic enim intellectus essentiam rerum accipit praeter id quod accipiat earum accidentia et multo magis praeter rerum vitia. Propter quod scientiae malorum bonae sunt, et »scire malum bonum est«. Et e converso essentia per se ipsam, eo quod essentia, nihil prorsus aspicit nec appetit nisi esse. Essentia autem et natura etiam quorumlibet et quantumlibet immundorum munda est. Ratio est, quia ipsa, ut dictum est, per suam essentiam nihil respicit nec appetit nisi esse, quod cum bono convertitur. Aspiciendo autem et appetendo bonum et mundum fit omne ens bonum et mundum et pulchrum. Propter quod Dionysius dicit quod in daemonibus splendidissima naturalia remanserunt. – Zudem aber drittens: Um den zuvor erwähnten Träumern entgegenzutreten, ist zu bemerken, dass Gott überall alles anblickt und unmittelbar und durch sich selbst bis hin zu ihrer Wesenheit reicht. Der Grund dafür ist, dass Gott das reine und volle Sein ist. Das Sein aber blickt durchaus nichts anderes an und kennt nichts anderes als die Wesenheit der Dinge. So erfasst die Vernunft die Wesenheit der Dinge, ohne dass sie [d. h. die Vernunft] deren Akzidentien und noch viel mehr ohne dass sie die Fehler der Dinge erfasst. Deswegen ist das Wissen von den Übeln gut und ›das Schlechte zu wissen ist gut‹ (Thomas, De ver. q. 2 a. 15 ad 5). Und umgekehrt blickt die Wesenheit von sich aus, insofern sie Wesenheit ist, durchaus auf nichts anderes und erstrebt nichts anderes als das Sein. Die Wesenheit und auch die Natur irgendwelcher und auch noch so unreiner Dinge aber ist rein. Der Grund dafür ist, dass sie [d. h. die Wesenheit], wie gesagt, aufgrund ihrer Wesenheit nichts anblickt und nichts erstrebt als das Sein, das mit dem Guten austauschbar ist. Indem es aber das Gute und das Reine anblickt, wird jedes Seiende gut und rein und schön. Deswegen sagt Dionysius [Areopagita], dass in den Dämonen die glänzendsten Naturanlagen erhalten geblieben sind [De div. nom. c. 4 § 23; PG 3, 725].«

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12. Wie ist richtiges Leben im falschen mglich?

den Schaden, ja sogar für die Vernichtung, die der Verbrecher dem Opfer zufügt. Der Schaden, das Trauma ist nicht das Wesen des Opfers. Ein solcher Mensch ist in seinem Wesen und seiner Würde beschädigt und verletzt. Für das Opfer wie für den Täter gilt, was Eckhart aus Dionysius zitiert, dass auch in ihnen »die glänzendsten Naturanlagen erhalten geblieben sind«. Kann man das verstehen? Wird der Riss des Traumas, wird die Energie der Bosheit des Täters so nicht verharmlost? Die Positivität des Wesens bleibt aufrecht erhalten; das Negative aber wird nicht verleugnet. Es ist real im Leiden, im Schmerz. Wir haben versucht zu verstehen, was Eckhart über das Böse, den Mangel und die Sünde sagt. Hoffnungsvoll und ansteckend klingt, dass er in allem, was ist, das Gute sieht. Ob mit seiner Sicht die objektive verheerende Wirkung des Bösen in der Welt hinreichend verständlich wird, muss wohl offen bleiben.

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Dreizehntes Kapitel Demut, die Gott »enthht«

In den vorausgehenden Kapiteln wurde immer wieder die Frage gestreift, ob Eckharts metaphysische Aussagen auch in unserer ›nachmetaphysischen‹ Zeit noch verstanden und angewandt werden können. Es zeigte sich, dass Eckharts Blick auf unser Leben zwar ungewohnt ist; dass er aber dazu anleitet, manches, was wir blind für selbstverständlich halten, neu zu interpretieren. Das trifft auch bei einem Phänomen zu, das Eckhart wichtig ist, uns Heutigen aber so fremd zu sein scheint, dass man selten davon spricht: die Demut. Das Grimm’sche Wörterbuch definiert »Demut« wie folgt: »humilitas, modestia, ahd. deomuotî, mhd. dêmuot, diemuot. Zusammengesetzt mit deo (servus), bezeichnet es eigentlich die Gesinnung eines Knechtes, Unterwürfigkeit«.

Neudefinition der Demut Wenn wir Demut immer noch als eine wünschenswerte Haltung ansehen wollen, müssen wir den Begriff wohl umdeuten. Meister Eckhart war ein unvergleichlich eigenständiger Theologe, und als solcher musste er ein Meister und ein Künstler der Umdeutung sein. Eckhart deutet auch die Demut neu. Damit greift er in das Selbstverständnis seiner berufensten Zuhörer ein, deren Standesmaxime als Nonnen und Mönche ja die Demut sein sollte. Aber damit nicht genug: Indem er die Demut umdefiniert, stellt er das Selbst- und Gottesverhältnis des Menschen auf eine neue Grundlage. Anhand der Demutslehre Eckharts, beispielhaft in Predigt 14, ›Surge illuminare Iherusalem‹, die zu den späten Predigten Eckharts aus seiner ›Kölner Predigtreihe‹ (zwischen 1323 und 1326) zählt, lassen sich leicht zwei Umdeutungen in den Blick rücken: ein Umsturz der

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13. Demut, die Gott »enthht«

Beziehung des Menschen zu Gott und ein neues Verständnis der ›Transzendenz‹. Demut ist ein Beziehungsbegriff. Zur Haltung der Demut gehört ein Gegenüber, eine Blickrichtung. Auch wenn ich Demut nicht in einem Untertanen- oder Autoritätsverhältnis zwischen Personen ansetze, bin ich demütig im Blick auf etwas, zum Beispiel im Blick auf die Unverfügbarkeit der wesentlichen Kräfte des Menschen, auf die Größe einer Aufgabe, auf die Nichtigkeit und Schuldbeladenheit der Existenz. Der Umdeutungsprozess vollzieht sich in klar gegliederten Schritten:

Hinab statt hinauf Die Predigt hat die Überschrift: »Steh auf Jerusalem und erhebe dich«. Die Beziehung des Menschen zu Gott richtet sich aufwärts. Aber Eckhart spricht nicht vom Hinauf, sondern vom Herab: Wenn er jemandem zurufen würde: »Komm herauf auf die Kanzel!«, das wäre schwierig. Aber spräche Eckhart: »Ich setze mich zu dir nieder«, das wäre leicht. »Bist du unten und ich wäre über dir, so müsste ich zu dir hinunter kommen.« 1 – »So tut es Gott. Wenn du dich demütigst, kommt Gott von oben herab und kommt in dich«, heißt es in Predigt 14. 2 So weit, so gut, könnten fromme Menschen denken. Die Gnade, die Rechtfertigung und Erleuchtung sind nicht durch eigene Anstrengung zu gewinnen, sondern durch die Zuwendung Gottes zum Menschen. So sieht es auch Eckhart. Aber wie stellt er dieses Herabkommen Gottes dar?

Pr. 22; 385,5–7: Wære ich hie oben und spræche ich ze einem: ›kum her ûf!‹, daz wære swære. Mêr: spræche ich: › I c h sitz hie nider!‹, daz wære lîht. Ich schlage hier für Pr. 22 eine Textkorrektur (Ich, fehlt in der Hs.) vor, um den Sinn des Satzes zu glätten, aber auch wegen der Parallele zu Pr. 14; 233,3 f.: »Bist du unten, und ich wäre über dir, so müsste ich zu dir herniederkommen.« – Bystu neder inde were ich inbouen dir, so moyste ich heir neder zo dir. 2 Pr. 14; 233,4 f.: Also deyt got; so wane du dich oitmoedeges, so kompt got van inbouen heir neder inde compt in dich. 1

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III. Phnomene des Menschseins

Die Unausweichlichkeit der Herabkunft Gottes Eckhart wählt als Beispiel die Zuordnung des Himmels zur Erde. Wie die Erde dem Himmel nicht entfliehen kann, so kann auch der Mensch Gott nicht entfliehen. Das ist der bildhafte Kern der Aussage. Die Bildgestaltung aber, die ein Beispiel für Demut und Erfüllung von oben her vor Augen führen soll, widerspricht jeder psychologischen oder ethischen Demutsgeste. Die Erde in diesem Beispiel, aber auch der Himmel sind von der Tugend der Demut weit entfernt: Sie krümmt sich und schämt sich, biegt sich weg und flieht vergeblich auf und ab. Aber der Verfolger Himmel »jagt sie in einen Winkel, drückt seine Kraft in sie und macht sie fruchtbar«. 3 Man kann nicht übersehen, dass hier das Bild einer Vergewaltigung benützt wird, um die Zwangsläufigkeit der Gottesgeburt in der Seele zu demonstrieren. Diese Ausdrucksweise ist befremdend, weil sie – in einer Predigt über die Demut – aller spirituell-aszetischen Tugendfrömmigkeit ins Gesicht schlägt. Dieses Bild zeichnet das Gegenteil der frohen Bereitschaft für Gott, der unermüdlichen Anstrengung in der Selbstverleugnung und Annäherung an das Vollkommenheitsideal. Es sagt, und das ist die Provokation: Um das Wesentliche der Vereinigung mit Gott brauchst du dich gar nicht zu bemühen; es wird ohne, ja sogar gegen deinen Willen eintreten. 4 Pr. 14; 233,5–10: De erde is dat alre verste van dem hemele inde hait sych gecrumpene in eynen wynkele inde schampt sych inde solde gerne deme schonen hemel intflyn van eynem wynkel zo deme anderen. wat were dan ire inthalt? Vloet sy nederwert, sy komet zo deme hemele; vloet sy vpwartz, sy in mach eme doch neyt intflyn. hey jaget sy in eynen wynkel inde drocket syne craft in sy inde macht sy vrochtber. – »Die Erde ist vom Himmel am weitesten entfernt; sie hat sich in einen Winkel gekrümmt und schämt sich und würde gerne dem herrlichen Himmel entfliehen von einem Winkel zu dem anderen. Was könnte sie dann aufhalten? Flieht sie hinab, sie kommt zu dem Himmel; flieht sie hinauf, sie kann ihm doch nicht entfliehen. Er jagt sie in einen Winkel und drückt seine Kraft in sie und macht sie fruchtbar.« Vgl. Pr. 22; 386,4–8; ebenso Pr. 48; 414,3–5: Des ist der himel gewar worden in sîner natûre, daz in daz ertrîche gevlohen hât und die niderste stat besezzen hât. Dar umbe ergiuzet er sich alzemâle in vruhtbærlîcher art in daz ertrîche. – »Darauf ist der Himmel seiner Natur nach aufmerksam, dass ihn die Erde flieht und die unterste Position eingenommen hat. Darum ergießt er sich vollends auf befruchtende Weise in die Erde.« Diese Predigt weist weitere inhaltliche Parallelen zu Pr. 13, 14, 15 und 22 auf. Darum wird sie von Largier, EW I, S. 1038 der Gruppe der Kölner Predigten chronologisch zugerechnet. Dem stimme ich zu; siehe dazu Witte, Karl Heinz: Von Straßburg nach Köln. 4 Vgl. Pr. 22; 386,8–387,2: Alsô tuot der mensche, der dâ wænet gote entvliehen, und er 3

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13. Demut, die Gott »enthht«

In der Tat, wenn wir die Beziehung des Menschen zu Gott psychologisch sehen, kommt immer ein Unterwerfungs- oder Dominanzverhältnis heraus. Das dürfte ein Grund dafür sein, dass es modernen Menschen so schwer fällt, in eine Beziehung zu Gott zu treten, besonders wenn es heißt, wir sollten Gott mehr lieben als die weltlichen Dinge. Gott sitzt dann in einer autoritären Über-Ich-Position; der Psychoanalytiker erlaubt sich, von einer sado-masochistischen ObenUnten-Beziehung zu sprechen, und die aufgeklärte Selbstbestimmung sagt: Es gibt kein personales Gegenüber, dem sich der Mensch unterwerfen könnte, ohne seine Menschenwürde aufzugeben. Damit aber sind Tugenden wie Demut und Gehorsam fragwürdig geworden. Doch gerade diese Einstellung konterkariert Eckhart: Euch fällt es schwer, zu Gott in Beziehung zu treten? Ganz recht!, belehrt uns der Meister in diesem Text: Nicht der Mensch tritt in ein Verhältnis zu Gott, sondern Gott drängt sich und ergießt sich in den demütigen, das heißt hier: in den seiner Eigenmacht beraubten Menschen – im heute fast unerträglichen Bild der Vergewaltigung. In Predigt 22 sagt Eckhart: »Gott gebiert seinen eingeborenen Sohn in dir, es sei dir lieb oder leid, ob du schläfst oder wach bist, er tut das Seine.« 5

Demut als Gottesverbindung – Der Kern der Demutslehre Im Gegenzug nimmt Eckhart dann die psychologisch-ethische Terminologie auf ein Minimum zurück, um Gottes Zuwendung metaphysisch zu kennzeichnen: »Gott unterlässt es nicht, sich ganz in den Menschen zu ergießen; er ist auf Grund seiner Güte dazu gezwungen, dass er es notwendig tun muss.« 6 Die Notwendigkeit, der Gott unterliegt, wird hier sogar dreifach ausgedrückt. Der scheinbar ethisch-aszetische Schluss des Menschen daraus lautet: Wenn wir uns ins ›Naturgesetz‹

enkan im doch niht entvliehen; alle winkel sint im ein offenbârunge. Er wænet gote entvliehen und loufet im in die schôz. – »So tut es auch der Mensch, der glaubt, Gott zu entfliehen; und er kann ihm doch nicht entfliehen; alle Winkel sind für ihn offenbare Orte. Er glaubt, Gott zu entfliehen und läuft ihm in den Schoß.« 5 Pr. 22; 387,3 f.: Got gebirt sînen eingebornen sun in dir, ez sî dir liep oder leit, dû slâfest oder wachest, er tuot daz sîne. 6 Pr. 14; 234,13–15: [D]at in leist got neyt dorch synne goitheit, hey in gusset sych altzomaile in den mynschen; hey wirt getwongen dar zo, dat hey it van noit doyne mois.

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III. Phnomene des Menschseins

Gottes einfügen, ist er gezwungen, nach seiner Natur zu handeln und sich in den Menschen zu ergießen. Der abstrakte Lehrgehalt dieses Textes ist in Eckharts Schriften seit den ›Reden der Unterscheidung‹ zu finden. 7 Die Intention des Predigers ist es, das Wesen Gottes selbst zur Geltung zu bringen. Abstrakt formuliert, reduziert sich der Sinn fast zur Tautologie: Wenn das Nicht-Göttliche abgezogen wird, tritt Gott selbst hervor. Die Predigt ist nicht so sehr Hinführung zu einer solchen Erkenntnis als vielmehr deren Entfaltung: Demut ist die Wurzel alles Guten; denn Gott wird durch seine wesenhafte Güte ›gezwungen‹, sich zu verströmen; darum soll der Mensch seine kreatürliche Neigung und seine Selbsterhebung aufgeben; denn wenn er dem herabfließenden Strom entgegenkommen will, muss er unten, das heißt demütig sein. So weit bleibt die Lehre Eckharts noch im Bereich des ethisch und philosophisch allgemein Akzeptierten. Anschließend an das Gleichnis der Beziehung von Himmel und Erde hatte Eckhart sich mit diesem kurzen Hinweis begnügt: »Das Oberste fließt in das Niederste.« Dies kann traditionell im Sinne des kosmologischen Gradualismus verstanden werden, in dem die Geschöpfe von den niederen, materiellen, zu den höchsten, rein geistigen geordnet sind. 8 So ließe sich dieser Abschnitt lesen, würde ihn nicht der ›Johanneskommentar‹ Meister Eckharts sozusagen noch ›eckhartischer‹ verstehen lassen. Das Verhältnis des Oberen und Unteren, auf das dieser Abschnitt der Predigt die Demutslehre gründet, gehört für Eckhart zu der Relation von Prinzip und Prinzipiat, die seine gesamte ›Transzendentalienlehre‹ bestimmt. Das individuell Besondere, »Außerordentliche« 9 seiner Metaphysik ist in seiner Transzendentalienlehre zu sehen oder, in etwas anderer Blickrichtung, in seinen Konzepten der Beispiele: RdU; 187,1 f.: Swâ der mensche in gehôrsame des sînen ûzgât und sich des sînen erwiget, dâ an dem selben muoz got von nôt wider îngân. – »Wo der Mensch in Gehorsam aus dem Seinen heraustritt und sich des Seinen entschlägt, dann, in demselben [Moment], muss Gott notwendig wieder in ihn hineingehen.« Pr. 26; 34,10 f.: Und ist ein sicher wârheit und ein nôtwârheit, daz gote alsô nôt ist, daz er uns suochet, rehte als ob alliu sîn gotheit dar ane hange. – »Und es ist eine sichere und notwendige Wahrheit, dass es für Gott gerade so notwendig ist, uns zu suchen, als ob seine ganze Gottheit davon abhinge.« Vgl. Pr. 48; 414,4–6; Pr. 73; 269,6; VA; 403,5. 8 Libera, Alain de: Denken im Mittelalter, S. 239 f. zeigt die Verankerung dieser kosmologischen Vorstellungen in der aristotelischen Tradition auf, vermittelt über Avicenna und Albertus Magnus. 9 Vgl. Aertsen, Jan A.: Meister Eckhart. Eine außerordentliche Metaphysik. 7

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13. Demut, die Gott »enthht«

Analogie bzw. Univozität. Das Besondere der Demutslehre besteht nun darin, dass er auch die Demut als »allgemeine Vollkommenheit« (perfectio generalis) betrachtet, mit anderen Worten: Er reiht die Demut in die Reihe der »Transzendentalien« ein. Was heißt das? Die Transzendentalienlehre spielt eine Rolle bei fast allen Themen Eckharts. In der Tradition des Aristoteles fragt die mittelalterliche Metaphysik: Was gehört zu einem jeden Seienden, unabhängig davon, was und wie es ist. Also nicht: Welche Eigenschaften bestimmen ein Ding, sodass es ein Stein, ein Baum, ein Mensch ist? Sondern: Was ist die letzte gemeinsame Wesensauszeichnung jeden Dinges jedweder Art? Die Antwort: Dass es i s t , also sein Sein. Und weiter: Insofern es ist, ist es gut und ist es wahr. Diese Seinsmerkmale, die jedes irdische Seiende in seinem Bestand konstituieren, können nicht selbst zu diesem (geschaffenen) Bestand gehören. Wäre nicht die Energie oder Information des Schaffens im geschaffenen Gebilde verwirklicht, gäbe es das Geschaffene gar nicht. Die Energie des Geschaffenen ist das Sein; der Ursprung des Seins ist Gott; Gott i s t im Sein als dessen Ursprung. So versteht sich die erste These Meister Eckharts: »Das Sein ist Gott«. Mit der Tradition betrachtet Eckhart die ontologischen Seinsmerkmale Eines, Wahres, Gutes als transcendentia; weil sie über die begrenzten Aussageklassen (was? wie? woher? wozu? womit?) hinaus allgemeine Prädikate sind. Meister Eckhart nennt sie die »allgemeinen Wesensvollkommenheiten« (perfectiones oder termini generales). Aber er betrachtet sie nicht nur als Grundbestimmtheiten jedes geschöpflichen Seienden, wie es zum Beispiel Thomas von Aquin tut, sondern er sieht sie als Weisen des absoluten Seins selbst, des Wahrseins und des Gutseins. Und insofern also etwas seiend, gut und wahr ist, und nichts anderes, ist es Sein, Wahrsein, Gutsein, und als solches ist es Gott selbst. Das ist die Eigenlehre Eckharts, die den meisten seiner Aussagen zugrunde liegt. 10 Siehe Prol. op. gen. n. 22; 30,2–5: Postremo notandum quod ex praemissa prima propositione [sc. esse est deus], si bene deducantur, omnia aut fere omnia, quae de deo quaeruntur, facile solvuntur, et quae de ipso scribuntur – plerumque etiam obscura et difficilia – naturali ratione clare exponuntur. – »Schließlich ist festzuhalten, dass aus der vorausgeschickten ersten These [nämlich ›Das Sein ist Gott‹] alle oder beinahe alle Fragen über Gott sich leicht lösen lassen; und was über Gott geschrieben wird, zumeist auch das Dunkle und Schwierige, kann mit natürlicher Vernunft klar auseinandergesetzt werden.« Auch in der ›Verteidigungsschrift‹, Responsio I n. 86; 279,11–13: Ex his igitur manifeste concludo veritatem omnium illorum, quae ex libris meis et dictis

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III. Phnomene des Menschseins

Eckhart identifiziert nun nicht nur die ontologischen perfectiones generales, seiend, wahr, gut, mit Gott, sondern auch die perfectiones spirituales, die geistigen Wesenszüge: Leben, Erkennen, Gerechtigkeit, ethisches Gutsein, Liebe, Licht. 11 Und auch das ist seine Eigenlehre, wie der bereits kommentierte Ausspruch bezeugt: »Wer die Lehre von der Gerechtigkeit (dem Rechtsein) und dem Gerechten (dem richtig lebenden Menschen) versteht, der versteht alles, was ich sage« 12 . Diese Lehre besagt nämlich, dass wer gut ist oder wer liebt, nur gut und liebend sein kann, weil die Güte oder die Liebe selbst in ihm wirkt. Was als Tugend oder ethische Haltung gilt, ist eine Wesensauszeichnung, eine geistliche Vollendung (perfectio spiritualis). Wenn das Gute, insofern es gut ist, im Menschen eine Wesensvollkommenheit und nicht bloß eine Eigenschaft ist, die zum Menschsein hinzutreten oder die auch fehlen könnte, finden wir uns mit einem Selbstverständnis des Menschseins konfrontiert, das unserem Alltagsverstand fremd ist und doch ungeahnte Perspektiven eröffnet. Etwas Gutes, sofern es gut ist, ist dann nicht mehr oder weniger gut, nicht besser oder schlechter als ein anderes, sondern was immer gut ist, ist ganz und gar gut, so sehr, dass im scheinbar winzigsten guten Gedanken oder Werk sich das absolut Gute selbst, das ist Gott, verwirklicht. Das begründet eine ungeahnte Wesensgleichheit der Menschen untereinander in ihrem ontologisch guten Menschsein, das in der Einheit alles Guten wurzelt. Nur wenn ich dieses und jenes Gute miteinander vergleiche, sind sie begrifflich und relativ verschieden, 13 indem sie verschiedenen Qualitäten und Intentionen anhängen. Insofern sie aber gut sind, sind sie wie alles Gute dem Wesen und der Sache nach eins. Es ist der sich offenbarende und inkarnierende Gott selbst, insofern er das ursprünglich Gute ist, das sich im guten Menschen zeugt. Das ist die Sicht, die aus der Offenbarung Christi spricht. Aber auch ohne eine obiciuntur, concludo etiam ruditatem et impietatem contradicentium. – »Aus diesen [Erläuterungen zur Transzendentalienlehre] schließe ich deutlich und klar die Wahrheit all jener Sätze, gegen die man aus meinen Schriften und Reden Einwände erhoben hat, ich schließe aber auch auf die Ungebildetheit und Unlauterkeit meiner Gegner.« 11 Zum Beispiel: In Eccli. n. 52; 281,1. Vgl. Mojsisch, Burkhard: Perfectiones spirituales. 12 Pr. 6; 105,2 f.: Swer underscheit verstât von gerehticheit und von gerehtem, der verstât allez, daz ich sage. Zur Übersetzung: Mhd. underscheit kann »Unterschied« und »Lehre« bedeuten. Hier kommt es weniger auf den Unterschied an, sondern auf die Beziehung der Gerechtigkeit zum Gerechten. 13 Responsio I n. 85; 279,8: […] distinguuntur sola relatione et ratione.

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13. Demut, die Gott »enthht«

dogmatisch formulierte ›Lehre‹ impliziert Eckharts Sicht eine wurzelhafte Gutheit, ja ›Göttlichkeit‹ jedes Menschen, insofern er immer aus dem Grunde des Lebens lebt. Was hier über das Gutsein gesagt wurde, ist nun auf die Demut auszudehnen. Wenn die Demut auch als perfectio spiritualis von transzendentaler Seinsweise ist, ist sie in ihrem Wesenskern keine psychologisch-ethische Haltung des Menschen, der sich bescheiden in seine Unvollkommenheit fügt, sondern die Demut ist an sich, ohne sein Zutun, die Wesensqualität des Menschen, ob er es weiß oder nicht. Man kann sagen, der Mensch sei unabänderlich ein Empfangender und insofern niemals der Herr seiner Existenz. Insofern ist er von Natur aus demütig, und wenn er meint, es nicht sein zu können, lebt er in Selbsttäuschung, und das Leben geht über ihn hinweg. Eine Erläuterung dafür, wie Eckhart die Demut als Transzendentale versteht, bietet auch die Predigt 24 ›Sant Paulus sprichet: întuot iu‹ – »Nehmt in euch hinein«. Dort wird die Beziehung zwischen Gott und der Seele als Beziehung des »Oberen« zu dem »Niederen« dargestellt, das heißt in der Begrifflichkeit der eckhartschen Prinzipienlehre: »Es ist bei allen Dingen wie naturgegeben, dass stets die obersten in die niedersten einfließen, solange die niedersten den obersten zugewandt sind. Denn die obersten empfangen niemals von den niedersten; vielmehr empfangen die niedersten von den obersten. Da nun Gott über der Seele ist, so fließt Gott immer in die Seele ein und kann der Seele niemals verloren gehen.« 14

Das Obere und Untere ist aber in der Beziehung der Seele zu Gott nicht als eine herrschaftliche Überordnung bzw. als sklavenhafte Unterwerfung verstanden, vielmehr denkt Eckhart diese Beziehung als wesensgleich im Innenbereich. Das Wesen der Seele vollzieht sich in einem »ausströmenden innen bleibenden Akt« (nâch sîne ûzvliezenden inneblîbenden werke) 15 in gleicher Weise wie das Hervorgehen der Personen der Gottheit. Insofern gibt es zwischen Gott und der Seele keine substanzielle Differenz, sofern sie sich nicht selbst außerhalb Gottes unter Gott setzt. Dies wäre eine Beziehung der »Fremdheit«. Die inniPr. 24; 416,1–5: Ez ist als natiurlich umbe alliu dinc, daz alle zît den nidersten die obersten sint învliezende, als lange die nidersten den obersten sind zuogevüeget; wan die obersten enpfâhent niemer von den nidersten, mêr: die nidersten enpfâhent von den obersten. Wan nû got über die sêle ist, sô ist got alle zît der sêle învliezende und enmac der sêle niemer entvallen. 15 Pr. 24; 415,14. 14

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ge Beziehung der Demut vollzieht sich aber gleichsam in Gottes Innenraum, der zugleich der Innenraum der Seele ist, nämlich im gemeinsamen Grund. Für diese Beziehung heißt es: »Nichts empfängt die Seele von Gott als etwas Fremdes, wie die Luft von der Sonne Licht empfängt. Jene empfängt [das Licht] in der Weise der Fremdheit. Aber die Seele empfängt Gott nicht nach Weise der Fremdheit noch als [etwas] unter Gott; denn was unter einem Anderen ist, darin liegt Fremdheit und Entferntsein. Die Meister sagen, dass die Seele empfängt, wie Licht vom Licht empfängt; denn darin ist keine Fremdheit noch Entferntsein.« 16

Eine weitere Erläuterung der Oben-Unten-Struktur gewinnen wir durch einen Blick in Eckharts ›Johanneskommentar‹, den Schlüsseltext für die Prinzipienlehre: Das Prinzip und das Prinzipiierte sind zwar unterschieden; aber nur in einer analogen Beziehung ist das Hervorgebrachte »niedriger, geringer, unvollkommener als das Hervorbringende und ihm ungleich«. In univoken Beziehungen, das heißt in Beziehungen zwischen Gleichen »ist es ihm aber immer gleich: Es nimmt nicht etwa nur an derselben Natur teil, sondern empfängt sie von seinem Ursprung schlechthin ganz, ohne Abzug und in derselben Vollkommenheit«. 17 Die analogen Beziehungen herrschen zwischen konkreten Existenzen, in denen zum Beispiel zeitliche, räumliche, qualitative und genetische Bedingungen jede Aussage relativieren. Univoke Aussagen hingegen sprechen die Beziehungen »im Prinzip« an; sie sehen also von den konkreten, kontingenten Umständen ab und meinen die ideaPr. 24; 417,2–7: Diu sêle enpfæhet von gote niht als ein vremdez, als der luft lieht enpfæhet von der sunnen: der enpfæhet nâch einer vremdicheit. Aber diu sêle enpfæhet got niht nâch einer vremdicheit noch als under gote, wan, daz under einem andern ist, daz hât vremdicheit und verricheit. Die meister sprechent, daz diu sêle enpfâhe als ein lieht von dem liehte, wan dâ enist vremde noch verre. 17 In Ioh. n. 5; 7,1–9: Adhuc autem quinto sciendum, quod hoc ipso, quo quid procedit ab alio, distinguitur ab illo. […] Ubi notandum quod in analogicis semper productum est inferius, minus, imperfectius et inaequale producenti; in univocis autem semper est aequale, eandem naturam non participans, sed totam simpliciter, integraliter et ex aequo a suo principio accipiens. – »Zudem muss man fünftens wissen: Durch dasselbe, wodurch etwas von einem anderen hervorgeht, wird es von diesem unterschieden. […] Dabei ist festzuhalten: In analogen Beziehungen ist das Hervorgegangene immer geringer, weniger, unvollkommener und unangemessener als das Hervorbringende. Aber in gleichartigen Beziehungen ist [das Prinzipiierte] gleichartig, teilt nicht nur dieselbe Natur mit ihm, sondern empfängt sie schlechthin ganz, vollständig und gleich von seinem Prinzip.« 16

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len Strukturprinzipien. Demnach herrscht Analogie in ethisch-psychologischen Demutshaltungen des einzelnen Menschen, die immer mehr oder weniger demütig sein mögen angesichts der wesentlichen Bedürftigkeit und Abhängigkeit des Menschen. Univoke Bestimmungen kennzeichnen hingegen die menschliche Existenz in ihrer ontologischen Verfassung, das heißt mit Bezug auf die Demut: in Gleichrangigkeit einerseits, aber doch zugleich in der ›Bedingtheit‹ des Prinzipiats vom Prinzip. Diesen Grundsatz, dass in univoken Beziehungen das Prinzip und das Hervorgebrachte wesensgleich sind, den Eckhart für die perfectiones generales geltend macht, erläutert er anhand der transzendentalen Korrelation des Oberen und Unteren. »Alles, was das Niedere hat oder vom Oberen empfängt, das hat es immer von Gnaden des Oberen.« 18 Um diese abstrakten Gedanken Eckharts leichter zu verstehen, dürfen wir, dem Thema der Demut adäquat, an die Beziehung des Schenkenden und des Beschenkten denken. Auch hier ist wieder der Unterschied von analoger und univoker Beziehung zu beachten. »Im Univoken stimmen Aktiv und Passiv in der Materie sowie in Gattung und Art überein: Das Niedere hat zwar das, was es empfängt, von Gnaden des Oberen, aber nicht nur aus Gnade. Der Grund ist: Weil in solchen Verhältnissen das Passive im Erleiden handelt und das Aktive im Handeln erleidet. Ferner ist es [das Passive] auch nicht völlig passiv und ohne alles Aktive: Dieses Niedere empfängt wohl Gleichnis und Gestalt des Aktiven von Gnaden des Oberen; es verdient sie aber auch aus seiner eigenen Natur dadurch, dass es der Art nach dieselbe Natur hat wie das Aktive.« 19

Auf die Beziehung des Schenkenden und Beschenkten angewandt, heißt das: In »analogen«, das heißt ungleichen Beziehungen kann das Beschenktwerden ›demütigend‹ sein. Anders in »univoken« Beziehungen. Beide sind hier zwar verschieden, aber im Wesentlichen sind sie gleichwertig und gleichrangig; denn wer schenkt, kann nur schenken, sofern der Beschenkte annimmt, oder, wie Eckhart es prinzipiell formuliert: Der Aktive (Schenkende) kann dann aktiv sein und so sein HanIn Ioh. n. 181; 149,9 f.: Secundo notandum quod omne, quod habet inferius aut recipit a superiori, semper hoc habet de gratia superioris. 19 In Ioh. n. 182; 150,12–151,6: In univocis autem activum in materia conveniunt et genere et specie: inferius id, quod recipit, habet quidem de gratia superioris, sed non de mera gratia. Ratio est, quia in talibus passivum patiendo agit et activum agendo patitur. Item etiam non est se toto passivum de gratia quidem superioris, meritur tamen ex natura sua, eo quod sit eiusdem naturae in specie cum agente. 18

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deln-(oder Schenken-)Können erfahren, wenn der Passive (Beschenkte) im Passiven handelt, das heißt entgegennimmt. Das Empfangen des Beschenkten ermöglicht erst das Schenken des Schenkenden, der ohne den Beschenkten seiner Potenz beraubt wäre. In dieser Wendung kann man die gedankliche Grundlage sehen für die Steigerung, in der Eckhart nicht nur sagt, dass Gottes Natur ihn zwingt, sich in den Demütigen zu gießen, sondern dass sogar der Demütige Gott zwinge. Diese transzendentale Bestimmung des Oberen und Unteren sowie das bei Eckhart beliebte physikalische Beispiel von Feuer und Holz sind Realisierungen des Grundprinzips der Auslegung, das Eckhart als seine Intention eingeführt hat: er wolle die göttlichen Beziehungen mithilfe der Naturverhältnisse auslegen und umgekehrt. Die Gleichwertigkeit und die Gleichwesentlichkeit des Aktiven und Passiven gilt im Göttlichen – zum Beispiel zwischen Vater und Sohn – und im Transzendentalen – also hier zwischen oben und unten – und ebenso in der Gott-Mensch-Beziehung – wie wir am Beispiel der Demut sehen. Sie gilt auch in der ›Physik‹ (im aristotelischen Sinne), zum Beispiel zwischen Feuer und Holz. Sie gilt schließlich auch im Verhältnis des Menschen zu sich selbst. Das führt Eckhart hier nicht aus; es gilt aber zum Beispiel hinsichtlich der Selbsterkenntnis sowie bei der Frage, wie wir zu einem (ge)rechten Leben finden, wie wir die Gottesgeburt erfahren oder wie sich die Seele zum Seelenfunken verhält. Interessant ist, dass das Thema Demut offenbar auch in einer Universitätsveranstaltung Eckharts diskutiert wurde: »Ich sprach zu Paris in der Schule: ›Alle Dinge sollen an dem wahrhaft demütigen Menschen vollbracht werden‹.« Der Satz klingt in unseren Ohren pauschal und in seiner Allgemeinheit eher nichtssagend. Doch er ist an zwei verschiedenen Stellen in die Liste der inkriminierten Artikel aufgenommen worden. 20 Also dürfte er den Zensoren nicht so harmlos geklungen haben. Wenn Eckhart nicht nur nebenbei eine Anspielung auf seine theologische Ausbildung und Tätigkeit machen will, muss der Hinweis eine spezifische theologische Bedeutung haben. Eckhart verweist dann auf eine These seines Lehrprogramms. Wir müssten also nach einer Quaestio seines Sentenzenkommentars oder einer Disputation suchen, sofern die Pariser Texte umfangreicher überliefert wären. Responsio II n. 29; 324,19 f.: Decimus quartus articulus sic dicit: »Omnia debent impleri in vero humili homine«, sowie Responsio II n. 110; 344,23 f.: Quadragesimus quintus articulus sic habet: »Omnia debent perfici in uno humili homine«.

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Die These müsste etwa besagt haben: Der Demut kommt ein ausgezeichneter Rang im Heilsgeschehen zu über das hinaus, was man in der Schule gemeinhin der Demut zuschreibt. In der Parallelpredigt 15 ›Homo quidam nobilis‹, die teilweise wörtlich mit der zitierten Passage aus Predigt 14 übereinstimmt, heißt es: »Der demütige Mensch und Gott sind eins und nicht zwei.« 21 Auf diesen Satz, der in die Anklageliste einging, antwortet Eckhart: »Es ist zu sagen, dass das völlig wahr ist, anständig und ehrfürchtig, allerdings emphatisch ausgedrückt. […] Der demütige Mensch, s o f e r n e r d e m ü t i g i s t , und die Demut sind nicht zwei. ›Zwei‹ besagt nämlich eine Teilung und ist die Wurzel der Teilung. Wie könnte denn ein Einer von der Einheit getrennt werden, ein Demütiger von der Demut, ein Weißer von der Weißheit abgetrennt und ohne Weißheit sein?« 22

Das ist genau die Formel, in der Eckhart gewöhnlich die Transzendentalien charakterisiert, wie es vor allem anhand der Gerechtigkeit und der Güte gezeigt wurde. Da aber diese Wesensvollkommenheiten nicht bloß Auszeichnungen des geschöpflichen Seienden, sondern des Seins selbst sind, das heißt Gottes, folgt daraus logisch der Satz in unserer Predigt 14: »Der demütige Mensch und Gott, das ist eins; der demütige Mensch hat so viel Macht über Gott wie er sie über sich selbst hat.« 23 Im Zusammenhang unserer Predigt ist die Demut also nicht nur die Voraussetzung, sondern geradezu der hinreichende Grund zur Vereinigung mit Gott. Demut wäre dann neben den Kardinaltugenden und den theologischen Tugenden sozusagen eine ontologische Tugend. Da sie aber in der üblichen Doktrin als natürliche sittliche Tugend gilt, wäre für scholastische Ohren die christliche Rechtfertigungslehre umgangen, welche die Gnadenmitteilung sowie Glauben und Reue voranstellt. Die Demut machte dann den eingegossenen »theologischen« Tugenden den Rang streitig und stünde damit gar über Glaube, Hoffnung und Liebe. Tatsächlich geht Thomas von Aquin genau auf diese Problematik ein: »Die Demut scheint die mächtigste der Tugenden zu e

Pr. 15; 246,12 f.: [D]er demutig mentsch vnd got sind ain vnd nit zwai. Responsio II n. 30; 325,1–7: Dicendum quod totum verum est, morale et devotum, emphaticum tamen […]. Homo enim humilis in quantum humilis non est duo cum humilitate. Duo enim divisionem dicit et est radix divisionis. Quomodo autem esset quis unus divisus ab ›unitate, humilis divisus ab‹ humilitate, albus divisus ab albedine et sine albedine? 23 Pr. 14; 235,9 f.: Der oitmodege mynsche inde got dat is eyn; der oitmoedege mynsche der is godes also geweldich as hey syns selues is. 21 22

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sein«, lautet eine seiner Thesen. 24 Seine Lösung heißt jedoch: »Also ist die Tugend der Demut mächtiger als die übrigen, freilich n a c h den theologischen [Glaube, Hoffnung, Liebe] und n a c h den geistigen Tugenden, welche die Vernunftordnung selbst berücksichtigen [zum Beispiel Klugheit], und nach der Gerechtigkeit, speziell der gesetzlichen.« 25 Die Pariser These Eckharts könnte gerade einer solchen thomistischen Grundüberzeugung widersprochen und damit Anstoß erregt haben. Der Demütige kann sich auf nichts berufen; er kann und will nicht verfügen. Alles, was er dem Hohen gegenüber könnte, wäre bitten. So geht die gewohnte Denkbahn. Eckhart aber stellt die üblichen Erwartungen auf den Kopf: Der Demütige bezieht sich auf Gott gerade nicht durch Bitten, sondern durch Gebieten. Natürlich ist das paradox: Gerade der Unmächtige soll dem Allmächtigen »gebieten«? Zweifellos eine Sinnwidrigkeit, solange wir uns im Bereich der Machtverhältnisse, das heißt des Wollens und Könnens, und das heißt wiederum in der Ethik und Aszetik aufhalten. Gebieten heißt bei Eckhart hier: eine Notwendigkeit herbeiführen. Dass Gott durch seine eigene Natur gezwungen wird, gehört schon seit den ›Reden der Unterscheidung‹ zu Eckharts Lehren. Die Steigerung, dass Gott durch den demütigen oder abgeschiedenen Menschen gezwungen werde, findet sich, soweit ich sehe, nur im Spätwerk 26 . Der Demütige ist unten, das ist ein Faktum. Demütig bin ich, wenn ich anerkenne, was ich – als kreatürlicher Mensch – bin; denn Thomas von Aquin, Summa theologiae II–II q. 161, a. 5, arg. 1: Videtur quod humilitas sit potissima virtutum. 25 Thomas von Aquin, Summa theologiae II–II q. 161, a. 5, co.: Et ideo post virtutes theologicas, et virtutes intellectuales, quae respiciunt ipsam rationem; et post iustitiam, praesertim legalem, potior ceteris est humilitas. 26 Beispiele in der undatierten Pr. 20a; ferner im Spätwerk in Pr. 13; 214,11–13: Als ich nû niuwelîche sprach zo Meirgarden [korr. nach Hs. B16]: diu zwei twingent got; und hâst dû diu an dir, sô muoz er in dir geborn werden; Pr. 20a; 327,6–328,2: Nû sprichet ein heilige von einer gotminnender sêle, daz si got twinget alles, des si will, und vertoeret in alzemâle, daz er ir niht versagen enmac allez, daz er ist; Pr. 22; 385,5: Ich gedâchte underwîlen, dô ich her gienc, daz der mensche in der zît dar zuo komen mac, daz er got mac twingen; VA; 402,3–6: Sô lobe ich abegescheidenheit vür minne. Von êrst dar umbe, wan daz beste, daz an der minne ist, daz ist, daz si mich twinget, daz ich got minne, sô twinget abegescheidenheit got, daz er mich minne. Nû ist vil edellîcher, daz ich twinge got ze mir, dan daz ich mich twinge ze gote; VA; 411,1–3: Swenne der vrîe geist stât in rehter abegescheidenheit, sô twinget er got ze sînem wesene; und möhte er gestân formelôsiclich und âne alle zuovelle, sô næme er gotes eigenschaft an sich. 24

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das Kreatürliche am Menschen ist an und für sich nichts. Das ist Eckharts Sicht. Aber dieses Faktum hat in Eckharts Sicht eine andere Seite: Was ist, was gut und was recht ist – sofern es seiend, gut und gerecht ist –, ist das Sein, das Gute und die Gerechtigkeit selbst, das heißt: Es ist Gott, in dem Sein, Güte, Gerechtigkeit eins sind. Der Demütige ist der Mensch, der sich seiner ganzen Bedürftigkeit überantwortet, der alles, was an ihm Bestand hat, nicht sein Eigen weiß. Hier springt die philosophische Grundlehre Eckharts um in eine phänomenologische Psychologie und Ethik. Dem, der alles gelassen hat, ist alles Geschenk. Wem alles Geschenk ist, der kann sich selbst mit seinem Streben und Können, mit seinem Leisten und Verdienen lassen. Wenn der Demütige Gott »gebietet«, ringt er sich keine Überlegenheits- oder Herrschergeste ab und Gott dementsprechend keine Gehorsamsleistung oder Wunscherfüllung. Vielmehr vollzieht der Demütige sein Sein, wie Gott das seine vollzieht: Die Demut gibt der Kreatur, was der Kreatur, und Gott, was Gottes ist. Insofern »sind der Demütige und die Demut nicht zwei, sondern eins«. Als diese perfectio spiritualis ist die Demut Gott selbst. Darum ist es nicht an dem Demütigen, Gott zu bitten, er kann Gott »gebieten«; »denn die Höhe der Gottheit sieht nichts anderes an als die Tiefe der Demut«. Gott und der Demütige »blicken« auf dasselbe, auf die Demut als perfectio spiritualis. Höhe und Tiefe sind nicht essenziell, sondern nur perspektivisch verschieden. Darum kann Eckhart einige Zeilen weiter auch sagen: »Meine Demut gibt Gott seine Gottheit« 27 , wie er zuvor gesagt hat: »Die Demut ist die Wurzel alles Guten [im gelassenen Menschen]« 28 . In der Fortsetzung des Predigttextes wird das Paradox von Eckhart nicht aufgelöst, sondern überboten, wie die folgenden Sätze zeigen. Wieder, da Eckhart zu einer höchst eigenen Formulierung ansetzt, wiederholt er sich und verweist er auf eine frühere Predigt: In »Sankt Merweren«, das ist im Kölner Kloster der Benediktinerinnen, habe er gesagt: »Der demütige Mensch und Gott, das ist eins. […] Was Gott wirkt, das wirkt der demütige Mensch, und was Gott ist, das ist er: e i n Leben und e i n Sein.« Die Predigt, aus der er sich hier selbst zitiert, ist

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Pr. 14; 240,9 f.: want myne oitmodicheit geit gode syne gotheit. Pr. 14; 235,2: Also is de oitmodicheit eyne wortzele alles goiden inde dar na volgende

is.

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die Predigt 15 ›Homo quidam nobilis‹ 29 , die im neunten Kapitel kommentiert wurde. Die wörtliche Übereinstimmung und die Ortsangabe können fast als Quellennachweis gelten. Dies zusammen mit der Aufnahme des Textes in die Prozessunterlagen und Eckharts Antwort in der ›Verteidigungsschrift‹ belegen die Authentizität des Lehrstücks. Es handelt sich um eine jener anstößigen Formulierungen, die Eckhart die Verurteilung eingebracht haben. Vom gewohnten Standpunkt der Schultheologie und Metaphysik aus klingen diese Sätze wie eine maßlose Selbstüberhebung des Menschen und eine Aufhebung der Grenze zwischen Gott und Mensch. Sie können nur Widerspruch finden, sei es vonseiten derer, die die Absolutheit und Jenseitigkeit Gottes verteidigen, sei es vonseiten derer, die dem menschlichen Vermögen kritisch seine Schranken aufweisen. Zweifellos spricht der emphatische Aufschwung Eckharts aber auch spirituelle Sehnsüchte an, mit dem Vollkommenheitsstreben an ein Ziel zu gelangen oder eine unmittelbare Gotteserfahrung schon in diesem Leben zu finden. Aber Eckharts Demut ist gewiss kein Vollkommenheitsstreben. Alle drei ›Lager‹ können Eckharts Position nur verfehlen, solange sie nicht den Orts- und Richtungswechsel mit vollziehen, der gerade in der vorliegenden Predigt besonders deutlich angesprochen wird: statt hinauf zu Gott, herab zum Menschen.

Der enthhte Gott Der nächste Schritt der Umdeutungen der Demut und damit der Gottesbeziehung des Menschen beschreibt die Konsequenz der metaphysischen Einheit für das Selbstverständnis des Menschen Gott gegenüber. Bei seiner Abendmeditation denkt Eckhart, wenn er sich erniedrige, werde Gott erhöht. Er bewegt sich also zunächst in der üblichen ObenUnten-Beziehung. Dann aber vollzieht sich die entscheidende Wende: Ihm kommt ein aufregender Einfall: Dann »aber dachte ich gestern Pr. 14; 235,9–13: also as ich sprach zo sent merueren. Der oitmodege mynsche inde got dat is eyn; der oitmoedege mynsche der is godes also geweldich as hey syns selues is, jnde allett, dat in allen engelen is, dat is deis oitmoedegen mynschen eygen; wat got wircket, dat wirket der oitmoedege mynsche, inde dat got is, dat is hey: eyn leuen inde eyn wessen. Der Hinweis auf Sankt Merweren bezieht sich auf Pr. 15; 246,12–18.

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Abend: dass Gott enthöht werden sollte, nicht irgendwie in allem, sondern innen. Das heißt also: ein enthöhter Gott. Das gefiel mir so gut, dass ich es in mein Notizbuch schrieb.« 30 Die kleine Anekdote spiegelt mit persönlichem Charme den Umschlag von der gewohnten in die neue Gottesbeziehung. Der Mensch erniedrigt sich zur Erhöhung Gottes? Nein, Gott soll »enthöht« werden: »enthöhter Gott« 31 . Dieser Neologismus weist nicht nur den Gedanken der Selbsterniedrigung zur Erhöhung Gottes respektvoll zurück, sondern signalisiert deutlich den springenden Punkt: Die Ortsverlagerung verläuft nicht von oben nach unten, sondern in einem Dimensionswechsel nach innen. Die neue ›Verortung der Transzendenz‹ wird wörtlich benannt: »Was oben war, wurde innen. Du sollst geinnigt werden und aus dir selbst in dich selbst, sodass er in dir sei; nicht dass wir etwas von dem nehmen, was über uns ist. Wir sollen in uns empfangen und sollen von und in uns selber nehmen.« 32 Damit ist die Abfolge der Umdeutungen ans Ziel gekommen: Die Demutsbeziehung ist zunächst eine Herabkunft Gottes in den niedrigen Menschen, dann eine metaphysische Notwendigkeit, die in ethisch-psychologischer Sprache als ein wechselseitiges Zwangsverhältnis erscheint, und schließlich eine Beziehung des »Innigens«. Als einen Wegweiser zum Verständnis des Wortes innigen können wir nochmals die Predigt 24, ›Sant Paulus sprichet: întuot iu, inniget iu Kristum‹ heranziehen: »Sankt Paulus spricht: ›Nehmt in euch hinein, inniget euch Christum‹ (Röm. 13,14).« Die ganze Predigt erPr. 14; 237,6–11: [M]er ich gedachte zo nachte, dat got inthoeget solde werden, neit ey alle me ey in, ind sprycht also vyle as inthoeget got, dat myr also wayle behagede, dat ich it in myn boich schryff. Das »Buch« wird auch noch in Pr. 28; 62,3 und Sermo XXXVIII; 328,11 erwähnt. Siehe auch Sturlese, Loris: Hat es ein Corpus der deutschen Predigten Meister Eckharts gegeben? Dieser hält das »Buch« für ein Entwurfsheft Eckharts seiner Predigtsammlung. Das Anekdotische des obigen Einfalls spricht m. E. dagegen. 31 Dieser Gedanke Eckharts wird von Paul Celan in seinen Gedichtzyklus ›Lichtzwang‹ aufgenommen: »TRECKSCHUTENZEIT / die Halbverwandelten schleppen / an einer der Welten, // der Enthöhte, geinnigt, / spricht unter den Stirnen am Ufer: // Todes quitt, Gottes / quitt.« Siehe dazu Koelle, Lydia: Paul Celans pneumatisches Judentum, bes. S. 190–204, hier S. 176–190 und Perger, Mischa von: Mystik unter Zwang, S. 451– 456. 32 Pr. 14; 237,10–13: [D]at ouen was, dat wart in. du salt geinneget werden inde van dich seluer in dich seluer, dat hey in dir sy. neit, dat wir eit nemen van deme, dat bouen ons sy; wir solent in ons nemen inde solent neimen van ons in ons seluer. 30

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läutert, was das Innigen ist: Nachdem, wie oben schon zitiert, erklärt wurde, wie das Untere vom Oberen empfängt, wird gezeigt, dass die Seele nichts von Gott als ein Fremdes empfängt. Im Weiteren wird dort ausführlich von dem Etwas in der Seele gehandelt, in dem got blôz ist. 33 Und diese Einheit von Gott und Mensch wird über die Sohnesgeburt hinaus in dem ununterschiedenen Grunde der Gottheit verankert: »Ich sage, dass Gott ewig ohne Unterlass darin gewesen ist, und dass der Mensch darin mit Gott eins sei, dazu gehört keine Gnade, denn Gnade ist etwas Geschaffenes, da aber hat kein Geschöpf etwas zu schaffen; denn im Grunde göttlichen Seins, wo die drei Personen ein Sein sind, da ist sie eins nach diesem Grunde. Darum: Willst du, so sind alle Dinge und Gott dein.« 34

Die Einheit durch die »Innigung«, den Gang in den Grund, der zugleich der Grund der Gottheit und der Seele ist, geht so weit, dass es keinen Unterschied zwischen dem vereinigten Menschen und Christus gibt. Der in dieser Einheit lebende Mensch ist der wahrhaft »gerechte«, das heißt der recht lebende Mensch. Diese Einheit besteht durch die ›hypostatische Union‹, das ist die Vereinigung der göttlichen und der menschlichen Natur in Christus. Eckharts besondere Auffassung von dieser Einheit besagt, dass sich der Logos nicht allein mit dem einzigen Menschen in der Person Jesu Christi, sondern mit der Menschheit, und darin auch mit »mir« vereinigt hat. In diesem Zusammenhang kommt es zu dem kühnen Satz, der auch in die Anklageschrift eingegangen ist: »Denn die menschliche Natur und Christi Natur unterscheiden sich nicht: Sie ist eines, denn, was sie in Christus ist, das ist sie in dir. Darum habe ich in Paris gesagt, dass im gerechten Menschen erfüllt ist, was die heilige Schrift und die Propheten von Christus gesagt haben; denn wenn es dir recht ist, wird alles in dir vollendet, was im alten und neuen Testament je gesagt wurde.« 35 Pr. 24; 417,7. Pr. 24; 419,1–6: Ich spriche, daz got êwiclîche âne underlâz in disem gewesen ist, und in disem der mensche mit gote ein ze sînne, dâ behœret gnâde niht zuo, wan gnâde ist ein crêatûre, und dâ enhât kein crêature ze tuonne; wan in dem grunde götlîches wesens, dâ die persônen ein wesen sint, dâ ist sie ein nach dem grunde. Dar umbe, wilt dû, sô sint alliu dinc dîn und got. 35 Pr. 24; 420,10–422,3: Wan die menschlîche natûre und diu sîne enhât keinen underscheit: si ist ein, wan, waz si ist in Kristô, daz ist si in dir. Dar umbe sagete ich ze Paris, daz an dem gerehten menschen ervüllet ist, swaz diu heilige schrift und die prophêten ›von Kristo‹ ie gesageten; wan, ist dir reht, allez, daz in der alten und in der niuwen ê gesaget ist, daz wirt allez an dir volbrâht. 33 34

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13. Demut, die Gott »enthht«

Dieser Gedanke wirft ein Licht auf die heilsgeschichtliche Verankerung der Einheitslehre Meister Eckharts. Diese ist ohne die Inkarnation des Logos in Christus und damit im »gerechten Menschen« nicht denkbar.

Demut als Verwandlung der Transzendenz In Eckharts Werk können die folgenden Definitionen und Konnotationen der Demut gefunden werden: – Sich selbst lassen und zugleich alles Nichtige, das heißt das Geschaffene, insofern es nur als Geschaffenes betrachtet wird. – Gott wendet sich dem Demütigen zu. Demut ist das Eingangstor der Gnade. – Die niedrigste Demut ist höchste Größe. So weit hält sich Eckhart im Rahmen der gesunden, allgemeinen Dogmatik und Moraltheologie auf und variiert geläufige geistliche Weisungen. Predigt 14 und 15 unterscheiden sich aber vom Mainstream. Hier schlägt er einen radikaleren Ton an. Doch das ist keine Randerscheinung. Vielmehr sind wir damit im Zentrum seiner Lehre. Wenn er hier das Grundprinzip seiner Metaphysik auf die Tugend der Demut anwendet: »Das Sein ist Gott«, und ebenso sind das Gute, das Wahre, das Gerechte in ihrer Eigentlichkeit Gott, so muss dieser Gedanke aus dem üblichen Denkschema herausgenommen werden: ›Das Gute ist Gott‹, das klingt wie ›das eine ist das andere‹, S ist P: Das Gute ist Gott, der Mensch ist Gott, ich bin Gott. So haben die Ankläger Eckharts Thesen gehört und seine Lehre – in ihrem Denkschema zu Recht – verurteilt. Die Philosophen und Naturwissenschaftler untersuchen und vergleichen konkrete Eigenschaften der Menschen und Dinge, um deren Wesen oder Gesetzmäßigkeiten zu induzieren oder zu abstrahieren. Die klassische Metaphysik versucht hier den Weg der Transzendenz, zum Beispiel den Schluss von den Ursachen auf eine erste transzendente Ursache oder auf den »unbewegten Beweger«. Aber nach Eckhart können wir so nicht zum Einen oder zu Gott kommen. Dieses oder dieser ist immer schon vor allem geschöpflichen Denken. Wie aber kann man philosophisch von Gott her denken? Hier kommt Eckharts Demutslehre ins Spiel. »Der demütige Mensch und Gott, das ist Eins.« Wie kann man denn die zwei, den demütigen Menschen und Gott, zum Einen ›bringen‹ ? Man kann sie nicht als zwei 319 https://doi.org/10.5771/9783495860649 .

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vereinen, sondern nur indem die Seite des demütigen Menschen gegen Null geht. Das wäre die Niedrigkeit des Demütigen, durch die Gott erhöht wird, wie Eckhart »gestern Abend« zunächst dachte. Doch das kann kein irgendwie demonstrierbares Verhalten sein, keine Unterwerfung, keine physische oder mentale Selbstvernichtung oder ›Abtötung‹. Vom Seinsdenken aus betrachtet, wären solche Akte der Selbstdemütigung, sofern sie faktisch sind, in Wahrheit der Vollzug einer autoaggressiven Selbstbehauptung, und damit würden wir wieder in der sado-masochistischen Gottesbeziehung landen. Dem beugt Eckhart vor: »Ich dachte gestern Abend, dass Gott enthöht werden sollte. […] Was oben war, wurde innen. Du sollst geinnigt werden und aus dir selbst in dich selbst, sodass er in dir sei.« Das Innere meint keine Innerlichkeit. Vielmehr ist die Demut der Vollzug der Verfassung des Menschen: Das Gute ist, sofern es gut ist, nicht meins oder deins, sondern die Güte selbst. Der Demütige nimmt sein eigenes Wollen und Können zurück und besinnt sich auf die existenzielle und ontologische Grundwahrheit, dass er keine Macht und kein Vermögen und keinen Wert hätte, wenn sie ihm nicht gegeben wären. Die Zurücknahme der Eigenmacht und des Könnenwollens offenbart, dass alles, worauf wir unsern Lebenssinn gründen, sei es Erfolg, Liebe, Erkenntnis, Weisheit, ein Geschenk des Lebens ist oder, in theologischer Sprache, eine Gabe Gottes. In einer genauen phänomenologischen Analyse erweist sich unser Leben nicht nur als transzendenzbezogen, sondern vor allem als getragen von immer gegenwärtigen und stets erneuerten Ereignissen der C i s z e n d e n z , als ciszendentale, das heißt unverfügbare Widerfahrnisse von Glück und Leid, als ein Entgegenkommen und Hereinbrechen der perfectiones spirituales: Leben, Erkennen, Gerechtigkeit, ethisches Gutsein, Liebe, Licht – in Demut und als Demut. Aber Demut ist, wie gesagt, nicht zu verstehen als Selbstverleugnung. Zwar bin und habe ich als Ego nichts, das nicht jederzeit verloren gehen könnte; aber Güte, Rechtheit, Liebe werden in mir geboren und sind alles, was ich haben oder sein kann. So ist auch – gegenläufig – die scheinbar unbescheidene Charakterisierung der Demut möglich: »Nicht, dass wir etwas empfangen von dem, was über uns ist! Wir sollen in uns empfangen und sollen empfangen von uns in uns selber.« Ins Innere (statt in die Höhe oder Tiefe) zu gehen heißt: sich in das Prinzip der Identität zu versenken. Was wir da finden und empfangen, ist Gott und ist unsere Seele in Einem. In der Demut ereignet sich die 320 https://doi.org/10.5771/9783495860649 .

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inkarnatorische Verwandlung: Was Gottes ist, wird mein Eigen. Eckhart sagt: »Willst du, dass Gott dein Eigen sei, so sollst du sein Eigen sein, so wie meine Zunge oder meine Hand [mein Eigen ist], sodass ich mit ihm tun kann, was ich will.« 36 Das impliziert, dass Gott mit mir tut, was er will. Beides ist eines. Die Transzendenz wird traditionell als außen gedacht, sei es als das Jenseitige, das hinter der physikalischen oder empirisch realen Welt liegt, sei es als das Andere des Subjekts: der Mitmensch oder die Welt ›draußen‹. Eckharts Neuerung besteht in der Verlegung der Transzendenz nach innen. Wenn Eckhart die perfectiones generales mit Gott gleichsetzt und sie zugleich univok als Wesensbestimmungen des Menschen erkennt, können sie nicht im klassischen Sinne als transzendent oder immanent verstanden werden, sofern das »Trans« einen Schritt des Menschen hinaus und hinüber impliziert oder ein Jenseits der Seinskategorien behauptet und sofern andererseits das Immanente sich negativ von einer Grenze zum Jenseits her definiert. Man müsste meines Erachtens sagen: Von Eckharts Denkweg her muss die Frage der neuzeitlichen Philosophie, ob ein Überstieg, eine Transzendenz möglich sei, verneint werden. Die Intention Eckharts, die heilige Schrift durch die natürlichen Vernunftgründe der Philosophen zu erklären, spricht nicht gegen diese These. Diese Intention setzt für Eckhart den göttlichen Ursprung der Wahrheit immer schon voraus. Es gibt keine Stelle, in der Eckhart in einem Beweisgang zu Gott hinüberführt, wie es zum Beispiel Thomas von Aquin tut. 37 Der Gläubige geht von der Offenbarung aus. Eckhart fordert uns auf, ein neues Denken zu lernen. Das Problem der Tr a n s zendenz stellt sich für ihn nicht. Für ihn ist nur der Herabstieg Gottes interessant. In Eckharts Lehre von der Schöpfung und der Konstitution des Menschen steht das allgeläufige Konzept, das Geschaffene sei ein Seiendes, das seine Existenz von einem anderen empfängt (ens ab alio) in Spannung zu der Erfahrung des lebendigen inneren Gottesbezugs. Dieser besagt, dass das ab alio des menschlichen Seins, seine Abhängigkeit, eingeschlossen ist in das innerste Leben Gottes in der Seele, worin, Pr. 14; 240,1–3: [V]oltu, dat got dyn eygen sy, so salstu syn eygen syne as myn tzonge off myne hant, dat ich myt eme doyn mach, wat ich wyle. 37 Bei Thomas in den berühmten fünf Wegen, Summa theologiae I q. 2, a. 3 co. Bei Eckhart ist auch die exemplarisch abgehandelte Quaestio 1 des ›Opus propositionum‹ Utrum deus sit? (n. 13; 31,11–27) eigentlich kein ›Beweis‹, der aus weltlichen Argumenten zur Existenz Gottes führt, sondern eine Begriffsentfaltung des Wortes esse. 36

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nach dem berühmten Diktum des Augustinus, Gott der Seele innerlicher ist als sie sich selbst. Das innere Leben des Menschen i s t das Wirken Gottes selbst. Darum sagt Eckhart, wie schon zitiert: »Was ist Leben? Gottes Wesen ist mein Leben, darum muss Gottes Sein meines sein und Gottes Istheit meine Istheit, nicht weniger und nicht mehr.« 38

Einssein in der unbegriffenen Finsternis Zum Abschluss der Predigt 14 führt Eckhart einige Bibelstellen an: »Die ihn empfangen, denen gab er die Macht, Gottes Söhne zu werden« (Joh. 1,12); die Frage Marias: »Wie kann das geschehen?« und die Antwort: »Der Heilige Geist wird von oben in dich kommen« (Luk. 1,34 f.); und etwas später: »Das Licht leuchtet in der Finsternis« (Joh. 1,5). Es sind lauter Anspielungen auf die Geburt des Gotteswortes in der Seele, zusammengefasst in dem Spruch Davids: »Heute habe ich dich gezeugt« (Ps. 2,7), der vom Messias auf jeden Menschen, in dem das Wort gezeugt oder geboren wird, zu übertragen ist. Die Aktualisierung liegt in der Frage Eckharts: »Was bedeutet ›heute‹ ?«, und seiner Antwort: »Die Ewigkeit.« 39 Eckhart interpretiert dieses Psalmwort in der Rolle Gottes: »Ich habe mich als dich und dich als mich ewig geboren.« 40 Die Aufhebung der Zeit im »Nun der Ewigkeit« ist zugleich die Aufhebung eines gesonderten Eigenseins sowohl des Menschen als auch Gottes. Ich bin Gottes Eigen und Gott ist mein Eigen. Was ich tue, tut er, und was er tut, tue ich, wie die Zunge spricht, wenn ich spreche, oder wie meine Hand handelt, wenn ich handle. 41 Als ob es noch eine Steigerung gäbe, führt Eckhart den Gedanken der inkarnatorischen Einheit von Gott und Mensch in das unterscheiPr. 6; 106,1–3: Waz ist leben? Gotes wesen ist mîn leben. Ist mîn leben gotes wesen, sô muoz daz gotes sîn mîn sîn und gotes isticheit mîn isticheit, noch minner noch mêr. 39 Pr. 14; 239,2 f.: Dauit sprach: ›hoede hayn ich dich geboren‹. wat is ›hoede‹ ? – ewicheit. 40 Pr. 14; 239,3: [I]ch hayn mych dich inde dich mych eweclichen geboren. Eckhart benützt hier die Formulierung, die er auch in der Armutspredigt verwendet. Das zeigt, dass zum Zeitpunkt der Kölner Predigten dieser Gedanke der Reziprozität zum festen Bestand gehörte. 41 Pr. 14; 240,1–3 [V]oltu, dat got dyn eygen sy, so salstu syn eygen syne as myn tzonge off myne hant, dat ich myt eme doyn mach, wat ich wyle. – »Willst du, dass Gott dein Eigen sei, so sollst du sein Eigen sein wie meine Zunge oder meine Hand, dass ich mit ihm tun kann, was ich will.« 38

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dungslose Dunkel des Geheimnisses, in dem keine Namen, keine Beziehungen und keine Spekulationen mehr Platz haben. In Umkehr des Wortlauts jenes bekannten Verses aus dem Prolog des Johannesevangeliums (Joh. 1,5) sagt er: »Das Licht leuchtet in der Finsternis, aber d a s L i c h t h a t v o n d e r F i n s t e r n i s nichts erfasst; dies meint, dass Gott nicht nur das Prinzip aller unserer Werke und unseres Seins ist; er ist [vielmehr] auch das Ziel und die Ruhe für alles Sein.« 42 Nach dem Johannesevangelium erfasst die Finsternis das Licht nicht. »Und das Licht leuchtet in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht erfasst« (Joh. 1,5.). Der Interpret steht vor der Frage, ob er dem Wortlaut des eckhartschen Textes der Predigt 14, der nur in einer Handschrift überliefert ist, trauen darf. Handelt es sich um einen Schreiberirrtum oder um einen Überlieferungsfehler? Oder ist diese Version echt? Die Parallelstellen in anderen Predigten geben die LichtFinsternis-Metapher in der ursprünglichen Fassung des Johannesevangeliums wieder: Die Finsternis hat das Licht nicht erfasst. In abgewandelter Form kommt der umgekehrte Gedanke, wie hier in Predigt 14, jedoch auch in einem Eckhart nahestehenden Text vor, in ›Von der übervart der gotheit‹ : »Das Verstehen hat er mit einer verdichteten Finsternis bedeckt, sodass ihn kein Geschöpf erkennen kann, wie er sich in sich selbst erkennt. Was immer die Seele im Licht versteht, verliert sie in der Finsternis. So strebt sie doch in die Finsternis; denn das Dunkel dünkt sie besser als das Licht.« 43

In der Version des Johannesevangeliums wird das Licht dem göttlichen, die Finsternis dem Bereich der Welt zugeordnet. Dass die Finsternis das Licht nicht begriffen hat, ist dort eindeutig ein Versagen der Finsternis. Die Welt lässt sich nicht erleuchten. Für diese Charakteristik des Verhältnisses der Finsternis zum Licht finden sich in der Eckhart-Ausgabe (nach Auskunft der Indizes) 17 Belegstellen. 44 Mit der Umformulie42 Pr. 14; 240,11–14: [D]at licht luchtet in de dosternysse, inde dat licht dat inbegryff der dusternis neit; dit meynt, dat got neyt aleyne eyn begynne in is Ale onsser werken inde onsses weses, hey is och eyne enden inde eyn rouwe alen wesses. 43 Pf. 512,20–24: Unde daz begrîfen hât er bedeket mit eime gedregeten dunsternisse; daz in kein crêatûre begrîfen mac, als er sich selben begrîfet in ime selben. Swaz diu sêle in dem liehte begrîfet, daz verliuret si in dem dunsternisse. Sô krieget si doch nâch dem dunsternisse, wand si wêger dunket daz dunster dan daz lieht. Zur ›Übervart‹ in Pfeiffer II, Tr. XI, S. 495–516; siehe Schmitt, Peter: ›Von der übervart der gotheit‹. 44 Pr. 1; 8,8; 18,6; Pr. 45; 369,4; Pr. 50; 454,2; 455,1; Pr. 51; 476,4; 476,11; Pr. 71; 223,7; Pr. 72; 250,4–251,7; 252,2–4; Pr. 79; 363,6; Pr. 82; 426,3 f.; Pr. 84; 458,3 f.; Pr. 86; 845,18;

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rung des Johannes-Zitats, wenn sie denn in der Predigt 14 echt ist, würde Eckhart aber eine entschiedene Aufwertung der Finsternis vornehmen und eine Unfähigkeit des Lichtes feststellen: Das Geheimnis bleibt so tief in der Finsternis verborgen, dass kein Licht hineindringen kann. Die Textumgebung in Predigt 14 ist an dieser Stelle äußerst karg. Es folgt lediglich der Hinweis darauf, dass Gott nicht nur der Ursprung unseres Wirkens und Seins, sondern auch sein Ziel (ende) und die Ruhe alles Seins ist. Dieser Satz greift eine Aussage vom Anfang der Predigt auf. Das aber erschließt den Sinn der Aufwertung der Finsternis auch nicht eindeutig. Doch weisen die Indizes sieben Belege auf, in denen derselbe Gedanke ausgeführt wird: das Ruhen Gottes in der »verborgenen«, »unbekannten« Finsternis. Deutlich wird der Gedanke in der folgenden Textstelle ausgesprochen, und hier ist auch der Bezug auf das letzte Ziel erläutert. Der Satz findet sich im Schlussabschnitt der Parallelpredigt 22: »Was ist das letzte Ziel? Es ist die verborgene Finsternis der ewigen Gottheit und [sie] ist unerkannt und wurde nie erkannt und wird auch nie erkannt. Gott bleibt dort in ihm selbst unerkannt, und das Licht des ewigen Vaters hat da ewig hineingeschienen, und die F i n s t e r n i s b e g r e i f t d i e s e s L i c h t n i c h t .« 45 Dieser Satz wird in Predigt 51 aufgegriffen. 46 In diesem Zusammenhang wäre die VerBgT; 26,2; VeM; 114,10; RdU; 229,9 f.; 230,6 f. Charakteristisch ist: Pr. 1; 8,8: Ez enmac niht bî einander gestân daz lieht und diu vinsternisse. Got der ist diu wârheit und ein lieht in im selber. Swenne denne got kumet in disen tempel, sô vertîbet er ûz unbekantnisse, daz ist vinsternisse, und offenbâret sich selber mit liehte und mit wârheit. – »Licht und Finsternis können nicht nebeneinander bestehen. Gott ist die Wahrheit und ein Licht in sich selbst. Wenn also Gott in diesen Tempel kommt, so treibt er das Nichtverstehen aus, das ist die Finsternis, und offenbart sich selbst mit Licht und Wahrheit.« Die Entgegensetzung kann auch das Thema der Abgeschiedenheit nahebringen, z. B. Pr. 72; 252,2–4: got liuhtet in einer vinsternisse, dâ entwahset diu sêle allem liehte; si enphæt in irn kreften wol lieht und süezicheit und gnâde; aber in der sêle grund enmach niht în wan blôz got. – »Gott leuchtet in einer Finsternis, in der die Seele allem Licht entwächst; sie empfängt in ihren Kräften wohl Licht, Süßigkeit und Gnade aber in den Grund der Seele kann nichts als nur Gott.« Die Metapher mag auch ein Hinweis auf den Trost im Leiden sein, z. B. RdU; 230,6 f.: Sô sie sîn in der vinsternisse oder die in dem lîdene sint, sô sol man daz lieht sehen. – »Sofern sie in Finsternis und Leid sind, werden sie das Licht sehen.« 45 Pr. 22; 389,6–10: Waz ist daz leste ende? Ez ist diu verborgen vinsternisse der êwigen gotheit und ist unbekant und wart nie bekannt und enwirt niemer bekannt. Got blîbet dâ in im selber unbekant, und daz lieht des êwigen vaters hât dâ êwicklîche îngeschinen, und diu vinsternisse enbegrîfet des liehtes niht. 46 Pr. 51; 476,12–477,2: Ich sprach an eyner anderen statt: Die verborgen fynsternuß

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sion der Predigt 14 eigentlich sinnvoller. Es hieße dann: »Das Licht hat die Finsternis nicht begriffen.« Dieser Halbsatz würde den Gedanken fortsetzen, dass die Finsternis der Gottheit nicht »erkannt« und nicht erkennbar ist. Der Sinn wäre, dass das Licht die »verborgene«, »unbekannte« Finsternis nicht erleuchten, nicht erhellen kann. Der überlieferte Text der Predigt 14 sagt genau das. Wenn jedoch die Version des Johannesevangeliums, die von den Handschriften in allen Parallelzitaten 47 überliefert wird, richtig ist, dass die Finsternis das Licht nicht begreift, wir also diese gewohnte Formulierung in die Predigt 14 einsetzen müssten, auch dann wäre der Sinn des Ausspruchs in Eckharts Text dem Johannesevangelium gegenüber ein wenig verschoben. Dass die Finsternis – mit dem Text des Johannesevangeliums – das Licht nicht begreift, wäre im Gedankengang des Eckharttextes kein Ve rs a g e n der Finsternis, das Licht nicht zu begreifen; vielmehr müssten wir etwa denken, dass die Finsternis das Licht nicht wahrnimmt, von des vngesichtigen liechtes der ewigen gotheyt ist vnbekant vnnd wirt auch nymmer bekant. Vnnd ›das liecht des ewigenn vatters hat in diß finsternuß ewigklich geschynnen, vnnd diß fynsternuß begreyffet des liechtes nicht‹. –»Ich sprach an einem anderen Ort: Die verborgene Finsternis des unsichtbaren Lichtes der ewigen Gottheit ist unerkannt und wird auch niemals erkannt. Gott bleibt dort in ihm selbst unerkannt, und ›das Licht des ewigen Vaters hat da ewig hineingeleuchtet, und die Finsternis begreift nichts von dem Licht‹.« Siehe dazu Steer, Georg: Predigt 51: ›Haec dicit dominus: Honora patrem tuum‹, S. 89 f. 47 Pr. 15; 252,7–253,1 f.: […] ruowet alles das, das vernunftig wesen ie gewan. ›Das leste ende‹ des wesen ist das vinsterniss oder das vnbekantniss der verborgenen gothait, dem dis lieht schinet, vnd dis vinsterniss enbegraiff das nit; – »Und [dort] ruht alles, was je vernünftiges Sein gewonnen hat.« Pr. 51; 476,13–477,2: Ich sprach an eyner anderen statt: Die verborgenen fynsternuß des vngesichtigen liechtes der ewigen gotheyt ist vnbekant vnnd wirt auch nymmer bekannt. Vnnd ›das liecht des ewigenn vatters hat in diß finsternuß ewigklich geschynnen, vnnd diß finsternuß begreyffet des liechtes nicht‹.– »An einer anderen Stelle habe ich gesagt: Die verborgene Finsternis des unsichtbaren Lichtes der ewigen Gottheit ist unerkannt und wird auch niemals erkannt. Und ›das Licht des ewigen Vaters hat ewig in diese Finsternis geschienen, und diese Finsternis begreift das Licht nicht‹.« Drei weitere Anspielungen auf das Thema, jedoch ohne das Johanneszitat finden sich in Pr. 22; 382,4 f.: den der vater êwiclîche geborn hât ûz dem verborgenen vinsternisse der êwigen verborgenheit; – »den der Vater ewig aus der verborgenen Finsternis der ewigen Verborgenheit geboren hat«. Pr. 22; 388,10 f.: [Î]ngân in sîne kamer mit sîner brût. Disiu kamer ist diu stille vinsternisse der verborgenen vaterschaft;– »[er wird] mit seiner Braut eingehen in seine Kammer. Diese Kammer ist die stille Finsternis der verborgenen Vaterschaft.« Pr. 51; 464,10: ›da fand er got‹, vnnd in der fynsternuß so fand er dass war liechte. – »›Da fand er [Moses] Gott‹, und in der Finsternis fand er das wahre Licht.«

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ihm unberührt bleibt, weil das wahre Leben im Grunde der Gottheit auch dem Licht der göttlichen Vernunft ›unsichtbar‹, verborgen, eins in der tiefsten Ununterschiedenheit ist. Was ist der Befund dieser intertextuellen Untersuchung? Zunächst einer, der ein Licht auf Eckharts Spätlehre wirft: Der Bezug auf die verborgene Finsternis als das letzte Ziel der Seele und Gottes kommt nur in den Parallelpredigten der Kölner Reihe vor. 48 Damit bestimmen wir ein Predigtthema, das ihn in der Zeit vor seinem Prozess offenbar nachhaltig beschäftigt hat. Andererseits ist aus den Parallelstellen kein Indiz zu gewinnen, ob die Textfassung des Johanneszitats in Predigt 14, die dessen Sinn umkehrt, echt oder verderbt ist. Man könnte auch argumentieren, dass die bibeltreue Fassung der Parallelpredigten, zumindest in Predigt 22 und 51, verderbt sei. Das Johanneszitat ist so geläufig, dass es dem Schreiber wie von selbst in die Feder geflossen wäre. Der Wortlaut, den die Predigt 14 überliefert, ist die am wenigsten zu erwartende Lesart. Bei einer Texterstellung zieht man diese den geläufigeren gerne vor, indem man annimmt, ein Schreiber tendiere eher dazu eine ›Korrektur‹ des Satzes in Richtung auf das Gewohnte vorzunehmen. 49 Es ist aber auch nicht ausgeschlosAllerdings ist natürlich das Thema der ungeschiedenen Einheit im Grunde Gottes, in dem auch die drei Personen keinen Platz haben, häufiger anzutreffen, wenngleich ohne die Attribuierung der Finsternis. In die gleiche Richtung wie die Predigt 14 und damit indirekt als Bekräftigung, das Licht habe die Finsternis nicht begriffen, weisen Formulierungen in Pr. 48 und Pr. 2. – Pr. 48; 420,8–421,2: Ez (daz lieht) will in den einvaltigen grunt, in die stillen wüeste, dâ nie underscheit îngeluogete weder vater noch sun noch heiliger geist; in dem innigesten, dâ nieman heime einist, dâ genüeget ez jenem liehte, und dâ ist ez inniger, dan ez in im selben sî; wan dirre grunt ist ein einvaltic stille, diu in ir selben unbewegelich ist. – »Das Licht will in den einfachen Grund, in die stille Wüste, in die nie ein Unterschied hineinlugte, weder Vater noch Sohn noch Heiliger Geist; in dem innigsten, in dem niemand daheim ist, da ist es jenem Licht genug, und dort ist es inniger als es in sich selbst ist; denn dieser Grund ist eine einfache Stille, die in sich selbst unbeweglich ist.« Pr. 2; 43,3–8: Got selber luoget dâ niemer în einen ougenblik und geluogete noch nie dar în, als verre als er sich habende ist nâch wîse und ûf eigenschaft sîner persônen. […] Und dar umbe: sol got iemer dar în geluogen, ez muoz in kosten alle sîne götlîche namen und sîne persônlîche eigenschaft. – »Gott selbst lugt da niemals einen Augenblick lang hinein, und er hat noch nie dahineingelugt, sofern er sich in der Weise und Eigentümlichkeit seiner Personen verhält. […] Und darum: Soll Gott jemals da hineinlugen, so muss es ihn alle seine göttlichen Namen und seine persönlichen Eigenschaften kosten.« 49 Die Überlieferung der Predigt 14 in nur einer ripuarischen Handschrift (B16) ist getrennt von derjenigen der Parallelen. Pr. 15 findet sich nur in G8 (St. Gallen 972a). Pr. 22 wird in der Gruppe Bra2 (Braunau C 466), Mai1 (Augsburg III 1.4.32), Str2 (Straßburg 48

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sen, dass Eckhart in den vorausgehenden Predigten den Wortlaut des Johannesevangeliums zitierte und sich erst an der vorliegenden Stelle zu der Umkehrung als einem Höhepunkt seines Gedankens aufgeschwungen hat. Mit dem Thema Anfang und Ende bzw. Ursprung und Ziel des Wirkens Gottes greift Eckhart auf den Beginn dieser Predigt zurück: Nicht am Ursprung alles Seins finde Gott Rast, sondern wo er Ursprung und Ziel alles Seins ist. Eckhart differenziert den Gedanken der Ruhe Gottes, obgleich, metaphysisch gedacht, Ursprung und Ziel in Gott natürlich dasselbe sind. Die sprachliche Unterscheidung bringt eine Dynamik in Gottes Sein. Die Vollkommenheit des göttlichen Seins wird als Prozess ausgelegt, der in der Finsternis des Unsagbaren seine Ruhe findet. Die Prozesshaftigkeit entspricht der biblisch-heilsgeschichtlichen Denkweise. Aber kann in der metaphysischen Dimension Prozess oder gar Geschichtlichkeit herrschen? Damit ist eine der vielen Seltsamkeiten angesprochen, die die Lektüre Eckharts so schwierig und gleichzeitig so aufregend machen. Wie kann in Gott ein Prozess sein, der zur Ruhe kommt, obwohl er doch als ewig unveränderlich gedacht werden soll? 50 Es ist ja dezidiert Eckharts Lehre, dass jede Zeitvorstellung, ja jede Differenz aus dem reinen Wesensbegriff Gottes auszuschließen seien. Die Einheit zu denken, das wäre die Überwindung des Differenzdenkens. Doch muss das Denken die Differenz nengerm. 2715) und der Gruppe BT (Basler Taulerdruck 1521), E1 (Einsiedeln 277) überliefert. Beiden geht laut Quint DW I, S. 371 ein bereits verderbter Prototyp voraus. Pr. 51 ist nur in BT enthalten. 50 Die gleiche Unruhe zeigt natürlich auch Eckharts Denken über die Trinität, die Gottesgeburt und den zeitlosen Schöpfungsakt an. Zur Identität von Anfang und Ende siehe Prol. gen. n. 19; 37,1–6: Quartum et ultimum, scilicet quod creatio et omne opus dei in ipso principio creationis mox simul est perfectum et terminatum, patet ex dictis. Ubi enim finis et initium idem, necessario simul fit et factum est, simul incipit et perfectum est. Deus autem, utpote esse, initium est et ›principium et finis‹. Sicut enim ante esse nihil, sic post esse nihil, quia esse est terminus omnis fieri. Quod enim est in quantum huiusmodi non fit nec fieri potest. Propter quod »praesentibus habitibus« »cessat motus«. – »Viertens und letztens: Dass nämlich die Schöpfung und jedes Werk Gottes im Anfang selbst der Schöpfung sogleich vollendet und zugleich beendet ist, geht aus dem Gesagten hervor. Wo nämlich Ende und Anfang dasselbe sind, geschieht [etwas] und ist zugleich geschehen, beginnt es und ist vollendet. Gott aber als Sein, ist Beginn und ›Anfang und Ende‹ (Offb. 1,8). Wie nämlich vor dem Sein nichts ist, so ist nach dem Sein nichts; denn Sein ist der Endpunkt alles Werdens. Was nämlich ist, wird nicht und kann auch nicht werden. Darum: ›In den anwesenden Zuständen endet die Bewegung‹« (Aristoteles, De gen. I c. 4; 324 b 17).

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nen, um sie aufheben zu können. Darum ist das Denken des Einen nicht das vorstellende, sondern das lîdende Denken 51 , mit anderen Worten: das Denken des Denkens oder die Aufhebung des Denkens. Dies ist angedeutet in der Metapher der Finsternis und in der Zuspitzung des Johannes-Diktums: »Das Licht hat die Finsternis nicht begriffen.«

51 Vgl. Eckharts Ausführungen über die lîdende vernunft, Pr. 104; 568,40–572,79. Die Zitate und Erläuterungen dazu siehe S. 360.

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Teil IV. Phnomenologie der Geburt des Wortes in der Seele

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Vierzehntes Kapitel bung des Lassens und Erfahrung der Gottesgeburt

Die bung des Lassens, Gelassenheit und Abgeschiedenheit Zur Einführung in die Haltung, die dem Geschehen der Gottesgeburt am besten entspricht, eignen sich zwei Frühwerke Eckharts. Die ›Rede der underscheidunge‹ und die vier Predigten ›Von der êwigen geburt‹ sind Seelsorgetexte aus Eckharts Tätigkeit als Prior des Dominikanerklosters in Erfurt. In beiden Texten sind, verdichtet und ausdrücklich thematisiert, Fragen und Antworten über das rechte Leben, das Verhalten und Empfinden Gott bzw. der Gottesgeburt gegenüber zusammengestellt. Beide Werke sind etwa in der Zeitspanne 1298–1305 entstanden. 1 Die ›Reden der Unterscheidung‹ gehörten im 14. und 15. Jahrhundert zu den meist beachteten Werken Eckharts. Es ist die am häufigsten verbreitete Schrift des Priors aus Erfurt, wie die breite Handschriftenüberlieferung zeigt. Diese belegt aber auch, dass das Werk nicht in Sammlungen verbreitet wurde, die für ein spezifisch ›mystisch‹ interessiertes Publikum konzipiert waren, sondern durchwegs zusammen mit Schriften, die sich dem ethisch-aszetischen Verhalten widmen. Es ist kein systematisches Werk, auch keine liturgisch verortete Predigtsammlung, sondern eine Reihe von geistlichen Belehrungen, die den Anfängern und den zur Seelsorge anvertrauten Brüdern des Priors (kinder) Anleitung auf dem geistlichen Lebensweg und vor allem Verständnis für den Geist religiöser Lebenshaltung vermitteln wollen. Die vier ›Predigten über die Gottesgeburt‹ sind als Predigtzyklus für die Liturgie des Weihnachtsfestkreises wohl im Anschluss an die ›Rede der underscheidunge‹ entstanden. In ihnen ist der Lehrcharakter einschließlich eines Frage-Antwort-Schemas noch deutlich erhalten 1 Steer, Georg: Predigt 101; Steer, Georg: Meister Eckharts Predigtzyklus Von der êwigen geburt, hier S. 276.

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IV. Phnomenologie der Geburt des Wortes in der Seele

geblieben. Auch diese Predigten sind im Mittelalter häufig abgeschrieben worden. Dabei hat man ihre Zusammengehörigkeit als ›Gottesgeburtszyklus‹ schon damals erkannt. Wenn man die beiden Texte in chronologischer Folge liest, drängt sich die Vermutung auf, dass eine Lehrentwicklung zu beobachten ist. Zwar darf angenommen werden, dass beide spirituellen Unterweisungen im klösterlichen Milieu vorgetragen wurden, 2 doch sprechen sie verschiedene Adressaten an. Das heißt nicht, dass wir uns deshalb zwei verschiedene Hörergruppen als Publikum vorstellen müssen; aber doch werden Verhaltensrichtlinien vorgegeben, die auf einen unterschiedlichen spirituellen Entwicklungsstand zugeschnitten sind. In der ersten Predigt des ›Gottesgeburtszyklus‹ bestimmt Eckhart zu Anfang den Adressatenkreis: »Denn was ich hier spreche, das soll man von einem guten, vollkommenen Menschen verstehen, der ›auf dem Wege Gottes gewandelt ist und noch wandelt‹ (Deut. 8,6), nicht von einem natürlichen, ungeübten Menschen; denn der ist ganz fern davon und weiß gar nichts von dieser Geburt.« 3

Schon diese Festlegung des Adressatenkreises zeigt, dass dieses zweite Werk in seinem Anspruch über das erste hinausgeht. Hier wird nicht nur eine Einschränkung des Hörerkreises ausgesprochen, sondern zugleich eine Qualifizierung des »Wissens« gegeben, das für diese Ansprache vorausgesetzt wird: Wer nicht »auf dem Wege Gottes« Erfahrung gesammelt hat, der weiß nichts von dieser Geburt und ist ihr fern. Das »Wissen« von der Gottesgeburt hat also eine existenzielle Voraussetzung. Es ist nicht bloße Theorie, die durch philosophisches Denken erworben werden kann, sondern diese spezifische Erkenntnis setzt Übung voraus. Gleichwohl wird am Anfang dieser Predigt gesagt, die Belehrung solle mithilfe von natürlichen Argumenten vorgetragen werden. 4 Philosophische Rationalität und existenzielle, spirituelle PraSteer, Georg: Meister Eckharts Predigtzyklus Von der êwigen geburt, S. 265 f. Pr. 101; 337,8–10: Wan daz ich hie spriche, daz sol man verstân von einem guoten, volkomenen menschen, der ›in dem wege gotes gewandelt hât und noch wandelt‹, niht von einem natiurlîchen, ungeüebeten menschen, wan der ist zemâle verre und unwizzende ihtes iht von dirre geburt. 4 Pr. 101; 33–35: Ich wil iu dise rede bewæren mit natiurlîchen reden, daz ir ez selber möhtet grîfen, daz ez alsô ist, wie ich doch der schrift mê gloube dan mir selber. Aber ez gât iu mê în und baz von bewærter rede. – »Ich will euch in die Lehre mit natürlichen Vernunftgründen einführen, damit ihr selbst begreifen könnt, dass es so ist, obwohl ich der Heiligen Schrift mehr glaube als mir selbst. Doch es geht euch mit einer begründen2 3

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xis schließen sich auch für Eckhart nicht aus. Vielmehr schließt das Philosophische nicht nur ein, dass Eckhart, wie er sagt, der Heiligen Schrift mehr glaubt als sich selbst. Es bedeutet auch, dass er die Sache, von der er spricht, jenseits des natürlichen philosophischen Verstandes ansiedelt in einem ›Wissen‹, durch das »unser Unwissen« »mit übernatürlichem Wissen« »geadelt und geziert« ist. 5 Es gehört also Übung dazu, der Gottesgeburt zu begegnen, denn allein aus natürlichem Verstand weiß man von ihr nichts und ist ihr fern. Die Einführung in die Übung, die zum Verständnis der Predigten von der Gottesgeburt vorausgesetzt wird, steht in den ›Reden der Unterscheidung‹. Der ›Gottesgeburtszyklus‹ setzt voraus, dass die Grundstufe der Spiritualität bereits erreicht ist. Ohne dies sind Missverständnisse oder Irrwege zu befürchten. Denn »würde ein nicht daran gewöhnter und ungeübter Mensch sich so verhalten und dasselbe tun wie ein eingewöhnter, so würde er sich völlig verderben und es würde niemals etwas aus ihm«. 6 Doch wenn man Anleitungen zur Übung als Aktivität und Training positiver Verhaltensweisen sucht, wird man von Eckhart enttäuscht sein. Er spricht mehr vom Lassen als vom Tun. Das Lassen ist in Wahrheit die Voraussetzung für jeden weiteren Schritt in der religiösen Erfahrung und im Verständnis der Gottesgeburt.

›Rede der underscheidunge‹ : bung des Lassens Gleich zu Anfang der ›Reden der Unterscheidung‹ wird das Thema angeschnitten, das alle Abhandlungen durchzieht und das für verschiedene Frömmigkeitsbereiche ausgelegt wird: »Wo der Mensch in Gehorsam aus seinem Ich herausgeht und sich des Seinen entschlägt, ebenda den Darlegung eher und besser ein.« Ebenso in In Ioh. n. 2; 4,4–6 und im Prol. op. prop. n. 16; 176,8 f. Dazu Steer, Georg: Meister Eckharts Predigtzyklus Von der êwigen geburt, S. 270 f. 5 Pr. 102; 420,132 f.: Danne suln wir werden wizzende mit dem götlîchen wizzenne und danne wirt geadelt und gezieret unser unwizzen mit dem übernatiurlîchen wizzenne. – »Dann werden wir mit dem göttlichen Wissen wissen, und unser Unwissen wird mit dem übernatürlichen Wissen geadelt und geziert.« 6 RdU c. 21; 278,4–6: Daz sich ein ungewenet und ungeüebeter mensche alsô wölte halten und alsô tuon als ein gewenter mensche, der wölte sich alzemâle verderben und enwürde niemer nihtes ûz im.

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muss Gott notgedrungen wiederum eingehen; denn wenn einer für sich selbst nichts will, für den muss Gott in gleicher Weise wollen wie für sich selbst.« 7 Das Sich-selbst-Verlassen und die Angleichung des Eigenwillens an Gottes Willen sind demnach das beherrschende Thema. Lassen oder Gelassenheit und Abgeschiedenheit werden in den ›Reden‹ noch weitgehend als willentliches Nicht-Wollen verstanden. 8 Sie sind die Voraussetzung und hinreichende Bedingung 9 dafür, dass Gott selbst, nach einer ihm wesensimmanenten Notwendigkeit, dort mit seinem Willen eintreten muss, wo sich der Mensch gelassen hat. Die Verortung des Prozesses im Willen ist ein wesentliches Kennzeichen für das erste Stadium der Übung. Deshalb trägt das zehnte Kapitel die Überschrift: »Inwiefern der Wille alles vermag und wie alle Tugenden im Willen liegen, sofern er gerecht ist.« 10 Nicht die Tat und nicht das Ziel des Wollens machen den Willen gerecht und heilsam, sondern seine entschiedene Präsenz. »Aber was du mit Kraft und vollem Willen willst, das hast du, und das kann dir Gott und keine Kreatur wegnehmen, sofern der Wille nur umfassend und 7 RdU c. 1; 187,2–3: Swâ der mensche in gehôrsame des sînen ûzgât und sich des sînen erwiget, dâ an dem selben muoz got von nôt wider îngân; wan sô einez im selber niht enwil, dem muoz got wellen glîcher wîs als im selber. 8 Als willentliches Nicht-Wollen wird Eckharts Gelassenheit auch in Martin Heideggers ›Feldweggespräch‹ gedeutet; jedoch bleibt dessen Stellung zu Eckharts »Gelassenheit« unklar: In den ›Feldweg-Gesprächen‹ (Heidegger, Martin: Anchibasie¯. Feldweg-Gespräch, S. 109) fasst der »Gelehrte« Eckharts »Gelassenheit« als »innerhalb des Willensbereichs gedacht« auf. Der »Weise« entgegnet, gleichwohl sei von Eckhart viel Gutes zu lernen. Der »Forscher« schränkt ein, dass die in ihrem Gespräch »genannte Gelassenheit doch offenbar nicht das Abwerfen der sündigen Eigensucht und nicht das Fahrenlassen des Eigenwillens zugunsten des göttlichen Willens« meine, was der »Weise« mit einem lakonischen »Das nicht« bestätigt. Es ist festzuhalten, dass die Bemerkung des »Forschers« allenfalls mit den ›Reden der Unterscheidung‹ kompatibel ist, keineswegs mit der ›Armutspredigt‹, Nr. 52, die Heidegger zweifellos gekannt hat. Der »Weise« nimmt hier nicht inhaltlich Stellung. In der weiteren Gesprächsentfaltung werden Gedanken geäußert, die auch für Eckhart gelten können, wenngleich dort nicht mehr auf den Meister Bezug genommen wird. Auch Herrmann, Friedrich-Wilhelm von: Wege ins Ereignis bezieht sich im Rückgang von Heidegger auf Eckharts »Gelassenheit« nur auf die ›Reden der Unterweisung‹. Zur Kritik des Heidegger’schen Bezugs auf Eckharts Gelassenheit siehe Beierwaltes, Werner: Heideggers Gelassenheit, bes. S. 24–33. 9 Unter diesem Begriffsschema hat Enders, Markus: Die ›Reden der Unterweisung‹ S. 58 f., das Zusammenwirken vom Lassen des Eigenwillens und dem Eintreten Gottes mit seinem Willen gefasst. 10 RdU c. 10; 215,6 f.: Wie der wille alliu dinc vermac und wie alle tugende in dem willen ligent, ob er anders gereht ist.

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ein ganz göttlicher Wille und gegenwärtig ist. Nicht: ›Ich wollte, aber …‹, das läge noch in der Zukunft, sondern: ›Ich will, dass es jetzt so ist.‹« 11

Der Wille, den Eckhart meint, ist »ohne jeden Selbstbesitz« (âne alle eigenschaft), »selbstvergessen« (sîn selbes ûzgegangen) und »dem Willen Gottes eingefügt und geformt« (in den willen gotes gebildet und geformieret). 12 Der Wille hat allerdings in Eckharts Sicht eine Doppelstruktur. Eckhart nennt diese beiden Dimensionen des Willens das »Wesen« der Liebe und den »Ausbruch« (ûzbruch) oder den »Akt« (werk) der Liebe. Das W e s e n der Liebe liegt nicht in der Handlung, sondern »im Willen«. Dieser aber ist so verborgen, wie Gott im »Grund« (grunt) der Seele verborgen bleibt 13 . Dieser verborgene Wille ist das Wirken Gottes, das an die Stelle des bewussten »eigenen« Willens des Menschen tritt, der sich auf Ziele richtet, seien sie weltlicher Natur wie Reichtum und Ehre, aszetischer Natur wie Verzückungen oder Innigkeit oder auch heilbringender Natur wie die Ehre Gottes, Seligkeit und ewiges Heil. 14 Dementsprechend zählen für Eckhart die empirischpsychologischen Wollens- und Gefühlsregungen auf der Ebene des Liebeswerkes nicht. Das Fühlen und Empfinden, ja sogar die mystische Verzückung (jubilus) sollen unterbrochen werden, um der schlichten Handlung willen, zum Beispiel dem Kranken ein Süpplein zu bringen. 15 Die Handlung ist die von Gott angestoßene Bewegung zur Tat und insofern der eigentliche Wille. Darum ist Eckharts »Gesinnungsethik« 16 nicht ein »Ich-würde-gern«, zum Beispiel den Notleidenden auf dem fremden Kontinent helfen, 17 sondern dieser Wille ist bereits der Beginn der Tat. Und wenn ich daran scheitere – aber auch nur dann – gilt der Wille für die Tat: »Fehlt es dir nicht an deinem Willen,

RdU c. 10; 216,4–8: Aber, daz dû krefticlîche und mit allem willen wilt, daz hâst dû, und daz enmac dir got und alle crêatûren niht benemen, ob der wille anders ganz und ein rehte götlich wille ist und gegenwertic ist. Niht alsô: ich wolte mêr, daz wære noch zuokünftic, sunder: ich wil, daz ez iezunt alsô sî. 12 RdU c. 10; 218,9 f. 13 RdU c. 10; 219,3–9. 14 RdU c. 10; 219,10–220,10. 15 RdU c. 10; 221,1–8. 16 Vgl. dazu Quero-Sánchez, Andrés: Sein als Freiheit, S. 126 f.; dort auch weitere Literatur. 17 Vgl. RdU c. 10; 216,8–10. 11

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sondern nur am Vermögen, wahrlich, vor Gott hast du alles [wirklich] getan.« 18 Auch in die ›Gesinnungsethik‹ tritt das Grundgesetz des Lassens und Empfangens ein, von dem die frühen Schriften Eckharts erfüllt sind: »Alles, was der Mensch willentlich aus Liebe lässt, das erhält er viel edler zurück, wie Christus gesagt hat: ›Wer etwas um meinetwillen lässt, wird das Hundertfache davon wieder empfangen‹ (Mt. 19,29).« 19 Dieses Gesetz gilt so radikal, dass der Mensch den wesentlichen Trost auch empfängt, wenn er auf den gefühlten Trost um Gottes willen verzichtet. In diesem Zusammenhang steht in der ›Rede‹ auch der Rat, Gott um Gottes willen zu lassen: »Es gibt keinen besseren Rat, Gott zu finden, als indem man ihn lässt. Und wie es dir erging, als du ihn zuletzt hattest, so tue auch jetzt, da du ihn entbehrst: So findest du ihn. Aber der gute Wille verliert oder entbehrt Gott nie und nimmer.« 20 Dieser Rat klingt zunächst ähnlich wie jenes ›Gebet‹ Eckharts, in dem er Gott bittet, er möge ihn Gottes quitt machen. 21 Dort in der ›Armutspredigt‹ gewinnt das Lassen eine tiefere metaphysische Realität. Hier in der ›Rede‹ handelt es sich um den Verzicht auf den gefühlten Trost; doch in diesem freiwillig erlittenen Entzug kann Gott umso gegenwärtiger werden. 22 RdU c. 10; 217,9 f.: Gebrichet dir niht an dem willen dan aleine an der maht, in der wârheit, vor gote hâst dû ez allez getân. 19 RdU c. 10; 222,2–4: Swaz der mensche von minne læzet williclîchen, daz wirt im vil edeler, wan, als Kristus sprach: wer iht læzet durch mich, der sol hundertvalt als vil wider nehmen. 20 RdU c. 11; 225,3–6: Ez enist kein rât als guot, got ze vindenne, dan wâ man got læzet; und wie dir was, dô dû in zem lesten hâtest, alsô tuo nû, die wîle dû sîn missest, sô vindest dû in. Mêr: der guote wille der enverliuset noch envermisset gotes niht noch niemer. 21 Pr. 52; ed. Steer, 172,16; ed. Quint, 493,8. 22 RdU c. 10; 222,5–223,3: Jâ, in der wârheit: Swaz der mensche læzet und sich des verwiget durch got, jâ, ez sî ouch, daz der mensche grœzlîchen beger solches trôstes enpfindennes und innicheit, und tuot dar zuo, waz er vermac, und got gibet ez im niht und er getrœstet sich sîn und enbirt sîn williclîche durch got: in der wârheit, er sol in im vinden glîcher wîs, als ob er allez guot hæte gehabet, daz ie wart, in ganzer besitzunge und des williclîchen wære ûzgegangen und sich es getrœstet und verwegen hæte durch got; er sol hundertvalt als vil nehmen. – »Ja, in Wahrheit: Was der Mensch lässt und was er um Gottes willen aufgibt – und sei es auch, wenn der Mensch heftig nach dem Trost des Empfindens und der Innigkeit verlangt und dazu tut, was er vermag, dass Gott es ihm aber nicht gewährt –, der Mensch aber tröstet sich selbst und entbehrt freiwillig um Gottes willen, in Wahrheit, dann wird er in sich in gleicher Weise empfinden, als ob er 18

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»Der gute Wille verliert oder vermisst Gott nie und nimmer.« 23 Das ist die unbezweifelte Grundaussage. Der gute Wille ist der Wille Gottes; also ist alles, was geschieht, der Wille Gottes. 24 Der geschieht, ob ich mit meinem Willen zustimme oder nicht; freilich, wenn ich in den Willen Gottes einstimme, ist auch mein Wille der »gute Wille«. Die rechte Haltung für den Zustand, in dem ich den Willen Gottes nicht verstehe oder in dem ich die Einstimmung mit ihm nicht fühle oder entbehre, ist demnach konsequent: Ich soll mich genau so verhalten wie in den Zeiten, da ich Gottes Trost in meinem Eigenwillen spürte; denn in Freude und im Leiden ist alles, was geschieht, Gottes Wille. Davon kann man sich ›trösten‹ lassen, auch wenn man den Trost nicht empfindet. Eckhart spricht in den ›Reden der Unterscheidung‹ gleichsam naiv und selbstverständlich von Gott, der der unbezweifelte Richtpunkt allen Lebens ist. In keiner Frage oder Erklärung wird das Wesen, die Seinsweise Gottes thematisiert. Allein das Verhalten und Empfinden des Menschen stehen zur Diskussion. Gott umgibt den Menschen wie der Horizont die Existenz, ja näher noch wie ein Kleid – oder wie eine Kappe den Kopf. 25 Der psychologische Aspekt des Lassens wird zunehmend aufgelöst in eine allgegenwärtige Präsenz Gottes. Die darin enthaltene metaphysische Problematik des Übergangs vom menschlichen Lassen zum göttlichen Wirken wird hier noch nicht reflektiert. Es könnte sich die Frage stellen: Was für einen Grund sollte es zu einer solchen völligen Aufgabe des Eigenwillens geben? oder anders gefragt: Was ist das für ein Gott, dem ein solches Opfer zu bringen die Menschenwürde nicht verletzt? Die traditionellen Bilder und Vorstellungen von Gott als dem allerhöchsten König, Herrn, Rächer und Erlöser in alles Gut, das es je gab, besessen hätte, er sich dessen aber freiwillig entäußert und sich getröstet und um Gottes willen verzichtet hätte: Er wird hundertmal so viel empfangen.« 23 RdU c. 10; 225,5 f.: Mêr: der guote wille der enverliuset noch envermisset gotes niht noch niemer. 24 RdU c. 11; 226,6–9: In der wârheit, âne ûfgeben des willen in allen dingen sô schaffen wir niht mit gote alzemâle. Mêr: kæme ez alsô verre, daz wir allen unsern willen ûfgæben und uns aller dinge durch got törsten verwegen, ûzwendic und inwendic, sô hæten wir alliu dinc getân und niht ê. – »Wahrhaftig, ohne Aufgabe des Willens in allen Dingen schaffen wir überhaupt nichts vor Gott. Käme es aber so weit, dass wir unsern ganzen Willen aufgäben und uns aller Dinge, äußerlich und innerlich, um Gottes willen zu entschlagen getrauten, so hätten wir alles getan, und eher nicht.« 25 RdU c. 11; 228,4 f.

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einer Person halten dem metaphysischen Denken Eckharts ebenso wenig stand wie den Emanzipationsbestrebungen und der Würde des modernen Menschen. Es gibt kein personales Gegenüber, dem sich der Mensch willenlos unterwerfen könnte, ohne sein Menschsein aufzugeben. Damit aber sind Tugenden wie Gehorsam und, in ähnlicher Weise, Demut fragwürdig geworden. Eckhart wird sich dieser Thematik intensiv zuwenden. 26 Er wird auf die im metaphysischen Tausch problematische Sachlage reagieren, indem er die Tugenden und mit ihnen die gesamte Gottesbeziehung des Menschen neu interpretiert. Dieser Prozess beginnt schon in dem den ›Reden‹ nahestehenden ›Gottesgeburtszyklus‹. Er ist dadurch gekennzeichnet, dass über den Gesichtspunkt des Lassens hinaus das Empfangen in den Vordergrund tritt. Noch weiter darüber hinaus wird in späteren Texten der Aspekt der Gabe, oder genauer des Gegebenseins zentral. Den entscheidenden Schritt macht Eckhart aber durch seine Transzendentalienlehre, die die unmittelbare Präsenz des Göttlichen im Sein aller Menschen erklärt. Die abegescheidenheit und die neu interpretierte Demut werden dann in den Kölner Predigten den Rang der höchsten ontologischen (weselîchen) Tugend einnehmen. Dieser Aspekt ist im dreizehnten Kapitel über die Demut bereits besprochen worden. 27 In den ›Reden‹ gründet sich das Gesetz des Austauschs in der Tat auf ein metaphysisches Prinzip, nämlich dass Gott als das Gute sich verströmen muss und dass eine Stelle, die der Mensch frei macht, nicht leer bleiben kann, wie schon erwähnt, das Gesetz des horror vacui 28 . Aber dieses Prinzip ist sehr allgemein und für Eckharts Denkweise unspezifisch. Die ›Reden‹ überzeugen mehr durch ihre existenzielle, psychologische Differenziertheit als durch philosophische Spekulation. Verglichen mit den späteren Ausführungen Eckharts, in denen die EinWie bereits im 3. und 13. Kapitel gezeigt. Sturlese, Loris: Meister Eckhart. Ein Porträt, hier S. 20: »Die genauen Konturen der metaphysischen ›göttlichen Durchformung‹ […] lassen sich aufgrund des Textes der Reden nicht exakt zeichnen. Das Gesetz, welches das Abgeschiedenheits-Theorem stützt, wird zwar angewandt, aber weder begründet noch ausgeführt. […] Zeitlich sehr nahe Texte weisen darauf hin, dass Eckhart an einer solchen Begründung sehr intensiv arbeitete, wobei denkbar ist, dass er selbst das enorme religiöse und spekulative Potenzial der in dieser Formel konzentrierten Lehre allmählich ans Licht zu bringen vermochte, indem er sich immer wieder in seiner Predigt- und Lehrtätigkeit auf dieses Thema konzentrierte.« 27 Vgl. auch Witte, Karl Heinz: Predigt 14: ›Surge illuminare Iherusalem‹, in: LE III, S. 1–31. 28 Aristoteles, Physik IV, c. 6–9; 213a–217b. 26

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heit Gottes und des Seelengrundes thematisiert wird, ist hier noch eine Differenz von außen und innen festgehalten, von Gottes und des Menschen Wirken, wenngleich es schon um die Überwindung des Unterschieds geht. Eckharts Lehre vom Lassen des Eigenwillens ist seine frühe Formulierung auf dem Weg zur Erkenntnis der Ununterschiedenheit von Gott und wahrem Menschen. Die Ahnung der Ununterschiedenheit formuliert sich zunächst in dem Gesetz des Tausches aus: Wo der Mensch mit seiner Eigenmacht weicht, da tritt Gott ein. Diese Vorstellung wird sogar so weit zugespitzt, dass Eckhart sagen kann: Einen Menschen, der sich selbst ganz gelassen hätte, könnte ich gar nicht berühren, ich berührte in Wahrheit zuerst Gott: »Wahrhaftig: Ein Mensch, der ganz aus seinem Eigenen herausgetreten wäre, der würde so von Gott eingehüllt, dass alle Kreaturen diesen Menschen nicht berühren könnten. Sie rührten zuerst Gott an, und was immer zu diesem Menschen durchdringen würde, das müsste durch Gott zu ihm kommen. Daher empfängt es seinen Geschmack und wird von Gott gefärbt.« 29

Man darf in dieser Bildvorstellung wohl ein Ringen darum erkennen, die Einheit Gottes und des Menschen aus der Bewegung des Loslassens zu verstehen, in gewisser Weise ›anfangshaft‹, beginnend aus der Position des Menschen, der sich vorbereitet, von der ersten Stufe des mystischen Weges, der Reinigung, ausgehend, allerdings radikalisiert im absoluten Lassen seiner selbst. Die metaphysischen Positionen der Seins- und Prinzipienlehre sind hier noch nicht gewonnen; darum klafft in der Kehre vom Lassen zum Eintreten Gottes eine philosophische Lücke. Aber Eckhart gewinnt aus der Idee der Stellvertretung, indem Gott an die Stelle des gelassenen Menschen tritt, weitere Meditationsgesichtspunkte für ein an Gott übereignetes Leben. Es geht Eckhart nicht um ein Sich-Versenken. Da wir alle äußerliche Dinge zu tun haben, kann es nicht darum gehen, dieses Äußere zu vergessen oder gar zu verachten. Der geübte Mensch jedoch verliert sich in den äußeren Besorgungen nicht; denn wenn die äußeren Dinge innerlich recht vollzogen werden, gewinnen sie einen göttlichen Charakter. »Trotz der Äußerlichkeit der Vorstellungen sind diese für den RdU c. 11; 228,9–229,2: In der wârheit, der mensche, der des sînen wære ganz ûzgegangen, der würde mit gote umbevangen, daz alle crêatûren in niht enmöhten berüeren, sie enrüerten got ze dem êrsten, und swaz an in komen solte, daz müeste durch got an in komen; dâ nimet ez sînen smak und wirt gotvar.

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geübten Menschen nicht äußerlich, denn für den inwendigen Menschen sind alle Dinge eine innere göttliche Weise.« 30 Als Fazit dieses Überblicks über die Lebenslehre der ›Reden‹ lässt sich festhalten: Sie konzentrieren sich in allen Detailfragen auf die Übung des Lassens. Zusammen mit dem Lassen wird alles geschenkt, was der Mensch braucht. Aber weder die Weise des Empfangens noch das Wesen der Gabe werden erörtert. Beide treten nach dem metaphysischen Gesetz der leeren Stelle wie von selbst ein, wenn das Lassen nur vollständig ist. Der Umschlag vom menschlichen in den göttlichen Willen ist hier fast wie ein metaphysischer Automatismus konzipiert. Damit sind aber die Würde und das Wesen des Lassens noch nicht erfasst. Die Frage stellt sich: Was ist ontologisch der Vollendungszustand des Lassens, selbst wenn man existenziell niemals so viel lassen kann, dass man nichts Weiteres mehr zu lassen hätte? 31 Was ist für Eckhart »Gelassenheit«, gelâzenheit 32 , oder, genauer gefragt, was heißt bei Eckhart abegescheiden oder abegescheidenheit? Denn dies ist sein Terminus hierfür. Dieses Wort hat einen sehr weiten Begriffsumfang. Im ethischen Bereich heißt es, sich von allem Selbstischen und Welthaften fernzuhalten; aber es ist auch die Haltung des Ausschaltens jeglichen Wahrnehmens und Denkens, wenn die Gottesgeburt meditiert wird. Für die Vernunft bedeutet abegescheiden: von allen Vorstellungen RdU c. 21; 277,1–3: Aber diu ûzerkeit der bilde ensint den geüebeten menschen niht ûzerlich, wan alliu dinc sint den inwendigen menschen ein inwendigiu götlîchiu wîse. 31 RdU c. 4; 196,7 f.: Dû solt wizzen, daz sich nie dehein mensche sô vil geliez in disem lebene, er envünde sich dennoch mêr ze lâzenne. – »Du musst wissen, dass sich nie ein Mensch in diesem Leben so sehr gelassen hat, dass er nicht noch mehr zu lassen finden könnte.« 32 Das Wort »Gelassenheit« kommt in Eckharts deutschem Werk nur einmal vor: RdU c. 21; 283,7–284,4: Wan, ez kome von trâcheit oder von wârer abegescheidenheit oder von gelâzenheit, sô sol man merken, ob man sich hier inne vindet, als man sô gar von innen gelâzen ist, daz man denne gote als getriuwe ist, als man in dem grœsten enpfindenne wære, daz man hier inne allez daz tuo, daz man dâ tæte, und niht minner, und daz man sich als abegescheidenlîche halte von allem trôste und helfunge, als man tæte, sô man gegenwerticlîchen got enpfünde. – »Denn, ob es nun von Trägheit oder von wahrer Abgeschiedenheit oder Gelassenheit kommt, [in jedem Fall] muss man darauf achten, ob man sich dann so verhält – wenn man innerlich so ganz gelassen ist –, dass man Gott genau so ergeben ist, wie wenn man im stärksten Empfinden wäre; dass man auch in diesem [ekstatischen] Zustand alles das tut, was man in jener [Gelassenheit] tut und nicht weniger, das heißt, dass man sich getrennt hält von aller Tröstung und aller Hilfe ebenso, wie man es tun würde, wenn man Gott gegenwärtig empfindet.« 30

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und Konkretionen »abgetrennt«, also »abstrakt« oder »absolut«. Diese Bedeutung trifft vor allem für das reine Sein und für die Gottheit zu, wenn sie von jeder Bestimmung und Unterscheidung »frei« sind. Bevor diese philosophischen und theologischen Implikationen besprochen werden, soll das Augenmerk auf die Meditation gerichtet werden. Welche Haltung ist dem Geschehen der Gottesgeburt angemessen? Den Einstieg hierzu bieten die vier Predigten des ›Gottesgeburtszyklus‹ (Pr. 101–104).

Der ›Gottesgeburtszyklus‹. Das verborgene Empfangen Der ›Gottesgeburtszyklus‹ bringt insgesamt wenig Spekulation über die Gottesgeburt in der Seele. Sie geschehe als das vollkommene Selbsterkennen des Vaters, 33 und die ewige Geburt des Sohnes in der Trinität sei dieselbe wie die Geburt im Grunde der Seele. 34 Eckhart betont unmissverständlich, dass der Ort der Gottesgeburt nicht die Kräfte seien, sondern der Grund oder das wesen der Seele sei. 35 Wie das zu verstehen ist, wird in der Predigtreihe ausführlich ausgelegt. Die »Kräfte der Seele« oder die »Seelenvermögen« (potentiae animae) sind die auf den Leib bezogenen Tätigkeiten der Sinne, im psychischen Bereich sind es diskursives Erkennen, Begehren, Aufstreben (zürnerin); die geistigen Funktionen sind Gedächtnis, Vernunft und Wille oder Liebe. Wir dürfen uns das Wort »Seelenkräfte« also verständlich machen, wenn wir es mit »Tätigkeiten des Bewusstseins« übersetzen. Der Kern der Belehrung im ›Gottesgeburtszyklus‹ ist also, dass das individuelle Bewusstsein, dass die »Kräfte« der Seele die Gottesgeburt nicht mit ihren eigenen Mitteln erfahren können. Das ist für den Frommen schwer zu akzeptieren, zumal wenn er sich im geistlichen Stand oder in den seinerzeit aktuellen religiösen Bewegungen um ein gottgeweihtes Leben bemüht. Darum wird in diesen Quästionenpredigten auch wiederholt die Frage gestellt, was man denn tun könne. In der Einleitung wird demnach als Leitfrage angekündigt: Pr. 101; 350,87–90. Pr. 101; 352,90 f.; Pr. 102; 407,2–4. Auch Steer, Georg: Predigt 101, S. 286 f. bemerkt, dass Eckhart die ewige Geburt »nicht weiter erklärt oder spekulativ ergründet«. Er stellt aus Pr. 101–104 zwanzig »schlichte Aussagen« zusammen (ebd.), die vorwiegend den Aspekt der Seele (weniger den der göttlichen Geburt) in den Vordergrund stellen. 35 Pr. 101; 343,37–40. 33 34

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»Der zweite Teil dieser Predigt handelt davon, wie sich der Mensch diesem Wirken [Gottes] gegenüber verhalten soll oder diesem Einsprechen oder dieser Geburt gegenüber: Ist es ihm nützlicher, dabei mitzuwirken und damit zu erwerben und zu verdienen, dass diese Geburt in ihm geschieht und geboren wird – etwa indem der Mensch eine Vorstellung in seiner Vernunft und seinen Gedanken erzeugt und sich darin übt zu denken: Gott ist gut, weise, allmächtig, ewig und was er in ähnlicher Weise über Gott bedenken mag.« 36

Diese Frage stellt Frömmigkeitshaltungen zusammen, die der allgemeinen geistlichen Praxis entsprechen: Mitwirken mit der Gnade, Verdienste erwerben, sich in religiösen Vorstellungen üben, das heißt zum Beispiel über Gottes Wesenseigenschaften meditieren, über seine Güte, Weisheit, Allmacht, Ewigkeit und so weiter. Es handelt sich also nicht einmal um besondere asketische Übungen, wie sie sonst öfter aufgezählt werden: Fasten, Nachtwachen halten, raue Gewänder tragen oder Ähnliches. Diese Aufzählung stellt also infrage, ob die gewöhnlichen religiösen Übungen geeignet sind, der Gottesgeburt zu entsprechen. Es schließt sich eine Alternativfrage an, und diese führt eine außergewöhnliche religiöse ›Praxis‹ ein, nämlich das Nichtstun: »Oder [nützt es mehr], dass man sich entzieht und ledig macht von allen Gedanken und von allen Worten und Werken und von allem Vorstellen und Verstehen, und dass man sich völlig in einem reinen Gotterleiden hält und dass man sich selbst untätig verhält und Gott in sich wirken lässt? Wodurch kann der Mensch zu dieser Geburt am meisten beitragen?« 37

Die hier zitierte Fragestellung findet sich in der vorausgestellten Gliederung der Predigt 101. Im Hauptteil wird sie wiederholt. 38 Interessant ist die Antwort dort, weil aus deren Einleitung ablesbar ist, dass Eckhart hier die Grenzen der gewohnten seelsorglichen Unterweisung überschreitet und sich gegen eine missverständliche Auslegung abPr. 101; 340,23–28: [W]ie sich der mensche ze disem werke sülle halten oder ze disem însprechenne oder geberne: ob im nützer sî, daz er ein mitewürken mit disen habe und dâ mite erwerbe und verdiene, daz disiu geburt in im geschehe und geborn werde, alsô daz der mensche in im schepfe ein bilde in sîner vernunft und in sînem gedanke und sich dar ane üebe, alsô gedenkende: got ist guot, wîse, almehtic, êwic, und swaz er alsô erdenken mac von gote. 37 Pr. 101; 341,28–31: [O]der daz man sich entziehe und ledic mache von allen gedenken und von allen worten und werken und von allen bilden und verstânnes, und daz man sich zemâle halte in einem lûtern gotlîdenne, und halte sich müezic und lâze got in im würken: in welchem der mensche allermeist diene ze dirre geburt. 38 Pr. 101; 354,107–112. 36

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sichert. Wenn Eckhart diese zweite Frage bejaht und das Nichtstun empfiehlt, widerspricht er der geläufigen Praxis. Deshalb seine Warnung: Seine Lehre ist nur für die »guten« und »vollkommenen« Menschen bestimmt. Seine Lehre an dieser Stelle ist nicht für Anfänger bestimmt, wie oben erwähnt wurde. 39 Wenn hier auch nicht deutlich auf eine strikte spirituelle Stufenlehre angespielt wird, so ist doch ein Übungs- und Eingewöhnungweg vorausgesetzt. Eckhart konnte eine solche Entwicklungsvorgabe auch aus der ›Mystischen Theologie‹ des Dionysius Areopagita entnehmen, welche die Stufen der Reinigung, der Erleuchtung und Vereinigung kennt und auch einige weitere Zentralmotive anführt, die Eckhart im ›Gottesgeburtszyklus‹ auf seine Weise entwickelt. 40 »Ich wiederhole, was ich zuvor gesagt habe: Diese Ansprache und diese Wahrheit sind nur guten und vollkommenen Menschen angemessen, die das wesen aller Tugenden in sich und an sich gezogen haben, und zwar so, dass die Tugenden in ihrer Wesensform aus ihnen ohne ihr [menschliches] Zutun fließen und dass vor allem das würdige Leben und die edle Lehre unseres Herrn Jesu Christi in ihnen lebt.« 41

Für diese gilt die folgende Antwort: »Diese sollen wissen, dass das Allerbeste und Alleredelste, zu dem man in diesem Leben kommen kann, ist: Du sollst schweigen, und lass Gott wirken und sprechen.« 42 Die Alternative, die hier diskutiert wird, durchzieht den ganzen Zyklus, und Eckhart empfiehlt eindeutig den Rückzug vom Tun, das Schweigen, Nichtwissen und Erleiden der Wirkung Gottes. Darin setzt sich das Thema des Lassens, das in den ›Reden‹ angeschlagen wurde, fort, allerdings radikaler konzentriert: Nicht nur der Eigenwille schlechthin ist zu lassen, sondern auch jede Bemühung, Gott zu erreiSiehe S. 332. Dionysius, Areopagita: Über die Mystische Theologie, c. 1 enthält die Warnung, Nicht-Eingeweihte die folgenden Lehren wissen zu lassen, er schildert den Weg der Reinigung, Erleuchtung und Vereinigung durch Unwissenheit in der Finsternis, in einer unerkannten Erkenntnis. Zur Rezeption des Dionysius im ›Gottesgeburtszyklus‹ siehe Guerizoli, Rodrigo: Die Verinnerlichung des Göttlichen, bes. S. 18–25. 41 Pr. 101; 355,112–115: Ich spriche aber, als ich vor sprach: disiu rede und disiu wârheit gehrent aleine guoten und volkomenen menschen zuo, die dâ in sich und an sich gezogen hânt aller tugende wesen, alsô daz die tugende wesenlîche ûz in vliezent sunder ir zuotuon und vor allen dingen daz wirdic leben und diu edel lêre unsers herren Jêsû Kristî in in lebe. 42 Pr. 101; 355,116 f.: daz daz aller beste und daz aller edelste, dar man zuo komen mac, in disem lebene ist: dû solt swîgen und lâz got würken und sprechen. 39 40

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chen. Während in den ›Reden‹ das Gesetz einer notwendigen Stellvertretung im Vordergrund steht – wo das eine weicht, muss das andere eintreten –, wird hier die Weise des Eintretens differenzierter betrachtet. Vom Lassen verschiebt sich die Aufmerksamkeit auf das Empfangen. Das Empfangen hat eine mediale Stellung zwischen Aktiv und Passiv, es nimmt an beidem teil. Je nach der Aufmerksamkeit steht im Blick, dass ich etwas geschenkt bekomme oder dass ich etwas annehme. In der Sache ist beides dasselbe: »In demselben Punkt, da der Geist bereit ist, geht Gott ohne Verzug und ohne Warten [in ihn] ein.« – »Es ist nur ein Punkt, das Öffnen [der Tür] und das Eintreten [Gottes].« 43 Aber wenn man den Vorgang vom Subjekt, also vom Geber oder vom Empfänger her betrachtet, erscheint im Punkt dieses Umschlags ein Hiatus, der von der Subjekt-Objekt-Dimension her nicht zu überwinden ist; dann bleiben Geben und Empfangen Akte, nicht »ein Punkt«. Man kann sagen, dass das Denken Eckharts in seinem faszinierenden, aber auch in seinem strittigen Kern sich genau in diesem Hiatus oder auch Abgrund bewegt: zwischen dem Erleiden des Menschen und dem Handeln Gottes. Im ›Gottesgeburtszyklus‹ wird dieser Hiatus erstmals Hauptthema. Wie gezeigt, wird die Abhandlung mit der Frage eröffnet, wo der ›Ort‹ der Gottesgeburt sei; darin ist impliziert: wo man Gott finden könne. Die Antwort verweist auf einen raum- und zeitfreien ›Ort‹, das wesen oder den grunt der sêle. Damit ist aber die Frage nach den Bedingungen des Empfangs der Gottesgeburt noch dringlicher gestellt.

Wie ist die Gottesgeburt zu erfahren? Da alle Bewusstseinsvorstellungen von außen durch die Sinne erzeugt werden, kann der Mensch nicht eigentlich wissen, was in seinem Inneren vor sich geht. Trotzdem aber »empfindet die Seelenkraft zwar, dass da etwas ist, aber sie weiß nicht, wie oder was es ist«. 44 Dieses EmpPr. 103; 485,100 f.: In dem selben puncten, sô der geist bereit ist, sô gât got în âne ûfzuc und âne beiten. Pr. 103; 486,196: Ez enist niht dan ein puncte daz ûftuon und daz îngân. 44 Pr. 101; 361,156 f.: wan si [die Seelenkraft] bevindet wol, daz ez ist, und enweiz aber niht, wie noch waz ez ist. 43

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finden, das mit Unwissen einhergeht, erzeugt einerseits ein unruhiges Wissenwollen, andererseits eine Gewissheit von dem unbekannten inneren Vorgang. Aus dieser Gewissheit heraus spricht Paulus: »Ich bin sicher, dass weder Tod noch Mühsal mich von dem trennen können, was ich in mir empfinde« (Röm. 8,58 f.). 45 Eckhart selbst macht sich den Einwand, dass mit dieser Umlenkung der Erfahrung die natürliche Ausrichtung des Bewusstseins umgekehrt würde; denn die allgemein akzeptierte (aristotelische) Auffassung lehre ja, dass nichts im Geiste sein kann, was nicht zuvor in den Sinnen gewesen ist. 46 Doch Eckhart lehnt eine solche empirische Erkenntnistheorie mit Nachdruck ab. Er besteht darauf, dass diese nur der natürlichen Vernunft entspringt, dass der Seelengrund aber der natürlichen Vernunft verborgen bleibe. 47 Die starke Betonung der Unruhe des Suchens deutet darauf hin, dass Eckhart hier von einer erkenntnistheoretischen Verborgenheit spricht, während er in den späten Predigten offenbar eher eine ontologische Verborgenheit meint, einen verborgenen ›Ort‹, der zwar weiterhin der Erkenntnis nicht zugänglich ist, aber in der Ursprungseinheit doch der ›Ort‹ der Gottheit im Seelenfunken oder Bürglein ist. 48 Erst in einer der letzten seiner Predigten, in der ›Armutspredigt‹, nimmt Eckhart auch noch von dieser Bestimmtheit Gottes im Verborgenen der Seele Abstand: Der geistlich Arme hält nicht einmal eine

Pr. 101; 363,174 f.: Ich bin sicher, daz noch tôt noch kein arbeit mich dâ von gescheiden enmac, des ich in mir bevinde. 46 Pr. 101; 364,192–194: Nû möhtest dû sprechen: eyâ, herre, ir wellet der sêle irn natiurlîchen louf umbekêren und wider ir natûre tuon. Ir natûre ist, daz si durch die sinne neme und in bilden. Wellet ir den orden umbekêren? – »Nun könntest du sagen: Ach Herr, Ihr wollt den natürlichen Lauf der Seele umkehren und tun, was gegen ihre Natur ist. Ihre Natur ist, dass sie durch die Sinne und in Erkenntnisbildern aufnimmt. Wollt Ihr diese Ordnung umkehren?« 47 Pr. 101; 365,195–198: Nein! Waz weist dû, waz adels got geleget habe in die natûre, diu noch niht alliu geschriben ensint, mêr: noch verborgen? Wan die von dem adel der sêle schriben, die enwâren noch niht næher komen, dan sie ir natiurlîche vernunft truoc. Sie enwâren nie in den grunt komen. – »Nein! Was weißt du denn, welchen Adel Gott in die Natur gelegt hat! Davon ist noch nicht alles geschrieben, sondern verborgen. Denn die von dem Adel der Seele geschrieben haben, die sind dem noch nicht näher gekommen, als ihre natürliche Vernunft sie getragen hat. Sie waren nie in den Grund gekommen.« 48 Pr. 2; 42,1 f.: Alsô ein und einvaltic ist diz bürgelîn boben alle wîse, dâ von ich iu sage und daz ich meine, in der sêle, […]. – »Dieses Bürglein, von dem ich spreche und das ich meine, ist so eins und einfach über alle Weise in der Seele, […].« 45

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Stätte für Gott bereit. 49 Eckhart vollzieht damit einen Schritt über die reale Ontologie hinaus in eine Erfahrungsweise hinein, über deren Status noch nachzudenken sein wird. Der ›erkenntnistheoretische‹ Status, den Eckhart hier im ›Gottesgeburtszyklus‹ voraussetzt, wird von der Lehre aller vorausgegangenen Meister abgesetzt: »Alle Meister, die je all ihre Wahrheiten mit ihrer eigenen Vernunft und ihrem Verstand gelehrt haben oder sie noch bis zum jüngsten Tag lehren werden, die haben – in diesem Wissen und in diesem Grunde – nicht das Allergeringste verstanden. Obwohl es Unwissen und Unbekanntheit heißt, so enthält es doch mehr in sich als alles Wissen und Erkennen außerhalb dieses [Unwissens].« 50

Unter dem Vorbehalt, dass die Bewusstseinskräfte schweigen, ist also ein Empfinden der Gottesgeburt möglich. »Und darum musst du dich in dieser Weise aller deiner Werke entschlagen, und du musst alle deine Seelenkräfte zum Schweigen bringen, damit du in der Wahrheit diese Geburt empfindest. In dir wirst du den Geborenen finden.« 51 Es ist aber nicht in die Macht des Menschen gegeben, die Gottesgeburt zu empfinden, wenn er es nur will. Gott zeigt sich und verbirgt sich, wie es ihn gut dünkt. Andererseits ist die Wahrnehmung dieser Geburt, die täglich in der Seele geschieht, mit Gott Vater verbunden, dem die Macht zugeeignet wird. Darum setzt sich die Wahrnehmung der Gottesgeburt mit »Macht« (gewalt) durch und bedarf einer gewaltigen Anstrengung. Das Stillsetzen der Bewusstseinskräfte erfordert diese »Gewalt«. 52 Es handelt sich hier um eine Umlenkung des StrePr. 52; ed. Steer, 176,8–17; ed. Quint, 500,3–6. Pr. 101; 366,207–210: Alle die wârheit, die alle meister ie gelêrten mit irer eigen vernunft und verstantnisse oder iemer mê suln biz an den jüngesten tac, die enverstuonden nie daz allerminste in disem wizzenne und in disem grunde. Swie daz ez doch ein unwizzen heize und ein unbekantheit, sô hât ez doch mê inne dan allez wizzen und bekennen ûzwendic disem. 51 Pr. 102; 425,162–164: Und alsus in dirre wîse muost dû abeslahen alliu dîniu werk und muost tuon swîgen alle dîne krefte, solt dû in der wârheit bevinden dirre geburt. In dir solt dû vinden den gebornen. 52 Pr. 104; 566,11–16: Waz eigenschaft hât der vater? Man zelt im zuo den gewalt vür die andern persônen. Alsô enmac niemer kein mensche sicherlîche bevinden dirre geburt noch dar zuo genâhen, ez engeschehe denne mit grôzem gewalt. – »Welche Eigenschaft hat der Vater? Man schreibt ihm mehr als den andern Personen die Macht zu. Und so kann nie ein Mensch diese Geburt sicher erfahren noch ihr nahe kommen, es geschehe denn mit großer Gewalt.« 49 50

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bens, eine Kehre, die nur scheinbar der natürlichen Anlage widerspricht, in Wirklichkeit aber, laut Eckhart, nur die Verbiegung zurücknimmt, die dem Menschen durch Sozialisation und Enkulturation mit Gewalt angetan wird.

Welche Haltungen des Menschen entsprechen der Gottesgeburt? Hier soll untersucht werden, wie sich der Mensch der Gottesgeburt gegenüber verhalten soll. Das ist eigentlich das Hauptthema des ›Gottesgeburtszyklus‹. Die Stichworte Schweigen und Abzug der Bewusstseinskräfte sind schon gefallen. Es gilt aber noch genauer nachzufragen, was diese Haltung für den Menschen, der die Gottesgeburt zu erfahren sucht, impliziert. Wie schon erwähnt, geschieht die Gottesgeburt im wesen und grunt der Seele. Dies kann mit dem augustinischen abditum mentis, dem Verborgenen des Geistes, gleichgesetzt werden; 53 denn Eckhart spielt darauf mit dem Ausdruck »im Verborgensten der Seele« an: »Seht wiederum, wie ich zuvor gesagt habe: Es [das Schweigen und der Ort, da dieses Wort eingesprochen wird] ist in dem Reinsten, das die Seele aufbringen kann, in dem Edelsten, in dem Grunde, ja im wesen der Seele, das heißt im Verborgensten der Seele. Dort ist ›das Mittel Schweigen‹ ; denn dahinein kam nie ein Geschöpf noch eine Vorstellung; und dort hat die Seele weder Wirken noch Verstehen, und dort weiß sie um keine Vorstellung weder von sich selbst noch von einem Geschöpf.« 54

An der Ursprungsstelle55 benennt Augustin damit das Wirken unbewusster Vorstellungen (quaedam notitiae), die dem aktuellen BewusstSiehe auch Guerizoli, Rodrigo: Die Verinnerlichung des Göttlichen, S. 11–16. Pr. 101; 343,38–42: Sehet aber, als ich vor sprach: ez [daz swîgen und diu stat, dâ diz wort îngesprochen wirt] ist in dem lûtersten, daz diu sêle geleisten mac, in dem edelsten, in dem grunde, jâ, in dem wesene der sêle, daz ist in dem verborgensten der sêle. Dâ ist ›daz mittel swîgen‹, wan dar enkam nie crêatûre în noch nie kein bilde, noch diu sêle enhât dâ weder würken noch verstân, noch enweiz dâ umbe kein bilde, weder von ir selber noch von keiner crêatûre. 55 Augustinus, De trinitate XIV 7.9, CCL 50a, S. 433,19–434,1: Hinc admonemur esse nobis in abdito mentis quarundam rerum quasdam notitias, et tunc quodam modo procedere in medium atque in conspectu mentis uelut apertius constitui quando cogitantur. – »So werden wir darauf hingewiesen, dass für uns im Verborgenen des Geistes gewisse 53 54

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haben vorausliegen und die im Denkakt in das Bewusstseinsfeld (in conspectu mentis) hervortreten. Hierauf bezieht sich Eckhart an der vorliegenden Stelle nicht; 56 vielmehr setzt er hier und an weiteren Stellen den inneren ›Ort‹ der Einkehr des Göttlichen mit dem Innersten der Seele bei Augustin gleich. Über den Grund und das wesen der Seele wird hier gesagt: »Gott geht hier in den Grund der Seele ein. Niemand kommt in den Grund der Seele, nur Gott allein. Die Geschöpfe können nicht in den Grund der Seele. Sie müssen draußen bleiben in den Seelenkräften.« 57 Es sei erinnert, dass in Predigt 2, ›Intravit Jesus in quoddam castellum‹, auch Gott vom Einblick und Eingang in den Seelengrund, in das »Bürglein in der Seele«, ausgeschlossen wird, wie im achten Kapitel besprochen. »So wirklich und wahr, wie dass Gott lebt: Gott selbst lugt da [in das Bürglein in der Seele] niemals einen Augenblick hinein, und er hat auch noch nie dahinein gelugt, sofern er sich in einer Bestimmtheit verhält und der Proprietät seiner Personen entsprechend.« 58

In welcher Weise wird nun im ›Gottesgeburtszyklus‹ das angemessene Verhalten des Menschen geschildert? Wenn die Bewusstseinsvermögen hier nichts auszurichten haben, ist der Rat folgerichtig: »Du sollst schweigen, und lass Gott wirken und sprechen.« 59 Damit ist aber immer noch nicht klargestellt, wie der Mensch das Wirken und Sprechen vernehmen kann. Das Schweigen aller Kräfte ist vielmehr nur die unerlässliche Bedingung: »Wenn alle Seelenkräfte von ihren Tätigkeiten und Vorstellungen abgezogen sind, wird dies Wort gesprochen.« 60 Das Hören schätzt Eckhart höher als das Sehen: »Darum sagt ein MeisKenntnisse einiger Dinge sind und dass sie dann irgendwie in die Bewusstseinsmitte hervortreten und sich im Bewusstseinsfeld gleichsam offener errichten, wenn sie gedacht werden.« 56 Vgl. Speer, Andreas: Im Verborgenen des Geistes. 57 Pr. 101; 346,53–55: Got gât hie in den grunt der sêle. Nieman enkumet in den grunt der sêle dan aleine got. Die crêatûren enmügen niht in den grunt der sêle. Sie müezen hie ûze blîben in den kreften. 58 Pr. 2; 43,3–5: Mit guoter wârheit und alsô wærlîche, als daz got lebet! Got selber luoget dâ niemer în einen ougenblik und geluogete noch nie dar în, als verre als er sich habende ist nâch wîse und ûf eigenschaft sîner persônen. Siehe dazu Steer, Georg und Heidemarie Vogl: Die bürgelîn-Predigt Meister Eckharts. 59 Pr. 101; 355,116 f.: dû solt swîgen und lâz got würken und sprechen. 60 Pr. 101; 355,118 f.: Als dâ alle die krefte sint abegezogen von allen irn werken und von allen bilden, alsô wirt diz wort gesprochen. Vgl. Pr. 1; 15,7–9: Sol aber Jêsus reden in der sêle, sô muoz si aleine sîn und muoz selber swîgen, sol si Jêsum hœren reden. –

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ter, dass die Kraft des Hörens viel edler sei als die Kraft des Sehens; denn man lernt durch Hören mehr Weisheit als durch Sehen und lebt darin mehr in der Weisheit.« 61 Der Grund dürfte die Vorrangstellung des Passiven sein, wenn es um die Haltung des Menschen in jenem Tausch62 geht: Wo der Mensch ausgeht, da tritt Gott ein. Das Hören ist eine ausgezeichnete Weise des Empfangens. Welche Weise des Hörens und Empfangens ist aber diesem verborgenen Geschehen gemäß? Eckhart hat ein klares und realistisches Verständnis von der Psychologie der Meditation. Er weiß, dass unsere Sinne und Gedanken zerstreut sind, umherschweifen und schwach und hilflos sind, wenn sie sich nach innen wenden; denn auch dann noch geht die Aufmerksamkeit hier und dort spazieren, je nachdem welches Geräusch oder welche Idee uns gerade ablenkt: »Aber da wir uns von einem auf das andere kehren müssen, darum kann uns nicht eines ohne Behinderung des anderen gegenwärtig sein; denn die Seele ist so an ihre Kräfte gebunden, dass sie mit ihnen [immer] dahin fließt, wohin sie fließen; denn bei allen Tätigkeiten, die die Kräfte verrichten, muss die Seele dabei sein, und zwar mit Aufmerksamkeit, sonst könnten sie nichts ausrichten. Fließt sie nun mit ihrer Aufmerksamkeit zu äußeren Tätigkeiten hin, so muss sie notwendig innen, bei ihren inneren Tätigkeiten, umso schwächer sein.« 63

Zur Meditation der Gottesgeburt ist darum die Sammlung aller Bewusstseinskräfte notwendig:

»Soll aber Jesus in der Seele reden, so muss sie alleine sein und selbst schweigen, um Jesus reden hören zu können.« 61 Pr. 102; 421,135–137: Dar umbe sprichet ein meister, daz diu kraft des hœrennes vil edeler sî dan diu kraft des sehennes, wan man lernet mê wîsheit mit hœrenne dan mit sehenne und lebet hie mê in der wîsheit. 62 RdU c. 4; 197,1–3: Ez ist rehte ein glîch widergelt und glîcher kouf: als vil dû ûzgâst aller dinge, als vil, noch minner noch mêr, gât got în mit allem dem sînen, als dû zemâle ûzgâst in allen dingen des dînen. – »Es ist ein gleichwertiger Austausch und ein gerechter Handel: So weit du ausgehst aus allen Dingen, so weit, nicht weniger und nicht mehr, geht Gott ein mit all dem Seinen, sofern du in allen Dingen dich des Deinen völlig entäußerst.« 63 Pr. 102; 418,106–113: Mêr: wan wir uns kêren müezen von einem ûf daz ander, dar umbe enmac ez niht an uns in einem gesîn âne hindernisse des andern, wan diu sêle ist alsô gar gebunden ze den kreften, daz si mit in hine vliuzet, swar sie hine vliezent, wan in allen den werken, diu sie würkent, dâ muoz diu sêle bî sîn – und mit andâht, oder sie enmöhten ir gewürken mit nihte. Vliuzet si denne mit ir andâht ze ûzerlîchen werken, sô muoz si von nôt inwendic deste krenker sîn an irn inwendigen werken.

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IV. Phnomenologie der Geburt des Wortes in der Seele

»Darum muss die Seele, wenn sie im Innern kräftig wirken will, alle ihre Kräfte wieder heimrufen und aus den versprengten Dingen zum inneren Wirken sammeln.« 64 – »Dazu sammle alle deine Kräfte, alle deine Sinne, all deine Vernunft und dein ganzes Gedächtnis: dies [alles] kehre in den Grund, wo dieser Schatz innen verborgen liegt.« 65

Nun ist aber für die Bewusstseinskräfte im Inneren kein Objekt zu finden, auf das sie sich konzentrieren könnten; denn jede Art von andächtiger Vorstellung, Gebet oder Bußübung ist ja ausgeschlossen, da diese ihrem Wesen nach nicht zur Gottesgeburt führen können. Hier ist ein Unterschied anzumerken, der Eckharts Meditation von anderen, teilweise östlichen Meditationsanweisungen trennt, die auch in die christliche spirituelle Praxis Eingang gefunden haben. Man kann nicht von einer Konzentration auf einen Punkt sprechen, auch nicht von einer Gedankenleere oder einer besonderen Achtsamkeit, wenngleich diese Elemente im Prozess der eckhartschen Meditation nicht ausgeschlossen sein mögen. Vor allem sind alle Arten der Imagination, Visualisierung und Identifikation Eckharts Meditation fremd, seien sie auf Ideale, Energien, Qualitäten gerichtet oder auf Ikonen, Gestalten der Lehre, der Heilsgeschichte oder des Numinosen selbst. Zur Seite gestellt werden damit aber auch die meisten geistlichen und asketischen Bewegungen der neuzeitlichen christlichen Frömmigkeitsgeschichte, der Devotio moderna, der ignatianischen Exerzitien und des Pietismus, das heißt gerade alle Formen der subjektivistischen Erbauung und Innerlichkeit. Welcher Art ist also die Konzentration auf das innere Geschehen der Gottesgeburt? Wieder wird eine Voraussetzung genannt, die mit der Wendung nach innen einhergeht: »Damit dies geschieht, musst du alle Tätigkeiten aufgeben«, dies war die Vorbedingung; aber jetzt wird ein Ziel benannt, das immer noch Bedingungscharakter hat: »und in ein Unwissen kommen, um dies zu finden.« 66 Das Ziel, die Gottes-

64 Pr. 102; 416,82 f.: Her umbe, wil si krefticlîche würken inwendic, sô muoz si wider heim ruofen allen irn kreften und samenen von allen zerspreiten dingen in ein inwendic würken. 65 Pr. 102; 417,94–96: Her zuo samene alle dîne krefte, alle dîne sinne, alle dîne vernunft und allez dîn gehugnisse: daz kêre in den grunt, dâ dirre schatz inne verborgen liget. 66 Pr. 102; 417,95 f.: Sol diz geschehen, sô muost dû allen werken entvallen und komen in ein unwizzen, solt dû diz vinden.

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geburt, wird nicht geschildert; aber das Erleben, das mit der Gottesgeburt einhergeht, wird benannt, es ist ein Unwissen. Über die Art dieses Unwissenheitszustands erfahren wir mehr. Eckhart erwähnt wie in den ›Reden‹ so auch im ›Gottesgeburtszyklus‹ verschiedene existenzielle Verarbeitungsweisen, die die Meditation der Gottesgeburt begleiten. Es ist nicht das verzweifelte faustische Scheitern des Wissenwollens: »Und sehe, dass wir nichts wissen können! Das will mir schier das Herz verbrennen«, 67 sondern eine Stille und ein Schweigen: »Nur in Stille und Schweigen wird dieses Wort gehört werden.« 68 Aber es ist auch eine Finsternis, in die man sich selbst setzen muss, ein Vergessen seiner selbst und aller Geschöpfe. Dieser Entzug des Weltlichen, in dem die Seele verwüstet und sich selbst entfremdet ist, entspricht der inneren Einzigkeit (einicheit); denn nur dort wird das wahre Wort gesprochen.69 Eckhart sagt sogar, dass der Mensch in diesem Unwissen und in dieser Finsternis »in einem reinen Nichts« stehe. 70 Trotzdem ist wiederum keine düstere, selbstquälerische Stimmung gemeint, »denn zu dieser Geburt will und muss Gott eine ledige, unbekümmerte, freie Seele haben.« 71 Mit dem Nichts-Sein des Geschöpfes sind wir genau an dem Eckpunkt des Hiatus, den Eckhart mit der zitierten Bestimmung der Finsternis anspricht. Denn da die Gottesgeburt, das heißt die Seligkeit des Seelengrundes im Bewusstsein nicht direkt erlebbar ist, begibt sich, wer nach der Gottesgeburt, sprich: nach der Seligkeit, fragt, »in ein lauter Nichts«. »Vielmehr, damit Gott göttlich in dir leuchtet, dazu fördert dich dein natürliches Licht überhaupt nicht, sondern es muss zu einem reinen Nichts werden und sich selbst völlig ausgehen. Und dann kann Gott eintreten mit seinem

Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Der Tragödie erster Teil. Szene: ›Studierzimmer. Nacht‹. 68 Pr. 102; 419,122 f.: Ez muoz sîn in einer stille und in einem swîgenne, dâ diz wort sol gehret werden. 69 Pr. 103; 483,68–70: Daz wâre wort der êwicheit wirt aleine gesprochen in der einicheit, dâ der mensche verwüestet und verellendet ist sîn selbes und aller manicvalticheit. – »Das wahre Wort der Ewigkeit wird nur in der Einzigkeit gesprochen, wo der Mensch sich selbst und aller Vielheit gegenüber verwüstet und entfremdet ist.« 70 Pr. 103; 483,81: Sô der mensche alsô stât in einem lûtern nihte, […] – »Wenn der Mensch so in einem reinen Nichts steht, […]« 71 Pr. 102; 418,111 f.: wan ze dirre geburt sô wil got und muoz haben ein ledige, unbekümberte, vrîe sêle. 67

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IV. Phnomenologie der Geburt des Wortes in der Seele

Licht, und er bringt alles das mit sich herein, das du verlassen hast und tausendmal mehr, und dazu eine neue Form, die alles in sich einschließt.« 72

Eckhart spricht von einem Geschehen im Grunde der Seele, einem Geschehen, das vor dem Erleben liegt. Dort geschieht die Gottesgeburt, von dort her strahlt das Licht des beseligenden Geschehens in die Kräfte der Seele; aber nur, wenn das natürliche Licht zu einem reinen Nichts wird. Dann tritt Gott ein. Er bringt alles mit sich, was der Mensch, der sich auf diese Gottesgeburt einstellt, verlassen hat. Das heißt ja, dass im Wesen nichts Anderes den Menschen erfüllt, als was er in seinen natürlichen Lebenserfahrungen hat; das aber soll er verlassen. Es wird sozusagen zurückgeschenkt, jedoch nicht in derselben Gestalt, sondern in einer neuen Form, wie es ausdrücklich heißt, die alles in sich einschließt. Der Lebensstoff wird nicht ein anderer, sondern er bekommt einen neuen Glanz, eine Erhellung. Die eigenen Bewusstseinskräfte des Menschen tragen jedoch zu dieser Erhellung nichts bei. Sie sind auf ein »reines Nichts« reduziert. Jedoch handelt es sich nicht um ein Eintauchen in Unvermögen, Leere, Bedrücktheit. Einen Fingerzeig, wie diese Haltung aussehen kann, entnimmt Eckhart der Belehrung des heiligen Paulus: »›Die Schrift tötet‹, das heißt alle äußeren Übungen, ›aber der Geist macht lebendig‹ (2 Kor. 3,6), das ist das innere Erfahren der Wahrheit. Das sollst du ganz klug wahrnehmen, und was dich am besten dahin stimmt, dem sollst du vor allem folgen. Du sollst ein erhobenes Gemüt haben, nicht ein niedergedrücktes, sondern ein brennendes, und zwar in einer erleidenden schweigenden Stille.« 73

Diese schweigende Ergebenheit ist aber nicht nur eine kontingente psychologisch-ethische Haltung. Sie eröffnet in Wahrheit die Tür zu einer transzendentalen Wesensbestimmung des Menschen: zu seinem ontologischen Bedürfen der Gottesgeburt. Diese geschieht wohl in Pr. 103; 476,27–30: Mêr: sol got götlîche in dir liuhten, dar envürdert dich dîn natiurlich lieht zemâle niht zuo, mêr: ez muoz ze einem lûtern nihte werden und sîn selbes ûzgân zemâle; und danne sô mac got îngân mit sînem liehte und bringet allez daz mit im în, dem dû ûzgegangen bist und tûsentwarbe mê, dar zuo eine niuwe forme, diu al in ir beslozzen hât. 73 Pr. 104; 609,560–570: ›diu geschrift tœtet‹, daz ist alliu ûzerlîchiu üebunge; ›aber der geist machet lebendic‹, daz ist ein innerlich bevinden der wârheit. Des solt dû vil listiclîche war nemen, und waz dich aller næhest dâr zuo vüege, dem solt dû volgen vor allen dingen. Dû solt haben ein ûferhaben gemüete, niht ein niderhangendez, mêr: ein brinnendez, und daz in einer lîdender swîgender stilheit. 72

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14. bung des Lassens und Erfahrung der Gottesgeburt

»Finsternis«. Diese ist aber wiederum nicht eine düstere Stimmung, sondern das Dunkel des Geheimnisses im Grunde. Die Gottesgeburt ist nicht ›sichtbar‹, nicht spürbar, nicht gegenständlich. Sie ist kein Seiendes, sondern Sein. Sie ist kein Erlebnis, sondern das Leben der Seele selbst: »Was ist denn nun diese Finsternis? Wie heißt sie, was ist ihr Name? Ihr Name ist nur ›mögliche Empfänglichkeit‹, der keinerlei Wesen mangelt und nichts fehlt, vielmehr [ist sie] allein eine mögliche Empfänglichkeit, in der du vollendet wirst.«74

Dies ist ein phänomenologisch erstaunlicher und ein erstaunlich reichhaltiger Satz. Die Finsternis des Menschen ist kein Mangel. Die Ohnmacht des Verstandes, Gott zu erkennen, wird demnach nicht als privatio betrachtet, sie ist vielmehr im Wesen Gottes und des Erkenntnisvermögens begründet. Die Abwesenheit Gottes im Bewusstsein und im alltäglichen Wirken des Menschen ist nur die Verborgenheit des Empfangens, die im Gebundensein der Seelenkräfte an ihre jeweiligen Aktivitäten jene Täuschung der Eigenmacht des Menschen und der Abwesenheit Gottes erzeugt. Dem Geschöpf mangelt nicht und niemals das Sein, da dieses – als Gott – immer das Innerste des Geschöpfes ist. 75 Dass das Geschöpf »reines Nichts« ist, gilt nur mit dem Beisatz »an sich« oder »durch sich selbst«. Die Verborgenheit Gottes ist in Wirklichkeit eine Folge jener Vernünftigkeit, die dem Wesen Gottes entspricht. Diese ist eine innere Erfahrung, die kein distanziertes, erkennendes Gegenüber zulässt, sondern sich als Wirkmächtigkeit oder als Vollzug realisiert. Die »mögliche Empfänglichkeit« ist also die Helle, die das sich selbst vollziehende Leben je schon durchwirkt, die freilich für den Verstand unsichtbar bleibt. Es handelt sich nicht um eine ethisch-psychologische Entscheidung zur passiven Aufmerksamkeit, zum Sich-Leermachen, damit Pr. 103; 478,47–49: Waz ist aber daz dünsternisse, wie heizet ez oder waz ist sîn name? Sîn name enist niht anders dan ein mügelich enpfenclicheit, diu zemâle wesennes niht enmangelt noch ouch darbende enist, mêr: aleine ein mügelich enpfenclicheit, in dem dû volbrâht solt werden. 75 Pr. 80; 382,9–383,2: Diu rîcheit gotes diu liget an vünf dingen. Daz êrste: daz er diu êrste sache ist, her umbe ist er ûzgiezende sich in alliu dinc. – Daz ander: daz er einvaltic ist an sînem wesene, her umbe ist er diu innerkeit aller dinge. – »Der Reichtum Gottes liegt an fünf Dingen: Erstens, dass er die erste Ursache ist; darum gießt er sich in alle Dinge. – Zweitens, dass er einfach ist in seinem Wesen; darum ist er das Innerste aller Dinge.« 74

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IV. Phnomenologie der Geburt des Wortes in der Seele

Gott das Herz erfüllen kann. Das Vollendetwerden ist nicht, was in einer linearen Beziehung e m p f a n g e n werden kann, als ob der Gebende und der Empfangende einander gegenüberstünden und die empfangene Gabe das dritte zwischen ihnen wäre. Eckhart spricht hier nicht von »Empfangen«, sondern von »Empfänglichkeit«. Er hat somit weder die Gabe noch den Geber noch den Empfänger im Blick. Solcherlei Intentionen würden sowohl Gott wie den empfangenden ›Seelenteil‹ und auch das Geschehen der Gottesgeburt selbst vergegenständlichen. Das Empfangen der Gottesgeburt wird aufseiten des Menschen jeder Materialität oder jeden Gehalts entkleidet und reduziert auf reine Potenzialität. Das Empfangen und Erfahren (bevinden) der Gottesgeburt wird – in strikt abegescheidenem Sinne – zur reinen Empfängnis. Diese ist die zeitlose Geöffnetheit, Bereitetheit – ›Bereitschaft‹, sofern das psychologische Element des Willensaktes ausgeklammert bleibt. Es ist nicht Gedankenleere, sofern darin der Vorgang des Aussonderns und Freihaltens noch mitgedacht wird, sondern die »Armut des Geistes«, die »nichts will, nichts weiß und nichts hat«. Dies ist der verborgene Nullpunkt der Kehre, in der der Ausgang des Menschen zum Eintritt Gottes wird. Die Gottesgeburt geschieht an einem ›Ort‹, an den die Bewusstseinskräfte nicht hinreichen. Dies ist der transzendentale Bereich der Möglichkeit, der verborgene Wurzelgrund des geistigen Lebens. Eckhart spricht also nicht davon, dass das Bewusstsein abzuschalten wäre, damit sich die Gottesgeburt, vielleicht als das heimliche Großereignis der Erleuchtung im Stillen vollziehen kann, wie wenn die bewusstseinsleere, gegenstandslose Meditation die unerlässliche und notwendige Bedingung der Gottesgeburt wäre. Die Gottesgeburt geschieht auch ohne Meditation, weil sie, ohne dass wir es wissen, gleichsam im Schlaf der Bewusstseinstätigkeit, immer geschieht und immer unser Leben zeugt. Gerade in Abgrenzung von den philosophischen Vorgängern, »die vom Adel der Seele geschrieben haben«, hebt Eckhart hervor, dass die »natürliche Vernunft« den verborgenen Grund bisher noch nicht verstanden hat. »Sie waren nie in den Grund gekommen; deshalb musste ihnen vieles verborgen sein und unbekannt bleiben.« Die Gottesgeburt ist kein Ereignis des kontrollierenden Bewusstseins; sondern: Die Gottesgeburt ist »so verborgen; und darum kam dieses Wort in der Nacht, in der Finsternis der Nacht«, wie es auch das Johannesevangelium bezeugt: »Das Licht leuchtet in der Finsternis. Es kam in sein Eigen, und alle die es empfingen, wurden machtvoll

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Gottes Söhne: ihnen wurde die Macht gegeben, Gottes Söhne zu werden (Joh. 1,5.11 f.).« 76 Der Grund, in dem die Gottesgeburt geschieht, bleibt verborgen: das aber heißt nicht, dass das Licht des Bewusstseins ausgeschaltet ist. Die verborgene Einstrahlung Gottes erzeugt sogar in der Seele ein neues Licht, »denn es ist die Wesensart des Guten, dass es sich ausgießen muss, wo immer es ist.« 77 Dieses Sich-Ergießen meint ein Heraustreten. Das Licht der Gottesgeburt tritt aus dem Grund und wesen in die Kräfte der Seele. In diesem Vorgang werden auch die Bewusstseinsvermögen erleuchtet: »In dieser Geburt ergießt sich Gott mit Licht so in die Seele, dass das Licht im Wesen und Grunde der Seele so stark wird, dass es sich auswirft und überfließt in die Seelenkräfte und sogar in den äußeren Menschen.« 78 Die Wirkung der Gottesgeburt besteht also nicht in einer direkten Umgestaltung des natürlichen Menschen. Das wesen der Gottesgeburt bleibt verborgen. Aber das, was wir psychologisch »das Wesen«, die Wesensart, die Persönlichkeit eines Menschen nennen, erhellt sich – man weiß nicht woher. »Denn sobald Gott den Grund inwendig berührt hat, in demselben Zug wirft sich das Licht in

Pr. 101; 365,195–366,202: Waz weist dû, waz adels got geleget habe in die natûre, diu noch niht alliu geschriben ensint, mêr: noch verborgen? Wan die von dem adel der sêle schriben, die enwâren noch niht næher komen, dan sie ir natiurlîche vernunft truoc. Sie enwâren nie in den grunt komen. Des muoste in vil verborgen sîn und blîben unbekant. Dar umbe sprach der prophête: ›ich wil sitzen und wil swîgen und wil hœren, waz got in mir spreche‹. Wan ez ist sô verborgen und dar umbe kam diz wort in der naht in dem dünsternisse. Dâ von schrîbet sant Johannes: ›daz lieht liuhtet in dem dünsternisse. Ez kam in sîn eigen, und alle die ez enpfiengen, die wurden gewalticlîche gotes süne: in wart gewalt gegeben, gotes süne ze werdenne‹. – »Was weißt du denn, welchen Adel Gott in die Natur gelegt hat! Davon ist noch nicht alles geschrieben, sondern verborgen. Denn die von dem Adel der Seele geschrieben haben, die sind dem noch nicht näher gekommen, als ihre natürliche Vernunft sie getragen hat. Sie waren nie in den Grund gekommen. Darum musste ihnen viel verborgen sein und unbekannt bleiben. Darum sprach der Prophet: ›Ich will sitzen und will schweigen und will hören, was Gott in mir spricht‹ (Klagel. Jer. 3,28 u. Ps. 84,9). Denn es ist so verborgen und darum kam dieses Wort in der Nacht und in der Finsternis. Darum schreibt Sankt Johannes: ›Das Licht leuchtet in der Finsternis. Es kam in sein Eigen, und alle die es empfingen, wurden machtvoll Gottes Söhne: ihnen wurde die Macht gegeben, Gottes Söhne zu werden‹ (Joh. 1,5.11 f.). 77 Pr. 102; 412,33 f.: wan der güete art ist, daz si sich muoz ergiezen, swâ si ist. 78 Pr. 102; 412,34–36: In dirre geburt ergiuzet sich got in die sêle mit liehte alsô, daz daz lieht alsô grôz wirt in dem wesene und in dem grunde der sêle, daz ez sich ûzwirfet und übervliuzet in die krefte und ouch in den ûzern menschen. 76

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IV. Phnomenologie der Geburt des Wortes in der Seele

die Seelenkräfte, und dann versteht der Mensch manchmal mehr, als ihn jemand lehren könnte.« 79 Die Wirkung der Gottesgeburt ist also, dass Einsichten, Erfahrungen und Einfälle ins Bewusstsein hereinbrechen. In dieser frühen Predigt Eckharts klingt es noch so, als sei diese ›Erleuchtung‹ des Geistes ein Ausnahmeereignis, eine Art besonderer Gnadenzustand, eine Begabung mit einer ekstatischen Einsicht, eine Erhebung in den Zustand einer spirituellen Meisterschaft, die der spirituelle Berater, Meister oder Guru bezeugt und authorisiert. Doch dieser Schein trügt. Wie noch ausgeführt werden soll, schildert Eckhart hier sein Verständnis der geistigen Erfahrung schlechthin. Dieses Charakteristikum des Einbruchs der Einsicht nenne ich die »Ciszendenz« (siehe das vierte Kapitel). Dabei soll dieses Wort nicht sagen, dass solche Einsichten, Erfahrungen, Entscheidungen und die sie begleitenden Gefühle aus einem ›Jenseits‹ hereinbrechen. Sie spielen sich im Diesseits, in unserer natürlichen Erfahrung ab, haben aber den Charakter des Ankommens, des Überraschenden, Ungeplanten. Eckhart lehrt also wohl eine Erleuchtung des empirisch irdischen Menschen: »Dieses Licht kann der Mensch wohl wahrnehmen.« 80 Er sagt aber nichts darüber, ob es sich hier um eine ›mystische‹ Erfahrung handelt oder um ein inwendiges Erhobensein, das das alltägliche Gewahrsein durchlichtet und von innen her leitet, aus dem Ergriffensein vom Guten. Er kennt beide Erfahrungsweisen. Die mystische wird hier repräsentiert durch den heiligen Paulus im Damaskuserlebnis seiner Bekehrung und seiner Erhebung in den dritten Himmel (die Eckhart in eins nimmt): »So geschah es dem heiligen Paulus, als ihn Gott unterwegs mit seinem Licht berührte und zu ihm sprach. Ein Widerschein des Lichtes erschien außen, sodass seine Gefährten es sahen, und es umfing Paulus.« 81 Dies ist das Beispiel dafür, dass das Licht, das aus der Gottesgeburt fließt, auch den äußeren Menschen bis hin zur Verklärung des Leibes erleuchtet. Die nicht-mystischen Modelle für die Durchstrahlung des alltäglichen Lebens sind die biblische Martha und

Pr. 102; 414,62–64: Wan alzehant sô got den grunt gerüeret inwendic, mit der vart sô wirfet sich daz lieht in die krefte und kan der mensche mê underwîlen, dan in ieman gelêren mac. 80 Pr. 102; 413,45: Dises liehtes wirt der mensche wol gewar. 81 Pr. 102; 412,36 f.: Alsô geschah sant Paulô, dô in got ruorte mit sînem liehte ûf dem wege und im zuosprach. Ein glîchnisse des liehtes erschein ûzwendic, daz ez sîne gesellen sâhen, und umbevienc Paulum. 79

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die heilige Elisabeth 82 . Mit breiterem Zuschnitt sagt Eckhart hier im ›Gottesgeburtszyklus‹ : »Dieses Licht kann der Mensch wohl wahrnehmen. Wenn er sich zu Gott kehrt, schimmert und glänzt in ihm sogleich ein Licht und gibt ihm zu erkennen, was er tun und lassen soll, und viele gute Hinweise, von denen er zuvor nichts wusste und die er noch nie verstanden hatte.« 83

Die Diskussion, wie Eckhart zu mystischen Erfahrungen steht und ob er nur auf eine vernünftige Philosophie des Christentums aus ist, könnte unter anderem aus solchen Beispielen Gewinn ziehen. Entscheidend und grundlegend für eine solche Diskussion ist aber festzuhalten, dass diese (mystischen) Erleuchtungserfahrungen für Eckhart nicht selbst die Gottesgeburt in der Seele sind, sondern ›nur‹ deren Ausstrahlung. Sie treten freilich nur in einem abegescheidenen Menschen auf, der den Eigenwillen und die weltlichen Bindungen gelassen hat. Empfangen wird die (mittelbare) Erleuchtung; die Gottesgeburt selbst ist ein ontologisches, nicht empfangbares Ereignis. Der Mensch ist auf sie durch die potenzielle ›transzendentale‹ Empfänglichkeit hingeordnet. Darum ist die Gottesgeburt auch dem Sünder zugesagt, da sie ontologisch immer und allezeit präsent ist. Allerdings kann sich im Sünder die potenzielle Empfänglichkeit nicht in ein Empfangen der Erleuchtung und Gnade wandeln, solange er an sich selbst und die Sünde gefesselt ist. »Weil dieses Licht im Sünder nicht scheinen und nicht leuchten kann, ist es unmöglich, dass diese Geburt in ihm geschehen könnte. Diese Geburt kann nicht mit der Finsternis der Sünden zusammen bestehen. Gleichwohl geschieht sie nicht in den Seelenkräften, sondern im Wesen und Grunde der Seele.« 84 Die Gottesgeburt ist ein transzendentales Ereignis; aber dieses wird nur ciszendental, in der Empfängnis gegenwärtig.

Zur Martha-Predigt Eckharts siehe unten Kap. 16. Vgl. Steer, Georg: »Freund, steige höher hinauf!«; Mieth, Dietmar: Predigt 86: ›Intravit Jesus in quoddam castellum‹. 83 Pr. 102; 413,45–48: Dises liehtes wirt der mensche wol gewar. Swenne er sich ze gote kêret, alzehant glestet und glenzet in im ein lieht und gibet im ze erkennenne, waz er tuon und lâzen sol und vil guoter anewîsunge, dâ er vor niht abe enweste noch enverstuont. 84 Pr. 102; 415,65–68: Sehet, umbe daz diz lieht niht schînen noch liuhten enmac in dem sünder, dar umbe ist daz unmügelich, daz disiu geburt in im geschehen müge. Disiu geburt enmac niht bestân mit vinsternisse der sünden, aleine si doch niht engeschihet in den kreften, sunder in dem wesene und in dem grunde der sêle. 82

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IV. Phnomenologie der Geburt des Wortes in der Seele

Der Mensch also, der die Ausstrahlung der Gottesgeburt in sich wahrnehmen will, bleibt offen in seiner Haltung der potenziellen Empfänglichkeit und ist sich seines Unwissens bewusst. Sein Erkenntnisvermögen verharrt in einer »unerkannten Erkenntnis«. Der fiktive Gesprächspartner Eckharts fragt eigens, wie diese Untätigkeit der Bewusstseinsakte zu verstehen sei. Soll er sich das Unmögliche vornehmen und sich in eine »unerkannte Erkenntnis« (unbekantes bekantnisse) erheben? »Soll ich denn ganz und gar in einer Finsternis verharren?« Eckharts Antwort: »Ja, sicher! Du kannst niemals besser gestellt sein, als dass du dich völlig in eine Finsternis und ein Unwissen begibst.« Die letzte Nachfrage des Gesprächspartners: »Ach, Herre, muss denn alles weg? Kann es kein Zurück geben?« – Eckhart: »Nein, wirklich, da kann es kein Zurück geben.« 85 Es ist ein zunächst unlösbares Paradox zu hören, dass der Mensch sich in diese ausweglose Unwissenheit begeben soll, ja sogar »in ein reines Nichts«, dass er aber zugleich »ein erhobenes Gemüt haben soll, nicht ein niedergedrücktes, sondern ein brennendes, und zwar in einer passiv-schweigenden Stille« 86 . Es ist jedoch zu beachten, dass die unwissende und unwillentliche Offenheit aus einer Haltung der Zuversicht und Freude entspringt. Es handelt sich um ein aufgeklärtes, nicht um ein dumpfes Unwissen, wie Eckhart versichert: »Auch soll dieses Unwissen nicht aus Unwissen hervorgehen, sondern man soll vom Wissen ins Unwissen kommen. Dann werden wir mit dem göttlichen Wissen wissend werden und dann wird unser Unwissen mit dem übernatürlichen Wissen geadelt und geziert. Und darin, dass wir uns passiv halten, sind wir vollkommener, als wenn wir wirkten.« 87

Pr. 103; 478,40–46: Ist diz diu næhste wîse, daz ich erhebe mîn gemüete in ein unbekantez bekantnisse, daz doch niht sîn enmac? Wan bekente ich iht, daz enwære niht ein unbekantnisse noch enwære niht ledic und blôz. Sol ich denne zemâle stân in einem dünsternisse? – Jâ, sicherlîche! Dû enkanst niemer baz gestân, dan daz dû dich zemâle setzest in ein dünsternisse und in ein unwizzen. – Ach, herre, muoz ez allez abe, enmac dâ kein widerkêren sîn? – Nein, entriuwen, dâ enmac kein widerkêren sîn. 86 Pr. 104; 609,567–570: Dû solt haben ein ûferhaben gemüete, niht ein niderhangendez, mêr: ein brinnendez, und daz in einer lîdender swîgender stilheit. 87 Pr. 102; 420,131–134: Noch diz unwizzen ensol niht komen von unwizzenne, mêr: von wizzenne sol man komen in ein unwizzen. Danne suln wir werden wizzende mit dem götlîchen wizzenne und danne wirt geadelt und gezieret unser unwizzen mit dem übernatiurlîchen wizzenne. Und hie in disem, dâ wir uns halten lîdende, dâ sîn wir volkomener, dan ob wir würhten. 85

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Oder mit einfacheren Worten: »Wo man nichts weiß, da zeigt und offenbart es sich.« 88 Phänomenologisch ist hier interessant, dass nicht vom Erkennen als einer aktiven Kraft gesprochen wird, sondern vom Erscheinen und der Selbstoffenbarung Gottes.

Was tut Gott in der Gottesgeburt? Wenn also der Mensch in seinem Bewusstsein zur Geburt des Wortes nichts Hinreichendes beitragen kann, muss die Aktivität wohl bei Gott liegen. Die Ausführungen hierzu sind nicht umfangreich, da der ›Gottesgeburtszyklus‹ insgesamt das Verhalten des Menschen in den Vordergrund rückt. Allgemein hören wir immer wieder, dass Gott wirkt. In der vierten Predigt wird etwas deutlicher gesagt, wie Gott wirkt. Die Initialfrage ist, ob die Gottesgeburt »ohne Unterlass« geschehe oder nur dann, wenn der Mensch sich darauf konzentriert und mit aller Kraft versucht, alles zu vergessen und sich ganz in diesem Vergessen zu wissen. 89 In den vorausgegangenen Überlegungen ist schon deutlich geworden, dass die Gottesgeburt als ontologischer Vorgang zeitlos, »ohne Unterlass«, geschieht. So präzisiert sich die Frage jetzt darauf, wie sich von Gottes Wirken her der Unterschied erklärt, dass der Mensch mit seiner Einsicht wirkt und dass andererseits Gott wirkt. Maßgeblich zur Beantwortung ist Eckharts Lehre vom intellectus agens, der aktiven Form des Intellekts. Dieser steht dem intellectus possibilis oder passibilis gegenüber. Das ist die Möglichkeit des Erkennens, die auch »passiver« oder »leidender Intellekt« heißt. Im Erkenntnisakt verarbeitet der Intellekt die Sinneseindrücke, zum Beispiel abstrahiert er, löst die Zufälligkeiten ab und übergibt dem möglichen oder leidenden ›Teil‹ des Intellekts die Begriffe. Eckhart bringt diese Funktionen der Erkenntnis mit Gottes Handeln in Verbindung. Er unterscheidet zweierlei Wirkweisen:

Pr. 102; 419,125: Dâ man niht enweiz, dâ wîset ez sich und offenbâret ez sich. Vgl. Pr. 101; 364,182 f.: Ez birget sich und wîset sich doch. – »Es verbirgt sich und zeigt sich doch.« 89 Pr. 104; 568,31–38: Nû vellet ein vrâge în von der geburt, dâ wir von gesprochen hân, ob si geschehe âne underlâz oder underwîlen, sô sich der mensche dar zuo vüeget und alle sîne maht dar zuo tuot, daz er aller dinge vergezze und sich aleine hie inne wizze. 88

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IV. Phnomenologie der Geburt des Wortes in der Seele

»Das eine hat er [der Geist] in seinem Wirken, wenn der Geist selbst das Werk vollbringt. Das andere hat er im Erleiden, und zwar wenn Gott das Werk übernimmt; dann soll und muss sich der Geist still halten und Gott wirken lassen.« 90

Es ist bemerkt worden, dass Eckhart kein besonderes Interesse an der Lehre vom intellectus agens zeige. 91 Hingegen sei das erleidende Vermögen, in das hinein Gott wirkt, für Eckhart sehr wichtig. Es sei aber betont, dass in den späten deutschen Predigten die kraft der Vernunft, das heißt die Vernunfttätigkeit der Seele, im Ganzen zurücktritt. Es könnte sein, dass Eckhart die Unterscheidung der Zustände des Intellekts später für seine Spekulation nicht mehr braucht. Das könnte damit zusammenhängen, dass Eckhart dort auch das würken gotes (actus), das heißt Erkennen und Lieben Gottes, auf den Grund und das einzig eine Wesen hin überschreitet, ähnlich wie hier im ›Gottesgeburtszyklus‹ das Wirken der krefte gegenüber dem Grund der Seele zurücktritt. 92 Die würkende vernunft ist stets bereit zu wirken, wo immer sie kann. Auch die Frömmigkeitsübungen, in denen das Weltliche zu Gottes Lob und Ehre zurückbezogen wird auf seinen Ursprung, stehen noch in ihrer Macht, das heißt, sie sind menschliches Tun. Die mügelîche, das heißt passive Vernunft hingegen steht allzeit bereit, damit das erfolgt, was Gott wirken und der Geist erleiden, das heißt empfangen kann. 93 Die Lehre vom intellectus agens und intellectus possibilis wird nun auf die spezifische Frage des ›Gottesgeburtszyklus‹ zurückgebogen. Wie kann die Stille, die zur Erfahrung der Gottesgeburt notwendig ist, wirksam werden, ja kann sie überhaupt hinreichend sein? Denn immerzu, solange der Mensch vernünftig und willengeleitet ist – und das ist er, solange er lebt –, treten Bilder und Vorstellungen im Bewusstsein bzw. in der Seele auf. 94 Auf diese Frage hatten die vorausPr. 104; 571,64–68: Einez hât er in einem würkenne, daz ist, sô der geist selber des werkes pfliget. Daz ander hât er in einem lîdenne, daz ist, sô sich got des werkes underwindet, sô sol und muoz sich der geist stille halten und got lâzen würken. 91 Vgl. Siller, Rolf, Zur Ermöglichung von Freiheit bei Meister Eckhart; Mojsisch, Burkhard: Meister Eckhart. Analogie, Univozität und Einheit, S. 35; Largier, Niklaus: ›Intellectus in deum ascensus‹, bes. S. 435 f. 92 Das gilt ausdrücklich für die Predigten 2, 52 und 109, ex silentio auch für die Predigten 14 und 15. 93 Pr. 104; 572,68–73. 94 Pr. 104; 584,210–221: Nû möhtest dû sprechen: ach, herre, waz sol ez denne sîn mit dem stilleswîgenne, von dem ir uns sô vil gesaget hât? Wan hie zuo gehœrent vil bilde, wan ein ieglich werk muoz geschehen in sînem eigenen bilde, ez sîn inwendigiu oder 90

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gehenden Texte nur geantwortet, das Wissen münde im Schweigen, im Dunkel, in der Wüste. Die mögliche Empfänglichkeit sei die alleinige Auszeichnung, die dem Menschen an diesem Punkt bleibt, und darüber hinaus keinerlei aktives Wissen oder Tun. Dieser Standpunkt wird durch die folgende Antwort nicht verlassen; denn auch das Wirken Gottes, über das im Folgenden eine Aussage gemacht wird, bleibt dem menschlichen Bewusstsein direkt unzugänglich, wohl aber kann es wiederum eine Ausstrahlung aus diesem Zentrum in die Peripherie der Seelenkräfte geben. Es wird in Erinnerung gebracht, was die würkende vernunft leistet. Sie erzeugt die Vorstellung, indem sie die Sinneswahrnehmung aus dem Verhaftetsein an die Materie, an Raum und Zeit befreit. Diese Umwandlung ist die Erzeugung der Idee (des Begriffs) in der empfangenden, lidenden vernunft, die vom intellectus agens schwanger wird. 95 Dieses Modell wird nun benützt, um die Gottesgeburt zu verstehen. Gott gebiert sich selber in die »erleidende Vernunft«, indem er sich an die Stelle der »wirkenden Vernunft« setzt: »Seht, alles, was die wirkende Vernunft an einem natürlichen Menschen tut, dasselbe und viel mehr tut Gott an einem abgeschiedenen Menschen. Er nimmt ihm die wirkende Vernunft ab und setzt sich selber an deren Stelle und wirkt da alles das, was die wirkende Vernunft wirken würde. Ja, immer wenn der Mensch sich dann zu etwas aufmacht und die wirkende Vernunft in ihm aktiv wird, so muss Gott notwendig das Werk übernehmen und muss ûzwendigiu werk, ez sî, daz ich disen lêre oder den trœste und diz und daz berihte. Waz stille mac ich dâ gehaben? Wan sô diu vernunft bekennet und bildet und daz der wille wil und denne daz gehugnisse sich dar ane heftet, ensint diz niht allez bilde? – »Nun könntest du sagen: Ach, Herr, was soll denn mit dem Stillschweigen sein, von dem ihr uns so viel gesprochen habt? Denn hierzu [zu den Tugendwerken] gehören viele Vorstellungen; denn ein jegliches Handeln muss in seiner eigenen Vorstellung geschehen, sei es ein inwendiger oder ein äußerer Akt, sei es, dass ich jemand belehre oder tröste oder dies und das richtig stelle. Welche Stille kann ich dabei halten? Denn wenn die Vernunft erkennt und vorstellt, was der Wille will, und wenn das Gedächtnis sich daran heftet, sind das nicht alles Vorstellungen?« 95 Pr. 104; 585,224–232: Diu würkende vernunft houwet diu bilde abe von den ûzern dingen und entkleidet sie von materie und von zuovalle und setzet sie in die lîdende vernunft, und diu gebirt ir geistlîchiu bilde in sie. Und sô diu lîdende vernunft von der würkenden swanger worden ist, sô behebet und bekennet si diu dinc mit helfe der würkenden vernunft. – »Die wirkende Vernunft trennt die Bilder von den äußeren Dingen ab und entkleidet sie von Materie und Akzidenzien und versetzt sie in die erleidende Vernunft, und die gebiert ihre geistigen Vorstellungen in sie. Und wenn die erleidende Vernunft von der wirkenden Vernunft schwanger geworden ist, so behält und erkennt sie die Dinge mithilfe der wirkenden Vernunft.«

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IV. Phnomenologie der Geburt des Wortes in der Seele

dort selbst der Werkmeister sein und sich selbst in die erleidende Vernunft gebären.« 96

Diese Zeilen sind eine Charakterisierung der Geburt des Wortes Gottes in der Terminologie der mittelalterlichen Intellektlehre. Im folgenden Kapitel wird darzustellen sein, inwiefern in diesen Konzepten Phänomene der Selbsterfahrung wiedergefunden werden können. Sicher stellt Eckharts Lehre in den besprochenen Frühschriften keine moderne Psychologie vor, schon gar nicht gemäß deren modernem naturwissenschaftlichen Selbstverständnis. Aber in einem phänomenologischen Sinne setzt Eckhart hier bei psychischen Einstellungen und Verhaltensweisen an, skizziert sie kurz, um von ihnen wegzulenken. Wie er die Gottesgeburt selbst von der Ebene der seelischen Erlebnisse, das heißt von den Tätigkeiten der Seelenkräfte in deren transzendentalen Grund verlegt, so verlagert sich in den Frühschriften auch das Zentrum der Erfahrung weg von der Psychologie des Erlebens hin zu einer Haltung der gegenstandslosen ›Bereitschaft‹ zu einer Gegenwärtigkeit oder einem Gewärtigen, ohne auf etwas zu warten, zu einer Aufmerksamkeit für Erfahrungen, die aus dem ›Unbewussten‹ heraufsteigen. Eine spirituelle, psychologische, experimentelle 97 Transzendenz (bzw. ein Transzendieren) kann es nur geben, wenn weltliche Erkenntnis zu ihren vorempirischen Prinzipien aufsteigen könnte, das heißt, wenn sie sich ihrer jenseitigen, höheren oder tieferen Dimensionalität vergewissern könnte. Das ist der Weg der sogenannten Gottesbeweise. Diesen Weg beschreitet Eckhart in seinem ganzen Werk nicht, und im ›Gottesgeburtszyklus‹ schließt er dessen Gangbarkeit ausdrücklich aus. Es führt kein Weg von der Tätigkeit der Seelenkräfte zur Erfahrung des Grundes oder wesens. Aber es gibt umgekehrt eine Erleuchtung und Umformung der Seelenkräfte aus einem unbekannten Grund, in einem unbewussten Geschehen. Die Psychologie der Einstellung und Haltung hat ihren Platz in der Vorbereitung des Ereignisses der Gottesgeburt, das heißt in der Einübung des Schweigens und im Zur-Ruhe-Bringen Pr. 104; 587,236–247: Sehet, allez daz diu würkende vernunft tuot an einem natiurlîchen menschen, daz selbe und verre mê tuot got an einem abegescheiden menschen. Er nimet im abe die würkende vernunft und setzet sich selber an ir stat wider und würket selber dâ allez daz, daz diu würkende vernunft solte würken. Eyâ, swenne sich der mensche zemâle müeziget und diu würkende vernunft an im gesîget, sô muoz sich got von nôt des werkes underwinden und muoz selber dâ werkmeister sîn und sich selber gebern in die lîdende vernunft. 97 Im Sinne der cognitio dei experimentalis (Bonaventura, In Sent. 3, d. 35, a. 1, q. 1). 96

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14. bung des Lassens und Erfahrung der Gottesgeburt

des Bewusstseins, sowie im Nachhinein in der existenziellen Durcharbeitung der »Erleuchtung«. Die Frucht der Gottesgeburt wird nicht in einem Hinübersteigen (Transzendenz), sondern in deren Herüberkommen (Ciszendenz) erfahren. Den ciszendentalen Vollzug versuche ich in der folgenden Allegorie zu charakterisieren: »Ein mystisches oder spirituelles Ereignis ist wie ein Apfel an einem Zweig, der über eine hohe Mauer in meinen Garten herüberwächst. Die transzendentale Fragestellung erforscht, wie es möglich ist, dass mir dieser Apfel zuwächst, und postuliert oder erforscht den jenseitigen Stamm und Wurzelgrund. Die ciszendentale Kontemplation leugnet die transzendentale Reflexion nicht, sondern kehrt nur deren Blickrichtung um. Sie lässt den jenseitigen Wurzelgrund jenseitig sein und vergegenwärtigt sich der köstlichen Frucht, die nicht auf meinem Boden gewachsen ist, die mir jedoch ohne mein Zutun zusteht, wenn ich sie ernte. Freilich kann sich auch einer darauf beschränken, den Apfel zu essen oder biochemisch zu untersuchen. Die ciszendentale Sichtweise lässt die Ursprungsforscher und die Pragmatiker ihr Werk tun. Sie setzt der Eroberung des Apfels lediglich einen kontemplativen Vorbehalt voraus und fügt ihr ein Moment der Dankbarkeit hinzu.« 98

Die vorausgegangenen Überlegungen sollen Eckharts Position in den Frühschriften kennzeichnen. Dabei ist festzuhalten, dass die Fragestellung einen spezifischen Gesichtspunkt hat: Wie verhält sich der Mensch angemessen zur Einwohnung Gottes in der Seele, oder wie spiegelt sich diese Einwohnung im Menschen? In den Spätschriften wird die ›ontologische‹ Struktur der Gottesgeburt sowie die Lehre von der Einheit in Gott im Vordergrund stehen, wie im achten Kapitel ausgeführt wurde. Diese ontologischen und theologischen Erörterungen knüpfen aber an die Selbsterfahrung des Menschen an. Darauf geht das folgende Kapitel ein.

Witte, Karl Heinz: Eine ciszendentale Interpretation der Individualpsychologie Alfred Adlers, S. 95.

98

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Fnfzehntes Kapitel Gottesgeburt

Das vorausgehende Kapitel, das sich stark an den Frühschriften ›Reden der Unterscheidung‹ und ›Gottesgeburtszyklus‹ orientiert hat, behandelt vor allem die Möglichkeit der Erfahrung Gottes in der Seele. Es wurden die Grundlinien der Lebenshaltung und Eckharts Ausführungen über das Wirken Gottes dargestellt. Das Thema ist damit aber noch nicht erschöpft. In Eckharts Lehre von der Gottesgeburt ist nämlich eine Auffassung vom menschlichen Bewusstsein, von Selbstsein, Weltund Gotteserfahrung impliziert, die noch eindringlicher im Blick auf das moderne Selbstverständnis ausgelegt werden kann. So richtet sich die Untersuchung nochmals auf den ›Gottesgeburtszyklus‹, diesmal von einem allgemeineren existenziellen Standpunkt aus.

Die phnomenale Ausgestaltung der eckhartschen Gottesgeburtslehre »Gottesgeburt in der Seele« ist eine Metapher, die heutzutage kaum ihren Sinn enthüllt. Das aufgeklärte Publikum weiß nicht, was ›Gott‹ noch was ›Seele‹ bedeuten soll, noch ist Geburt ein vertrautes Bild für Ereignisse unseres erwachsenen Lebens, für Gedanken, Gefühle oder Einfälle und Entscheidungen. Im psychologischen Zeitalter ist man versucht, statt Seele ›Bewusstsein‹ einzusetzen. Damit werden die Probleme aber nicht geringer. Schließt dies etwa auch das ›Unbewusste‹ ein? Das Bewusstsein und vor allem das Unbewusste sind nicht einfach als Ort oder Instanz zu verstehen, sondern als Sammelbegriff für innere Bewegungen, die unser Erleben und Verhalten einfärben, ohne dass wir davon wissen. So ist zum Beispiel das Gehen keineswegs bloß eine physikalische Fortbewegung oder ein orthopädisches Sehnen-, Muskel- und Knochenarrangement, das vom Nervensystem gesteuert wird, sondern Ge364 https://doi.org/10.5771/9783495860649 .

15. Gottesgeburt

hen ist auch ein Bewusstseins- oder besser ein seelischer Vorgang. Für den modernen sportkundigen Zeitgenossen ist das am ehesten einleuchtend, wenn er an das mentale Training der Leistungssportler denkt. Die ›bewusste‹ Korrektur der Haltung hin zu einem trittfesten Schreiten erhobenen Hauptes kann eine emotionale Umstimmung ›bewirken‹. ›Bewirken‹ sagt der technisch zweckrationale Zeitgeist. Für das Erleben aber sind die ›äußere‹ und die ›innere‹ Haltung des Erhoben-Seins eins: Das aufrechte Schreiten ist eine Erscheinungsweise des gehobenen Gemüts. So können der Gemütszustand und damit die Haltung umgekehrt auch dem Bewusstwerden vorausgehen, und so ist es meistens. Das Gestimmtsein tönt unsere Lebenshaltung und unser Erleben mit verschiedenen Färbungen ein, und oftmals merken wir es gar nicht oder erst im Nachhinein. Wenn also in unserer ›Seele‹ eine neue Gestimmtheit aufgeht, kann man dies eine ›Neugeburt‹ nennen. Die Vergleichsmöglichkeit ist darin begründet, dass dieser zweite Zustand etwas Neues ist, etwas Eigenständiges, das irgendwie in uns entsteht, aber nicht direkt gemacht, sondern in uns entzündet und ausgetragen wird. Auch hat dieser neue Gemütszustand in gewisser Weise ein Eigenleben, das wir hegen und pflegen können, das sich jedoch für uns überraschend entwickeln und sich verändern kann und uns nicht selten auch wieder verlässt, ohne dass wir es verhindern können. Damit diese Geburts-Metapher uns näherkommt, können wir an eine ›Idee‹ denken, die sich in uns einnistet und hervorgebracht werden will, sei es ein Kunstwerk, ein Plan, eine neue Liebe, eine Einsicht, die das Leben verändert, ob wir sie freudig begrüßen oder uns dagegen sträuben. Oft ist es auch ein sehr konkretes Erleben, etwas Plötzliches, das aus verschiedensten Ebenen kommt. Es sind die vielen ›kleinen‹ Dinge des Lebens, die plötzlich in einem neuen Licht erscheinen, wenn man offen ist, den Gemütszustand verändern und erheben, immer wieder, immer wieder. Diese sind auch viel verlässlicher als jene, bei denen wir uns ›wahnsinnig anstrengen‹ und nach dem ›Sieg‹ eine Hochstimmung erwarten. Wenn wir uns demnach die ›Gottesgeburt‹ oder die Geburt des Wortes in der Seele in unsere zeitgenössischen Erfahrungsmuster übersetzen wollen, so können wir an diesen Bereich der Stimmungen und Haltungen denken, die vorwiegend unbewusst sind, aber das Gefühl, die Laune, ja sogar die Kreativität und das problemlösende Denken zu beflügeln oder zu hemmen vermögen. Dabei ist natürlich zu beachten, dass diese konkreten Erlebnisse nicht die Gottesgeburt selbst 365 https://doi.org/10.5771/9783495860649 .

IV. Phnomenologie der Geburt des Wortes in der Seele

sind. Diese ist im ontologisch transzendentalen Bereich angesiedelt, in der Möglichkeit der Erfahrung selbst. Das konkrete Erleben der Stimmungen, Befindlichkeiten und Einfälle ist sozusagen eine Spiegelung der inneren Geburt. Wenn diese transzendental genannt werden kann, als Bedingung der Möglichkeit des Empfindens, so ist das konkrete Empfinden und Erleben durch eine ›ciszendentale‹ Ankünftigkeit gekennzeichnet.

Das Aufbegehren, die natrliche Strebekraft des Menschen Peter Sloterdijk hat in seinem Buch ›Zorn und Zeit‹ 1 in einem hellsichtigen geschichtlichen Durchblick die lebens- und gesellschaftsbestimmende Kraft des thymós (nach Sloterdijk »Beherztheit«, ursprünglich »Zorn«) ins Licht gerückt. Diesem Affekt habe die abendländische politisch-psychologische Theorie seiner Meinung nach zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Die mittelalterliche Psychologie kennt diese Seelenkraft noch unter dem Namen vis irascibilis, so auch Eckhart. Deutsch nennt er sie die tzornege craft. Sie führe »ständig einen Krieg und Zorn gegen das Böse«. 2 An anderer Stelle nennt er sie »Zürnerin, das ist die aufbegehrende (ûfkriegende) Kraft«. 3 In Verbindung mit der Gnade sei sie die göttliche Tugend der Hoffnung. Mit der Verbindung von Gnade und menschlichen Seelenkräften bietet Eckhart ein Stück psychologischer Phänomenologie, das als ein Sprungbrett zu einer phänomenologischen Auslegung seiner metaphysisch-theologischen Lehre dienen kann. Eckhart spricht davon, wie die Gnade die gewöhnlichen Seelenkräfte veredelt. »Die Wirkung der Gnade ist, dass sie die Seele schnell und bereit macht zu allen göttlichen Werken; denn die Gnade fließt aus der göttlichen Quelle und ist ein Gleichnis Gottes und schmeckt wie Gott und macht die Seele Gott gleich. Wenn sich eben diese Gnade und dieser Geschmack in den Willen wirft, dann heißt dies Liebe; und wenn sich die Gnade und der Geschmack in die Verstandeskraft wirft, dann heißt dies ein Licht des Glaubens; und wenn 1 2 3

Sloterdijk, Peter: Zorn und Zeit. Pr. 14; 231,2–4: alwege eynen kreich inde eynen tzornicheit weder dat boesse. Pr. 33; 153,3–4: zürnerîn, daz ist diu ûfkriegende kraft.

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15. Gottesgeburt

sich die nämliche Gnade und der Geschmack in die Zürnerin, das ist die aufbegehrende Kraft, wirft, dann heißt dies Hoffnung. Darum heißen sie [Glaube, Hoffnung und Liebe] göttliche Tugenden, weil sie göttliche Werke in der Seele wirken, so wie man an der Kraft der Sonne erkennen kann, dass sie belebende Werke auf der Erde wirkt, denn sie macht alle Dinge lebendig und erhält sie in ihrem Sein. Verginge dieses Licht, so vergingen alle Dinge [und sie würden so], wie da sie nicht waren. Ganz so ist es in der Seele: Wo die Gnade ist und die Liebe, da sind dem Menschen alle göttlichen Werke leicht zu tun, und es ist ein sicheres Zeichen, dass da, wo es einem Menschen schwer fällt, göttliche Werke zu tun, keine Gnade darin ist.« 4

Wieder legt Eckhart seine Gedanken in klassisch theologischer Sprache vor. Der Thematik und dem Duktus nach könnte es sich um eine Predigt aus der allgemeinen Seelsorge handeln, vielleicht aus früherer Zeit. 5 Entsprechend der Gesamtintention dieses Buches soll wiederum versucht werden, für die theologischen Begriffe einen phänomenologisch-psychologischen Anhalt zu finden. Was dieses ›erleichternde‹ Etwas ist, das »Gnade« heißt und die Seele schnell und bereit zu guten Werken macht, lässt sich an den Wirkungen der »aufbegehrenden Kraft«, der vis irascibilis, erläutern. Eckhart sagt, wie jedem Sinnesorgan eine eigentliche Aufgabe zukomme, den Augen das Sehen, den Ohren das Hören, so sei es der Seele insgesamt eigen, unaufhörlich aufwärts zu streben. 6 Eckhart sagt weiter, die »zornige Kraft« hege stets einen Krieg und Zorn gegen das Schlechte; aber der Zorn blende Pr. 33; 152,4–154,3: Der gnâde werk ist, daz si die sêle snel machet und gevüege ze allen götlîchen werken, wan diu gnâde vliuzet ûz dem götlîchen brunnen und ist ein glîchnisse gotes und smacket als got und machet die sêle gote glîch. Swenne sich diu selbe gnâde und der smak wirfet in den willen, sô heizet ez ein minne; und swenne sich diu gnâde und der smak wirfet in die redelîche kraft, sô heizet ez ein lieht des glouben; und swenne sich diu selbe gnâde und smak wirfet in die zürnerîn, daz ist diu ûfkriegende kraft, sô heizet ez ein hoffenunge. Dar umbe heizent sie götlîche tugende, daz sie götlîchiu werk würkent in der sêle, als man prüeven mac bî der kraft der sunnen, daz si lebendigiu werk würket ûf dem ertrîche, wan si alliu dinc lebendic machet und entheltet an irm wesene. Vergienge daz lieht, sô vergiengen alliu dinc, als dô sie niht enwâren. Alsô ist ez in der sêle: swâ diu gnâde ist und diu minne, dem menschen sint lîhte ze tuonne alliu götlîchiu werk, und ist ein gewis zeichen, swelhem menschen swære sint ze tuonne götlîchiu werk, daz dâ kein gnâde inne ist. 5 Sie ist eingegangen in die Sammlung Paradisus anime intelligentis (Paradis der fornuftigen sele): dort Pr. Nr. 49. 6 Pr. 32; 143,2–4: Als dem ougen daz eigen ist, daz ez sehe gestaltnisse und varwe, und dem ôren daz eigen ist, daz ez hœre süeze lûte und stimme, alsô ist der sêle ein eigen werk, daz si an der kraft âne underlâz ûfkriegende ist. 4

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IV. Phnomenologie der Geburt des Wortes in der Seele

die Seele. 7 Diese Gesamttendenz der Psyche, nach Überwindung und Vollendung zu streben, so sehr, dass eine »Überkompensation« der Seele schadet, hat Alfred Adler zur Grundlage seiner Psychologie und Neurosenlehre genommen, in Abgrenzung von Freud, der mit der sexuellen Libido einen Einzeltrieb für das gesamte seelische Geschehen verantwortlich machen wollte. Diese Parallele erlaubt es mir, ein Beispiel aus der Psychotherapie zu wählen, das für die Gedanken Eckharts ein Verständnismodell sein kann. Die psychologische Entsprechung der ›Gnade‹ bzw. ihres Mangels ließe sich an verschiedenen Neurosenstrukturen erläutern, besonders gut aber an der Zwangsneurose. Auf diese neurotische Struktur trifft die Charakterisierung, die Eckhart für die »zornige Kraft« wählt, speziell zu, besonders deutlich in der spezifischen Form des Kontrollzwangs. Dieser richtet sich in der Regel ausdrücklich gegen »böse« Gedanken oder Handlungen, die dem Betroffenen unterlaufen könnten, wenn er nicht Acht gibt. Ein Patient musste zum Beispiel immer beten, wenn er von tödlichen Unglücken hörte oder las. Er meinte, dadurch seinen Teil dazu beitragen zu können, dass die Verstorbenen nicht in die Hölle verdammt würden. Nun könnte man das noch für eine leicht anachronistische oder bizarre Religionsübung halten, wenn dies ein freier Wunsch zu beten gewesen wäre. Es war aber ein Zwang, den der Patient selbst für unvernünftig hielt, dessen Unterlassung ihn aber in größte Angst versetzte. Die Befürchtung, das Böse könnte übermächtig werden, dehnte sich aus auf Angst um seine Kinder, seinen Vater und vor allem auf die Vorstellung, durch eine Unterlassung oder zufällige Fehlhandlung oder gar einen spontanen ärgerlichen Gedanken Unheil anrichten zu können. Die Einstellung dieses Patienten ist kein absonderlicher Einzelfall, sondern die verstärkte Ausprägung eines verbreiteten Strebens. Es ist wohl verständlich, dass es sich um die extreme Steigerung oder Radikalisierung normaler Befürchtungen handelt und dass auch die Abwehrwünsche im Kern allgemein menschlich sind: »Hoffentlich passiert nichts!«, denken wir alle, und auch manche gesunde Menschen bedienen sich eines Abwehrzaubers: Nicht dran denken, schwarze Katzen meiden, eine Kerze aufstellen. Aber in der Zwangsneurose fehlen gerade die Hoffnung und das Vertrauen. Oder, Pr. 14; 231,2–5: Sy [die Meister] nennent de ouerste craft eyn tzornege craft; de gelichent sy deme vader. Der hait alwege eynen kreich inde eynen tzornicheit weder dat boesse. der tzorn blendet dye sele inde mynne verwint de syne.

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15. Gottesgeburt

um es mit Eckharts Worten zu sagen: Es fehlt der Strebekraft gerade jener »Geschmack der Gnade«, der das natürliche Aufbegehren, die zürnerîn, in die »göttliche Tugend« Hoffnung veredelt. Kein Wunder, dass das Handeln und die Stimmung dann zögerlich und schwermütig werden. Was ist in psychologischen Begriffen dieser fehlende »Geschmack der Gnade«? Es sind Freiheit, Zuversicht, Urvertrauen, Spontaneität. Was haben diese zutiefst menschlichen Qualitäten mit »Gnade« zu tun? Sie sind in der subjektiven Erfahrung Geschenk! Gratia, »Gnade«, leitet sich vom Lateinischen gratis – »umsonst« ab. In der Ratgeberliteratur ist keine psychologische Anleitung zu finden, wie man solche Qualitäten ›erzeugen‹ kann. Es lässt sich angeben, unter welchen Bedingungen Freiheit, Zuversicht, Urvertrauen, Spontaneität und Ähnliches auftreten können, und daraus kann man schließen, welche Bedingungen schädlich oder günstig sind. Diese Bedingungen sind aber niemals hinreichende Gründe. Eckhart sagt zur Wirkung des Aufbegehrens: »Der Zorn blendet die Seele.« Mit Zorn meint er, wie er in demselben Satz sagt, nicht den Wutaffekt, sondern die Kraft des Strebens, die ûfkriegende kraft. Psychologisch könnte man sagen: Das Streben nach dem, was man mit purem Eigenwillen nicht erreichen kann, verhindert das Gelingen. So m u s s das Streben nach absoluter Sicherheit des Guten, Reinen, Ordentlichen scheitern, weil solche Perfektion dem bloßen Streben nicht gehorcht. Es muss immer ein Schuss Glück, eine Gunst des Augenblicks, ein Geschenk des Lebens hinzukommen, damit das Glückliche gelingt, »glückt«. Dies ist der phänomenale Anhalt dessen, was Eckhart den »Geschmack der Gnade« nennt. Es geht nicht allein um psychische Störungen und glückliches Gelingen. Wir können das Scheitern und den Fluch des zornigen Strebens auch im privaten, politischen oder wissenschaftlichen Alltag wiederfinden. Mit Eckhart: »Der Zorn blendet die Seele.« Eckharts Einschätzung der ûfkriegenden kraft führt noch weiter. In einer Predigt zum Fest der heiligen Elisabeth führt er aus: »Die zweite [Seelenkraft] ist die aufbegehrende Kraft, deren Werk es recht eigentlich ist, dass sie sich nach oben kämpft. So wie es dem Auge eigen ist, Gestalten und Farben zu sehen, und es dem Ohr eigen ist, süße Laute und Stimmen zu hören, so ist es der Seele eigen, mit dieser Kraft unablässig aufzubegehren. Sieht sie aber beiseite, so verfällt sie dem Hochmut, das ist Sünde. Sie kann nicht ertragen, dass irgendetwas über ihr ist. Ich vermute, sie kann nicht einmal ertragen, dass Gott über ihr ist. Wenn er nicht in ihr ist

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IV. Phnomenologie der Geburt des Wortes in der Seele

und wenn sie es nicht ebenso gut hat wie er selbst, so kann sie nie zur Ruhe kommen. In dieser Kraft wird Gott in der Seele ergriffen, soweit es einem Geschöpf möglich ist, und im Hinblick darauf spricht man von der Hoffnung, die auch eine ›göttliche Tugend‹ ist. In der hat die Seele so große Zuversicht zu Gott, dass es sie dünkt, Gott habe in seinem ganzen Sein nichts, das zu empfangen ihr nicht [auch] möglich wäre.« 8

Diese Bemerkungen sind psychologisch besonders treffend: Der Seele eigentümliche Tätigkeit sei, dass sie unaufhörlich aufstrebe, sagt er. Daran schließt er eine einschränkende Bemerkung an: »Wenn die Seele zur Seite [das heißt konkurrierend oder neidisch auf andere Menschen und Dinge] schaut, dann verfällt sie in Hochmut oder Neid, und das ist Sünde.« Wir nennen es psychopathologisch Narzissmus. Dieser besteht darin, dass der Mensch aus Mangel an echter Anerkennung und Wertschätzung, aus Unsicherheit, Enttäuschung und Kränkung alles, was er will und kann, auf seine Eigenmacht, seine Überlegenheit und Geltung setzt und oft genug das Gelingen, das dem Anderen geschenkt wird, neidisch abwertet. Eckhart sagt: Die ûfkriegende kraft »kann es nicht ausstehen, dass etwas über ihr ist. Ich vermute, sie kann nicht einmal dulden, dass Gott über ihr ist«. Was Eckhart da sagt, kann wieder ins Psychologische übersetzt werden. Der scheiternde, in unserer Praxis der neurotische Mensch reagiert mit Panik darauf, dass er etwas nicht beherrschen und steuern kann, seien es Triebbedürfnisse, Beziehungswünsche, Erfolg. Angesichts der Drohung eines möglichen Scheiterns setzt er die »Abwehrmechanismen« und »Sicherungstendenzen« ein: Verdrängung, Intellektualisierung, verstärktes Agieren, Verkehrung der Ziele ins Gegenteil, Rückzug bis hin zum Suizid. Er kann, mit Eckharts Worten gesagt, »nicht ertragen, dass etwas über ihm ist«, dass er über etwas keine Macht hat. Was ist dieses Etwas, über das wir keine Macht haben? Es ist genau jener ›Zufall‹, der unserem

8 Pr. 32; 143,1–144,2: Daz ander ist diu ûfkriegende kraft, der werk ist daz eigenlîche, daz si ûfkriegende ist. Als dem ougen daz eigen ist, daz ez sehe gestaltnisse und varwe, und dem ôren daz eigen ist, daz ez hœre süeze lûte und stimme, alsô ist der sêle ein eigen werk, daz si an der kraft âne underlâz ûfkriegende ist; und sihet si bî sîten, sô vellet si an hôchmuot, daz ist sünde. Si enmac niht gelîden, daz iht ob ir sî. Ich wæne, si joch niht gelîden enmüge, daz got ob ir sî; er ensî in ir und si enhabe ez als guot als er selber, sô enmac si niemer geruowen. An dirre kaft wirt got begriffen an der sêle als verre, als ez der crêatûre mügelich ist, und sô heizet ez ein hoffenunge, daz ist ouch ein götlîchiu tugent. An der hât diu sêle sô grôzen zuoverlâz ze gote, daz sie dünket, daz got in allen sînem wesene niht enhabe, ez ensî ir mügelich ze enpfâhenne.

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15. Gottesgeburt

Streben und unserer Anstrengung das Gelingen schenkt. Die wesentlichen, unser Herz erfüllenden Ereignisse kommen von selbst, oder sie kommen gar nicht. Zwar können sie selten kommen, wenn die Vorbereitung, das Training fehlt. Dass sie möglich werden, das erfordert unsere ganze Kraft; aber dass sie wirklich werden, muss glücken. Betrachten wir weiter, was Eckhart über die »aufbegehrende Kraft« sagt. Er präsentiert eine Lösung. Er hatte gesagt, die zürnerîn könne nicht einmal Gott über sich dulden; dann aber fügt er wiederum eine Einschränkung an, die diesmal eher eine Heilungsmöglichkeit aufzeigt: »Es sei denn, Gott ist i n ihr [in der Seele], 9 und sie hat es ebenso gut wie Gott selber.« Andernfalls wird das Streben niemals ein Ende finden, sagt Eckhart und spricht damit die Maßlosigkeit des individuellen Strebens an wie auch die Grenzenlosigkeit des gesellschaftlichen Wachstumswahns. Eckhart lehrt tatsächlich, dass die Kraft dieses aufbegehrenden Strebens erst in der Hoffnung zur Ruhe kommt, die wirklich die Möglichkeit der Erfüllung zusichert. »In der Hoffnung hat die Seele so große Zuversicht zu Gott, dass es sie dünkt, Gott habe in seinem ganzen Sein nichts, das zu empfangen ihr nicht [auch] möglich wäre.« Es ist niemals bescheiden, was Eckhart empfiehlt. Er weiß, dass die Seele in ihrem natürlichen Streben es nicht ertragen kann, dass Gott über ihr ist. Die Lösung des modernen Menschen ist dementsprechend konsequent: Gott zu vergessen, wie es die schlauen Modernen tun, die über die »Gott-ist-tot«-Klage des »tollen Menschen« nur lachen und spotten und mit den Achseln zucken, weil sie sowieso schon lange nicht an Gott glauben. 10 Nietzsches bzw. Zarathustras Lösung ist anspruchsvoller und kommt wahrscheinlich sogar Eckhart näher: »Todt sind alle Götter, nun wollen wir, dass der Übermensch lebe.« 11 Es wäre einmal zu diskutieren, ob nicht Eckharts Lehre auch eine »Überwindung« des Menschen und somit – gemessen an dem allzumenschlichen Menschen von heute – einen »Übermenschen« im Sinn hat. Der Anspruch der Seele des Menschen ist in Eckharts Augen so groß wie Gott selbst; denn ihr Streben kennt kein Genügen, »wenn Gott nicht in ihr ist und sie es nicht ebenso gut hat wie er selbst«. Wenn die menschliche Das erinnert an den Dimensionswechsel, den die Predigt 14; 237,8–11 vollzieht, statt oben steht innen: inthoeget got, neit ey ale meir ey in; dat wir verhoeget solden werdene. dat ouen was, dat wart in. Du salt geinneget werden inde van dich seluer in dich seluer, dat hey in dir sy. Vgl. oben Kap. 13. 10 Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft, hier Nr. 125, S. 480–482. 11 Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra, S. 102. 9

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IV. Phnomenologie der Geburt des Wortes in der Seele

Seele phänomenologisch wirklich unendlich sein sollte und solange sie zugleich ihr Genügen nur in endlichen Besitz-, Konsum- und Machterrungenschaften sucht, ist Verzweiflung unvermeidlich. Was dem Streben des Menschen das Gelingen schenkt, nennt Eckhart das innere Wirken Gottes. Eine ungelöste oder nicht gestellte Frage ist, was denn, in menschlichen Begriffen gedacht, diese Kraft des Gelingens schenkt. Die Psychologie hat dafür keinen akzeptierten Namen. Manche sprechen mit C. G. Jung vom Selbst. Einige Glücksforscher beschreiben den flow. Im Allgemeinen sind die Psychotherapeuten bescheiden in ihren Benennungen des Heilungserfolgs. Hier sind die Türen offen für zahlreiche transpersonale und spirituelle Konzepte; doch nur wenige psychologische Fachleute gehen durch diese Pforte. Das ist insofern richtig, als die Psychotherapie eine »weltliche Seelsorge« (Freud) ist und bleiben soll. Was in ihr geschieht, hat rein weltlich alltägliche Zusammenhänge. Das Heil ist kein Gut, das auf der Couch erworben werden kann, aber auch nicht im Wellness-Center oder in der Kirche oder im Beichtstuhl. Dies ist eine Anwendung von Eckharts Satz: »Denn wahrlich, wer von Gott mehr zu bekommen glaubt in Innigkeit, in Andacht, in süßen Gefühlen und in besonderen Gnadengaben als beim [Herd-]Feuer oder im Stalle –, so tust du nichts anderes, als wenn du Gott hernähmst und ihm einen Mantel um das Haupt wickeltest und ihn unter eine Bank stießest.« 12

Dies heißt: Gott ist nicht verfügbar. Man kann ihn nicht kaufen, nicht erfasten, nicht herbeibeten und nicht in der Meditation erringen. Aber die Gottesgeburt ist allgegenwärtig. Vom psychologisch-phänomenologischen Standpunkt aus heißt das: Das Heil im theologischen Sinne, aber psychotherapeutisch auch die »Heilung« oder die seelische Gesundheit müssen dem Menschen gegeben werden. Wie aber steht es mit dem Empfangen der Gabe? Die eigentliche Gabe ist für Eckhart die Gottesgeburt; aber die kann man nicht einfach ergreifen wie einen Pfirsich oder sich vermitteln lassen wie ein Sakrament, zum Beispiel die Taufe. Aufseiten des Menschen ist die Voraussetzung das Lassen. Eckhart spricht von der Gottesgeburt in der Seele. Was das heißt, wollen seine Leser und Zuhörer verstehen. Was sagt er selbst dazu? Pr. 5b; 91,3–7: Wan wærlîche, swer gotes mê wænet bekomen in innerkeit, in andâht, in süezicheit und in sunderlîcher zuovüegunge dan bî dem viure oder in dem stalle, sô tuost dû niht anders dan ob dû got næmest und wündest im einen mantel umbe daz houbet und stiezest in under einen bank.

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15. Gottesgeburt

Die Geburtlichkeit unserer inneren Erfahrung Die Fragestellung ist also zunächst dem alltäglichen Geschehen in unserem Bewusstsein gewidmet. Was geschieht in unserer Wahrnehmung, wenn das Wort Gottes im Seelengrund geboren wird? Zu erinnern ist zunächst daran, dass das göttliche Geschehen im Grunde der Seele der Wahrnehmung nicht zugänglich ist. Dieser Grund in unserer Seele ist allein dem Wirken Gottes vorbehalten. Aber dieses geheimnisvolle Geschehen ist so wirkungsvoll, dass es auf die »Kräfte der Seele«, also auf die Akte des Bewusstseins ausstrahlt, das heißt: die innere und äußere Persönlichkeit umwandelt. Die Grundlage ist, dass das Gute sich ausgießen und ausstrahlen muss, wo immer es auftritt. Erinnert sei Eckharts Erklärung, die bereits zitiert wurde: »In dieser Geburt ergießt sich Gott mit Licht so in die Seele, dass das Licht im Wesen und Grunde der Seele so stark wird, dass es sich auswirft und überfließt in die Seelenkräfte und sogar in den äußeren Menschen.« 13 Die erfahrbaren Wirkungen der an sich unbewussten Gottesgeburt sind also Eingebungen. Für Eckhart haben sie zunächst göttlichen, metaphysischen Charakter, das »göttliche formende Licht oder Gnade und Glückseligkeit«. 14 Mit anderen Worten: Alle Heilswirkungen, die dem religiösen Leben durch die Sakramente und charismatischen Gnadengaben geschenkt werden, wurzeln in der Gottesgeburt. In der gegenwärtigen Fragestellung interessieren aber zunächst die natürlichen seelischen Vorgänge außer oder neben den religiösen Gaben. Eckhart ist hier eindeutig: Alles, was uns Freude, seelische Gesundheit und Glück schenkt, ist für ihn eine A u s w i r k u n g der Gottesgeburt. Wenn diese auch nicht erlebbar ist, so soll sie doch mit allen Kräften beachtet werden; denn auch das Gegenteil der beglückenden Gaben hängt mit der unbewussten Gottesgeburt zusammen: Pr. 102; 412,33–37: Si [die Geburt] bringet alwege grôz lieht in die sêle, wan der güete art ist, daz si sich muoz ergiezen, swâ si ist. In dirre geburt ergiuzet sich got in die sêle mit liehte alsô, daz daz lieht alsô grôz wirt in dem wesene und in dem grunde der sêle, daz ez sich ûzwirfet und übervliuzet in die krefte und ouch in den ûzern menschen. 14 Pr. 102; 410,16–18: In der wârheit, swaz volkomenheit in die sêle komen sol, ez sî götlich einförmiclich lieht oder gnâde und sælicheit, daz muoz allez von nôt mit dirre geburt komen in die sêle und niht anders, in keiner wîse. – »In Wahrheit, jede Vollkommenheit, die in die Seele kommen soll, sei es das göttliche formende Licht oder die Gnade und die Seligkeit, das muss alles notwendig mit dieser Geburt in die Seele kommen und nicht anders, in keiner Weise.« 13

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IV. Phnomenologie der Geburt des Wortes in der Seele

»Achte allein auf diese Geburt in dir, so findest du alles Gut, allen Trost, alles Glück, Wesen und Wahrheit. Vernachlässigst du dies, dann vernachlässigst du alles Gut und alle Seligkeit. Aber was in diesem [Achten auf die Geburt] in dich hineinkommt, das bringt reines Sein und Beständigkeit. Was du außerhalb dieser [Geburt] suchst oder liebst, das verdirbt; nimm es, wie und wo du willst: es verdirbt.« 15

Ohne Bezug auf das geburtliche Geschehen, bleibt unser Gewinn flüchtig, leer und nichtig. Wieder ist zu betonen: Da Gott in seiner Geburt nicht erfahrbar ist, kann hier nicht ausschließlich von religiösem Geschehen die Rede sein. Welches aber dann? Es sind Erfahrungen von besonderer Art. Deren erstes Kriterium ist: Dass wir offen sind für den Einfluss aus dem Inneren, wenn wir nichts aktiv mit unseren eigenen Kräften tun. Das zweite: Fragen wir uns, was uns Glück, Trost, innere Wahrheit und Ruhe schenkt. Wir brauchen oder können nicht erleben, dass dies von ›Gott‹ geschenkt ist, sondern bloß, wie und wann es uns geschieht, wenn wir diese glückvolle Beseligung empfinden. Es sind immer Augenblicke, in denen wir überwältigt sind, sei es in einer gewaltigen Erschütterung, wie von einem Blitzschlag getroffen, oder auch, dass wir sanft und still dem Entzücken lauschen, ergriffen von einem Menschen, einem Weit-Werden unseres Herzens, einer erregenden Musik oder einem treffenden Wort. Solche Erfahrungen fasst Eckhart in die Metapher der Geburt. »Denn die Empfängnis des Wortes erfolgt, wenn wir etwas, was wir hören oder sehen oder irgendwie denken oder erkennen, anhänglich und innig lieben. Sie ist zugleich Sprössling des Geistes oder geborenes Wort. Wie die Frucht in der Blüte, so ist der Sprössling in der Empfängnis, so das empfangene Wort das geborene Wort.« 16

Empfangen, austragen, lieben und gebären sind in dieser Metapher zusammengefasst. Diese glückvolle Erfahrung geschieht uns, sie wird uns geschenkt. Ist der Mensch in diesem Geschehen rein passiv? Es gibt Pr. 102; 411,18–22: Warte aleine dirre geburt in dir, sô vindest dû allez guot, allen trôst, alle wunne, wesen und wârheit. Versûmest dû diz, sô versûmest dû allez guot und alle sælicheit. Und swaz dir in disem înkumet, daz bringet lûter wesen und stæticheit. Und swaz dû suochest oder minnest ûzwendic disem, daz verdirbet; nim ez, swie dû wilt und swâ dû wilt, ez verdirbet. 16 In Eccli. n. 24; 251,17–21: Conceptio enim verbi, quae fit amore adhaerente et inhaerente rei, quam audimus vel videmus aut quomodolibet cogitamus aut cognoscimus, est ipsa proles mentis sive verbum natum; sicut, ut prius, fructus in flore, proles in conceptione, verbum conceptum verbum natum. 15

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15. Gottesgeburt

doch die Beseligung nach einer großen Anstrengung, einer Bergbesteigung zum Beispiel, einem Sieg im sportlichen Wettkampf, die Befriedigung, wenn ein schwieriges Schriftstück, eine komplizierte Berechnung oder eine kritische Verhandlung endlich abgeschlossen sind. Aber ist das Glücksgefühl dann das Ergebnis dieser Anstrengung? Allzu oft stellt es sich trotz der Anstrengung gar nicht ein, wenn das Ergebnis nicht ›vollkommen‹ ist, wenn etwas dabei fehlschlägt oder wenn wir mit dem Ergebnis nicht ganz zufrieden sind. Oder das Glücksgefühl stellt sich nach der Anstrengung wie eine Belohnung ein. Dieses Überschüttetwerden von Freude ist wie eine innere Explosion, die sich auch in Bewegung und Stimme äußert. Da sie so eng mit der Anstrengung verknüpft ist, wird sie manchmal der Anstrengung selbst zugerechnet, als hätte man die Freude wie den Sieg errungen. Bei genauer Beobachtung bemerken wir aber, dass die Freude vom Sieg getrennt ist und auch ausbleiben kann. 17 Bei diesen Ereignissen der inneren Wahrnehmung haben wir es mit Überraschendem zu tun. Es sind kognitive ›Erleuchtungen‹, die aus einem ungegenständlichen Grund entspringen, bei denen unser aktives Denken und Wollen vor allem mit der Aufnahme und Ausgestaltung befasst sind, nicht mit der ›Herstellung‹. Eckhart benennt als Wirkung einer solchen Einstellung oder Einstimmung auch spontane Einsichten, Erkenntnisse, Problemlösungen, die den Aufnahmebereiten aus der sogenannten schöpferischen Pause heraus erreichen können. »Dieses Licht kann der Mensch wohl wahrnehmen. Wenn er sich zu Gott kehrt, schimmert und glänzt in ihm sogleich ein Licht und gibt ihm zu erkennen, was er tun und lassen soll und viele gute Hinweise, von denen er zuvor nichts wusste und die er nicht verstand.« 18

Der Vorgang wird im Zusammenhang mit großen Entdeckungen und Erfindungen geschildert, zum Beispiel bei der Entdeckung des Benzolrings als Folge eines Traums. Das Phänomen ist auch unter dem Namen »Serendipity-Prinzip« bekannt. Die Erfahrung selbst, als Phänomen, Es ist daran zu erinnern, dass hier nur von dem subjektiven Erleben die Rede ist, auch wenn dieses eine Grundlage im Hirnstoffwechsel hat, zum Beispiel die viel beredete Ausschüttung der ›Glückshormone‹. 18 Pr. 102; 413,45–48: Dises liehtes wirt der mensche wol gewar. Swenne er sich ze gote kêret, alzehant glestet und glenzet in im ein lieht und gibet im ze erkennenne, waz er tuon und lâzen sol und vil guoter anewîsunge, dâ er vor niht abe enweste noch enverstuont. 17

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IV. Phnomenologie der Geburt des Wortes in der Seele

heißt bei Eckhart: »alles Gut, aller Trost, alles Glück, Wesen und Wahrheit«. Dass dieses Phänomen mit der Metapher der Geburt charakterisiert werden kann, entspricht noch einer phänomenologischen Intuition und ist unserem Erleben auch ohne Rekurs auf Gott zugänglich. Dass Eckhart dieses Erleben als »Überfluss des Lichtes« bezeichnet, 19 das aus der unerfahrbaren Gottesgeburt im Grunde der Seele überströmt, ist seine theologische Interpretation. Wenn hier nur auf den phänomenalen Bestand geachtet wird, bleibt Eckharts Herkunftsdeutung eingeklammert. Weil wir heute keinen plausiblen ›Verursacher‹ solcher Erfahrungen namhaft machen können, vergessen viele deren ›ciszendentale‹ Erscheinungsweise und setzen vorläufig unser Ich oder das Gehirn als Urheber ein. Sollte der Name ›Gott‹ in solchen Phänomenen überhaupt noch eine Bedeutung behalten oder wiedergewinnen, müsste er sicherlich mit einem Inhalt gefüllt werden, der nicht mehr an die jenseitige, gütige, allmächtige, gelegentlich auch rachsüchtige Instanz da oben erinnert. Wenngleich Eckhart die Wirkung solcher Erleuchtungs-Phänomene vom Verhältnis des Menschen zu Gott und zur Gottesgeburt abhängig macht, so dürfen wir auch ohne Bezug auf Gott notwendige psychologische Bedingungen benennen, ohne die solche Überraschungserkenntnisse nicht eintreten. Im Zusammenhang mit Serendipity- oder Intuitionserkenntnissen wird häufig der Satz: »Der Zufall trifft nur einen vorbereiteten Geist«, zitiert, den Louis Pasteur zur Begründung seiner zahlreichen mikrobiologischen Entdeckungen geprägt haben soll. Auch nach Eckhart braucht es einen vorbereiteten Geist, damit die Erleuchtungswirkungen der Gottesgeburt erfahren werden können. »Je mehr du dich ledig hältst, desto mehr Licht, Wahrheit und Unterscheidung[svermögen] wirst du finden.« 20 »Sich ledig halten«, das umfasst den ganzen Umfang des eckhartschen Lassens, der abegescheidenheit. Das leuchtet nur demjenigen ein, der versucht, sich nicht an die gewohnten praktischen Erklärungszusammenhänge und die damit verbundenen Bestrebungen zu klammern. Hier macht EckPr. 102; 412,38–40: Alsô spriche ich von den sæligen von übervlüzzicheit des liehtes, daz in der sêle grunde ist, daz übergiuzet sich in den lîchamen und wirt dâ von vol klârheit. – »Darum spreche ich bei den Seligen vom Überfluss des Lichtes, das im Seelengrund ist, das sich in den Leib übergießt und dort voller Klarheit wird.« 20 Pr. 102; 414,54 f.: Und ie dû dich mê ledic haltest, ie mê dû liehtes und wârheit und underscheides vindest. 19

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15. Gottesgeburt

hart einen feinen Unterschied. Niemals sind es seiner Meinung nach die »geschöpflichen« Dinge, aufgrund derer jemand die Wahrheit verfehlt, sondern »weil er das Geschehen der Geburt zuerst verfehlt hat und sich dann zu viel mit Äußerem behelfen wollte«. 21 Es ist also nicht die Beschäftigung mit äußeren technischen Wirkungszusammenhängen selbst, aufgrund derer man in die Irre geht, sondern der Geist, der Antrieb, aus dem man sich aufs Äußere konzentriert: wenn man das Prinzip der Machbarkeit über das Prinzip der inneren Erfahrung stellt. Eckhart führt hierfür ein schönes Wort des heiligen Augustinus an: »Viele haben Licht und Wahrheit gesucht, aber nur außen, wo sie nicht sind. Darum geraten sie zum Schluss so weit hinaus, dass sie niemals wieder heim und ins Innere finden. Darum haben sie die Wahrheit nicht gefunden; denn Wahrheit ist innen in dem Grunde und nicht außen.« 22

Vielleicht gilt das sogar für die neuzeitliche Kultur im Ganzen: dass sie mit innerer Wahrheit unerfahren ist? Trotz Pietismus, Romantik und Psychoanalyse. Während solche westlichen Bewegungen der Innerlichkeit eine innere Erfahrung gesucht haben, um durch sie eine Vervollkommnung oder Besserung zu erreichen, geht es bei Eckhart um das Lassen jeder konkreten Eigenerfahrung. Nim dîn selbes war, und swâ dû dich vindest, dâ lâz dich; daz ist daz aller beste. 23 Dieses Zitat ist für unseren Gesichtspunkt, wie Eckharts Lehre in unser Leben hineinspricht, so wertvoll, weil er hier die entscheidende Lebenshaltung des Loslassens mit dem Ich bzw. Selbst zusammenbringt. Die bekannteste Forderung, die Eckhart an unser Leben stellt, heißt, alles zu lassen. Sie durchzieht Eckharts ganzes Werk. Alles zu lassen heißt, sich nicht an Geschöpfliches, Weltliches zu hängen, den Eigenwillen aufzugeben, vor allem aber sich selbst zu lassen, sîn selbes ûzgân: aus sich herausgehen, sich verlassen, das Persönliche

Pr. 102; 55 f.: Und dar umbe enverirrete nie kein mensche an keinen dingen dan aleine umbe daz, daz er disem von êrste entgangen was und sich ûzwendic ze vil behelfen wolte. 22 Pr. 102; 414,57–60: Dar umbe sprichet sant Augustînus: vil ist der, die lieht und wârheit hânt gesuochet, und aber alles ûzwendic, dâ si niht enwas. Des koment sie ze dem lesten alsô verre ûz, daz sie niemer wider heim noch wider în enkoment. Und des enhânt sie die wârheit niht vunden, wan wârheit ist inwendic in dem grunde und niht ûzwendic. 23 RdU c. 3; 196,3 f.: »Gib auf dich selbst acht, und wo du dich findest, da lass dich; das ist das Allerbeste.« 21

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verneinen. »Daran liegt alles«, sagt Eckhart. 24 Diese Selbstverneinung (abnegatio) 25 ist allerdings kein Selbstzweck, keine fromme Übung, keine Vorbereitung im eigentlichen Sinne, sondern »Es ist wirklich eine gleichwertige Gegenleistung und ein gleichwertiger Kauf: In dem Maße wie du aus allem herausgehst – nicht weniger und nicht mehr –, geht Gott mit all dem Seinen ein, so wie du in allem aus dem Deinen herausgehst«. 26

Diese Aussage ist nicht ethisch-existenziell zu verstehen, sondern ontologisch: Die Abwesenheit der geschöpflichen Selbstbehauptung i s t die Anwesenheit Gottes. Es handelt sich also nicht um ein zeitliches oder phasenverschiedenes Nacheinander, als ob das Lassen, die Abgeschiedenheit oder Nichtung die Voraussetzung dafür wäre dass Gott wirken kann. Es ist nur die Bedingung, ohne die der Mensch die Gottesgeburt nicht ›realisiert‹ im doppelten Sinne des Erfahrens und des Geschehen-Lassens. Man soll nicht denken, der Mensch mache sich bereit, und dann, wenn Gott den Menschen bereit finde, wirke er. Noch bevor der Mensch sich bereit machen will, ist Gott da, ihn bereit zu machen. Das Bereitsein und das Einströmen Gottes ist dasselbe aus verschiedener Perspektive, oder, wie Eckhart sagt: »Es ist nur ein Punkt, das Aufmachen [der Tür] und das Eintreten.« 27 Das, was hier Bereitsein heißt, ist zugleich das Nichts menschlicher Tätigkeit, die Wüste, die Finsternis des Bewusstseins, wie zuvor erläutert. Eckhart fragt nach dem Wesen dieser Finsternis: »Was ist denn nun diese Finsternis? Wie heißt sie, was ist ihr Name? – Ihr Name ist nur ›mögliche Empfänglichkeit‹. Ihr mangelt überhaupt kein Sein und ihr fehlt nichts; vielmehr [ist sie] nur eine mögliche Empfänglichkeit, in der du vollbracht werden sollst.« 28 RdU c. 3; 196,2 f.: Swer mir welle nâchvolgen, der verzîhe sich sîn selbes ze dem êrsten; dâ liget ez allez ane. – »Wer mir nachfolgen will, der sollte zuerst sich aufgeben; daran liegt alles.« 25 In Ioh. n. 290; 242,4–6: volens filius dei fieri, verbum caro factum in se habitare debet […] abnegare personale, abnegare proprium. – »Wer der Sohn Gottes werden will [und will], dass das Fleisch gewordene Wort in ihm wohnt, muss […] das Persönliche verneinen, muss das Eigene verneinen.« 26 RdU c. 4; 197,1–3: ez ist rehte ein glîch widergelt und glîcher kouf: Als vil dû ûzgâst aller dinge, als vil, noch minner noch mêr, gât got în mit allem dem sînen, als dû zemâle ûzgâst in allen dingen des dînen. 27 Pr. 103; 486,105: Ez enist niht dan ein puncte daz ûftuon und daz îngân. 28 Pr. 103; 478,47–49: Waz ist aber daz dünsternisse, wie heizet ez oder waz ist sîn 24

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15. Gottesgeburt

Diese differenzierte und scharfsichtige Formulierung Eckharts ist zu bewundern. Der »möglichen Empfänglichkeit« kann nichts mangeln. Nur einem Etwas kann etwas fehlen, wie zum Beispiel einem Stuhl ein Bein oder einem Mann eine Frau. Die »mögliche Empfänglichkeit« ist aber kein Etwas, sondern nichts, und darum möglicherweise alles, kein Seiendes, sondern Sein oder Leben. In diesem Nichts zu verharren heißt, in der Möglichkeit zu warten ohne Vorstellung eines Etwas. »Und darum, weil es so nützlich ist, dieser Möglichkeit nachzufolgen und sich ledig und bloß zu halten und nur dieser Finsternis nachzuhängen und nachzuspüren und nicht umzukehren, darum ist es ihr wohl möglich, den zu gewinnen, der alles ist. Und je mehr du mit dir selbst in der Wüste stehst und unwissend aller Dinge, desto näher kommst du diesem [Geschehen].« 29

Passibilitt (enpfenclicheit) im Ur-Sein des Ich Wiederum ist zu erinnern, dass diese praktisch-ethisch klingenden Sätze nur den ontischen Vollzug einer ontologischen Struktur beschreiben, die in der neueren Phänomenologie ins Licht gehoben wurde. 30 Wenn Eckhart den Zugang zur Gottesgeburt auf dem Wege der Erkenntnis bzw. jeder seelischen Tätigkeit grundsätzlich versperrt sieht, so ist damit der Philosophie sowie der Fundamentaltheologie, aber auch der frommen Anstrengung eine Grenze gesetzt, die deren ›Geschäft‹ insgesamt aufzuheben droht. Unwissen, Finsternis, Nichts, das sind Signale, die sagen: Es führt aus dem Denken kein Weg zu Gott. Oder: Von der Bemühung des Menschen aus gesehen, führt der Weg zur Ermöglichung der Gotteserfahrung nur in Unwissen, Finsternis, Nichts. Doch das ist nicht das letzte Wort. Gott ist vor aller menschlichen Bemühung. Die radikale Lebensphänomenologie des französiname? – Sîn name enist niht anders dan ein mügelich enpfenclicheit, diu zemâle wesennes niht enmangelt noch ouch darbende enist, mêr: aleine ein mügelich enpfenclicheit, in dem dû volbrâht solt werden. 29 Pr. 103; 481,64–67: Und dar umbe, swie nütze dirre mügelicheit nâch ze volgenne sî und sich ledic und blôz halten und aleine disem dünsternisse nâchhangen und nâchspüeren und niht widerkêren, sô ist ir wol mügelich ze gewinnenne den, der dâ alliu dinc ist. Und ie mê dû dîn selbes wüester stâst und unwizzende aller dinge, ie næher dû disem komest. 30 Unter psychotherapeutischem Aspekt ist meine Studie Witte, Karl Heinz: Zwischen Psychoanalyse und Mystik diesem Thema gewidmet.

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IV. Phnomenologie der Geburt des Wortes in der Seele

schen Philosophen Michel Henry (1922–2002) greift diese Aporie des religionsphilosophischen Denkens auf, indem sie die Selbstoffenbarung Gottes als die Selbstoffenbarung des Lebens identifiziert. Gott offenbart sich als Leben. Henry leitet die »Umkehr der Phänomenologie« 31 aus dem unhintergehbaren Faktum ab, dass sich alles Denken, auch das phänomenologische Sehen und Aufzeigen, immer nur im Leben vollzieht. Leben ist immer schon vor dem Denken und Sehen. »Es gibt keinerlei Zugang zum Leben, der seinen Anfang außerhalb des Lebens nähme, im ›Außer-sich‹, der diesem Außer-sich das Vermögen verdankte, sich auf das Leben hin zu bewegen und ihm zu begegnen.« 32 Eckharts Außer-Kraft-Setzung des erkennenden Denkens gegenüber der Gottesgeburt, das heißt übertragen: der Ausschluss der phänomenologischen Evidenz, ähnelt dem Ausschalten jeder Evidenz durch Descartes’ radikalen Zweifel, der noch jede Evidenz als ein trügerisches Für-wahr-Halten untergräbt. Wenn sich ihm dann die cogitatio selbst, deren Inhalt sowohl der Zweifel wie jedes Sehen oder Meinen sein kann, als die unerschütterliche Gewissheit enthüllt: cogito, sum – »Ich denke, ich bin«, dann ist diese Gewissheit nicht mehr durch eine distanzierte Evidenz gewonnen, sondern sie ist der selbsterfahrene Selbsterweis des Lebens, das s i c h dem ›Mir‹ oder ›Mich‹ erschließt. Henry sagt zustimmend, diese cogitatio sei »einer Traurigkeit, irgendeiner anderen Leidenschaft, wie Descartes sagte, gleich: diese Traurigkeit oder diese Leidenschaft, die allein aus dem Nichts emportauchen, als das Sehen und dessen Evidenz ausgeschieden worden waren, die Welt und ihr Erscheinen ihre Gültigkeit verloren hatten«. 33 Das entscheidende Merkmal ist hier das »Emportauchen«, jedoch ist nicht ein beliebiges oder zufälliges Denk- oder Befindlichkeitsgebilde gemeint, sondern die Grunderfahrung unseres je eigenen Seins und Lebens als Ich-bin. Henry nennt diese Weise des Ichseins »Ipseität«. »Dies will das ›Sich-Erfahren‹ besagen: Erfahren, das in seinem Fleisch nichts anderes als das Erfahrende ist. Diese Identität von Erfahrendem und Erfahrenem ist das ursprüngliche Wesen der Ipseität oder Sichheit.« 34 Im Rückgang in den Ursprungsgrund unserer Erfahrung verlassen wir die Vorstellung eines Ich, das denkend und erkennend sich und die Welt 31 32 33 34

Henry, Michel: Inkarnation, S. 144 f. Henry, Michel: Inkarnation, S. 137. Henry, Michel: Inkarnation, S. 144. Henry, Michel: ›Ich bin die Wahrheit‹, S. 83.

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15. Gottesgeburt

begreift. Eine solche Reflexion wie Vergegenständlichung ist immer nur als ein Vollzug des Lebens möglich. Mit anderen Worten: Vor seiner Orientierung auf Wirksamkeit und vor der Objektivität ist die ursprüngliche Weise des Selbst, wie es Rolf Kühn ausdrückt: »das innere Beeindrucktsein (Impressionalität), […] das sich selbst genügende Leben als Affektivität, Sinnlichkeit, Trieb, Bedürfen, Energie, Anstrengung usw.«. 35 Wiederum ist nicht gemeint, dass das Ich sich in die verschiedenen psychischen Erregungen auflöst. Vielmehr offenbart sich mir Leben immer nur als Ich-lebe. Dieses Selbstleben des Ich ist aber primär nicht durch Spontaneität charakterisiert, sondern durch Passivität. Primär bin ich, indem ich mich empfinde und so empfange. »In jedem Ich geht dessen Ipseität nicht aus ihm selbst hervor, vielmehr geht es seinerseits aus dieser hervor.« 36 In dieser Formulierung ist zugleich ausgesagt, dass das Ich gezeugt bzw. geboren ist. Diese Formulierung im Passiv: ›Ich bin vom Leben gezeugt‹, heißt anders gewendet: ›Das Leben zeugt mich‹. Diesen Umstand drückt Henry so aus: »›Ich‹ benennt das in der ursprünglichen Lebensipseität gezeugte Sich, aber es benennt es im Akkusativ als ›Mich‹. Dass das einzelne oder singuläre Sich zuerst sich im Akkusativ benennt und zu benennen hat, übersetzt genau die Tatsache, dass es gezeugt wird, da es sich nicht selbst in die Bedingung versetzt hat, welche die seine ist; sich nur selbst als ein ›Sich‹ erfährt und diese Selbsterfahrung auch nur besitzt durch die ewige Selbstaffektion des ›Lebens‹ und dessen ursprüngliche Ipseität.« 37

Die radikalphänomenologische Analyse des Gewahrwerdens des Lebens, das immer je mein Leben ist, legt demnach an der Wurzel des Selbstseins ein allem vorausliegendes Pathos frei, das mich als Gezeugten, Empfangenen, Geborenen stiftet. Die Lebensphänomenologie spricht von der »Passibilität« als dem Ur-Merkmal des Ich-Seins. Eckharts Wort enpfenclicheit könnte eine genaue ›Übersetzung‹ dieses Begriffs sein. Eckhart postuliert in dem hier untersuchten ›Gottesgeburtszyklus‹ die Stille, das Nichts, die Finsternis als Gegenpart des religiösen Können-Wollens. Die Finsternis ist, wie er sagt, »die mögliche Empfänglichkeit, in der du vollbracht werden sollst«. Das könnte so klingen, als sei damit eine Meditationsempfehlung ausgesprochen für Menschen, die die Gottesgeburt im Grunde ihrer Seele gewahren wol35 36 37

Kühn, Rolf: Innere Gewissheit und lebendiges Selbst, S. 12 f. Henry, Michel: ›Ich bin die Wahrheit‹, S. 189. Henry, Michel: ›Ich bin die Wahrheit‹, S. 189.

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IV. Phnomenologie der Geburt des Wortes in der Seele

len. Doch schon der Beisatz »in der du vollbracht werden sollst« deutet an, dass es sich nicht bloß um eine fromme Übung handelt, sondern um die Konstitution des Du oder Ich selbst. Es scheint, dass das Bewusstsein, speziell das moderne Selbstverständnis, das mit aller Macht auf Selbstbestimmung setzt, Schwierigkeiten damit hat, diese Grundannahme Eckharts anzuerkennen, dass noch vor jeder Freiheit des Selbst im Kern der Selbsterfahrung eine Passivität bzw. Passibilität waltet, eben Eckharts »mögliche Empfänglichkeit«. Zwar ist hier auch nicht ein pures Passivsein gemeint, das sozusagen ›die Hände in den Schoß legt‹. In demselben Moment, in dem die »Affektion« geschenkt ist, in dem sich in mir ein Eindruck oder ein Impuls entzündet, ist auch das Können mitgegeben, das sich in der Aktivität des Ich ausfaltet. Mit Recht stellt darum Kurt Flasch eine verbreitete These der Eckhartforschung infrage, die Eckharts Aussagen liest, als sei die menschliche Vernunft rein passiv. 38 Es ist hier in der Tat die alles durchdringende Zweifaltigkeit der Sichtweise Eckharts zu berücksichtigen, die sich in vielgestaltigen Umwendungen ausspricht, so auch in dem Miteinander von Passiv und Aktiv ebenso wie in der Entleerung des Eigenwillens und dem Erfülltsein von »der übervollen Fülle Gottes«, 39 die kein Nacheinander von Phasen anzeigen, sondern eine Identität. Aktiv und Passiv durchdringen sich. Der Gebende könnte nicht geben, wenn der Empfangende nicht annehmen würde. Allein vom zeitlich gebundenen Vorstellen des Menschen her gesehen, sieht es so aus, als müsse der Mensch erst Raum geben und empfangen, damit Gott Platz greifen und wirken könnte. In Wirklichkeit wirkt in jeder ›Be-Geisterung‹ Gott. Eckhart macht das an zwei schon erwähnten Gleichnissen deutlich, die eine gegenläufige Bewegung zeigen: Es ist nicht so, dass Gott wie ein Zimmermann manchmal arbeitet und dann wieder nicht, sodass er ruht, wenn der Mensch ihm die Tür versperrt, und dann zu wirken beginnt, wenn die Tür aufgeht. »Es ist vielmehr ein Punkt, das Aufmachen und das Eintreten.« Und die umgekehrte Bewegung liegt in der Gewalt des Blitzes, der alles in einem Augenblick sich zuwen-

Flasch, Kurt: Meister Eckhart – Philosoph des Christentums, S. 153. Pr. 66; 118,9–12: Jesu Antwort ist, daz er sich offenbâret wærlîche und genzlîche und al, als er ist, und ervüllet den menschen alsô übervlüzziclîche, daz er ûzquellende ist und ûzvliezende von übervoller vüllede gotes. – Jesu Antwort »ist, dass er sie wahrhaft und ganz und gar offenbart, wie er ist, und das er den Menschen so überfließend erfüllt, dass er ausquillt und ausfließt durch die übervolle Fülle Gottes«.

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15. Gottesgeburt

det. 40 Dieses Umwenden ist die Wirkung Gottes. Soweit es die Sprache vermag, ist hier angedeutet, dass die menschliche Zeit von Gott übersprungen ist. »Denn wenn Gott dich zu einem guten Werk bewegt, bieten sich in demselben Zug alle deine Seelenkräfte zu allen guten Werken auf: Dein Geist richtet sich in derselben Bewegung auf a l l e s Gute. Was du Gutes vermagst, das formt sich und erweist sich alles zugleich in einem Blitz und in einem Punkt. Fürwahr, das offenbart und bestätigt, dass es nicht das Werk der Vernunft ist, denn sie hat nicht solchen Adel noch solchen Reichtum; sondern es ist das Werk und die Geburt dessen, der alle Bilder zugleich in sich selbst hält.« 41

Wenn Eckhart hier von »Gott« spricht und ebenso wenn wir von der Ur-Passivität des Ich sprechen, ist die Sprache widerspenstig. Wenn mit dem Deutschen Idealismus das Subjekt dadurch bestimmt ist, dass es niemals und in keiner Weise Objekt sein kann, 42 kann die Analyse des subjektiven Ursprungs bzw. der transzendentalen Geburt nicht ein Objekt, ein Etwas, und sei es ›Gott‹ als den Allesbewirker, substituieren. Auch dieser »Gott«, von dem Eckhart in der Metapher der Gottesgeburt spricht, ist kein Etwas. Anstelle des Namens »Gott« können wir, wie Eckhart ausdrücklich sagt, »Sein« 43 setzen oder »Gerechtigkeit«. Deshalb sagt er, Gott würde ihn »nicht die Bohne kümmern«, wenn Gott nicht gerecht wäre. 44 Es geht dabei nicht um einen einfachen NaPr. 103; 486,105 (Tür); Pr. 103; 488,128–137 (Blitz). Pr. 104; 590,260–271: Wan als got dich beweget ze einem guoten werke, zehant sô erbietent sich alle dîne krefte ze allen guoten werken: dîn gemüete gât mit der vart ûf allez guot. Waz dû guotes vermaht, daz erbildet sich und erbiutet sich dâ allez mit einander in einem blicke und in einem puncten. Entriuwen, daz offenbâret und bewæret, daz ez der vernunft werk niht enist, wan si enhât des adels noch der rîcheit niht, mêr: ez ist des werk und des geburt, der alliu bilde mit einander in im selber hât. Das mittelhochdeutsche Wort blic kann sowohl (Augen-)Blick wie Blitz bedeuten. 42 Zum Beispiel Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Vom Ich als Prinzip der Philosophie, § 2. 43 Sermo II,2 n. 13; 14,11–14: Verbi gratia varietur nomen dei, de quo nobis sermo. Dicamus esse, quod unus est deus. Constat quod ab ipso esse sunt omnia. Similiter per esse sunt omnia et in esse sunt omnia. Quod enim extra esse est, utique nihil est. – »So möge zum Beispiel der Name Gott, von dem unsere Predigt handelt, durch einen andern ersetzt werden. Nennen wir ihn das Sein, welches der eine Gott ist. Es steht fest, dass vom Sein selbst alle Dinge sind. Gleichermaßen sind durch das Sein alle Dinge und im Sein sind alle Dinge. Was nämlich außerhalb des Seins ist, das ist sicherlich nichts.« Zum Ersatz des Namens »Gott« durch »Sein« siehe auch In Eccli. n. 67; 296,7 f.; In Sap. n. 145; 483,4 f. 44 Pr. 6; 103,1–4: Den gerehten menschen den ist alsô ernst ze der gerehticheit, wære, 40 41

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mensaustausch, sondern um die ›Vollzugsweise Gottes‹. Gott als Sein ist kein höchstes Seiendes, kein Ding, sondern gleichgesetzt mit Leben und Vernunft, sprich: mit innerem Vernehmen (intelligere, intus legere) und mit dem in sich rückbezogenen Weben, Walten und Wesen (bullitio). Sich auf die »mögliche Empfänglichkeit« besinnen ist demnach keinerlei Gerichtetsein auf etwas Gegenständliches, und seien es die Prädikate des Allerhöchsten oder die vergangenen oder zukünftigen mystischen Ekstasen. Das dingliche Erleben präsentiert es als Wüste, Finsternis und Nichts. Die göttliche Präsenz ist – gegenläufig – das Einschwingen in die »Praktik« (um den Begriff Nietzsches zu verwenden) Gottes oder des Lebens, das ist: sein oder leben oder innerlich gewahren (intus legere). Mit der Lebensphänomenologie könnte man auch sagen: Die Selbstoffenbarung Gottes, das ist das Leben oder das Entzündetsein in sich walten lassen. Aber wenn das noch zu psychologisch-aktivistisch klingt, so ist das eine Einladung, dieses Tun einzuklammern (zu reduzieren) und allein die Selbstoffenbarung entzündet sein zu lassen: Die Selbstoffenbarung Gottes ist das stets waltende Sich-Entzünden des Lebens in uns. Der entscheidende Gedanke in dem genannten Zitat ist, dass im tiefsten Punkt der Egolosigkeit, im Dunkel des Nichtwissens der Umschlag geschieht: Die »Geburt« wird wirklich, das heißt, der Mensch wird in einem Punkt, im Blitz des Augenblicks verwandelt. Damit geschieht zugleich ein Übertritt: Das vernünftige einzelne Gute wird mitgerissen in die Möglichkeit alles Guten, das zeitliche Jetzt ist im Grunde der Blitz der Zeitlosigkeit, das gegenwärtige Nun. Das Spiel mit der Metapher des blics, der zugleich Augenblick und Blitz ist, deutet diese ›Gleichzeitigkeit‹, besser die Gegenwärtigkeit des Ewigen an. Dieser Dimensionswechsel wird auch mithilfe des »Zeichens« für die Geburt des Sohnes 45 ausgedeutet. Das geschieht wiederum im Bilde daz got niht gereht wære, sie enahteten eine bône niht ûf got und stânt alsô vaste in der gerehticheit und sint ir selbes alsô gar ûzgegangen, daz sie niht enahtent pîne der helle noch vröude des himelrîches noch keines dinges. – »Den gerechten Menschen ist es so ernst mit der Gerechtigkeit, dass sie, wäre Gott nicht gerecht, nicht eine Bohne auf Gott achteten, und sie stehen so fest in der Gerechtigkeit und sind so weit aus sich herausgegangen, dass sie weder auf die Qual der Hölle noch auf die Freude des Himmels noch auf irgendein Ding achten.« 45 Pr. 103; 487,121–123: Nû möhtest dû sprechen: eyâ, herre, ir meinet alles, ez sülle dar zuo komen, daz disiu geburt geschehe: daz der sun geborn werde in mir. Eyâ, möhte ich des ein zeichen hân, dâ bî ich möhte wizzen, ob ez geschehen wære? – »Nun könntest du sagen: Ach, Herr, Ihr meint alles in allem, es solle dazu kommen, dass diese Geburt

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des Blitzes, der in demselben Augenblick alles auf sich ausrichtet, und im Bilde der Sonne, die in demselben Augenblick alles erleuchtet, in dem sie erstrahlt. Ebenso richten im Augenblick der Gottesgeburt alle Geschöpfe den Menschen auf Gott aus. Blitzartig wird an allen Geschöpfen das Göttliche sichtbar. Eckhart sagt, es gebe drei echte Zeichen für die Geburt; aber er werde von diesen nur eins ausführen. 46 Wie im Beispiel des Blitzes und der Sonne werden die Menschen im Nu umgewandelt. Der metaphysische Sinn dieses Beispiels und zugleich der beiden ungenannten lässt sich aus dem anschließenden Satz Eckharts entnehmen: »Man fragt mich oft, ob es der Mensch erreichen könne, dass ihn weder Zeit noch Vielheit noch Materie behindern.« 47 Eckharts Antwort ist ja: Kein Geschöpf kann hinderlich sein, wenn diese Geburt geschieht. Die Ausführungen über Blitz und Sonne sind Beispiele dafür, wie das erste der genannten Hindernisse, nämlich die Zeit, durch die Auswirkung der Geburt aufgehoben wird. Die nicht besprochenen Zeichen der Gottesgeburt wären demnach die Überwindung der Vielheit durch Einheit und der Materialität durch Geistigkeit. 48 Das Beispiel der Zeitenthobenheit durch den Blitz des Augenblicks ist besonders aufschlussreich, da hier ein konkret ontisches Geschehen in seiner Verbindung zum ontologischen, transzendentalen Grund gesehen

geschieht, dass der Sohn in mir geboren wird. Ach, könnte ich dafür ein Zeichen bekommen, an dem ich erkennen kann, ob es geschehen wäre?« 46 Pr. 103; 488,124: Wârer zeichen wol driu. Der wil ich nû einez sagen. 47 Pr. 103; 488,124–126: Man vrâget mich dicke, ob der mensche dar zuo komen müge, daz in zît niht enhindere noch menige noch materie. 48 G. Steer führt in der Anmerkung zur Stelle (DW IV,1, S. 488, Anm. 44) die treffenden Parallelen an: »Pr. 11, DW I, S. 178,4–6: Ein g e s c h r i f t sprichet: driu dinc hindernt den menschen, daz er got enkeine wîs bekennen kan. Daz êrste ist zît, daz ander lîplicheit, daz dritte manicvalticheit. Der anschließende Satz (Z. 6 f.) heißt: Als lange disiu driu in mir sint, sô enist got in mir niht noch enwürket in mir niht eigenlîche. Dasselbe sagt Eckhart affirmativ in der oben angesprochenen Pr. 103. Ferner führt Steer Pr. 12; 193,1–5 und In Ioh. n. 376; 320,12–321,2 an. Zu ergänzen wären Pr. 19; 319,1 f.: Ein heiden sprichet: wâ geist ist und einicheit und êwicheit, dâ wil got würken und Sermo XXVII,3 n. 277; 251,6–8: Nota secundo ex ›De causis‹ : spiritus, unitas, aeternitas habent hrespectum adi deum. »Bemerke zweitens nach dem Buch der Ursachen, dass Geist, Einheit und Ewigkeit zu Gott Beziehung haben.« In den Zitaten aus dem Johanneskommentar und dem Sermo sagt Eckhart, dass der ›Liber de causis‹, ed. Pattin prop. XII (XXIV), n. 177 f.; S. 185, die genannte geschrift und der heiden ist. Diese gleichlautenden Bezugnahmen zeigen, dass Eckhart mit den »Zeichen« in Pr. 103 auf einen Topos anspielt.

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IV. Phnomenologie der Geburt des Wortes in der Seele

wird. Jegliches Dingliche (grobe) kann mich im Nu zur Geburt hinwenden, ja alles kann mir Gott werden: »Sieh, ebenso [wie bei den Dingen, die vom Blitz umgedreht werden] geschieht es allen denen, die von dieser Geburt berührt und getroffen werden: Sie werden blitzschnell in jeglichem, das gegenwärtig ist, zu dieser Geburt gekehrt. Ja, wie grob es auch sei, ja, was dir zuvor ein Hindernis war, das hilft dir nun ganz und gar weiter. Das Antlitz wird dir ebenso zu dieser Geburt gekehrt; ja alles, was du siehst und hörst, was es auch sei: Du kannst in allen Dingen nur diese Geburt wahrnehmen. Ja, alles wird dir lauter Gott, denn in allen Dingen meinst und liebst du nichts als lauter Gott.« 49

In der inneren Verbindung zum Grund des Lebens spricht mich in jedem »gegenwärtigen Nun« das unendliche Leben selbst an. Jederzeit, das heißt für Eckhart »über der Zeit« lebe »ich« aus dem Leben selbst, das heißt für Eckhart wiederum, ich werde geboren aus dem göttlichen Grund des Lebens. Deshalb sagt er: »Hätte ein Mensch diese drei Dinge [die Hindernisse Materialität, Vielheit und Zeit] überschritten, wohnte er in Ewigkeit, wohnte er in der Einzigkeit und in der Wüste, und da hörte er das ewige Wort.« 50 Dass das ewige Wort in der Wüste gehört wird, erinnert an die Erläuterungen des ›Gottesgeburtszyklus‹, die von Wüste, Nichts und Finsternis der Bewusstseinstätigkeiten sprechen und zur »möglichen Empfänglichkeit« hinführen. Leiblichkeit und Vielheit meinen dementsprechend auch die kontingente, leibgebundene Bewusstseinstätigkeit, in der jeder Akt des Bewusstseins zeitlich nacheinander jede einzelne Vorstellung getrennt vollziehen muss und die Vielheit der Gegenstände nicht in einem Bild wie in einem Spiegel zugleich erfassen kann. 51 Einzigkeit und Ewigkeit sprechen die konPr. 103; 488,131–137: Sich, alsô geschihet allen den, die von dirre geburt werdent berüeret und getroffen: die werdent snelliclîche gekêret ze dirre geburt in einem ieglîchen, daz gegenwertic ist. Jâ, swie grop ez joch ist, jâ, daz dir vor ein hindernisse was, daz vürdert dich nû zemâle. Daz antlütze wirt dir alsô gar gekêret ze dirre geburt; jâ, allez daz dû sihest oder hœrest, swaz daz sî, sô enmaht dû in allen dingen niht anders genemen dan dise geburt; jâ, alliu dinc werdent dir lûter got, wan in allen dingen sô enmeinest noch enminnest dû niht dan lûter got. 50 Pr. 12; 193,1–5: Driu dinc sint, diu uns hindernt, daz wir niht enhœren daz êwige wort. Daz êrste ist lîplicheit, daz ander manicvalticheit, daz dritte ist zîtlicheit. Hæte der mensche disiu driu dinc übergangen, sô wonete er in êwicheit und wonete in dem geiste und wonete in einicheit und in der wüestunge, und dâ hôrte er daz êwige wort. Vgl. Pr. 11, 178,4–6. 51 Vgl. Pr. 102, 417,110–125, bes. 103–105: Wære ez alsô in disem lebene, daz wir einen spiegel vor uns hæten alle zît, in dem wir in einem ougenblicke alliu dinc sæhen und 49

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15. Gottesgeburt

zentrierte Augenblickserfahrung des Ich-bin an, die zeitenthoben erlebt wird. Wie aber kann die Zeitlichkeit aufgehoben sein? Die Verdichtung der Zeit im Augenblick »ohne Vor und ohne Nach«, »ledig und frei, in diesem Augenblick die göttliche Gabe neu zu empfangen« wurde bereits als die Grundhaltung der Gottesempfängnis skizziert. 52 Dieser Augenblick ist für Eckhart der Durchbruch der »Ewigkeit« in unser Leben. Dabei ist »Ewigkeit« nicht als eine vielleicht zukünftige jenseitige unendliche Dauer zu verstehen, sondern als intensive Fülle des gegenwärtigen Augenblicks. Wittgenstein sagt: »Wenn man unter Ewigkeit nicht unendliche Zeitdauer, sondern Unzeitlichkeit versteht, dann lebt der ewig, der in der Gegenwart lebt.« 53 Der Augenblick entzieht sich der Datierung. Er ist kein Jetztpunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft, sondern die reine Gegenwärtigkeit. Diese wesentliche Nicht-Zeit, »das gegenwärtige Nun«, hebt die ausgefaltete (›ekstatische‹) Zeit, also Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, im Augenblick auf: »Die Tage, die seit sechs oder sieben Tagen dahin sind, und die Tage, die vor sechstausend Jahren waren, die sind dem heutigen Tag so nahe wie der Tag, der gestern war.« 54 Auch wenn Eckhart die Zeitlosigkeit metaphysisch gemeint hat, so gibt es doch für die Erfahrung, von der Eckhart hier spricht, Anhalte im Erleben. Am drastischsten wird die Gegenwärtigkeit des Vergangenen von Menschen erlebt, die ein psychisches Trauma erlitten haben, zum Beispiel einen Unfall, eine Vergewaltigung oder kindlichen Missbrauch. Wenn das Trauma in späterer Zeit aktiv wirksam ist, erleben diese Menschen die früheren quälenden Zustände so unmittelbar, als wären sie jetzt. Auch wenn sie äußerlich nicht im Jetzt geschehen, so sind sie innerlich doch im Augenblick gegenwärtig. Das Erleben des Vergangenen hat jedoch strukturell immer einen ähnlichen Charakter, wenn auch nicht so besitzergreifend und destruktiv wie in der Traumaverarbeitung. Tiefgreifende Ereignisse unseres Lebens sind in der Erinnerung gegenwärtig, ›als wäre es heute‹. Schon Augustinus hat in bekenten in einem bilde, sô enwære uns würken noch wizzen kein hindernisse. – »Wäre es so in diesem Leben, dass wir jederzeit einen Spiegel vor uns hätten, in dem wir in einem Augenblick alle Dinge in einem Bild sehen und erkennen könnten, so wären Tätigsein und Wissen für uns kein Hindernis.« 52 Siehe oben S. 151 u. Anm. 44. 53 Wittgenstein, Ludwig: Tractatus, Nr. 6.4311, S. 84. 54 Pr.10; 166,3–5: Die tage, die dâ hin sint sehs tage oder siben, und die tage, di dâ wâren vor sehs tûsent jâren, die sint dem tage hiute als nâhe als der tac, der gester was.

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IV. Phnomenologie der Geburt des Wortes in der Seele

seinem berühmten Zeitkapitel der ›Confessiones‹ die Gegenwart des Vergangenen untersucht. »Was aber jetzt deutlich hervortritt: Weder das Zukünftige noch das Vergangene ist. Man kann auch nicht eigentlich sagen: Es gibt drei Zeiten: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; sondern vielleicht sollte man eigentlich sagen: Es gibt drei Zeiten: die Gegenwart des Vergangenen, die Gegenwart des Gegenwärtigen, die Gegenwart des Zukünftigen. Denn diese drei sind irgendwie in der Seele, und anderswo sehe ich sie nicht. Die Gegenwart des Vergangenen ist das Gedächtnis, die Gegenwart des Gegenwärtigen die Anschauung, die Gegenwart des Zukünftigen die Erwartung.« 55

Meistens erleben wir Vergangenes nicht dicht und erfüllend, sondern denken nur in Vorstellungen daran. Aber die Selbsterfahrung der Tiefenstruktur unserer Erinnerungen, das ist die Vergegenwärtigung des Daseins im Augenblick, ist sehr aufschlussreich und hilfreich. Dies kann die Zeiterfahrung in der analytischen Psychotherapie sein. 56 Eckhart setzt die Gottesgeburt mit Nachdruck in die Gegenwart. »Gottes Tag ist da, wo die Seele im Tage der Ewigkeit in einem wesentlichen Nun steht, und dort gebiert der Vater seinen eingeborenen Sohn in einem gegenwärtigen Nun und [da] wird die Seele wieder in Gott geboren.« 57 Die Überwindung der Hindernisse, das »ewige Wort« zu hören, führt also keineswegs zu einer leibfeindlichen, gedrückten Lebenshaltung, sondern zu einer konzentrierten, lebendigen, offenen Gegenwärtigkeit. Es ist keine Frage, dass die Meditation, welcher Form auch immer, eine Anleitung und eine Gipfelerfahrung solcher Lebensform sein kann. Die Meditation kann auch ein Beispiel dafür sein, dass tiefste Leere des Bewusstseins zugleich höchstes Glück der Einheitserfahrung schenken kann. Eckhart meint aber, wie aus seinen Hinweisen vielfach hervorgegangen ist, keine Sonderübung, sondern eine Lebenshaltung. Augustinus, Confessiones I c. 20 (26); CCL 27, 207: Quod autem nunc liquet et claret, nec futura sunt nec praeterita, nec proprie dicitur: tempora sunt tria, praeteritum, praesens et futurum, sed fortasse proprie diceretur: tempora sunt tria, praesens de praeteritis, praesens de praesentibus, praesens de futuris. sunt enim haec in anima tria quaedam et alibi ea non uideo, praesens de praeteritis memoria, praesens de praesentibus contuitus, praesens de futuris expectatio. 56 Witte, Karl Heinz: Zeitlichkeit und Augenblick. 57 Pr. 10; 166,8–11: Dâ ist gotes tac, dâ diu sêle stât in dem tage der êwicheit in einem wesenlîchen nû, und dâ gebirt der vater sînen eingebornen sun in einem gegenwertigen nû und wirt diu sêle wider in got geborn. 55

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15. Gottesgeburt

Er weiß aber auch, dass in der zeitlichen Ausfaltung des Lebenslaufs oft nur eine Erlebensform, entweder die Leere oder das Erfülltsein, im Bewusstsein vorherrscht. Er deutet die Worte Jesu: »Der Geist weht, wo er will. Du hörst wohl seine Stimme, aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er geht« (Joh. 3,8), als die Empfindungslosigkeit dem göttlichen Geist gegenüber: »Du empfängst ihn und weißt es nicht. [Aber] du musst wissen: Gott kann nichts leer und vergeblich lassen. Gott und die Natur können es [nämlich] nicht ertragen, dass irgendetwas umsonst oder leer bleibt. Darum: Obwohl es dir scheint, dass du ihn nicht empfindest und dass du noch leer bist, ist es doch nicht so.« 58

Eckharts Rat ist darum folgerichtig: Die Leere muss man aushalten; denn würde man sie ausfüllen, hätte Gott keinen Platz frei. »Darum steh hier still und wanke nicht weg von dieser Leere. Denn du kannst dich ihr für diesmal entziehen, du wirst aber niemals wieder dahin kommen.« 59 Je größer die »Leere« und die innere »Wüste« oder das Gefühl der »Verworfenheit«, desto größer wird die Sehnsucht nach Erfüllung. Diese Sehnsucht ist nicht das vorwegnehmende Schwärmen, sondern die andauernde Offenheit, die Bereitschaft für den Empfang. Mögliche »Empfänglichkeit« ist ja die Leere, die Voraussetzung für das Einfließen der Gabe. Diese Leere ist nicht tot, sondern eine dynamische Kraft, die in sich eine intensive Vertiefung bewirkt. »Sie kommt nie zur Ruhe, wenn sie nicht mit vollem Sein erfüllt wird. […] Ebenso kommt auch die Vernunft nicht zur Ruhe, wenn sie nicht mit allem erfüllt wird, das ihr möglich ist.« 60 Psychologisch betrachtet, ist es paradox, dass Eckhart den Nutzen dieses Zustandes hervorhebt, der deutlich an Verzweiflung und Niedergeschlagenheit erinnert, mit Vokabeln, die, psychopathologisch verstanden, auch eine Depression beschreiben könnten. Der fiktive Gesprächspartner wendet zu Recht, verbunden mit einer leichten BePr. 103; 487,113–116: dû enpfâhest in und enweist des niht. Daz wizzest: got enmac niht lære noch îtel lâzen. Got und diu natûre enmügen daz niht lîden, daz ihtes iht îtel oder lære sî. Dar umbe: wie daz sî, daz dich des dünke, daz dû sîn niht enbevindest und daz dû noch îtel sîst, des enist doch niht. 59 Pr. 103; 487,119 f.: Dar umbe stant alhie stille und enwenke niht von dirre îtelkeit. Wan dû maht dich ze der stunde dâ von ziehen, dû enkumest niemermê dar zuo. 60 Pr. 103; 479,54–57: Si enruowet niemer, si enwerde ervüllet mit vollem wesene. […] alsô engeruowet diu vernunft niemer, si enwerde denne ervüllet mit allem dem, daz ir mügelich ist. 58

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schuldigung Gottes, ein: »Das ist ein schwerer Stand, wenn Gott den Menschen so ohne jeden Halt stehen lässt.« Und der gesunde psychotherapeutische Verstand fragt ebenfalls mit Recht: »Wenn der Mensch in so einem ausschließlichen Nichts steht, ist es da nicht besser, er tut etwas, das ihm die Finsternis und die Entfremdung vertreiben kann?«, 61 und er wird Psychopharmaka oder Verhaltenstherapie verordnen, und wenn er geistlicher Begleiter ist, vielleicht empfehlen, was der nicht-eckhartische Seelsorger vorschlägt: Beten, lesen, hilfreiche Ansprachen hören oder andere gute Werke verrichten, und sich so behelfen. 62 Darauf wiederum Eckhart: »Nein! Du sollst wahrhaftig wissen: Völlig still stehen und so lange wie möglich, das ist dann das Beste für dich.« 63

Pr. 103; 483,78–82: Daz ist ein swære stân, ob got den menschen alsô lât stân âne sînen enthalt […] Sô der mensche alsô stât in einem lûtern nihte, enist denne niht bezzer, er tuo etwaz, daz im daz dünsternisse und daz ellende vertrîbe. 62 Pr. 103; 483,81–83: Sô der mensche alsô stât in einem lûtern nihte, enist denne niht bezzer, er tuo etwaz, daz im daz dünsternisse und daz ellende vertrîbe, alsô daz der mensche bete oder lese oder predige hœre oder ander werk, diu doch tugende sint, daz man sich dâ mite behelfe? 63 Pr. 103; 483,83 f.: Nein! Daz wizzest in der wârheit: aller stillest stân und aller lengest ist dâ dîn aller bestez. 61

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Sechzehntes Kapitel Ist Eckhart Mystiker?

Mystische Theologie In den Ausführungen dieses Buches wurde der Begriff Mystik bisher nur selten erwähnt. Es ist keine Frage, dass Meister Eckhart im allgemeinen kulturellen Bewusstsein als »Mystiker« bezeichnet wird. Andererseits gibt es um dieses Wort und seine Anwendung auf Eckhart einen Gelehrtenstreit, der hier nicht referiert werden soll. Dass die Einführung in das Denken des Lesemeisters in diesem Buch ohne Bezug auf diesen Begriff »Mystik« auskommen konnte, zeigt, dass die Thematik für Eckhart selbst nicht wichtig war. Ist er Mystiker, ja oder nein? Das ist mehr eine Frage der modernen Einschätzung. Diese Frage beantworten zu können, setzt Klarheit darüber voraus, was unter Mystik zu verstehen ist. Und damit müsste man sich wiederum in breite religionswissenschaftliche und literaturhistorische Auseinandersetzungen vertiefen. Hier aber geht es allein um Eckhart. Dieser benützt in der Tat das Wort mysticus nur selten und nur, um das nicht-wörtliche Schriftverständnis zu bezeichnen. Wenn man seine Philosophie und Theologie trotzdem als »mystisch« bezeichnen will, wäre dies historisch nur legitim, wenn das Wort in dem Sinne verstanden wird, wie die Tradition, in der er steht, es verwendet. Das ist im Sinne der ›Mystischen Theologie‹. Die gleichnamige Schrift des Dionysius Areopagita war zu Eckharts Zeiten wohlbekannt; Albertus Magnus hat sie kommentiert, Thomas von Aquin geht in seinem Kommentar zu Dionysius’ ›De divinis nominibus‹ 1 mehrmals auf die ›Mystische Theologie‹ ein. Eckhart selbst zitiert Dionysius oft, darunter auch die ›Mystische Theologie‹, und zwar eine charakteristische Stelle aus dem Eingang des Es wäre zu diskutieren, ob Eckharts Gebrauch des Begriffs abegescheidenheit auch einen Zusammenhang hat mit Thomas’ Diskussion des homo separatus in seinem Kommentar ›In De divinis nominibus‹, proœmium.

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ersten Kapitels. Er erläutert die Bibelstelle »Moses ging in das Dunkel, in dem Gott war« (Ex. 19,21): »Der Sinn ist also: ›Moses ging ins Dunkel, in dem Gott war‹, das heißt in das überstrahlende Licht, das unsere Vernunft (intellectus) blendet und verdunkelt. So sehen wir ja auch, dass unsere Augen, geblendet von den Strahlen der Sonnenscheibe, sich verdunkeln. Und dies ist, was Dionysius im ersten Kapitel von ›De mystica theologia‹ sagt: ›Die einfachen und verborgenen und unverrückbaren Geheimnisse der Theologie sind gänzlich bedeckt von dem überglänzenden Dunkel eines auf verborgene Weise gelehrten Schweigens, das im Verborgensten das Überklarste überstrahlen lässt.‹ Und im ersten Brief an Gaius sagt er: ›Vollkommenes Nichtwissen ist die Erkenntnis dessen, der über allem ist, was erkannt wird.‹« 2

Mit diesem Zitat greift Eckhart die ›intellektuelle‹ Komponente der mystischen Erkenntnis auf. Das entspricht fast wörtlich der vielfachen Anspielung auf dionysianische Themen im ›Gottesgeburtszyklus‹, zum Beispiel wenn er die ›Erfahrung‹ der Gottesgeburt eine unbekante bekantnisse, »nicht-erkanntes Erkennen«, nennt, was fast wie eine direkte Übernahme aus dem gerade zitierten Brief klingt. Ferner entlehnt Eckhart die Hauptbegriffe seiner Lehre ›Von der ewigen Geburt‹ der ›Mystischen Theologie‹ des Dionysius, wenn er die Finsternis, das Schweigen, die Verborgenheit und das Nicht-Wissen, das aus dem Wissen kommt und ein »übernatürliches« Wissen wird, in den Vordergrund rückt. 3 Nun ist die Frage, ob mit diesen Abweisungen der Erkenntnisfähigkeit nur das Schulwissen und das Dingwissen, das aus den Bewusstseinskräften stammt, in Schranken gewiesen wird. 4 Oder ob Eckhart zwar die aristotelische Geistphilosophie voraussetzt, aber im »Schweigen« und »Unwissen« dem dunklen Geheimnis Gottes ge2 In Ex. n. 237; 196,5–13: Est ergo sensus: ›Moyses accessit ad caliginem in qua erat deus‹, id est ad lucem superexellentem et intellectum reverberantem et caligare facientem. Sic enim videmus quod caligant oculi nostri reverberati a radiis in rota solis. Et hoc est quod ait Dionysius c. 1 De mystica theologia: »simplicia et abscondita et inconvertibilia theologiae mysteria cooperta sunt secundum supersplendentem occulte docti silentii caliginem in obscurissimo superclarissimum supersplendere facientem«. Et Epistula 1 ad Gaium ait: »perfecta ignorantia cognitio est eius, qui est super omnia quae cognoscuntur«. Eckhart benützt die Übersetzung, die Albertus Magnus im Kommentar zu De mystica theologia, c. 1, ed. Borgnet, Bd. 14, S. 818 als translatio antiqua bezeichnet. Das Zitat aus dem Brief an Gaius findet sich bei Albertus Magnus, In epistolas; ed. Borgnet, Bd. 14, S. 868. 3 Siehe oben S. 343 4 So Flasch, Kurt: Meister Eckhart – Philosoph des Christentums, S. 94–96.

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genüber nicht nur eine vorbereitende Durchgangsstufe sieht, sondern dem nicht-begrifflichen, nicht-diskursiven Denken das letzte Wort gönnt und darin näher bei Augustinus und vor allem bei neuplatonischen Anregungen verweilt. Es geht also nicht darum, Eckhart das Denken abzusprechen, sondern zu fragen, was er mit diesem letzten Stadium des nicht-erkennenden Denkens meint. Dass das Denken Eckharts von der Gottesgeburt, die ja auch als das unmittelbare Entzünden alles Wahren, Guten und Rechten, das heißt des Lichtes in der Seele des Menschen zu verstehen ist, in einen Bereich mündet, der trotz aller Erleuchtung ununterschieden, dunkel, verborgen und unerkannt bleibt, hat die Analyse der späten Kölner Predigten (im achten Kapitel) ergeben. Auch im lateinischen Werk wird immer wieder auf die Dunkelheit und Verborgenheit des Geheimnisses hingewiesen, zum Beispiel in der angesprochenen Stelle: »Moses ging ins Dunkel, in dem Gott war.« 5 In zahlreichen Variationen heißt es, die Gründe der Dinge seien in den ursprünglichen und uranfänglichen Ursachen verborgen, bevor sie in die Dinge selbst hervorgehen. 6 Neben der ›intellektuellen‹ Form der mystischen Erfahrung ist die affektive zu nennen. Es handelt sich um die cognitio dei experimentalis, die von Bonaventura als mystisch bezeichnet wird, die aber auch von Thomas von Aquin erwähnt wird. 7 Sie wird auch bei Eckhart geschildert, wenn einer von der Gerechtigkeit affiziert wird und die Bewegung in seinem Herzen spürt, wie oben zitiert. 8 Die gleiche Bewegung wird im ›Gottesgeburtszyklus‹ angesprochen: Man spürt, dass und wie etwas geschieht, aber man weiß nicht, was es ist. Ein Hinweis auf diese Form der mystischen Erfahrung liegt auch in Eckharts häufigem Gebrauch der Metapher des Schmeckens, die sich aus dem PsalmIn Ex. n. 235–238; 194,1–197,2. Siehe oben S. 111; ferner zum Beispiel In Eccli. n. 9; n. 38; In Ioh. n. 212, n. 567, n. 581, n. 617, n. 679, n. 694; Sermo n. 89. 7 Siehe oben S. 362, Anm. 97. Thomas von Aquin, Summa theologiae II–II, q. 97, a. 2, ad 2: duplex est cognitio divinae bonitatis vel voluntatis. Una quidem speculativa. […] Alia autem est cognitio divinae bonitatis seu voluntatis affectiva seu experimentalis, dum quis experitur in seipso gustum divinae dulcetudinis et complacentiam divinae voluntatis. – »Es gibt eine zweifache Erkenntnis der göttlichen Güte und seines Willens. Die eine ist spekulativ. […] Die andere aber ist eine Erkenntnis der göttlichen Güte und seines Willens im Affekt oder in der Erfahrung, und zwar indem jemand den Geschmack der göttlichen Süße und das Mitgefallen am göttlichen Willen erfährt.« 8 Siehe Kap. 11, S. 256, Anm. 29. 5 6

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IV. Phnomenologie der Geburt des Wortes in der Seele

wort ableitet: Gustate, et videte quoniam suavis est dominus. – »Kostet und seht, wie süß der Herr ist« (Ps. 33,9). So weit einige literarische Argumente dafür, dass Eckhart in seinem Werk Elemente verarbeitet, die »mystisch« im Sinne des Dionysius und der mittelalterlichen Theologie genannt werden können.

Mystik als eine bestimmte Weise der Wahr-Nehmung Wenn man von Eckharts Mystik spricht, meint man aber gemeinhin nicht solche literarischen Bezüge, sondern den Inhalt seiner Lehre. Offenkundig ist damit auch nicht ›mystisches Erleben‹ gemeint, wie es beispielsweise die Zeugnisse der mittelalterlichen Frauenmystik schildern. Es geht vielmehr um eine Einheitserfahrung, die den Lesern zwar im Denken übermittelt wird, die aber das ganze Sein und Leben des Menschen formt: Denken, Leben und Sein, das ist der Ternar jener »Erstbestimmungen (prima)«, wie sie der ›Liber de causis‹ nennt, 9 die bei Eckhart so häufig gemeinsam auftreten. Das Erstaunliche in Eckharts Ausführungen ist, dass viele seiner Thesen, obwohl er philosophische Gründe (rationes naturales philosophorum) anführt, nicht logisch begründet oder Ergebnis von Ableitungen sind, sondern eher hinweisend, apodiktisch aufgestellt werden mit einem Gestus wie: So ist es; ich sage es euch bei der ewigen Wahrheit; es ist eine unverhüllte Wahrheit, die unmittelbar aus dem Herzen Gottes gekommen ist. Das ist nicht die Sprechweise philosophischer, auch nicht theologischer Argumentation. Es klingt eher nach einer aktuellen Offenbarung. Wenn das Bürglein in der Seele so sehr eins und einfach ist, dass weder die göttliche Erkenntniskraft und Liebe noch die trinitarischen Personen Licht in diese Kammer, das Bürglein, werfen können, so kann man das als eine radikale Folgerung aus der absoluten Einheit Gottes betrachten. So argumentieren metaphysische Sätze, die sich aus Prinzipien ableiten. Dass aber dieses Bürglein in der Seele nicht an der Trinität teilnimmt, sondern einen absolut einfachen ›Status‹ gewinnen kann, der mit der absoluten Einheit Gottes verbunden ist, lässt sich nicht mehr logisch ableiten. Es lässt sich auch nicht in phänomenologischer Evidenz »sehen«, da ja die Sichtbarkeit gerade Unterscheidung voraus-

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Siehe S. 102 und S. 248.

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setzen würde und darum aus dem verborgenen Grund ausgeschlossen ist. Trotzdem postuliert Eckhart die Wahrheit solcher Sätze, die aber nur zu verstehen sei, wenn der Hörer »dieser Wahrheit gleich« ist. Solche Wahrheiten haben eine andere Erfahrungsquelle als die logische Deduktion und als die phänomenologische Evidenz. Eckhart spricht uns Sätze letzter Höhe und Tiefe zu. Es sind »mystische« Wahrheiten. Aber solche Wahrheiten, in demselben Erfahrungsmodus hervorgebracht wie die mystischen, kennen wir auch in alltäglichen Zusammenhängen. »Ich habe jahrelang einem mir auferlegten Ideal nachgestrebt und mein Leben verfehlt.« Auch ein solcher Satz ist weder logisch noch evident; und doch kann er eine unerschütterliche Gewissheit aussprechen und eine Umkehr einleiten. Und obwohl er eine negative Bilanz ausspricht, kann er nur aus einer Erfahrung oder Ahnung eines Ja gefunden werden. »Mein Beruf ist (für mich) der schönste, den es gibt.« »Mit dir kann ich durch Dick und Dünn gehen.« »Ich muss dich verlassen, auch wenn es mir oder dir das Herz bricht.« »Die Liebe ist stärker als der Tod.« »Damit ist noch nicht aller Tage Abend.« Im Alltag können wir unendlich viele solcher Sätze bilden. Es sind Sätze, die Gewicht haben. Freilich können sie auch oberflächlich nachgeplappert werden. Das ist hier so wie bei allen existenziell gefühlten Äußerungen. Sie sagen etwas aus dem Inneren des Subjekts aus, und deshalb können sie auch nur so viel Wahrheit ›enthalten‹, wie der Sprecher »der Wahrheit gleich« ist. Es geht dabei nicht um den Inhalt solcher Sätze. Jeder wird seinen Ausdruck finden, in dem sie oder er eine Linie des Lebens zusammenfasst. Es geht auch nicht darum, solche Sätze einem Anderen zu sagen. Bevor sie an jemand gerichtet werden, muss man sie sich selbst gesagt haben. In Wirklichkeit ist es aber eher eine Stimmung oder Ahnung, aus der nur in Ausnahmefällen eine bewusste Klarheit entsteht. Es ist ganz ungewöhnlich, Erfahrungen des Alltags daraufhin zu befragen, wie sie überhaupt zustande kommen können, wenn sie ›wahr‹ sind. Es sind Sätze, deren Wahrheit ich »gleich« bin und die umgekehrt meiner Wahrheit »gleich« sind. Und damit sind wir wieder bei Meister Eckhart. Wenn die Worte in diesem Sinne wahr sind, sprechen sie aus dem Grunde des Lebens, weil sich darin jeweils mein Leben ausspricht. Darum sprechen alle genannten Sätze in der Ersten Person, und auch wenn sie scheinbar allgemeine Aussagen sind, wie »Die Liebe ist stärker als der Tod«, gelten sie nur, wenn der Sprechende von seiner eigenen Liebe spricht und hofft, die Hörer einbeziehen zu dürfen. 395 https://doi.org/10.5771/9783495860649 .

IV. Phnomenologie der Geburt des Wortes in der Seele

Solche Sätze sprechen eine ›mystische Wahrheit‹ aus, in einem präzisen Sinn, der sich, weit entfernt von allen Klischees der Esoterik, als eine ubiquitäre, allerdings verdrängte Wahr-Nehmungs-Weise bestimmen lässt. ›Mystisch‹ sind sie nur der Form, nicht dem Inhalt nach. Auch alle Sätze, die in einer analytischen Psychotherapie gesprochen werden – wenn sie ankommen! –, sind von dieser Art, gleichgültig ob sie vom Analysanden oder vom Analytiker gesprochen werden. In meinem Buch ›Zwischen Psychoanalyse und Mystik‹ habe ich versucht, diese Sicht des Mystischen zu analysieren. 10 Wenn diese Wahrnehmungsweise hier in Form von Sätzen skizziert wird, ist nochmals zu bedenken, dass diese Sätze aus einer Gestimmtheit kommen, die der wirkliche und wirksame Grund der ›Haltung‹ und der Äußerung ist. Wenn solche Selbsterfahrung etwa in einer Beziehung infrage gestellt wird, suchen die Menschen nach Gründen. Diese sind aber meistens nicht stimmig, selbst wenn sie ›stimmen‹ sollten. Man kann keinen hinreichenden Grund für Liebe oder Nicht-Liebe angeben. Es ist damit eine Erfahrungsebene angesprochen, die der begrifflichen Sprache nicht zugänglich ist. Allenfalls kann die Dichtung, vielleicht auch mancher philosophische oder mystische Text eine Ahnung in dem Rezipienten entzünden; aber auch dann ist es nicht der verbal transportierte Gehalt, sondern der im Hörer oder Leser erregte Erfahrungsanklang, der die Botschaft enthält. Mit dem Thema der mystischen Erfahrung bewegen wir uns an der Grenze des Bewusstseins, das heißt an der Grenze der Sprache. Kann die innerste Erfahrung selbst in Worte gefasst werden? Das Mystische ist die mystische Erfahrung selbst. Diese wird in verschiedenen Darstellungsformen repräsentiert, sei es in Berichten von Ekstasen, Visionen oder in dichterischer, in begrifflicher, philosophisch-theologischer Sprache. Die Darstellungen sind nicht das Mystische; aber wahrscheinlich kann dieses selbst nicht ohne sprachliche, symbolische Repräsentationen mitgeteilt werden. Zwischen Darstellung und eigentlicher Erfahrung herrscht ein Spannungsverhältnis, das wir aus der alltäglichen Erfahrung und aus der Mystik kennen. Die sprachliche Vermittlung offenbart eine zugrunde liegende Wirklichkeit, und zugleich verhüllt oder verfälscht die Sprache die Wirklichkeit so, dass wir lieber schweigen. Und doch drängt es die Mystiker aus dem inneren Angerührtsein oder der Erschütterung zur verbalen oder nonverbalen Mitteilung. 10

Witte, Karl Heinz: Zwischen Psychoanalyse und Mystik.

396 https://doi.org/10.5771/9783495860649 .

16. Ist Eckhart Mystiker?

Mystikquivalent in der Psychoanalyse Der britische Psychoanalytiker Wilfred R. Bion (1897–1979) hat diesen Sachverhalt zum Arbeitsschwerpunkt seiner psychoanalytischen Theorie gemacht. In der Analyse der psychoanalytischen Erfahrung mit Hilfe von Denkmustern, welche die Mystiker zur Verfügung stellen, ist er am konsequentesten und gründlichsten vorangeschritten. 11 Bion unterscheidet streng zwischen der inneren Realität selbst, dem psychoanalytischen »Ding an sich«, einerseits und den Weisen andererseits, mit denen ich auf die innere Realität bezogen bin oder sie zum Ausdruck bringe. Das sind meine »Verbindungen (links)«. Sie werden vor allem als »(Er)Kennen«, »Lieben« und »Hassen« manifest. Diese »Verbindungen« erreichen allerdings niemals die Realität selbst, sondern nur deren Erscheinung, also eine Darstellung (representation); diese sind also Umwandlungen (transformations). Konstitutiv für die Psychoanalyse wie für die Mystik ist nach Bion, dass beide die Erfahrung von Wirklichkeiten machen, die mit den Sinnesorganen nicht wahrnehmbar sind. Das unterscheidet sie von der alltäglichen Welterfahrung, die vorstellungs- und sinnengebunden ist. Die Lebensphänomenologie sagt, dass das Leben und seine unmittelbare Selbstoffenbarung nicht »sichtbar« sind, also nicht evident sein können. Niemand hat seine oder eines anderen Angst, Freude, Liebe und Hoffnung jemals gesehen. Die somatischen und neurobiologischen Korrelate solcher Gefühle sind in der Erfahrung des Subjekts nicht die Gefühle selbst. Aus dieser Eigenart der inneren Wirklichkeit ergibt sich eine Parallele zwischen Meister Eckhart und der Psychoanalyse, zumindest wenn man diese mit Bion radikal – in ihrem Wurzelgrund – erforscht. Der Psychoanalytiker weiß, dass wir die seelische Wirklichkeit, die unbewussten Prozesse nicht ›haben‹ können, wie wir Gegenstände der Sinne haben. Sie können auch nicht selbst bewusst gemacht werden, sondern nur in Sprachbilder, Gesten, Träume, Fantasien und Ähnliches umgewandelt werden. Diese Äußerungen sind nicht die innere Wirklichkeit selbst. Das Ereignis einer Veränderung im Sein der Person, die Umwandlung, die zur ›Heilung‹ führt, ist keine im Licht der Welt festIm Folgenden fasse ich einige Thesen aus Bion, Wilfred R.: Transformationen und Bion, Wilfred R.: Aufmerksamkeit und Deutung zusammen. Ausführliche Darstellungen finden sich in Witte, Karl Heinz: Zwischen Psychoanalyse und Mystik.

11

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IV. Phnomenologie der Geburt des Wortes in der Seele

stellbare Tatsache. Sie geschieht in der »dunklen Nacht«, psychoanalytisch »im Unbewussten« der individuellen Seele. Nur die Auswirkungen dieser Umwandlung sind sichtbar. Meister Eckhart sagt dasselbe von der Erfahrung der »Gottesgeburt«.

Hervorgang in geburt wîse Eckharts These ist, dass die Weisen des Hervorgehens im Bereich der Natur, in unserem Sinne also das Entstehen und Hervortreten von Erlebnissen im Bewusstsein und die schöpferischen Prozesse in der Kunst, dieselben sind wie der Hervorgang des Sohnes aus dem Vater in der Trinität. Diese Weise heißt bei Eckhart »Geburt« oder »Zeugung«. Eckhart sagt in der Predigt 46, ›Mulier venit hora‹, Gott offenbare uns alles, was er hat. Mit dieser Offenbarung sind aber keine Worte oder Tatsachen gemeint. Offenbarung ist vielmehr die Selbstmitteilung Gottes. Dazu sagt Eckhart: Er gibt dirz in geburt wîse. 12 Natürlich ist damit zuerst und vor allem die Zeugung oder Geburt Gottes in der Seele gemeint; aber darüber hinaus ist sie auch die Weise des Aufbrechens seelischer Prozesse, die als innere Wahrheiten ›im Unbewussten‹ geschehen. Die »Zeugung« steht im Unterschied zum Machen, Schaffen, Erschaffen. Diese sind die Weisen, wie die Schöpfung, wir würden sagen: die Welt, hervorgeht, nach dem Modus von Ursache und Wirkung. Dabei ist nicht nur an Gottes Schaffen zu denken, sondern allgemein an das technische Herstellen, das in der Biotechnik heute auch die natürlichen Wachstumsprozesse dominiert. Aber auch das planmäßige Handeln des Menschen, das eine Vorstellung zum Ziel hat, auf das hin die Mittel arrangiert werden, hat nicht die Weise der Zeugung oder Geburt, die Eckhart meint. Zeugung und Geburt sind nach mittelalterlicher Vorstellung das Hervortreten eines Anderen, des Geborenen oder Sohnes, der doch dem Wesen nach nichts anderes, sondern dasselbe ist wie der Vater. Damit wird ein Begründungsmodus eingeführt, der dem verdinglichenden Denken fremd ist, ein Grund ohne Wirk- und ohne Finalursache, ohne Warum und Wozu. Aber wir kennen diese Art des Hervorgangs in unserem inneren Erleben. Es ist die Weise, wie Gedanken, Gefühle, Entscheidungen, Lebenshaltungen in unserem Bewusstsein entstehen, fern von aller Neu12

Pr. 26; 29,6.

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16. Ist Eckhart Mystiker?

rologie und Psychologie, rein in unserem Erleben. Gedanken und Gefühle werden nicht gemacht. Sie entspringen, tauchen auf, sind irgendwie da. Sie können, sie müssen dann verarbeitet werden; aber dem Verarbeitungsprozess voraus liegt ein Bewegtsein von innen. Die Lebensphänomenologie nennt dies das Affiziertsein oder die Selbstaffektion. Bion hat eine Theorie der psychoanalytischen Praxis entworfen. Seine Folgerung aus der ›Ungreifbarkeit‹ der inneren Prozesse ist, dass der Psychoanalytiker auf jedes Erinnern, Wünschen und Verstehen im psychoanalytischen Prozess verzichten solle; denn damit greife er der Selbstoffenbarung der inneren Wirklichkeit vor. Er soll nur warten, damit eine Deutung aus dem Unbewussten »evolvieren« kann. Sein eigenes Unbewusstes kommt dabei in eine Mitschwingung mit dem Unbewussten des Analysanden. Bion empfiehlt also eine meditative, eher rezeptive Haltung. Von Eckhart wurden seine Seelsorgeschüler belehrt, die Gottesgeburt geschehe nicht in den »Kräften« der Seele, das sind die Bewusstseinsakte Erkennen und Wollen, sondern im verborgenen Grund, im Innersten der Seele. Darum kann die Gottesgeburt nicht erkannt und durch keinerlei religiöse Übung vorbereitet werden. Das einzige angemessene »Mittel« ist Schweigen. Die Unerfahrbarkeit bringt den Suchenden in eine innere Unruhe, in ein Erkennenwollen, ohne zu wissen, was es ist. Diese »Finsternis« gilt es auszuhalten; denn in dieser unbekanten bekantnisse wirkt Gott. 13 Des Menschen Part in dieser Beziehung ist die Bereitschaft, wie Eckhart sagt: eine »mögliche Empfänglichkeit«, in der du dich finden wirst. 14 Eckhart kennt demnach eine Vorgehensweise, die derjenigen Bions ähnelt. Er bestreitet wie dieser die direkte Zugänglichkeit der letzten Realität für die Erkenntnis. Demgemäß gibt es für Eckhart keine Vereinigung mit Gott, sondern eine ontologische Einheit. Und so ist die Gottesgeburt nicht direkt erfahrbar, da sie ja im Sein des Menschen geschieht, sondern sie ist nur – mit Bions Wort – in ihren »Transformationen« erahnbar: Das »Licht« der Einwohnung Gottes strahlt aus dem Grund der Seele hervor und fließt über ins Bewusstsein und in den äußeren Menschen. »In dieser Geburt ergießt sich Gott mit Licht in die Seele, sodass das Licht im Wesen und im Grund der Seele so groß wird, 13 14

Pr. 101; 160. Pr. 103; 479,49.

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IV. Phnomenologie der Geburt des Wortes in der Seele

dass es sich hinauswirft und in die Kräfte [Erkennen und Lieben] und sogar in den äußeren Menschen [Persönlichkeit] überfließt.« 15 »Dieses Licht kann der Mensch erkennen. Plötzlich geht ihm ein Licht auf und gibt ihm zu erkennen, was er tun und lassen soll, und ihm kommen viele gute Hinweise, von denen er zuvor nichts wusste und die er nicht verstand.« 16 Wir finden bei Eckhart Bions Idee vom ständigen »Evolvieren« der Ideen wieder, die sich in meditativer Haltung, ohne Erinnern, Wünschen und Verstehenwollen, im Bewusstsein formen oder, wie Eckhart sagt, im Schweigen und im Dunkel des Geistes.

Mystik als Kulturform – Lebensphnomenologie Die vorausgehenden Überlegungen sollen zeigen, dass die Erfahrungsweise, die der Mystik zugrunde liegt, auch in der Psychoanalyse anzutreffen ist. Beide Kulturformen heben diese Form der Erfahrung besonders hervor. Diese ist aber nicht auf sie beschränkt, sondern findet dort nur besondere Aufmerksamkeit, während sie auch die lebensentscheidenden Haltungen der Menschen prägt, weil sie – im Wesen nicht begründbar und nicht evident – unmittelbar aus dem Herzen der subjektiven Wahrheit entspringen, um Eckharts Beteuerungen aufzugreifen. Allerdings findet diese Qualität der Erfahrung im allgemeinen Bewusstsein wenig Aufmerksamkeit, weil sie den Herrschaftsansprüchen des Ich und der Rationalität zuwider ist. Muss noch ausdrücklich betont werden, dass das Phänomen in den verschiedenen Bereichen inhaltlich verschieden erscheint? Nur die ›Erkennntnisform‹ folgt demselben Muster; doch das Was der Erfahrung ist sehr verschieden. Auch in der Philosophie und in der modernen Phänomenologie findet die mystische Erfahrungsweise als Grundqualität der Erfahrung überhaupt wenig Beachtung. Darauf hat Rolf Kühn ist seinem jüngsten Eckhartwerk hingewiesen, in dem er die »Mystik« ausdrücklich in den

Pr. 102; 412,34–36: In dirre geburt ergiuzet sich got in die sêle mit liehte alsô, daz daz lieht alsô grôz wirt in dem wesene und in dem grunde der sêle, daz ez sich ûzwirfet und übervliuzet in die krefte und ouch in den ûzern menschen. 16 Pr. 102; 413,45–48: Dises liehtes wirt der mensche wol gewar. Swenne er sich ze gote kêret, alzehant glestet und glenzet in im ein lieht und gibet im ze erkennenne, waz er tuon und lâzen sol und vil guoter anewîsunge, dâ er vor niht abe enweste noch enverstuont. 15

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16. Ist Eckhart Mystiker?

Mittelpunkt rückt. 17 Das absolute Leben oder die Gottheit sind weder über eine Differenz noch über phänomenologische Sichtbarkeit zugänglich, wie Kühn immer wieder betont. Vielmehr ist die Selbstoffenbarung des göttlichen Lebens das Wesen unseres immanenten Empfindens, so deutet Kühn mit Eckhart das transzendentale Geborenwerden des Menschen, welcher seinem Wesen nach Sohn ist, dem Gott sein ganzes Wesen und alle seine Eigenschaften mitteilt. Dadurch wird »Mystik« die Weise »des ›menschlichen‹ Erfahrenkönnens selbst«. Und so erweist sie sich als die »abgründige Praxis des Erlebens« schlechthin. 18 Darum hat sein »radikal phänomenologisches Gespräch mit Meister Eckhart« auch den Titel ›Ungeteiltheit – oder M y s t i k a l s A b - G r u n d d e r E r f a h r u n g ‹. 19 Aus dieser radikalen Bestimmung jedes Menschseins als »Passibilität« oder »Empfänglichkeit«, die in einem vorgängigen Affiziertwerden wirklich sind, welches jedes Denken, Wollen und Handeln des Egos anstößt, schließt sich Kühn der gewaltigen Aussage Michel Henrys an: »Daher gibt es eine Kultur des Gefühls, die zwar nicht die Kultur dieses oder jenes Gefühls ist: des Vergnügens, des Hasses, des Sadismus usw., sondern des Gefühls selbst als solchen, nämlich eines Sich-Selbst-Empfindens des SichSelbst-Empfindens, das sich bis zu dem hinsteigert, was sich eine ontologische Trunkenheit nennen ließe. Die Mystik ist die eigentliche Disziplin, welche die Selbsterfahrung des Gefühls in seinen grundsätzlichen Möglichkeiten im Blick hat. Als solche ist die Mystik deshalb eine wesenhaft praktische Disziplin. Jedoch ist sie in jeglicher Tätigkeit der Kultur gegeben, sodass deutlich gezeigt werden muss, warum.« 20

»Mystik« in diesem Sinne ist eigentlich kein Schul- oder Wissensfach und keine religionswissenschaftliche oder literaturhistorische Kategorie für eine bestimmte Religionsübung bzw. literarische Form, die in der Tat in allen Religionen auf gemeinsamem Grund einen kulturspeKühn, Rolf: Ungeteiltheit – oder Mystik als Ab-Grund der Erfahrung, S. 65 unterstellt, dass »gerade die Mystik ein Korrektiv gegenüber einer Phänomenologie bedeuten kann, die sich entweder der Metaphysik und Religion substituieren will, bzw. sich gänzlich von ihnen lösen möchte. Es ist immerhin erstaunlich, dass in den gegenwärtigen Verhältnisbestimmungen zwischen den genannten Disziplinen die Mystik kaum ernsthaft für ein solches Vorgehen in Betracht gezogen wurde.« 18 Kühn, Rolf: Gottes Selbstoffenbarung als Leben, S. 176. 19 Dazu Kühn, Rolf: Ungeteiltheit – oder Mystik als Ab-Grund der Erfahrung, S. XVIIII. 20 Henry, Michel: Die Barbarei, S. 318 f.; zitiert bei Kühn, Rolf: Ungeteiltheit – oder Mystik als Ab-Grund der Erfahrung, S. 102. 17

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IV. Phnomenologie der Geburt des Wortes in der Seele

zifischen Ausdruck fände. Noch über die Bestimmung der Mystik hinaus – als einer bestimmten Erfahrungsweise – wird Mystik bei Henry und Kühn – »kriteriologisch«, wie Kühn es nennt – zum Erweis der reinen Ursprungserfahrung, die der Selbstentzündung des Lebens im passiblen Ich entspringt, zum »Ab-Grund der Erfahrung«. »Dieser wesenhaft universale Grundzug solcher ›Mystik‹ als ›Praxis‹, wie sie als transzendentale Ermöglichung reell alle lebensweltlichen Phänomene durchströmt (Natur, Ästhetik, Gemeinschaftlichkeit, Religion, Ethik etc.) plädiert daher nicht für eine besondere Epistemologie als ›mystische Wissenschaft‹ etwa, sondern folgt nur dem radikal phänomenologischen Imperativ reiner Erscheinensanalyse, die Erkenntniskategorien allen Wissens und Tuns selbst aus der immanenten Praxis eines absoluten Lebensvollzugs hervorgehen zu lassen.« 21

Dieser Satz expliziert, was der Titel dieses Buches sagt: »Leben aus dem Grunde des Lebens«. Darin ist »Leben« in einer zweifachen Bedeutung genannt: Zunächst ist der Lebensvollzug angesprochen, dessen Quelle das ›Leben‹ selber ist. In diesem Lebensvollzug werden die »lebensweltlichen Phänomene«, »Natur, Ästhetik, Gemeinschaftlichkeit, Religion, Ethik etc.«, gelebt, aber auch die »Erkenntniskategorien alles Wissens und Tuns«, das heißt auch das Denken, sollen aus einem »absoluten Lebensvollzug« oder »aus dem Grunde des Lebens« entspringen. In dieser zweiten Bedeutung ist jenes »Was« angesprochen, das nach Eckhart »nicht dies oder das« ist (achtes Kapitel). »Leben« ist ganz unscheinbar, sodass es beinahe banal klingt, davon zu sprechen. Das ist so, weil damit gerade nichts Bestimmtes gemeint sein kann, nichts Besonderes, mit dem man etwas anfangen könnte, nichts, was mich von anderen unterscheidet, solange man es nicht mit Diesem oder Jenem verwechselt, das im Leben und durch das Leben erst ermöglicht wird. Darum ist dieser Begriff auch nicht zu verwechseln mit den Vorstellungen des Vitalismus und der Lebensphilosophie, sofern diese im ›Leben‹ noch einen Rest von dinglicher Urkraft oder einen ›Strom‹ mitdenken, wenn sie nicht gar von biologistischen Substanzialisierungen ausgehen. Freilich ist dieses »Was« mit Namen »Leben«, das kein Dies oder Das ist, schwer zu denken, da Denken im abendländischen Verständnis meistens Etwas-denken meint, so wie Bewusstsein als Bewusstsein von etwas verstanden wird. Dieses unbestimmte »Was« ist gerade verschieden von jenem aristotelischen Was, der ousia oder qui21

Kühn, Rolf: Ungeteiltheit – oder Mystik als Ab-Grund der Erfahrung, S. 15 f.

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16. Ist Eckhart Mystiker?

ditas, das jedes Seiende jeder Art – vom Stein über den Engel (substantia separata) 22 bis zu Gott – bestimmt. Von diesem Was sagt Eckhart, dass dem »edlen Menschen« das Wesen nicht genügt, das die Engel ohne Erkenntnisform begreifen und an dem sie ohne Vermittlung hängen; ihm genügt nur das »einzig Eine«, 23 wie im neunten Kapitel dargestellt wurde. Es ist eigentlich unmöglich, zu sagen, was dieses eckhartsche »Was« ist, »das nicht dies oder das ist«, jenes Was, das in der Gegenstellung zum aristotelischen Wesen das »einzig Eine« heißt und das mit »Leben« gleichgesetzt werden darf; denn mit der Frage ›Was ist das?‹ würde man wiederum nach einem Etwas, einer Definition oder quiditas fragen. Alle »Allgemeinbegriffe« (termini generales und spirituales) sind einer Definition nicht zugänglich, weil sie keine dingliche Washeit kennen: Denken (Vernunft), Leben, Sein, Wahrheit, Gerechtigkeit, Freiheit, Liebe, Gott sind allenfalls als Vollzüge charakterisierbar. Das ist mit anderen Worten nochmals der Grund dafür, dass wir uns mit diesen Gedanken Eckharts nicht im Bereich einer ontotheologischen Metaphysik aufhalten noch in einer Phänomenologie, die beschreibbare Phänomene, Evidenzen, ins Auge fasst. Die zutreffende Zugangs- oder besser Wahr-Nehmungs-Weise heißt »mystisch«.

Eckharts Mystik Um dieser ›Mystik‹ Eckharts näherzukommen, sei nochmals auf jenes Textstück zurückgegriffen, das diesem Buch als Motto vorangestellt ist: »So gewiss der Vater seinen einzigen Sohn in seiner Natur [in der Trinität] gebiert, so gewiss gebiert er ihn in das Innerste des Geistes, und das ist die innere Welt. Hier ist Gottes Grund mein Grund und mein Grund Gottes Grund. Hier lebe ich aus meinem Eigenen, wie Gott aus seinem Eigenen lebt. Wer in diesen Grund jemals nur einen Augenblick geschaut hat, dem sind tausend Mark rote Goldmünzen wie ein falscher Heller. Aus diesem innersten Grunde sollst du alle deine Werke wirken ohne Warum und Wozu«. 24 Aristoteles, Metaphysik XII c. 7; 1073a: ousía kecho¯risméne¯, substantia separata. e Pr. 15; 251,13–15: Nun sprich ich, das disem edlen mentschen genuget nit an dem wesen, das die engel begriffent vnformlichen vnd dar an hangent svnder mittel; im e begnuget nit ›dan‹ an dem ainigen ain. 24 Pr. 5b; 90,6–12: Als wærlîche der vater in sîner einvaltigen natûre gebirt sînen sun natiurlîche, als gewærlîche gebirt er in in des geistes innigestez, und diz ist diu inner 22 23

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IV. Phnomenologie der Geburt des Wortes in der Seele

In diesem Text sind fast alle Themen der Mystik Eckharts versammelt: die Geburt in Gottes Natur wie im Geiste; die innere Welt; der identische Grund, aus dem das Leben als mein und Gottes Eigenes (Ich, Ipseität) hervorgeht; die mögliche Erfahrung des Grundes; das neue Wertempfinden, das die Geltungswerte als scheinhaft enthüllt; eine norm- und zweckfreie Ethik. Freilich sind alle diese Konzepte für sich genommen philosophisch, insofern jedes in einem überlieferten Problemdiskurs wurzelt; aber sie sind dem einzelnen Hörer in einer Predigt als Grundlage und Anleitung zu seiner Selbst- und Gotteserfahrung und zu seiner spirituellen Selbstgestaltung gesagt. Damit überschreiten sie den gewohnten theoretisch-philosophischen Horizont, auch wenn nicht geleugnet werden kann, dass Philosophie vor allem in der vorchristlichen und christlichen Antike, weniger im Mittelalter, Lebenslehre sein wollte. Das Mystische, oder wenn man es mit einem weniger belasteten Begriff hören will: das Existenzielle, liegt darin, dass ausdrücklich der Einzelne in seinem Eigenen aufgerufen ist. Gerade die Absichtslosigkeit, das sunder warumbe, schließt das Befolgen allgemeiner Regeln, ja sogar das Ziel, die Seligkeit zu erlangen, aus. Alles Tun und Wirken soll allein aus dem innersten Grunde entspringen. Wenn das Philosophie genannt werden soll, dann wäre es eine ›Philosophie‹, die als Praxis kein Allgemeines mehr kennt, eine ungewöhnliche Philosophie. Sie dürfte mit guten Gründen »mystisch« genannt werden. Wenn ich im Folgenden eine Interpretation dieser Ausführungen über den gemeinsamen Grund versuche, überschreite ich Eckharts authentische Sichtweise insofern, als ich sie in eigene Denkweisen übertrage. Gleichwohl hoffe ich, den Rahmen, den Eckharts Schriften setzen, nicht dadurch zu sprengen, dass ich Kategorien anwende, die seinem Denken unangemessen wären. Darum bleiben solche Dimensionen, die häufig auf Eckhart angewandt werden, außer Betracht, wie zum Beispiel Erfahrungen, die aus der Meditation oder der transpersonalen Psychologie gewonnen werden, erweiterte Bewusstseinszustände betreffend. Ebenso werden Anwendungen auf die Lebenspraxis nicht berücksichtigt wie auch Interpretationsmuster nichtwerlt. Hie ist gotes grunt mîn grunt und mîn grunt gotes grunt. Hie lebe ich ûzer mînem eigen, als got lebet ûzer sînem eigen. Swer in disen grunt ie geluogete einen ougenblik, dem menschen sint tûsent mark rôtes geslagenen goldes als ein valscher haller. ûzer disem innersten grunde solt dû würken alliu dîniu werk sunder warumbe.

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16. Ist Eckhart Mystiker?

christlicher Religionen. Auch die Interpretation, die Rolf Kühn aus lebensphänomenologischer Sicht Eckhart zukommen lässt, übernehme ich im Detail nicht, obwohl ich vor ihr höchsten Respekt bekunde. Dies alles sind Sichtweisen auf Eckhart, die ihn – von einem ihm fremden, wenn auch verwandten Standpunkt aus – anders sehen und verstehen, als er es selbst getan hat. Es steht mir nicht zu, zu beurteilen, inwiefern solche Versuche legitim sind. Ich möchte mein Verständnis Eckharts, soweit das möglich ist, aus seinen Texten heraus entwickeln. 1. »So gewiss der Vater seinen einzigen Sohn in seiner Natur [in der Trinität] gebiert, so gewiss gebiert er ihn in das Innerste des Geistes, und das ist die innere Welt.« Eckhart sagt einschränkend, die Geburt des homo divinus als Sohn geschehe per Adoption und gemeint sei nicht der Mensch als Geschöpf. Aber die wesentliche Aussage ist, dass es derselbe Sohn sei. In der äußeren Welt der substanzhaften Wesen kann es das nicht geben, dass zwei Söhne derselbe Sohn sind; sie haben höchstens denselben Vater. Das würde wohl auch Eckhart für Jesus von Nazareth und Konrad aus Thüringen gelten lassen. Aber mit seiner Identitätsaussage meint er das nicht. Eckhart sagt: »Das ist die innere Welt.« Inwiefern ist es hier anders? Im Inneren, jedenfalls im westlichen Verständnis, laufen alle Beziehungsfäden im Ich zusammen. Und hier ist daran zu erinnern, dass nicht das empirische Ich ›meiner‹ biografischen Identität gemeint ist, sondern das transzendentale Ich ›meiner‹ Selbigkeit. Jesus, sofern er in ›meinem‹ Inneren ist, ist dem Sein nach kein anderer als »ich«, und »Gott und ich, das ist eins« nicht in der Außenwelt ›des Himmels und der Erde‹, sondern im Inneren. Es ist für unser gewohntes Denken nicht leicht, Eckharts Immanenz zu denken und gar von ihr zu sprechen. Wir sind es gewohnt, Gott zu denken, »als sei er dort und ich hier«, wie Eckhart sagt. Wenn wir diese Distanz aufheben wollen, geschieht es leicht, dass der Mensch in göttliche Höhen erhoben wird oder dass Gott als nebenmenschliches Subjekt fungiert, sei es als Begleiter, Über-Ich-Instanz oder Träger projizierter Ideale. In der gewohnten Platzverteilung ist einer oben, der andere unten; und das bringt die Tendenz mit sich, den Oberen herunterzuholen, wie es Eckhart der »zornigen« Kraft zuschreibt (siehe S. 370 f.). Oben und unten als identische oder reversible Beziehung zu denken, wie Eckhart es tut, ist schwer zu verstehen. Eine Hilfe kann es vielleicht sein, Eckharts Auflösung dieser Polarität zu folgen, wenn er sagt: »Was oben war, das wurde innen. […] nicht, dass wir etwas neh405 https://doi.org/10.5771/9783495860649 .

IV. Phnomenologie der Geburt des Wortes in der Seele

men von dem, was über uns ist; wir sollen es vielmehr in uns nehmen und sollen es nehmen von uns in uns selbst.« 25 Was mag es bedeuten, wenn innen an die Stelle von außen und oben, aber auch von unten tritt? Im Blick ist dann nicht mehr der Vater oben, der den Sohn unten gebiert, oder der Sohn, der vom Vater gezeugt ist, sondern die Geburtlichkeit als Sein und Leben. Mit Eckhart ließe sich sagen: Der Vater ist Gebären, der Sohn ist Geborenwerden; aber nicht so, dass Gebären/ Geburt Wesens a t t r i b u t e der Personen sind, sondern deren Wesen selbst. Auf das Sohn- oder Tochtersein des Menschen angewandt, hieße das, das eigene Sein, aber auch alles, was wir in uns empfinden und aufnehmen, als unaufhörliches und ununterbrochenes Geborenwerden zu erfahren. In theologischen und mythologischen Worten: Das Innere i s t incarnatio continua; das Innere ist das nie endende Weihnachtsereignis. Diese Formulierungen sollen mit Bedacht hervorheben, dass das Innere nicht ein Ort ist, an dem etwas geschieht, sondern dass es sich durch das Geschehen der Inkarnation stets ankünftig konstituiert. Diese Gedanken können wie Vorstellungen ›gedacht‹ werden. ›Wahr‹ sind sie aber nur, wenn sie sich aus dem meditativen Empfinden ins Wort bringen: »Damit etwas in eigentlicher Weise gewortet werden kann, muss es von innen herauskommen und sich aus einer inneren Form heraus bewegen.« 26 2. »Hier ist Gottes Grund mein Grund und mein Grund Gottes Grund. Hier lebe ich aus meinem Eigenen, wie Gott aus seinem Eigenen lebt.« Mit »Hier« wird an die »innere Welt« angeknüpft. Der gemeinsame »Grund« liegt also im Innen. Was der Grund ist, wird im nächsten Satz gesagt: Er ist das, woraus »ich« lebe und woraus Gott lebt. Dieses heißt das »Eigene«. »Das Leben lebt aus seinem eigenen Grunde«, sagt Eckhart unmittelbar vorher in derselben Predigt. Das Leben hat demnach ebenso wenig eine Ursache wie Gott; es lebt aus sich selbst. Das, woraus Leben, Gott und »ich« leben, wird gemeinsam das »Eigene« genannt. – Diese Sätze klingen nicht von ungefähr, als ob sich die verschiedenen Begriffe im Kreise um dasselbe drehen würden. Das Pr. 14; 237,10–13: [D]at ouen was, dat wart in. du salt geinneget werden inde van dich seluer in dich seluer, dat hey in dir sy. neit, dat wir eit nemen van deme, dat bouen ons sy; wir solent in ons nemen inde solent neimen van ons in ons seluer. 26 Pr. 4; 66,3 f.: [S]waz eigenlîche gewortet mac werden, daz muoz von innen her ûz komen und sich bewegen von innerer forme. 25

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16. Ist Eckhart Mystiker?

Zentrum ist das Eine. Dies ist aber kein Totes, sich selbst gleich bleibendes Unbewegtes. Es ist Leben, das quillt. Es ist auch Leben, das meins ist. Das hier in die Lebensdynamik Gottes einbezogene »ich«, das Eckhart von sich in der Ersten Person sagt, kann nur von Freude erfüllt sein. Es ist die Freude Gottes und die Freude des Lebens, die »mich« umtreibt. 3. »Wer in diesen Grund jemals nur einen Augenblick geschaut hat, dem sind tausend Mark rote Goldmünzen wie ein falscher Heller.« Diese Freude ist wiederum ein Feuer, das – im Inneren – sich an sich selbst entzündet und verzehrt, ohne sich zu verbrauchen. Im Äußeren brauchen wir fremde Nahrung, Mittel, die Nahrung zu beschaffen, an der wir uns entzünden und befriedigen können. Es ist jene Nahrung, von der wir – laut Eckhart – essen, ohne satt zu werden (oben 6. Kapitel, S. 127 ff.). Doch wenn wir einmal von der Nahrung der Freude im Quell des Grundes gekostet haben, wissen wir, dass alles, was in der Welt gilt, nur scheinbar etwas taugt. Mit Geld kann man etwas erwerben. Das ist im Alltagsleben gut und notwendig. Aber die Freude des Lebens kann man nicht erwerben, ja nicht einmal anstreben, weil sie als Zielobjekt nicht konkret genug erfassbar ist. Alles, was zur Freude gehört, ist selbst die Freude nicht. Im ›Gottesgeburtszyklus‹ wird der Einwand vorgetragen, jede Erkenntnis müsse über die Sinne hereinkommen und in Vorstellungsbilder gefasst werden. Dem widerspricht Eckhart heftig. Was über die Erkenntnis in der natürlichen Philosophie geschrieben worden sei, habe den »Grund« nicht erfasst. Doch es gebe eine Weise, in den Grund zu kommen; aber das Wort komme in der Finsternis der Nacht (Pr. 101; 365, 195–200). Die mystische Erfahrung der Gottesgeburt ist kein Erkenntnisakt. Das zeigt auch das Beispiel des heiligen Paulus. Von ihm sagt Eckhart mit Augustinus: »Als Sankt Paulus nichts sah, sah er Gott«, und dann radikalisiert er diese Aussage: »Als er das Nichts sah, sah er Gott.« 27 Gott ist nichts Seiendes; darum ist er nicht unterscheidbar, also nicht erkennbar. Das ist wieder die Botschaft von der unbekanten bekantnisse, jener ›Erkenntnis‹, die keine Erkenntnis ist. Für diesen Sachverhalt lassen sich bei Eckhart und in der christlichen Tradition viele Umschreibungen finden; doch sie alle erklären nichts. Vielleicht sind es Worte, die aus 27 Pr. 70; 189,3–190,1: Ich hân etwenne gesprochen, daz sant Augustînus sprichet: ›dô sant Paulus niht ensach, dô sach er got‹. Nû kêre ich daz wort umbe, und ist wol bezzer, und spriche: dô er sach niht, dô sach er got.

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dem Geheimnis sprechen; aber durch das Darüber-Sprechen können die Worte nicht in das Geheimnis führen. Vielleicht ist unbekante bekantnisse dem ähnlich, was im Zen ein »Ko¯an« heißt. 4. »Aus diesem innersten Grunde sollst du alle deine Werke wirken ohne Warum und Wozu, sunder warumbe.« Da der »Grund« das Eine, Ununterschiedene und Ununterscheidbare ist, kann man daraus kein begründbares Ziel gewinnen. Der Grund ist selbst sunder warumbe. Weder die menschliche noch die göttliche Vernunft und Liebe als Personen der Trinität »lugen« da hinein. Darum ist auch das »Wirken« aus diesem Grunde sunder warumbe. Die Mystik des Grundes ist kein Feld der Erkenntnis oder des Erlebnisses, sondern des Seins und daraus entspringend des Handelns.

Mystik »bei den Dingen«: Martha und Maria Persönlich gewendet heißt das: Der Mystiker, der nach der Vereinigung mit Gott oder Jesus strebt, befestigt gegen seinen Willen das Getrenntsein. Der ›vollendete‹ Mystiker bleibt in der Einheit, wenn er »bei den Dingen« steht, und er handelt aus der Einheit, wenn er die Dinge besorgt. In der biblischen Perikope (Luk. 10,38–42), die Eckhart in Predigt 86, ›Intravit Iesus in quoddam castellum‹, 28 auslegt, stellt er uns in Maria und Martha diese beiden Stadien der Entwicklung des Mystikers vor. »Maria saß zu den Füßen unseres Herrn und hörte seine Worte. Martha aber ging umher und diente dem geliebten Christus.« 29 Der Kommentar, den Eckhart diesem Ausgangspunkt der AnekdoMieth, Dietmar: Predigt 86: ›Intravit Jesus in quoddam castellum‹, S. 156–165 hat überzeugend nachgewiesen, dass diese Predigt inhaltlich mit Eckharts Lehre konsistent ist. Sollten weiterhin philologische Zweifel an der Echtheit bestehen, die allerdings schwer zu belegen sein dürften, halte ich es mit der Bemerkung von McGinn, Bernard: Die Mystik im Abendland, Bd. 4: Fülle, S. 319, die sich auf Predigt 86 und die derzeit noch nicht kritisch edierte ›Reich-Gottes-Predigt‹, Nr. 117, ›Ze dem êrsten suochet daz rîche gotes‹ bezieht: »Aber falls sie nicht von Eckhart stammen sollten, wer hätte sie dann gehalten? Gab es einen Mystik-Prediger, der eckhartischer war als Eckhart selbst?.« Derselbe Zweifel trifft auch auf den Traktat ›Von abegescheidenheit‹ zu. Für Pr. 117 (demnächst in DW IV,2) ist die Frage allerdings entschieden. Der Herausgeber, Georg Steer, weist nach, dass der Autor nicht Meister Eckhart ist, aber Eckhart gut gekannt hat (persönliche Mitteilung). 29 Pr. 86; 481,4: Marîâ; diu saz ze den vüezen unsers herren und hôrte sîniu wort; aber 28

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te gibt, spiegelt seine Skepsis der ekstatischen Erlebnismystik gegenüber: »Maria war so voll Sehnsucht: Sie sehnte sich, sie wusste nicht wonach, sie wollte, sie wusste nicht was. Wir haben sie im Verdacht, die liebe Maria, sie säße mehr um des Lustgewinns als um des geistigen Gewinnes willen da.« 30 Zugleich wird durch die starke Betonung des Sehnens klar, dass hier der Typ der Mystikerin geschildert ist, den ich zuvor angesprochen habe, der durch sein Sehnen die Erfüllung seines Strebens verhindert. 31 Es ist allerdings nicht zu verkennen, dass oft unter dem Begriff »Mystik« dieser Typus verstanden wird. Und sicher ist Eckhart in diesem Sinn kein Mystiker. 32 Vielmehr ist es so, wie Dietmar Mieth prägnant formuliert: »Wer zu Eckharts ›Mystik‹ will, muss durch seine ›Antimystik‹ hindurch.«33 So scheint es zunächst auch, als ob Eckhart in der Figur der Martha ein Beispiel von »Antimystik« entworfen hätte: »Deshalb sprach Martha: ›Herr, heiße sie aufstehen!‹, denn sie befürchtete, dass sie [Maria] in der Lust verharre und nicht weiter käme.« 34 Die Antwort Jesu an Martha wird zunächst zitiert; darin gibt Eckhart mit Jesus dem Sehnen Marias recht. Dann aber deutet Eckhart die Antwort Jesu als Trost für Martha, und zwar als Versicherung, dass Maria schon auf den Weg kommen werde, den Martha repräsentiert: »Da antwortete ihr Christus und sprach: ›Martha, Martha, du bist besorgt, du wirst um vieler Dinge willen betrübt. Davon ist eins notwendig. Maria hat den besten Teil erwählt, der ihr niemals genommen werden kann.‹ Das sprach Christus zu Martha nicht tadelnd, sondern er gab ihr Antwort und Trost: Maria würde noch werden, wie sie [Martha] es wünschte.« 35 Marthâ gienc umbe und dienete dem lieben Kristô. Ich zitiere im Folgenden den Bibeltext immer nach dem Wortlaut, den Eckhart bietet. 30 Pr. 86; 483,12: Marîâ was sô vol girde: si gerte, si enwiste wes, und wolte, si enwiste waz. Wir hân sie arcwænic, die lieben Marîen, si sæze etwenne mê durch lust dan durch redelîchen nutz. 31 Eine phänomenologisch-psychologische Analyse dieser Gesetzmäßigkeit findet sich in Witte, Karl Heinz: Sehnsucht: Trieb, Begehren, Streben. 32 In diesem Sinne hat Flasch, Kurt: Meister Eckhart – Versuch, ihn aus dem mystischen Strom zu retten, recht. 33 Mieth, Dietmar: Meister Eckhart: Einheit mit Gott, S. 70. 34 Pr. 86; 483,15 f.: Dâ von sprach Marthâ: herre, heiz sie ûfstân, wan si vorhte, daz si blibe in dem luste und niht vürbaz enkæme. 35 Pr. 86; 483,17–20: Dô antwurte ir Kristus und sprach: Marthâ, Marthâ, dû bist sorcsam, dû wirst betrüebet umbe vil. Des einen ist nôt. Marîâ hât den besten teil erwelt, der ir niemer enmac benomen werden. Diz wort ensprach Kristus niht ze Mar-

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Aus diesem Kommentar Eckharts ist zu entnehmen, dass er in der biblischen Perikope eine Entwicklung angedeutet sieht. Tatsächlich heißt es an einer späteren Stelle in diesem Text: »Maria wurde erst Martha, bevor sie Maria wurde; denn als sie zu Füßen unseres Herrn saß war sie [noch] nicht Maria. Sie war es wohl dem Namen nach; sie war es aber nicht in ihrem Wesen; denn sie saß da in Lust und Süßigkeit und wurde erst einmal zur Schule gesetzt, um leben zu lernen. 36

Um das Ende dieser Entwicklung zu verstehen, an dem die lernende Maria zur wahren Maria geworden ist, muss man wissen, dass Eckhart offensichtlich – entsprechend einer Legenden-Tradition – diese Maria von Bethanien mit der ebenfalls biblischen Maria Magdalena gleichsetzt. Von dieser sagt die Legende, dass sie nach dem Pfingstereignis (mit Maria, der Mutter Jesu, und dem Apostel Johannes) nach Ephesus, in einer anderen Version nach Südfrankreich, gereist sei. Eckhart sagt dazu: »Aber danach, als sie gelernt hatte und Christus in den Himmel aufgefahren war und sie den Heiligen Geist empfangen hatte, fing sie erst an zu dienen. Sie fuhr über das Meer und predigte und lehrte und wurde eine Dienerin und Wäscherin für die Jünger.« 37

Das darf man wohl so verstehen, dass sie nun zu Recht Maria hieß, weil sie nun auch den Stand erreicht hatte, den Eckhart in der Jesus-Begegnung Martha zuschreibt. Von diesem Stand der Martha ist in der Predigt 86 ausführlich die Rede. Eckhart kommentiert, dass Jesus Martha zweimal anredet: »Martha, Martha«: »Jesus meinte damit: Alles, was zeitliches und ewiges Gut ist und was das Geschöpf besitzen wird, das hatte Martha gänzlich. Beim ersten Mal, als er »Martha« sagte, da bezeugte er ihre Vollkommenheit in zeitlichen Werken. Beim zweiten Mal, als er »Martha« sagte, bezeugte er, dass ihr nichts mangelte, was zur ewigen Seligkeit gehört. Darum sagte er: ›Du bist besorgt‹, und then in einer strâfenden wîse, mêr: er antwurte ir und gap ir trôst, daz Marîâ werden sölte als si begerte. 36 Pr. 86; 491,9–12: Marîâ was ê Marthâ, ê si Marîâ würde; wan, dô si saz bî den vüezen unsers herren, dô enwas si niht Marîâ: si was ez wol an dem namen, si enwas ez aber niht an dem wesene; wan si saz bî luste und bî süeze und was allerêrst ze schuole gesetzet und lernete leben. 37 Pr. 86; 492,8–11: Aber dar nâch, dô si gelernete und Kristus ze himel gevuor und si den heiligen geist enpfienc, dô vienc si allerêrst ane ze dienenne und vuor über mer und predigete und lêrte und wart ein dienærinne und ein wescherinne der jünger.

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meinte damit: ›Du stehst bei den Dingen, und die Dinge stehen nicht in dir.‹ Die sorgen [richtig], die ohne Behinderung in all ihrem Gewerbe stehen.« 38

Die Tätigkeit in der Welt, von der hier die Rede ist, nennt Eckhart ein »zweifaches Mittel«, das heißt die Verbindung zu Gott ist hier nicht unmittelbar; es steht etwas dazwischen. Das eine sind Werke und Gewerbe in der Zeit, ohne die wir nicht zu Gott finden. Eckhart unterscheidet hier die »Werke« vom »Gewerbe«. Während er unter Werken äußerliche Tugendübungen versteht, handelt es sich beim Gewerbe um vernünftiges und kundiges Handeln aus dem Inneren heraus. Das zweite Mittel aber ist, von diesem Getriebe unberührt zu bleiben und so von diesem Mittel innerlich frei zu sein. 39 »Denn darum sind wir in die Zeit gesetzt, dass wir durch zeitliches und vernünftiges Gewerbe Gott näher [kommen] und ähnlicher werden.« 40 Auf diese Weise gilt es, sein Tun auf das »ewige Licht« auszurichten. 41 »Denn wer da wirkt im Licht, der steigt zu Gott hinauf, frei und ledig von allem Mittel: Sein Licht ist sein Gewerbe, und sein Gewerbe ist sein Licht. So stand die liebe Martha da.« 42 Als eine große Hilfe zur Orientierung in der Frage der ›Mystik‹, die Eckhart meint, ohne sie so zu nennen, finde ich, dass er in dieser Predigt drei Wege zu Gott aufzeigt: 1. Der erste ist die Vita activa, der Weg, den jeder Christ beschreitet: »Mit viel Gewerbe, in brennender Liebe in allen Geschöpfen Gott suchen.« 43 Pr. 86; 484,14–485,4: Er meinte, allez, daz zîtlîches und êwiges guotes wære und daz crêatûre besitzen sölte, daz daz Marthâ zemâle hâte. An dem êrsten, dô er sprach Marthâ, dô bewîsete er ir volkomenheit zîtlîcher werke. Ze dem andern mâle, dô er sprach Marthâ, dô bewîsete er, allez, daz dâ hret ze êwiger sælde, daz ir des niht enbræste. 39 Pr. 86; 485,8–11: Mittel ist zwîvalt. Einez ist, âne daz ich in got niht komen enmac: daz ist werk und gewerbe in der zît, und daz enminnert niht êwige sælde. Werk ist, sô man sich üebet von ûzen an werken der tugende; aber gewerbe ist, sô man sich mit redelîcher bescheidenheit üebet von innen. Daz ander mittel daz ist: blôz sîn des selben. 40 Pr. 86; 485,11–13: Wan dar umbe sîn wir gesetzet in die zît, daz wir von zîtlîchem vernünftigen gewerbe gote næher und glîcher werden. 41 Pr. 86; 485,4 f.: Die stânt âne hindernisse, die alliu iriu werk rihtent ordenlîche nâch dem bilde des êwigen liehtes. 42 Pr. 86; 486,1 f.: [W]an, swer dâ würket in dem liehte, der gât ûf in got, vrî und blôz alles mittels: sîn lieht ist sîn gewerbe, und sîn gewerbe ist sîn lieht. 43 Pr. 86; 486,10 f.: Der eine ist: mit manicvaltigem gewerbe, mit brinnender minne in allen crêatûren got suochen. 38

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2.

Den zweiten Weg möchte ich die ekstatische Mystik nennen: Er ist »ein wegloser Weg: Frei und doch gebunden, hoch über sich selbst und alle Dinge, ohne Willen und ohne Vorstellung, erhaben und entrückt –, wenn dies auch noch keinen Bestand im Sein hat«. 44 Dies ist wohl der Zustand der Maria, solange sie noch in der Schule lernte zu leben. 3. Der dritte Weg ist die vollendete Mystik: »Der dritte Weg heißt zwar ›Weg‹ und ist doch ein Zuhause, das heißt, Gott ohne Mittel in seinem eigenen Wesen zu schauen.« Das ist sicherlich eine Bezeichnung der ewigen Seligkeit. 45 Dieser dritte Weg muss mit Eckharts Worten genauer charakterisiert werden. Es ist der Weg der Sammlung des Vielen zur Einheit: »Ein Christus: eine Person; ein Christus: ein Vater; ein Christus: ein Geist. Drei [sind] eins. Drei[fach]: Weg, Wahrheit und Leben; eins der liebe Christus, in dem alles ist.« 46 Dieser Hymnus der Einheit Gottes und Christi mündet wieder in die Betrachtung des Weges: »Außerhalb dieses Weges umzingeln und vermitteln [uns] alle Geschöpfe. Zu Gott auf diesem Wege mit seines Wortes Licht geleitet und von ihrer beider [des Vaters und des Sohnes] Liebe umfangen: das übertrifft alles, was man in Worte fassen kann.« 47 Zuvor war gesagt worden, dass Martha alles hat, was zur ewigen Seligkeit gehört. 48 Dann heißt es, dass Werk und Gewerbe in der Zeit die ewige Seligkeit nicht mindern. 49 Und schließlich wird versichert, dass derjenige, »der im Licht wirkt«, sodass »sein Licht sein Gewerbe und sein Gewerbe sein Licht ist«, »zu Gott frei und ledig von allen

Pr. 86; 486,13 f.: Der ander wec ist wec âne wec, vrî und doch gebunden, erhaben und gezucket vil nâhe über sich und alliu dinc âne willen und âne bilde, swie aleine ez doch weselîche niht enstâ. 45 Pr. 86; 487,14 f.: Der dritte wec heizet wec und ist doch heime, daz ist: got sehen âne mittel in sînesheit. 46 Pr. 86; 487,16 f.: [E]in Kristus ein persône, ein Kristus ein vater, ein Kristus ein geist, driu ein, driu wec, wârheit und leben, ein der liebe Kristus, in dem ez allez ist. 47 Pr. 86; 487,17–488,3: Ûzerhalp disem wege umberingent und vermittelnt alle crêatûren. In got in disem wege geleitet mit sînes wortes liehte und umbevangen mit ir beider geistes minne: daz ist über allez, daz man geworten mac. 48 Pr. 86; 484,16–485,2: Ze dem andern mâle, dô er sprach Marthâ, dô bewîsete er, allez, daz dâ hœret ze êwiger sælde, daz ir des niht enbræste. 49 Pr. 86; 485,8 f.: Mittel ist zwîvalt. Einez ist, âne daz ich in got niht komen enmac: daz ist werk und gewerbe in der zît, und daz enminnert niht êwige sælde. 44

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Mitteln aufsteigt«. 50 Martha ist also auf dem »dritten Weg«. Diese mystische Seligkeit besteht gleichzeitig mit der Arbeit in der Welt. Damit ist eine Einschränkung verbunden; denn sie bleibt in Sorge oder – genauer – bei der Sorge. »Darum spricht er [Jesus]: Du stehst bei den Dingen und bei der Sorge. Und er meint, dass sie doch mit den niederen Sinnen betrübt und bekümmert war; denn sie wurde nicht so [völlig] von des Geistes Süße verwöhnt. Sie stand bei den Dingen, nicht in den Dingen; sie stand hier, jenes da.« 51

Die innere Verbindung mit der Seligkeit bleibt bestehen, auch wenn die menschlichen Gefühle Sorge und Not spüren. »Dabei ist das zeitliche Werk ebenso edel wie irgendein Sich-in-Gott-Versenken; denn es schmiegt mich [Gott] so nah an wie das Höchste, das uns zuteilwerden kann, ausgenommen allein die Schau Gottes in reiner Natur.« 52 Die »Schau Gottes in reiner Natur« ist die beseligende Schau, die dem Menschen erst nach seinem Tode zuteilwerden kann. Im irdischen Leben kommt es gewöhnlich zu einem Zwiespalt: »Nun sagt Christus [zu Martha]: ›Du bist um vieles betrübt‹, nicht um eines. Das heißt: Wenn sie 53 frei und einfach ohne jedes Gewerbe hinaufgerichtet an den Umkreis der Ewigkeit da steht, so wird sie betrübt, wenn sich ein [trennendes] Mittel dazwischen schiebt, sodass sie nicht mit Lust dort oben stehen bleiben kann. Dieser Mensch wird in dieser Angelegenheit betrübt, wenn er dort versinkt und bei der Sorge steht. – Aber Martha stand in herrPr. 86; 486,1 f.: [W]an, swer dâ würket in dem liehte, der gât ûf in got, vrî und blôz alles mittels: sîn lieht ist sîn gewerbe, und sîn gewerbe ist sîn lieht. 51 Pr. 86; 488,10–13: Dâ von sprichet er: dû stâst bî den dingen und bî der sorge und meinet, daz si was wol mit den nidern sinnen betrüebet und bekümbert, wan si niht alsô verwenet stuont in geistes süeze. Si stuont bî den dingen, niht in den dingen; si stuont sunder und ez sunder. Quint und Mieth lesen in dem alsô einen Vergleich mit der Schwester Maria. Das ist möglich, aber nicht notwendig. Die Übersetzung von Quint ist jedenfalls zu negativ getönt: »Daher sagt er (= Christus): ›Du stehst bei den Dingen und bei der Sorge‹ und meint damit, dass sie mit den niederen Sinnen sich wohl der Trübsal und der Kümmernis (um die weltlichen Dinge) aussetzte, denn sie war nicht (wie Maria) verzärtelt im Schmecklertum des Geistes. Sie stand bei den Dingen, nicht in den Dingen; sie stand (von ihnen) abgesondert, und sie (= die Dinge) standen von ihr gesondert« 52 Pr. 86; 488,7–10: Nû kêren wider ze unser rede, wie diu liebe Marthâ und mit ir alle gotes vriunde stânt mit der sorge, niht in der sorge, und dâ ist daz zîtlich werk als edel als dehein vüegen in got; wan ez vüeget als nâhe als daz oberste, daz uns werden mac, âne aleine got sehen in blôzer natûre. 53 Das Pronomen kann sich auf Martha beziehen oder allgemein auf »eine Seele«, wie Quint interpretiert. 50

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licher, wohl gefestigter Tugend da und in einem freien Sinn, von keinem Ding behindert.« 54

Der Gegensatz zwischen dem ersten und dem letzten Satz dieses Zitats löst sich so auf: Martha ist betrübt, wenn sie an Maria denkt; aber sonst steht sie in ihrem Gewerbe frei und ohne Behinderung im Leben. Als Martha wünscht, dass ihre Schwester Maria nicht in Lust und Wonne stecken bliebe, sondern so würde wie sie, versichert ihr Jesus, in der Interpretation Eckharts: »Das Höchste, das einem Geschöpf zuteilwerden kann, das wird sie erlangen: Sie wird selig werden wie du.« 55 Höchste Beseligung und Leid, Besorgnis und Enttäuschung stehen in der ›Mystik des dritten Weges‹ nebeneinander. Wie Eckhart ja manchmal mit den Menschen großzügig ist, die seinen Ansprüchen eigentlich nicht genügen (»die fahren mit halbem Wind [in den Segeln] übers Meer und kommen auch hinüber«), so schränkt er auch in dieser Predigt die überzogenen Forderungen ein: »Nun wähnen unsere biederen Leute, es dahin bringen zu können, dass die Gegenwart sinnlicher Dinge für ihre Sinne nichts wird. Dazu kommt es aber nicht. Dass ein schmerzhaftes Gedröhn meinen Ohren so wohltuend sei wie ein süßes Saitenspiel, das werde ich niemals erreichen.« 56

Diese Überlegungen führen zu dem Schluss, dass der Lobpreis des Zustands der vollendeten Mystik auf dem genannten dritten Weg trotz ihrer Kümmernisse Martha und allen Mystikern der Praxis gilt: »Lausche auf das Wunder: Welch wunderbares Stehen draußen wie drinnen, begreifen und umgriffen werden, schauen und das Geschaute selbst sein, es in sich haben und zugleich hinein gehalten werden: Das ist die Vollendung, wo der Geist voll Ruhe in der Einheit der lieben Ewigkeit bleibt.« 57

Pr. 86; 489,1–5: Nû sprichet Kristus: dû bist betrüebet umbe vil, niht umbe einez. Daz ist: sô si lûter einvaltic stât âne allen gewerp, hin ûf gerihtet an den umberinc der êwicheit, sô wirt si betrüebet, sô si von sache gemittelt wirt, daz si niht enmac stân mit luste dort oben. Der mensche wirt betrüebet in der sache, der dâ versinket und stât bî der sorge. Aber Marthâ stuont in hêrlîcher, wol gevestenter tugent und in einem vrîen gemüete, ungehindert von allen dingen. 55 Pr. 86; 489,15 f.: Daz næhste, daz crêatûre werden mac, daz sol ir werden: si sol sælic weden als dû. 56 Pr. 86; 491,18–20: Nû wænent unser guoten liute erkriegen, daz gegenwürticheit sinnelîcher dinge den sinnen niht ensî. Des engât in niht zuo. Daz ein pînlich gedœne mînen ôren als lustic sî als ein süezez seitenspil, daz erkriege ich niemer. 57 Pr. 86; 488,4–6: Nû lose wunder! Welch wunderlich stân ûze und innen, begrîfen und 54

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Eckhart spricht hier von einer Mystik des reinen Vollzugs. Der Geist ist frei, »im Tun und Lassen, ohne Vor und Nach«, wie früher zitiert wurde. 58 Es handelt sich hier nicht um ein Erkennen, da die Aufmerksamkeit der »Seelenkräfte« nicht mehr auf ein Objekt gerichtet ist. Eckhart spricht von einem Sein »im Innersten der Seele«, vom »Grund«. Handeln aus diesem Grund geschieht sunder warumbe. Oben wurde vorausdeutend gesagt: 59 Vielleicht konnte auch Eckharts Martha beim Kochen in einen solchen reinen Vollzug gelangen: »Solche Menschen stehen bei den Dingen, nicht in den Dingen […], als ob sie da oben am Umkreis der Ewigkeit stünden.« 60 Auch dieser Stand entspringt wiederum aus dem Wesen des Grundes und Gottes, wie uns die Predigt 83, ›Renovamini spiritu‹ in kaum auflösbaren Paradoxen nahelegt. Die obersten Kräfte der Seele, Vernunft und Liebe, kommen zur Vollendung, wenn sie ganz in Gott eingehen. Sie sind dann nicht mehr die menschlichen Vermögen des Geistes. Das Erkennen (intellectus) vereinigt sich mit dem Erkenntnisgegenstand so sehr, dass die zwei eins werden: »Du sollst Gott erkennen ohne Vorstellung, ohne Mittel und ohne Gleichnis. Soll ich aber Gott ohne Mittel erkennen, so muss ich schlechthin er werden und er ich. Weiter sage ich: Gott muss schlechthin ich werden und ich schlechthin Gott; so sehr eins, dass dieses Er und dieses Ich ein Ist werden und sind und in der Istheit ewig ein Werk wirken.« 61

Wenn »ich« Gott ohne Mittel ›erkenne‹, ist nichts mehr zwischen ihm und mir. Dann kann es kein Bild, keine Vorstellung von ihm mehr geben. Dann sind beide ein Ist. Dann ist im üblichen Sinne keine Erkenntnis möglich. Die Einheit der ›Erfahrung‹ wird zur Einheit des Ist; dessen Vollzug ist ein ungeteiltes Tun. Auch die Liebe kennt in der Vollendungsgestalt kein Gegenüber mehr. Sie wird so sehr eins mit dem Geliebten, dass sie nicht mehr umbegriffen werden, sehen und sîn diu gesiht, enthalten und enthalten werden: daz ist daz ende, dâ der geist blîbet mit ruowe in einicheit der lieben êwicheit. 58 Siehe Anm. 44. 59 Siehe S. 239. 60 Pr. 86; 485,5–7: [U]nd die liute stânt bî den dingen und niht in den dingen […], dan ob sie stüenden dort oben an dem umberinge der êwicheit. 61 Pr. 83; 447,3–6: Dv´ solt in bekennen ane bilde, ane mittel vnd ane glichnis. Sol aber o ich also got bekennen ane mittel, so mus vil bi ich er werden vnd er ich werden. Me o sprich ich: Got mvs vil bi ich werden vnd ich vil bi got, alse gar ein, das dis er vnd dis ich Ein ist werdent vnd sint vnd in der istikeit ewiklich ein werk wirkent.

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›Liebe in Beziehung‹ ist, sondern ›Liebe als Einheit‹ ohne Unterschied. Damit fallen aber auch alle Bestimmungen, die Liebe begründen können, weg. Das heißt: Gott ist dann nicht mehr liebenswert; denn er ist kein Gegenüber, dessen Wert ich erfasse. Wie aber dann lieben? »Du sollst Gott nicht-geistig lieben, das heißt: Deine Seele soll nicht-geistig sein und entblößt von aller Geistigkeit; denn, solange deine Seele geistförmig ist, so lange hat sie Vorstellungen. Solange sie aber Vorstellungen hat, so lange hat sie Vermittelndes. Solange sie Vermittelndes hat, so lange hat sie nicht Einheit noch Einfachheit. Solange sie nicht Einfachheit hat, so lange hat sie Gott noch nie recht geliebt; denn recht zu lieben hängt an der Einhelligkeit. Daher soll deine Seele nicht-geistig sein, [frei] von jeglichem Geist, und soll geistlos dastehen; denn liebst du Gott, wie er Gott, wie er Geist, wie er Person und wie er Vorstellung ist: Das alles muss weg! – Aber wie soll ich ihn denn lieben? – Du sollst ihn lieben, wie er ein Nicht-Gott, ein Nicht-Geist, eine Nicht-Person, ein Nicht-Bild ist; mehr noch: wie er ein lauteres, reines, klares Eines ist, fern von aller Zweiheit. Und in diesem Einen sollen wir ewig versinken vom Nichts zum Nichts 62 .« 63

Die nicht-geistige oder geist-lose Liebe hier verstehe ich als unbedachte, unreflektierte, distanzlose Liebe. Es ist ein anderer Ausdruck für die Einheit der Gottheit, die ja auch durch weitere Kennzeichnungen angesprochen ist: Nicht-Person, Nicht-Bild usw. Die Steigerung der Kräfte Erkenntnis wie Liebe in die letzte Konsequenz führt sowohl in die Vollendung wie in das Ende ihrer Wirksamkeit. In der tiefsten Einheit von Gott und Mensch sind beide Kräfte ihrer Eigenart beraubt. Beziehung, das ist noch Differenz; sie wird zur ungeteilten Einheit. Somit ist hier dasselbe Thema angeschlagen wie in Predigt 2 (siehe Kapitel 8), wenn auch in einem völlig anderen Sprachduktus.

Ich folge hier der Handschrift, die von nite zv nvte bietet. Quint konjiziert aus dem nite ein ite und übersetzt: »vom Etwas zum Nichts«. 63 Pr. 83; 447,12–448,9: Dv solt got minnen nichgeistliche, dc ist: Dc din sel sol nichgeistig sin vnd entploezet aller geistekeite; wand die wile din sel geistformig ist, so hat si bilde; die wile si bilde hat, so [so] hat si mittel; Die wile si mittel hat, so hat si nit einikeit noch einberkeit; Die wile si einberkeit nit enhat, so geminnete si got nie rechte; wand recht minnen lit an einberkeit. Har vmbe sol din sel nichtgeistig sin von allen geisten vnd sol stan geisteloz; wan minnestv got, alse er got ist, als er geist ist, als er person ist o vnd als er bilde ist, – es mvs alles abe! – wie sol ich in denne minnen? – Dv solt in minnen, als er ist Ein nit-got, Ein nit-geist, Ein nit-persone, Ein nút-bilde, Mer: als er ein luter pur clar Ein ist, gesvndert von aller zweiheite, vnd in dem einen svlen wir o ewiklich versinken von [n]ite zv nvte. 62

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16. Ist Eckhart Mystiker?

In der Welt – aus dem Grunde des Lebens Wenn meine Deutung richtig ist, dass sich in diesem schönen Hymnus über die Einheit der Zweiheit der dritte Weg der Martha-Mystik als Vollendung ausspricht, einer Mystik die praktisch ist, dann teilt sich hier als »Wunder« die Einheit in der Zweiheit mit. Es ist das Zusammenstimmen des Standes, draußen und drinnen, des Entzündetseins, begreifen und umgriffen, der Intuition, schauen und das Geschaute sein, und des Seins als wechselseitiges In-Sein: den Funken, die Kraft, den Sohn, Gott in sich haben und zugleich selbst in die Gottheit gehalten werden. Diese Zweifaltigkeit des Einen ist die Weise, wie der Mystiker zugleich in Gott und in der Welt lebt. Aber: Der ›Mystiker‹ ist jeder Mensch, ›Gott‹ ist das Leben. Den Alltagsmenschen beunruhigt die Frage, wie die beiden Lebensweisen zusammengebracht werden können: in Gott und in der Welt, innen und außen. Gewöhnlich werden diese beiden Existenzweisen in den Figuren Martha und Maria getrennt gehalten: der Meditationsfreak hier und der Weltmensch dort. Eckharts Interpretation zeigt aber, dass beide im Konflikt dieser Existenzweisen leben. Dabei scheint Maria dem Konflikt durch die Flucht in die Ekstase entgehen zu wollen. Martha muss den Konflikt versöhnen. Dabei ist sie zunächst ungeduldig besorgt, wird uns dann aber vorgestellt als diejenige, die trotz der Anfechtung durch die Erdenschwere das Höchstmaß zeitlicher Seligkeit geschenkt bekommt, wobei die Eckhart-Leser gelernt haben, dass am »Umkreis der Ewigkeit« das zeitliche Jetzt in das gegenwärtige Nun der Ewigkeit umschlägt. Damit hat sich aber die Frage: ›Wie geht das denn?‹, nicht erledigt. Gerne wüssten wir, wie Eckhart selbst ›das gemacht‹ hat. Man darf sich die Fantasie erlauben, dass Eckhart in der Figur der Martha den eigenen Zwiespalt seines spirituellen und seines Arbeitslebens dargestellt hat. Allein schon sein literarisches Werk muss seinen eigenen Angaben zufolge noch umfangreicher gewesen sein, als der uns überlieferte Bestand präsentiert. Diese Schriften mit der Auflistung von Argumenten, dem Meer von Bibelzitaten, den korrekten wissenschaftlichen Bezugnahmen auf philosophische und theologische Autoren zu komponieren muss allein schon eine langwierige Handwerksarbeit gewesen sein, selbst wenn ihm Schreiber zur Verfügung standen. Und was er als Prior, Provinzial, Magister und Vicarius an ganz ungeistlichen Aufgaben zu bewältigen hatte, zeigt, dass er in der Welt und in der Politik 417 https://doi.org/10.5771/9783495860649 .

IV. Phnomenologie der Geburt des Wortes in der Seele

mitgemischt hat. Da sind allein mindestens drei Reisen von Erfurt nach Paris und zurück zum Studium und Magisterium (1295, 1302, 1311), die Reisen zu den Generalkapiteln des Ordens und zu den Kapiteln der Provinz Saxonia oder zu Amtsgeschäften: Er ist anwesend in Toulouse 1304, Gotha 1305, Rostock 1305, Minden 1306, Lahde an der Weser 1306, Halle 1306, Straßburg 1307, Seehausen (Sachsen-Anhalt) 1308, Braunschweig 1309, Norden (Ostfriesland) 1309, Hamburg 1310, Speyer 1310. 64 Neben den administrativen Aufgaben der Ordensämter hatte er mit Klostergründungen und Grundstücksverhandlungen zu tun, mit Beurkundungen bei Stiftungen und in Rechtsstreitigkeiten sowie Visitationen, das bedeutet auch Disziplinarmaßnahmen. Daneben bezeugen Klosterbücher und Legenden einzelne Seelsorgegespräche. Seine seelsorgliche Hauptverpflichtung als Priester des Dominikanerordens war generell die Predigt. Wir können sicher sein, dass diese Amtstätigkeiten in der politisch und kirchlich schwierigen Zeit nicht immer angenehm waren. Wie ließ sich diese Arbeit mit Eckharts wissenschaftlicher Arbeit und mit seiner geistlichen Haltung vereinbaren? Es muss Konflikte gegeben haben, selbst wenn wir annehmen, dass der Schwerpunkt der geistigen Arbeit vor und nach der Periode der Ordensverwaltung gelegen haben dürfte. Dabei ist nicht die Frage, wie er dieses Wirken im Amt und in der Öffentlichkeit geschafft haben mag, sondern wie er gleichzeitig eine Spiritualität entwickeln konnte, die das Lassen der Ichbindung und der Orientierung an äußeren Werten und Werken als unerlässliche Voraussetzung für die Gotteserfahrung betrachtet. Aus dem, was wir von Eckhart wissen und was er uns in seinen Predigten sagt, möchte ich drei lebenspraktische Haltungen benennen, die ein solches Zusammenstimmen von Weltarbeit und Mystik nach dem Vorbild der Martha möglich machen könnten. Das erste ist die Einbettung Eckharts in die Gebetspraxis des Klosterlebens und der biblische und liturgische Rahmen seiner theologischen Arbeit und seiner Predigten. Davon ist nicht viel die Rede; aber die Texte setzen diese Einbindung voraus. Eckharts Erläuterungen zum Schweigen, zur Ruhe der Bewusstseinstätigkeiten und zum Stehen oder Sitzen (Pr. 55) zeigen, dass er die stille Meditation gekannt hat. Er macht aber kein Aufhebens davon, da diese Praxis für ihn und seine Hörerinnen und Hörer selbstverständlich war. 64

Angaben aus ›Acta et regesta vitam mag. Echardi illustrantia‹, acta n. 2–36; 155–180.

418 https://doi.org/10.5771/9783495860649 .

16. Ist Eckhart Mystiker?

Das zweite ist die Haltung der Empfänglichkeit, die dem Vorgang der Geburt angemessen ist. Eckhart vermittelt damit eine Botschaft an unsere Zeit, die die moderne angestrengte Schaffensmentalität durch Ruhe und Zuversicht erlösen könnte. Eckhart sagt, dass die Lösungen uns von innen geschenkt werden, wenn wir empfänglich sind. Diese Botschaft ist schwer zu glauben, weil zu wenige Menschen, die etwas zu sagen haben, diese Haltung üben. Dabei wäre die Wirksamkeit einer solchen Haltung leicht zu erfahren, wenn man sich nur darauf besinnen würde, dass dieses das Eingestimmtsein auf die ›unbewussten‹ Empfindungen, Eingebungen und Inspirationen, vor aller Willenskraft das Denken, Entscheiden und Handeln erst möglich macht. Das dritte ist Eckharts Liebe zu den Dingen, den Menschen und Ereignissen, die aus dem Grunde des Lebens kommt. Diese Liebe ist keine Beziehung mehr, sondern das Sich-selbst-Erfreuen des lebendig Einen, in dem Alles erblüht und als Frucht des Lebens ausblüht. Wer aus diesem Grunde leben könnte, wäre in der Liebe, wo immer er leibt und lebt, ob es in der Werkshalle, im Büro, im Schützenpanzer, in der Drogenmafia, in der Meditationshalle oder in der Kirche wäre. Ja, auch im Schützenpanzer und in der Drogenmafia. Das heißt nicht, dass alles gleich wert wäre. Wenn es einen ›Wert‹ der faktischen Liebe gibt, dann bestimmt er sich von dem her, w a s man liebt. Aber laut Eckhart kann man nur etwas wollen, weil man es »liebt«. »Alle Geschöpfe jagen Gott mit ihrer Liebe; denn kein Mensch ist so unglückselig, dass er darum sündigt, um der Bosheit willen, sondern er tut die Sünden um einer Liebeslust willen. Einer schlägt einen [anderen] tot: Das tut er nicht, um Böses zu tun. Ihn dünkt, solange der andere lebte, hätte er niemals Frieden in sich selbst finden können. Darum will er Lust in Frieden suchen, weil Friede liebenswert ist. So jagen alle Geschöpfe Gott mit [ihrer] Liebe. Weil ›Gott Liebe ist‹ (1 Joh. 4,16), begehren alle Geschöpfe Liebe.« 65

Die Sünde besteht also nicht darin, dass man nicht liebt, sondern dass man etwas weniger Liebenswertes willentlich einem Liebenswerteren

Pr. 63; 75,5–10: [A]lle creaturen die iagent got mit ir mynne, wann es ist chain mensch so vnsälig, das er dar vmb sünde tuo durch der poshait willen; mer: er tuot sy durch ainen mynneclichen lust. Ainer schlecht ainen zetode; das tuot er nit darvmb, das er v´bel tuo; in duncket des, die wile iener lebende was, das er nimer zefride in im selber köme; dar vmb wil er lust suochen in fride, wann fride mynnicliche ist. also iagent alle creaturen got mit mynne. wann ›got mynne ist‹, so begerent alle creature der myne.

65

419 https://doi.org/10.5771/9783495860649 .

IV. Phnomenologie der Geburt des Wortes in der Seele

vorzieht. Ich will dazu zum Abschluss wenig kommentieren, sondern Eckhart mit seiner wunderbaren Predigt 63, ›Man liset hütt da haime in der epistel, das sanctus Iohannes spricht: ›got ist die mynne‹,‹ weiter zu Wort kommen lassen. Das nächste Zitat zeigt, wie man die Liebe von der Bindung an Objekte reduzieren (das heißt sie lassen) kann, um von der Liebe im Sein selbst, das heißt in sich, erfüllt zu werden. (Dabei mögen die Frauen das Beispiel verzeihen und bedenken, dass man krassere Beispiele für Männer finden könnte.) »Drittens sage ich: ›Gott ist Liebe‹ ; denn Gott hat seine Liebe in alle Geschöpfe ausgebreitet und bleibt doch an sich selbst eines. Weil an allen Geschöpfen, an jedem, etwas Liebenswertes ist, darum liebt jedes Geschöpf, sofern es vernünftig ist, etwas, das ihr gleich ist, an dem anderen [Geschöpf]. Darum begehren die Frauen manchmal etwas Rotes, um Spaß an dieser Lust zu haben, und wenn sie daran kein Genügen finden, begehren sie manchmal etwas Grünes. Und doch kann ihr Begehren keine Erfüllung finden. Und das hat folgenden Grund: Sie nehmen die Lust nicht einfach [an und für sich], [sondern] sie nehmen das Tuch hinzu, das der Träger der Farbe ist, die ihnen Lust bereitet. Und weil an jedem Geschöpf etwas Lustvolles erscheint, darum lieben die Menschen jetzt dies und dann das. Darum lege dies und das ab; was dann übrig bleibt, das ist nur Gott.« 66

Dass die Menschen in den Geschöpfen etwas Liebenswertes lieben, aber eigentlich Gott meinen, hat eine Kehrseite. Gott muss die Geschöpfe lieben, wie sie wirklich, in ihrem Sein, sind. »Viertens sage ich: ›Gott ist Liebe‹, weil er alle Geschöpfe mit seiner Liebe lieben muss, ob sie es wissen oder nicht. Darum will ich ein Wort sagen, das ich letzten Freitag gesprochen habe: Ich will Gott niemals um seine Gabe bitten noch will ich ihm für seine Gabe je danken. Denn wäre ich würdig, seine Gabe zu empfangen, müsste er [sie] mir geben, ob es ihm lieb oder leid wäre. Darum will ich ihn nicht um seine Gabe bitten, weil er geben muss; ich

Pr. 63; 77,4–78,6: Ze dem drytten mal sprich ich: ›got ist mynne‹, wann got hat sein mynne zersprait in alle creature vnd ist doch an im selber ain. wann an allen creaturen an ainer yeglicher etwas mynneclich ist, dar vmb so mint ain yeglich creature etwas an der ander, dz ir glich ist, die echt vernüftig ist. dar vmb begerent die frowen etwenn rotz, o o das sy irgenugte an dem lust wellen nemen, vnd wen sy ir genugde nit daran vindent, so o begerend sy etwen gruns, vnd mag doch ir begirde nit erfült werden, vnd ist das dar o vmb: sy nement den lust hniti ainualtig, sy nement das tuch dar mitte, das da enthalt ist der varwe, die da lüstig scheinet. vnd wan alsus hani einer ieglichen creaturen etwas lüstliches schint, dar vmb so mynnent die menschen nun das vnd denn das. nu leg ab das vnd das; das denn da beleibet, das ist luter got. 66

420 https://doi.org/10.5771/9783495860649 .

16. Ist Eckhart Mystiker?

will ihn aber bitten, dass er mich würdig macht, seine Gabe zu empfangen, und will ihm danken, dass er so ist, dass er geben muss.« 67

Der Grund des Lebens ist zugleich der Grund der Liebe. Eckharts Kernaussage ist zusammengefasst in dem Satz: »Er gebiert mich [als] sich und sich [als] mich und mich [als] sein Sein und seine Natur. 68 Dieser Satz ist natürlich für jeden anderen Menschen als reines »ich«, in seiner Ipseität, ebenso wahr. Das begründet nicht nur eine ontologische Einheit der Menschen, sondern auch den Anspruch auf eine existenzielle Gleichheit. Das ist der Grund der Liebe. »Nun sage ich; ›Der in Liebe ist, der ist in Gott, und er ist in ihm‹ (1 Joh. 4,16). Wenn mich jemand fragte, wo Gott sei, antwortete ich: Er ist überall. Wenn mich jemand fragte, wo die Seele sei, die in Liebe ist, sagte ich: Sie ist überall. Denn Gott liebt, und die Seele, die in Liebe ist, die ist in Gott, und Gott ist in ihr. Und da Gott überall ist und sie in Gott ist, so ist sie nicht halb in Gott und halb nicht. Und da Gott in ihr ist, so muss die Seele notwendig überall sein, weil der in ihr ist, der überall ist. Gott ist überall in der Seele, und sie ist in ihm überall. Also ist Gott ein Alles ohne alles [Einzelne], und sie ist mit ihm ein Alles ohne alles [Einzelne].« 69

Pr. 63; 81,1–7: Ze dem vierden mal so sprich ich: ›got ist mynne‹, won er mynnen müß alle creatüre mit seiner mynne, sy wissens oder wissens nit. dar vmb so wil ich sprechen ain wort, das ich nun nächst an fritag sprach: ich wil got vmb seiner gabe nymer gebitten noch wil im seiner gabe nimer gedancken, wann wär ich wirdig seiner o gabe ze enpfachen, so musti er mir geben, es wär im lieb oder laid. dar vmb wil ich in nit o bitten vmb sein gabe, wann er geben muß; ich wil in wol bitten, das er mich wirdig o mache seiner gabe ze enpfachen, vnd wil im dancken, das er also ist, das er geben muß. 68 Pr. 6; 109,9 f.: Er gebirt mich sich und sich mich und mich sîn wesen und sîne natûre. 69 Pr. 63; 82,3–9: Nun spriche ich: ›der in mynne ist, der ist in gote, vnd er ist in ime‹. der mich fragti wo got wär, so antwurte ich: er ist v´ber al. der mich fragti, wo die sele wäri, die in mynne ist, so spräch ich: sy ist v´ber al; won got mynnet, vnd die sele, die in mynne ist, die ist in gotte, vnd got ist in ir, vnd won got v´ber al ist vnd si in got ist, so enist si nit o ainhalb in gotte vnd anderhalb nit; vnd wann got in ir ist, so muß die sele von not v´ber al sein, wann er in ir ist, der v´ber al ist. got ist v´ber al in der sele, vnd sy ist in ime v´ber al; also ist got ain al on al vnd sy mit im ain al on al. 67

421 https://doi.org/10.5771/9783495860649 .

https://doi.org/10.5771/9783495860649 .

Anhang

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https://doi.org/10.5771/9783495860649 .

Zeittafel

vor 1260

Eckhart geboren in Tambach bei Gotha als Sohn eines Ritters Eckhart von Hochheim um 1267–1292 Erziehung des Theologen, Schulbildung und Studium wahrscheinlich in Erfurt 1274 Thomas von Aquin gestorben 1270 u. 1277 Pariser Irrtumslisten gegen einen radikalen Aristotelismus (Averroismus), teilweise gegen Thomas von Aquin 1280 Albertus Magnus gestorben in Köln 1286 Eckhart zum Studium in Paris (?), Theologisches Prüfverfahren gegen Thomas von Aquin und Albertus Magnus (nach der Aussage Eckharts im Kölner Prozess 1327) 1292–1294 Eckhart in Paris als Baccalaureus 1293, September/ Festrede zum Beginn des Akademischen Jahres: Oktober ›Collatio in libros Sententiarum‹ 1294, 18. April Osterpredigt: ›Pascha nostrum‹ 1295–1298 Prior in Erfurt, Vikar des Provinzials Dietrich von Freiberg ›Rede der underscheidunge‹ : in collationibus, etwa Abendgespräche mit Fragen und Antworten 1298–1305? ›Gottesgeburtszyklus‹ : Zur êwigen geburt (Pr. 101– 104); Frühe deutsche Predigten 1302/1303 Eckhart ist Magister regens in Paris ›Quaestiones Parisienses I–III‹ 1303–1311 Provinzial der neu ausgegliederten Provinz Saxonia um 1303–1305 ›Opus tripartitum‹ : Prologe ›Predigten und Vorlesungen zu Jesus Sirach‹, ›Kommentare In Sap., In Gen. I, In Ex.‹ 1308 Johannes Duns Scotus gestorben in Köln 425 https://doi.org/10.5771/9783495860649 .

Zeittafel

1310 1311

Die Begine Margarete Porete in Paris verbrannt Konzil von Vienne: Verurteilung der Lehren der Beginen und Begarden 1311/1312 Prozess gegen den Templerorden/Aufhebung des Templerordens 1311–1313 Eckhart ist Magister regens in Paris ›Quaestiones Parisienses IV–IX‹ 1314 Straßburg: Teilnahme als Zeuge an einem Schenkungsprozess 1314–1323? Straßburg, vielleicht Seelsorge und Aufsicht der Frauenklöster am Oberrhein oder Köln (unbekannte Funktion) Deutsche Predigten 1316 Straßburg: Zeuge bei einem Schenkungsprozess um 1318 ›Buch der Göttlichen Tröstung‹, ›Vom edlen Menschen‹ ab 1318 ›Kommentar zum Johannesevangelium (In Ioh.)‹, ›Kommentar zu den Bildreden der Genesis (In Gen. II)‹ 1323 Heiligsprechung des Thomas von Aquin 1323/1324–1326 Eckhart in Köln ›Kölner Predigtreihe‹, Späte Kölner Predigten August 1325 – Erste Irrtumsliste vorgelegt in Köln beim ErzJanuar 1326 bischof von Köln: Inquisitionsprozess 1326 Zweite Irrtumsliste beim Erzbischof von Köln. Erste Vorladung Eckharts Verteidigung ›Responsio‹ 1327, Januar Mehrere Proteste gegen den Prozess, Berufung an den Papst in Avignon 1327, 14. Februar ›Protestatio‹ : Öffentlicher Protest und Widerruf (wenn seine Schriften und Predigten einen Irrtum enthalten sollten) in der Dominikanerkirche in Köln Mitte 1327– Prozess gegen Eckhart in Avignon April 1328 ›Votum Theologorum Avenionensium‹ 1328, wahrschein- Tod in Avignon lich 28. Januar 1329, 29. März Verurteilung durch Papst Johannes XXI, Bulle ›In agro dominico‹ 426 https://doi.org/10.5771/9783495860649 .

Allgemeine Abkrzungen

a. arg. c. co. CCL d. ebd. n. MEJb MTU Pr. q. sermo VL

articulus argumentum capitulum corpus articuli Corpus Christianorum, series Latina distinctio ebenda Nummer Meister-Eckhart-Jahrbuch Münchner Texte und Untersuchungen zur Deutschen Literatur des Mittelalters deutsche Predigt Quaestio lateinische Predigt Deutsche Literatur des Mittelalters, Verfasserlexikon, 2. Auflage

427 https://doi.org/10.5771/9783495860649 .

Schriften Meister Eckharts

Abgekrzte Schriften Eckharts Die abgekürzten Quellenangaben (Siglen) sind im Verzeichnis der deutschen und lateinischen Werke Meister Eckharts unten aufgelöst. Titel

Fundort

Vollsta¨ndiger Titel

BgT

DW V

Bulle

LW V

In Eccli.

LW II

In Ex.

LW II

In Gen. I

LW I,2

In Gen. II

LW I,2 (zitiert)

Meister Eckhart: Daz buoch der götlichen troestunge, hg. von Josef Quint, in: DW V, S. 1–105 Papst Johannes XII: Bulle ›In agro dominico‹, Acta Echardiana n. 65, hg. von Loris Sturlese, in LW V, S. 596–600 Meister Eckhart: Sermones et Lectiones super Ecclesiastici c. 24,23–31, hg. von Josef Koch in Verbindung mit Heribert Fischer, in: LW II, S. 231–300 Meister Eckhart: Expositio Libri Exodi, hg. von Konrad Weiß, in: LW II, S. 1–227 Meister Eckhart: Expositio Libri Genesis, editio altera, hg. von Loris Sturlese, in: LW I,2, S. 61 ff. (Recensio L) Meister Eckhart: Liber parabolarum Genesis, recensio altera, hg. und übers. von Loris Sturlese, in: LW I,2, S. 331–451 (Recensio altera) Meister Eckhart: Liber parabolarum Genesis, hg. und übers. von Konrad Weiß, in: LW I,1, S. 446–702 (Recensio CT) Meister Eckhart: Expositio sancti Evangelii secundum Iohannem, hg. von Karl Christ, Bruno Decker, Heribert Fischer, Josef Koch, Albert Zimmermann und Loris Sturlese (= LW III) Meister Eckhart: Expositio Libri Sapientiae, hg. von Josef Koch in Verbindung mit Heribert Fischer, in: LW II, S. 303–634 Meister Eckharts Predigten (Pr. 1–24), hg. und übers. von Josef Quint, in: DW I



LW I,1 (alternat.)

In Ioh.

LW III

In Sap.

LW II

Pr. 1–24

DW I

428 https://doi.org/10.5771/9783495860649 .

Schriften Meister Eckharts Titel

Fundort

Vollsta¨ndiger Titel

Pr. 2; ed. Quint

DW I

Pr. 2; ed. Steer u. Vogl

MEJb 4

Pr. 25–59

DW II

Pr. 52; ed. Quint Pr. 52; ed. Steer Pr. 60–86

DW II LE I

Pr. 87–105

DW IV,1

Pr. 106–109

DW IV,2

Proc. Col. I u. II Prol. gen.

LW V

Prol. op. prop. Protestatio

LW I,2

Quaest. Par.

LW V

RdU

DW V

Responsio I

LW V

Responsio II

LW V

Predigt 2 ›Intravit Iesus in quoddam castellum et mulier quaedam, Martha nomine, excepit illum in domum suam‹, in: DW I, S. 21–45 Predigt 2 ›Intravit Iesus in quoddam castellum et mulier quaedam, Martha nomine, excepit illum in domum suam‹, in: Georg Steer u. Heidemarie Vogl: Die bürgelîn-Predigt, S. 139–259 Meister Eckharts Predigten (Pr. 25–59), hg. und übers. von Josef Quint, in: DW II Predigt 52 ›Beati pauperes spiritu‹, hg. und übers. von Josef Quint, in: DW II, S. 469–524 Predigt 52 ›Beati pauperes spiritu‹, in: LE I, S. 163– 180 Meister Eckharts Predigten (Pr. 60–86), hg. und übers. von Josef Quint, in: DW III Meister Eckharts Predigten (Pr. 87–105), hg. von Georg Steer unter Mitarbeit von Wolfgang Klimanek und Freimut Löser, in: DW IV,1 Meister Eckharts Predigten (Pr. 106–109), hg. von Georg Steer unter Mitarbeit von Wolfgang Klimanek und Heidemarie Vogl, in: DW IV,2 Processus Coloniensis, hg. von Loris Sturlese, in: LW V, Acta n. 46 u. 48, S. 197–226, 275–354 Meister Eckhart: Prologus generalis in Opus tripartitum, hg. von Loris Sturlese, in: LW I,2, S. 21–39 (Recensio L) Prologus in Opus propositionum, hg. von Loris Sturlese, in: LW I,2, S. 41–59 Protestatio [11. 02. 1327, Dominikanerkirche Köln], Processus contra mag. Echardum, Acta n. 54, in: LW V, S. 547–549 Magistri Echardi Quaestiones Parisienses una cum quaestione Magistri Gonsalvi, hg. und übers. von Bernhard Geyer, in: LW V, S. 27–83 Meister Eckhart: Die rede der underscheidunge, hg. von Josef Quint, in: DW V, S. 137–376 Magistri Echardi Responsio ad articulos sibi impositos de scriptis et dictis suis I, Processus Coloniensis I, Acta Echardiana n. 48, hg. von Loris Sturlese, in: LW V, S. 247–317 Magistri Echardi Responsio ad articulos sibi impositos de scriptis et dictis suis II, Processus Coloniensis II, Acta Echardiana n. 48, hg. von Loris Sturlese, in: LW V, S. 318–354

DW III

LW I,2

429 https://doi.org/10.5771/9783495860649 .

Schriften Meister Eckharts Titel

Fundort

Vollsta¨ndiger Titel

Sermo

LW IV

Sermo Pasch. VA

LW V

VeM

DW V

Votum Aven.

LW V

[Votum dom. Ben.]

LW V

Magistri Echardi Sermones, hg. und übers. von Ernst Benz, Bruno Decker und Josef Koch. Stuttgart 1956 (Nachdr. 1987) (= LW IV) Magistri Echardi Sermo Paschalis a. 1294 Parisius habitus, hg. von Loris Sturlese, in: LW V, S. 131–148 Meister Eckhart: Von abegescheidenheit, hg. von Josef Quint, in: DW V, S. 377–468 Meister Eckhart: Vom edlen Menschen, in: DW V, S. 106–136 Votum Theologorum Avenionensium, Acta Echardiana n. 59, hg. von Loris Sturlese, in: LW V, S. 568– 590 Siehe Quellen: Johannes Hiltalingen

DW V

Konkordanz Deutsche Werke – Quint PT Nr. in DW 1 2 3 4 5a 5b 6 7 8 9 10 11 12 13 13a 16b 17 19 19 20a 20b 21 22 25 26

Initium Intravit Jesus in templum Intravit Jesus in quoddam castellum Nunc scio vere Omne datum optimum In hoc apparuit caritas dei In hoc apparuit caritas dei Iusti vivent in aeternum Populi eius In occisione gladii Quasi stella matutina In diebus suis placuit deo Impletum est tempus Elizabeth Qui audit me Vidi supra montem Sion Sankt Johannes sah in einer Schau Quasi vas auri solidum Qui odit animam suam Adolescens, tibi dico: surge Sta in porta Homo quidam fecit cenam magnam Homo quidam fecit cenam magnam Unus deus et pater omnium Ave, gratia plena Moyses orabat dominum deum suum Mulier, venit hora et nunc est

Seite in PT 153 159 165 168 174 178 182 188 191 195 201 208 213 218 222 224 229 233 237 241 246 251 256 335 383

430 https://doi.org/10.5771/9783495860649 .

PT-Nr. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 38 49

Schriften Meister Eckharts Nr. in DW 27 28 29 30 31 32 37 39 41 42 43 48 51 52 60 62 66 68 69 70 71 72 73 76 79 80 82 83 86 101 102 103 106 109

Initium Hoc est praeceptum meum Ego elegi vos de mundo Convescens praecepit eis Praedica verbum Ecce ego mitto angelum meum Consideravit domum Vir meus servus tuus mortuus est Iustus in perpetuum vivet Beati, qui esuriunt Adolescens, tibi dico: surge Adolescens, tibi dico: surge Alle gleichen Dinge Haec dicit dominus: honora patrem tuum Beati pauperes spiritu In omnibus requiem quaesivi Gott hat die Armen Euge serve bone Scitote, quia prope est regnum dei Modicum et iam non videbitis me Modicum et non videbitis me Surrexit autem Saulus de terra Videns Jesus turbas Dilectus deo et hominibus Videte, qualem caritatem Laudate coeli et exultet terra Homo quidam erat dives Quis putas puer iste erit? Renovamini spiritu mentis vestrae Intravit Jesus in quoddam castellum Dum medium silentium tenerent omnia Ubi est, qui natus est rex judaeorum? Et cum factus esset Jesus annorum duodecim Mortuus erat et revixit Noli timere eos

Seite in PT 387 299 290 356 376 295 392 267 370 340 396 314 262 303 366 379 274 323 343 400 328 411 310 317 349 408 404 352 280 415 425 432

PT-Nr. 50 31 29 43 47 30 51 25 46 39 52 34 24 32 45 48 27 36 40 53 37 56 33 35 41 55 54 42 28 57 58 59

361 271

44 26

431 https://doi.org/10.5771/9783495860649 .

Schriften Meister Eckharts

Konkordanz Quint PT – Deutsche Werke PT-Nr. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42

Initium Intravit Jesus in templum Intravit Jesus in quoddam castellum Nunc scio vere Omne datum optimum In hoc apparuit caritas dei In hoc apparuit caritas dei Iusti vivent in aeternum Populi eius In occisione gladii Quasi stella matutina In diebus suis placuit deo Impletum est tempus Elizabeth Qui audit me Vidi supra montem Sion Sankt Johannes sah in einer Schau Quasi vas auri solidum Qui odit animam suam Adolescens, tibi dico: surge Sta in porta Homo quidam fecit cenam magnam Homo quidam fecit cenam magnam Unus deus et pater omnium Ave, gratia plena Haec dicit dominus: honora patrem tuum Iustus in perpetuum vivet Noli timere eos Euge serve bone Intravit Jesus in quoddam castellum Convescens praecepit eis Consideravit domum Ego elegi vos de mundo Beati pauperes spiritu Dilectus deo et hominibus Alle gleichen Dinge Videte, qualem caritatem Scitote, quia prope est regnum dei Surrexit autem Saulus de terra Moyses orabat dominum deum suum Adolescens, tibi dico: surge Modicum et iam non videbitis me Laudate coeli et exultet terra Renovamini spiritu mentis vestrae

Seite in PT 153 159 165 168 174 178 182 188 191 195 201 208 213 218 222 224 229 233 237 241 246 251 256 262 267 271 274 280 290 295 299 303 310 314 317 323 328 335 340 343 349 352

Nr. in DW 1 2 3 4 5a 5b 6 7 8 9 10 11 12 13 13a 16b 17 19 19 20a 20b 21 22 51 39 109 66 86 29 32 28 52 73 48 76 68 71 25 42 69 79 83

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Schriften Meister Eckharts PT-Nr. 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59

Initium Seite in PT Praedica verbum 356 Mortuus erat et revixit 361 In omnibus requiem quaesivi 366 Beati, qui esuriunt 370 Ecce ego mitto angelum meum 376 Gott hat die Armen 379 Mulier, venit hora et nunc est 383 Hoc est praeceptum meum 387 Vir meus servus tuus mortuus est 392 Adolescens, tibi dico: surge 396 Modicum et non videbitis me 400 Quis putas puer iste erit? 404 Homo quidam erat dives 408 Videns Jesus turbas 411 Dum medium silentium tenerent omnia 415 Ubi est, qui natus est rex judaeorum? 425 Et cum factus esset Jesus annorum duodecim 432

Nr. in DW 30 106 60 41 31 62 26 27 37 43 70 82 80 72 101 102 103

Die deutschen Werke DW I

DW II

DW III

DW IV,1

DW IV,2

Meister Eckhart: Die deutschen und lateinischen Werke. Die deutschen Werke. Bd. I: Meister Eckharts Predigten (Pr. 1–24), hg. und übers. von Josef Quint. Stuttgart: Kohlhammer 1957 (Nachdr. 1986) Meister Eckhart: Die deutschen und lateinischen Werke. Die deutschen Werke. Bd. II: Meister Eckharts Predigten (Pr. 25–59), hg. und übers. von Josef Quint. Stuttgart: Kohlhammer 1971 (Nachdr. 1988) Meister Eckhart: Die deutschen und lateinischen Werke. Die deutschen Werke. Bd. III: Meister Eckharts Predigten (Pr. 60– 86), hg. und übers. von Josef Quint. Stuttgart: Kohlhammer 1976 (Nachdr. 1999) Meister Eckhart: Die deutschen und lateinischen Werke. Die deutschen Werke. Bd. IV,1: Meister Eckharts Predigten (Pr. 87– 105), hg. und übers. von Georg Steer unter Mitarbeit von Wolfgang Klimanek und Freimut Löser. Stuttgart: Kohlhammer 2003 Meister Eckhart: Die deutschen und lateinischen Werke. Die deutschen Werke. Bd. IV,2: Meister Eckharts Predigten (Pr. 106– 117), hg. und übers. von Georg Steer unter Mitarbeit von Wolfgang Klimanek und Heidemarie Vogl. Stuttgart: Kohlhammer 2003 ff.

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Schriften Meister Eckharts DW V

EW I u. II MEJb 4

Pf

PT

Meister Eckhart: Die deutschen und lateinischen Werke. Die deutschen Werke. Bd. V: Meister Eckharts Traktate, hg. und übers. von Josef Quint. Stuttgart: Kohlhammer 1963 (Nachdr. 1987) Meister Eckhart: Werke. 2 Bände, hg. und kommentiert von Niklaus Largier. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1993 Steer, Georg und Heidemarie Vogl: Die bürgelîn-Predigt Meister Eckharts. Mutmaßungen zur Erforschung der Predigt und ihrer Beziehung zu Nikolaus von Kues. Neue textgeschichtliche Ausgabe der Predigt und der lateinischen Übersetzung in der Koblenzer Handschrift, in: Meister Eckhart und Nikolaus von Kues, hg. von Harald Schwaetzer und Georg Steer. Stuttgart: Kohlhammer 2011 (Meister-Eckhart-Jahrbuch, Bd. 4), S. 139–259 Deutsche Mystiker des vierzehnten Jahrhunderts, hg. von Franz Pfeiffer, Bd. 2: Meister Eckhart. Erste Abtheilung. Predigten, Traktate. Leipzig: Göschen 1857 [Nachdr. Aalen: Scientia 1962;1991] Meister Eckehart: Deutsche Predigten und Traktate, hg. und übers. von Josef Quint. Zürich: Diogenes 1979

Die lateinischen Werke LW I,1

LW I,2

LW II

Meister Eckhart: Die deutschen und lateinischen Werke. Die lateinischen Werke. Bd. I,1: Magistri Echardi Prologi in Opus tripartitum. Expositio Libri Genesis. Expositio Libri Exodi secundum recensionem codicis Amploniani Fol. 181 (E). Magistri Echardi Prologi in Opus tripartitum et Expositio Libri Genesis cum Tabulis secundum recensionem Codicis Cusani 21 (C) et Codicis Treverensis 72/1056 (T). Liber parabolarum Genesis cum Prologo et Tabula, hg. und übers. von Konrad Weiß. Stuttgart: Kohlhammer 1964 (Nachdr. 1988) Meister Eckhart: Die deutschen und lateinischen Werke. Die lateinischen Werke. Bd. I,2: Magistri Echardi Prologi in Opus tripartitum et Expositio Libri Genesis (Recensio L). Liber parabolarum Genesis (Recensio altera). Quaestiones Parisienses 6–9. Principium, Collatio in Libros Sententiarum, denuo recognita. Fragmenta Parisiensia, hg. und übers. von Loris Sturlese. Stuttgart: Kohlhammer 2007 ff. Meister Eckhart: Die deutschen und lateinischen Werke. Die lateinischen Werke. Bd. II: Expositio libri Exodi. Sermones et Lectiones super Ecclesiastici c. 24,23–31. Expositio Libri Sapientiae. Expositiones Cantici Canticorum quae supersunt, hg. und übers. von Heribert Fischer, Josef Koch und Konrad Weiß. Stuttgart: Kohlhammer 1964

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Schriften Meister Eckharts LW III

LW IV

LW V

Meister Eckhart: Die deutschen und lateinischen Werke. Die lateinischen Werke. Bd. III: Magistri Echardi Expositio sancti Evangelii secundum Iohannem, hg. und übers. von Karl Christ, Bruno Decker, Josef Koch, Heribert Fischer, Loris Sturlese und Albert Zimmermann. Stuttgart: Kohlhammer 1994 Meister Eckhart: Die deutschen und lateinischen Werke. Die lateinischen Werke. Bd. IV: Magistri Echardi Sermones, hg. und übers. von Ernst Benz, Bruno Decker und Josef Koch. Stuttgart: Kohlhammer 1956 (Nachdr. 1987) Meister Eckhart: Die deutschen und lateinischen Werke. Die lateinischen Werke. Bd. V: Collatio in Libros Sententiarum, hg. und übers. von Josef Koch. Magistri Echardi Quaestiones Parisienses una cum quaestione Magistri Gonsalvi, hg. und übers. von Bernhard Geyer. Sermo die b. Augustini Parisius habitus, hg. und übers. von Bernhard Geyer. Tractatus super Oratione Dominica, hg. und übers. von Erich Seeberg. Sermo Paschalis a. 1294 Parisius habitus, hg. und übers. von Loris Sturlese. Acta Echardiana. Indices, hg. von Loris Sturlese. Stuttgart: Kohlhammer 2006

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Quellen, Werkausgaben und Literaturverzeichnis

Quellen antiker und mittelalterlicher Autoren Aristoteles: De anima

Aristoteles: Kategorien

Aristoteles: Metaphysik

Aristoteles: Physik

Augustinus: Confessiones

Augustinus: De trinitate

Bonaventura: In Sent.

Aristoteles: Über die Seele, übers. von Willy Theiler und Horst Seidl, in: Physik, Über die Seele. Hamburg: Meiner 1995 (Philosophische Schriften in sechs Bänden, Bd. 6), S. II, 1–100 Aristoteles: Kategorien, übers. von Eugen Rolfes, in: Kategorien, Lehre vom Satz, Lehre vom Schluss oder Erste Analytik, Lehre vom Beweis oder Zweite Analytik. Hamburg: Meiner 1995 (Philosophische Schriften in sechs Bänden, Bd. 1), S. 1–42 Aristoteles: Metaphysik, übers. von Hermann Bonitz und Horst Seidl. Hamburg: Meiner 1995 (Philosophische Schriften in sechs Bänden, Bd. 5) Aristoteles: Physik. Vorlesungen über die Natur, übers. von Hans Günter Zekl, in: Physik, Über die Seele. Hamburg: Meiner 1995 (Philosophische Schriften in sechs Bänden, Bd. 6), S. I, 1–258 Augustinus: Confessionum libri tredecim, Corpus Augustinianum Gissense a Cornelio Mayer editum. Basel: Schwabe 1995. Bayerische Staatsbibliothek: Datenbank Infosystem (CCL 27) Augustinus: De trinitate libri quindecim, Corpus Augustinianum Gissense a Cornelio Mayer editum. Basel: Schwabe 1995. Bayerische Staatsbibliothek: Datenbank Infosystem (CCL 50) Bonaventura: Commentaria in quatuor libros Sententiarum, in: Opera Omnia, Bd. 1–4. Grottaferrata: Collegium S. Bonaventurae ad Claras Aquas (Quaracchi) 1882–1889

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Quellen, Werkausgaben und Literaturverzeichnis Dionysius Areopagita: De mystica theologia

Dionysius Areopagita, De div. nom. Guillelmus de Morbeca translator Aristotelis Categoriae Johannes Hiltalingen von Basel [Votum domini Benedicti] Liber de causis Nicolaus Cusanus: De filiatione dei – Von der Gotteskindschaft Par. an.: Paradisus anime

Petrus Lombardus: Sententiae

Schwester Katrei

Dionysius Areopagita: Corpus Dionysiacum 2. De coelesti hierarchia. De ecclesiastica hierarchia. De mystica theologia. Epistulae. Berlin: De Gruyter 1990; auch: Patrologia Graeca, Bd. 3 Dionysius Areopagita: Über die Mystische Theologie und Briefe, eingeleitet, übers. und mit Anmerkungen versehen von Adolf Martin Ritter. Stuttgart: Hiersemann 1994 Dionysius Areopagita: Corpus Dionysiacum I. De divinis nominibus. Berlin: De Gruyter 1990; auch: Patrologia Graeca, Bd. 3 Guillelmus de Morbeca translator Aristotelis Categoriae. In: ALD – Aristoteles Latinus Database, Brepolis; Bayerische Staatsbibliothek: Datenbank Infosystem Processus contra mag. Echardum n. 58, Votum domini Benedicti, in: Meister Eckhart, LW V, S. 560– 567 ›Liber de causis‹, hg. von Adriaan Pattin, in: Tijdschrift voor filosofie 28 (1966), S. 90–203 Nicolaus Cusanus: De filiatione dei – Von der Gotteskindschaft, hg. von Paul Wilpert. Hamburg: Meiner 1951 (Opera Omnia, Bd. 4: Opuscula 1) Paradisus anime intelligentis (Paradis der fornuftigen sele), hg. von Philipp Strauch. Berlin: Weidmann 1919 (Deutsche Texte des Mittelalters, Bd. 30). Neudruck, hg. und mit einem Nachwort versehen von Niklaus Largier u. Gilbert Fournier. Hildesheim: Weidmann 1998 Petrus Lombardus: Sententiae in IV libris distinctae, 2 Bde. Grottaferrata: Collegium S. Bonaventurae ad Claras Aquas 1971 (Spicilegium Bonaventurianum, Bd. 4–5) ›Schwester Katrei‹, in: Der Freiheitsbegriff der deutschen Mystik: Seine Beziehung zur Ketzerei der ›Brüder und Schwestern vom Freien Geist‹, mit besonderer Rücksicht auf den pseudoeckartischen Traktat ›Schwester Katrei‹ (Edition), hg. von FranzJosef Schweitzer. Frankfurt a. M.: Lang 1981 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 1: Deutsche Sprache und Literatur, Bd. 378), S. 303–455

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Quellen, Werkausgaben und Literaturverzeichnis Thomas von Aquin: De veritate (Quaestiones disputatae de veritate) In Sent. (Scriptum super sententiis) Summa contra gentiles Summa theologiae Traktat von der Minne

Corpus thomisticum: S. Thomae opera omnia, recognovit ac instruxit automato electronico. Pamplona: Universität von Navarra 2000 (http://www.corpus thomisticum.org/iopera.html)

Ruh, Kurt: ›Traktat von der Minne‹. Eine Schrift zum Verständnis und zur Verteidigung von Meister Eckharts Metaphysik, in: Philologie als Kulturwissenschaft: Studien zur Literatur und Geschichte des Mittelalters – Festschrift für Karl Stackmann, hg. von Ludger Grenzmann. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1987, S. 208–229

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Quellen, Werkausgaben und Literaturverzeichnis

Neuere Autoren und Forschungsliteratur Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (1951). Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008 (Gesammelte Schriften, Bd. 4) Aertsen, Jan A.: Meister Eckhart. Eine außerordentliche Metaphysik, in: Recherches de Théologie et Philosophie Médiévales 66 (1999), S. 1–20 Aertsen, Jan A.: Der ›Systematiker‹ Eckhart, in: Meister Eckhart in Erfurt, hg. von Andreas Speer und Lydia Wegener. Berlin u. New York: de Gruyter 2005, S. 189–230 (Miscellanea Mediaevalia, Bd. 32) Beccarisi, Alessandra: Philosophische Neologismen zwischen Latein und Volkssprache. istic und isticheit bei Meister Eckhart, in: Recherches de Théologie et Philosophie Médiévales 70 (2003), S. 329–359 Beccarisi, Alessandra: Isticheit nach Meister Eckhart. Wege und Irrwege eines philosophischen Terminus, in: Meister Eckhart in Erfurt, hg. von Andreas Speer und Lydia Wegener. Berlin u. New York: de Gruyter 2005, S. 314–334 (Miscellanea Mediaevalia, Bd. 32) Beccarisi, Alessandra: Predigt 77: ›Ecce mitto angelum‹, in: Lectura Eckhardi III: Predigten Meister Eckharts von Fachgelehrten gelesen und gedeutet, hg. von Georg Steer und Loris Sturlese. Stuttgart: Kohlhammer 2008, S. 93–116 Beierwaltes, Werner: Identität und Differenz. Frankfurt a. M.: Klostermann 1980 (Philosophische Abhandlungen, Bd. 49) Beierwaltes, Werner: Heideggers Gelassenheit, in: Amicus Plato magis amica veritas. Festschrift für Wolfgang Wieland, hg. von Rainer Enskat. Berlin u. New York: de Gruyter 1998, S. 1–35 Beierwaltes, Werner: Platonismus im Christentum. Frankfurt a. M.: Klostermann 1998 (Philosophische Abhandlungen, Bd. 73) Bion, Wilfred R.: Aufmerksamkeit und Deutung (1970), übers. von Elisabeth Vorspohl. Tübingen: edition diskord 2006 (Veröffentlichungen des Klein Seminars Salzburg, Bd. 6) Bion, Wilfred R.: Transformationen (1965), übers. von E. Krejci. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997 Büchner, Christine: Gottes Kreatur – »ein reines Nichts«? Einheit Gottes als Ermöglichung von Geschöpflichkeit und Personalität im Werk Meister Eckharts. Innsbruck: Tyrolia 2005 (Innsbrucker theologische Studien, Bd. 71) Degenhardt, Ingeborg: Studien zum Wandel des Eckhartbildes. Leiden: Brill 1967 (Studien zur Problemgeschichte der antiken und mittelalterlichen Philosophie, Bd. 3) Enders, Markus: Die ›Reden der Unterweisung‹. Eine Lehre vom richtigen Leben durch einen guten und vollkommenen Willen, in: Gelassenheit und Abgeschiedenheit: Studien zur deutschen Mystik, hg. von Markus Enders. Hamburg: Kovacˇ 2008, S. 49–75 Flasch, Kurt: Die Intention Meister Eckharts, in: Sprache und Begriff: Festschrift für Bruno Liebrucks, hg. von Heinz Röttges, Brigitte Scheer und Josef Simon. Meisenheim a. Glan: Hain 1974, S. 293–318 Flasch, Kurt: Meister Eckhart – Versuch, ihn aus dem mystischen Strom zu retten,

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Quellen, Werkausgaben und Literaturverzeichnis che (1944/45), hg. von Ingrid Schüssler. Frankfurt a. M.: Klostermann 1995 (Gesamtausgabe, Bd. 77) Heidegger, Martin: Nietzsche I (1961), hg. von Brigitte Schillbach. Frankfurt a. M.: Klostermann 1996 (Gesamtausgabe, Bd. 6.1) Heidegger, Martin: Das Ding (1950), in: Vorträge und Aufsätze, hg. von FriedrichWilhelm von Herrmann. Frankfurt a. M.: Klostermann 2000, S. 165–188 (Gesamtausgabe, Bd. 7) Henry, Michel: Hinführung zur Gottesfrage. Seinsbeweis oder Lebenserweis, in: Radikale Lebensphänomenologie, hg. von Rolf Kühn. Freiburg u. München: Alber 1992, S. 251–273 Henry, Michel: Die Barbarei. Eine phänomenologische Kulturkritik. Freiburg u. München: Alber 1994 Henry, Michel: ›Ich bin die Wahrheit‹ – Für eine Philosophie des Christentums. Freiburg u. München: Alber 1997 Henry, Michel: Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, übers. von Rolf Kühn. Freiburg u. München: Alber 2002 Herrmann, Friedrich-Wilhelm von: Wege ins Ereignis. Zu Heideggers ›Beiträgen zur Philosophie‹. Frankfurt a. M.: Klostermnn 1994 Hoerster, Norbert: Ethik des Embryonenschutzes. Ein rechtsphilosophischer Essay. Stuttgart: Reclam 2002 Jean Paul: Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei (1796–1797), in: Siebenkäs, Zweites Bändchen, Achtes Kapitel, Erstes Blumenstück. München: Hanser 1998, S. 270–275 (Werke, Bd. 2) Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785, 1786), in: Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie, Bd. 1. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1971, S. 7–102 (Werke in zehn Bänden, Bd. 6) Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft (1781, 1787). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1971 (Werke in zehn Bänden, Bd. 3 und 4) Keel, Hee-Sung: Meister Eckhart. An Asian perspective. Leuven [u. a.]: Peeters [u. a.] 2007 (Louvain theological & pastoral monographs) Kobusch, Theo: Transzendenz und Transzendentalien, in: Wie denkt der Meister? Philosophische Zugänge zu Meister Eckhart, hg. von Rolf Schönberger und Stephan Grötz. Stuttgart: Kohlhammer 2012, S. 41–54 (Meister-Eckhart-Jahrbuch, Bd. 5) Köbele, Susanne: ›Ausdruck‹ im Mittelalter? Zur Geschichte eines übersehenen Begriffs. Mit Überlegungen zu einer ›emphatischen Ästhetik‹, in: Das fremde Schöne: Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters, hg. von Manuel Braun. Berlin: de Gruyter 2007, S. 61–90 (Trends in Medieval Philology, Bd. 24) Koelle, Lydia: Paul Celans pneumatisches Judentum. Gott-Rede und menschliche Existenz nach der Schoah. Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag 1997 (Theologie und Literatur, Bd. 7) Kühn, Rolf: Innere Gewissheit und lebendiges Selbst. Grundzüge der Lebensphänomenologie. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005 (Orbis Phaenomenologicus. Studien, Bd. 11)

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Quellen, Werkausgaben und Literaturverzeichnis Ruh, Kurt: ›Traktat von der Minne‹. Eine Schrift zum Verständnis und zur Verteidigung von Meister Eckharts Metaphysik, in: Philologie als Kulturwissenschaft: Studien zur Literatur und Geschichte des Mittelalters – Festschrift für Karl Stackmann, hg. von Ludger Grenzmann. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1987, S. 208–229 Ruh, Kurt: Meister Eckhart. Theologe, Prediger, Mystiker. 2., überarb. Aufl. München: Beck 1989 Ruh, Kurt: Predigt 4: ›Omne datum optimum‹, in: Lectura Eckhardi I: Predigten Meister Eckharts von Fachgelehrten gelesen und gedeutet, hg. von Georg Steer und Loris Sturlese. Stuttgart: Kohlhammer 1998, S. 1–25 Sander, Hans-Joachim: Macht und Ohnmacht. Eine Theologie der Menschenrechte. Freiburg u. a.: Herder 1999 (Qaestiones disputatae, Bd. 178) Sartre, Jean Paul: Ist der Existentialismus ein Humanismus? (1946). Frankfurt a. M.: Ullstein 1989 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Vom Ich als Prinzip der Philosophie (1795), in: Schriften zur Identitätsphilosophie. Leipzig: Eckart/Meiner 1907 (Werke. Auswahl in drei Bänden, Bd. 1) Schmitt, Peter: ›Von der übervart der gotheit‹, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, hg. von Burghart Wachinger, Gundolf Keil, Kurt Ruh, Werner Schröder und Franz J. Worstbrock. 2., völlig neu bearb. Auflage, Bd. 2. Berlin: de Gruyter 1978–2008, S. 1205–1209 Schwaetzer, Harald und Marie-Anne Vannier (Hg.): Zum Subjektbegriff bei Meister Eckhart und Nikolaus von Kues. Münster: Aschendorff 2011 (Texte und Studien zur Europäischen Geistesgeschichte. Reihe B, Bd. 2) Siller, Rolf: Zur Ermöglichung von Freiheit bei Meister Eckhart. Diss. München 1989 Sloterdijk, Peter: Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006 Speer, Andreas: Im Verborgenen des Geistes: »abditum mentis« bei Augustinus und Meister Eckhart, in: Das Selbst und sein Anderes: Festschrift für Klaus E: Kaehler, hg. von Markus Pfeifer und Smail Rapic. Freiburg u. München: Alber 2009 Steer, Georg: Predigt 101: ›Dum medium silentium tenerent omnia‹, in: Lectura Eckhardi I: Predigten Meister Eckharts von Fachgelehrten gelesen und gedeutet, hg. von Georg Steer und Loris Sturlese. Stuttgart: Kohlhammer 1998, S. 247– 288 Steer, Georg: Meister Eckharts Predigtzyklus Von der êwigen geburt. Mutmaßungen über die Zeit seiner Entstehung, in: Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang: Neu erschlossene Texte, neue methodische Ansätze, neue theoretische Konzepte: Kolloquium Kloster Fischingen 1998, hg. von Walter Haug und Wolfram Schneider-Lastin. Tübingen: Niemeyer 2000, S. 253–281 Steer, Georg: Eckhart der meister, in: Literarische Leben: Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters: Festschrift für Volker Mertens, hg. von Matthias Meyer und Hans-Jochen Schiewer. Tübingen: Niemeyer 2002, S. 713–753 Steer, Georg: Die Interpretation der deutschen und lateinischen Predigten Meister

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Quellen, Werkausgaben und Literaturverzeichnis Eckharts – eine unendliche Aufgabe, in: Per perscrutationem philosophicam: Neue Perspektiven der mittelalterlichen Forschung. Loris Sturlese zum 60. Geburtstag gewidmet, hg. von Alessandra Beccarisi, Ruedi Imbach und Pasquale Potto. Hamburg: Meiner 2008, S. 184–203 (Corpus Philosophorum Teutonicorum Medii Aevi. Beihefte, Bd. 4) Steer, Georg: »Freund, steig höher hinauf!« Meister Eckharts lateinischer Sermo 38 (Amice, ascende superius, Lk. 14,10), in: Meister Eckharts Straßburger Jahrzehnt, hg. von Andrés Quero-Sánchez und Georg Steer. Stuttgart: Kohlhammer 2008, S. 219–236 (Meister-Eckhart-Jahrbuch, Bd. 2) Steer, Georg: Predigt 51: ›Haec dicit dominus: Honora patrem tuum‹, in: Lectura Eckhardi III: Predigten Meister Eckharts von Fachgelehrten gelesen und gedeutet, hg. von Georg Steer und Loris Sturlese. Stuttgart: Kohlhammer 2008, S. 51– 91 Steer, Georg und Heidemarie Vogl: Die bürgelîn-Predigt Meister Eckharts. Mutmaßungen zur Erforschung der Predigt und ihrer Beziehung zu Nikolaus von Kues. Neue textgeschichtliche Ausgabe der Predigt und der lateinischen Übersetzung in der Koblenzer Handschrift, in: Meister Eckhart und Nikolaus von Kues, hg. von Harald Schwaetzer und Georg Steer. Stuttgart: Kohlhammer 2011, S. 139–259 (Meister-Eckhart-Jahrbuch, Bd. 4) Sturlese, Loris: Hat es ein Corpus der deutschen Predigten Meister Eckharts gegeben? Liturgische Beobachtungen zu aktuellen philosophiehistorischen Fragen, in: Meister Eckhart in Erfurt, hg. von Andreas Speer und Lydia Wegener. Berlin u. New York: de Gruyter 2005, S. 393–408 (Miscellanea Mediaevalia, Bd. 32) Sturlese, Loris: Homo divinus. Philosophische Projekte in Deutschland zwischen Meister Eckhart und Heinrich Seuse. Stuttgart: Kohlhammer 2007 Sturlese, Loris: Meister Eckhart. Ein Porträt, in: Homo divinus: Philosophische Projekte in Deutschland zwischen Meister Eckhart und Heinrich Seuse. Stuttgart: Kohlhammer 2007, S. 15–34 Sturlese, Loris und Alessandra Beccarisi: Studi sulle fonti di Meister Eckhart, Bd. 1: Aristoteles, De anima – Augustinus, De trinitate – Avicenna, Opera – Dionysius, Opera – Liber de causis – Proclus, Opera – Seneca, Opera. Fribourg: Academic Press 2008 (Dokimion, Bd. 34) Ueda, Shizuteru: Die Gottesgeburt in der Seele und der Durchbruch zur Gottheit. Die mystische Anthropologie Meister Eckharts und ihre Konfrontation mit der Mystik des Zen-Buddhismus. Gütersloh: Mohn 1965 (Studien zu Religion, Geschichte und Geisteswissenschaft, Bd. 3) Vannier, Marie-Anne: Eckhart und die Frage nach dem Subjekt, in: Zum Subjektbegriff bei Meister Eckhart und Nikolaus von Kues, hg. von Harald Schwaetzer und Marie-Anne Vannier. Münster: Aschendorff 2011, S. 17–24 (Texte und Studien zur Europäischen Geistesgeschichte. Reihe B, Bd. 2) Vinzent, Markus: Questions on the attributes (of God). Four rediscovered Parisian Questions of Meister Eckhart, in: Journal of Theological Studies 63 (2012), S. 156–186 Wendel, Saskia: Affektiv und inkarniert. Ansätze deutscher Mystik als subjekttheoretische Herausforderung. Regensburg: Pustet 2002 (Ratio fidei, Bd. 15) Witte, Karl Heinz: ›Vorsmak des êwigen lebennes‹. Beobachtungen zu einem scho-

445 https://doi.org/10.5771/9783495860649 .

Quellen, Werkausgaben und Literaturverzeichnis lastischen Traktat von der Schau des dreifaltigen Gottes aus dem Kreise der deutschen Mystik, in: Würzburger Prosastudien I: Wort-, begriffs- und textkundliche Untersuchungen, Bd. 1. München: Fink 1968, S. 148–198 (Medium Aevum, Bd. 13) Witte, Karl Heinz: Der ›Traktat von der Minne‹, der Meister des Lehrgesprächs und Johannes Hiltalingen von Basel. Ein Beitrag zur Geschichte der MeisterEckhart-Rezeption in der Augustinerschule des 14. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für deutsches Altertum 131 (2002), S. 454–487 Witte, Karl Heinz: Eine ciszendentale Interpretation der Individualpsychologie Alfred Adlers, in: Die Suche nach dem Sinn des Lebens, hg. von Reinhard Brunner. München: Reinhardt 2002, S. 95–126 (Beiträge zur Individualpsychologie, Bd. 27) Witte, Karl Heinz: Predigt 14: ›Surge illuminare Iherusalem‹, in: Lectura Eckhardi III: Predigten Meister Eckharts von Fachgelehrten gelesen und gedeutet, hg. von Georg Steer und Loris Sturlese. Stuttgart: Kohlhammer 2008, S. 1–31 Witte, Karl Heinz: Von Straßburg nach Köln. Die Entwicklung der Gottesgeburtslehre Eckharts in den Kölner Predigten, in: Eckharts Straßburger Jahrzehnt, hg. von Andrés Quero-Sánchez und Georg Steer. Stuttgart: Kohlhammer 2008, S. 65–94 (Meister-Eckhart-Jahrbuch, Bd. 2) Witte, Karl Heinz: Sehnsucht: Trieb, Begehren, Streben. – Eine tiefenpsychologische Revision, in: Zwischen Psychoanalyse und Mystik. Psychologisch-phänomenologische Analysen. Freiburg u. München: Alber 2010, S. 155–175 (Seele, Existenz und Leben, Bd. 15) Witte, Karl Heinz: Zeitlichkeit und Augenblick, in: Zwischen Psychoanalyse und Mystik. Psychologisch-phänomenologische Analysen. Freiburg u. München: Alber 2010, S. 38–53 (Seele, Existenz und Leben, Bd. 15) Witte, Karl Heinz: Zwischen Psychoanalyse und Mystik. Psychologisch-phänomenologische Analysen. Freiburg u. München: Alber 2010 (Seele, Existenz und Leben, Bd. 15) Witte, Karl Heinz: Von der Psychologie des Lassens und Empfangens zu einer Ontologie der absoluten Präsenz. Entwicklungslinien von den frühen Traktaten zu den späten Predigten Meister Eckharts, in: Meister Eckhart und Augustinus, hg. von Rudolf Kilian Weigand und Regina D. Schiewer. Stuttgart: Kohlhammer 2011, S. 137–194 (Meister-Eckhart-Jahrbuch, Bd. 3) Witte, Karl Heinz: Meister Eckharts Verständnis des richtigen Lebens, in: Lebensphänomenologie in Deutschland. Hommage an Rolf Kühn, hg. von Sophia Kattelmann und Sebastian Knöpker. Freiburg u. München: Alber 2012, S. 200–217 Witte, Karl Heinz: Eckhart lesen und mit ihm leben. Untersuchungen zum Selbstverständnis des Menschseins und zum Ich-Sagen Eckharts, in: Meister-EckhartJahrbuch 7 (2013) Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus, in: Tractatus logico-philosophicus, Tagebücher 1914–1916, Philosophische Untersuchungen, hg. von Joachim Schulte. 9. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993 (Werkausgabe, Bd. 1. Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, Nr. 501)

446 https://doi.org/10.5771/9783495860649 .

Personen- und Sachverzeichnis

abditum mentis 347 abegescheiden, abegescheidenheit 137, 151, 153, 154, 199, 207, 230, 236, 260, 285, 314, 331, 338, 340, 354, 357, 376, 391, 408 abgeschiedene Geister, intelligentiae separatae 200 Abgeschiedenheit Siehe abegescheiden abnegare, abnegatio 230, 378 Absichtslosigkeit 31, 284, 404 –, sunder warumbe 31, 32, 33, 69, 70, 72, 92, 93, 403, 404, 408, 415 absolut, das Absolute 67, 74, 76, 93, 102, 103, 114, 116, 136, 137, 157, 158, 198, 200, 204, 207, 228, 239, 247, 276, 277, 282, 283, 295, 299, 307, 308, 316, 339, 341, 394, 401, 402 accidens, Akzidens 83, 84, 105, 112, 113, 141, 159, 223, 247, 250, 259, 300 actualis, actualitas 84, 121, 129 Adler, Alfred 70, 87, 368 Adorno, Theodor W. 272 aequivok 124 Aertsen, Jan A. 83, 89, 93, 98 Affektion 112, 256, 257, 382 aktiv, das Aktive 85, 88, 94, 95, 96, 102, 263, 264, 311, 312, 344, 382 Aktivität 382 Albertus Magnus 40, 129, 199, 306, 391, 392

Allgemeine, das 202, 208, 219, 222, 229 –, Vorrang des A. 209 analog 121, 155, 168, 310, 311 analogare, analogicus, analogice 121, 125, 126, 226, 250, 264, 310 Analogat 124 analogia 124, 126, 127 Analogie 108, 123, 124, 125, 126, 127, 132, 155, 170, 221, 307, 311 –, Gesundheit, Weinfass 125 –, proportionale 124 Analogielehre 123, 124, 125, 126, 127, 128, 132, 227 Anaxagoras 109, 176, 203 animal rationale 197, 208 Anklage 89, 90, 97, 157, 172, 176, 202, 226, 263, 264, 265, 274, 312, 313, 318 Anselm von Canterbury 113, 244 Argumentation –, philosophische 332 Aristoteles 40, 93, 109, 125, 144, 176, 196, 197, 198, 200, 201, 203, 207, 234, 261, 268, 288, 296, 307, 327, 338, 403 –, das Höchste 200 –, ›De anima‹ 42, 110, 176, 197, 203 Aristotelismus 204 Armut 135, 151, 153, 230, 231, 232, 354 Armutspredigt 51, 74, 135, 151, 153, 171, 180, 190, 230, 231, 236, 322, 334, 345 Aszetik 264, 314

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Personen- und Sachverzeichnis Atheismus 18, 51, 279 aufbegehrende Kraft 366, 367, 369, 371. Siehe auch ûfkriegende kraft aufwallen, sprudeln, bullitio 107, 114, 115, 118, 238, 251, 252, 384 Augenblick 38, 283, 284, 385, 387 Augenblickserfahrung 152, 387 Augustinus 40, 117, 147, 244, 258, 322, 347, 348, 377, 387, 388, 393, 407 –, Geistlehre 198 Ausbruch 180, 184, 186, 335 –, aus der Einheit 182 außen, Außen 52, 74, 109, 112, 133, 139 Autonomie 263, 267 Beccarisi, Alessandra 40, 218, 220, 221 Beierwaltes, Werner 45, 98, 160, 334 Benedikt XII., Papst 213 Bereitschaft 253, 262, 304, 354, 362, 378, 389, 399 Bernhard von Clairvaux 131 bevinden 346, 352, 354. Siehe auch Erfahrung Bewusstsein 108, 111, 134, 364, 373, 396 Bewusstseinskräfte 199, 346, 347, 349, 352, 354 Beziehung 31, 33, 295, 303, 308, 309, 310, 311, 316, 396, 399, 405, 416, 419 –, differente/identische 31 Bild 41, 95, 116, 117, 118, 119, 143, 148, 220 –, Spiegelbild 260 Bildung 118, 150 Bion, Wilfred R. 16, 397, 399 Blitz 134, 383, 384, 385, 386 Blumenberg, Hans 20 Bonaventura 362, 393 böse, das Böse, malum 114, 251, 265, 290, 291, 298, 300, 301, 368 Bosheit 300, 419 Braut 173 Brautmystik 173

Breuer, Josef 70 ›Buch der 24 Philosophen‹ 115 Büchner, Christine 273 Bulle ›In agro dominico‹ Siehe Verurteilungsbulle bullitio Siehe aufwallen Bürglein, bürgelîn 183, 187, 188, 189, 345, 348, 394 Bürgleinpredigt 180, 185, 186, 187, 188, 190 causa efficiens/finalis 106, 116, 117, 118, 145, 215, 238, 252, 398 causa essentialis/formalis 106, 107, 108, 116, 118, 215 Celan, Paul 317 Christus 28, 47, 163, 209, 213, 214, 216, 221, 226, 244, 277, 278, 283, 318, 319, 336, 408, 409, 410, 412, 413 Cicero 268 ciszendental 93, 109, 239, 256, 357, 366, 376 Ciszendenz 320, 356, 363 cogitatio 112, 292, 380 cogito, sum 380 cognitio dei experimentalis 393 continuo in fieri 130, 253 Dankbarkeit 181, 288, 363 –, der Gabe 181 –, zurückgebärend 181 Dassheit 156, 236 Degenhardt, Ingeborg 16 deificatio, deificare 48, 49 Demut 60, 137, 138, 302, 303, 304, 305, 306, 307, 309, 310, 311, 312, 313, 314, 315, 316, 319, 320, 338 –, Definitionen 319 –, ist Gott selbst 315 denken, Denken 52, 62, 67, 83, 99, 100, 101, 102, 109, 110, 112, 113, 114, 121, 129, 133, 137, 142, 165, 166, 199, 207, 213, 217, 223, 228, 229, 238, 259, 266, 292, 311, 319, 321, 327, 328, 332, 338, 340, 344, 374,

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Personen- und Sachverzeichnis 375, 379, 391, 394, 401, 402, 403, 404, 405 Derrida, Jacques 16 Descartes, René 380 dies oder das 75, 113, 158, 188, 274, 402 Dietrich von Freiberg 43, 109, 199 Dilthey, Wilhelm 44 Ding an sich –, psychoanalytisch 397 Dingontologie 158 Dionysius Areopagita 298, 300, 301, 343, 391, 392, 394 –, ›Mystische Theologie‹ 343, 391 Dunkel 173, 323, 361, 392, 393 duplex esse 104, 105, 153 Durchbruch, durchbrechen 75, 235, 236, 279, 280, 285, 286, 387 ego 112, 118, 154, 172, 205, 207, 213, 214, 216, 218, 223, 226, 230, 238, 258, 259, 264, 282, 320, 401 Eigene, das 210, 212, 213, 406 –, Doppelstruktur 213 Eigenlehre Eckharts 104, 162, 198, 204, 307, 308 Eigenschaft, eigenschaft 34, 35, 113, 126, 136, 138, 152, 153, 168, 169, 179, 181, 182, 189, 213, 223, 225, 243, 245, 314, 326, 335, 346, 348 Eine, das 103, 125, 175, 181, 183, 186, 189, 205, 214, 215, 237, 246, 256, 307, 408, 416 –, ratio, proprietas des Einen 103 Einfall 64, 255, 256, 356, 364 Einheit 83, 137, 171, 172, 173, 177, 178, 203, 211, 237, 246, 249, 308, 316, 318, 339, 363, 394, 399 –, der drei Personen 177 –, in der Zweiheit 417 –, ontologische E. der Menschen 421 –, über die Gottesgeburt hinaus 179 Einheitserfahrung 280, 394 Einöde 177, 178, 184 eins 138, 188 –, nicht vereint 176

Einssein 21 Einzelner 202, 209, 211, 216, 219, 221 einzig Eines 190, 201, 203, 205, 207, 223, 229, 403 Einzigkeit, einicheit 201, 205, 229, 351, 386 Elisabeth, Heilige 357, 369 Empfangen 181, 187, 261, 263, 288, 312, 336, 338, 344, 349, 354, 372, 374 Empfänglichkeit 135, 354, 357, 379, 381, 401, 419 –, mögliche E. 353, 361, 378, 382, 384, 386, 399 Empfängnis 288, 354, 357 Emphase 73 Empirismus 49 Enders, Markus 334 ens –, in anima 103, 104, 106, 108, 121, 141, 144, 159 –, reale/cognitivum 104 enthöht 205, 302, 317, 320 Erfahrung 43, 256, 356, 380, 396, 402. Siehe auch bevinden –, der Gottesgeburt 354 –, des reinen Ich-bin 239 –, innere 109, 253 –, mystische E. 396 Erkennen 134, 142, 346, 394, 407, 415 –, nicht-erkanntes E. 358, 392 Erkenntnissein 108, 141 Erkenntnistheorie 345, 346 Erleben –, mystisches E. 394 Erlebnismystik 409 Erleiden 135, 215, 288, 343 Erleuchtung 111, 134, 152, 255, 303, 355, 356, 357, 375, 393 –, Wirkungen 376 Erstbestimmungen 21, 92, 102, 103, 123, 138, 166, 246, 248, 251, 252, 256, 307, 311, 321, 394 Erste Person 395, 407 Erstursache 84, 131, 132, 156, 231, 233, 319

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Personen- und Sachverzeichnis esse –, absolutum 157 –, esse commune/formale 124 –, esse formaliter inhaerens 124 –, hoc et hoc 158 –, Unterscheidung esse/ens 156 esse est deus Siehe Sein essentia 91, 117, 128, 153, 155, 169, 199, 226, 236, 265, 291, 300 Ethik 25, 27, 33, 42, 83, 89, 92, 135, 215, 259, 262, 266, 268, 270, 272, 314 –, Gesinnungsethik 335, 336 –, Konsensethik 267 –, ontologische E. 245 Etwas –, in der Seele 117, 135, 176, 178, 202, 206, 220, 318 Etwas-Sein 129 Evidenz 112, 270, 380, 394, 395, 403 Ewigkeit 177, 322, 386, 387 existentia 128, 156, 251 Existentialismus 279, 282 Feuerbach, Ludwig 75 Fichte, Johann Gottlieb 217 Finsternis 137, 139, 146, 172, 255, 289, 323, 324, 325, 351, 353, 354, 358, 378, 379, 381, 386, 392, 399, 407 –, der Gottheit 171 Flasch, Kurt 43, 44, 45, 50, 53, 75, 92, 108, 115, 166, 167, 199, 209, 261, 382, 392, 409 Formursache Siehe causa essentialis Fournier, Jacques, Kardinal 213 Frauenmystik 394 Freiheit 196, 369 Freud, Sigmund 70, 368, 372 Freude 194, 269, 271, 284, 337, 358, 373, 375, 383, 397, 407 Friedell, Egon 50 Friedrich der Schöne 273 Fromm, Erich 16 Fruchtbarkeit 181, 182 Funke –, über die Fruchtbarkeit hinaus 179

–, über die Personen hinaus 179 Fünklein 117, 135, 165, 170, 175, 178, 185, 188, 202, 204 Galilei, Galileo 277 gebären, Gebären 69, 163, 164, 171, 172, 181, 182, 185, 186, 203, 204, 210, 228, 237, 248, 251, 305, 361, 362, 374, 388, 403, 405, 406, 421 Geborenwerden 401, 406 Geburt 62, 64, 93, 115, 119, 132, 135, 162, 163, 181, 211, 220, 248, 255, 260, 266, 341, 346, 364, 374, 398, 405, 419 –, des Wortes 52, 92, 108, 162, 362, 365 –, in geburt wîse 254, 256 Geburtlichkeit 93, 222, 373, 406 Gefühl 257, 364 Gegenwart –, des Vergangenen 388 Gegenwärtigkeit 284, 362, 387, 388 –, des Ewigen 384 Gehorsam 305, 333 Geistphilosophie 392 Gelassenheit, gelâzenheit 45, 98, 230, 334, 340 Gerechte, der 119, 159, 258, 259, 290, 318 Gerechtigkeit, gerehticheit 41, 52, 83, 88, 91, 93, 106, 109, 118, 119, 124, 125, 126, 130, 146, 148, 159, 166, 167, 168, 169, 215, 224, 226, 242, 243, 244, 245, 246, 247, 249, 250, 252, 253, 254, 256, 258, 260, 261, 262, 263, 266, 269, 270, 308, 313, 314, 315, 320, 383, 393, 403 –, Kardinaltugend 243 –, theologische Tradition 244 –, Übertragung aller Eigenschaften 168 –, ungezeugt 167 –, zeugend/gezeugt 168 Gerechtsein 21, 83, 93, 125, 166, 227, 252, 274 Gesang, Bernward 267

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Personen- und Sachverzeichnis Geschmack, schmecken 339, 366, 369, 393 Geschöpf –, reines Nichts 97, 130, 138, 151, 155, 158, 273, 353 –, Sein 139 –, selbstständig 155 Geschöpf, geschöpflich 49, 51, 75, 91, 98, 102, 104, 113, 123, 124, 126, 128, 130, 132, 134, 136, 137, 139, 143, 145, 146, 147, 148, 194, 212, 224, 227, 236, 252, 254, 262, 274, 275, 276, 278, 281, 299, 307, 313, 318, 319, 323, 347, 353, 370, 377, 378, 385, 405, 410, 414, 420 Gestimmtheit 365, 396 gewerbe 411, 412, 413, 414 Gewissheit 29, 31, 32, 54, 56, 228, 267, 270, 273, 345, 380, 395 –, der Einheit 52 –, phänomenale 269 Glaube, glauben 32, 52, 269, 313, 366 –, Wissen 53, 76 gleich, glîch –, glîch widergelt 378 –, glîch widergelt, glîcher kouf 59 –, glîcher kouf 378 Gleichheit 137, 221 –, existenzielle G. der Menschen 421 –, Identität 71 –, mit Gott 264 –, Sohn in der Seele und inkarnierter Logos 163 –, vor dem Gesetz 267 Gleichwertigkeit 267 Gnade 28, 50, 303, 366, 367, 368, 369 Goethe, Johann Wolfgang von 351 Goris, Wouter 89 Gott –, Das Sein ist Gott Siehe Sein –, Absichtslosigkeit 28 –, absolut 137 –, als Ich 222 –, Anwesenheit 146 –, Beginn der Geschöpfe 154, 233 –, enthöhter G. 316, 317

–, Ersatz des Namens 27 –, Existenz 280 –, gedachter Gott 53, 68 –, Gegenwart 58, 66 –, Gegenwart in den Dingen 67 –, »Gerechtigkeit« statt »Gott« 383 –, gewesender got 53 –, Gott um Gottes willen lassen 214, 336 –, Gottes ledig/quitt werden 51, 136, 336 –, Gottes Sein ist mein Leben 73, 74, 226, 264, 266, 299, 322 –, Hypothese 51 –, Ich 112 –, in allen Dingen 276 –, innen 271 –, Innere (das) der Dinge, innerkeit 139 –, In-Sein in den Dingen 129 –, kein Gegenstand 68, 70 –, Leben 73 –, Naturalisierung 48 –, Nichts 407 –, ohne Selbstinteresse 30 –, ohne Washeit 154 –, Rede von Gott 57, 58 –, schaut nicht in die Einheit 188 –, Sein im Seienden 127 –, »Sein« statt »Gott« 82 –, Selbstoffenbarung 58 –, Sohn, gezeugt, zeugend 94 –, Transzendenz 139 –, ungetrennt, alles 220 –, unterschieden von der Gottheit 51 –, Vater, ungezeugt Zeugender 94 –, Vernunft 183 –, ›Vollzugsweise‹ Gottes 384 –, Vorstellungen 68 –, Wesenseigenschaften 342 –, zwingen 60, 306, 312, 314 Gott erleiden 342 Gottesbeziehung 226, 316, 317, 320, 321, 338 Gotteserfahrung 52, 76, 117, 135, 138, 288, 289, 364, 418

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Personen- und Sachverzeichnis Gottesgeburt 66, 77, 111, 117, 161, 163, 180, 182, 187, 270, 287, 304, 305, 312, 332, 333, 344, 346, 347, 349, 350, 351, 352, 354, 356, 357, 360, 364, 365, 372, 373, 376, 379, 385, 388, 393, 398, 399 –, Auswirkungen 373 –, Empfinden 346 –, in der Seele 65, 92, 161 –, Ort 133 –, Wendepunkt 178 Gottesgeburtslehre 161, 163, 164, 165, 168, 169 –, Intellektlehre, Transzendentalienlehre 166 –, Tradition 162 –, Weiterentwicklung 170, 190 ›Gottesgeburtszyklus‹ 111, 133, 135, 162, 181, 184, 281, 287, 331, 332, 333, 341, 343, 344, 346, 347, 348, 357, 359, 360, 364, 381, 386, 392, 393 Gottheit 43, 74, 136, 154, 173, 177, 184, 195, 203, 234, 273, 280, 286 –, verschieden von Gott 190 Gradualismus 306 Grimm, Jakob und Wilhelm 302 Grund, grunt 20, 21, 26, 117, 133, 134, 142, 163, 170, 173, 184, 211, 228, 233, 234, 246, 318, 335, 344, 347, 348, 352, 355, 386, 395, 421 –, Gottes Grund – mein Grund 69, 204, 403 Grundrechte 270 Guerizoli, Rodrigo 343, 347 Guillelmus de Morbeca 197 Gute, das 91, 92, 93, 97, 103, 106, 114, 119, 125, 134, 166, 194, 195, 246, 248, 250, 254, 256, 259, 262, 290, 291, 293, 294, 297, 298, 299, 300, 301, 306, 307, 308, 315, 319, 320, 334, 338, 355, 356, 369, 373, 383, 384, 393 Güte, die 52, 83, 92, 93, 119, 123, 125, 145, 146, 166, 168, 184, 195, 245,

246, 247, 248, 259, 282, 305, 306, 308, 313, 315, 320, 342, 393 Gutsein 21, 83, 91, 93, 106, 109, 125, 126, 166, 195, 245, 246, 250, 274, 298, 307, 308, 309, 320 Habermas, Jürgen 269, 270 Habitus 253, 254 Haltung 243, 253, 254 –, ledig und frei 38 –, ohne Vor und Nach 37 –, zur Gottesgeburt 347 Handeln –, aus dem Grunde 415 –, aus dem Inneren heraus 411 Hart, James D. 239 Hasebrink, Burkhard 228 Haus 131 –, ursprungloser Ursprung 95 Hegel, Johann Gottlieb 239 Heidegger, Martin 16, 45, 58, 89, 98, 131, 142, 148, 149, 160, 193, 334 Heilsgeschichte 319 Henry, Michel 16, 42, 62, 112, 266, 380, 381, 401, 402 Hochmut 369, 370 Hoerster, Norbert 267 Hoffnung 313, 366, 367, 368, 371 Hölderlin, Friedrich 148, 149 Hölle 293, 294, 298, 299 homo divinus 138, 405 Hören 348 horror vacui 261, 338 Hugo von St. Viktor 257 Husserl, Edmund 140 hypostatische Union 318 Ich –, Gott werden 47 –, Gottes 205 –, Pronomen, Person 223 ich (Pronomen) 48, 51, 112, 113, 136, 138, 139, 155, 164, 205, 206, 209, 210, 211, 212, 213, 216, 218, 219, 222, 223, 228, 229, 234 –, als ich nichts war 224, 230

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Personen- und Sachverzeichnis –, als Sprecher 223 –, Definition 218 –, eigenschaftslos 226 –, gebäre den Vater 171 –, Gott 136, 205 –, reines »ich« 421 –, ungeboren 171 –, Unterschiedslosigkeit 137 –, Vater 171 –, Wer bin ich? 202 Ich bin der ich bin 112, 113, 234, 251 Ich denke, ich bin (Descartes) 380 Ich und Selbst 61 Ich, das 43, 61, 68, 69, 112, 115, 206, 216, 218, 230, 264, 376, 377, 380, 400 –, das reine Ich 239 –, Definition 222 –, Doppelstruktur 213, 230 –, gezeugt/geboren 381 –, in der Armutspredigt 231 –, Konstitution 382 –, ontologisch 222 –, Person 228 –, reales Ich 152 –, transzendental 405 Ich-Aussagen 216, 218, 227, 228, 237 Ich-bin 82, 113, 206, 235, 236, 238, 239, 282, 380, 387 –, Gott und »ich« 207 Idealismus 129, 217, 228 Idee 145, 153 –, des Kreises 146 Identität 74, 136, 204, 218, 220, 221, 229, 237, 382 –, in Differenz 228 –, Sohn und »ich« 164 Identitätsverschmelzung 20 Ignatius von Loyola 15 imago 116, 117 Immanenz 43, 88, 93, 139, 146, 405 Impressionalität 381 in geburt wîse 254, 398 in quantum 91, 93, 94, 106, 111, 143, 198, 199, 226, 264, 313, 327 înbilden 107

incarnatio continua 406 Individualität 35, 87, 201, 206, 209, 216, 220, 221, 223 –, Transzendentale I. 213 Inkarnation 17, 76, 112, 161, 162, 164, 174, 211, 212, 319, 380, 406 innen 66, 133, 137, 138 innen – außen 205 innere Welt 405, 406 Innere, das 320, 374, 395 innerkeit 147, 159 Innerlichkeit 138, 281, 320, 350, 377 Innerste, das 117, 348, 353 innigen 137, 138, 317 intellectus 109, 176, 183, 190, 198, 221, 292, 392, 415 –, agens 359, 360 –, agens, würkende vernunft 360, 361 –, possibilis/passibilis 359, 360 Intellekt 115, 139 –, durch die Sache lesen 140 –, Einfachheit 199 –, Vorrang vor dem Sein 165 Intellektlehre 166, 190, 198, 209, 362 intelligentia separata 209 Intelligenzen 115 intelligere 109, 384 –, im Prinzip lesen 140 –, innen lesen 139, 142 Intelligibilität 108, 146 Intention 43, 147 –, Auslegung der Naturverhältnisse 40 –, Eckharts 312 –, rationale Auslegung 39 –, rationes naturales philosophorum 394 intus legere 100, 109, 139, 142, 293, 384, Siehe intelligere Ipse (das) 201 Ipseität 43, 62, 222, 380, 381, 421 Ist, das 127, 158, 176, 214, 218, 219, 229, 234, 235, 415 Istheit 75, 215, 221, 226, 235 isticheit 219, 221, 226, 235 iustitia 118, 125, 130, 159, 167, 226,

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Personen- und Sachverzeichnis 242, 244, 245, 250, 253, 257, 258, 264, 269 –, originalis 244 Jan van Leeuwen 16 Jenseits, das 133, 277, 321, 356 Jesus 237, 285 –, Selbstprädikationen 237 Jetzt, das 63, 165, 384, 387, 417 Jetztpunkt 387 Johannes Hiltalingen von Basel 213 Johannes XXII., Papst 263, 273 Jung, Carl Gustav 16, 70, 372 Jungfrau 151, 152, 181 Kant, Immanuel 194, 263, 267 Kategorien 106, 141 Kategorischer Imperativ 267 Katrei, Schwester 46, 47, 48 Keel, Hee-Sung 51 Ko¯an 408 Köbele, Susanne 73 Koelle, Lydia 317 ›Kölner Predigten‹ 135, 170, 171, 178, 183, 188, 190, 302, 322, 326, 338, 345, 360, 393 ›Kommentar –, zum Buch Exodus‹ 238 –, zum Buch Genesis‹ 89 –, zum Buch Sapientia‹ 166, 290 –, zum Johannesevangelium‹ 39, 40, 41, 93, 95, 96, 100, 119, 123, 147, 168, 183, 216, 247, 252, 306, 310 Können-Wollen 320, 381 Kraft 183, 187, 202 –, der Seele 199, 355 –, eine zweite K 185 –, Grund der Seele 184 –, in dem Geiste 188 –, in der Seele 175, 183, 184, 185 –, ungeschaffen und unerschaffbar 171 –, Vernunft 183 –, Wille, Heiliger Geist 186 Kühn, Rolf 21, 42, 43, 62, 222, 233, 381, 400, 401, 402, 405

Kunst 41, 143, 144, 252 Kuss 177 Lakoff, George 20 Landauer, Gustav 16 Laoureux, Sebastien 42 Laplace, Pierre-Simon 51 Largier, Niklaus 21, 66, 165, 304, 360 lassen 59, 151, 193, 196, 230, 260, 262, 276, 315, 331, 333, 334, 336, 337, 338, 339, 340, 343, 344, 372, 377, 418 –, das Seine 59 –, Möglichkeit der Erfüllung 193 –, sich lassen 377 Lebemeister 46 Leben 21, 27, 62, 100, 101, 102, 115, 116, 132, 138, 142, 146, 226, 228, 248, 261, 282, 299, 397 –, absichtslos 72 –, ethisches Programm 37 –, ich-lebe 381 –, Selbstbewegtheit 116 Lebensphänomenologie 42, 43, 62, 112, 256, 264, 379, 381, 384, 397, 399, 400 Lebensphilosophie 402 ledig, ledic 30, 33, 35, 37, 38, 75, 135, 151, 152, 181, 188, 196, 225, 231, 233, 235, 236, 283, 342, 351, 358, 376, 379 Leere 113, 261, 273, 277, 290, 389 Leib 62 Leid, leiden, leit, lîden 65, 70, 77, 135, 139, 174, 215, 263, 269, 284, 288, 293, 305, 320, 323, 328, 358, 361, 362, 389, 414 Leidensmystik 288 Lesemeister 46 Lessing, Gotthold Ephraim 270 ›Liber de causis‹ 85, 101, 102, 110, 115, 248, 394 ›Liber propositionum‹ 126 Libera, Alain de 306 Licht 111, 134, 146, 323, 352, 399 –, des Geistes 188

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Personen- und Sachverzeichnis –, hat die Finsternis nicht erfasst 323 Lichtenberger, Hermann 18 Liebe 30, 33, 56, 77, 103, 109, 115, 131, 146, 167, 172, 174, 186, 194, 245, 247, 251, 255, 256, 264, 265, 282, 288, 308, 313, 320, 335, 336, 341, 366, 394, 395, 396, 397, 403, 408, 411, 412, 415, 416, 419, 420, 421 –, als Einheit 416 –, Gottes in den Dingen 194 –, Grund der L. 421 –, in/ohne Beziehung 416 –, sunder warumbe 32 –, zu den Dingen 419 Logos 119, 146, 211, 318 Ludwig IV. von Bayern 273 Luther, Martin 244 Machbarkeit 377 Maimonides 219 Makkabäer-Kloster (Köln) 175 malum Siehe böse Mangel 251, 287, 289, 290, 291, 298, 299, 301, 353, 370 Maria Magdalena 410 Maria von Bethanien 408, 409, 410, 412, 414, 417 –, Legende 410 Mariengarten (Kloster in Köln) 173 Martha von Bethanien 239, 356, 408, 409, 411, 412 Marx, Karl 131 McGinn, Bernard 20, 21, 40, 54, 180, 203, 218, 219, 408 Meditation 229, 240, 316, 341, 349, 350, 354, 388, 418 Meditationsanweisungen 350 Meister, Ernst 30 Meistermetapher 20 Mensch 196, 197 –, animal rationale 196 –, Definition 207 –, der gerechte, der edle, der gute 137 –, gewissermaßen alles 198 –, Gott geworden 212 –, nichts, alles 220

–, was er ist 208 –, Was ist der M. 201 –, wie er ist 208 Menschenrechte 266, 267, 270 Menschenwürde 266, 267, 268, 270, 305 –, Begründung 268 –, Entdeckungsfunktion 269 –, religiöse, philosophische Tradition 268 Menschheit 138, 164, 196, 202, 208, 209, 211, 213, 229 Menschsein 75, 83, 159, 164, 196, 197, 198, 200, 207, 208, 209, 211, 213, 215, 217, 222, 224, 229, 246, 249, 250, 308, 338, 401 Menschwerdung 161, 211 Metapher 166, 237, 260 Metaphysik 43, 83, 93, 98, 106, 160, 200, 204, 231, 238, 247, 267, 306, 307, 316, 319, 401, 403 –, ontotheologische M. 403 Methode –, phänomenologische M. 39 –, psychologisch-phänomenologische M. 38 Michelangelo Buonarroti 143 Mieth, Dietmar 357, 408, 409, 413 Mojsisch, Burkhard 200, 203, 228, 231, 308, 360 Mystik 43, 45, 52, 135, 391, 394, 400, 401, 403, 409 –, Antimystik 409 –, bei den Dingen 408 –, des dritten Weges 414 –, des Grundes 20, 408 –, des reinen Vollzugs 415 –, ekstatische M. 412 –, Themen der M. Eckharts 404 –, vollendete M. 412, 414 Mystiker 52, 175, 391, 408, 417 –, weltlicher 240 mystisch 52, 179, 201, 279, 356, 391, 394, 395, 396, 400, 402, 404, 407, 413 –, Erfahrungsweise 394, 403

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Personen- und Sachverzeichnis –, mysticus 391 ›Mystische Theologie‹ 391 Nachfolge-Christi-Frömmigkeit 71 Nacht 354, 355, 398, 407 namenlos 202, 204 Narzissmus 370 Natur 41, 252 Naturphilosophie 42 –, trinitarisch 40 Naturprozesse 120 Naturwissenschaft 141, 252 negatio negationis 114, 283, 295 negative Theologie 113, 204 Neuplatonismus 48, 160 Nicht-Bild 416 Nicht-Geist 416 Nicht-Gott 416 Nichtigkeit 280 Nicht-Person 416 nichts –, als er nichts war 151 –, dô er/ich niht enwas 153 Nichts 113, 153, 154, 194, 260, 261, 262, 264, 273, 275, 276, 282, 283, 284, 285, 289, 294, 299, 351, 352, 358, 378, 379, 381, 386, 407, 416 Nichtstun 342 Nichtwissen 343, 392 Nicht-Wollen 334 Nicolaus Cusanus 48 Nietzsche, Friedrich 48, 60, 61, 62, 68, 89, 278, 282, 283, 285, 286, 371 Nihilismus 276, 278, 282, 283, 285, 299 –, moderner N. 289 –, spiritueller N. 281, 284, 289 Nirwana 229 Nishitani, Keiji 282, 283 Nominalismus 49 Notizbuch 317 Notwendigkeit 260, 305 Nun –, der Ewigkeit 296, 322, 417 –, gegenwärtiges N. 164, 181, 228, 384, 386, 387

oben 66, 137 oben – innen 317 oben – unten 137, 205, 310, 406 Oben-Unten-Beziehung 316 Obere und Niedere, das 85, 309 Oberste, das –, der Seele 117 Obheit 236 Offenbarung 266, 308, 321, 359, 394 Ôhashi, Ryôsuke 239 Ontische, das 148 Ontologie 156, 158, 259, 264, 274, 346 –, Aufhebung 204 ontologisch 352, 357, 363, 366, 385 ontologische Differenz 99, 131, 160, 248 ontotheologisch 158, 236 Opferstockpredigt 51, 74, 150, 154, 171, 180, 190 Opium des Volkes 131 ›Opus tripartitum‹ 81, 88, 165 Origenes 162 östliche Meditationsanweisungen 350 östliche Philosophie 58, 113, 280 östliche Religionen 48 ousia 402 Pantheismus 92, 145 ›Paradisus anime intelligentis‹ 367 Pariser Quästionen 165 Passibilität 62, 264, 379, 381, 382, 401 passiv, das Passive 85, 88, 93, 94, 96, 102, 311, 344, 349, 374, 382 Passivität 264, 381, 382 Pasteur, Louis 376 Pathos 381 Paul, Jean Friedrich Richter 277, 278 Paulus 214, 215, 309, 317, 345, 352, 356, 407 perfectiones generales Siehe Erstbestimmungen perfectiones spirituales 247, 256, 308, 309, 315, Siehe auch Erstbestimmungen

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Personen- und Sachverzeichnis Perger, Mischa von 317 Person, Personalität 222, 236, 238 Personen –, Trinität 153, 348, 394, 408 Persönlichkeit 254, 355, 373 Petrus Lombardus 81 phänomenaler Anhalt 58, 106, 142, 148, 255, 367, 387 Phänomenologie 43, 400, 403 –, Umkehr der Ph. 112, 380 phänomenologisch 43 phänomenologische Psychologie 315 Philosophie 200, 400, 404 –, Lebenslehre 404 –, mystische Ph. 404 –, natürliche 207 Pietismus 350, 377 Platon 202, 203, 207, 268 platonisch 204 Platonismus 204 Polyklet 144 Positivismus 267 Potenzialität 354 Pragmatismus 267 Praktik 286, 384 Präsenz 93, 138, 384 –, Gottes 337 Prinzip, principium 89, 92, 123, 142, 220, 233, 259, 262, 306 –, im Prinzipiat 168 –, in principio 144 Prinzipiat 109, 123, 233, 258, 259, 306 –, im Prinzip 168 Prinzipienlehre 123, 253, 270, 310, 339 privatio 251, 291, 353 ›Prologus generalis‹ 156 Pronomen 223 proprietas 152, 169 Prozess 89, 139, 156, 162 Psychoanalyse 55, 377, 388, 396, 400 psychoanalytische Haltung –, ohne Erinnern, Wünschen, Verstehen 399 Psychologie 42, 362 –, phänomenologische P. 256

Quero-Sánchez, Andrés 116, 129, 335 quiditas 164, 200, 201, 236, 403. Siehe auch Washeit Quint, Josef 21, 22, 35, 51, 135, 136, 181, 182, 183, 184, 185, 187, 188, 189, 195, 200, 201, 202, 203, 205, 210, 213, 231, 232, 233, 234, 277, 279, 280, 326, 336, 346, 413, 416 Rahner, Hugo 162 Realität –, innere R. 397 Rechtfertigung 244, 258, 303, 313 Rechtsein 242, 245, 256, 258, 261, 262 rectitudo 242, 244, 245, 257 ›Reden der Unterscheidung‹ 59, 66, 331, 333, 334, 337, 364 Reduktion 85, 136, 150, 222, 224, 230, 236, 384, 420 Reffke, Ernst 89 religiöse Praxis 25, 26, 27, 36 Rezeptivität 243, 256, 263 Richard von St. Viktor 220 richtiges Leben 242 Richtigkeit 258 –, des Lebens selbst 245 Rilke, Rainer Maria 148, 149, 240, 241, 275 Rückkehr –, zur Einheit 183 Ruh, Kurt 66, 157, 162 Ruusbroec, Jan van 16 Sander, Hans-Joachim 268 Sartre, Jean-Paul 280, 282 Schelling, Friedrich Wilhelm Josesph 217 Schenken 311, 312, 315, 374 Schmitt, Peter 323 Schöpfung 74, 103, 128, 144, 148, 154, 234, 274, 275, 321, 327, 398 Schöpfungslehre 120 Schriftverständnis –, mystisches Sch. 391 Schule (Ordenshochschule) 312, 410, 412

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Personen- und Sachverzeichnis Schwaetzer, Harald 209 Schweigen 134, 255, 287, 288, 343, 347, 348, 351, 361, 362, 392, 399 Schweitzer, Franz-Josef 47 Seele –, das Oberste 221 –, Wesen der Seele 117, 133, 135 Seelenfunken 345 Seelengrund 345, 348, 351 Seelenkräfte 341, 344, 346, 348, 362, 366, 369, 373 –, potentiae animae 199, 341 Seelenvermögen 111, 183, 184, 185, 186 Seiende, das 100, 119, 138, 291, 353 –, reales S. 141 Seiendes –, formaliter inhaerens 157 Seiendheit 139, 275 Sein 82, 83, 84, 100, 101, 102, 103, 115, 119, 123, 129, 138, 139, 142, 144, 145, 155, 160, 247, 248, 251, 256, 262, 274, 285, 298, 299, 307, 315, 341, 353, 374, 383, 403 –, absolutes S. 307 –, Das Sein ist Gott 81, 81, 97, 98, 123, 127, 156, 157, 307, 319 –, Etwas-Sein 75 –, faktisches, ideales S. 129 –, Gott 251 –, reines S. 75 –, Seinsanalogie 119, 124, 125, 132 –, Ursprung , principium 103 –, vs. Seiendes 85, 158 Sein in der Seele Siehe ens in anima Sein und Seiendes 127 Seinsanalogie 132 Seinsfrage Siehe ontologische Differenz Seinslehre 98, 125, 158 Seinslosigkeit 139 Seinssinn, ratio entis 104, 105, 141, 146, 151, 158, 159 Seinsvergessenheit 160 Seinsverständnis 274 Seinsweisen 246

Selbst, das 62, 68, 372, 377, 381 Selbstaffektion 381, 399 Selbstbestimmung 263, 279, 305, 382 Selbsterfahrung 96, 281, 362, 382, 396 –, des Gefühls 401 Selbsterkenntnis 312 –, Gottes 162 Selbsterweis –, des Lebens 380 Selbstgewissheit 236, 239 Selbstheit 279 Selbstoffenbarung 29, 43, 58, 66, 266, 270, 359, 384, 397, 399, 401 –, des Lebens 112 –, Gottes, des Lebens 380 Selbstsein 62, 138, 364, 381 Selbstverständnis 364, 382 –, christliches S. des Menschen 202 –, der Zuhörer 302 –, des Menschen 16, 49, 196, 207 Seligkeit 351, 404, 412, 413 Seneca 268 Sentenzenkommentar 81, 312 Serendipity-Prinzip 375 Seuse, Heinrich 16 Sichheit 380 Siegel 221 Siller, Rolf 360 Sloterdijk, Peter 366 Sohn 203, 211 –, derselbe in Trinität, Christus und Seele 163 –, wird Vater 171 –, zeugt den Vater 169 Sohnesgeburt 182, 204, 318 Sohnschaft 153, 171, 172, 211, 213 Sorge 413 Spätwerk 314 Speer, Andreas 348 Spiegel 117, 118, 143 Spiritualität 45, 46, 89, 239, 280, 285, 333, 418 Sprachfähigkeit –, der Ohnmächtigen 268 Sprengmetapher 20, 21 sprudeln Siehe aufwallen

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Personen- und Sachverzeichnis Stätte 135, 346 Steer, Georg 14, 46, 51, 54, 74, 75, 115, 135, 136, 150, 151, 154, 181, 182, 183, 184, 185, 186, 187, 188, 189, 231, 232, 233, 234, 235, 241, 277, 279, 280, 285, 324, 331, 332, 336, 341, 346, 348, 357, 385, 408 Stille 287, 351, 381 Stimmung 365, 395 Sturlese, Loris 16, 40, 317, 338 Subjekt 223, 230, 238, 282 –, reines S. 112, 223 –, transzendentales S. 228 subjektives Erleben 106 Subjektivität 209, 239, 241, 282 Substanz 83, 197, 223, 230 –, des Menschen 138 –, ohne Eigenschaft 223 –, reine S. 112 Substanzontologie 250 Sünde 290, 293, 301, 357, 369, 419 Sünder 300, 357 sunder warumbe Siehe Absichtslosigkeit Synderesis, sinderesis 175, 298 Tauler, Johannes 16 Teilhabe 49, 92, 119, 208, 220 termini Siehe perfectiones termini generales Siehe Erstbestimmungen Teufel 289, 290, 299 Thomas von Aquin 40, 49, 50, 81, 84, 92, 123, 124, 126, 127, 129, 145, 153, 155, 156, 157, 158, 186, 197, 198, 199, 209, 213, 221, 243, 291, 307, 313, 314, 321, 391, 393 Thomismus 49 Tochter Gottes 18, 164, 211, 406 Tod 282, 296 Todsünde 293, 296, 297, 299 Toleranz 70, 77 ›Traktat von der Minne‹ 157 transcendentia Siehe Transzendentalien transzendental 43, 91, 92, 109, 143,

166, 193, 213, 245, 249, 274, 311, 312, 352, 354, 357, 366, 385, 401 Transzendentale, das 88, 93, 148, 259 –, In-Sein des T. 148 transzendental-existenziell 227, 228 Transzendentalien 103, 108, 146, 159, 166, 246, 307, 309, 313 Transzendentalienlehre 83, 89, 123, 127, 166, 167, 168, 226, 247, 253, 270, 306, 307 Transzendenz 43, 66, 138, 266, 303, 317, 319, 321, 362, 363 Triebel, Eckhart 127 Trinität 41, 163, 167, 394 Trinitätslehre 152, 169, 185 Truhe 146 Tugend 130, 338 –, göttliche T. 366 –, ontologische T. 313 –, theologische T. 313 Tugendhabitus 130 Tugendlehre 243, 253 Übel 290, 291, 300 überbilden 107, 164, 212 Übernatur 50 Übung 333, 334, 340, 342 Ueda, Shizuteru 180 ûfkriegende kraft 366, 369, 370. Siehe auch aufbegehrende Kraft Umkehr 283 unbekantes bekantnisse 135, 358, 392, 399, 407 Unbewusste, das 364, 398, 399 unerkannt, das Unerkannte 135, 171, 173, 174, 202, 204, 324, 325, 343, 358, 393 Unerkennbare, das 173 unerschaffbar 166, 171, 175, 178 ungeschaffen 135, 175, 178, 204 unio mystica 201 univok 121, 123, 168, 310, 311 unum et unicum 201 Ununterschiedenheit 136, 137, 154, 173, 175, 176, 277, 339 unvermischt 111, 288

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Personen- und Sachverzeichnis Unwissen 135, 287, 289, 346, 351, 358, 379 Ursache 84, 107, 156, 234, 253, 275 –, meiner selbst 231, 232 Ursprung 173, 246, 327 Ursprungserfahrung 402 Urvertrauen 64 Vannier, Marie-Anne 209, 220 Vater –, dass ich Vater bin 171 verborgen, das Verborgene 173, 324 Verborgenheit 111, 345, 353, 392, 393 –, der Gottheit 171 Verborgenste, das 117 –, der Seele 347 Verdammten, die 295, 297, 300 –, aus dem Leben Gottes 299 Vereinigung 304, 399 Vergöttlichung, théo¯sis 48 Vernehmen –, inneres V. 384 verneinen 378 Verneinung 114, 295 –, der Unterschiedenheit 154 –, des Etwas-Wollens/Wissens 154 Vernunft 108, 165, 176, 197, 209, 288, 292, 360, 392, 408, 415 –, getrennt von Materie und Form 198 –, göttliche V. 184, 203 –, mit nichts etwas gemein 176 –, mügelîche vernunft 360 –, natürliche V, 345 –, reine V. 198 Vernunfterkenntnis 200 Vernunftgründe 321 Vernünftigsein 200 Vernunftprinzip 140 Verteidigungsschrift 89, 94, 97, 316 Vertrauen 64, 368 Verurteilung 316 Verurteilungsbulle 155, 162, 176, 263, 274 Vinzent, Markus 169 virtus 183, 185, 187 vis irascibilis 366, 367

–, Zorn 366 –, zornige Kraft 366, 367, 368, 405 –, zürnerîn 366, 369, 371 Vita activa 411 Vitalismus 402 Vogl, Heidemarie 181, 182, 183, 184, 185, 186, 187, 188, 189, 348 Vollzug 139, 403 –, des Lebens 381 voluntas 183, 190 ›Von abegescheidenheit‹ 137 Vor und Nach 238, 283, 387, 415 Vorhandenheit 116, 128, 138, 251 Vorstellungen 151 –, âne eigenschaft 225 Vorstellungsbild 117, 134, 181 Wahre, das 90, 125, 134, 246, 256, 307, 393 Wahrheit 29, 83, 403 –, der W. gleich 395 –, gelebte W. 55 –, innere W. 398 –, mystische W. 395 –, Richtigkeit 29, 55 Wahrheitsverständnis 54, 91 Wahrnehmung –, innere 375 Wahr-Nehmungs-Weise 396 Wahrsein 109, 126, 250, 274, 307 Was, das 188, 200, 201, 203, 218, 234, 402 Washeit 113, 154, 155, 158, 164, 198, 200, 223, 235. Siehe auch quiditas Weib 181, 182 Weiselosigkeit 72 Weisheit 83, 92, 123, 127, 128, 166, 247, 250, 251, 252, 290, 320, 342, 349 Weiß, Konrad 219 Wendel, Saskia 228, 229 Werke 215, 296, 411 –, werden zu Geist 297 Werkgerechtigkeit 27 Wille 59, 185, 334, 335 –, freier W. 69

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Personen- und Sachverzeichnis –, Gottes 60, 63, 65, 194, 236 –, Jetzt der Entschlussses 63 –, phänomenologisch 60 Wirken (actus) Gottes –, Erkennen und Lieben 360 Wirkursache Siehe causa efficiens Wissen 77, 332, 361 –, Glauben 53 Witte, Karl Heinz 92, 111, 115, 157, 171, 205, 222, 304, 338, 363, 379, 388, 396, 397, 409 Wittgenstein, Ludwig 387 Wollen 134 Wort 109, 148, 259 –, inneres W. 255, 287 Worten, geworten 108 Wortung 227, 228 Wüste 177, 178, 184, 202, 204, 282, 361, 378, 386, 389

Zeit 34, 38, 133, 164, 383 –, ekstatische Z. 387 –, in der Seele 388 –, Verdichtung der Z. 387 Zeitenthobenheit 152 Zeitlosigkeit 387 Zen 15, 75, 229, 240, 408 Zeugung 65, 93, 135, 161, 162, 163, 207, 237 Zielursache Siehe causa efficiens/ finalis Zisterzienserinnen 173 Zuversicht 369, 370, 419 Zwang 368 Zwangsneurose 140, 368 Zweifel 140, 380 –, methodischer Z. 140 Zweitursache 156

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