206 86 65MB
German Pages 292 Year 1983
Linguistische Arbeiten
134
Herausgegeben von Hans Altmann, Herbert E. Brekle, Hans Jürgen Heringer, Christian Rohrer, Heinz Vater und Otmar Werner
Mehrsprachigkeit und Gesellschaft Akten des 17. Linguistischen Kolloquiums Brüssel 1982 Band 2 Herausgegeben von Rene Jongen, Sabine De Knop, Peter H. Neide, Marie-Paule Quix
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1983
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Mehrsprachigkeit und Gesellschaft: Brüssel 1982 / hrsg. von Jongen . . . -Tübingen : Niemeyer, 1983. (Akten des . . . Linguistischen Kolloquiums ; 17, Bd. 2) (Linguistische Arbeiten; 134) NE: Jongen, Reno [Hrsg.]; Linguistisches Kolloquium: Akten des ... Linguistischen . ..; 2. GT ISBN 3-484-30134-1
ISSN 0344-6727
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1983 Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdruckliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege zu vervielfältigen. Printed in Germany. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt.
INHALTSVERZEICHNIS
ZU
BAND
Vorwort 1.
MEHRSPRACHIGKEITS-
IX UND INTERFERENZFORSCHUNG
LU, Sylvia/POGARELL, Reiner: im Bereich der Anrede
Interferenzen .................................
3
BREINBURG, Petronella: A Boeng M j o ' s i - A Study of the Sociolinguistic Dynamics of the Surinam People Now in the Netherlands ...................
18
DEPREZ , Kas/PERSOONS, Yves: Onderzoekersef fekten in sociolingu'istisch attitude-onderzoek: een kontaminerende of een konstituerende f aktor? ...............................................
31
HÖRNER, Karin/HÖRNER, Ekkehard : Geschlechtsspezifische Themenpräferenz in Leserbriefen an die "Zeitlupe 20" ..............................
48
KELZ , Heinrich P . : Extralinguistische Faktoren bei der Planung einer Nationalsnrache .................
58
KERN, Rudolf: Zur Sprachsituation im Arelerland
70
LEWICKI, Roman E . : Multilingualism in the pre-schbol child ..............................
............
... ..... 88
LIEBE-HARKORT, Marie-Louise: VIriting Systems for the Apachean Languages ............................
96
OFNER, Günter: Vergessene Sprachminderheiten in Europa .............................................
105
PABST, Klaus: Mehrsprachigkeit im Rheinland in französischer Zeit (1794-1814). Methodische Vorüberlegungen zu einem historischlinguistischen Forschungsprojekt ......................
115
PEETERS, Yvo J . D . : Consequences alienatrices d ' u n bilinguisme generalise pour les langues ou cultures minoritaires (synthese) ......................
127
QUIX, Marie-Paule: Soziolinguistik und/oder Kontaktlinguistik ....'. ................................
133
SAKAGUCHI, Alicja: Formen der Sprachplanung mit besonderer Berücksichtigung interlinguistischer Methoden ......... . ..............................
142
VI
TRIM, Richard: Sprachtod in Altbelgien-Mitte?
157
WINTGENS, Leo: über Grundlagen der Sprachgeschichte des Herzogtums Limburg - Bild der sprachlichen Wechselwirkungen zwischen Maas und Rhein
169
2.
PSYCHOLINGUISTIK,
KONTRASTIVE LINGUISTIK,
KONVERSATIONSANALYSE
BAMBERG, Michael: Metaphors as "Framing Devices": Relating Linguistic and Cognitive Processes in 3-Year Olds
181
CLERCQ, de, Martine: Comment interpreter un auteur bilingue: l'exemple de Beckett
191
CUVELIER, Pol: The Meaning of Motion Verbs: A Critical Analysis of Lexical Semantics Research in Child Language
199
ELST, van der, Gaston: Versuch einer kontrastiven semantischen Analyse (am Beispiel deutsch-niederländisch)
211
HESS-LÜTTICH, Ernst W . B . : Sprichwörter und Redensarten als Ubersetzungsproblem (am Beispiel deutscher Übersetzungen spanischer und türkischer Literatur)
222
LURQUIN, Georges: Un langage universel pour les personnes qui ne parlent, ni ne lisent
237
MÜLLER, Klaus: Konversationelle Beschreibungen bilingualer Kinder
245
NIKOLAUS, Kurt/Me GURK, Patricia: Konversationelle Erzählungen zweisprachiger Kinder
256
RANSCHAERT, Jean-Pierre: La fonction thßrapeutique de la parole dans la cure psychanalytique
268
VERZEICHNIS
DER
AUTOREN
UND
HERAUSGEBER
278
INHALTSVERZEICHNIS
ZU BAND
l
Vorwort 1.
ZEICHENAUSDRUCK
IX UND MOTIVIERUNG
FOREL, Ciaire-Antonella: La delimitation en rapport avec l'intonation culminative
3
SCHMITZ, Ulrich: Vorbemerkungen zur Linguistik der Abkürzung
10
ZELINSKY-WIBBELT, Cornelia: Voraussetzungen zu einer Untersuchung der semantischen Belastung von submorphematischen Einheiten im Englischen
28
2.
SYNTAX
ABRAHAM, Werner: Zur Kontrollbeziehung im Deutschen
.........
4l
DAALDER, Saskia: Aspects of Grammatical Meaning : The Positioning of the Dutch Finite Verb ..............
60
KÖRNER, Karl-Hermann: Le Systeme des articles franvu depuis la Baviere .............................
70
LAVENCY, Marius: Synchronie et diachronie dans les constructions en "qui" du latin classigue .............
81
RAINER, Franz: L'ordre complement - sujet - verbe en frangais ................. . .........................
87
SIEBERT-OTT, Gesa: Kontrollprobleme in infiniten Komplementkonstruktionen im Deutschen .................
99
SROKA, Kazimierz A. : Def initeness and Truth Relation .................................................
3.
LEXIKOGRAPHIE
110
UND SEMANTIK
ROHDENBURG, Günter: More on the Semantics of Equative Comparatives Involving Measure Phrases in English
123
ZILLIG, Werner: Synkategorematizität
134
VIII 4.
TEXTLINGUISTIK
UND FACHSPRACHEN
DE KNOP, Sabine: Die Rolle des Adjektivkontextes beim Erkennen und bei der Rekonstruktion der metaphorischen Prädikation
147
DORFMÜLLER-KARPUSA, Käthi: Vermittlung aspektueller Informationen in Texten
155
ECKERT, Hartwig/TURNBULL, Ronald: The Language of Science Fiction
] 65
NORRICK, Neal R . : Recipes as Texts: Technical Language in the Kitchen
173
OKON, Luzian: Les designations de maladies dans le conte de Gianni Rodari: "C'Era Due Volte il Barone Lamberto". Un exemple d 1 application de la linguistique textuelle
183
RUDOLPH, Elisabeth: Argumentationsfiguren in der Wissenschaftssprache
191
5.
DISKURSANALYSE
BUBLITZ, Wolfram: Konforme Gesprächsrepliken englischen Alltagsdialogen
in 205
DETERING, Klaus: Zur linguistischen Typologie des Sprachspiels
2.19
FIEHLER, Reinhard: Definitionsmacht. Probleme in Instruktionen der betrieblichen Ausbildung
229
KÜHN, Peter: Der parlamentarische Zwischenruf mehrfachadressierte Sprachhandlung
239
VERZEICHNIS
DER
AUTOREN
UND
HERAUSGEBER
als
253
VORWORT
Das 17. Linguistische Kolloquium war vom 15. bis zum 17. September 1982 zu Gast in Brüssel. Die Sprachwissenschaftler der FUSL und der UFSAL organisierten in Zusammenarbeit mit dem Centre de Recherche en SSmiotioue und der Forschungsstelle für Mehrsprachigkeit (FFM) eine Tagung, die formal wie inhaltlich neue Akzente setzte. Zum einen wurde durch die Mitarbeit der Forschungsinstitute ein neuer Teilnehmerkreis angesprochen, zum anderen ergab der mehrsprachige Veranstaltungsrahmen ein so breites linguistisches Spektrum, dass Vertretern aller Schulen und Richtungen ein Diskussionsforum geboten werden konnte. Wiederum wurden die Referate in zwei Bänden zusamnengefasst: Band l
Sprache, Diskurs und Text: 22 Beiträge.
Band 2
Mehrsprachigkeit und Gesellschaft: 24 Beiträge.
Getreu einer nunmehr nicht mehr ganz jungen Tradition, haben die Autoren einen grossen Teil der Druckvorlagen selbst erstellt. Sie bleiben für Form und Inhalt selbst verantwortlich. Die Herausgeber haben sämtliche Beiträge, die als Referate während des Brüsseler Kolloquiums vorgetragen wurden, in diese beiden Bände aufgenommen. Die Veranstalter der Tagung und Herausgeber dieser Akten möchten ihre tiefe Zufriedenheit darüber kund tun, dass dieses gelungene Kolloquium einen Anstoss zur Zusammenarbeit der französischen (FUSL) und niederländischen (UFSAL) Universitätsfakultäten Brüssels über die Sprachgrenzen hinweg bildete. Unser Dank gilt deshalb allen Kollegen, die sich an der Organisation beteiligten, den verantwortlichen Rektoren, Dekanen und Leitern der beteiligten Forschungszentren für ihre aktive Unterstützung bei der Vorbereitung dieses internationalen T r e f f e n s ,
vor allem aber der Gastgeberin FUSL, dank deren Unterstützung die Durchführung der Tagung erst ermöglicht wurde. Ein Dankeschön allen Gästen, Vortragenden, Zuhörenden und Diskutierenden für ihre engagierte Teilnahme! Das 17. Linguistische Kolloquium hat gezeigt: Linguistik kann auch Spass machen!
Brüssel, am 6. Januar 1983
Ren§ Jongen Sabine De Knop Peter H. Neide Marie-Paule Quix
1.
MEHRSPRACHIGKEITS-
UND
INTERFERENZFORSCHUNG
INTERFERENZEN IM BEREICH DER ANREDE
Sylvia Basog"lu/Reiner Pogarell, Paderborn
1.
Problemstellung Im Rahmen unserer Beschäftigung mit Sprachminoritäten suchten wir nach Kriterien und Indikatoren, die uns der Antwort auf die Frage näherbringen können, bis zu welchem Grad Interferenzen in einer Minoritätssprache als normale Sprachkontakterscheinungen anzusehen sind und ab wann die Substanz einer Sprache berührt wird. Die Anredesysteme zweier Sprachen drücken unterschiedliche soziale Beziehungen ihrer Sprecher verhältnismäßig direkt aus. Interferenzen in diesem Bereich können deshalb nicht nur als einfache Besonderheiten innerhalb der Lexik oder der Grammatik aufgefaßt werden. Walker hat in seiner Untersuchung über "Sprachwandel in Nordfriesland" ( 1 9 7 7 ) dargestellt, wie die kleine friesische Sprachgemeinschaft unter dem Druck des Deutschen ihr eigenes Anredesystem innerhalb dreier Generationen dem der deutschen Hochsprache anglich. Walker setzt die Bedeutung dieser Anredeveränderungen sehr hoch an und führt aus : Wenn man sieht, wie konform die verschiedenen Sprachen in einem Raum werden, stellt sich die Frage, wann eine Sprache ihre Identität aufgibt ... (ebenda S. 107) Wir möchten im folgenden einige Anredeinterferenzen an den Beispielen Türkisch in der Bundesrepublik Deutschland und Hochdeutsch im französischen Elsaß vorstellen. Unsere Ergebnisse konnten wir noch nicht durch breit angelegte Untersuchungen absichern. Die türkischen Beispiele beruhen zum großen Teil auf teilnehmender Beob-
achtung und der Lektüre türkischer Prosa von in der Bundesrepublik lebenden Türken, die elsässischen Beispiele beruhen auf der Auswertung von ca. 6O Exemplaren verschiedener elsässischer Zeitungen und Zeitschriften, sowie einigen wichtigen Literaturwerken. 2. Elsaß Zunächst zu einigen Interferenzbeispielen in der hochdeutschen Sprache des Elsaß. Sie sind gegliedert in 1. Nominale Anredeformen, 2. Koseformen und 3. Pronominale Anredeformen. 2.1. Nominale Anredeformen Die französischen Personenbezeichnungen "Monsieur", "Madame" und "Mademoiselle" haben sich in der heutigen deutschen Sprache des Elsaß nahezu vollständig durchgesetzt und können fast schon als integriert angesehen werden. Sie erfüllen hier offensichtlich das Bedürfnis nach einem unverbindlichen Anredewort, das gleichzeitig die Funktion eines Kontaktwortes übernehmen kann. Eine besondere Konnotation bei der Verwendung dieser Ausdrücke konnte ich in Gegenwartstexten nicht feststellen. Hier zunächst einige wenige Beispiele: (1) Ein Telefongespräch: "Allo ... Eine Konsultation beim Proffessor Machin? ... Nicht vor einem Monat, Monsieur ..." (Humanite 7 Jours, 2 2 . 1 . 8 2 , S. 11) (2) Überschrift in einer Zeitung: "Für Sie Madame". (L'Alsace 2 2 . 1 . 8 2 , S. 3) (3) Anreden an Unbekannte; "Der Wald gehört mir, Monsieur". (Weckmann, Würfel, S. 225) Oder mit Namen: "Sind Sie der Monsieur Heribert Grahn?" (ebenda S. 27O) (4) Ein Beschwerdebrief: "Monsieur le Depute, in einem offenen Brief ... informierten wir Mme Questiaux ... über die Sorgen und Beschwerden der Rentner." (Humanite 7. Jours 2 2 . 1 . 8 2 , S. 14)
Die entsprechenden deutschen nominalen Anreden sind dagegen in aktuellen Texten kaum zu finden. In dem mir vorliegenden Material konnte ich lediglich ein Beispiel finden, und hier handelt es sich um die deutsche Übersetzung eines französisch geführten Interviews des für Zweisprachigkeit eintretenden Schickelekreises mit dem Bürgermeister von Straßburg. Dieses Interview beginnt so: "Herr Maire, wir möchten Sie in folgendem Geist interviewen..." (Land un Sprqch 2,3/1979 s.o.) In der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg galt eher die Verwendung von "Monsieur" als Ausnahme und als Kennzeichen einer besonderen Sympathie für die französische Sprache. In einem elsässischen Roman, der an dieser Stelle in der Zwischenkriegszeit spielt, wird eine von allen geachtete Persönlichkeit nacheinander von einem Sozialisten, einem Nationalen und einem Heimatrechtler angesprochen und zwar folgendermaßen: - Sozialist: "Salü, Kutzemich", - Nationaler: "Vive Mössiöh Kutz", - Heimatrechtler: " 'n Oowe, Herr Kutz" (Weckmann, Soranien, S. 7O) Der Sozialist verwendet eine im alemannischen Mundartbereich übliche Anrede (Gruß u. Nachname, wobei der Gruß allerdings französisch ist), der Nationale eine übertrieben französisch wirkende Begrüßung, die so im sonstigen französischen Sprachgebiet gar nicht denkbar ist, während der Heimatrechtler eine damals im Elsaß noch gebräuchliche Anredeform mit "Herr" wählte. In dieser Zeit war "Monsieur" das besondere, das politische Anredewort, während es heute umgekehrt sein dürfte. Innerhalb von hochdeutschen Texten beinhalten die mundartlichen Anredenomina eine ausgesprochen heimatverbundene Konnotation. In allen von mir gefundenen Beispielen geht es in irgendeiner Weise um das Bekenntnis zur elsässischen Eigenständigkeit und um eine Abgrenzung
gegen den französischen Zentralstaat bzw. gegen deutsches Anschlußdenken. (1) Aus einem A u f r u f : "Eitere, sejje doch nit so dumm . . . , Eitere es geht um d ' Z ü e k u n f t vun unsere Jugend." (Land un Sproch 1/81 S. 13) (2) Aus einer Rede Andre Weckmanns: "Das Geschrei und Geplapper erfüllen die Stadt, verschlucken mein Rufen: 'Wo besch, Büe, wo besch, Maidel". Niemand hört mich, niemand versteht mich, sie schauen mich ... an und sagen: Je n'comprends pas." (Land un Sproch 5,6/79 S. 6) (3) Elsässer, die von der Hitlerarmee zwangseingezogen wurden, unter sich: "Buewe 's isch Quatorze Juillet hit" Die außerhalb hochdeutscher Texte vorkommenden elsässischen Anredenomina müssen diese heimatverbundene Konnotation natürlich nicht beinhalten, sie gehören zum normalen Wortschatz der Mundart. In hochdeutschen Texten können sie jedoch als Stilmittel zur Verarbeitung spezieller elsässischer Sprachproblerne eingesetzt werden. 2 . 2 . Koseformen in der Anrede Anredeformen wie "mon cheri" usw. sind in hochdeutschen Texten des Elsaß recht häufig zu finden. Ihre Verwendung weicht von der liebevollen Bedeutung im Französischen ab, indem sie zur Demonstration einer überlegenen und/oder besonders betont französischen Haltung eingesetzt werden. (1) Eine Ehefrau drückt dies gegenüber ihrem stark zum Sprachwechsel neigenden Mann so aus: "Ich bin noch immer deine Marie und nicht irgendeine Cherie, merk dir das." (Weckmann, Würfel, S. 49) (2) Eine vornehme, kulturell überlegen wirkende französische Ehefrau spricht ihren el-
sässischen Ehemann fast ausschließlich folgendermaßen an: "Mon ami, gib doch diese Marotte a u f , das ist doch hinausgeschmissenes Geld" (ebenda S. 35) "Hör doch mit deiner elsässischen Blödelei a u f , mon eheri." (ebenda S. 2 3 4 ) "Mon pauvre cheri" (ebenda S. 181) In einer einzigen Situation ist es der Ehemann, der sich in einer überlegenen Position befindet, und die Anrede mit "cheri" entfällt: "Berteil, ... ich weiß nicht, ob du auf dem richtigen Weg bist, dennoch, Bertell, ich stehe zu dir ..." (ebenda, S. 25O) Nachdem die Ehefrau ihre Überlegenheit zurückgewonnen hat lautet die Anrede wieder: "Warum rebellierst du, mon cheri, das ist doch sinnlos. ... Du kannst doch nicht gegen den Staat ankämpfen, mon cheri, du allein." (ebenda S. 2 6 2 ) (3) Ein weiteres Beispiel, um die Verwendung von "eher" außerhalb des Familienbereichs deutlich zu machen: Zwei Bekannte treffen sich in einer Bar: "Monsieur Grahn, Sie hier?" "Monsieur Voisin, welch eine Surprise!" Im Verlauf des Gesprächs kommt Grahn zu einer überlegenen und verachtenden Position Voisin gegenüber: Die Anrede lautet nun: "Wer bist du, eher Voisin." Auch in allen weiteren von mir gefundenen Beispielen handelt es sich um ähnliche Situationen: ich habe nicht ein Beispiel entdecken können, in dem die französischen Koseformen nicht gleichzeitig eine Uberlegenheitssituation ausdrückten. Für die entsprechenden deutschen Bezeichnungen habe ich nur drei Belegstellen gefunden. Einmal wird "mein Lieber" entsprechend der elsässischen Verwendung der französischen Formen her-
ablassend verwendet, in den beiden anderen Beispielen - dort ohne Possessivum - entfällt der abwertende Charakter der Anrede. 2.3. Pronominale Anredeformen Das pronominale Anredesystem des Deutschen unterscheidet sich von dem des Französischen vor allem dadurch, daß für die drei Funktionen des "Vous" im Deutschen zwei Pronomen notwendig sind. Im Deutschen muß der Sprecher sich auch bei einer Anrede an mehrere Personen für ein Du- oder SieVerhältnis entscheiden. In den von mir untersuchten Dialogtexten zeigte es sich, daß dann, wenn eine für beide Gesprächsseiten eindeutige Beziehung besteht, nur sehr geringe Interferenzen auftreten. Wenn das Verhältnis nicht so eindeutig ist, wenn sich z. B. Siezpartner um besondere Freundlichkeit bemühen, bringt der Entscheidungszwang der deutschen Sprache zwischen zwei Pluralpronomen für den elsässischen Sprecher erhebliche Schwierigkeiten mit sich. Dies um so mehr, als ja auch die Mundart derartige Unterscheidungen nicht kennt. (1) Ein nicht eindeutiges Verhältnis liegt z. B. in einem Aufruf des Schickelekreises an potentielle Mitarbeiter vor. Dort heißt es zunächst: "Warum macht Ihr nit au mit? ... Der Kreis wird sein was ihr daraus macht." später aber: "Gratisexemplare stehen ihnen zur Verfügung und werden ihnen, auf Wunsch zugesandt ." (Land un Sprdch 6/77 S. 16) (2) Ein Minister spricht zu elsässischen Unternehmern und bemüht sich dabei um Verbindlichkeit. In der Presse wird seine Rede u. a. so wiedergegeben: "Ja, wir werden Euch verteidigen im Textil- und Bekleidungssektor" später dann: "Wir werden uns nicht übertölpen lassen, ... aber Sie
müssen mir helfen." (DN, 2 3 . 1 . 8 1 ) (3) Ein Interviewer befragt eine Musikgruppe. Ich gebe hier die meisten der im Interview gestellten Fragen wieder: "Warum tragt Ihr diesen Namen." "Wie und wann ist Ihre Gruppe entstanden." "Wer seid Ihr? Stellt Euch vor" "Eure Orginalität besteht anscheinend darin, daß Ihr Repertoire etwas anspruchsvoller ist als das Ihrer Kollegen im Elsaß." "Also habt Ihr eine grenzüberschreitende Dimension?" "Ihre erste Schallplatte habt Ihr herausgegeben . . . " "Habt Ihr Projekte? Wie kann man mit Euch Kontakt aufnehmen?" (Land un Sproch 4 / 7 9 ) Der Sprecher verwendet ohne erkennbare Systematik deutsche Höflichkeitspronomina, deutsche Vertrautheitspronomina und französische Nachbildungen. Offensichtlich war er unter dem Einfluß fehlender französischer und mundartlicher Differenzierungsmöglichkeiten nicht in der Lage, sich auf eine Anredeform eindeutig festzulegen. 3. Kontrastiver Vergleich der Anredeformen im Deutschen und Türkischen und Interferenzen zwischen ihnen 3.1. Kontrastiver Vergleich der Anredeformen Vergleicht man deutsche und türkische Dialogtexte oder Filme, so fällt schon bei oberflächlicher Betrachtung a u f , daß sich Türken weit häufiger direkt ansprechen. Die Ursache dafür ist sicher nicht nur darin zu suchen, daß im Deutschen Begriffe zur Anrede Unbekannter fehlen (es gibt keine allgemein akzeptablen Entsprechungen für Madame, Mademoiselle und Monsieur), sondern vor allem in der größeren Kontaktbereitschaft der Türken. Die verwandtschaftlichen und nachbarschaftlichen Bindungen sind eng, mit Unbekannten werden spontan
10
Gespräche geführt.
Ein erster Kontakt ist
im allge-
meinen mit einer nominalen Anrede verbunden. Es gilt als unhöflich, jemanden lediglich mit "Entschuldigen Sie" oder einer anderen Verlegenheitsfloskel anzusprechen. In der verbalen türkischen Kommunikation spielen Honorativa eine große Rolle. Sie sind nicht auf einige Standardbezeichnungen beschränkt, sondern verweisen oft unmittelbar auf den sozialen Status des Sprechers wie des Angesprochenen. Z. B. haben Beruf sbezeichnungen eine Bedeutung, die sie in der Bundesrepublik längst verloren haben. Der Bürgermeister wird mit reis bey "Herr Bürgermeister 1 angesprochen, Beamte mit memur bey/hanim 'Herr/Frau Beamter/Beamtin 1 , der Hausmeister mit kapici. Die schichtenspezifischen Unterschiede sind groß. Sie treten in der Kommunikation offen hervor. Die Distanz zwischen der überwiegend armen, bäuerlichen Bevölkerung Anatoliens und der europäisch beeinflußten Mittel- und Oberschicht der Großstädte ist kaum überbrückbar. Die nach Westeuropa emigrierten Türken sind in erster Linie landlose Bauern oder ursprüngliche Dorfbewohner aus den Slums der Metropolen. Für das Anredeverhalten ist daher die Herkunft der Sprecher und der Angesprochenen entscheidend. Auf dem Land ist gegenseitige pronominale Anrede mit sen ' d u 1 und nicht gegenseitige nominale Anrede üblich, in der Stadt auch nicht gegenseitige pronominale Anrede mit sen und siz (Sie; 2. PS. Pl. entspricht dem französischen yous). Die fehlende pronominale Unterscheidung der Dorfbewohner, die auch nach der Umsiedlung in eine Stadt und bei Auswanderung häufig beibehalten wird, ist Ausdruck größerer sozialer Nähe, vergleichbar der früheren dörflichen Kommunikationsstruktur in Deutschland. Distanz und Ehrerbietung gegenüber örtlichen Honoratioren
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und hochstehenden Familienmitgliedern wird durch ehrenvolle Bezeichnungen wie aga ' H e r r ' oder agabey 'Herr'
(verkürzt zu abi) durch Händeküsse und
andere Respektbezeugungen signalisiert. Prinzipiell wird in der ehrenden wie auch in der normalen Anrede der Vorname verwendet. Er wird einem Honorativum vorangestellt. Die ausschließliche Verwendung des Vornamens statt des Familiennamens gilt für die gesamte Türkei und für alle Kommunikationsbereiche. In der Stadt ist
das wichtigste Anredekriterium neben dem
Grad der Vertrautheit der soziale Status, auf dem Land das Alter. Ein Wort mit ambivalenter Bedeutung ist efendi " H e r r " . Die alte osmanische Bezeichnung wird als honorative Anrede für ältere wohlhabende Männer verwendet, andererseits aber auch herablassend für ältere Bedienstete und von Städtern gegenüber älteren Dorfbewohnern. Bey ' H e r r 1 dagegen kommt dem Städter, dem jüngeren Großgrundbesitzer, dem Ausgebildeten zu. In der Zusammensetzung beyefendi 'gnädiger Herr" und hanimefendi "gnädige Frau' ist
die
Bedeutungsverschlechterung von efendi nicht zum Tragen gekommen. Efendim 'mein/e Herr/Dame 1 entspricht Madame? oder Monsieur?, im Deutschen ' b i t t e ? ' , also der Bitte um Wiederholung einer Aussage, aber auch in der Anrede der kollektiven Begrüßung mehrerer Personen: efendim 'meine Damen und Herren 1 , Messieurs et Dames. Aufschlußreich für die zwischenmenschlichen Beziehungen unter Türken ist die überaus häufige Verwendung von Verwandtschaftsbezeichnungen für Nichtverwandte, auch völlig Fremde. Einige Bezeichnungen wie abi, kardes "Bruder, Schwester', klzim 'mein/e Tochter/Mädchen' oglum "mein Sohn' sind allgemein verbreitet, andere wie amca 'Bruder des Vaters 1 , teyze "Schwester der M u t t e r " , yenge "Frau des Bruders oder Onkels" anne " M u t t e r 1 , baba "Vater" sind häufiger in den unteren Schichten a n z u t r e f f e n , wie aus eigener
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Erfahrung ebenso wie aus schriftlichen Quellen zu belegen ist. Das Unterscheidungskriterium ist das Alter. Zahlreiche Anredeformen führen obligatorisch oder fakultativ den Possessivsuffix im (bzw. entsprechend der Vokalharmonie Im/ um, um) 'mein 1 mit sich. Gebrauchen Männer gegenüber nichtverwandten FrauenVerwandtschaftsbezeichnungen, so signalisieren sie damit gleichzeitig Vertrautheit und Respekt: ein Mann, der eine Frau bacl 'Schwester 1 oder abla 'ältere Schwester1 nennt, kann ihr schwer zu nahe treten. Als Ehefrau eines Türken wurde ich von türk. Arbeitern und Studenten selbst als "Schwester" abla oder "Schwägerin" (yenge "angeheiratete Verwandte") bezeichnet. Diese Worte wurden in der deutschen Anrede jedoch nicht gebraucht, sondern nur in Aussagen mit beteuerndem Charakter. ("Dein Mann ist mein abi, also bist du meine Schwester".) Man kann hier vielleicht von einer kulturellen Interferenz sprechen. Die deutschen Anredegewohnheiten verhindern also eine der türk. Kultur entsprechende begriffliche Orientierung. 3 . 2 . Hinweise auf Interferenzen im Bereich der Anredeformen a) Familie Y . , E. Facharbeiter, N. angelernte Arbeiterin, 2 Söhne 15 und 10 Jahre, Tochter 13 Jahre Sie stammen aus Istanbul, leben seit 11 Jahren in der Bundesrepublik. Als Nachbarn haben wir regelmäßigen freundschaftlichen Kontakt. Die Anrede zwischen uns Frauen ist kein Problem. Wir duzten uns gleich und nannten uns beim Vornamen. Die Tochter nennt mich "Tante Sylvia" und " d u 1 . Die Anrede Erwachsener nur mit dem Vornamen, wie sie in der Bundesrepublik für Kinder teilweise üblich ist, ist in der Türkei undenkbar. Beträchtliche Schwierigkeiten hatten E. und der ältere Sohn. Sie siezten mich und nannten mich beim Familiennamen oder vermieden die An-
13 rede. Nach ca. einem Jahr setzte sich bei E. die deutsche Gewohnheit durch; du und Vorname. Bemerkenswert ist die Beobachtung und Selbstaussage, daß die Nachbarkinder mit Vorliebe ihre Eltern mit 'Mutti 1 und 'Papi' ansprechen, wenn sie ihre Zuneigung zum Ausdruck bringen, obwohl die türkischen Koseformen annecig"im 'mein Mütterlein' und babaclglm 'mein Väterchen' sehr gebräuchlich sind. Hier zeigt sich eine deutliche Interferenz vom Deutschen, die sicher auf den Einfluß deutscher Schulkameraden zurückzuführen ist. b) Familie E . , F. und H. Lehrer an deutschen Grundbzw. Hauptschulen in den türkischen Vorbereitungsklassen, zwei Töchter von 13 und 4 Jahren Hier findet die umgekehrte Interferenz statt. Die Lehrer sprechen mich auch im Deutschen mit Sylvia hanlm 'Sylvia Frau' an, die kleine Tochter mit Sylvia hanim teyze 'Sylvia Frau Schwester der Mutter 1 auf Anweisung der Eltern, obwohl sie kaum türkisch spricht, die ältere Tochter jedoch untürkisch mit 'Frau Basoglu' im Deutschen wie im Türkischen, also mit dem Familiennamen. In der Familie E. wird das Anredeverhalten der Kinder gesteuert oder zumindest der Versuch gemacht. Die jüngere Tochter nennt die ältere abla 'ältere Schwester', verwendet also die Prestigebezeichnung, die von den Kindern der Familie Y. nicht benutzt wird. Beide Mädchen gebrauchen gegenüber ihren Eltern ausschließlich die türkischen Bezeichnungen anne und baba bzw. die affektiven Diminutivformen, obwohl die vierjährige Tochter es ablehnt, türkisch zu sprechen und der dreizehnjährigen als Schülerin einer deutschen Realschule das Deutsche mindestens ebenso geläufig ist wie ihre Muttersprache. c) Eine andere Form der Interferenz sehe ich in der Anrede ' M u t t i ' , die meine Nachbarin gegenüber einer älteren deutschen Kollegin verwendet. Im Türkischen
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würde sie eher teyze 'Schwester der Mutter 1 als anne 'Mutter' sagen (nicht aber hala 'Schwester des Vaters'.) Diese im Deutschen durchaus nicht übliche Anrede mit ' M u t t i 1 , die von anderen türkischen Arbeiterinnen nicht übernommen wurde, erfüllt für N. offensichtlich ein elementares Bedürfnis nach emotionaler Nähe in einer fremden, vielleicht zunächst feindlichen Umgebung. 3.3.
Interferenzen bei der Bezeichnung Dritter im Gespräch Die Bezeichnungen für dritte Personen in der
direkten Kommunikation unterscheiden sich hinsichtlich ihrer grammatischen Form nicht grundsätzlich von den in der direkten Rede verwandten, jedenfalls nicht die Nominalformen. Die Beispiele entnehme ich dem Text eines neunjährigen türkischen Mädchens aus der zweisprachigen Aufsatzsammlung 'Deutsches Heim Glück allein', Alaman Ocagl. (Die Aufsätze wurden von einem Deutschen aus dem Türkischen übersetzt.) (1)
Sonra stat'ta tante-m-e ug"rar-Iz. Danach Stadt-in Tante-meine-zu fahren-
wir. Danach fahren wir in die Stadt zu meiner Tante. Im Türkischen wird zwischen der Schwester der i4utter und des Vaters differenziert. Es gibt keinen Begriff für beide Verwandte. Hier wird dem deutschen Wort Tante der türkische Possessiv- und Dativsuffix angefügt. (2)
"Alaman-cl" her halde auslender demek. "Deutsch-ler" wohl Ausländer heißen. "Alamanci" heißt wohl Ausländer.
Die Selbstbezeichnung
'auslender 1 hat den türkischen
Begriff yabancl an allen Belegstellen ersetzt, besonders in den Zusammensetzungen 'Ausländer raus' und 'Scheiß Ausländer'/pis auslender.
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(3)
Kristina tante