Medizinische Versorgung zwischen Fortschritt und Zeitdruck: Auswirkungen gesellschaftlicher Beschleunigungsprozesse auf das Gesundheitswesen [1 ed.] 9783666403965, 9783525403969


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German Pages [365] Year 2020

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Medizinische Versorgung zwischen Fortschritt und Zeitdruck: Auswirkungen gesellschaftlicher Beschleunigungsprozesse auf das Gesundheitswesen [1 ed.]
 9783666403965, 9783525403969

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Martin Scherer / Josef Berghold / Helmwart Hierdeis (Hg.)

Medizinische Versorgung zwischen Fortschritt und Zeitdruck Auswirkungen gesellschaftlicher Beschleunigungsprozesse auf das Gesundheitswesen

Martin Scherer / Josef Berghold / Helmwart Hierdeis (Hg.)

Medizinische Versorgung zwischen Fortschritt und Zeitdruck Auswirkungen gesellschaftlicher Beschleunigungsprozesse auf das Gesundheitswesen

Mit einer Abbildung und einer Tabelle

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Franziska Scherer: Arzt im Strudel Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-40396-5

Inhalt

Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1 Naturwissenschaftliche und sozialwissenschaftliche ­Grundlagen Hans-Hermann Dubben

Anmerkungen zum Begriff »Zeit« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Josef Berghold

Beschleunigungsprozesse: Historische und sozialwissenschaftliche Streiflichter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Winfried Wolf

Tempowahn. Zur Kultur der ständig größeren Geschwindigkeiten in der menschlichen Mobilität und deren Auswirkungen auf Gesellschaft und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 2 Forschung unter Zeitdruck Hans-Hermann Dubben

Beschleunigte medizinische Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Thomas Zimmermann

#FastScience. Beschleunigung und Überproduktion im ­Wissenschaftssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Hans-Hermann Dubben

Indizien für schlechte Forschung und ein Plädoyer . . . . . . . . . . 169

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Inhalt

3 Probleme in der medizinischen Versorgung Martin Scherer

Medizinische Versorgung unter Zeitdruck . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Antje Buitkamp

Beschleunigungsdruck in der medizinischen Versorgung und seine Auswirkungen auf Endometriose-Patientinnen . . . . 209 Christa Maria Bauermeister

Geld, Zeit und Sinn. Beobachtungen und Erfahrungen im Umgang mit der Verfügbarkeit und dem Sinn von Zeit am Beispiel »Krankenhaus« in Tansania und in ­Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 4 Die Sicht des Gesundheitssystems Martin Scherer

Experteninterviews mit Repräsentanten des Gesundheitssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 5 Entschleunigung Till Bastian

Wie sich der medizinisch tätige Mensch gegen den wachsenden Mobilitätsstress im Gesundheitswesen wehren kann … . . . . . . . 347 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361

Vorwort der Herausgeber »Die Zeit ist ein Machtinstrument.« (Peter Høeg, 2019, S. 208)

In der Einführung zu ihrem Buch »Die ärztliche Konsultation« geben Bruno Kissling und Peter Ryser eine Einschätzung des gegenwärtigen Schweizer Gesundheitssystems ab, die unmittelbar auch den Kern der Problematik berührt, die wir in diesem Band darstellen und diskutieren: »Die Medizin und das Gesundheitswesen durchlaufen seit einiger Zeit eine kritische Phase. Diese zeigt sich im Spannungsfeld zwischen mehr und mehr hoch technologischen medizinischen Möglichkeiten, die sich zunehmend im Grenzbereich abspielen, und einer Kostenlast, die der Bevölkerung höchste Sorgen bereitet. Parallel zur technischen Entwicklung verkümmert die Kommunikation mit den Patientinnen und Patienten, die tarifarisch ungenügend honoriert wird« (Kissling u. Ryser, 2019, S. 14). Die Autoren verweisen auf die erfolgreichen technischen Innovationen der Medizin, markieren auch deren Grenzen bei chronischen Erkrankungen und »Polymorbidität« (S. 14) und kommen nach einem skeptischen Blick auf die bei Laien hohe Erwartungen weckende und sie zugleich verunsichernde Wirkung der frei verfügbaren Gesundheitsinformationen im Internet zu einem kritischen Schluss: »Unter allen diesen Veränderungen haben sich unsere Ansprüche an die Medizin sowie unsere Bedürfnisse und Erwartungen an die ärztliche Tätigkeit maßgeblich gewandelt und gesteigert. Die Summe dieser medizinischen und gesellschaftlichen Veränderungen führt die medizinischen Aktivitäten zusätzlich auch mehr und mehr in den Grenznutzenbereich. Neben einem möglichen Nutzen wächst das Risiko für potenziellen Schaden aus unnötigen Abklärungen, Überdiagnosen, unnötigen Behandlungen  – und beim Arzt die Angst, etwas zu verpassen. Eine Angst, die weitere Maßnahmen zur Beseitigung der immer verbleibenden Ungewissheit erforderlich macht und sich leider auch kommerziell bewirtschaften lässt. Damit schießt die Medizin an ihrem ursprünglichen Ziel vorbei und

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Vorwort der Herausgeber

kann sich paradoxerweise zur Gefahr für den Menschen entwickeln. Die Kosten des Gesundheitswesens ufern aus und gelangen in den Bereich der Verschwendung von finanziellen und personellen Ressourcen. ›The medical establishment has become a major threat to health‹ (Illich, 1975)« (Kissling u. Ryser, 2019, S. 14). Kissling und Ryser belassen es bei dieser Feststellung. Sie wollen in diesem Zusammenhang nur verständlich machen, warum sie in der ärztlichen Praxis versuchen, »systemisch-lösungsorientiert«, wie es im Untertitel heißt, ein Gegengewicht zu schaffen. Sie kritisieren zwar, dass das bedächtige, sorgfältige und damit zeitraubende Eingehen auf Patientinnen und Patienten nicht angemessen honoriert wird, und sie wissen, »dass Ärzte und Ärztinnen heute auch in gesundheitlichen Extremsituationen das Gespräch mit dem Patienten, der Patientin über diese grundsätzlichen Themen kaum aufnehmen« und »sich in medizinisch-technischen Hyperaktivismus (flüchten), der in der Regel nicht zu den erwarteten Resultaten führt, jedoch zu Folgemaßnahmen, mehr Unsicherheit und Angst letztlich zu einer schlechteren Qualität und zu exorbitanten Kosten« (Kissling u. Ryser, 2019, S. 16). Aber was die einen zur Hektik treibt und andere – wie die Verfasser auch – dazu drängt, dem Gesundheitssystem Nischen der Besinnung auf die Bedürfnisse der Kranken abzutrotzen, bleibt unausgesprochen. Wir wollen etwas zur Kenntnis dieser Hintergründe beitragen – letztendlich mit dem nämlichen Ziel, das Nachdenken darüber zu befördern, wie die medizinische Versorgung sowohl in der Klinik als auch in der hausärztlichen wie in der fachärztlichen Praxis trotz des Zeitdrucks, von dem auch sie erfasst wird, eine neue Beziehungsqualität gewinnen kann. Wir sehen es als ein positives Zeichen an, dass die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) dabei ist, das Recht des Patienten auf Beziehung in ihre Zukunftsstrategie aufzunehmen. »Beschleunigung« und »Zeitdruck« sind zentrale Themen der heutigen Gesellschaft. Den unbestreitbaren Vorteilen der technisch ermöglichten Beschleunigung hinsichtlich Ortswechsel, Informationsaustausch, Dienstleistungen und Versorgung mit Konsumgütern stehen inzwischen bekanntermaßen zahlreiche negative Folgen entgegen wie der rapide Schwund natürlicher Ressourcen, der mensch-

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liche Anteil an der auf dramatische Weise sich zuspitzenden Klimakrise und die immer deutlicher sichtbar werdende Kluft zwischen den Profiteuren und den Opfern der Beschleunigungsprozesse. Es gibt heute berechtigte Zweifel daran, dass der Beschleunigungszug noch aufzuhalten ist – trotz aller offenkundigen Belastungen und Dysfunktionalitäten, die er mit sich bringt. Vor einigen Jahren bereits hat der Soziologe Hartmut Rosa die gegenseitige Verschränkung von Technologie, sozialem Wandel und Lebenstempo und den daraus entstandenen »Akzelerationszirkel« umfassend beschrieben und analysiert (Rosa, 2005, S. 243 ff.; siehe den Beitrag »Beschleunigungsprozesse: Historische und sozialwissenschaftliche Streiflichter« von Berghold in diesem Band), der alle Lebensbereiche – organisierte wie private – mitgerissen hat und damit auch die Medizin als eine der großen und für den Erhalt der Gesellschaft unentbehrlichen Institutionen. In der medizinischen Versorgung werden besonders viele pro­ blematische Faktoren der gesellschaftlichen Beschleunigungspro­ zesse erkennbar. Dazu gehören: Ȥ die zunehmende, an kurzfristiger Rendite interessierte Ökonomisierung des Gesundheitssektors, wie sie sich in einer Bürokratie äußert, für die Personalknappheit Gewinn versprechend ist und die sogar Einfluss auf die Therapie zu nehmen sucht, um Kosten zu reduzieren; Ȥ der durch Wettbewerb ausgelöste Druck auf Forschung und medizintechnische Entwicklung, in kürzester Zeit Neues und therapeutisch wie ökonomisch Verwertbares zu liefern; Ȥ finanzielle Fehlanreize, die einerseits zu Überversorgung, andererseits zur finanziellen Unterbewertung der ärztlichen Beziehungs- und Beratungsarbeit führen – ein Problem, das sich mit dem demografischen Wandel und den damit einhergehenden Erscheinungen wie Multimorbidität, chronischen Erkrankungen und Polypharmazie stetig verschärft; Ȥ die durch Fehlinformationen (auch von medizinischer Seite) ausgelösten oder durch die Erwartungen der Arbeitswelt bedingten Patientenansprüche an unrealistisch schnelle Behandlungserfolge, die jeder biologischen und psychischen »Eigenzeitlichkeit« von Genesung, Krankheitsverläufen und körperlichem Verfall zuwiderlaufen;

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Ȥ die digitale Sammlung, Konzentration und Übermittlung von Patientendaten ohne ausreichende Sicherheit gegen Diebstahl, unbefugte Weitergabe und Verwertung; Ȥ die im Zuge der modernen Beschleunigung des Lebenstempos vorangetriebene Aktivitätsverdichtung mit dem – nach den Worten von Jonas Niemann – dominanten Anspruch, »die eigenen Bedürfnisse komplett zurückzustellen, […] um möglichst gut eine Aufgabe zu erfüllen« (S. 263 in diesem Band), was nicht unwesentlich zur Zunahme an Erschöpfungszuständen in den medizinischen und pflegenden Berufen beiträgt, die allenfalls bei den Ärzten durch ein überdurchschnittliches Einkommen zum Teil kompensiert werden; Ȥ der besonders hohe Grad an Spezialisierung und komplexer Arbeitsteilung in der medizinischen Versorgung, der die schon allgemein wirksamen Faktoren des modernen Zeit- und Beschleunigungsdrucks verstärkt, die sich aus Unverträglichkeiten in der zeitlichen Abstimmung zwischen unterschiedlich schnellen Teilsystemen (in Form von Leer- und Wartezeiten) ergeben – wie dies zum Beispiel in der Überbeanspruchung von Notfallambulanzen zum Ausdruck kommt. Neben dem breiten Spektrum an belastenden, verunsichernden oder auch bedrohlichen Auswirkungen der großen Beschleunigungstrends sind aber auch wichtige Verbesserungen und Erleichterungen anzuerkennen, die durch sie möglich wurden und werden – sei es im Sinne technischer Errungenschaften, die manche medizinischen Behandlungen und Eingriffe kürzer, ungefährlicher und effizienter machen konnten und damit zu einer verbesserten Gesundheit und Lebenserwartung beitragen; sei es aber auch im Sinne der von mehreren Interviewpartnern und -partnerinnen in diesem Band vertretenen Hoffnung, dass mit Hilfe einer konsequenten und durchdachten Digitalisierung Zeit gewonnen werden kann, die den Patientinnen und Patienten in Form ausführlicherer Beratung und Zuwendung zugute kommt. Unser Buch geht also von der These aus, dass die gesellschaftlichen Beschleunigungsprozesse, wie sie durch die rasanten Entwicklungen in Wissenschaft und Technik angestoßen und ange­trieben wer-

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den, nicht ohne weitreichende Folgen für das Ge­sund­heitssystem im Allgemeinen und für die medizinische Versorgung im Besonderen bleiben. Um diese Zusammenhänge sichtbar zu machen, haben wir an den Anfang Beiträge gestellt, die das, was in der Medizin an Beschleunigung geschieht und als Zeitdruck erlebt wird, mit naturwissenschaftlichen, historischen und sozialwissenschaftlichen Informationen und Reflexionen zu den Phänomenen »Zeit« und »Schnelligkeit« rahmen. Dem folgen Einblicke in Fehlentwicklungen in der medizinischen Forschung (Zunahme an Fehlern, Überproduktion), die durch den wachsenden Zeitdruck bedingt sind. Im Zentrum steht die Darstellung und Analyse von Problemen in der medizinischen Versorgung, insbesondere in der ArztPatient-Beziehung, zunächst in Form eines resümierenden Beitrags zur Forschungssituation, sodann durch den Blick auf zwei spezielle Erfahrungsbereiche (Endometriose; Vergleich der Zeitproblematik in deutschen und tansanischen Gesundheitseinrichtungen) und schließlich durch die Einholung von Expertenwissen bei Spitzenfunktionären des deutschen Gesundheitswesens. Der Band schließt mit Anregungen zur persönlichen Entschleunigung für Ärzte und Ärztinnen – aber nicht nur für sie. Zu den Beiträgen im Einzelnen: Hans-Hermann Dubben nähert sich dem Phänomen »Zeit« über beobachtbare Veränderungen (Tageszeiten, Jahreszeiten) und deren physikalische Ursachen sowie immer exaktere Messungen. Nur geben auch sie keine Antwort auf die Frage, was Zeit »eigentlich« ist. Über Aristoteles, Augustinus von Hippo, Newton, Leibniz, Mach und Einstein geht er Glaubenssätzen, Vermutungen und Eingeständnissen des Nichtwissens nach, bis er über den »zweiten Hauptsatz der Thermodynamik« auf die Unumkehrbarkeit von Prozessen stößt und bei Stephen Hawking auf die Prägung unseres Zeitbewusstseins durch Entropie (Zunahme an Unordnung) und kosmologische Vorgänge (Ausdehnung des Universums). Gestützt auf Hartmut Rosas soziologische Zeittheorie sieht Dubben den Homo sapiens als Opfer der von ihm selbst ausgelösten Beschleunigungsprozesse. Sein Resümee: »Zeit wird nicht schneller und auch nicht weniger. Sie wird lediglich mit immer mehr Aktionen befrachtet.«

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Dem vorangegangenen Versuch einer naturwissenschaftlichen Zeitbestimmung stellt Josef Berghold eine historisch-sozialwissenschaftliche an die Seite. Er geht der Beschleunigung des Verkehrs und der Lebensverhältnisse aufgrund technischer Entwicklungsschübe nach, unter anderem auch der faschismusnahen Bewegung des Futurismus. Beide werden schon sehr früh von kritischen Stimmen begleitet. Geradezu »gespenstisch« mutet den Autor an, wie wenig Beachtung der leicht erkennbare Zusammenhang findet, dass technische Beschleunigung nicht zu mehr Hektik, sondern im Gegenteil zu mehr Muße im Alltagsleben führen müsste. Mit Hartmut Rosa verfolgt er die miteinander verflochtenen Dimensionen gesellschaftlicher Beschleunigung – Technologie, sozialer Wandel und Lebenstempo – in Geschichte und Gegenwart, einschließlich ihrer negativen Auswirkungen und Dysfunktionalitäten für Individuum und Gesellschaft. Seine besondere Aufmerksamkeit gilt dabei dem durch den kapitalistischen Konkurrenzdruck den Menschen aufgezwungenen Zeittakt und den damit einhergehenden funktionalen Differenzierungsprozessen wie Arbeitsteilung und Spezialisierung. Sie werden über die Sozialisierung verinnerlicht und finden schließlich in maximaler Flexibilität als Forderung und individuelles Wunschbild ihren Ausdruck. Hinter der damit einhergehenden Beschleunigung des Lebenstempos exploriert Berghold Motive einer Flucht vor unserer Sterblichkeit und setzt ihr – wiederum mit Hartmut Rosa – Kategorien der Entschleunigung und Möglichkeiten ihrer Umsetzung entgegen. Mit seinem Beitrag über den »Tempowahn« illustriert Winfried Wolf einen Aspekt des Beschleunigungsdiskurses, der als Bewusstseinsphänomen (alles ist technisch machbar; alles muss schneller gehen; es gibt ein Recht auf Schnelligkeit) weit über den Straßenverkehr hinausreicht. Er nimmt die Proteste gegen die Internationale Automobilausstellung 2019 zum Anlass, die sogenannten »Transportrevolutionen« in der Geschichte des Verkehrs mit ihren Opfern an materiellen Ressourcen, Landschaft/Natur, Gesundheit und Menschenleben in Erinnerung zu rufen, und verweist auf die Ignoranz und den Zynismus, womit die Automobilindustrie und gelegentlich auch die Politik die Folgen der motorisierten Beschleunigung bestreiten. Hinter der auf Höchstgeschwindigkeiten

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zielenden Aufrüstung von Pkw erkennt er eine Verführung zur Aggressivität im Verkehr – besonders bei Männern. Sie sind verantwortlich für die meisten durch aggressives Fahren verursachten Unfälle. Bei Autorennen wird eine weitere Dimension des Temporauschs sichtbar: Risiko und Tod werden ideologisch-religiös überhöht. Nicht zufällig identifizieren sich autoritäre politische Systeme gern mit einer Aura von Todesbereitschaft. Die Reproduzierbarkeit von Ergebnissen gilt nach Hans-Hermann Dubben als oberstes Qualitätskriterium für die Forschung. Um dieses Ziel zu erreichen, stehen ihr mehrere Möglichkeiten zur Verfügung (etwa Wiederholung von Studien oder Signifikanztests), deren Vor- und Nachteile der Autor diskutiert. Zu den methodenimmanenten Problemen treten mögliche Verwerfungen in der Publikation (»Publication bias«). Unter Zeitdruck (»Hamsterrad«) mehren sich die Fehler auf beiden Ebenen. Zu den Fehlentwicklungen gehört auch die Produktion von »Forschungsmüll«. Davon ist die Medizin in großem Umfang betroffen, was ethische wie ökonomische Fragen aufwirft – vom offensichtlichen Betrug ganz zu schweigen. In seinem »Plädoyer für eine bedächtige Forschung« empfiehlt Dubben, schon bei der Planung von Untersuchungen deren mögliche Fehleranfälligkeit mit zu bedenken. Dazu verweist er auf den Wert von systematischen Reviews und Metaanalysen von Primärstudien, die über längere Zeiträume hinweg durchgeführt wurden. Ausgehend von der sofortigen Verfügbarkeit einer schier grenzenlosen Fülle von Informationen als allgemeines Kennzeichen der »neuen Medien« schlägt Thomas Zimmermann einen Bogen zur Datenerhebung und Praxisverwaltung in der Medizin und weiter zur weltweiten Vernetzung von Daten und Personen in der (medizinischen) Wissenschaft. Die Datenmenge erfordert ein Wissensmanagement zur Digitalisierung von Beständen und zur zielgerichteten Systematisierung/Synthetisierung von Informationen durch Algorithmen. Die Entwicklung in den empirischen Disziplinen und mit ihnen in der Medizin ist charakterisiert durch ein hohes Tempo der Wissensproduktion, deren Ergebnisse kaum mehr überschaubar, geschweige denn überprüfbar sind (Problem von Fälschungen, Selektion, Verschweigen von Ergebnissen). Eine Gefahr sieht der Autor auch in der – vielfach durch die Politik forcierten – Ökonomisierung der Forschung, weil die Hoff-

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nung auf rasche Verwertbarkeit der Ergebnisse einen Publikationsdruck erzeugt, der keine seriöse Sicherung der Daten mehr zulässt. Mit der Forderung nach Forschungsergebnissen in der Medizin, die »mit großer Wahrscheinlichkeit wahr sein« sollen, eröffnet Hans-Hermann Dubben die Diskussion von Problemen, die eine beschleunigte medizinische Forschung mit sich bringt. Er sieht sie einerseits beim Publikationsdruck, bei fragwürdigen Peer-­Reviews, bei der Bewertung von Publikationsorganen (Impact-Faktor), bei der Überproduktion von Wissenschaft und bei der Tendenz, Publikationszahlen und die Verwendung des Impact-Faktors als Maßstäbe für Wissenschaftlichkeit heranzuziehen. Andererseits bestehen für ihn systemimmanente Schwierigkeiten: Zu ihnen zählt er das Complience-Problem bei randomisierten Studien, die Interpretationsproblematik bei Kohortenstudien, die Aussagekraft von Fall-Kohorten- und Diagnostikstudien und die Verallgemeinerbarkeit von ökologischen Studien. Mit »Surrogatendpunkten« lasse sich zwar schneller forschen und publizieren, entsprechende Untersuchungen führten aber unter Umständen zur falschen Einschätzung der Wirksamkeit. Hinsichtlich des ökonomischen Drucks auf die Medizin vertritt er den Standpunkt, dass in einer humanen Medizin Wirtschaftlichkeit nicht den »schwarzen Zahlen« zu gelten habe, sondern der optimalen Nutzung der Ressourcen. Martin Scherer stellt einleitend fest, dass auch die ärztliche Versorgung einerseits von den gesellschaftlichen Beschleunigungsprozessen, ausgelöst zum Beispiel durch Digitalisierung und Ökonomisierung, erfasst wird, andererseits die Medizin durch die Fortschritte in medizinischer/pharmazeutischer Wissenschaft und Technologie den Zeitdruck selbst mit erzeugt, dem sie sich ausgesetzt sieht. Wie er mit Blick auf zahlreiche Studien feststellt, ist davon in hohem Maße die Arzt-Patienten-Beziehung (Konsultationsdauer, Qualität von Diagnose, Beratung und Therapie) betroffen. Zu den »hausgemachten« Beschleunigungsfaktoren im Gesundheitssystem zählt er das Honorierungssystem und die Fehlverteilung von Ärzten (Stadt-Land-Gefälle). Das Problem verschärft sich noch durch den demografischen Wandel (Multimorbidität). Scherer plädiert dafür, die Rahmenbedingungen so zu verändern, dass die Ärzte auch ohne ökonomische Einbußen mehr Zeit für ihre Patienten haben.

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Endometriosepatientinnen sind, wie Antje Buitkamp untersucht hat, vom Zeitdruck in der ärztlichen Versorgung in besonderer Weise betroffen. Einerseits leiden sie schon aufgrund der Eigenart ihrer Erkrankung häufig unter chronischen Schmerzen, Ängsten, Depressionen und dem Gefühl, sozial ausgeschlossen zu sein, andererseits erfahren sie von medizinischer Seite aus nicht die Zuwendung und Betreuung, die sie als hilfreich empfinden. In Interviews mit einer Patientin, zwei Gynäkologinnen und einer Psychologin erfährt die Autorin, wie sehr der Zeittakt in der Klinik sorgfältige Beratung, vollständige Therapien sowie empathische Begleitung und Lebensplanung verhindert und damit Kränkungen auslöst, während Ärztinnen, die ihm zu widerstehen versuchen, ihre psychische Gesundheit gefährden. Günstigere Voraussetzungen für »Zeitoasen« bieten gelegentlich Rehabilitationseinrichtungen. Wenn Betroffene im Internet Hilfe suchen, erhöht sich die Gefahr von Fehlinformationen. Vor dem Hintergrund zweier sozialwissenschaftlicher schulischer Oberstufenprojekte – Interviews mit Mitbürgerinnen und Mitbürgern über ihre unterschiedlichen Lebensbereiche und Arbeiten zur Entwicklungszusammenarbeit mit dem Schwerpunkt des Aufbaus einer Krankenstation in Tansania – stellt Christa Maria Bauermeister westliche (deutsche) und afrikanische (tansanische) Lebensweisen einander gegenüber. Ihre besondere Aufmerksamkeit gilt dabei dem Umgang mit Menschen, die auf medizinische und pflegerische Hilfe angewiesen sind. Aus Interviews mit Ärzten, Krankenschwestern, Pflegepersonal und Hebammen privatisierter Kliniken in Deutschland entstehen Bilder von Selbstausbeutung, Agieren in engen »Zeitkorridoren«, Isolation und Entfremdung im Beruf – mit negativen Folgen sowohl für die Kranken als auch für die persönliche Lebensführung. Dem gegenüber stehen die Eindrücke der Schülerinnen und Schüler bei Besuchen in tansanischen Health Centers, in denen die Kranken ohne rigiden Zeittakt behandelt und gepflegt werden, immer in Anwesenheit von Angehörigen. Der Kontrast arbeitet nach der Rückkehr in den jungen Menschen weiter als Frage nach der Rolle der Zeit in ihrem eigenen Leben. In Telefoninterviews holt Martin Scherer die Überlegungen von sieben Vertreterinnen und Vertretern des Gesundheitssystems sowie

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eines Arztes und Romanautors zur Frage »Zeitdruck und gesundheitliche Versorgung« ein: Ȥ Jonas Niemann, Hausarzt und Autor des Buchs »Patient Krankenhaus – Dr. Faber hat Dienst«, wiederholt die dort beschriebenen Zustände in der Klinik. Als Hauptursachen für den Zeitdruck sieht er an: die Abrechnung nach Fallpauschalen, die ungleiche Verteilung von Ärzten, den Personalmangel im Pflegebereich, den »Dokumentationswahnsinn« und nicht zuletzt die von den Patienten ausgehenden Erwartungen nach möglichst schneller und erfolgreicher Behandlung. Der im ganzen System spürbare wirtschaftliche Druck verdränge das Patientenwohl. Ȥ Für Katrin Balzer wird der Zeitdruck wegen des akuten Personalmangels vor allem im Bereich der Pflege sichtbar. Er zwingt im Klinikalltag zur ständigen Neupriorisierung der Aufgaben. Betroffen von den begrenzten Ressourcen sind in erster Linie ältere Krankenhauspatienten. Reformansätze erkennt sie in der wissenschaftlichen Professionalisierung, sie sieht diese aber erst in Jahren wirksam werden. Für die nähere Zukunft erwartet sie eine vermehrte Unterstützung durch wissenschaftliche Expertisen und ein verstärktes Engagement der pflegerischen Berufsgruppe in eigener Sache. Ȥ Die Gefahr einer gehäuften Fehleranfälligkeit sieht Erika Baum als die gravierendste Folge des Beschleunigungsdrucks an. Unter Bezugnahme auf die eigene Praxis kritisiert sie die zunehmende Anonymisierung im Gesundheitswesen und die daraus entstehenden Kontrollmechanismen und Dokumentationszwänge. Ein Problem besteht für sie auch in der wachsenden Ungeduld auf Patientenseite. Für eine willkommene Systemänderung hielte sie die Einschreibung in die hausärztliche Versorgung anstatt der Fallpauschalen. Wie sie für sich selbst stets versucht, dem Druck von außen standzuhalten, erhofft sie sich auf Patientenseite ein verstärktes Verantwortungsgefühl für die eigene Gesundheit. Ȥ Stephan Hofmeister merkt kritisch an, dass die Fülle an jederzeit verfügbaren, ungefilterten Informationen auch über Gesundheit Patienten dazu führt, Ärzte damit zu konfrontieren und eine »Alles-und-sofort«-Erwartung zu entwickeln. Er registriert zudem – auch als Folge einer defizitären Gesundheitserziehung –

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einen Verlust an theoretischer und praktischer Gesundheitskompetenz, die dazu führe, dass die ganze Verantwortung für das eigene gesundheitliche Befinden an die Ärzte delegiert werde. Auf beiden Seiten sei die Geduld verlorengegangen. Was mögliche Systemänderungen angeht, spricht sich Hofmeister für eine Verstärkung der hausärztlichen Versorgung und bei der Honorierung für eine Balance von Pauschal- und Einzelleistung aus. Den Gesetzgeber fordert er auf, Anreize zu schaffen, die der Qualität und nicht der Quantität der ärztlichen Leistungen zugutekämen. Ȥ Auf manchen Feldern des Gesundheitswesens registriert Ferdinand M. Gerlach einen »hyperdynamischen Stillstand«: viel Bewegung, ohne dass sich wirklich etwas verändert (Metapher »Hamsterrad«). Seine Kritik gilt insbesondere Fehlsteuerungen durch falsche Anreizsysteme. So gebe es in der Klinik wie in den Hausarzt- und Facharztpraxen die Tendenz, in die Menge zu gehen, weil das System kontakt- und morbiditätsorientiert sei. Gesunderhaltung, Abwarten, Begleiten, Trösten … blieben auf der Strecke, Prävention sei quasi geschäftsschädigend. Zur Verlangsamung der »Hamsterräder« schlägt Gerlach die Schaffung von lokalen Versorgungszentren vor. Seine Empfehlungen zur persönlichen Entschleunigung: innere Übereinstimmung mit dem, was man tut, und gutes Selbstmanagement. Ȥ Nach Hans-Ulrich Montgomery wird sich der Zeitdruck auf die ärztliche Versorgung infolge von Personalmangel, Zwang zu Spezialisierungen und wegen der allumfassenden Digitalisierung in der Zukunft noch verstärken. Neben positiven Entwicklungen (etwa vergleichsweise kürzere Verweildauer im Krankenhaus; Ablösung chirurgischer Verfahren durch medikamentöse oder radiologisch-interventionelle Verfahren) beobachtet er negative Folgen wie die Fokussierung der Ärzte auf den Patienten in der Praxis ohne Blick auf seine Lebensverhältnisse oder chronische Erschöpfungszustände beim medizinischen Personal (»­Sisyphos-Phänomen«). Zur Entspannung der Situation hält er für unabdingbar: Vermehrung hoch qualifizierten Personals, Reduzierung von Bürokratie, Widerstand gegen die Weitergabe des ökonomischen Drucks von der Administration auf die medizi-

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Vorwort der Herausgeber

nische Versorgung und die Priorisierung der kurativen Medizin gegenüber politischen Strukturdiskussionen. Ȥ Heyo K. Kroemer sieht die Politik in ein Aktions-Reaktions-Spiel mit den sozialen Medien eingespannt, dem auch die Medizin nicht entkommt. Er stellt zudem eine Akzeleration aller Arbeitsvorgänge fest, für die er mehrere Ursachen ausmacht. Unter ihnen steht das Honorierungssystem (Fallpauschalen) an erster Stelle. Der Zwang für die Universitätskliniken, längerfristige Planungen mit Fallzahlen und Schweregraden vorzulegen, widerspricht seiner Vorstellung von einem Krankenhaus. Das Zeitproblem wird sich seiner Ansicht nach mit dem demografischen Wandel noch verschärfen, weil der steigenden Zahl von Leistungsempfängern eine schrumpfende Zahl von Leistungserbringern gegenübersteht, die dazu mit dem rasanten Fortschritt der medizinischen Wissenschaft zurechtkommen müssen. Die Digitalisierung könne vom bürokratischen Ballast befreien, so dass Ärzte und Pfleger in die Lage kämen, sich wieder verstärkt dem Patienten zuzuwenden. Ȥ Urban Wiesing unterteilt zunächst allgemein in von Beschleuni­ gung erfasste und beschleunigungsrestistente Bereiche. Bezogen auf die Medizin erkennt er ein zunehmendes Tempo eher in der Wissensproduktion als in der Entwicklung von Therapien. Daneben gebe es auch »Eigengesetzlichkeiten«, die sich dem Zeitdruck widersetzten (Schwangerschaft, Arzt-Patient-Beziehung). Beschleunigende Faktoren sind für ihn neben der Wissenschaft die Wirtschaft und die Lebenswelt der Patienten mit ihren eigenen Geschwindigkeitsimpulsen. Als eine Besonderheit der heutigen Medizin sieht er »Narrative über die Zukunft« an, Phantasien also über die Möglichkeit, wesentliche Probleme der Menschheit binnen Kurzem wissenschaftlich-technisch zu lösen. Vor dem Hintergrund des Hippokratischen Eides resümiert er: »Wir sollten die Medizin soweit beschleunigen oder soweit entschleunigen, damit sie ihre Aufgabe erfüllen kann«. »… als das sich intensivierende Bemühen, immer mehr Verhaltensoptionen in immer kürzere Zeitintervalle hineinzupressen« sieht Till Bastian im abschließenden Beitrag den Kern von »Mobilität« an. Sie gehe mit Ungeduld, Hektik, Eile und mit der Angst einher, das

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Beste zu verpassen. Unter den Beschleunigungsfaktoren, die dem Gesundheitswesen selbst zuzuschreiben sind, steht für ihn an erster Stelle das Fallpauschalensystem, begleitet von der Digitalisierung und einer unangemessenen Ökonomisierung. Weil er der Politik nicht zutraut, entschleunigende Bedingungen zu schaffen, setzt er seine Erwartungen auf die Fähigkeit der einzelnen Ärzte zur Selbstregulation: sich in Geduld zu üben, schöpferische Pausen einzulegen, Außenreize zu reduzieren, Prioritäten zu überdenken und den Austausch mit Kolleginnen und Kollegen zu suchen. Im 71. der »Kinder- und Hausmärchen« der Brüder Grimm mit dem Titel »Sechse kommen durch die ganze Welt« (1819/1994, S. 132 ff.) fühlt sich ein Kriegsheimkehrer durch seinen König miserabel entlohnt. Voller Zorn beschließt er, sich von ihm zu holen, was ihm vorenthalten worden ist: »Wart«, sprach er, »das lass ich mir nicht gefallen. Find ich die rechten Leute, so soll mir der König noch die ganzen Schätze des Landes hergeben.« Zu den »rechten Leuten«, die er findet, gehört einer, »der stand auf einem Bein und hatte das andere abgeschnallt und neben sich gelegt. Da sprach der Soldat: ›Du hast dirs ja bequem gemacht zum Ausruhen!‹ ›Ich bin ein Laufer‹, antwortete er, ›und damit ich nicht gar zu schnell springe, habe ich mir das eine Bein abgeschnallt; wenn ich mit zwei Beinen laufe, so geht’s geschwinder, als ein Vogel fliegt.‹« Das gefällt dem Veteran, und er engagiert ihn auf der Stelle. Für die Figur des »Laufer« bieten sich zwei Deutungen an. Die individualisierende zielt auf die persönliche Regelung des Lebenstempos und der von außen kommenden Beschleunigungszumu­ tungen. Wem alles zu schnell geht, der kann »abschnallen«, verweilen, wieder zur Ruhe kommen, nachdenken, wie es weitergehen soll, sich überlegen, ob und auf welche Weise er das atemberaubende Gesellschaftsspiel in und außerhalb seiner Profession mitspielen will – und dann, wenn es darauf ankommt, rasch entscheiden und handeln. Er ist der Herr seiner Zeit. Die zweite Deutung ist eine politische, und so war sie zur Zeit der Brüder Grimm auch gemeint. Der »Laufer« lässt sich von einem, der glaubt, nicht zu seinem Recht gekommen zu sein, einladen, zusammen mit anderen, die gleichfalls über besondere Eigenschaften verfügen, den Herrscher zu entmachten und sich zu holen, was der sich angeeignet hat.

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Die erste Deutung schließt unmittelbar an Till Bastians Anregung zur »Selbstregulierung« an. Die zweite will nicht als Alternative, sondern als notwendige Ergänzung verstanden werden. Die Auseinandersetzung mit der Ökonomisierung als stärkster Antriebskraft hinter den Beschleunigungsprozessen in der Medizin kann nicht privat bestanden werden. Ob es ausreicht, die Verantwortung dafür an Funktionäre zu delegieren oder ob die Betroffenen nicht selbst politischer werden müssten, kann nur von ihnen selbst beantwortet werden. Wir danken allen Autorinnen und Autoren, Interviewpartnerinnen und Interviewpartnern für ihre Mitwirkung an diesem Band. Martin Scherer, Josef Berghold, Helmwart Hierdeis

Literatur Grimm, W., Grimm, J. (1819/1994). Sechse kommen durch die ganze Welt. In Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand, Bd. 3 (S. 132–135). Stuttgart: Reclam. Høeg, P. (2019). Durch deine Augen. München: Hanser. Kissling, B., Ryser, P. (2019). Die ärztliche Konsultation – systemisch-lösungsorientiert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Rosa, H. (2005). Beschleunigung. Die Veränderungen der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt: Suhrkamp.

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Naturwissenschaftliche und sozialwissenschaftliche Grundlagen

Hans-Hermann Dubben

Anmerkungen zum Begriff »Zeit«

Etwas Zeit für die Zeit Sie kann stehen bleiben. Man kann sie vertreiben. Sie ist Geld. Man kann sie verschwenden. Man kann sie sparen – bei der Zeitsparkasse (Ende, 1973). Man kann sie jemandem stehlen. Man kann sie sich nehmen. Aber woher? Sie zerrinnt zwischen den Fingern, rasen kann sie auch und vergehen wie im Flug. Sie nagt mit ihrem einzigen Zahn an wirklich allem. Man kann sie totschlagen. Sogar mehrmals! Zeit ist offenbar sehr vielseitig – oder ungenau definiert. Vielleicht bringt dieser Beitrag etwas Ordnung in die Sache. Allerdings wird hier nahegelegt, dass niemand so richtig weiß, was Zeit ist; dass die Zeit nicht beschleunigt ist; dass sie vielleicht nicht existiert, aber vielleicht eine Richtung hat.

Erfindung der Zeit Veränderungen in der Umgebung, das eigene Altern und das der anderen lassen vermuten, dass »etwas« abläuft. Dieses Etwas hat den Namen »Zeit« erhalten und wird mit Uhren gemessen. Die Uhr ist eine Erfindung des Menschen. Sie ist nicht identisch mit der Zeit. Ebenso wenig ist ein Zollstock identisch mit dem Begriff Raum. Eine Uhr ist nur ein Messinstrument, ganz gleich, ob Sonnenuhr oder Atomuhr. Unser Leben ist durchdrungen von Zeitangaben. Trotzdem ist unklar, was die Zeit an sich ist; ob es sie wirklich gibt oder ob sie nur eine Einbildung oder Erfindung des Menschen ist1; ob sie gleichmäßig fließt oder mal schneller und mal langsamer »vergeht«; 1 Es gibt Hinweise, dass auch einige Tiere nicht nur im Hier und Jetzt leben, sondern ebenfalls planen. Zu den Miterfindern der Zeit gehören Menschenaffen und einige Rabenvögel, die vorausschauend handeln können (Kabadayi u. Osvath, 2017).

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ob sie gar Chronon für Chronon, dem hypothetischen Elementarteilchen der Zeit, springt und ruckt wie mancher Uhrzeiger und die Körner in der Sanduhr.

Messung der Zeit Kaum ein Lebewesen auf dem Planeten Erde entgeht dem Rhythmus von Tag und Nacht und dem Rhythmus der Jahreszeiten. Als Jäger und Sammler und erst recht mit dem Aufkommen der Landwirtschaft vor ca. 10.000 Jahren hat der Mensch seine Tätigkeiten an diesen Rhythmen ausgerichtet. Seinen Taktgeber trug er nicht am Handgelenk, sondern er war von ihm umgeben. Der Tag wird durch Sonnenaufgang und Sonnenuntergang getaktet. Frühling, Sommer, Herbst und Winter sind ein periodischer Prozess mit je nach Breitengrad mehr oder weniger deutlichen Unterschieden in der Tageslänge und im jahreszeitlichen Wetter. Für das Überleben ist es von Vorteil zu wissen, wie viele Tage die einzelnen Perioden dauern und an welchem Tag oder welcher Stunde in diesem Zyklus man sich gerade befindet. Landwirtschaftliche Arbeiten wie Aussaat und Ernte sowie Vorratswirtschaft werden dadurch planbar; anfallende Arbeiten koordinierbar. Die Jahreszeiten bestimmen, wann Arbeiten fertig sein müssen, damit ausreichend Nahrung und Brennmaterial eingelagert ist, um gut über den Winter zu kommen. Innerhalb eines Jahres muss ein bestimmtes Arbeitskontingent erledigt werden. Die Taktgeber für das Arbeitstempo sind die Umdrehung der Erde um sich selbst und der Umlauf der Erde um die Sonne. Die Jahreszeiten beruhen darauf, dass die Drehachse der Erde gegen die Umlaufachse um 23,5 Grad geneigt ist. Dadurch bekommt einmal die Nordhalbkugel und einmal die Südhalbkugel mehr Sonnenlicht ab. Das ist schon fast das gesamte Uhrwerk. Ein weiterer Taktgeber ist der Mond. Er sorgt für unterschiedlich helle Nächte und für die Gezeiten. Für einen einfachen Kalender mit Uhr (aber ohne Gezeitenangaben) reicht es, einen Stock fest in die Erde zu rammen. Haltbarer ist natürlich ein steinerner Obelisk, der in stattlicher Ausführung auch gut zum Repräsentieren geeignet ist. Die Dauer der Erd- und Sonnenumläufe kann der Mensch nicht beeinflussen. Ein Umlauf um die Sonne dauert ungefähr so lange wie

Anmerkungen zum Begriff »Zeit«25

365,25 Umdrehungen der Erde um sich selbst. Zwischen den Polarkreisen kann die Zeitdauer von einem Sonnenaufgang zum nächsten, also die Dauer eines Tages bzw. einer Erdumdrehung, mit Hilfe von Uhren aufgeteilt werden. Uhren beruhen ihrerseits auf periodischen Vorgängen. Durch Abzählen dieser Vorgänge – im Grunde zählt man das Ticken der Uhr – wird Zeitdauer gemessen. Ein periodischer Prozess ist beispielsweise die Schwingung eines Pendels. Ein so genanntes mathematisches Pendel von etwa 100 cm Länge (genauer: 99,4 cm auf dem 45. Breitengrad) benötigt für eine Halbschwingung – Uhrmacher nennen das einen »Schlag« – eine Sekunde. Die Sekunde war einmal definiert als der 86.400ste Teil der Zeitdauer einer Erdumdrehung, entsprechend 24 Stunden à 60 Minuten à 60 Sekunden. Nach und nach wurden für technische und wissenschaftliche Zwecke immer genauere Zeitmessungen erforderlich und durch technische Neuerungen auch möglich. Mit den Schwingungen eines Quarzes oder der Strahlung bestimmter Elektronenübergänge in Atomuhren sind sehr viel genauere Messungen möglich als mit einer Pendeluhr. Atomuhren vertun sich in mehreren Millionen Jahren um weniger als eine Sekunde. Diese Genauigkeit ist für Navigationssatelliten erforderlich. Für Pünktlichkeit im Alltag ist sie wohl mehr als ausreichend. Die hohe Genauigkeit der Zeitmessung hatte zur Folge, dass die Sekunde neu definiert wurde. Derzeit gilt: »Die Sekunde ist das 9.192.631.770-fache der Periodendauer der dem Übergang zwischen den beiden Hyperfeinstrukturniveaus des Grundzustandes von Atomen des Nuklids 133 Cs entsprechenden Strahlung.« Diese Definition bezieht sich auf ein Cäsiumatom im Ruhezustand bei einer Temperatur von 0 ° Kelvin (PhysikalischTechnische Bundesanstalt, 2007). Der Taktgeber ist nicht mehr mit menschlichen Sinnen wahrnehmbar, und die Maßeinheit der Zeit ist von der »astronomischen Uhr«, bestehend aus Erde und Sonne, vollständig abgekoppelt. Da Zeitmessungen extrem genau möglich sind, ist auch das Meter, die Maßeinheit für räumliche Dimensionen, inzwischen über eine Zeitdauer definiert: »Das Meter ist die Länge der Strecke, die Licht im Vakuum während der Dauer einer 1/299.792.458 Sekunde durchläuft« (Physikalisch-Technische Bundesanstalt, 2007).

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299.792.458 Meter pro Sekunde ist die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum. Mit einer Zeitdauer eine Länge zu definieren, erscheint auf den ersten Blick etwas abgehoben, ist aber ganz alltäglich: »Vom Hotel zum Strand sind es fünf Minuten.« Trotz der hohen Genauigkeit bei der Messung von Zeit – oder treffender: dem Abzählen periodisch wiederkehrender Ereignisse – bleibt die Frage bestehen: »Was ist eigentlich Zeit?«

Was ist Zeit? Der folgende Abschnitt mit zahlreichen Zitaten berühmter Persönlichkeiten zeigt eine Auswahl von Gedanken zum Wesen der Zeit. Der Zeitbegriff ist nicht abschließend verstanden, jedenfalls nicht vom Autor dieses Textes. Eine endgültige Antwort auf die Frage, was Zeit an sich eigentlich ist, werden Sie hier daher nicht finden – aber woanders wohl auch nicht. Weitgehend Einigkeit herrscht darüber, dass die Zeit mindestens aus Vergangenheit und Zukunft besteht. Das klingt einfach, birgt aber einen Widerspruch, den bereits Aristoteles (384–322 v. Chr.) beschrieb. »Ihr einer Teil ist vergangen und jetzt nicht mehr, der andere soll erst kommen und ist noch nicht. Aus diesen beiden aber besteht die unendliche Zeit [...] Was aber Teile hat, die nicht da sind, das kann, so scheint es, unmöglich am Dasein Anteil haben« (zitiert nach Aichel­burg, 2006, S. 102). Das nährt Zweifel daran, dass Zeit überhaupt existiert. Dass wir Zeit messen können – oder es zumindest glauben –, beseitigt den Zweifel nicht. Veränderungen (Bewegung) haben den Menschen auf die Idee gebracht, dass es etwas wie die »Zeit« geben müsse. Mit Hilfe der Veränderungen – der Bewegung von Pendeln und Uhrzeigern – wird wiederum die Zeit gemessen. Aristoteles wies darauf hin, dass dies ein Zirkelschluss ist: »Wir messen aber nicht nur Bewegung durch die Zeit, sondern auch Zeit durch die Bewegung« (zitiert nach Aichelburg, 2006, S. 103). Meist wird der »Lauf der Zeit« in drei Bereiche aufgeteilt: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Aber auch durch das Hinzufügen des schmalen Grats der Gegenwart wird der von Aristoteles

Anmerkungen zum Begriff »Zeit«27

beschriebene Widerspruch laut Augustinus von Hippo (354–430) nicht ausgeräumt: »[…] jene beiden Zeiten also, Vergangenheit und Zukunft, wie kann man sagen, daß sie sind, wenn die Vergangenheit schon nicht mehr ist und die Zukunft noch nicht ist?« (Augustinus, 397–401/1888, Buch XI, Kap. 14). Und: »Gegenwärtig ist hinsichtlich des Vergangenen die Erinnerung, gegenwärtig hinsichtlich der Gegenwart die Anschauung und gegenwärtig hinsichtlich der Zukunft die Erwartung« (Augustinus, 397–401/1888, Buch XI, Kap. 20). Auch für Augustinus von Hippo existieren Vergangenheit und Zukunft nicht. Die Vergangenheit ist definitionsgemäß bereits vergangen, die Zukunft ist definitionsgemäß noch nicht da. Dazwischen liegt die Gegenwart (vielleicht nur ein mathematischer Punkt auf der Zeitgeraden), in der es lediglich Erinnerung an die Vergangenheit und Erwartung an die Zukunft gibt. Die resultierenden Probleme für die Zeitmessung spricht Augustinus ebenfalls an: »In welcher Dauer messen wir also die vorübergehende Zeit? Etwa in der Zukunft, von wo aus sie vorübergeht? Aber was noch nicht ist, messen wir nicht, oder in der Gegenwart, durch die sie vorübergeht? Aber wir können nicht messen, was keine Dauer hat. oder in der Vergangenheit, wohin sie vorübergeht. Aber wir können nicht messen, was nicht mehr ist (Augustinus, 397–401/1888, Buch XI, Kap. 21). Der Naturforscher, Philosoph und Verwaltungsbeamte Isaac Newton (1643–1723) hielt Raum und Zeit für absolut. Sie existieren unabhängig von einem externen Beobachter. Die Zeit »fließt« gleichmäßig dahin: »Die absolute, wahre und mathematische Zeit verfließt an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig und ohne Beziehung auf irgendeinen äußeren Gegenstand« (zitiert nach Aichel­ burg, 2006, S. 106). Die Zeit vergeht also auch, wenn keiner guckt, und auch wenn nichts passiert. In den Newton’schen Bewegungsgleichungen in Parameterform, die Ort, Geschwindigkeit, Beschleunigung, Kraft und Masse in Verbindung bringen und definieren, ist die Zeit mathematisch gesehen nur eine Hilfsgröße. Nach Umwandlung der Gleichungen in eine Form mit kartesischen Koordinaten wird die Zeit für die Beschreibung einer Bewegung nicht mehr benötigt. Die reale physikalische Existenz der Zeit ist mit den Newton’schen Gleichungen

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weder widerlegt noch bewiesen. Die Newton’sche Mechanik war und ist eine sehr erfolgreiche und sehr gut »funktionierende Wahrheit«, aber sie erklärt nicht, was Zeit an sich ist. Dass die Zeit »fließt«, ist aus mathematisch-physikalischer Perspektive wohl eher als poetische Metapher für Gleichförmigkeit zu verstehen. »Fließen« bedeutet Bewegung (meist einer Flüssigkeit); es verändert sich etwas mit der Zeit. Wenn die Zeit tatsächlich »fließt«, dann müsste sich die Zeit mit der Zeit verändern. Das Gleiche gilt natürlich auch, wenn die Zeit flieht, läuft, rast, vergeht, verfliegt … Für Newtons Zeitgenossen2 Gottfried Wilhelm Leibniz (1646– 1716), Philosoph, Mathematiker, Jurist und Historiker, war eine absolute, von Ereignissen und externen Beobachtern unabhängige Zeit undenkbar. Zeit stellt lediglich eine Beziehung zwischen Ereignissen her. Wenn nichts geschieht – also auch keine Uhr laufen kann –, ist nicht feststellbar, ob Zeit vergeht. Wenn man allerdings überzeugt ist, dass alles einen Grund hat, dann ist eine zeitliche Ordnung unabdingbar. Das Konzept der Kausalität benötigt die zeitliche Abfolge: erst die Ursache, dann die Wirkung. Naturwissenschaft, die sich mit Ursache und Wirkung beschäftigt und fest an Kausalzusammenhänge glaubt, benötigt ein Zeitkonzept (Hecht, 2016). Der Physiker, Sinnesphysiologe, Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Ernst Mach (1838–1916) übte scharfe Kritik an Newtons absolutem Zeitbegriff: »Diese absolute Zeit kann an gar keiner Bewegung abgemessen werden, sie hat also gar keinen praktischen und auch keinen wissenschaftlichen Wert.« Zudem wies er in anderer Formulierung erneut auf den alten, bereits Aristoteles bekannten Zirkelschluss hin: »Wir sind ganz außerstande, die Veränderung der Dinge an der Zeit zu messen. Die Zeit ist vielmehr eine Abstraktion, zu der wir durch die Veränderung der Dinge gelangen« (zitiert nach Aichelburg, 2006, S. 107). Aus Veränderungen wird die Existenz dessen gefolgert, was wir Zeit nennen. Darüber hinaus stellen wir mit Zeitmessungen fest,

2 Newton und Leibniz hatten heftigen Streit darüber, wer von ihnen als Erster die Infinitesimalrechnung entwickelt hat, und hatten ganz gegensätzliche Auffassungen darüber, was Zeit sei. »Zeitgenossen« waren sie trotzdem.

Anmerkungen zum Begriff »Zeit«29

ob Veränderungen gleichförmig oder nicht gleichförmig3 sind. Die Zeitmessungen bedienen sich des Zählens von Ereignissen, die periodisch und – so setzen wir es voraus – in der Zeit gleichförmig verlaufen. Üblicherweise werden die Schwingungen eines Pendels, einer Unruh, eines Quartzes gezählt. Man darf vermuten, dass die (Un-)Gleichförmigkeit einer Veränderung nicht absolut beweisbar ist. Nur im Vergleich mit einer willkürlich als gleichförmig »fließend« postulierten Zeit sind Aussagen über die »Förmigkeit« einer Veränderung möglich. Der Physiker Albert Einstein zeigte mit der Relativitätstheorie, dass Raum und Zeit nicht getrennt nebeneinanderstehen und dass die Zeit nicht absolut ist, wie Newton es postuliert hat. Ob Beob­ achter ein Geschehen als gleichzeitig ansehen, hängt davon ab, wie sich Beobachter relativ zueinander und zum beobachteten Geschehen bewegen. Für den einen Beobachter kann ein Ereignis bereits in der Vergangenheit liegen, während dasselbe Ereignis für einen anderen noch in der Zukunft liegt. Bereits unter ganz irdischen, nichtrelativistischen Bedingungen kann man erleben, dass Gleichzeitigkeit nicht absolut ist. Im Mai 2019 fand im Alten Elbtunnel in Hamburg ein Konzert statt, bei dem die Musiker in jeweils sechs Meter Abstand nebeneinander in langer Linie aufgestellt waren. Der Tunnel ist 430 Meter lang. Von einem Ende zum anderen benötigt der Schall mehr als eine Sekunde. Der Einfachheit halber stellen wir uns in der Mitte des Tunnels einen Dirigenten vor, der einen Triangel als Startsignal schlägt. Am Südende steht eine Geigerin, am Nordende sitzt der Cellist. Jede(r) soll einfach nur einen Ton spielen. Der Dirigent wird feststellen, dass Geige und Cello gleichzeitig einsetzten, aber deutlich nach dem Triangel. Die Geigerin wird feststellen, dass sie so gut wie gleichzeitig mit dem Triangel eingesetzt hat, der Cellist sich aber viel Zeit gelassen hat. Der Cellist wird feststellen, dass er so gut wie gleichzeitig mit dem Triangel eingesetzt hat, die Geigerin sich aber viel Zeit gelassen hat. Ein Zuhörer zwischen Geigerin und Dirigent hört zuerst 3 Beispiele zur »Förmigkeit«: Lineare Bewegung mit gleichmäßiger Geschwindigkeit; beschleunigte Bewegung mit ungleichmäßiger Geschwindigkeit; Schwingung mit periodisch wechselnder Geschwindigkeit, …

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den Triangel, dann die Geige und noch später das Cello. Alle vier haben richtig beobachtet. Albert Einstein (1879–1955) schrieb in einem Kondolenzschrei­ ben an die Familie seines verstorbenen Freundes Michele Besso: »Für uns gläubige Physiker hat die Scheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur die Bedeutung einer wenn auch hartnäckigen Illusion« (Einstein, 1955). Ein weiteres Zitat – es ist sicherlich bekannt und wird meist unterschätzt, weil es leicht wie ein Kindervers und ohne wissenschaftliche Begründung daherkommt – weist auf eine übergeordnete Rolle der Gegenwart hin. Es ist ein Wortspiel, das nur auf Englisch funktioniert: »Yesterday is history, tomorrow is a mystery, today is a gift. That’s why we call it the present.« Das Zitat wird verschiedenen Autoren zugeordnet: Winniethe-Pooh (A. A. Milne), Joan Rivers, Bil Keane, Alice Morse Earl und wohl noch einigen mehr. Urheber sind die, die als solche erinnert werden, so wie die Vergangenheit das ist, was erinnert wird, je nach Erinnerungsvermögen und Interessenlage. Yesterday ist also auch ein wenig mystery. Aber das könnte sich bald ändern, denn Datenhortung könnte die Vergangenheit in der Zukunft exakt rekonstruierbar machen. Bei Augustinus existieren Vergangenheit und Zukunft gleichzeitig, aber lediglich als Erinnerung bzw. als Erwartung in der Gegenwart; bei Einstein werden sie zur Illusion. Die Zeit flieht – Tempus fugit –, jedenfalls im übertragenen Sinne: Je mehr man (zumindest der, der dies schreibt) über den Begriff Zeit nachdenkt, umso mehr entzieht sich ihr Wesen. Zu diesem Schluss war freilich auch schon Augustinus gelangt: »Was also ist ›Zeit‹? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich es einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht« (Augustinus, 397–401/1888, Buch XI, Kap. 14). Auch über 1600 Jahre später ist das Wesen der Zeit, die Zeit an sich, weiterhin ein Rätsel.

Hat die Zeit eine Richtung? Die klassische Newton’sche Mechanik galt uneingeschränkt für 200  Jahre und gilt eingeschränkt auch heute noch. In der Newton’schen Mechanik vergeht die Zeit ehern und gleichmäßig, und

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kein Zeitpunkt unterscheidet sich qualitativ von einem anderen Zeitpunkt. Aus dieser Homogenität der Zeit folgt eine der Säulen der klassischen Physik: der Energiesatz (Noether, 1918). Energie geht nicht verloren und kann nicht erzeugt werden. Verschiedene Energieformen können nur ineinander umgewandelt werden.4 Aus dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik folgt, dass es unumkehrbare Prozesse gibt. Ein heißer Kaffee wird immer kälter, bis er und der umgebende Raum die gleiche Temperatur haben. Es fließt Energie vom Kaffee in den kälteren Raum. Das System geht in einen wahrscheinlicheren Zustand über. Diese Wahrscheinlichkeit heißt Entropie und kann in einem abgeschlossenen System nur zunehmen, während die Gesamtenergie erhalten bleibt. Der Kaffee ist am Ende kalt, aber der Raum ist ein wenig wärmer geworden. Dass der Prozess umgekehrt abläuft und der kalte Kaffee sich spontan die Energie zurückholt und sich erwärmt, ist nicht zu erwarten, obwohl die Energiebilanz dies zuließe.5 Hat die Zeit damit eine Richtung? Das beobachtete Abkühlen ist ein Prozess mit einer nicht umkehrbaren Richtung. Der Prozess ist aber nicht identisch mit der Zeit. Der Prozess hat eine Richtung, aber damit nicht zwangsläufig auch die Zeit. Das räumliche Analogon dazu: Jemand spaziert von A nach B. Der Spaziergang hat dabei eine Richtung, aber nicht unbedingt der Raum an sich. Es gibt zahlreiche mit der Zeit ablaufende Prozesse (radioaktiver Zerfall, biologisches Altern, Evolution, …), deren spontane Umkehrung äußerst unwahrscheinlich ist. Aus den oben genannten Gründen sagt das aber nichts über eine Richtung der Zeit aus. Um eine Änderung der Richtung der Zeit feststellen zu können, wird ein ex4 Lassen Sie sich nicht täuschen: Es gibt eine riesige Branche, die sich Energieerzeuger nennt. Energieumwandler oder Energieanbieter wäre treffender. Zum Beispiel wird die potenzielle Energie von Wasser in einem Stausee mit Turbinen oder es wird die kinetische Energie von Luftmassen mit Windrädern in elektrische Energie umgewandelt und über Metallleitungen zum »Verbraucher« transportiert. Auch der Verbraucher verbraucht die Energie nicht, sondern wandelt ebenfalls nur um, zum Beispiel in Wärme, wenn er sich einen Tee kocht. 5 »Mars bringt verbrauchte Energie sofort zurück« wurde bisher nur in der Werbung beobachtet.

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terner Beobachter außerhalb der Zeit benötigt, der die Änderung nicht mitmacht. Dass sich die Großstadt Hamburg ungefähr mit Schallgeschwindigkeit um die Erdachse herumbewegt, ist von der ISS aus leicht zu bemerken, aber nicht, wenn man in Hamburg sitzt und auf diesen Text blickt.6 Stephen Hawking (2011) beschreibt drei Zeitpfeile. Die Richtung des thermodynamischen Zeitpfeils ist durch die Zunahme der Entropie gekennzeichnet. Der kosmologische Zeitpfeil zeigt in die Richtung der Zeit, in der sich das Universum ausdehnt. Sollte es sich irgendwann wieder zusammenziehen, dreht sich die Richtung der Zeit um, meint Hawking. Der psychologische Zeitpfeil weist in die Richtung, in der unserem Gefühl zufolge die Zeit voranschreitet: Wir erinnern die Vergangenheit, aber nicht die Zukunft. Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik, also die Zunahme der Entropie, erscheint Hawking schon fast trivial, einfach weil wir die Zeit in der Richtung messen, in der die Unordnung zunimmt. Das ist gleichbedeutend mit dem obigen Argument, dass die Zeit nicht mit dem beobachteten Prozess identisch ist. Hawking zufolge nimmt die Entropie nur während der Expansion des Universums zu. Wir leben nun aber mal in diesem Abschnitt. Unsere Seele, unser Verstand, unsere Wahrnehmung wurden durch diese Gegebenheiten geformt. Unser Hirn und die Hirne unserer Vorfahren kennen keine anderen Gegebenheiten. Hätte die Evolution während der (bevorstehenden?) Kontraktion des Universums stattgefunden, würden wir es vielleicht als ganz normal empfinden, wenn die Scherben auf und die Feuchtigkeit im Teppich auf den Tisch hüpfen und sich zu einer heilen Tasse mit heißem Tee zusammenfinden. Die Vergangenheit – also auch, dass der Tee im Teppich war – hätten wir sofort vergessen, wüssten aber, was auf uns zukommt. Insgesamt ist es für Stephen Hawking kein Wunder, dass der thermodynamische, kosmologische und psychologische Zeitpfeil in dieselbe Richtung zeigen (Hawking, 6 Der Vergleich hinkt ein wenig. Es ist im Prinzip feststellbar, weil das keine geradlinig gleichförmige Bewegung ist. Es macht sich im Alltag aber kaum bemerkbar. Im Jahr 1851 wies der französische Physiker Léon Foucault in Paris mit einem Pendel die Erdrotation nach. Übrigens, falls Sie es gerade nicht merken: Sie rotieren in diesem Moment nicht nur um die Erdachse. Sie bewegen sich zusammen mit der Erde auch gerade mit ca. 30.000 m/s um die Sonne.

Anmerkungen zum Begriff »Zeit«33

2011, S. 165). Da die beschriebenen Zeitpfeile beobachtete Prozesse sind und nicht die Zeit an sich, kann man auch weiter darüber streiten, ob die Zeit eine Richtung hat. Wie könnte es auch anders sein, wenn wir nicht einmal sicher wissen, ob es die Zeit überhaupt gibt oder ob sie eine Erfindung des Menschen ist?

Hat die Zeit einen Anfang? 1. Wenn die Zeit steht, kann es keine Veränderungen geben. Also gibt es auch keinen Neustart, denn das wäre eine Veränderung. Fazit A: Wenn die Zeit steht, dann steht sie für immer. 2. Wenn Veränderungen beobachtet werden, läuft die Zeit. Sie lief schon immer, denn wegen Fazit A konnte sie nicht zwischendurch stehen bleiben. Fazit B: Wenn die Zeit läuft, dann lief sie schon immer. Fazit C: Solange wir denken, dies hier lesen und/oder darüber einschlafen – all das ist Veränderung – läuft die Zeit wegen 2.). Sie läuft schon immer wegen Fazit B. Sie wird für immer laufen oder bis sie stehenbleibt, und zwar einmalig und für immer wegen Fazit A. Das letzte »immer« ist dann sehr wahrscheinlich bedeutungslos. Ohne Zeit keine Veränderung, keine Beobachtung. Keine Welt? Die Konsequenz für den Anfang allen Werdens lautet: Wegen Fazit C läuft die Zeit in diesem Augenblick. Wegen Fazit B lief sie schon immer, und damit lief sie auch vor dem Anfang. Der Anfang kann dann nicht der Anfang gewesen sein. Das ist ein Widerspruch. Also gab es keinen Anfang. Zum Problem des Anfangs meinte Augustinus, die Zeit sei eine Eigenschaft des von Gott geschaffenen Universums und habe vor dessen Beginn nicht existiert. Und Stephen Hawking sagt dazu: »… it made no sense to talk of a time before the universe began. It would be like asking for a point south of the South Pole. It is not defined« (Hawking, 2005, S. 17). Die Newton’sche (klassische) Mechanik wurde im 20.  Jahrhundert durch Relativitätstheorie und Quantenphysik erweitert. Sie

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wurde nicht widerlegt, sondern es wurden ihre Grenzen erkannt. Unser tägliches gesellschaftliches Leben spielt sich fast ausschließlich innerhalb dieser klassischen Grenzen ab, in räumlichen Größenordnungen und bei Geschwindigkeiten, in denen relativistische oder quantenmechanische Effekte kaum7 eine Rolle spielen. Die klassische Vorstellung einer absoluten Zeit dürfte also für die Belange des sozialen Lebens weiterhin ausreichen. In unserem Alltag können wir somit ganz beruhigt so tun, als ob die Zeit gleichmäßig vergeht. Sie kann nicht gespart und auch nicht totgeschlagen werden. Sie kann auch nicht verloren gehen. Dass wir immer weniger Zeit »haben«, liegt nicht daran, dass es immer weniger Zeit gibt. Es muss an etwas anderem liegen.

Überfrachtung der Zeit Keine Beschleunigung der Zeit Für den täglichen Bedarf dürfen wir bei Newtons Ansicht bleiben, dass die Zeit gleichförmig vergeht. Die Zeit vergeht für die meisten Belange unseres Lebens weder schneller noch langsamer, schon gar nicht durch den Einfluss der Menschen. Was als beschleunigte Zeit erlebt wird – ein psychologisches, aber kein physikalisches Phänomen –, sind Phasen erhöhter Betriebsamkeit. Es werden immer mehr Ereignisse in der gleichen Zeitspanne untergebracht. In der Diskussion über »Beschleunigung der Zeit« geht es nicht um Verknappung oder tatsächliche Beschleunigung der Zeit, sondern um Überfrachtung von Zeitspannen. Etwas physikalischer ausgedrückt: immer mehr Ereignisse pro Zeiteinheit. Nicht nur im Arbeitszusammenhang, auch in der Freizeit wollen (oder sollen) wir pro Zeiteinheit immer mehr »erleben«. Die Auffassung »Die Zeit ver7 Für das ausreichend genaue Funktionieren eines GPS-Navigationssystems reicht die klassische Physik allerdings nicht. Entsprechend der speziellen Relativitätstheorie muss berücksichtigt werden, dass Navigationssatelliten sich relativ zur Erdoberfläche sehr schnell bewegen (4000 m/s). Entsprechend der allgemeinen Relativitätstheorie muss berücksichtigt werden, dass Erdbewohner beim Autofahren der Erde näher sind als Navigations­ satelliten und dass in Gegenwart von Masse – je mehr und je näher – die Zeit langsamer vergeht.

Anmerkungen zum Begriff »Zeit«35

geht nicht schneller als früher, aber wir laufen eiliger an ihr vorbei« wird von vielen dem Schriftsteller George Orwell (1903–1950) zugeschrieben. Wer etwas tut, fühlt sich gut. Ob er sich und anderen dabei wirklich Gutes tut, sei dahingestellt. Es fehlt nicht an Zeitmanagement, sondern an Aktivitätsmanagement. Dazu gehören das Setzen von Prioritäten, das Hinterfragen und das etwaige Unterlassen eingefahrener Mechanismen, das Abstandnehmen von der Haltung, dass man alles, was man machen kann, auch machen muss. Mithilfe von Maschinen und Computern, Autos, Mobilität, schnelltrocknendem Lack, schnellhärtendem Zement und ständiger sofortiger Erreichbarkeit leisten (physikalisch: Arbeit pro Zeiteinheit) die Menschen ohnehin schon mehr als je zuvor.8 Ginge es darum, ein bestimmtes Arbeitskontingent zu erledigen, dann könnten sie immer weniger Zeit mit Arbeit verbringen oder die Arbeit immer geruhsamer angehen. Es ist eher das Gegenteil der Fall. Es wird immer mehr getan in der gleichen Zeit. Schließlich muss man morgen etwas mehr schaffen als heute. Und warum? Weil das alle anderen auch so tun werden. Wer nicht immer schneller läuft, der bleibt hinter den anderen zurück. Es gibt einige (psycho)logische Verstrickungen, die es Homo sapiens unerträglich machen, von anderen überholt zu werden. Auch wenn der eigene Lebensstandard durch das Überholen nicht weiter berührt wird. Rückkopplung Ursprünglich waren unabänderliche äußere Ereignisse (Jahreszeiten, Tag und Nacht) die Taktgeber des Zeitmessers und damit des Arbeitstempos. Mit Uhren und Kalendern ist man davon unabhängig. Mit ihnen ist es möglich, zukünftige Handlungen, auch solche, die von Tages- oder Jahreszeiten unabhängig sind, zu koordinieren und zu planen. Die Handwerker erscheinen für den Bau eines Hauses in einer sinnvollen Reihenfolge und man freut sich, nicht nur in dem8 Leistung hat einen hohen Wert in unserer Gesellschaft. Viel Leistung wird gern gesehen. Neben der Menge einer Leistung sollte man auch die Qualität einer Leistung im Blick haben: Was und wofür wird etwas geleistet? Manchmal ist es eine bessere Leistung (im übertragenen Sinn), etwas zu unterlassen.

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selben Restaurant wie die Freunde zu sitzen, sondern auch zur selben Zeit. Mit einem unabänderlichen Taktgeber hat man bei schnell verrichteter Arbeit am Ende des Tages oder Wirtschaftsjahres eventuell Zeit übrig, für Mitmenschen, Muße, Kunst, Wissenschaft, Qualität, … Mit Uhr und Kalender ist nie Zeit übrig. Die Taktfrequenz ist vom Bedarf abgekoppelt und wird durch die Arbeitsgeschwindigkeit der Konkurrenz (andere Handwerksbetriebe, andere Dienstleister, andere Forschergruppen) bestimmt. Dabei wird die eine Gruppe zum Taktgeber der anderen – und umgekehrt –, und jeder versucht schneller zu sein als der andere. Wer schneller arbeitet, kann früher mit dem Folgeprojekt beginnen, im trügerischen Glauben, seine Konkurrenzfähigkeit zu steigern. Weit gefehlt. Die anderen machen doch dasselbe. Wie absurd die Situation ist, wird in einer kurzen und alten Geschichte aus Nordamerika deutlich. Ein junger Indianerhäuptling wird von seinen Stammesangehörigen gefragt, wie der nächste Winter sein wird. »Kalt«, sagt er spontan, und die Indianer fangen an, Holz zu sammeln. Der junge Häuptling hat zwar erfolgreich Jura studiert und kann kompetent die Belange seines Volkes vertreten, hat aber dabei die Fähigkeit seiner Ahnen verloren, das Wetter vorhersagen zu können. Sicherheitshalber ruft er beim Wetteramt an. »Ziemlich kalt«, ist die Antwort. Eine Woche später wird der Häuptling erneut um eine Prognose gebeten. »Ziemlich kalt«, sagt er und die Indianer sammeln etwas emsiger Holz. Um auf die nächste Anfrage vorbereitet zu sein, ruft der Häuptling Tage später erneut beim Wetteramt an. »Sehr kalt« heißt es diesmal. Der Häuptling gibt die Prognose seinen Leuten weiter und diese sammeln nun noch emsiger. So geht es Woche um Woche: Sehr sehr kalt – ungewöhnlich kalt – extrem kalt. Langsam werden die Indianer müde und verdrossen vor lauter Sammelei. Der Häuptling gerät unter Druck, und so fragt er den Wettermann: »Sag’ mal, woher weißt du eigentlich, dass der Winter so kalt wird?« »Ach« sagt der, das ist ganz einfach, »die Indianer kennen sich seit jeher bestens mit der Wetterentwicklung aus, und die sammeln Holz wie verrückt.« Die Geschichte berichtet eine Ursache-Wirkung-Beziehung mit Rückkopplung. In Kurzform, unter Auslassung der Zwischenschritte, lautet der zugrunde liegende Kausalzusammenhang: die

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Indianer sammeln immer emsiger Holz, weil sie immer emsiger Holz sammeln. Analog dazu arbeiten die ökonomisch denkenden Konkurrenzfähigkeitserhalter deshalb immer schneller, weil sie immer schneller arbeiten. An dieser Stelle sei die Frage aufgeworfen, unter welchen Bedingungen »ökonomisches Verhalten« wirklich ökonomisch ist. Auch ein Hamster läuft in seinem Hamsterrad so schnell, weil er so schnell läuft. Aber er hat es noch gut, denn er kämpft nicht gegen Konkurrenz an. Homo sapiens beschleunigt sein Hamsterrad Wie kommt es, dass sich Homo sapiens, der sich selbst »vernunftbegabtes Wesen« nennt, so unvernünftig verhält? Eine Grundvoraussetzung ist, dass er schneller werden kann. Das ist gegeben durch technologischen Fortschritt und Optimierung von Arbeitsabläufen. Dadurch kann pro Zeiteinheit heute mehr verrichtet werden als gestern. Natürlich führt dies auch zu immer mehr Forschungsergebnissen und Erkenntnissen pro Zeiteinheit, mit deren Hilfe man noch mehr Arbeitsschritte pro Zeiteinheit durchführen kann. Der Prozess ist sehr wahrscheinlich beschleunigt. Damit ändern sich auch die Lebensumstände immer schneller. Vor 300 Jahren fanden Großvater und Enkel ziemlich ähnliche Lebensumstände vor. Heute kann man sich kaum vorstellen, wie die eigenen Großeltern gelebt haben, und schon gar nicht, wie die eigenen Enkel leben werden. Der Zeitraum mit stabilen Rahmenbedingungen wird immer kürzer. Dadurch werden langfristige Pläne schwieriger und seltener. Hinzu kommen immer mehr Handlungs- und Konsumoptionen, die obendrein wirtschaftspsychologisch durchdacht beworben werden. Am besten, man ist auf alles gefasst und tut und nimmt sofort alles, was sich bietet. Sonst tut es ein anderer. Und der andere denkt genauso. Wer zögert, wird überrollt. Insgesamt bedeutet das, Homo sapiens kann nicht nur schneller, er glaubt auch, es zu müssen. Aber wie steht es um seinen Willen? Will er auch schneller? Der Soziologe Hartmut Rosa, der die letzten hier aufgeschriebenen Gedanken mitgefärbt hat, vermutet, dass Homo sapiens sich bewusst und freiwillig – oder aus Kummer – in seiner Falle, seinem Hamsterrad, befindet. Das tut er, weil ihm durch die Säkularisierung während der letzten Jahrhunderte die Aussicht auf ein ewiges Leben

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nach seinem Tod abhandengekommen ist, so Rosa. Die Erkenntnis, dass das Leben endlich ist, sorgt für Torschlusspanik. Wer was erleben will, muss das vor seinem Tode tun. Je mehr, desto besser. »Wer unendlich schnell wird, braucht den Tod als Optionenvernichter nicht mehr zu fürchten; es liegen unendlich viele ›Lebenspensen‹ zwischen ihm und dessen Eintreten« behauptet Rosa (2005, S. 291). Diese Lebenspensen-Völlerei ist mathematisch nachvollziehbar: man kann wirklich alles in einer endlichen Zeitspanne erleben, wenn man nur jedes einzelne Erlebnis infinitesimal kurz gestaltet. Aber wozu? Der jeweilige Erlebnisgehalt dürfte dann infinitesimal gering sein. Warum verschwendet der Mensch seine begrenzte Zeit für das Ansammeln von Erinnerungen, die mit seinem Tode für ihn verschwinden? Viele Menschen planen zumindest ihren Urlaub nicht vorrangig nach dem, was sie dort tatsächlich erleben, sondern nach dem vermuteten Erinnerungswert (Kahneman, 2011, S. 479 ff.). Warum sonst wird so viel Mühe auf Fotografieren und SouvenirShopping verwendet? Aber wer nicht an ein Leben nach dem Tode glaubt, der glaubt auch nicht, dass er sich danach noch an sein Leben erinnern wird. Was gibt Homo sapiens überhaupt die Kraft, Konsequenzen aus dem Bewusstsein der Endlichkeit seines Lebens zu ziehen, wenn seine Todesfurcht ansonsten nicht einmal dafür reicht, mit dem Rauchen oder anderem einem langen irdischen Leben abträglichen Unsinn aufzuhören? Woher kommt die Erlebnisgier? Man kann an vieles glauben: dass man sich schneller erholen muss, um für das schnelle Arbeitsleben wieder fit zu werden; dass Erlebnisse (auch die von der Freizeitindustrie vorgefertigten) Statussymbole sind, mit denen man sich schmücken kann (je mehr desto besser9, mal wieder). All das fördert die Bereitschaft, auf die Einflüsterungen der Werbung hereinzufallen. Oder Homo sapiens hat sich in und aus anderen Bereichen schon so sehr daran gewöhnt, alles schnell und oberflächlich zu machen, 9 Quantität ist viel einfacher einschätzbar als Qualität. Für die Quantität muss man nur zählen können. Für die Qualität muss man wissen, was man will. Da Zählen nicht so schwierig ist, werden sogar Forschungsleistungen durch Abzählen von Publikationen bewertet. Mehr dazu in meinem Beitrag »Beschleunigte Medizinische Forschung« in diesem Band.

Anmerkungen zum Begriff »Zeit«39

dass er gar nicht mehr auf die Idee kommt, sich in der Freizeit anders zu verhalten. Homo sapiens verfügt über ein großes Repertoire kognitiver Verzerrungen. Mindestens 180 sind bekannt (Kahneman, 2011; Ellis, 2018). Eine davon ist die planning fallacy (Kahneman, 2011), die dafür sorgt, dass der Mensch regelmäßig die Zeit, die für eine Aufgabe benötigt wird, unterschätzt. Das gilt nicht nur für Berliner Flughäfen und gilt auch im Privaten. Erfreulicherweise geht es auch anders. Viele Menschen schätzen zum Beispiel eine Reise nach dem schönsten Erlebnis (peak) ein und danach, wie sie sich am Ende (end) fühlten (Peak-End Rule). Eine Reise, vielleicht auch ein Leben, muss also nicht unbedingt aus einer pausenlosen Reihe von Events bestehen. Auch dies ist eine der sonderbaren kognitiven Eigenschaften des Homo sapiens (Kahne­ man, 2011, S. 479 ff.). Das Problem besteht nicht aus Mangel an Zeit, aus »beschleunig­ ter Zeit« und auch nicht unbedingt aus Todesfurcht, sondern eher aus Planlosigkeit. Hartmut Rosa hat Mitleid mit Homo sapiens: »Der gleichzeitige Mensch der Moderne ist ein armer, atemloser Tropf« (Rosa, 2012, S. 27). Rosa präsentiert keine Lösung für das Problem. Vielleicht hatte der französische Mathematiker Blaise Pascal (1623– 1662) schon vor Jahrhunderten die Wurzel des Übels richtig erkannt (und das Problem auch nicht gelöst). Ihm wird von vielen die Vermutung zugeschrieben: »Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.« Homo sapiens war dann schon im 17. Jahrhundert ein armer Tropf, und die Lösung ist noch heute im Menschen zu suchen. Die oben erwähnten Holzsammler befinden sich mit ihrem kollektiven Hyperaktionismus in einer Endlosschleife, ad nauseam, bis der Letzte umgefallen ist oder bis das Holz zur Neige geht. Für die Konkurrenzfähigkeitserhalter sind Umfaller und Holz durch Humanressourcen und Ressourcen zu ersetzen. Die Indianer sind der Endlosschleife entkommen: Sie haben hinterfragt, was sie da tun und warum sie es tun.

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Am Ende bemerkt »Wie spät es ist« oder »wie lange es gedauert hat« lässt sich mit sehr großer Genauigkeit angeben. Die Frage, was Zeit eigentlich ist, bleibt unbeantwortet, obwohl es viele kluge Gedanken kluger Menschen dazu gibt. Es gibt wohl keine absolute Zeit. Mit Newtons und auch Einsteins Segen können wir trotzdem davon ausgehen bzw. bei der alten Gewohnheit bleiben, dass die Zeit »gleichmäßig verrinnt« – jedenfalls in den räumlichen und zeitlichen Größenordnungen, in denen sich unser soziales Leben abspielt. Die Zeit wird nicht schneller und auch nicht weniger. Sie wird lediglich mit immer mehr Aktionen befrachtet. Für das, was als Zeitdruck oder fehlende Zeit empfunden wird, wären Begriffe wie Aktionsverdichtung, Arbeitsverdichtung, Hyperaktionismus, Event-Verdichtung und Eventitis treffender. Homo sapiens ist in einen Teufelskreis geraten. Er läuft immer schneller in seinem Hamsterrad. Aber er hat seine biologischen Grenzen. Bei weiterhin nicht artgerechter Haltung wird er eines Tages zusammenbrechen. Kritisches Hinterfragen dessen, was man gerade tut, könnte helfen.

Literatur Aichelburg, P. C. (2006). Zur Entwicklung des Zeitbegriffs: Aristoteles und der Zeitbegriff in der relativistischen Kosmologie. In F. Stadler, M. Stöltzner (Hrsg.), Time and History. Zeit und Geschichte (S. 101–113). Frankfurt a. M., Lancaster, Paris, New Brunswick: ontos verlag. Augustinus (397–401/1888). Confessiones. Übersetzung von O. F. Lachmann: Die Bekenntnisse des heiligen Augustinus. Leipzig: Reclam (Reclams Universal-Bibliothek; 2791/94a). Einsehbar unter https://www.ub.uni-freiburg. de/fileadmin/ub/referate/04/augustinus/bekennt1.htm#1120 – Zugriff am 21.07.2016. Einstein, A. (1955). Letter to Michele Besson. https://www.christies.com/­features/ Einstein-letters-to-Michele-Besso-8422-1.aspxhttps://www.ub.uni-freiburg. de/fileadmin/ub/referate/04/augustinus/bekennt1.htm#1120 – Zugriff am 24.09.2019. Ellis, G. (2018). So, what are cognitive biases? In G. Ellis (Hrsg.), Cognitive biases in visualizations (S. 1–10). Cham: Springer Nature AG. Ende, M. (1973). Momo. Stuttgart: Thienemann. Hawking, S. (2005). The origin of the universe. http://www.hawking.org.uk/theorigin-of-the-universe.html – Zugriff am 14.11.2019. Hawking, S. (2011). Eine kurze Geschichte der Zeit. Reinbek: Rowohlt.

Anmerkungen zum Begriff »Zeit«41

Hecht, H. (2016). Die perfekte Wasseruhr und das Prinzip der kleinsten Wirkung. Spektrum der Wissenschaft, 8, 42–49. Kabadayi, C., Osvath, M. (2017). Ravens parallel great apes in flexible planning for tool-use and bartering. Science, 357, 202–204. Kahneman, D. (2011). Schnelles Denken, langsames Denken. München: Siedler. Noether, E. (1918). Invariante Variationsprobleme. Nachrichten der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Mathematisch-Physikalische Klasse (S. 235–257). Berlin: Weidmannsche Buchhandlung. Physikalisch-Technische Bundesanstalt (2007). Das Internationale Einheitensystem (SI). PTB-Mitteilungen, 117, Heft 2. Rosa, H. (2005). Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Berlin: Suhrkamp. Rosa, H. (2012). Tut mir leid, ich bin zahlungsunfähig. Reflexionen über Temporalinsolvenz. Forschungsmagazin der Leibniz Universität Hannover, 3–4, 24–27.

Josef Berghold

Beschleunigungsprozesse: Historische und sozialwissenschaftliche Streiflichter Alles wird immer schneller. Oder jedenfalls »so gut wie« alles – wie es im Titel eines amerikanischen Bucherfolges heißt (Gleick, 2000). Dieser Einschätzung dürften nur wenige widersprechen. Unverkennbar haftet unseren modernen Zeiten zunehmende Geschwindigkeit und Hektik an. Viele mögen das beklagen und der verlorenen Gemächlichkeit in vermeintlich »guten alten Zeiten« nachtrauern. Andere geben sich lieber der Faszination der glitzernden technischen Wunder hin, die die Beschleunigung unseres heutigen Lebens möglich gemacht haben. Inwieweit hat uns diese Beschleunigung »Fortschritt« gebracht – unser Leben also befriedigender und interessanter gemacht? Inwieweit treibt sie uns im Gegenteil in die Falle einer blinden und gestressten Betriebsamkeit? Solche Fragen rühren an allzu viele Facetten und Widersprüche in unserer Kultur, als dass sie schnelle, einfache oder sichere Antworten erlauben würden. Sicher ist jedenfalls: Sowohl beunruhigte als auch faszinierte Beobachtungen zur Beschleunigung des modernen Lebens sind alles andere als neu. Liest man zum Beispiel, was Johann Wolfgang von Goethe dazu zu sagen hatte, so möchte man auf den ersten Blick kaum glauben, dass er bereits vor zwei Jahrhunderten gelebt hat. In seinem Roman »Die Wahlverwandtschaften« (1809) ließ er die Hauptfigur Eduard klagen, »dass man jetzt nichts mehr für sein ganzes Leben lernen kann. Unsre Vorfahren hielten sich an den Unterricht, den sie in ihrer Jugend empfangen; wir aber müssen jetzt alle fünf Jahre umlernen, wenn wir nicht ganz aus der Mode kommen wollen« (Goethe, 1809/2007, S. 43). Der alternde Dichter beschwerte sich 1825 in einem Brief an seinen Freund Carl Friedrich Zelter über eine durch »Eisenbahnen, Schnellposten und Dampfschiffe« maßlos vorangetriebene Hektik, mit welcher vor allem jüngere Menschen »im Zeitstrudel fortgerissen [werden]; Reichtum und Schnelligkeit ist es, was die Welt bewundert und wonach jeder strebt. Alle möglichen Erleichterungen der Kommunikation sind es, worauf die ge-

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bildete Welt ausgeht, sich zu überbieten …« (zitiert nach Klein, 2006, S. 165). Seit damals ist das Reisen hundert Mal und die Kommunikation hunderttausende Male schneller geworden. »Der Brief, der zu Zelter nach Berlin mehr als eine Woche brauchte, wäre heute als E-Mail in Sekunden am Ziel. Nach Italien zu reisen, ist eine Angelegenheit von ein paar Stunden. Und selbst in Weimar hält der ICE« (Klein, 2006, S. 165). 1786 hatte Goethe trotz großer Beeilung noch mehr als eine Woche gebraucht, um in das Land der blühenden Zitronenbäume zu gelangen, in das er zu seiner berühmten Bildungsreise aufgebrochen war (Goethe, 1817/2009, S. 24 ff.).

Geschwindigkeitsrausch von der »Belle Époque« ins faschistische Zeitalter Seit Goethes Zeiten ist die Zahl und Vielfalt von Kommentaren zur modernen Beschleunigung so gut wie unüberschaubar geworden. Manchmal überwog dabei die Sorge über mögliche Gefahren, andere Male die Faszination neuer Erfahrungen. Beide Reaktionen waren jedenfalls auch immer nebeneinander vorhanden – ob sie sich nun ergänzten oder im Widerstreit zueinander standen. Eine Epoche, in der das Pendel mit nie wieder erlebter Heftigkeit in Richtung Faszination ausgeschlagen hat, erlebte die westliche Welt in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg. Der Historiker Philipp Blom widmete ihr ein Buch mit dem bezeichnenden Titel »The Vertigo Years« (»Die Jahre des Taumels«) und dem verschwommenen Umschlagfoto eines Rennwagens beim Grand Prix 1912, der zu schnell am Fotografen vorbeigerast war, um noch ganz ins Bild zu kommen (Blom, 2008). In dieser Epoche häuften sich technische Revolutionen, die das Alltagsleben und die Vorstellungswelt vieler Millionen Menschen in unerhört kurzer Zeit aus alten Gewohnheiten herausrissen. Neben bahnbrechenden Experimenten und Erfindungen spielte dabei auch der breitenwirksame Einsatz von schon ein wenig zurückliegenden Erfindungen eine große Rolle. So hatte es bis zur Jahrhundertwen­ de gedauert, dass die Erfindung des elektrischen Lichts merklich zur Straßenbeleuchtung vieler Großstädte beitrug, Telefone für

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ein Millionenpublikum erschwinglich wurden oder dass es Automobile in ausreichender Zahl gab, um dem Straßenverkehr ein ganz neues Gepräge zu geben. Die ersten Flugversuche wurden von einer atemlosen Öffentlichkeit verfolgt. Als dem Ingenieur Louis Blériot 1909 als Erstem das Bravourstück gelang, eine Meeresstrecke – den Ärmelkanal – mit einem selbst gebauten Flugzeug zu überqueren, wurde er von riesigen Menschenmengen bejubelt und mit einem Schlage weltberühmt (Blom, 2008, S. 249 ff.). Automobile, Flugzeuge, Elektrizität, Erdöl, industrielle Massenprodukte, Kinos, Telegrafen, Telefone, Funkgeräte, ein vereinheitlichtes System von Zeitzonen rund um die Erde … diese und viele andere Neuheiten machten es notwendig, sich in einer Welt zurechtzufinden, »in der sich der zeitliche und räumliche Kontext in nur wenigen kurzen Jahrzehnten dramatisch verändert hatte« (Rifkin, 2009, S. 379). Sie trugen vor allem auch dazu bei, dass »ein gesteigerter Sinn für Geschwindigkeit eine vorrangige Beschäftigung war, eine öffentliche Liebesaffäre, eine tiefe Angst und der Pulsschlag, der Millionen von Leben lenkte« (Blom, 2008, S. 252). Dementsprechend war auch der Rennsport »eine der Obsessionen des Zeitalters und Tempo sein bevorzugtes Rauschmittel« (S. 251). Diese Leidenschaft wurde auch durch die Entwicklung ausreichend präziser Uhren unterstützt, die die neuesten Geschwindigkeitsrekorde akkurat nachweisen konnten. Unter dem damaligen Zeitgeist musste, wie Blom meint, »der Preis für die am meisten in Geschwindigkeit vernarrte Kunst-Nation sicherlich an Italien gehen, wo eine ganze Bewegung, der Futurismus, dem Kult der Automobile, der Geschwindigkeit, der Technologie und der Gewalt gewidmet war« (S. 261). In ihrer zur Schau gestellten Überspanntheit brachte sie den Geist jener »Jahre des Taumels« ähnlich effektvoll auf die öffentliche Bühne wie eine gelungene Karikatur. Sie war aber auch ein Taktgeber für das bald danach einsetzende Zeitalter des Faschismus. Ihr Begründer Filippo Marinetti behauptete, dass ihm die Eingebung für seine neue Bewegung während eines Verkehrsunfalls gekommen war, bei dem er seinen Wagen in den Straßengraben gefahren hatte. Offenbar lieferte ihm der Adrenalinschub, mit dem er den Unfall überlebte, einen Anstoß zum 1909 veröffentlichen

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»Ersten Futuristischen Manifest«. Darin verherrlichte er »die Liebe zur Gefahr« und »die ewige, allgegenwärtige Geschwindigkeit« als mächtigen revolutionären Ansporn. Er pries »die angriffslustige Bewegung, die fiebrige Schlaflosigkeit, den Laufschritt, den Salto mortale, die Ohrfeige und den Faustschlag.« Als Inbegriff von Schönheit erschien ihm »ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint«. Schönheit sei nur noch im Kampf erlebbar. Demgemäß ging es ihm speziell auch darum, den Krieg zu verherrlichen »– diese einzige Hygiene der Welt –, den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes« (zitiert nach Fromm, 1974, S. 312). Alle Museen, Bibliotheken und Akademien müssten zerstört und durch eine neue Welt voll rauchender, stählerner und lärmender Industrieanlagen, Bahnhöfe, Lokomotiven, Dampfschiffe und Flugzeuge ersetzt werden. Das ein Jahr danach veröffentlichte »Zweite Futuristische Manifest« markierte den Gipfelpunkt einer Art religiös verzückter Anbetung von Geschwindigkeit, der im historischen Vergleich unübertroffen sein dürfte. Mit ihrem kraftvollen, aggressiven und kriegerischen Antrieb sei Geschwindigkeit »ihrem Wesen nach rein.« Langsamkeit sei hingegen »ihrem Wesen nach unrein«, da sie so erbärmliche Konsequenzen wie rationales Analysieren, Passivität und Pazifismus mit sich bringe. Indem der Futurismus veraltete Ideen von Gut und Böse schonungslos beseitige, würde er die Maßstäbe für »ein neues Gutes, die Geschwindigkeit, und ein neues Böses, die Langsamkeit«, setzen. »Wenn das Gebet die Kommunikation mit der Gottheit ist«, erläuterte Marinetti seine neue Religion, »so ist mit hoher Geschwindigkeit rasen ein Gebet.« Die Anlässe, sich im »Rausch hoher Geschwindigkeiten in Autos […] mit der einzigen Gottheit zu vereinigen«, sollten mit aller Kraft gefördert werden – besonders auch durch die »Zerstörung von Häusern und Städten, um Raum zu schaffen für große Treffplätze für Autos und Flugzeuge« (zitiert nach Fromm, 1974, S. 313). Der Psychoanalytiker Erich Fromm erblickte in dieser Vergötterung von Geschwindigkeit, Maschinen und Zerstörung deutliche Symptome von Nekrophilie (der Liebe zum Toten als extremer Ausprägung bösartiger Aggression). Während Marinetti aufgrund

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der »revolutionären« Rhetorik seiner Manifeste von manchen als kultureller Avantgardist bewundert wird, meinte Fromm, dass seine Ideen ihm im Gegenteil »einen Platz in der Nähe Mussolinis und noch näher bei Hitler zuweisen. Es ist genau diese Verquickung rhetorischer Bekenntnisse zum revolutionären Geist mit der Vergötterung der Technik und mit destruktiven Zielen, was den Nazismus kennzeichnet« (Fromm, 1974, S. 313). Marinetti wurde später Kulturminister in der faschistischen Regierung Italiens und blieb bis zu seinem Tod 1944 Anhänger Mussolinis. Die Verherrlichung der Geschwindigkeit als wesentlicher Bestandteil der faschistischen Mentalität kam bereits im ersten Dekret des Mussolini-Regimes zur Straßenverkehrspolitik zum Tragen. Darin wurden alle Verkehrssteuern für Kraftfahrzeuge abgeschafft und alle Geschwindigkeitsbegrenzungen beseitigt. Die Zahl der Straßenverkehrstoten stieg danach rasch und steil nach oben. Kurz nach ihrer Machtergreifung folgten auch die deutschen Nationalsozialisten dem italienischen Vorbild – natürlich mit den gleichen tödlichen Folgen auf den Straßen des Dritten Reichs (Wolf, 2007, S. 163 ff.).

Das Elend des Tempowahns Wer die Beseitigung von Geschwindigkeitsbegrenzungen für Autos als »freie Fahrt für freie Bürger« bejubelt, mag also gern bedenken, dass ihre historischen Wurzeln auf eine Regierungsform zurückgehen, unter der es um die Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger ganz und gar nicht gut bestellt war. Seit jener Zeit hat jedenfalls die propagierte und praktizierte Faszination für Geschwindigkeit auf den Straßen der Welt Dutzende Millionen Todesopfer und Hunderte Millionen Schwerverletzte gefordert (Wolf, 2007, S. 319 ff.). Und sie wird voraussichtlich auch in den kommenden Jahrzehnten noch einen ähnlich hohen Blutzoll fordern, falls unserer Zivilisation keine Neubesinnung auf ein menschlicheres Maß gelingen sollte. Ob sich ein entsprechendes Umdenken auf breiter Basis durchsetzen könnte, ist gewiss eine offene Frage. Nach wie vor dominiert der Tempowahn einen großen Teil unseres gesellschaftlichen Lebens. Andererseits ist eine so vorbehaltlose Vergötterung der Geschwindig-

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keit wie zu Marinettis Zeiten heute kaum noch vorstellbar. Dafür hat sich die Erfahrung ihrer schwer erträglichen Nebenwirkungen in der Zwischenzeit wohl über allzu viele Wahrnehmungskanäle im vorherrschenden Bewusstsein einnisten können. Als eine Art feinen Sensor für eine historische Gegenströmung gegen den von Marinetti so zugespitzt repräsentierten Geschwindigkeitswahn kann man die breite internationale Ausstrahlung eines 1974 erschienenen Buches deuten, das den Titel »Die sogenannte Energiekrise oder Die Lähmung der Gesellschaft« trug. Der Theologe und Philosoph Ivan Illich hielt darin ein umsichtiges, aber auch leidenschaftliches Plädoyer für eine sehr weitgehende Reduktion der Geschwindigkeiten und des Energieverbrauchs in unserer Zivilisation. Wie deutlich dieses Plädoyer am kulturellen Gegenpol von Marinettis Parolen angesiedelt war, kann man allein schon am Motto ablesen, das dem Buch vorangestellt ist. Im scharfen Kontrast zu Marinettis Visionen der Zerstörung von Museen, Bibliotheken oder gar ganzen Städten, um reichlichen Platz für rasante und lärmende Fortbewegungsmittel zu erzwingen, wählte Illich einen Ausspruch zum Leitgedanken, der von José Antonio Viera-Gallo, dem Staatssekretär für Justiz in der von Salvador Allende geführten sozialistischen Regierung Chiles stammte: »Al socialismo se puede llegar solo en bicicleta« (»Den Sozialismus kann man nur auf dem Fahrrad erreichen«) (Illich, 1974, S. 7). Im Sinne dieser Orientierung fand Illich auch große Beachtung für seine überraschende These, dass das Transportwesen über einem Tempo von bereits 25 Stundenkilometern nicht umhin könne, seinen eigentlichen Zweck zunehmend zu durchkreuzen, da höhere Geschwindigkeiten neben vielfältigen sozialen Verwerfungen eine untragbare Verschwendung an Energie, Material und besonders auch an Zeit mit sich bringen müssten. »Überall nimmt der Verkehr mit der Verfügbarkeit kraftstrotzender Transportmittel unbeschränkt zu. […] Jenseits einer gewissen kritischen Schwelle ist der Zeitverlust, den die Produkte der Transportindustrie verursachen, größer als die Ersparnis« (Illich, 1974, S. 34). Im Detail rechnete er zum Beispiel vor, dass eine Person mit einem Durchschnittseinkommen mit einem Auto in der Gesamt-Zeitbilanz wesentlich langsamer vorankommt als mit einem Fahrrad – sobald man auch nur die Zeit für

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den Gelderwerb einbezieht, den sie für Autokauf, Treibstoff, Reparaturen, Straßenbausteuern, Versicherungen oder Strafzettel benötigt. Ein US-amerikanischer Durchschnittsbürger verbrachte demzufolge »vier seiner 16 wachen Stunden auf der Straße oder damit, die Mittel für den Betrieb des Autos zu beschaffen. […] In Ländern, in denen eine Transportindustrie fehlt, schaffen die Menschen dieselbe Geschwindigkeit […] – und sie wenden für den Verkehr nicht 28 Prozent, sondern nur 3 bis 8 Prozent ihres gesellschaftlichen Zeitbudgets auf« (S. 26 f.). Der von Verbrennungsmotoren angetriebene Transport blockiert darüber hinaus »die Mobilität, indem er die Umwelt mit Fahrzeugen und Straßen vollstopft. Er verwandelt die Geographie in eine Pyramide von Verkehrskreisen, die je nach Beschleunigungsstufe hermetisch voneinander abgeschlossen sind. Im Dienst der Geschwindigkeit raubt er Lebenszeit« (S. 62). Vor dem Hintergrund dieser Logik zunehmenden Lebenszeitverlusts durch zunehmende Geschwindigkeit  – in der das Verkehrswesen offensichtlich nur eine Facette innerhalb einer viel umfassenderen Entwicklung darstellt – kann es kaum überraschen, wenn heutzutage von so vielen mit großer Selbstverständlichkeit über Stress geklagt wird. Der scheint den Alltag fast aller durchwegs im Griff zu haben. Dass jemand, der nicht über Stress klagt, andererseits Gefahr läuft, als nicht ausgelastet oder faul zu gelten, weist freilich auch auf den weiterhin sehr mächtigen Einfluss des Beschleunigungswahns hin. Wie dem auch sei: »Stress« ist ein Begriff, der sich dem Philosophen Ralf Konersmann zufolge »Mitte des letzten Jahrhunderts explosionsartig ausbreitete und dem Lebensgefühl ganzer Generationen das Stichwort gab […].« Seit seiner Popularisierung »rollen die schnellfertigen, schon im Blick auf ihre Medientauglichkeit gestellten Diagnosen in Wellen über das Publikum hin, und mit bezeichnender Regelmäßigkeit finden sich Zeitbeobachter, die das tagesaktuelle Syndrom verallgemeinern und auf die Titelseite setzen: das ›Zeitalter der Nervosität‹, des ›Burnout‹, des ›Stress‹.« Solche Kommentare »machen die Unruhe, unter Anwendung ihres Prinzips auf sie selbst, zum medialen Dauerbrenner und werden so zum Teil des Spiels. Selten in der langen Zeit ihrer Geschichte hat die Unruhe so mühelos triumphiert wie in den Sprachspielen dieser heiß

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laufenden Diagnostik und den öffentlichen Kampagnen gegen die ›Stressfalle‹« (Konersmann, 2015, S. 41 f.).

Blinde Flecken hinter einer allzu bequemen Einhelligkeit Ganz gleich, ob unter dem Vorzeichen der Klage über den Stress oder der Faszination von Geschwindigkeit: Die meist mühelos erreichbare Zustimmung zur pauschalen Einschätzung, dass einfach »alles« immer schneller werde, sollte auch ein wenig stutzig machen. Wenn ein Thema ohne Bemühen um feinere Details oder Unterscheidungen quasi eilig abgehakt und »durchgewinkt« wird, so liegt der Verdacht auf der Hand, dass man einer näheren Auseinandersetzung mit ihm lieber ausweichen möchte. Und dass dieses Ausweichen vor allem schwer erträglichen Gefühlen gilt, die durch diese Auseinandersetzung wachgerufen würden. Einen geschärften Blick für unsere mächtige Bereitwilligkeit zum Ausweichen vor Gefühlen oder Realitäten, die uns zu sehr verunsichern oder ängstigen, verdanken wir Sigmund Freud. Seine Erkenntnisse über die Beweggründe und Mechanismen von Verdrängung – das heißt über die in uns wirksamen Kräfte der Zensur gegen unbewusste Regungen und Wahrnehmungen – bilden ja auch den »Grundpfeiler, auf dem das Gebäude der Psychoanalyse ruht, so recht das wesentlichste Stück derselben« (Freud, 1914/1999, S. 54). Solche Kräfte der inneren Zensur erblickte Freud auch bei führenden Nervenärzten seiner Zeit, die die damals sehr auffällige Zunahme neurotischer Störungen allzu pauschal und vereinfachend auf die Beschleunigung des modernen Lebens zurückführten. Als Beispiel führte er unter anderem Wilhelm Erbs einflussreiches Werk »Über die wachsende Nervosität unserer Zeit« (1893) an. Der Pionier der deutschen Neurologie äußerte darin: »[…] durch den ins Ungemessene gesteigerten Verkehr, durch die weltumspannenden Drahtnetze des Telegraphen und Telefons haben sich die Verhältnisse in Handel und Wandel total verändert: alles geht in Hast und Aufregung vor sich, die Nacht wird zum Reisen, der Tag für Geschäfte benützt, selbst die ›Erholungsreisen‹ werden zu Strapazen für das Nervensystem« (zitiert nach Freud, 1908/1999,

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S. 146). Aus dem Standardwerk des Jugendpsychiaters Otto Binswanger »Die Pathologie und Therapie der Neurasthenie« (1896) zitierte Freud den Hinweis auf »die nahen Beziehungen, welche das moderne Leben, das ungezügelte Hasten und Jagen nach Geld und Besitz, die ungeheuren Fortschritte auf technischem Gebiete, welche alle zeitlichen und räumlichen Hindernisse des Verkehrslebens illusorisch gemacht haben, zu dieser Krankheit aufweisen« (Freud, 1908/1999, S. 147). »Ich habe an diesen – und vielen anderen ähnlich klingenden – Lehren auszusetzen«, meinte Freud dazu, »nicht dass sie irrtümlich sind, sondern dass sie sich unzulänglich erweisen, die Einzelheiten in der Erscheinung der nervösen Störungen aufzuklären […].« Kein Zweifel: Solche Anklagen gegen die Belastungen der modernen Beschleunigung hatten (und haben) ihre klare Berechtigung – und fanden (und finden) ja auch bereitwillige und breite Zustimmung. Gleichzeitig betrachtete Freud sie aber auch als allzu glatte und gefällige Fassade, hinter der ein für die »moderne Nervosität« weitaus wichtigerer Zusammenhang unsichtbar gemacht wurde: »[…] die schädliche Unterdrückung des Sexuallebens der Kulturvölker (oder Schichten) durch die bei ihnen herrschende ›kulturelle‹ Sexualmoral« (Freud, 1908/1999, S. 148). Diese spezielle Kritik Freuds (am Ausblenden der Unterdrückung sexueller Triebregungen) soll hier nicht näher beleuchtet werden. Sie soll nur ein Indiz für den grundlegenden Verdacht liefern, dass eilfertig verallgemeinernde Urteile dem uneingestandenen Zweck dienen, so manchen »schwierigen« Themen auszuweichen, die den Blick auf unbequeme Wahrheiten, heftige Widersprüche oder verunsichernde Aspekte richten würden. Bei jeder sorgfältigeren Betrachtung wird jedenfalls schnell deutlich: Die modernen Beschleunigungstrends sind nicht wie ein Tsunami, der alle Bereiche und Aspekte unseres Lebens quasi in einem einzigen Schwall mit sich reißen würde. Es wird nicht einfach »alles immer schneller« – manches wird auch langsamer, anderes bremst die Beschleunigung, wieder anderes führt sogar zu einer tiefen Lähmung. Unter dem vielen, das tatsächlich schneller wird, sollte man möglichst genau zwischen verschiedenen Ebenen unterscheiden. Und auch das Verhältnis zwischen diesen Ebenen ist nicht frei von Widersprüchen.

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Ein besonders mächtiger blinder Fleck Unter diesen Widersprüchen, auf die ein achtsamer Blick schnell stoßen müsste, gibt es nun einen, der besonders gespenstisch anmutet. Angesichts seiner Radikalität und unerhörten Tragweite  – aber besonders auch angesichts seiner leichten Erkennbarkeit – müsste er eigentlich einen hervorstechenden Brennpunkt in der Diskussion über moderne Beschleunigung bilden. Tatsächlich findet er aber nur selten Beachtung. Und wenn er hin und wieder doch einmal aufgegriffen wird, dann meist nur im flüchtigen Vorbeieilen. Dieser Widerspruch ergibt sich aus einem sehr einfachen Umstand: Ganz grundsätzlich können beschleunigende Entwicklungen auf technischer Ebene aus sich heraus die Geschwindigkeit des Alltagslebens unmöglich erhöhen oder antreiben; sie müssten sie im Gegenteil verringern. Jede konkrete technische Beschleunigung bringt es mit sich, dass die für die entsprechende Arbeit oder Erledigung erforderliche Zeit abnimmt. Ein Teil des Zeitaufwands, der zuvor noch an sie gebunden war, steht nunmehr zur freien Verfügung. Je schneller die technischen Geräte, Maschinen oder Abläufe also werden, desto mehr Gemächlichkeit, freie Zeit und Muße müsste sich somit in unserem Leben breitmachen können. Wenn dies in der Praxis nun dennoch nicht der Fall ist, so muss es dafür zweifellos sehr gewichtige Ursachen geben. Im Gegensatz zu einer sich für eine große Mehrheit scheinbar »von selbst verstehenden« Sichtweise müssen diese Ursachen aber woanders zu suchen sein als in der spektakulären Geschwindigkeit als solcher, die die modernen Technologien in so vielen Bereichen an den Tag legen. Dass der grundsätzlich verringernde Einfluss der Beschleunigung der Technik auf die Geschwindigkeit des Alltagslebens so selten Beachtung findet, mutet nicht nur »unwirklich« und gespenstisch an angesichts der geringen gedanklichen Anstrengung, die erforderlich wäre, um ihn zu verstehen. Vor allem handelt es sich dabei ja auch um alles andere als ein Thema, das bloß in irgendwelchen philosophisch abgehobenen Sphären beheimatet wäre, die nur für spezialisierte Gelehrte interessant sind. Ob uns die schneller werdenden Technologien immer mehr Stress, Hektik und Zeitnot bereiten müssen oder von sich aus vielmehr in die entgegengesetzte Rich-

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tung wirken, betrifft die Qualität unseres Lebens in seiner ganzen Länge und Breite. Eigentlich unvorstellbar, dass diese Frage irgendjemanden kalt lassen könnte. Wenn ein leicht erkennbarer und lebenspraktisch so wichtiger Zusammenhang der bewussten Aufmerksamkeit der meisten Menschen dennoch so stark entzogen ist, so muss der »blinde Fleck« schon sehr massiv sein, der den Blick auf die entsprechenden Realitäten trübt. Er erinnert an typische Situationen in Kriminalromanen à la Sherlock Holmes (die auch oft mit psychoanalytischen Formen der Spurensuche verglichen werden [vgl. Lorenzer, 1986, S. 70 ff.]): Dem ermittelnden Detektiv gelingt es trotz intensiver Bemühung längere Zeit nicht, gerade die wichtigsten Details, die entscheidenden Indizien zur Lösung seines Mordfalls zu entdecken, obwohl er sie direkt vor Augen hat. Der in der englischen Sprache geläufige Ausdruck »to hide in plain sight« (»sich in voller Sichtbarkeit verstecken«) vermittelt eine besonders einprägsame Vorstellung solcher blinden Flecken, die in ähnlicher Weise auch in der deutschen Redewendung »Den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen« zur Geltung kommt. Wie mächtig ihre Wirkung ganz allgemein sein dürfte, mag man nicht zuletzt einer von George Orwells bekanntesten Bemerkungen entnehmen, dass es »einer ständigen Anstrengung bedarf, um das zu erkennen, was sich direkt vor der eigenen Nase abspielt« (Orwell, 1946/1970, S. 154). In so manchen Büchern über unsere moderne Beschleunigung kommt ein solches Erkennen des »sich direkt vor der eigenen Nase Abspielenden« immerhin in beiläufig aufblitzenden Beobachtungen oder Fragen zur Geltung. So stellt sich zum Beispiel für den Erziehungswissenschaftler Fritz Reheis als die freilich »harmloseste« unter den von ihm in Betracht gezogenen Fragen: »Wo bleibt eigentlich die gewonnene Zeit? Die Beschleunigung müsste doch jede Menge Zeit einbringen, tatsächlich aber vermehrt sich allzu oft der Stress« (Reheis, 1996/2015, S. XI). Ähnlich fragt sich auch der Dokumentarfilmregisseur Florian Opitz: »[…] wo ist die Zeit eigentlich hin, die wir uns in den letzten Jahrzehnten durch die immer ausgeklügelteren Technologien, Synergieeffekte und Effizienzmodelle des digitalen und spätkapitalistischen Zeitalters gespart haben? Wer hat sie sich unter den Nagel gerissen?« (Opitz, 2011, S. 18). »[…] wir

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verfügen über Technologien, die uns sogenannten Zeitgewinn ermöglichen« – schreiben auch die Bildungswissenschaftler Andreas Dörpinghaus und Ina Katharina Uphoff – »insgesamt müssten wir also entspannt sein. Und dennoch zerrinnt uns die Zeit, haben wir den Eindruck, sie risse uns mit sich, beschleunigt, gibt Gas« (Dörpinghaus u. Uphoff, 2012, S. 63). Der Sozialpsychologe Robert Levine bezeichnet es gar als »eine der großen Ironien der Moderne, dass wir trotz all unserer zeitsparenden Erfindungen heute weniger Zeit für uns selbst haben als je zuvor« (Levine, 1999, S. 41). Dem Soziologen Hartmut Rosa kommt das Verdienst zu, diese Frage nicht bloß flüchtig gestreift, sondern sie im Gegenteil zum zentralen Ausgangspunkt seiner Bemühungen gemacht zu haben. Sein für die neuere Forschung und Diskussion höchst anregendes Werk »Beschleunigung« beginnt mit der Feststellung: »›Das Tempo des Lebens hat zugenommen‹ und mit ihm Stress, Hektik und Zeitnot, so hört man allerorten klagen – obwohl wir […] auf nahezu allen Gebieten des sozialen Lebens mithilfe der Technik enorme Zeitgewinne durch Beschleunigung verzeichnen können. Wir haben keine Zeit, obwohl wir sie im Überfluss gewinnen. Dieses ungeheure Paradoxon der modernen Welt zu erklären, seiner geheimen Logik auf die Spur zu kommen«, erklärte er denn auch zum wesentlichen Ziel seiner umfangreichen Studie (Rosa, 2005, S. 11). In diesem Bestreben konnte er besonders auch die Notwendigkeit deutlich machen, sich vom »ebenso verbreiteten wie eklatanten Trugschluss« zu verabschieden, mit dem »die subjektiven Phänomene von Stress, Hektik und Zeitnot im populärwissenschaftlichen Diskurs immer wieder einsinnig auf die ungeheure technische Beschleunigung zahlreicher Prozesse zurückgeführt werden, welche auf den ersten Blick die mächtigste Triebfeder der ubiquitären sozialen und kulturellen Beschleunigung zu sein scheint« (Rosa, 2005, S. 117). Wie hartnäckig sich der blinde Fleck hält, durch den der grundsätzliche Gewinn an Zeit und Muße durch technische Beschleunigung ausgeblendet wird, mag man indirekt auch anhand des Umstands ermessen, dass dieser Zusammenhang in manchen geschichtlichen Phasen immerhin ansatzweise Eingang in ein breites öffentliches Bewusstsein gefunden hat, danach aber wieder zu großen Teilen verloren gehen konnte – was die Deutung einer his-

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torischen Amnesie, das heißt einer Zunahme der Kräfte der Zensur auf breiter Front immerhin nahelegt. Ein besonders augenfälliges Beispiel dafür liefert ein Vergleich zwischen der Mitte des 20. Jahrhunderts und unserer aktuellen gesellschaftlichen Konjunktur. Während die Möglichkeit eines Dank technischer Beschleunigung organisierbaren Lebens ohne Zeitknappheit und Hektik heute fast nur noch einer Minderheit bewusst ist, die sich vorherrschenden Denkgewohnheiten gegenüber eine kritische Distanz bewahrt, fand diese Aussicht vor etwas mehr als einem halben Jahrhundert noch so breite Zustimmung, dass dies etwa 1964 im führenden US-Wochenmagazin Life in der großen Schlagzeile zum Ausdruck kommen konnte: »Americans Now Face a Glut of Leisure – The Task Ahead: How to Take Life Easy« (»Die Amerikaner müssen nun mit einer Überfülle an Muße rechnen – Die anstehende Aufgabe: Wie man das Leben leicht nehmen kann«) (zitiert nach Rosa, 2005, S. 11). Besonders kennzeichnend für diesen breiten Konsens war zweifellos auch der vom deutschen Wirtschaftsminister und späteren Bundeskanzler Ludwig Erhard veröffentlichte Bestseller »Wohlstand für alle«, in dem der »Vater des deutschen Wirtschaftswunders« seine sichere Erwartung äußerte, »dass zu Recht die Frage gestellt wird, ob es noch immer richtig und nützlich ist, mehr Güter, mehr materiellen Wohlstand zu erzeugen oder ob es nicht sinnvoller ist, […] mehr Freizeit, mehr Besinnung, mehr Muße und mehr Erholung zu gewinnen« (Erhard, 1957, S. 244).

Drei eigenständige Beschleunigungsdimensionen und ihre Antriebsquellen Das scharfe Schlaglicht, das Hartmut Rosa auf die entgegengesetzten Richtungen werfen konnte, in die die Geschwindigkeiten der technischen Abläufe und des Alltagslebens für sich genommen hinstreben müssten, lieferte auch einen Anstoß zu einer bahnbrechend neuen Sichtweise auf die modernen gesellschaftlichen Beschleunigungstrends. Wesentlich ist dabei Rosas grundsätzliche Kritik an herkömmlichen Denkgewohnheiten, verschiedene Bereiche, Grundformen und Antriebsquellen von Beschleunigung mehr oder weniger pauschal »in einen Topf zu werfen«, das heißt, sie im Sinne einer

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weitgehend gleichförmig zum Tragen kommenden Entwicklung zu verstehen. Sein konsequentes Bemühen, viele in der vorherigen Literatur vermischten Ebenen, Motive oder Aspekte klar voneinander zu unterscheiden, eröffnete überaus fruchtbare Einblicke in deren jeweilige Besonderheiten und Eigendynamiken, vor allem aber auch auf die zwischen ihnen sehr unterschiedlich zum Tragen kommenden wechselseitigen Einflüsse. Innerhalb des komplexen Theoriegebäudes, das Rosa auf dieser Grundlage entwickeln konnte, kristallisierte sich als zentraler Baustein – der gewissermaßen auch die am weitesten verzweigten »Tragbalken« seiner Theorie stützt – die Unterscheidung zwischen den folgenden drei grundlegenden Sphären (oder Dimensionen) gesellschaftlicher Beschleunigung heraus (Rosa, 2005, S. 124 ff.): Ȥ der technologischen Beschleunigung in Transport, Kommunikation und Produktion; Ȥ der Beschleunigung des sozialen Wandels im Sinne einer Schrumpfung der historischen Zeiträume, innerhalb welcher die Rahmenbedingungen des gesellschaftlichen Lebens und der individuellen Biografien als im Wesentlichen gleichbleibend wahrgenommen werden; und Ȥ der Beschleunigung des Lebenstempos im Sinne einer Steigerung der Handlungs- und Erlebnisepisoden pro Zeiteinheit in unserem Alltagsleben. Als schwergewichtige Antriebsquellen betrachtet Rosa: für die technologische Beschleunigung: die Anreiz- und Zwangsmechanismen der kapitalistischen Konkurrenz; für die Beschleunigung des sozialen Wandels: die zunehmende funktionale Differenzierung moderner Gesellschaften; und für die Beschleunigung des Lebenstempos: die sich in der neuzeitlichen Entwicklung herausbildenden Reaktionen auf die Tatsache unserer Sterblichkeit (Rosa, 2005, S. 256 ff.). Ein entscheidender Kritikpunkt, den er gegenüber anderen Untersuchungen und Theorien geltend macht, beruht auf seiner Einschätzung, dass in nahezu allen Studien »zumeist reflexionslos eine dieser drei Formen oder Sphären sozialer Beschleunigung in den Mittelpunkt gestellt [wird], während Phänomene aus den ande-

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ren Bereichen dann fälschlich unter die jeweilige Leitkategorie subsumiert werden« (Rosa, 2005, S. 114). Demgegenüber hat Rosa mit seiner reichhaltig belegten und sorgfältig differenzierenden Gesamtschau auf diese drei Sphären die Grundlagen für eine bis dahin fehlende »systematische Einbettung von Zeit und Beschleunigung in eine Theorie der Moderne« geschaffen, die sich deutlich von unüberschaubar vielen »Zeittheorien und Bremshilfen« abhebt, die sich entweder »im Detail [verlieren]« oder aber als »zwar profund, aber einseitig« erweisen (Assheuer, 2006). Indem er damit »schmerzhaft und genau einen Nerv [traf]«, konnte er zeigen, »dass die eigentliche Grundkraft der Moderne die stumme normative Gewalt der Beschleunigung sei« (Rühle, 2018). Das wissenschaftliche Neuland, das Rosa mit seinen ebenso originellen wie systematischen Perspektiven auf breiter Front erschließen konnte, liefert einen nun kaum mehr verzichtbaren, auf jeden Fall aber überaus hilfreichen Rahmen für die weitere Forschung und Diskussion. Aus diesem Grund werden einige von Rosas wichtigsten Zuordnungen und Argumentationssträngen quasi als grobe Schablone für den inhaltlichen Aufbau meiner nachfolgenden Ausführungen dienen. Nach meiner Einschätzung bieten sie besonders brauchbare Kriterien und Anhaltspunkte, um sich in der enormen Fülle von in Frage kommenden Beobachtungen, Erkenntnissen und Deutungen sinnvoll zurechtzufinden. Sie erleichtern es daher auch, meine eigenen Reflexionen, Argumente und wissenschaftlichen Suchbewegungen in ihre größeren Zusammenhänge einzubetten und sie damit auch auf ihre konkrete Sinnhaftigkeit und Relevanz hin auszuloten.

Technologische Beschleunigung und kapitalistischer Konkurrenzdruck Unter den eben genannten drei Dimensionen oder Sphären kann jene der technologischen Beschleunigung gewiss die spektakulärste Sichtbarkeit für sich beanspruchen. Ihre ins Auge springende Eindrücklichkeit trägt auch besonders zur Popularität der unreflektierten Auffassung bei, dass es grundlegend an ihr liege, wenn unser Alltagsleben so hektisch und wechselhaft geworden ist.

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In diesem Sinne bringen Beobachtungen wie die folgenden offenkundig eine in unserer Gesellschaft überwiegend geteilte Sichtweise recht anschaulich zur Geltung: »Schnellere Autos, schnellere Bahnen, schnellere Flugzeuge … unser Zeitalter ist besessen von der Geschwindigkeit. Die Straßen der Innenstädte sind zu gefährlichen Rennpisten geworden, die Vorstädte zu Park-and-Ride-Zonen, die Gebiete zwischen den Städten zu Schnellstraßen, Schienenwegen, Startbahnen. Tempo, Hektik und Stress prägen den Arbeitsalltag, und selbst in den Ferien wissen wir nichts Besseres zu tun als die Raserei fortzusetzen: als Skifahrer auf den zu schiefen Ebenen reduzierten Bergen, als Surfer auf den glatten Oberflächen der Flüsse und Seen, als Reisende, die sich gleichsam selbst zum Projektil machen und an den Ort ihrer Bestimmung schießen lassen. Kein Zweifel: Die Geschwindigkeit ist die Göttin dieser Tage, und die Zahl der Opfer, die man ihr Jahr für Jahr bringt, bewegt sich allein in Europa in der Größenordnung mehrerer Kleinstädte« (Breuer, 1995, S. 155). Unverkennbar haben die durchschnittlichen Geschwindigkeiten in Transport, Kommunikation und Produktion im Laufe der letzten Jahrhunderte nicht nur in schwindelerregendem Maße, sondern auch in einem exponentiellen Rhythmus zugenommen – womit sich also auch die Geschwindigkeit der Geschwindigkeitssteigerung immer mehr gesteigert hat. Auch die zunehmende Vernetzung zwischen den Technologien von Transport, Kommunikation und Produktion fügt der Beschleunigungsdynamik noch weitere Steigerungsimpulse hinzu. »Der herkömmliche Transport von Gütern wie Tonträgern oder Büchern wird mittels Digitalisierung ersetzt durch eine Form der reinen Informationsübermittlung, und in ähnlicher Weise können materiale Produktionsprozesse (etwa die Entwicklung von Designs oder architektonischen Modellen) durch Virtualisierung in informationsverarbeitende Prozesse verwandelt werden« (Rosa, 2005, S. 128). Auf der Ebene des Transports führte die technologische Beschleunigung besonders auch dazu, dass geografische Räume und Entfernungen in der historischen Tendenz mehr und mehr nach dem Maßstab der Zeit wahrgenommen wurden, die jeweils notwendig war, um sie mit den meistgenutzten Verkehrsmitteln zu durchqueren. Statt in Kilometern oder Meilen wurde eine bestimmte Entfernung

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somit zunehmend mehr in Tagen, Stunden oder Minuten angegeben. Da diese Zeit-Mengen immer schneller abnahmen, schrumpften dementsprechend auch die wahrgenommenen Räume. Wie der Geograf David Harvey aufzeigen konnte, »schrumpfte« in diesem Sinne der Umfang der Erde allein zwischen der Mitte des 19. und des 20. Jahrhunderts auf ein bloßes Sechzigstel (!) zusammen (Harvey, 1990, S. 241). Durch die Überwindung räumlicher Hindernisse scheint die Welt sich daher »manchmal nach innen auf uns hin zusammenzudrängen. […] Da der Raum zu einem ›globalen Dorf‹ der Telekommunikation und zu einem ›Raumschiff Erde‹ von wirtschaftlichen und ökologischen Verflechtungen zu schrumpfen scheint […] und sich Zeithorizonte auf einen Punkt hin verkürzen, an dem es nur noch die Gegenwart gibt […], müssen wir lernen, mit einem überwältigenden Gefühl der Komprimierung unserer räumlichen und zeitlichen Welten umzugehen« (S. 240). Vor allem die beschleunigte Informationsübermittlung bringt dabei »der Tendenz nach jeden jederzeit mit jedem weltweit in kommunikative Verbindung« (Rosa, 2005, S. 171) – womit die räumliche Dimension der Beschleunigung in weiterer Perspektive freilich auf eine überaus paradoxe Umkehrbewegung hinsteuert. Die rasante Zunahme der Bewegungen von Personen und Gütern rund um den gesamten Globus wandelt sich so allmählich zur Tendenz, »Orte und Güter durch Virtualisierung und Digitalisierung gleichsam zu vervielfältigen und von überall her ›stationär‹ zugänglich zu machen.« In zu Ende gedachter Konsequenz werden fließende Datenströme schließlich »sämtliche Raumqualitäten der Erde […] so realitätsecht an jeden Ort der Welt übermitteln (können), dass jeder Versuch einer ›realen‹ Ortsbestimmung gegenstandslos wird […]« (S. 167). Subjektive Identitäten werden im Zuge dieser Entwicklungen »der Tendenz nach […] ebenso ortlos wie Orte identitäts- und geschichtslos« (S. 174). In besonders origineller Weise hat Paul Virilio, der philoso­ phische Begründer der Forschungsrichtung »Dromologie« (die man als Wissenschaft vom Wesen der Geschwindigkeit und ihren Auswirkungen definieren könnte), diesen Zusammenhang mit seiner Konzeption eines sich in unserem Zeitalter immer deutlicher abzeichnenden »rasenden Stillstands« beleuchtet. Unter anderem be-

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zieht er sich dabei auf eine mit steigender technischer Bewegungsgeschwindigkeit zunehmende körperliche Bewegungslosigkeit der fahrenden bzw. beförderten Personen, vor allem aber auch auf einen damit einhergehenden Verlust des sinnlichen Erlebens der durchquerten Räume. Nach dem kulturprägenden Vorbild des Rennfahrers – der »zunächst die Beschleunigung beherrschen, die Maschine in der Spur halten muss und die Einzelheiten des ihn umgebenden Raums nicht mehr beachtet« – würde es für uns alle tendenziell »nicht mehr darum gehen, die Landschaft zu bewundern, sondern einzig darum, ihre Bildschirme, ihre Skalen, die Steuerung ihrer interaktiven Bahn zu überwachen, das heißt die einer Bahn ohne Bahn, eines Zeitraums ohne Zeitraum« (Virilio, 1997, S. 135). Derart überlasse »die Entfernung ihren Platz plötzlich einer augenblicklichen Sende- und Empfangsleistung […]« (S. 98). »Da wir, ähnlich dem Flieger im Unterschiede zum Fußgänger, weg-unbedürftig geworden sind« – hatte in ähnlicher Weise auch schon der Philosoph Günther Anders in seinem Hauptwerk »Die Antiquiertheit des Menschen« moniert – »verfällt auch die Kenntnis der Wege der Welt, die wir früher befahren, und die uns erfahren gemacht hatten; damit verfallen auch die Wege selbst. Die Welt wird weglos. […] statt dass wir zu den Ereignissen hinfahren, werden diese nun vor uns aufgefahren« (Anders, 1956/2002, S. 114). Auch der Befund der Erziehungswissenschaftlerin Marianne Gronemeyer bringt einen ähnlichen Blickwinkel zur Geltung. »Welch ein gestörtes Verhältnis zur Entfernung der moderne Mensch hat, zeigt sich daran, dass er kaum etwas anderes von ihr zu sagen weiß, als dass sie überwunden werden muss« – um jenem ersehnten Fluchtpunkt im Anderswo möglichst schnell und unbehindert zuzueilen, von wo aus das richtige Leben uns zuzuwinken scheint: »Das Wesentliche spielt sich notorisch andernorts ab. Vor das Eigentliche haben die Götter die Distanz gesetzt« (Gronemeyer, 1996, S. 107). Noch weiter auf die Spitze getrieben wird dieser radikale Beziehungsverlust zu Wegen wie Orten im Lebensstil des globalisierten Jet-Set, wie ihn etwa die Journalisten Hans-Peter Martin und Harald Schumann beschreiben: »Rund um den Erdball sind sie eingesperrt in verlässlich abstoßenden, aber zum Verwechseln ähnlichen Flughäfen, Hotelketten, Kettenrestaurants, betäubt mit der gleichen Auswahl an

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Videokassetten im klimatisierten, aber muffigen Hotelzimmer. Die Seele der Rastlosen reist nicht so schnell wie der Körper, die Kraft für das Einlassen auf das Andere, Fremde, wirklich Neue gab es nie oder ist längst verflogen. So ist man überall und bleibt doch am gleichen Ort, hat alles gesehen und sieht doch nur, was man längst kennt […]« (Martin u. Schumann, 1996, S. 34 f.). Ähnlich wie die technologische Beschleunigung sich der spontanen Beobachtung eindrucksvoller und direkter aufdrängt als die Beschleunigung des sozialen Wandels und des Lebenstempos, so liegt auch der kapitalistische Konkurrenzdruck als ihre zentrale Antriebsquelle deutlicher auf der Hand als die spezifischen Antriebsquellen der beiden anderen Beschleunigungsdimensionen (auf die ich weiter unten eingehen werde). Eine prominente Stimme, die diesen Konkurrenzdruck nahezu vorbehaltlos befürwortet, ist Antonella Mei-Pochtler, eine führende globale Unternehmensberaterin mit einem ihrem Selbstverständnis zufolge »unglaublichen Drang zur Weltverbesserung« (zitiert nach Opitz, 2011, S. 113). Da es, wie sie betont, »in der Wirtschaft im Wesentlichen darum geht, sich im Wettbewerb durchzusetzen, […] hat immer derjenige einen Vorteil, der dem anderen zuvorkommt. Eigentlich geht es darum, dass ich die Lösung für ein Problem schneller schaffe als der Konkurrent. Das ist Zeitwettbewerb. […] Zeitwettbewerb bedeutet nichts anderes, als den Marktkontrahenten eine Nasenlänge voraus zu sein. Und noch wichtiger: die Zeit als Ordnungsrahmen für alle internen Prozesse anzuerkennen. Beim Zeitwettbewerb geht es darum, die produktive Zeit bestmöglich zu nutzen. Wie kann ich in der gleichen Zeit mehr bewältigen oder wie kann ich in einer kürzeren Zeit mehr produzieren als der Wettbewerber? Wettbewerb ist extrem wichtig, eigentlich die wichtigste Dimension, die man im Hinterkopf behalten sollte« (S. 102 ff.). Im Gegensatz zu Mei-Pochtlers Verständnis vom Zeitwettbewerb als unablässig vorwärts stürmendem Weltverbesserungsantrieb sieht Fritz Reheis ihn als zentrales Merkmal der entfremdenden Wirkungen der kapitalistischen Produktionsweise. Da in ihr »nicht mehr die Befriedigung des Bedarfs, sondern die Produktion von Geldüberschüssen der unmittelbare Zweck des Wirtschaftens ist«, wird eine von unerbittlichem Konkurrenz- und Innovationsdruck bestimmte

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»systematische Rückkoppelung von Gewinn und Investition […] in Gang gesetzt.« Daher treiben die grundlegenden Spielregeln »alle Akteure (Arbeitnehmer, Arbeitgeber, Geldgeber und auch politisch Verantwortliche) zur permanenten Beschleunigung des Produktionsprozesses bzw. zur Bereitstellung der Rahmenbedingungen für die Beschleunigung der Produktion.« Da letzten Endes niemand sicher sein kann, ob der eigene Einsatz sich auf dem Markt auch tatsächlich als verwertbar erweisen wird, »muss jeder Akteur, sobald er einmal aus dem Tritt gekommen ist, befürchten, von einem Misserfolgsstrudel völlig in den Abgrund gezogen zu werden. […] Wenn Geld die Welt regiert und wenn Geld Zeit ist, dann ist das unerbittliche Zeitdiktat im Begriff, eine totalitäre Herrschaft über die Welt zu errichten« (Reheis, 1996/2015, S. 81 f.). Dieses Diktat führt insbesondere auch zu einer zunehmenden »Verdinglichung und Kommodifizierung der Zeit« im Sinne ihrer strikten Zurichtung in ein »knappes, unter Effizienzgesichtspunkten zu bewirtschaftendes Gut« – wodurch sie ihre von den konkreten Lebenskontexten gefärbte Eigenart und sinnliche Erlebbarkeit immer mehr einbüßt und überwiegend nur noch als eine mechanisch gemessene, »lineare, qualitätslose und abstrakte Größe erfahren wird« (Rosa, 2005, S. 258). Wie der Philosoph und Gründer des »Vereins zur Verzögerung der Zeit« Peter Heintel bemerkt, kennt eine derart abstrakt gemachte Zeit »weder Höhen noch Tiefen; […] sie verharrt nicht, sie geht ihren kalten, unbeeinflussten Gang.« Das in diesem Zusammenhang immer mehr Macht gewinnende Messwerkzeug der Uhr »misst eigentlich nur sich selbst, das heißt das, was ihr durch ihre Mechanik oder Elektronik eingegeben ist« (Heintel, 1999, S. 167) – und »jedenfalls nicht die Zeit des Wachsens, Blühens, Vergehens. Sie haben ihre eigene Zeit, ihren eigenen Rhythmus«, der nicht von außen vorgegeben werden kann. »Der ökonomischen Vernunft ist diese Gleichgültigkeit gegenüber Messbarkeit und Daten ein Dorn im Auge. Denn Zeit ist Geld und die Unbekümmertheit des Lebens gegenüber dieser Einsicht ärgerlich« (S. 82 f.). Wie mächtig der kapitalistische Konkurrenzdruck darauf drängt, Zeit auf ihre ökonomisch verwertbare und mengenmäßig festzulegende Dimension einzuengen, kann man auch anhand eines breiten Spektrums an Beobachtungen nachvollziehen, die den von

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Heintel zur Sprache gebrachten Konflikt zwischen mechanisch gemessener und sinnlich empfundener Zeit in ähnlicher Weise thematisieren. Robert Levine spricht zum Beispiel von einem »Kampf zwischen den Kräften der Uhrzeit und jenen der Ereigniszeit.« Wenn Erstere vorherrschen, »setzt die vom Zeitmesser angezeigte Zeit den Beginn und das Ende einer Aktivität fest. Wenn die Ereigniszeit dominiert, […] beginnen und enden [Ereignisse], wenn die Teilnehmer im gegenseitigen Einverständnis ›das Gefühl haben‹, dass die Zeit jetzt richtig sei« (Levine, 1999, S. 127). Reheis versteht den »Gegensatz zwischen der Zeit des Individuums und der Zeit der Ökonomie« vor allem im Sinne einer Unvereinbarkeit zwischen den biologischpsychologischen Rhythmen unserer inneren Uhr und einer prinzipiellen »Rhythmuslosigkeit« der kapitalistischen Produktionslogik. »Das Tempo und der Takt der Arbeitswelt vergewaltigen insgesamt die Eigenzeiten und -rhythmen der Individuen« (Reheis, 1996/2015, S. 88 f.). »Wir sind der Taktung erlegen«, schreiben ähnlich auch Dörpinghaus und Uphoff, »linear gleichförmigen Zeitabschnitten, die keine Verzögerung erlauben. Der Takt ist Gewalt. Er zwingt, macht krank, raubt Zeit. Die einander fremden Prozesse der Lebensrhythmik und der Zeit-Taktung sind letztlich nicht zu synchronisieren« (Dörpinghaus u. Uphoff, 2012, S. 13). Die entfremdende Wirkung der linearen Zeit-Taktung kommt besonders augenfällig auch in den drastischen Methoden zur Geltung, mit denen sie den Heranwachsenden in der zentralen Sozialisationseinrichtung der Schule aufgedrängt wird – wie dies zum Beispiel Irmgard und Helmwart Hierdeis in einem Essay über »Schulzeiten« mit feiner Beobachtung beschreiben: »Der Stundenplan als Repräsentant der sogenannten objektiven Zeit entspricht zunächst weder den Bedürfnissen noch den Interessen noch dem Lebensgefühl der nachwachsenden Generation, weil sie sich, je jünger desto mehr, an ihrem subjektiven leiborientierten und in den frühen Beziehungen verinnerlichten Zeitempfinden ausrichtet […]. Sie wehrt sich darum gegen die von außen kommenden Regulierungen, besonders dann, wenn sie nicht erkennen kann, worin der Sinn und Nutzen der von anderen eingeteilten Zeit liegen soll. Die Einübung und Durchsetzung des fremden Zeitrasters setzt daher Kontrollmacht, Sanktionsmacht und speziell konstruierte

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Orte voraus, die die Ausübung der Kontrolle erst möglich machen. Klassenzimmer sind daher grundsätzlich so eingerichtet, dass möglichst viele Personen von möglichst wenigen anderen beaufsichtigt werden können, das heißt, dass die Abweichungen vom Zeittakt bzw. von den Tätigkeiten, die durch den Zeittakt geregelt sind, sofort entdeckt und korrigiert werden können« (Hierdeis u. Hierdeis, 2019, S. 31). Deutlicher ins Grundsätzliche zielende Formulierungen liefern die führenden Zeitforscher Karlheinz und Jonas Geißler in ihrer Gegenüberstellung von »Naturzeit« und »Uhrzeit«. »Naturzeit sorgt und bürgt dafür, dass alles seine Zeit hat, das heißt seine jeweils eigene Zeit. Die qualitätslose, entstofflichte und beliebig in kleine und kleinste Teile aufteilbare Uhrzeit hingegen ist überall und für alle gleich. Ihr liegt die Vorstellung einer Zeit zugrunde, die unabhängig von äußeren Einflüssen und körperlichen Abläufen verstreicht. […] Naturzeit ist lebendige, variable, ungenaue Zeit. Uhrzeit ist tote, standardisierte, genaue Zeit« (Geißler u. Geißler, 2017, S. 63 f.). Nur die im Zuge industrieller und bürokratischer Zurichtung »vertaktete, die von natürlichen Abläufen und Sinngehalten gereinigte Uhrzeit ist in rationale und ökonomische Effizienzkriterien, sprich: in Geld, umsetzbar und verrechenbar. Die Uhr ist es, die die Zeit zu einer Frage des Geldes macht« (S. 89). Wie tief und starr sich dieses mechanisch-qualitätslose Zeiterle­ ben in unserer Zivilisation verwurzeln konnte, mag man nicht zuletzt an so seltenen und radikalen Kontrasterfahrungen wie der eines Eintauchens »in die verschwimmende Zeit des Regenwaldes« (Parin, 1985/2008, S. 115) ermessen, von dem der Ethnopsychoanalytiker Paul Parin in seinen Erinnerungen an etliche Afrikareisen berichten konnte. »Das Gerüst von Zeit und Raum, an das der Reisende sich hält, beginnt zu schwanken und löst sich auf. Weich, aufgelockert, als ob er ein beengendes Kleidungsstück abgelegt hätte, mag er sich strecken und hineingleiten lassen. Wie eine jener Drogen, die in hoher Dose die Wirklichkeit zu Wahn und Fratzen verzerren, aber richtig genossen wohltuend lockern und lösen. Er glaubt, im tiefsten Wesenskern ein anderer geworden zu sein, obwohl es nur seine Sinne sind, die dem Geist ungewohnte Nahrung spenden« (Parin, 1985/2008, S. 103).

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Beschleunigung des sozialen Wandels und funktionale Differenzierung Die zweite der drei von Hartmut Rosa klar unterschiedenen Dimensionen der Beschleunigung – die Beschleunigung des sozialen Wandels – kann wohl am sinnfälligsten mithilfe der vom Philosophen Hermann Lübbe entwickelten Konzeption der »Gegenwartsschrumpfung« veranschaulicht werden. Als »Gegenwart« ist in diesem Zusammenhang »ein Zeitraum der Dauer bzw. Stabilität« zu verstehen, für den – wie der Historiker Reinhart Koselleck es formulierte – »Erfahrungsraum und Erwartungshorizont unverändert und damit deckungsgleich sind. Nur innerhalb solcher Zeiträume lassen sich aus gemachten Erfahrungen Schlüsse für die Gegenwart und Zukunft ziehen, und nur für sie haben Erfahrungen und Lernprozesse eine handlungsorientierende Kraft, weil ein bestimmtes Maß an Erwartungssicherheit besteht« (zitiert nach Rosa, 2005, S. 131). Eine Schrumpfung solcher Zeiträume geht dementsprechend mit einer Zunahme von soziokulturellen Änderungen und mit einem beschleunigten Veralten gewohnter Praktiken und Rahmenbedingungen einher. Lübbe beschreibt diese Schrumpfung recht sinnfällig als Abnahme der Zahl der Jahre, »über die hinaus zurückzublicken bedeutet, in eine in wichtigen Lebenshinsichten veraltete Welt zu blicken, in der wir die Strukturen unserer uns gegenwärtig vertrauten Lebenswelt nicht mehr wiederzuerkennen vermögen«. Oder – in umgekehrter Richtung – als Abnahme der Zahl jener Jahre, »über die hinaus vorauszublicken bedeutet, in eine Zukunft zu blicken, für die wir mit Lebensverhältnissen rechnen müssen, die in wesentlichen Hinsichten unseren gegenwärtigen Lebensverhältnissen nicht mehr gleichen werden« (zitiert nach Rosa, 2005, S. 132). Für die Vertrautheit von Lebensverhältnissen innerhalb eines bestimmten Gegenwartszeitraums – wie auch für deren Fehlen jenseits seiner Schwellen zu Vergangenheit und Zukunft – kommt dabei den Verhältnissen in den gesellschaftlichen Basisinstitutionen von Familie und Arbeitswelt ein vergleichsweise größeres Gewicht zu als bestimmten Bildungs- und Wissensbeständen oder technischen Errungenschaften. Auf der Grundlage dieser von Lübbe und Koselleck entwickelten »Messlatte« für die Länge von Gegenwartszeiträumen können die

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Anfänge unserer modernen Gesellschaft mit der historischen Wende markiert werden, ab der sich die Übergänge in eine »neue Gegenwart« innerhalb der Lebensspanne von drei oder vier Generationen ereignet haben – das heißt innerhalb eines Zeitraums von etwa achtzig bis hundert Jahren, in dem die ihn durchlebenden Generationen ihre soziales und kulturelles Gedächtnis miteinander teilen und aufeinander abstimmen können. »In der vormodernen Gesellschaft, in der sich der Wandel der fundamentalen sozialen Strukturen langsamer vollzieht als der vollständige Austausch der drei Generationen, die zu einer gegebenen Zeit zusammenleben können, erscheint die Zeit demgegenüber notwendig als bewegungslos und statisch, als eine Folie, vor deren traditionsbestimmtem Hintergrund sich die ungerichteten Zu- und Wechselfälle des Lebens ereignen« (Rosa, 2005, S. 360). Die klassische Formulierung der Kulturanthropologin Margaret Mead, dass »Großeltern sich für ihre neugeborenen Enkel keine andere Zukunft vorstellen können als ihre eigene Vergangenheit« (zitiert nach Erdheim, 1984, S. 276), bringt diese vormoderne Wahrnehmung besonders treffend auf den Punkt. Die radikale Umwälzung der Verhältnisse, die mit dem modernen Zeitalter in Gang kam, wird im Gegensatz dazu von einem immer schnelleren Auseinanderdriften von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont charakterisiert, dessen Dynamik »sich von einer intergenerationalen Veränderungsgeschwindigkeit in der Frühmoderne über eine Phase annähernder Synchronisation mit der Generationenfolge in der ›klassischen Moderne‹ zu einem in der Spätmoderne tendenziell intragenerational gewordenen Tempo gesteigert hat« (Rosa, 2005, S. 178). Auf der Ebene der persönlichen Lebensläufe entspricht dem Mo­ dernitätskriterium des innerhalb eines Drei-bis-vier-GenerationenZeitrahmens wahrnehmbar werdenden sozialen Wandels das zentrale Merkmal der Individualisierung. Die zunehmende Verflüssigung traditioneller Normen, Erwartungen und Rollen eröffnet einen zunehmend weiteren Horizont an Möglichkeiten und Herausforderungen, »identitätsstiftende Rollen und Beziehungen – den Beruf, den Ehepartner, die Religionsgemeinschaft, die politische Überzeugung – selbst zu finden oder zu wählen – und dann die Konsequenzen zu tragen.« Dies führt besonders auch zu einer »Verzeitlichung des Lebens« (Rosa, 2005,

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S. 357), das heißt zu einer zeitlichen Gerichtetheit und Planung für ein Identitätsprojekt, das sich im persönlichen Lebensvollzug entfalten soll. Eine anschauliche Illustration dieses psychologisch aktivierenden oder auch »beflügelnden« Aspekts der modernen Entwicklung liefert das im 18. Jahrhundert auftauchende literarische Genre des bürgerlichen Bildungs- und Entwicklungsromans, dessen Protagonisten in Überwindung zahlreicher Hindernisse danach streben, ihren selbstbestimmten Lebensweg und einen von ihnen als sinnvoll empfundenen Platz in der Welt zu finden. Auf der Ebene der breiteren gesellschaftlichen Entwicklungen entspricht der modernen Beschleunigung des sozialen Wandels vor allem die in der klassischen Aufklärung aufkommende Idee des geschichtlichen Fortschritts. Durch breite politische Willensbildung und bewusste Gestaltung sollte ein universelles, auf zukünftige Verhältnisse gerichtetes Gesellschaftsprojekt verwirklicht werden. Entwürfe oder Pläne für eine bessere Gesellschaft wurden nun nicht mehr bevorzugt in »Utopien« projiziert (im altgriechischen Wortsinn »Nicht-Orte«, das heißt jenseits des vorhandenen gesellschaftlichen Raums angesiedelte Wunschbilder), sondern auf eine gezielt anzustrebende Zukunft bezogen und gewannen damit einen festen Platz in der Geschichte und Politik. Dieser tiefgreifende Wandel von der vormodernen Wahrnehmung – in der »die geschichtliche Zeit […] als ein gleichsam statischer Zeit-Raum erfahren [wurde]« – zur neuen Befindlichkeit eines »individuellen und kollektiven In-dieZeit-gestellt-Seins« brachte auch eine »Verzeitlichung der Geschichte« mit sich. Besonders im Zuge der von Koselleck als »Sattelzeit« bezeichneten Epoche in den Jahrzehnten vor und nach 1800 konnte sich dieser Wandel nachdrücklich im öffentlichen Bewusstsein verankern: »[…] mit aller Macht [bricht sich nun] eine neue Zeiterfahrung Bahn, in welcher die Geschichte zum ›Kollektivsingular‹ wird, indem sie selbst nicht mehr als statisch, sondern als bewegt erlebt wird« (Rosa, 2005, S. 397 f.). Als grundlegende Antriebsquelle für die Beschleunigung des sozialen Wandels erörtert Rosa das für moderne Entwicklungen zentrale Prinzip der funktionalen Differenzierung – der zunehmenden Arbeitsteilung, Spezialisierung und Aufgliederung des gesellschaftlichen Lebens in getrennte Teilsysteme zur zielstrebigeren Erfüllung

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ihrer besonderen Aufgaben  –, das bereits in den Anfängen der Soziologie von Émile Durkheim und später besonders vom Systemtheoretiker Niklas Luhmann eingehend untersucht wurde. Funktionale Differenzierung tendiert grundsätzlich dazu, die Geschwindigkeit vieler Arbeitsprozesse zu steigern, indem diese von hemmenden Ansprüchen aus anderen Teilsystemen abgeschirmt werden, und den Individuen eine zunehmend diszipliniertere Zeitplanung abzufordern, um konkurrierende Ansprüche der verschiedenen Teilsysteme unter einen Hut bringen zu können – wie zum Beispiel von Beruf, Familie, Ausbildung, zivilbürgerlichem Engagement, Parteien, Interessenverbänden, Sport, Kirchen oder Vereinsleben. Während funktionale Differenzierung dadurch zwar teilweise Zeitspareffekte mit sich bringt, führt sie insgesamt aber zu einem auf breiter Basis eskalierenden – und zunehmend mehr Zeitaufwand an sich ziehenden – Innovationsdruck, der vor allem durch eine wachsende Komplexität der Kommunikation und Arbeitsteilung wie auch verschärfte Konkurrenz zwischen den Teilsystemen um Zeitressourcen angetrieben wird. »Funktionale Differenzierung […] multipliziert die Beschleunigung des sozialen Wandels, weil jede Systemoperation sich aus der Perspektive jedes anderen Systems als ein anderes Umweltereignis darstellt. Aufgrund der deshalb in wachsendem Tempo sich ändernden Umweltbedingungen sind soziale Systeme gezwungen, ihre Erwartungshorizonte […] in immer kürzeren Zeitabständen zu revidieren und ihre Synchronisationsanstrengungen ständig zu präzisieren und zu erhöhen.« Auf diese Weise »geraten etwa Politik und Rechtsetzung ebenso wie das Bildungssystem unter Druck, mit den Veränderungen, die Wirtschaft und Technikentwicklung hervorrufen, Schritt zu halten (und vice versa), während auf der Organisationsebene etwa Unternehmen gezwungen sind, auf die Vorgaben volatiler Finanzmärkte nicht nur zu reagieren, sondern diese auch zu antizipieren« (Rosa, 2005, S. 302 f.). Unter diesem steigenden Druck neigen viele Teilsysteme (Organisationen, Institutionen) auch dazu, ihren Mitgliedern gegenüber zunehmend »gierig« zu werden: »Sie begnügen sich nicht mehr mit den ihnen sozial zugewiesenen Zeit-Fenstern, sondern verlangen tendenziell nach der ungeteilten Aufmerksamkeit und den totalen Ressourcen der Subjekte. Weil aus der Binnenperspektive der je-

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weiligen Systeme oder Interaktionszusammenhänge alle anderen Aktivitäten nur störende Verzögerungen und eliminierbare Leerzeiten darstellen, wird der Zugriff hochtemporalisierter Systeme auf die Akteure tendenziell totalitär« – was entscheidend dazu beiträgt, dass »Menschen in funktional ausdifferenzierten Gesellschaften in so hohem Maße über das Gefühl berichten, ›stets gehetzt‹ zu sein und für keine Aktivität ›über genügend Zeit‹ zu verfügen« (S. 304 f.). In seinem Hauptwerk »Über den Prozess der Zivilisation« konnte der Soziologe Norbert Elias die aus funktionaler Differenzierung erwachsende Beschleunigung sozialen Wandels unter einem besonders beziehungsreichen Blickwinkel vertiefen. Die historisch immer länger und dichter werdenden »Interdependenzketten« (Beziehungen wechselseitiger Abhängigkeit), die er als zentrale Grundlage langfristiger Zivilisierungstendenzen betrachtete, führten – neben anderen weitreichenden Konsequenzen – auch zu einer systematischen Steigerung dessen, »was wir ›das Tempo‹ unserer Zeit nennen«. Das in unserem Zeitalter entstandene Interdependenzgeflecht – »das nicht nur die Meere weiter umspannt als irgendein anderes in der Vergangenheit, sondern darüber hinaus auch mächtige Binnenlandsgebiete bis zum letzten Ackerwinkel« – führte zur »Notwendigkeit einer Abstimmung des Verhaltens von Menschen über so weite Räume hin« und zu einer »Voraussicht über so weite Handlungsketten wie noch nie zuvor.« Das in diesem Zusammenhang zunehmende »Tempo unserer Zeit« ist dementsprechend »nichts anderes als ein Ausdruck für die Menge der Verflechtungsketten, die sich in jeder einzelnen gesellschaftlichen Funktion verknoten, und für den Konkurrenzdruck, der aus diesem weiten und dicht bevölkerten Netz heraus jede einzelne Handlung antreibt.« In nahezu allen Rollen innerhalb des hoch komplexen Netzwerks der modernen Zivilisation »erfordert die Funktion im Knotenpunkt so vieler Aktionsketten eine ganz genaue Einteilung der Lebenszeit […]. Man könnte an der Entwicklung der Zeitinstrumente und des Zeitbewusstseins […] mit ziemlicher Genauigkeit ablesen, wie die Funktionsteilung und mit ihr zugleich die Selbstregulierung, die dem Einzelnen auferlegt ist, voranschreitet« (Elias, 1976, S. 337 f.). Auf der Ebene der individuellen Lebensläufe erfährt der zunehmende Druck zur Selbstregulierung noch eine weitere Stei-

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gerung, die sowohl das individuelle als auch das gesellschaftliche »Zeitbudget« zusätzlich verknappt und damit indirekt auch den allgemeinen Beschleunigungsdruck anheizt. Die von Elias als »gesellschaftlicher Modellierungsprozess« bezeichnete Einpassung des heranwachsenden Individuums in die vorgegebenen Sozialstrukturen muss, um unter dem Vorzeichen zunehmender Interdependenzen auch nur annähernd erfolgreich zu sein, »eine besonders reiche Differenzierung, eine besonders intensive und stabile Regulierung des psychischen Apparats produzieren. Er nimmt daher im Allgemeinen […] mehr Zeit in Anspruch als der Modellierungsprozess in weniger differenzierten Gesellschaften« (S. 335). Der innere Widerstand gegen die Zumutungen dieses Prozesses, »die Anspannung, die diese Einpassung, diese tiefgreifende Transformation des ganzen psychischen Apparats, den Einzelnen kostet, ist immer sehr beträchtlich. Und später als in weniger differenzierten Gesellschaften erlangt daher auch der Einzelne […] mit einer Erwachsenenfunktion zugleich den psychischen Habitus eines Erwachsenen, dessen Hervortreten im Großen und Ganzen den Abschluss des individuellen Zivilisationsprozesses bezeichnet« (S. 335 f.). Die durch funktionale Differenzierung angetriebene Beschleu­ nigung des sozialen Wandels kommt somit nicht zuletzt  – wie dies auch schon in der erwähnten historischen Signalwirkung des Bildungsroman-Genres angeklungen ist – in einer starken Zunahme der Länge und Intensität des Lebensabschnitts der Adoleszenz zum Tragen. In einer klassischen Formulierung hat der Psychoanalytiker Erik Erikson die zentrale Funktion dieser Lebensphase als »psychosoziales Moratorium« beschrieben, in dessen Verlauf das Individuum vor der Herausforderung steht, »durch freies Experimentieren mit Rollen eine Nische in irgendeinem Teil der Gesellschaft« (Erikson, 1959/1980, S. 120) zu finden und in diesem Zuge eine einigermaßen konsolidierte Ich-Identität auszubilden. Wie mächtig die im Jugendalter angelegten Potenziale kultureller Innovation – und damit auch Beschleunigung – sind, kann man auch anhand der grundlegenden Unterscheidung zwischen »kalten« und »heißen« Kulturen ermessen, die auf den Pionier der Kulturanthropologie Claude Lévi-Strauss zurückgeht. »Kalte«, das heißt

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streng traditionsverhaftete, ständische oder Stammeskulturen folgen dem Prinzip, sozialen Wandel quasi »einzufrieren« und gegen jede »Veränderung ihrer Struktur, die ein Eindringen der Geschichte ermöglichen würde, verzweifelt Widerstand zu leisten« (Lévi-Strauss, 1973/1992, S. 39). Sie setzen dieses Prinzip mithilfe unerbittlicher, meist auch grausamer Formen der Initiation ins Erwachsenenleben durch, wodurch die Entwicklung der Jugendlichen auf fest vorgezeichnete Rollen und Lebenswege beschränkt bleibt. Im Gegensatz dazu zeichnen sich »heiße«, das heißt Innovationen und modernisierende Initiativen begünstigende Kulturen durch eine – wenn auch in verschiedenen Zeiten und Bereichen unterschiedlich stark ausgeprägte – Tendenz aus, »die Initiationsriten ab[zubauen], um das in der Adoleszenz liegende Veränderungspotenzial freizusetzen« (Erdheim, 1988, S. 202). Der Ethnopsychoanalytiker Mario Erdheim, der sich in seiner Jugendforschung stark von Lévi-Strauss’ Unterscheidung inspirieren ließ, schreibt zum engmaschigen »Zusammenhang zwischen der Dynamik der Adoleszenz und dem Wandel der Kultur«, dass sowohl die Motive, Kultur zu verändern als auch sie sich anzueignen und zu bewahren, die grundlegenden Erfahrungen des Jugendalters prägen und färben. »Die Adoleszenz treibt den Menschen einerseits dazu, das Überlieferte in Zweifel zu ziehen, zu verunsichern und neue Perspektiven zu suchen, und andererseits stellt sie ihn vor die Aufgabe, sich nicht zu verlieren und die Kontinuität zu wahren. Wenn der Mensch wegen seines Instinktverlustes der Institutionen als Stütze bedarf, so ist er wegen des Einschnittes, den die Adoleszenz für seinen Lebenslauf bedeutet, auf die Geschichte angewiesen. Weil der Mensch Adoleszenz hat, ist seine Welt eine geschichtliche« (Erdheim, 1984, S. 296).

Beschleunigung des Lebenstempos und unsere Flucht vor dem Tod Die letzte der drei von Hartmut Rosa unterschiedenen Dimensionen der Beschleunigung – jene des Lebenstempos – liegt unserer Alltagserfahrung am nächsten. Innerhalb der breiten Palette ihrer Erscheinungsformen kann die Beschleunigung alltäglicher Hand-

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lungen und Erlebnisse (oder auch deren zunehmendes zeitliches »Zusammendrängen«) freilich oft nur in groben Annäherungen oder zum Teil auch gar nicht »empirisch gemessen« werden. Einer der bekanntesten Versuche, sie statistisch zu erfassen, stammt von Robert Levine, der zu diesem Zweck 31 Länder miteinander verglich und dabei drei im öffentlichen Raum relativ unkompliziert messbare Indikatoren heranzog: die Gehgeschwindigkeit von Menschen auf der Straße, die Dauer des Verkaufs einer Briefmarke am Postschalter und die Genauigkeit von Uhren an Bankgebäuden (Levine, 1999, S. 37 f.). Aus den so erhobenen Daten ergab sich wenig überraschend die ausgeprägte Tendenz, dass Gesellschaften, die man als »moderner« (wohlhabender, industriell stärker entwickelt, »westlicher«, großstädtischer, individualistischer) definieren kann, von einem deutlich höheren Lebenstempo geprägt sind als »weniger moderne« (S. 179 ff.). Auch wenn die von Levine gewählten Indikatoren ein etwas willkürlich verengtes Spektrum an Beschleunigungsaspekten abbilden, passen die mit ihrer Hilfe gewonnenen Vergleichszahlen doch zur allgemeinen Entwicklung, dass sich die Geschwindigkeit des Alltagslebens »in der modernen Gesellschaft beständig erhöht, so dass jede ihrer Epochen immer wieder von Neuem beanspruchen kann, in historisch beispiellosem Rekordtempo zu leben«, und dies auch »fast immer von der Befürchtung begleitet [wird], dass das Lebenstempo zu hoch geworden ist« (Rosa, 2005, S. 195). Unter einem ähnlichen Blickwinkel wie den von Levine gewählten Indikatoren kann man dies auch an einer langen Reihe von anderen leicht beobachtbaren Aktivitäten nachvollziehen – unter anderem am zunehmenden Tempo des Fahrens, Sprechens, Lesens, Einkaufens, Kochens, Essens, Trinkens, Telefonierens, elektronischen Kommunizierens usw., was glei­chermaßen durch effizientere technische Hilfsmittel wie durch die verschiedensten Anreize oder Zwänge zu größerer Eile oder schnellerer Entscheidung bedingt sein mag. Nicht gering zu veranschlagen ist augenscheinlich auch ein breiter Trend zur Aktivitätsverdichtung durch eine Verringerung von Pausen, Leer- oder Schlafzeiten, besonders aber auch die zunehmende Praxis des »Multitasking«, das heißt des parallelen Ausführens mehrerer Handlungen zur selben Zeit – was übrigens nicht bedeutet, »sich auf mehrere Dinge auf einmal konzentrieren zu

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können, sondern nur, sehr schnell hin- und herzuschalten« (Precht, 2007, S. 47). Gerade das verbreitete Phänomen des Multitasking – »dessen Förderung eine ganze Gattung von Technologien gewidmet ist« (Gleick, 2000, S. 170) – weist besonders eindringlich darauf hin, dass die Beschleunigung des Lebenstempos oft nicht nur zu keiner effizienteren Nutzung der Zeit führt, sondern sogar das glatte Gegenteil bewirken kann. Zum Beleg führt der Arzt und Friedensforscher Till Bastian unter anderem eine Management-Studie an, in der die durch Flüchtigkeitsfehler verursachten »Kosten des ständigen Büro-MultiTasking für die Wirtschaft der USA […] auf jährlich 588 Milliarden Dollar beziffert« werden (Bastian, 2012, S. 91). Der Wissenschaftspublizist Stefan Klein bezeichnet Multitasking nachgerade als »eine der wirksamsten Arten, seine Zeit zu vertrödeln. Die Leistungsfähigkeit geht nämlich schon dann dramatisch zurück, wenn man nur zwei einfache Aufgaben gleichzeitig zu bewältigen versucht.« Das Arbeitsgedächtnis des Gehirns, das unsere Aufmerksamkeit filtert und steuert, wird bei zwei oder gar mehreren gleichzeitigen Aufgaben massiv überfordert und muss seine Geschwindigkeit dabei deutlich reduzieren. Da die Aufmerksamkeit »einem Scheinwerfer [gleicht], mit dem das Bewusstsein beleuchtet, was gerade wichtig ist« – wir aber »nur über einen solchen Lichtkegel [verfügen]« –, »können wir immer nur einen einzigen Vorgang bewusst steuern. Geteilte Aufmerksamkeit für zwei bewusste Tätigkeiten kann es nicht geben« (Klein, 2006, S. 193 f.). Vor diesem Hintergrund erschließt sich auch der tiefere Sinn von Karlheinz Geißlers gelungener Wortschöpfung »Simultanten«, mit der er Menschen charakterisiert, »die maximal flexibel sind und sich perfekt im Multitasking eingerichtet haben« (zitiert nach Opitz, 2011, S. 85). Auch an zahlreichen anderen Beispielen wird deutlich, dass die Beschleunigung des Lebenstempos wohl mit mehr Geschäftigkeit und zeitlicher Verdichtung von Aktivitäten einhergeht, dabei aber sehr häufig Zeit nicht nur nicht eingespart, sondern sogar noch zusätzlich verschwendet wird – was wiederum in einer originellen Formulierung Karlheinz und Jonas Geißlers mit gewissermaßen surrealistischer Zielsicherheit zur Geltung kommt, »dass wir zwar tagtäglich schneller werden, uns aber dadurch häufiger als

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jemals zuvor verspäten« (Geißler u. Geißler, 2017, S. 73). Der von Peter Heintel beschriebene Fall einer systematischen Vermeidung von Wartezeiten für ankommende Flugreisende am New Yorker Kennedy-Airport mag die absurde Ironie dieser gesteigerten Geschäftigkeit besonders plastisch zur Geltung bringen: »Man lässt die Passagiere möglichst weit weg vom Gepäckband aussteigen, damit sie weit gehen, aber nicht mehr warten müssen. Denn beim Gehen tut man etwas, man steht nicht still« (Heintel, 1999, S. 104). Ein solcherart überflüssiges »Etwas-tun-Müssen« spiegelt offensichtlich einen allgemeineren Leerlauf hektischer Betriebsamkeit, die auch vielen anderen Dimensionen unseres Alltagslebens ihren Stempel aufdrückt. »Früh erfahren wir«, erläutert Heintel diesen breiteren Zusammenhang, »dass ›Müßiggang aller Laster Anfang ist‹, dass man heute besorgen soll, und nicht auf morgen verschieben, dass es verwerflich ist, sich auf die ›faule Haut‹ zu legen […]. Unser Tätigsein-Wollen(-Müssen) ist uns so in ›Fleisch und Blut‹ übergegangen, dass wir uns auch dort Tätigkeiten suchen, wo sie weder angebracht noch vonnöten sind« (S. 114). Die Sozialreporterin Barbara Ehrenreich hebt hervor, wie sehr sogar die unter komfortablen Bedingungen lebenden Gesellschaftsschichten »begierig sind, ihre Abgespanntheit unter Beweis zu stellen – immer ›auf Achse‹, immer abrufbar für das Konferenzgespräch, immer bereit, noch ›die Extra-Meile‹ zu gehen« (Ehrenreich, 2009, S. 76). Sogar auf den Universitäten, die zumindest ihren akademischen Angehörigen einigen Raum für Muße zugestehen, »erreicht die Auffassung von Arbeitsüberlastung als Tugend fast schon religiöse Ausmaße. Professoren prahlen damit, wie ihre mannigfaltigen Pflichten sie ›in den Wahnsinn treiben‹; die Sommerferien bieten keine Erholung, sondern bloß eine Gelegenheit für fieberhaftes Forschen und Schreiben« (S. 76). Seit den 1960er Jahren gibt es repräsentative Umfragen und sozialwissenschaftliche Erhebungen, die das subjektive Erleben einer »schneller vergehenden Zeit« oder eines zunehmenden persönlichen Zeitmangels zu erfassen versuchen; wenig überraschend zeigen sie eine nahezu kontinuierliche Ausbreitung und Steigerung solcher Empfindungen und Wahrnehmungen (vgl. z. B. Klein, 2006, S. 167 ff., S. 219 ff.; Rosa, 2005, S. 214 ff.; Opitz, 2011, S. 48). Wenn

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technische Beschleunigungen von Alltagshandlungen oder Arbeitsprozessen für sich genommen gerade nicht zu größerem Zeitdruck, sondern im Gegenteil zu mehr frei verfügbarer Zeit führen müssten, liegt es freilich nahe, dass sich zwischen subjektiven Wahrnehmungen und objektiv erfassbarer Realität immer wieder schroffe Widersprüche auftun. So ergeben etwa maßgebliche ZeitbudgetStudien wie jene der Soziologen John P. Robinson und Geoffrey Godbey, dass die Mehrheit der Befragten eine den statistisch erfassten Tendenzen glatt zuwiderlaufende subjektive Einschätzung zum Ausdruck bringt. »Die geschätzte Freizeit nimmt parallel zum Anstieg der ›tatsächlichen‹ Freizeit verblüffender Weise kontinuierlich ab; sie beträgt oft […] weniger als die Hälfte der aus Zeittagebüchern errechneten Freizeit« – woraus geschlossen werden kann, »dass die ermittelte Freizeit von den Akteuren nicht als ein Reservoir freier Zeitressourcen, sondern als eine rasch verfließende und in Handlungen (und Erlebnissen) gebundene Zeitmenge erfahren wird« (Rosa, 2005, S. 218). Ein zentraler Einfluss, der zu dieser Entleerung der »Freizeit« von freien Zeitressourcen beiträgt, erwächst offensichtlich aus dem vorherrschenden Lebensstil-Kult eines ausufernden Einkaufens von Konsumgütern, für deren tatsächlichen Gebrauch die Zeit bezeichnenderweise zunehmend fehlt. So geht aus einer Untersuchung des deutschen Umweltministeriums hervor, dass eine in Deutschland lebende Person im Schnitt etwa 10.000 Gegenstände besitzt. »Mindestens die Hälfte dieser Dinge wird nie benutzt, sondern vergammelt in den Schränken und verschmutzt die Umwelt. Zuerst bei der Herstellung, dann als Müll« (Herrmann, 2013, S. 241; vgl. auch Reuß u. Dannoritzer, 2015, S. 113). Der Umweltökonom Niko Paech spricht angesichts dieses Befunds von »Wohlstandsschrott […], der nur unser Leben verstopft« (Paech, 2012, S. 130), oder der Sozialpsychologe Harald Welzer davon, dass ein Käufer unter solchen Vorzeichen eigentlich nicht mehr als Konsument begriffen werden kann, sondern »lediglich noch als Depot [fungiert], um das Produkt für die Zeitspanne zwischen Produktion und Entsorgung zu lagern. […] Nicht er konsumiert das Produkt, sondern das Produkt ihn: nämlich seine Zeit, die von ihm bezahlte Energie, die von ihm unterhaltene In­frastruktur« (Welzer, 2013, S. 82).

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»Da der Tag nach wie vor nur 24 Stunden hat, die Anzahl der Dinge und Erlebnisse, die wir uns kaufen können, jedoch geradezu explodiert, konkurrieren sie um die knappe Aufmerksamkeit« (Paech, 2014, S. 42). Angesichts des Umstands, dass Zeit, wie Paech immer wieder betont, »das einzig knappe Gut in der westlichen Welt ist«, kommentiert die Wirtschaftspublizistin Ulrike Herrmann: »Bekanntlich muss jeder sterben, und daher ist es erstaunlich, dass die Menschen ihre begrenzte Lebenszeit damit verschwenden, Güter anzuschaffen und zu pflegen, die sie gar nicht benötigen« (Herrmann, 2013, S. 241). Die Verknappung der Zeitdosis, die den meisten einzelnen Handlungen und Erlebnissen somit zugestanden wird, führt auch zu einer zunehmenden Entsinnlichung und Dekontextualisierung des Erinnerns an das eigene Leben, das dadurch auch im Rückblick viel rascher als erwartet vergangen zu sein scheint. Mit dem Begriff der »Entsinnlichung« – wofür speziell die Zunahme des Fernseh-, Film-, Internet-, Smartphone- oder Videospielkonsums beispielhaft ist – sind Phänomene von der Art gemeint, dass etwa »ausschließlich der Seh- und Hörsinn angesprochen wird, während taktile Empfindungen, Gerüche (die bekanntlich von großer Bedeutung für Langzeiterinnerungen sind) oder Geschmackswahrnehmungen fehlen. Zusätzlich kommen alle Stimuli aus einem räumlich eng begrenzten ›Fenster‹« (eines Bildschirms), was auch das Aktivitätsniveau des Gehirns merklich beeinträchtigt (Rosa, 2005, S. 231 f.). Unter »Dekontextualisierung« ist zu verstehen, dass »[k]urze, stimulationsreiche, aber gegeneinander isolierte, das heißt ohne innere Verbindung bleibende Erlebnisepisoden […] einander in raschem Wechsel ab[lösen], sodass die Zeit gewissermaßen ›an beiden Enden‹ zu rasen beginnt: Während der als kurzweilig (und oft als stresshaft) empfundenen Aktivitäten vergeht sie sehr rasch, doch zugleich scheint sie im Rückblick zu ›schrumpfen‹, so dass die Tage und Jahre wie im Flug dahineilen und wir am Ende das Gefühl haben, kaum gelebt zu haben, obwohl wir alt an Jahren sein mögen« (S. 233). Eine für viele Autoren plausible Antwort auf die Frage nach den entscheidenden Antriebsmotoren für die Beschleunigung des Lebenstempos besteht in der bereits im Abschnitt zur techno-

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logischen Beschleunigung erörterten Wirkung des kapitalistischen Konkurrenzdrucks, neben der Produktivität auch Einkauf und Konsum mit ähnlicher Unerbittlichkeit in die Höhe zu treiben. Wie zum Beispiel Robert Levine erläutert, laufe steigende Produktivität darauf hinaus, »dass wir mehr Güter konsumieren müssen, um die Produktion am Laufen zu halten. Freie Zeit verwandelt sich in Konsumzeit, weil Zeit, in der man weder produziert noch konsumiert, in steigendem Maße als verschwendet gilt« (Levine, 1999, S. 43). David Harvey argumentiert in Anlehnung an Karl Marx’ »Ökonomisch-philosophische Manuskripte« (1844), dass kapitalistische Produzenten grundsätzlich »ein permanentes Interesse daran haben, in anderen ›Maßlosigkeit und Unmäßigkeit‹ zu kultivieren, ›eingebildete Gelüste‹ heranzuzüchten« und zunehmend als »›Kuppler‹ zwischen dem Konsumenten und seinem Bedürfnis« erfolgreich zu sein (Harvey, 1990, S. 102). Ähnlich erläutert auch Fritz Reheis, dass die kapitalistische »Kunst der Absatzförderung« darauf zielt, dass die Käuferin und der Käufer »in möglichst kurzen Zeitabständen nach immer neuen Gütern und Diensten verlangt. Systematische Werbung, Verkürzung der physischen Haltbarkeit und der Modezyklen sind die wichtigsten Mittel hierbei« (Reheis, 1996/2015, S. 68). Während das Interesse der kapitalistischen Anbieter an einem hektisch eskalierenden Kauf- und Konsumverhalten möglichst vieler Individuen ohne Weiteres einsichtig ist, so bleibt das Interesse der von den Anbietern umworbenen Individuen andererseits aber durchaus noch akut erklärungsbedürftig. Gerade im Rahmen des kapitalistischen Marktgeschehens haben alle Individuen ein grundsätzlich sehr starkes Interesse daran, sich nicht leichtfertig durch den Kauf unnötiger Güter von ihrem Geld zu trennen und dadurch in die Gefahr schwerer Unsicherheit und Abhängigkeit zu geraten. Hartmut Rosa gibt in diesem Sinne denn auch zu bedenken: »[…] warum sollten sich Subjekte auf eine Beschleunigung ihres Konsumverhaltens und mithin ihres Lebenstempos einlassen, wenn es für sie dazu subjektiv nicht nur keine ökonomischen Anreize gibt, sondern wenn sie dies umgekehrt eher in Geldschwierigkeiten (und, damit verknüpft, in Zeitnot) bringt?« (Rosa, 2005, S. 279). Die subjektiven Beweggründe dafür, sich dennoch sowohl dauer- als auch massenhaft darauf einzulassen, müssen also überwiegend aus anderen so-

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zialen, ökonomischen oder kulturellen Dimensionen herrühren als den Gewinninteressen der kapitalistischen Produzenten. Besonders überlegenswerte Suchbewegungen zur Erkundung einer solchen Dimension verdanken wir kulturgeschichtlichen Reflexionen Marianne Gronemeyers und der Philosophen Hans Blumenberg und Peter Heintel zur Säkularisierung und zunehmenden »Diesseits«-Orientierung unserer modernen Welt. »In der Neuzeit verlor die Vorstellung einer ›höheren Zeit‹ bzw. einer Heilszeit, die nach dem Tod oder nach dem Weltende erst die wahre Erfüllung aller Zeit und allen Lebens birgt und im Vergleich zu welcher alle irdische Zeit […] ohnehin nur vergänglich und eitel, ein letztlich bedeutungsloser Zyklus wiederkehrender Ereignisse ist, allmählich ihre kulturelle Wirkmächtigkeit« (Rosa, 2005, S. 287). Als zunehmend verführerischer Ersatz für die zusehends weniger geglaubte Verheißung eines ewigen Lebens im Jenseits setzte sich demgegenüber die Orientierung auf ein quasi »gesteigertes Leben« im Diesseits durch, das »durch beschleunigte Auskostung der Weltoptionen, durch ›schnelleres Leben‹« (S. 289) verwirklicht werden könne. »Wer ›doppelt so schnell‹ lebt« – so könnte man den Kern des dahinter stehenden Trugbildes in relativ schlichte Worte übersetzen – »wer nur die Hälfte der Zeit benötigt, um eine Handlung auszuführen, ein Ziel zu erreichen oder eine Erfahrung zu machen, kann ›die Summe‹ von Erfahrungen und damit des eigenen Lebens in einer Lebensspanne verdoppeln« (Rosa, 2013, S. 40 f.). »Wenn wir mehr oder womöglich alles tun und erleben, was lebensmöglich ist« – so umreißt ähnlich auch Heintel das Hauptmotiv dieser mächtigen Phantasie – »dann verliert [der Tod] seine Schärfe, seine einschneidende, beendende, eingreifende, abrupte, zerstörende Gewalt. Aus Fülle heraus werden wir gleichsam unsterblich, auch wenn wir letztlich sterben müssen« (Heintel, 1999, S. 154). Der verhängnisvolle Charakter einer Fata Morgana, der unter diesem auf die Spitze getriebenen Blickwinkel offensichtlich wird, kann freilich auch schon anhand der bereits erörterten Entsinnlichung und Dekontextualisierung des Erinnerns ermessen werden, die von der Beschleunigung des Lebenstempos verursacht wird. Insbesondere aber führen paradoxerweise gerade auch die Erfolge dieses Programms zur Lebensbeschleunigung zu einer unausweich-

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lichen Vergrößerung des Abstandes zwischen den erreichbaren und den nicht erreichbaren Visionen von einem vermeintlich erfüllenden Leben. »[…] die technischen Mittel, welche es uns erlauben, in einem begrenzten Leben ›mehr Welt‹ auszuschöpfen, [haben] zugleich die Weltmöglichkeiten bzw. den Optionenhorizont explodieren lassen, so dass der Ausschöpfungsgrad zwischen realisierten und nichtrealisierten Möglichkeiten immer ungünstiger wird« (Rosa, 2016, S. 702). Somit ist es auch »[g]anz egal, wie schnell wir werden, unser Anteil an der Welt, also das Verhältnis der realisierten Optionen und der gemachten Erfahrungen zu denjenigen, die wir verpasst haben, wird nicht größer, sondern konstant kleiner« (Rosa, 2013, S. 41). Ein unüberbrückbarer Abstand zwischen dem, was in jedem individuellen Leben an kreativen Möglichkeiten angelegt ist, und dem, was davon tatsächlich verwirklicht werden kann, gehört allerdings bereits zu den grundlegenden Bedingungen unserer menschlichen Existenz. »Das Leben des Menschen, das in der Entwicklung seines Geschlechtes an einem zufällig gegebenen Punkte einsetzt und endet, gerät in einen tragischen Konflikt« – so umriss etwa der Psychoanalytiker Erich Fromm dieses Dilemma –, da »jedes menschliche Wesen alle Möglichkeiten besitzt, die dem Menschen überhaupt gegeben sind«, aber »die kurze Spanne seines Lebens (selbst unter günstigen Umständen) nicht deren volle Verwirklichung [erlaubt]« (Fromm, 1954, S. 57). Der Philosoph Hans Blumenberg beschrieb diesen Widerspruch besonders treffend im Sinne eines Auseinanderfallens zwischen wahrgenommener »Weltzeit« (der menschlichen Geschichte) und »Lebenszeit« (der individuellen Lebensspanne). Seine Deutung der biblischen Erzählung von der Vertreibung aus dem Paradies – als Allegorie der Menschwerdung unserer evolutionären Vorfahren – steht denn auch unter dem Zeichen des Beginns dieses Auseinanderfallens. Im Paradies befanden sich beide Zeit-Dimensionen subjektiv noch in Übereinstimmung, da »alles darauf angelegt [war], Adam und Eva glauben zu lassen, die Welt ihrer Wahrnehmung sei alles, was es gebe, und sei ihnen jederzeit und für immer verfügbar.« Ihr schicksalhafter Schritt, vom Baum der Erkenntnis zu essen, führte dann aber zum »Verlust dieses Weltbesitzes« und zur neuen Erfahrung: »Nicht mehr alles und nicht mehr für immer. Knappheit und Tod sind die Urerfahrungen, die

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zu einer anderen Welteinstellung – zu der der Ausschöpfung der Welt in der eng gewordenen Zeit – zwingen würden« (Blumenberg, 1986/2001, S. 36 f.).

Die große Pest als gespenstische Geschichtskulisse für die moderne Atemlosigkeit Die existenzielle Verunsicherung über diesen Verlust konnte über lange Epochen mithilfe eines Glaubens an ein ewiges Leben im Jenseits eingedämmt werden, der durch mächtig verwurzelte Bilder und Rituale der Vergewisserung abgestützt wurde. Innerhalb des breiten Spektrums an Theorien über den neuzeitlichen Niedergang der Überzeugungskraft dieses Glaubens verdient eine von Marianne Gronemeyer angebotene Erklärung vorrangige Beachtung, da sie für ein tieferes Verständnis des wahn- und zwanghaften Charakters der modernen Lebenstempo-Beschleunigung besonders fruchtbare Anhaltspunkte liefert. Neben – oder hinter – der schmeichelhafteren Geschichtskulisse des Aufstiegs von Vernunft und Aufklärung (im Sinne des Kant’schen »Ausgangs des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit«) beleuchtet Gronemeyer die Konturen einer anderen Geschichte, die von überwältigendem Schrecken gekennzeichnet war und das unverzichtbare Mindestmaß an gefühlter Sicherheit in den Grundfesten erschüttert haben muss. Gerade auch das weitgehende Verschwinden dieser Erfahrung in einem Schwarzen Loch historischer Verdrängung spricht dafür, dass wir ihren untergründigen Nachhall bis in unsere Zeit nicht zu gering veranschlagen sollten. In Anlehnung an ein klassisches Werk des Kulturphilosophen Egon Friedell zur neuzeitlichen Geschichte sondiert Gronemeyer die langfristigen traumatischen Auswirkungen der 1348 über Europa hereingebrochenen großen Pest. Bereits innerhalb eines halben Jahrzehnts fiel der Seuche mindestens ein Drittel – vielleicht sogar die Hälfte – der Bevölkerung Europas zum Opfer, und auch danach sollte die Pest unsere Vorfahren noch fast vier Jahrhunderte lang immer wieder überfallsartig heimsuchen. »Angesichts des Massensterbens, das mit der Pest hereinbrach, versagten alle Gewohnheiten und Rituale, die sonst dem Sterbenden ein Hinscheiden im Seelenfrieden

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ermöglichten« (Gronemeyer, 1996, S. 8). Ansteckungspanik und Verwesungsgestank führten dazu, die von der Pest Dahingerafften möglichst eilig in Massengräbern außerhalb der Siedlungen zu verscharren – »eine Art der Bestattung, die sonst den Verdammten vorbehalten war und die demzufolge entsetzliche Angst einflößte. Die Chroniken berichten über Menschen, die versuchten, sich bei lebendigem Leibe selbst zu begraben […].« Neben dem unvermeidlichen Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung musste dabei auch die innere Orientierung der Menschen rettungslos in die Brüche gehen. »Aller Hoffnung und Zuversicht, allen Trostes und Gottvertrauens beraubt, fallen die Menschen aufs nackte ›Rette sich, wer kann‹ zurück. In einem unvorstellbaren Ausmaß isoliert die Pest nicht nur die Sterbenden von den noch Lebenden, sondern auch die Lebenden untereinander. […] Jeder andere ist ein potentieller Todbringer auch ohne die geringste erkennbare Feindseligkeit« (S. 10 f.). Im Gefolge dieses radikalen Zusammenbruchs war der Tod nun »nicht länger ein heilsgeschichtliches Ereignis, ein Übergang zum wirklichen Leben. Es kommt vielmehr die düstere Ahnung auf, dass er endgültiges Ende ist […]. Dieser im Pestinferno entstandene Tod ist es, der das Lebensgefühl der Moderne entscheidend prägt« (S. 15). Während im Mittelalter »die Dauer der Welt, von ihrer Erschaffung bis zu ihrem Untergang im Letzten Gericht, die Zeiteinheit [war], mit der die Menschen rechneten, so wird am Beginn der Neuzeit die Dauer des Lebens von der Geburt bis zum Tod zur bestimmenden Zeiteinheit. […] Seitdem die Lebensspanne so unsanft aus der Weltund Heilszeit herausgeschnitten war« und die Welt nunmehr »aus der Zentralperspektive des hinfälligen Einzellebens betrachtet wurde, entstand ein chronischer Mangel an Dauer« (S. 91 f.). Wenn es vor allem die kollektive Weltuntergangserfahrung der Pest war, die der neuen Wahrnehmung zugrunde lag, dass die individuelle Lebensspanne nunmehr bloß noch »die einzige Gelegenheit ist, dann steigert sich die Verlustangst ins Unerträgliche« und »kommt der Tod chronisch zu früh« (S. 24). Gronemeyers Deutung, dass es vor allem »eine Kampfansage an diesen Tod« war, die die »ungeheure Anstrengung der Weltverbesserung« (S. 15) des modernen Zeitalters auf den Weg brachte, weist also nachdrücklich auf das Motiv eines Davonlaufens vor

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der Realität unserer Sterblichkeit hin. Diese Deutung einer panischen »Flucht nach vorn« liefert auch einen wichtigen Beitrag zur Erklärung des arroganten Allmachtsanspruchs, der unsere moderne Rationalität, Wissenschaft und Technologie über weite Strecken prägt und vor allem der Unterdrückung entgegengesetzter Gefühle von Machtlosigkeit dient. In seinem Hauptwerk »Der Gotteskomplex« beschrieb der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter wesentliche Formen dieses Allmachtswahns unter dem Blickwinkel eines Entfliehens des modernen Menschen aus der kindlichen Ergebenheit in ein von Gott vorbestimmtes Schicksal, die im Mittelalter vorgeherrscht hatte. Im Übergang zur Neuzeit war diese passiv-­ unmündige Grundhaltung zunehmend weniger imstande, ein ausreichendes Sicherheits- und Geborgenheitsgefühl zu vermitteln. Aus dieser existenziellen Krise »resultierte der Versuch, gleichsam mit einem Sprunge durch Identifizierung selbst die göttliche Omnipotenz zu erringen, um aus einer eigenen absolut dominierenden Position eine neue Sicherheit beziehen zu können, welche die verlorene passive Geborgenheit nicht mehr bot. Man floh aus infantiler Ohnmacht in die Illusion narzisstischer Allmacht und lernte, diese Illusion mit Hilfe einer fortschreitenden naturwissenschaftlichtechnischen Weltbeherrschung zu befestigen« (Richter, 1979/2005, S. 191). Freilich muss im unbewussten Untergrund der offensiven Anmaßung, die zuvor »ausschließlich in der Hand Gottes stehende Zukunft durch die Kausalforschung selbst berechnen und technisch lenken zu können« (S. 191), die dabei überspielte passive Hilflosigkeit als verdrängte Kehrseite unserer Zivilisation weiter rumoren. Das von Richter angeregte Verständnis des ab dem ausgehenden Mittelalter um sich greifenden Allmachtswahns kann durch die Einbeziehung der großen Pest deutlich an Plausibilität und Tiefenschärfe gewinnen. Vor dem Hintergrund einer alle Poren der Gesellschaft durchdringenden traumatischen Erfahrung wird vor allem verständlicher, dass der Verlust des Glaubens an ein Jenseits zu besonders panikgetriebenen – und daher hochgradig zwang- und wahnhaften – Folgen in den kulturellen Leitbildern und Gewohnheiten führen konnte. Insbesondere kann in diesem Zusammenhang auch die bereits erörterte, unverkennbar vergebliche und selbstschädigende Orientierung begreiflicher werden, durch ein immer

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schnelleres Lebenstempo quasi ein Höchstmaß an Erfüllung in die individuelle Lebensspanne hineinpressen zu wollen oder den Tod dadurch gar überlisten oder beiseiteschieben zu können. Als Folge des millionenfachen Traumas der Pest scheint nicht zuletzt der im Aufstieg der modernen Vernunft, Wissenschaft und Technologie zum Tragen kommende Allmachtswahn des »Gotteskomplexes« (im Sinne eines verzweifelten Überspielens von nicht verarbeiteten Hilflosigkeitserfahrungen) besonders schlüssig nachvollziehbar zu werden. Ohne den torpedierenden Einfluss derart intensiver Panikmotive dürften Fortschritte im wissenschaftlichen Denken nämlich gerade nicht zu einer Begünstigung von Allmachtsdenken führen, sondern müssten ihm im Gegenteil den Boden nachhaltig entziehen. Das wissenschaftliche Prinzip sorgfältigen Prüfens und Abwägens weist unsere Neigungen zu Allmachtsillusionen auf Schritt und Tritt in ihre Schranken, indem es konsequent zur Vorsicht, Umsicht und Bescheidenheit mahnt. Einen wichtigen Hinweis auf die dem Gotteskomplex entgegengesetzte Tendenz, die mit wissenschaftlichem Denken zum Tragen kommt, lieferte Sigmund Freud in einer klassischen Betrachtung dreier großer Meilensteine der neuzeitlichen Wissenschaft. Eine wesentliche Übereinstimmung zwischen diesen Entdeckungen besteht in ihrem nachhaltigen Anstoß zum Abbau von Größenwahn und Selbstgefälligkeit: Nikolaus Kopernikus konnte nachweisen, dass unser Planet – und somit auch die Menschheit – sich nicht im Zentrum des Universums befindet; Charles Darwin zeigte, dass unsere Spezies mit allen anderen Lebewesen einen gemeinsamen Ursprung teilt und ihnen gegenüber daher keinen Anspruch erheben kann, etwas grundlegend »Besseres« zu sein; Freuds eigene Erkenntnisse schließlich führten zur besonders ernüchternden Schlussfolgerung, dass wir nicht einmal in unserem Innenleben »Herr im eigenen Haus« sind (Freud, 1917/1999, S. 7 ff.). Eine teilweise Befangenheit im modernen Gotteskomplex, der sich Freud trotz seines Beitrages zu seinem Abbau nicht entziehen konnte, kommt aber wohl in seiner vielbeachteten Charakterisierung dieser Entdeckungen als »drei schwere Kränkungen« zum Ausdruck, die »der allgemeine Narzissmus, die Eigenliebe der Menschheit, […] von Seiten der wissenschaftlichen Forschung erfahren hat« (S. 6 f.). Statt als Verletzungen

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der Eigenliebe kann man sie mit weit größerer Berechtigung als wertvollen psychologischen Gewinn begreifen – nämlich an realistischer und moralischer Bodenhaftung, die uns zu mehr Weitblick und Achtsamkeit im Umgang mit uns selbst wie auch mit unserer sozialen und natürlichen Mitwelt verhelfen kann (und vor allem auch soll) (Berghold, 2009, S. 103 ff.).

Beschleunigungskarussell zwischen Technologie, sozialem Wandel und Lebenstempo Der Hartmut Rosa zu verdankende Anstoß zur deutlichen Unterscheidung zwischen den drei hier erläuterten Beschleunigungsdimensionen liefert nicht nur wertvolle Anregungen, um wesentliche Zusammenhänge und Eigenheiten jeder einzelnen Dimension präziser zu erfassen, sondern auch ein überzeugendes theoretisches Gerüst, um die Beziehungen und Wirkungen ins Visier zu nehmen, die sich zwischen ihnen entfalten. Während die Antriebskräfte im jeweiligen »Innenraum« der drei Dimensionen – wie ich in den obigen Abschnitten hoffentlich zeigen konnte – auch schon von sich aus (und unabhängig voneinander) eine mächtige Eigendynamik entwickeln, ergeben sich aus einer näheren Betrachtung des »Außenraums« der zwischen den Dimensionen zum Tragen kommenden Einflüsse auch noch starke zusätzliche Beschleunigungseffekte. Auch wenn manche Aspekte und Wechselwirkungen in diesem »Außenraum« widersprüchlich, paradox oder auch nicht mit ausreichender Eindeutigkeit einschätzbar sein mögen, scheinen andere sich aber zu einem selbst antreibenden Steigerungskreislauf zu verdichten. Diesen »Akzelerationszirkel« erläutert Rosa im Sinne einer Ursache-Wirkungs-Verkettung in einer Art Endlosschleife, deren Beschreibung im Prinzip an jedem beliebigen Punkt des Kreislaufs beginnen könnte. Geht man zum Beispiel vom Punkt der technologischen Beschleunigung aus, so führt der Kreislauf von dieser zur Beschleunigung des sozialen Wandels, von der Beschleunigung des sozialen Wandels zur Beschleunigung des Lebenstempos und von Letzterer wiederum zum Ausgangspunkt der Beschleunigung der Technologie – durch welche wieder die Beschleunigung des sozialen Wandels aufs Neue angetrieben wird, die dann ihrerseits das

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Lebenstempo zusätzlich antreibt, usw. ad infinitum. (Rosa, 2005, S. 243 ff.; Rosa, 2012, S. 200 ff.; Rosa, 2013, S. 41 ff.). In umgekehrter Richtung ist eine derart kreislaufförmige Ursache-Wirkungs-Verkettung wegen des bereits beschriebenen Zusammenhangs unmöglich, dass technologische Beschleunigung (für sich allein betrachtet) keine Beschleunigung des Lebenstempos verursachen kann, sondern im Gegenteil dazu führen müsste, die Prozesse des Alltagslebens zu verlangsamen und in einen gemächlicheren Rhythmus zu wechseln. Wählt man nun zum Beispiel die Beschleunigung der Technologie als Einstiegspunkt zur Veranschaulichung des Akzelerationszirkels, so leuchtet es unmittelbar ein, dass technische Innovationen »immer auch mit einer Veränderung von Alltags- und Handlungspraktiken einhergehen und oftmals neue Wahrnehmungs- und Verhaltensformen zur Konsequenz haben, mithin also den sozialen Wandel beschleunigen«. So brachte etwa »die Einführung der Eisenbahn, des Automobils oder des Internet […] stets gänzlich neue Berufs- und Beziehungs-, Siedlungs- und Bewegungs-, Assoziations- und Kommunikationsmuster sowie neue Alltags- und Freizeitpraktiken« mit sich. Dadurch eröffnen sich für die Individuen neue Möglichkeiten und Chancen – »andererseits entstehen jedoch auch Anpassungszwänge und der Druck, mit den Veränderungen Schritt halten zu müssen.« Besonders unter von Wettbewerb beherrschten Anreizsystemen führt dies zwangsläufig zu einem Phänomen, das Rosa mit dem eindringlichen Bild eines »slippery slope« charakterisiert – zum »Gefühl nämlich, gleichsam überall auf nicht nur abschüssigem, sondern auf […] abrutschendem Terrain (oder auf Rolltreppen nach unten) zu stehen. Die Gefahr, in den verschiedenen Bereichen des sozialen Lebens abgehängt zu werden […], erzeugt einen gewaltigen Druck, das individuelle Lebenstempo zu erhöhen, sich auf dem Laufenden zu halten, um ein Abrutschen (und damit den Verlust von Anschluss- und Handlungschancen) zu vermeiden« (Rosa, 2012, S. 201). Der damit umrissene Akzelerationszirkel knüpft schließlich an jener Stelle quasi wieder an seinem Einstiegspunkt an, »wo Individuen und Organisationen auf die so verursachte Verknappung ihrer Zeitressourcen mit dem Ruf nach technischer Beschleunigung reagieren: Weil ihnen die Zeit knapp wird, verlangen sie nach schnelle-

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ren Transportverbindungen und Computern, kürzeren Service- und Wartezeiten etc.« Dieser Antrieb zur technischen Beschleunigung stellt zwar »eine rationale Antwortstrategie auf jene Verknappung dar, sie führt jedoch auf dem Weg des Beschleunigungszirkels zu einer nichtintendierten Verschärfung ebenjenes Problems und treibt so den Akzelerationsprozess unaufhörlich voran« (Rosa, 2012, S. 202). Dieser sich in der modernen Entwicklung durchsetzende Prozess setzt die drei Dimensionen der Beschleunigung somit »in ein wechselseitiges Steigerungsverhältnis, das sich auf dem Weg politischer oder sozialer Intervention kaum mehr durchbrechen lässt« (Rosa, 2012, S. 202).

Faktoren der Beschleunigungshemmung Wie nachdrücklich sich das eben erläuterte Beschleunigungskarussell sowohl innerhalb als auch zwischen seinen drei Dimensionen entfalten mag – so muss doch jeder Versuch, sich ein glaubwürdiges Gesamtbild zu machen, unweigerlich auch die verschiedensten Faktoren, Motive und Strukturen mit berücksichtigen, die diese Dynamik hemmen oder sich ihr auch widersetzen. Auch zu dieser Fragestellung liefert Rosa wertvolle Denkanstöße, die es erlauben, sich ihrer Vielschichtigkeit mit einem umsichtigen Blick anzunähern. In erster Linie schlägt er zu diesem Zweck eine grundlegende Unterscheidung zwischen »fünf Kategorien der Entschleunigung oder Beharrung« vor, »die zu den drei identifizierten Dimensionen der Beschleunigung gleichsam ›querzuliegen‹ scheinen« (Rosa, 2005, S. 139; vgl. auch Rosa, 2012, S. 196 ff.; 2013, S. 47 ff.): Ȥ natürliche Geschwindigkeitsgrenzen, Ȥ Entschleunigungsinseln, Ȥ Verlangsamung als dysfunktionale Nebenfolge, Ȥ intentionale Entschleunigung und Ȥ strukturelle und kulturelle Erstarrung (»rasender Stillstand«). Die erste Kategorie der natürlichen Geschwindigkeitsgrenzen ist sowohl biologischer bzw. anthropologischer als auch physikalischer Natur und verweist auf den Zusammenhang, dass zahlreiche Prozesse »in ihrer Dauer und Geschwindigkeit gar nicht oder nur

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um den Preis einer massiven qualitativen Veränderung des zu beschleunigenden Vorgangs manipuliert werden können« (Rosa, 2005, S. 139). Dabei handelt es sich also um teilweise flexiblere, teilweise starrere Barrieren, die sich einer Steigerung des Tempos etwa neuronaler oder sonstiger biologischer Prozesse im menschlichen (oder tierischen) Körper, ebenso aber auch bei der Gewinnung und Verarbeitung von Rohstoffen oder landwirtschaftlichen Erträgen entgegenstellen und nicht zuletzt auch in den ökologischen Belastungsgrenzen unserer Erde einen zugespitzten Ausdruck finden. Welchen Grad an konkreter »Festigkeit« oder längerfristiger »Beharrungskraft« diese Barrieren jeweils aufweisen, kann allerdings in vielen Fällen nur mit einiger Vorsicht abgeschätzt werden – was besonders mit dem klassischen Hinweis auf die ersten Eisenbahnreisenden im frühen 19. Jahrhundert veranschaulicht werden kann, die sich angesichts der unerhörten Neuheit ihres Transportmittels geradezu »an den Grenzen dessen [wähnten], was die menschlichen Körper an Geschwindigkeit verkraften und die Sinne verarbeiten konnten« (Rosa, 2005, S. 141). Die zweite Kategorie der Entschleunigungsinseln bildet sich in verstreuten geografischen, sozialen oder kulturellen Nischen – zum Beispiel in religiösen Sekten oder gesellschaftlichen Außenseitermilieus – heraus, die abseits der großen Ströme der modernen Beschleunigung existieren. In solchen zurückgezogenen Bereichen oder Lebenszusammenhängen besteht vielfach der Anschein, als ob »die Zeit stehen geblieben« wäre oder »die Uhren wie noch vor hundert Jahren« gehen würden. In unseren spätmodernen Zeiten geraten sie allerdings zunehmend »unter Erosionsdruck, weil der zeitliche Abstand zu ihren beschleunigungsfähigen und -willigen Umwelten immer größer und damit kostspieliger wird und zugleich ihre ›Bremswirkung‹ an den Schnittstellen zu der akzelerierten Sozialwelt steigt« (Rosa, 2012, S. 196). Die dritte Kategorie umfasst ein weites Spektrum an unbeabsichtigten dysfunktionalen oder pathologischen Nebenfolgen der Beschleunigungstrends, dessen enorme Bandbreite etwa an den Beispielen für Leerläufe hektischer Geschäftigkeit oder auch an den Folgen des suchtartigen Kaufs von Konsumgütern ermessen werden kann, die im obigen Abschnitt über die Beschleunigung des

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Lebenstempos beschrieben wurden. Eines der offensichtlichsten Beispiele für die dysfunktionalen Nebenfolgen der Beschleunigung ist das Phänomen der Verkehrsstaus, die vor allem in Ballungszentren zu einer sinkenden Durchschnittsgeschwindigkeit im Straßenverkehr beitragen. Folgt man etwa Peter Heintels Diskussion des Rätsels, »warum Menschen den Berufsverkehr – also Abend- und Morgenstau – trotz guter öffentlicher Verkehrsmittel im eigenen Auto, meist allein sitzend, in Kauf nehmen«, so eröffnet sich noch ein zusätzlicher Blickwinkel auf die vielfachen Verästelungen dieser dysfunktionalen Nebenfolgen, der auch nicht einer bitteren Ironie entbehrt. In einer einschlägigen Untersuchung gaben die Befragten »fast übereinstimmend an, dass es ihnen wichtig sei, guttue, zwischen Beruf und Familie eine Ruhepause dazwischenzuschieben, wo sie mit sich allein sind, abklingen können, den Tag Revue passieren lassen« (Heintel, 1999, S. 94). Könnten sie sich diese Ruhepause auch einfach nur so, ohne den Umweg des Verkehrstaus gönnen (oder auch ohne die noch weiteren Umwege des Zeitaufwands für den Gelderwerb zum Kauf und Gebrauch ihres Autos), so würde ihnen dies vielfältige Perspektiven der Zeitersparnis eröffnen – sei es, um sich noch mehr Ruhepausen zu gönnen oder weiteren Möglichkeiten gesteigerter Beschleunigung nachzujagen … Unter den im engeren Sinn pathologisch verlangsamenden Nebenfolgen sticht eine langfristige Zunahme an Depressionserkrankungen hervor, »die als individuelle Ausstiegsreaktionen auf den überhöhten Beschleunigungsdruck verstanden werden können« (Rosa, 2013, S. 49) und bei denen »für den Erkrankten häufig die Zeit stillzustehen oder sich in eine zähe Masse zu verwandeln [scheint].« Auf gesellschaftlicher Ebene kommt diese Verlangsamung besonders auch durch den Ausschluss von Menschen aus dem Erwerbsleben zum Tragen, »sofern er seinen strukturellen Grund in Tempo- und damit Produktivitätssteigerungen im Produktionsprozess hat, wobei er auf Seiten der Betroffenen nicht selten daraus resultiert, dass sie mit dem geforderten hohen Arbeits- und Innovationstempo in der Wirtschaft nicht mehr schritthalten konnten, was dann zu (unerwünschter) extremer Entschleunigung in Form von Arbeitslosigkeit führt« (Rosa, 2005, S. 144). Auf den depressiven Charakter dieser Verlangsamung bezogen sich denn auch wesentliche Befunde in der klassischen

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Untersuchung von Marie Jahoda, Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel über die Erfahrungen von Langzeitarbeitslosen: »Losgelöst von ihrer Arbeit und ohne Kontakt mit der Außenwelt, haben die Arbeiter die materiellen und moralischen Möglichkeiten eingebüßt, die Zeit zu verwenden. Sie, die sich nicht mehr beeilen müssen, beginnen auch nichts mehr und gleiten allmählich ab aus einer geregelten Existenz ins Ungebundene und Leere« (Jahoda, Lazarsfeld u. Zeisel, 1933/1975, S. 83). Nicht zuletzt können ja auch die kapitalistischen Wirtschaftskrisen selbst, die Arbeitslosigkeit hervorrufen, als dysfunktionale Nebenwirkungen erfolgreicher Beschleunigung der Produktion verstanden werden, mit der die kaufkräftige Nachfrage nicht Schritt halten kann. Auf einer grundsätzlicheren Ebene muss es freilich allein schon aufgrund der teilweisen Ungleichzeitigkeit und unterschiedlichen Geschwindigkeiten von (vor allem intensiven) Beschleunigungstrends immer wieder zu Desynchronisationserscheinungen in Form von Leer- und Wartezeiten kommen. »Wo immer in funktional ausdifferenzierten Gesellschaften Vorgänge […] zeitlich aufeinander abgestimmt werden müssen, führt […] die Beschleunigung von Prozessen zu potenziellen Reibungsproblemen an den Synchronisationsstellen. […] Was schneller gehen kann, wird durch das, was langsamer geht, immer wieder gebremst bzw. aufgehalten«  – was zuweilen auch »zu massiven realen Verlangsamungen [führt], etwa wenn komplizierte Arbeitsketten so aus dem Takt geraten, dass Blockaden entstehen« (Rosa, 2005, S. 144 f.). Im Unterschied zu den bisher erläuterten, nicht beabsichtigten Formen der Entschleunigung definiert Rosa die vierte Kategorie der intentionalen Entschleunigung durch Bemühungen, den modernen Beschleunigungstrends bewusst entgegenzuwirken oder sie zumindest teilweise außer Kraft zu setzen. Innerhalb dieser Kategorie können wiederum zwei entgegengesetzte Teilkategorien unterschieden werden: Pragmatische Strategien der Entschleunigung in einzelnen Bereichen oder zu besonderen Zeiten zielen darauf, bessere Voraussetzungen für eine effizientere und reibungslosere Beschleunigung im Allgemeinen zu schaffen  – wohingegen verschiedene Strömungen und Bewegungen, die in grundsätzlicher Opposition zu den modernen Beschleunigungstrends stehen, die Ab-

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sicht verfolgen, diese nach Möglichkeit generell zu stoppen oder umzukehren. Zur erstgenannten Teilkategorie »zählen auf der ­individuellen Ebene etwa kurze Einkehraufenthalte in Klöstern oder Yogakurse von Managern oder Professoren, die eine ›Pause vom Rennen‹ versprechen«, um danach nur »umso erfolgreicher an den beschleunigten Sozialsystemen teilzunehmen. Ebenso gibt es eine Unmenge praktischer Ratgeberliteratur, die eine bewusste Verlangsamung einzelner Lern- und Arbeitsprozesse empfiehlt, um die Menge an absorbierbarem Lernstoff oder an Output pro Zeiteinheit zu steigern« (Rosa, 2013, S. 50). In vergleichbarer Weise wurden und werden etwa auf politischer Ebene in neuerer Zeit verschiedene Formen von Moratorien entwickelt, »um Zeit für die Lösung von grundlegenden technischen, sozialen, rechtlichen oder auch umweltbezogenen Problemen zu gewinnen, die als Hindernis weiterer Beschleunigungs- oder Modernisierungsbestrebungen erscheinen« (Rosa, 2005, S. 149 f.). Unter einem historisch noch etwas weiter aufgespannten Bogen betont Rosa auch besonders, »dass die unerhörten Beschleunigungserfolge der Moderne in zentralen Bereichen just darauf beruhen, dass maßgebende Institutionen der Gesellschaft (etwa das Recht, die politischen Steuerungsmechanismen, das stabile Arbeitszeit- ebenso wie das ›Lebenslaufregime‹) und leitende kulturelle Orientierungen vom Wandel selbst ausgenommen waren und daher Erwartungssicherheiten, Planungsstabilitäten und Berechenbarkeiten schufen, die als Grundlage der wirtschaftlichen, technischen, wissenschaftlichen und politisch-gestalterischen Beschleunigung betrachtet werden müssen« (Rosa, 2012, S. 197 f.). Die aus grundsätzlicher Opposition erwachsenden Bemühungen um Entschleunigung haben die großen Beschleunigungswellen des modernen Zeitalters seit jeher gleichsam wie ein unvermeidlicher Schatten begleitet. Die konkreten Beweggründe und Wertehorizonte, die zum Auftauchen der verschiedenen Widerstandsbestrebungen beigetragen haben, umfassen ein besonders weites – und daher auch von starken inneren Gegensätzen geprägtes – Spektrum, das von ultrakonservativen und religiösen bis hin zu anarchistischen und tiefenökologischen Richtungen reicht. Maschinenstürmer und Nostalgiker vormoderner Lebensweisen finden sich darin ebenso

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wie zeitgenössische Slow-Food-Bewegungen und Visionäre einer »Degrowth«- bzw. Postwachstums-Ökonomie oder des bereits erwähnten »Vereins zur Verzögerung der Zeit«. Unter den Autoren, deren Publikationen der fundamentalen Beschleunigungskritik öffentliche Beachtung von einiger historischer Tragweite verschaffen konnten, ragt etwa Karl Marx’ Schwiegersohn Paul Lafargue heraus, der in seiner 1883 erschienenen Streitschrift »Das Recht auf Faulheit« wortgewaltig beklagte, dass – während die moderne Maschine »mit beständig verbesserter Schnelligkeit und Sicherheit die menschliche Arbeit verdrängt« – »der Arbeiter, statt seine Ruhe entsprechend zu vermehren, noch seine Anstrengung [verdoppelt], als wollte er mit den Maschinen wetteifern. O törichte und verderbliche Konkurrenz!« (Lafargue, 1883/1980, S. 39). Auf ähnlich großes Interesse stieß ein halbes Jahrhundert später der Philosoph Bertrand Russell mit seinem berühmten Essay »Lob des Müßiggangs« und dem darin vertretenen Standpunkt, dass der Mensch »ohne ein erhebliches Maß an Muße von vielen der besten Dinge ferngehalten wird« und es daher nur Ausdruck einer »törichten Askese« sein kann, wenn »wir immer noch auf Arbeit in übertriebenen Ausmaßen bestehen, auch wenn dies heute nicht mehr nötig ist« (Russell, 1935/2004, S. 8). Während die von vielen Autoren und Bewegungen »verbreiteten Vorstellungen und Phantasien radikaler Verlangsamung starken Zulauf auf der Ebene der Ideen, das heißt in Vorträgen, Tagungen und Druckerzeugnissen haben, erreichen sie nur selten strukturrelevante Ebenen des Handelns« und haben daher im Hinblick auf die praktischen Lebensumstände kaum je mehr als vereinzelte Verzögerungswirkungen, gewiss aber keine grundlegende Kehrtwendung in der Entwicklungsrichtung durchsetzen können. Sei es, weil jede Verlangsamung auf individueller Ebene mit dem Risiko behaftet ist, als Aussteiger aus dem allgemeinen Beschleunigungs-Expresszug bereits nach relativ kurzer Zeit »alle Anschlüsse zu verpassen und keine Wiedereintrittschance zu erhalten«, oder weil viele »alltäglichen Entschleunigungsbedürfnisse so selektiv [sind], dass sie ihre eigene Negation in sich tragen«: Um »endlich wieder einmal Zeit zu haben für uns selbst, […] fordern wir zugleich, alle anderen sollen sich beeilen […]. Selektive Entschleunigung in komplexen und

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vernetzten Gesellschaften ist […] nur in sehr beschränktem Maße möglich« (Rosa, 2005, S. 147 f.). Im Vergleich zur massiven modernen Beschleunigungsdynamik (wie sie sich innerhalb und zwischen den oben analysierten drei Dimensionen entfaltet) können die vier bis hierher umrissenen Kategorien der Entschleunigung oder Beharrung allem Anschein nach keine Gegendynamik entwickeln, die ihr auch nur annähernd ebenbürtig wäre – auch wenn mehrere von ihnen ausgehende Wirkungen ihr unbestreitbares Eigengewicht in die Waagschale werfen können. Die erste und zweite Kategorie (natürliche Geschwindigkeitsgrenzen und Entschleunigungsinseln) stellen im Grunde keine Gegenkräfte, sondern lediglich Hemmschwellen dar, unter denen einige auch zurückweichen können bzw. sich vielfach auch tatsächlich auf dem Rückzug befinden. Die dritte Kategorie (dysfunktionale Nebenfolgen) beinhaltet indirekte Konsequenzen der Beschleunigungsdynamik und ist somit lediglich sekundärer Natur – das heißt, sie betrifft im Wesentlichen Behinderungen oder Störfaktoren, die sich aus der »inneren Mechanik« der modernen Beschleunigung selbst ergeben und sich ihr daher nicht grundsätzlich entgegenstellen. Die vierte Kategorie (intentionale Entschleunigung) zielt zu einem Teil ja gerade auf die Schaffung von günstigeren Voraussetzungen für eine gesteigerte Beschleunigung, während sie zum anderen Teil nur vereinzelte Wirkungen in der Lebenspraxis (vor allem auch auf breiterer gesellschaftlicher Ebene) erzielen konnte, die »sich doch stets als eher kurzlebig und letztlich äußerst erfolglos erwiesen [haben]« (Rosa, 2005, S. 154).

»Rasender Stillstand« durch überfordernde Beschleunigung Im Unterschied zu diesen vier Kategorien betrachtet Rosa die fünfte der von ihm ins Auge gefassten Kategorien der Verlangsamung nicht lediglich »als sekundäre, reaktive oder residuale Phänomene«, sondern im Gegenteil als »inhärentes und konstitutives Element des modernen Beschleunigungsprozesses selbst«. Sie besteht in einer Tendenz zur kulturellen Lähmung und Erstarrung, die sich gewissermaßen im Untergrund der oberflächlich so augen-

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fälligen Beschleunigungstrends umso stärker durchsetzt, je mehr die Geschwindigkeit des sozialen Wandels die individuellen wie gesellschaftlichen Bewältigungsfähigkeiten überfordert – und somit zu einem Verlust an Orientierung, Steuerungsfähigkeit, Willensbildung und Zielsetzung führt. Zwar hat eine aus solcher Überforderung erwachsende »Angst vor Stillstand bei Hochgeschwindigkeit […] die moderne Gesellschaft von Beginn an begleitet« und ist dabei etwa auch häufig in der Form von Kulturkrankheiten wie »der Melancholie, des Ennui, der Neurasthenie und heute verschiedenen Formen der Depression« in Erscheinung getreten. Zum Effekt einer allgemeineren kulturellen Erstarrung spitzen sich solche Phänomene aber erst dann zu, »wenn die Veränderungen und Dynamiken des individuellen Lebens oder der sozialen Welt […] nicht länger als Elemente einer bedeutungsvollen und gerichteten historischen Entwicklungskette, also als Elemente des Fortschritts, erfahren werden, sondern als zielloser und rasender Wandel« (Rosa, 2013, S. 56 f.). Nicht zuletzt der Umstand, dass zur Beschreibung eines vorherrschenden zeitgenössischen Lebensgefühls so häufig und selbstverständlich das Bild eines Hamsterrades gewählt wird, bringt diese Wahrnehmung eines ebenso eilig getriebenen wie zielvergessenen Auf-der-Stelle-Tretens recht sinnfällig auf den Punkt. Die historische Schwelle zu diesem durch immer schnellere Veränderung ausgelösten Richtungs- und Orientierungsverlust erblickt Rosa im gegen Ende des 20. Jahrhunderts einsetzenden Übergang von der »klassischen« in die Spät- oder »Post«-Moderne. Den entscheidenden Anstoß zu diesem Übergang lieferte (wie schon erwähnt) eine neuerliche Steigerung der Beschleunigung des sozialen Wandels, der nun nicht mehr nur in der Generationenfolge, sondern auch bereits innerhalb jeder Generation erkennbar wird. Im Zuge dieser Entwicklung weisen Familienzyklen »eine unübersehbare Tendenz auf, eine infragenerationale Lebensdauer anzunehmen, wofür steigende Scheidungs- und Wiederverheiratungsraten sowie Haushaltsneuordnungen oder -auflösungen der deutlichste Beleg sind« (Rosa, 2005, S. 180) – während auch »Berufe und Beschäftigungsverhältnisse immer seltener über ein Erwerbsleben hinweg Bestand zu haben [scheinen]« (S. 182). Die für die »klassische« Moderne grundlegende »Verzeitlichung« der individuellen Biografien und der kol-

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lektiven Geschichte erfährt dadurch eine paradoxe Kehrtwende zu einer zunehmenden »Entzeitlichung«, die das frühere Versprechen auf persönliche Selbstbestimmung und aktive Gestaltung des politischen Gemeinwesens immer mehr auszuhöhlen droht. Auf individueller Ebene tendiert die unsere psychische Verar­ beitungsfähigkeit überfordernde Beschleunigung des sozialen Veränderungstempos vor allem dazu, dass »die Idee eines auf Dauer oder Langfristigkeit hin angelegten Identitätsprojektes [preisgegeben wird], mithin die Vorstellung einer Autonomie, welche Subjekten das kontextübergreifende und zeitstabile Verfolgen von selbstdefinierten Werten und Zielen ermöglicht« (Rosa, 2005, S. 372). Allzu massiv werden immer mehr Menschen von der Sorge beherrscht, mit wichtigen Neuerungen nur noch notdürftig oder auch gar nicht mehr Schritt halten zu können, womit sich auch das bereits beschriebene Empfinden, quasi auf einem abrutschenden Abhang oder auf einer Rolltreppe nach unten zu stehen, zunehmend verschärft. Der Soziologe Richard Sennett, der diese Entwicklung vor allem im Bereich der Arbeitswelt in einer bahnbrechenden Studie untersucht hat, charakterisiert die damit einhergehende Kurzatmigkeit der Lebensperspektiven als ziellose »Drift«. Eine beziehungs- und bindungsarme Art von Berufs- und Alltagserfahrung – »die in der Zeit, von Ort zu Ort, von Job zu Job dahintreibt« – droht die Persönlichkeitsstruktur und einen als stimmig erlebten lebensgeschichtlichen Zusammenhang zunehmend zu zersetzen (Sennett, 1998, S. 26 f.). Einen indirekten Hinweis auf die tiefen Ängste, die durch die von Sennett beschriebenen Verhältnisse hervorgerufen werden, könnte man übrigens auch der auffällig unangemessenen Übersetzung des Titels seiner englischsprachigen Untersuchung für die deutschsprachige Ausgabe entnehmen. »The Corrosion of Character« – was sinngemäß als »Die Zersetzung der Persönlichkeit« übersetzt werden könnte – verwandelte sich dabei zum fast schon penetrant harmlosen deutschen Titel »Der flexible Mensch«. Die starke Ausprägung dieser sprachlichen Verharmlosung kann immerhin als Indiz für die Intensität der entgegengesetzten Empfindungen gewertet werden, denen dabei die bewusste Anerkennung verwehrt werden soll. Auf gesellschaftlicher Ebene läuft das die einfache Generationenfolge übersteigende Tempo des sozialen Wandels besonders auch auf

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die fatale Tendenz hinaus, dass die weitgehend beschleunigungsresistente bzw. auch -unfähige »Eigenzeit des Politischen« gegenüber der intensiven Dynamik anderer Gesellschaftsbereiche (wie Wirtschaft, Finanzmärkte, Technologie, Wissenschaft) immer mehr ins Hintertreffen gerät. Dadurch »hat die Politik […] gegen Ende des 20. Jahrhunderts ihre in der klassischen Moderne unangefochtene Stellung des sozialen Schrittmachers […] verloren« (Rosa, 2005, S. 407). Die damit einhergehende Schwächung der demokratischen Willensbildung wird auch durch den globalen Vormarsch einer extremistischen Ideologie der »freien Marktkräfte« verschärft, denen von Seiten der Politik keinerlei Beschränkungen mehr auferlegt werden dürften, um die in ihnen angeblich angelegte Fähigkeit zur optimalen Lösung aller gesellschaftlichen Probleme zur vollen Entfaltung zu bringen. Damit droht das Erbe der Aufklärung – dem wir den Anspruch verdanken, unsere Geschichte aktiv, im Sinne selbst gewählter, in gleichberechtigter Diskussion vereinbarter Werte und Ziele zu gestalten – definitiv zu Grabe getragen zu werden. Wenn es freilich noch eine Aussicht gibt, den uns gefährlich überfordernden Beschleunigungstrends Einhalt zu gebieten, dann muss sie im Gegenteil in einer Wiederentdeckung und Erneuerung gerade dieses Erbes liegen: in einer energischen Ausweitung und Stärkung des politischen Raumes, in dem großzügig bemessene Zeit für eine breite, offene und lebendige Meinungs- und Willensbildung garantiert werden kann, um verantwortungsvolle, wohlüberlegte, konsensfähige, vor allem aber auch verbindliche Weichenstellungen, Regeln und Prioritäten zu erreichen. Dass eine solche Aussicht zumindest in der bisherigen Spät- oder »Post«-Moderne nur wenig Überzeugungskraft entwickeln konnte, trägt offensichtlich zu einer breiten Palette prominenter geistes- oder sozialwissenschaftlicher Diagnosen bei, die Paul Virilios bereits erwähnten Zivilisationsbefund eines »rasenden Stillstands« mehr oder weniger deutlich bekräftigen und akzentuieren. Ähnlich wie der Politologe Francis Fukuyama »das Ende der Geschichte« verkünden konnte, entdeckte auch der Medientheoretiker Jean Baudrillard ein »Sich-Erschöpfen der Geschichte im Schaueffekt« oder der Anthropologe Arnold Gehlen die lähmende Wirkung einer »kulturellen Kristallisation«. Vergleichbar mit der Dia-

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gnose des Soziologen Jürgen Habermas von einer »Erschöpfung utopischer Energien« spricht auch der Politologe Claus Offe von einer »Utopie der Nulloption«, die er mit der bedrohlichen Aussicht verknüpft, »dass Gesellschaften gerade im Ergebnis rapider Modernisierungs- und Rationalisierungsprozesse in den Zustand dumpfer Schicksalhaftigkeit und Unbeweglichkeit zurückfallen könnten, den zu überwinden das Ursprungsmotiv von Modernisierungsprozessen war« (zitiert nach Rosa, 2005, S. 452). Der Philosoph Edgar Morin und die Literaturkritikerin Anne Brigitte Kern sprechen von einem »rasenden Lauf, auf dem uns die Entwicklung fortreißt, die immer weniger die Gestalt von Fortschritt hat« und uns jenseits einer »kritischen Grenze in der Beschleunigung […] nunmehr zum explosiven Kontrollverlust führen könnte« (Morin u. Kern, 1993, S. 110 f.). Gemeinsam ist solchen Diagnosen der dringende Verdacht, »dass die scheinbar grenzenlose Kontingenz und Offenheit moderner Gesellschaften und ihr rascher und fortgesetzter Wandel nur Erscheinungen an der ›Benutzeroberfläche‹ sind« – wie dies etwa der Literaturkritiker Lothar Baier formulierte –, »während ihre Tiefenstrukturen unbemerkt verhärten und erstarren« (Rosa, 2005, S. 152). »Wir sitzen alle in einem Boot und haben die Orientierung verloren. Da heißt der Befehl: Schneller rudern!« Diese bildhafte Charakterisierung des Zustands unserer Zivilisation, die die eben umrissene Sichtweise vor der Jahrtausendwende kurzfristig grell ins Schlaglicht der öffentlichen Aufmerksamkeit rückte, regte die Psychoanalytikerin Thea Bauriedl dazu an, den tieferen Wurzeln dieser existenziellen Krise nachzuspüren. »Trotz oder wegen der sich ständig erhöhenden Geschwindigkeit auf allen Gebieten« – so formuliert sie ihren entsprechenden Befund – »scheint sich unsere Zivilisation einem Stillstand zu nähern« (Bauriedl, 1999, S. 41), in welchem widersprüchliche Ängste vor einem eigenen Zurückbleiben und vor einer bedrohlichen Zukunft gleichermaßen zum Tragen kommen. Einerseits wird der »Geschwindigkeitsrausch, in dem wir unsere Lähmung nicht mehr erkennen können«, von der Phantasie genährt, »dass später auf jeden Fall alles besser sein wird« und »wir es [dann] natürlich eilig [haben], dass es ›später‹ wird.« Andererseits führt eine zunehmende Zukunftsangst dazu, dass »wir gleichzeitig

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nicht mehr so recht wissen, wohin wir eigentlich wollen« und dabei in eine »orientierungslose Kreisbewegung« geraten (S. 44). In einer »immer schneller werdenden scheinbaren Vorwärtsbewegung bleiben immer mehr Menschen ›auf der Strecke‹ und die anderen versuchen, ihre menschlichen Gefühle möglichst wenig zu beachten. Wenn man bei denen sein will, die ›vorne‹ sind«, muss die Frage »Funktioniere ich richtig?« die für jede konstruktive Lebensorientierung vorrangige Frage »Was fühle ich wirklich, und was will ich deswegen tun?« zunehmend zum Verstummen bringen. In dieser angstgetriebenen Betriebsamkeit »sind [wir] ganz groß im Aushalten und sehr schwach im Spüren dessen, was wir uns selbst, anderen mit uns lebenden Menschen und unseren Nachkommen antun und antun lassen.« Zumindest vorübergehend können die dabei zumindest unterschwellig unausweichlichen »Bedrohungs- und Schuldgefühle […] durch die erhöhte Geschwindigkeit und die damit verbundenen Erfolgs- und Überlegenheitsgefühle […] in Schach gehalten werden« – freilich um den Preis einer zunehmenden Stagnation von überlebensfördernder Vorstellungskraft und Initiative (Bauriedl, 1999, S. 45 f.). Vor allem die nie nachlassende Angst vor einem ÜberholtWerden führt dazu, dass man »es nicht [wagt], eigene Werte zu schaffen und damit eventuell selbständig in eine Richtung zu gehen, die aus der Gefahr herausführt, denn man kennt sich selbst nur entweder ›nachlaufend‹ oder ›vorauslaufend‹, wobei […] ständig um das ›Vorne-Sein‹ gekämpft wird.« In dieser Konstellation ist eine letztlich lebensgefährliche Lähmung des Orientierungssinns weitgehend vorprogrammiert: »Die Richtung dieses Wettlaufs wird freilich immer von den anderen bestimmt: Man bemüht sich darum, möglichst frühzeitig zu wissen, wohin die anderen Lemminge laufen, und versucht, sie zu überholen, ohne sich zu fragen, ob man selbst überhaupt in diese Richtung will« (Bauriedl, 1999, S. 52). Dieser Verlust des Orientierungssinns gewinnt auch unter dem Gesichtspunkt der sich unter den beschriebenen Wettlaufbedingungen verschärfenden Zeitnot an psychologischer Zwangsläufigkeit. »In der von Spekulation und Wette beschleunigten Wirtschaft«  – erläutert etwa der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer diesen Zusammenhang – »spitzt sich gegenwärtig

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ein Prozess zu, den bereits Marx beschrieben hat: eine wachsende Rastlosigkeit, bedingt durch Zwänge des Kapitals, sich selbst immer wieder neu zu erfinden. Die Guten besiegen nicht mehr die Schlechten, sondern die Schnellen die Langsamen.« Auf psychologischer Ebene läuft dieser zunehmende Geschwindigkeitsbonus auf eine akute Rückentwicklung und einen Verfall reiferer Formen des Denkens und Fühlens hinaus. »Die primitiven, ›schnellen‹ Affekte von Angst und Wut sowie deren manische Abwehr überwältigen die differenzierteren Leistungen der Psyche, den Reichtum an zweckfreien Träumen, an emotionaler Nähe und der Bereitschaft, langfristige Folgen zu bedenken« (Schmidbauer, 2011, S. 8). Auch unter diesem (stärker auf das »individuelle Innenleben« gerichteten) Blickwinkel der emotionalen und kognitiven Handlungsspielräume wird also deutlich, wie oberflächliche Beschleunigung auf einer tieferen und grundlegenderen Ebene zu zunehmender Unbeweglichkeit führen kann.

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Tempowahn Zur Kultur der ständig größeren Geschwindigkeiten in der menschlichen Mobilität und deren Auswirkungen auf Gesellschaft und Gesundheit Auf der Internationalen Automobilausstellung (IAA) im September 2019 sahen sich die Autokonzerne zum ersten Mal seit Jahrzehnten mit einem breiten öffentlichen Protest konfrontiert. Dieser richtete sich gegen schwere SUV-Modelle, immer höhere PS-Stärken und den Tempowahn, der die Autogesellschaft im Allgemeinen und die IAA im Besonderen bestimmt. Im Rahmen eines Streitgesprächs mit Vertretern der Autobranche argumentierte die Umweltaktivistin Luise Neumann-Cosel: »Wir sitzen in einem Auto und rasen mit Tempo 250 auf den Abgrund zu« (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.09.2019). Die Vertreter der Autokonzerne erklärten: »Wir haben verstanden.« Was sich freilich bloß als Fassade für ein »Weiter so« erweist. So bewarb im gleichen Sommer 2019 der Daimler-Konzern ein neues Mercedes-Modell mit den Worten »Wenn dieser Sommer noch nicht heiß genug war, dann heizt der Mercedes AMG GLA 45 4MATIC noch mehr ein« (Süddeutsche Zeitung, 03.08.2019). Das mit diesen Worten beworbene Modell hat eine Spitzengeschwindigkeit von 315 Stundenkilometern. Die ergänzenden Daten lauten: 639 PS, in 3,2 Sekunden auf Tempo 100, 17 Liter Verbrauch auf 100 Kilometer, 257 Gramm CO2 je Kilometer und ein Einstiegspreis von 168.910 Euro (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.07.2019). Nach der IAA brachte die Frankfurter Allgemeine Zeitung auf einer Dreiviertelseite einen schwelgerischen »Fahrbericht« über den neuen Rolls Royce Cullman. Betont wird, dass in Wohngegenden das vorgeschriebene »Limit von 30 Stundenkilometer mit diesem Koloss unheimlich schwer einzuhalten ist«, dass »ein völlig überflüssiges Nachtsichtsystem« und »sündhaft teure Picknicksitze« im Gesamtpreis (425.544 Euro) enthalten sind. Insgesamt, so der Autor Boris Schmidt, handelt es sich bei dem Modell um ein »Fest für die Sinne«. Ergänzende Daten: Leergewicht 2,7 Tonnen, 571 PS, Höchstgeschwindigkeit 250 Stundenkilometer, Verbrauch »im Durchschnitt

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16,7 Liter Super« bei 341 Gramm CO2 je Kilometer (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.10.2019). Nun ließe sich sagen: Es gibt doch in Bälde die Elektromobilität. Und diese Elektro-Pkws bewegen sich bedeutend zivilisierter. Tatsächlich präsentierten die Autohersteller Porsche, Daimler und Audi auf derselben IAA drei Elektro-Modelle. Alle haben mehr als 400 PS Motorstärke und wiegen um die 2,5 Tonnen. Die Batterien allein wiegen knapp so viel wie ein VW-Käfer-Modell aus den 1960er Jahren. Die Spitzengeschwindigkeiten liegen bei 200 Stundenkilometern und mehr. Über das von Porsche vorgestellte Modell Taycan wird berichtet: »Es werden Fahrleistungen geboten, die selbst die Tesla plötzlich glanzlos auf den Rädern stehen lassen. Es gibt zwei Leistungsstufen mit 761 und 680 PS, die sich in 2,8 und 3,2 Sekunden auf Tempo 100 beamen.« Zynisch dann der Trost für Klimaschützer: »Zukünftig wird mit recyceltem Material gearbeitet, zum Beispiel mit Fischernetzen bei den Fußmatten. Hallo, Greta!« (Bild am Sonntag, 08.09.2019). Alle E-Autos werden übrigens als »Zero Emission Vehicles« definiert. Die Autohersteller können diese angeblichen Null-Emissions-Autos gegen Autos mit hohem Diesel- oder Benzinverbrauch aufrechnen und so dafür einsetzen, noch zusätzliche SUVModelle auf den Markt zu bringen – auch wenn sie real (auch die Herstellung und Entsorgung eingerechnet) mehr CO2 emittieren als ein bescheiden motorisierter Mittelklasse-Pkw.

Die Geschichte der Mobilität: Vom Schritt und Trab zum Galopp und Tempowahn Viele Tausende Jahre lang bewegten sich die Menschen mit vergleichbar geringen Geschwindigkeiten, gewissermaßen mit Bodenhaftung: zu Fuß, mit einem Ochsenkarren, in einer Kutsche, zu Pferde. Seit dem massenhaften Einsatz von Eisenbahnen hat sich die Erdverbundenheit relativiert. Auto und Flugzeug haben diese Tendenz beschleunigt und verallgemeinert. Heinrich Heines Feststellung, wonach mit den Eisenbahnen »die Elementarbegriffe von Zeit und Raum […] schwankend geworden [sind]« (Heine, 1843/1984, S. 449), bezieht sich gewissermaßen auf die »gefühlte Raum- und Zeitlosigkeit«. In Wirklichkeit bleiben Raum und Zeit feste Bezugs-

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größen. Allerdings sind die rasanteren Gangarten mit einer Bewusstlosigkeit hinsichtlich der Zeit und mit einer Rücksichtslosigkeit gegenüber Natur und Klima verbunden. In den vergangenen 350 Jahren kam es zu fünf Transportrevo­ lutionen, von denen vier die Beschleunigung als zentrales Ziel hatten. In großen Teilen Europas und in Nordamerika gab es mit den seit dem 17. Jahrhundert errichteten Kanalsystemen eine erste Transportrevolution. Diese war zunächst für die industrielle Revolution bestimmend. Während bei den vorausgegangenen Verkehrsformen der durchreiste Raum als lebendige Einheit wahrgenommen wurde – Menschen, Pferde und Kutschen waren in die Natur eingebunden –, erschienen bereits die Kanäle (mit riesigen Brücken und Tunneln) wie durch den Raum hindurchgeschlagen. Zeitgewinne resultierten aus verkürzten Wegen. Die Energie bei den Kanaltransporten war allerdings noch »irdisch«: menschliche Arbeitskraft, Pferde und der Wind (Wolf, 2009, S. 23 ff.). Mit den zunächst mit Dampfkraft angetriebenen Eisenbahnen – der zweiten Transportrevolution – wurde ab den 1820er Jahren die Transportgeschwindigkeit qualitativ – im Vergleich zur Kutsche um das Dreifache – gesteigert. Weitgehend parallel mit den Eisenbahnen kam es mit der Durchsetzung des Fahrrads gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einer dritten Verkehrsrevolution. Diese Transportrevolution wird allerdings kaum wahrgenommen oder gar gewürdigt – handelte es sich doch gewissermaßen um eine »Konterrevolution«: Die menschliche Kraft diente wieder als Energiequelle. Der Transportierte war wieder der Transporteur; die Verbundenheit von Mensch und Raum und Zeit war (wieder) gegeben. Nachdem der Fahrradverkehr mit der Massenmotorisierung im 20. Jahrhundert fast komplett verdrängt wurde, erlebt er seit Ende des Jahrhunderts ein erstaunliches Revival – weitgehend und nicht zufällig parallel mit dem Anwachsen der Umwelt- und Klimabewegung, die zugleich eine Bewegung der Entschleunigung ist. Anfang des 20.  Jahrhunderts begann mit dem massenhaften Einsatz von Pkws und Lkws in Nordamerika die vierte Transportrevolution. Sie setzte an den Grundprinzipien der ersten und zweiten an und ist nochmals mit einer neuen Energiequelle verbunden: der Verbrennung von Öl und seinen Derivaten Diesel

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und Benzin. Mit ihr kam es erneut zu einer deutlichen Steigerung der Transportgeschwindigkeiten. Die fünfte Revolutionierung der Verkehrsorganisation fand mit der Luftfahrt statt. Seit Ende des 20. Jahrhunderts hat die Liberalisierung des Flugverkehrs und das Aufkommen so genannter Billigflieger den Flugverkehr immens gesteigert und verallgemeinert. Die Reisegeschwindigkeit wird erneut erhöht, nun hebt der Mensch im physikalischen und im übertragenen Sinn nachgerade ab. Spätestens seit den zwei letzten Transportrevolutionen ist der Austausch zwischen Mensch und Natur völlig auf die Ziele der fortgesetzten Beschleunigung und das ungehemmte Wachstum ausgerichtet. Dort, wo Natur diesen Zielen im Weg steht, wird sie überbrückt, untertunnelt und begradigt. Die menschlichen Opfer auf dem Weg zum globalen Tempowahn sind enorm. Der Bau der Kanäle war bereits mit einem großem Verschleiß an menschlicher Arbeitskraft verbunden; in England wurden dafür vor allem kasernierte irische Arbeitskräfte eingesetzt. Der Bau der ersten interkontinentalen Eisenbahn in den USA soll ebenso viele Menschen – überwiegend Chinesen – das Leben gekostet haben, wie es Schienenschwellen gibt. Der Bau des Suezkanals und des Panamakanals forderte mehr als 40.000 Menschenleben. Die strategischen Verkehrsprojekte zur Beschleunigung hatten vielfach eine militärische Komponente. Als beim Bau des Gotthard-Tunnels in der Schweiz die italienischen »alpinen Steinarbeiter« gegen die unmenschlichen Arbeitsbedingungen streikten, schlug das schweizerische Militär die Insurrektion blutig nieder. Der Panamakanal wurde von der US-Regierung von vornherein als »Teil der Küstenlinie der USA« gesehen; die Panama-Kanalzone war bis 1999 eine militarisierte Zone unter US-Kontrolle. Die in jüngerer Zeit umgesetzten, die in Bau befindlichen und die in den nächsten Jahren geplanten Großprojekte im Verkehrssektor setzen diese Entwicklung fort. Das Gelände rund um das Eingangsportal des von einer Bürgerbewegung heftig bekämpften Tunnels im italienischen Val di Susa – es geht um den Bau einer Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Turin und Lyon  – wird mit Militärfahrzeugen gesichert. Die europäischen »Missing Link«und TEN-Projekte (Eurotunnel, Alpentunnel, Brücken-Tunnel-

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Verbindungen in Nordeuropa, wie zum Beispiel die Fehmarnbelt-Querung), das Großprojekt Stuttgart 21, der Bau neuer großer Seehäfen, die Vertiefung von Flussläufen und die Erweiterung des Panamakanals erhöhen die Transportgeschwindigkeiten und steigern gleichzeitig die Transportinflation und die Belastungen von Gesundheit, Umwelt und Klima.

Tempowahn und Demokratie Der Tempowahn ist mit einem Verlust von Bodenhaftung, mit einer Zerstörung von Nähe und mit einem Bewusstsein verbunden, dass technisch alles machbar sei – und dass das technisch Machbare auch das sinnvollerweise zu Machende sei. Doch die Raum- und Zeitlosigkeit ist nicht real. Der Tag hat weiterhin 24 Stunden. Der Raum und die Materie sind weiter existent bzw. sie verändern sich – Umwelt wird zerstört, der Treibhauseffekt wird gesteigert –, auch weil die Verletzbarkeit von Mensch, Raum und Materie immer mehr aus der direkten Erfahrungswelt ausgeblendet wird. Dabei beschädigt der Geschwindigkeitsrausch nicht nur Umwelt, Natur, Klima und die menschliche Gesundheit. Er hat auch negative Auswirkungen auf Gesellschaftlichkeit und Demokratie. Paul Virilio beschrieb die Gefahr einer »Dromokratie«, einer Herrschaft der Geschwindigkeit, die der Demokratie entgegengesetzt sei. »Der dromokratische Geist […] wirkt wie ein permanenter Angriff auf die Welt und durch sie hindurch, wie ein Angriff auf die Natur des Menschen: die Vernichtung von Fauna und Flora und die Außerkraftsetzung der natürlichen Ökonomie sind nur schwache Vorläufer von viel brutaleren Zerstörungen« (Virilio, 1980, S. 80). Der Philosoph und Jesuit Ivan Illich sah im Geschwindigkeitswahn einen Ausdruck der modernen Klassengesellschaft. In den 1930er Jahren konnte zum Beispiel noch jeder einfache Bauer den Präsidenten Mexikos (wo Illich lange Zeit lebte) »begleiten, wenn er auf seinem Pferd saß. Wenn heute ein Gouverneur in seinem privaten Hubschrauber sitzt, kann ihn nur sein persönlicher Tross begleiten. […] die spezielle Reisegeschwindigkeit [zeigt] an, welcher Schicht ein Mensch angehört und welchen Umgang er pflegt« (­Illich, 1975/1998, S. 64).

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Der Verkehrswissenschaftler Hermann Knoflacher verall­ge­mei­ nerte diesen Zusammenhang und verband damit gewissermaßen eine Revolutionstheorie. Er schrieb: »Die hohen Geschwindigkeiten sowie der individuelle Zugriff auf Bürger, ihr Kapital, ihr Eigentum und ihren Lebensraum, sind die Voraussetzungen für die dynamische Zentralisierung aller unserer Strukturen. Nur über hohe Geschwindigkeiten in einem billigen Verkehrssystem mit starker positiver Reizung und damit Täuschung der Opfer kann man in einer Demokratie […] jene zentralen Strukturen errichten, die für eine immer stärkere Abhängigkeit aller Bevölkerungsgruppen von einzelnen Organisationen benötigt werden. Die zentralistischen Großstrukturen des Westens haben längst erkannt, dass sie einen Fehler des Ostens nie nachmachen dürfen, nämlich die Menschen zu viel zu Fuß gehen zu lassen. Die Revolution im Osten hätte nie stattgefunden, hätte man die Menschen rechtzeitig motorisiert und mechanisch mobilisiert. […] Revolutionen finden nur zu Fuß statt. Die Unterwerfung der Menschen erfolgt auf Rädern« (Knoflacher, 2001, S. 53 f.).

Gesundheit, Verletzte und Tote Der Autoverkehr ist jährlich weltweit mit rund 1,35 Millionen Toten verbunden. Pro Tag sterben 3.700 Menschen im Straßenverkehr. EUweit sind es aktuell 25.000 Straßenverkehrstote im Jahr. In Deutschland lag dieser Blutzoll 2018 offiziell bei 3.275 Getöteten. Das heißt: In einer Dekade wird auf der Welt die Einwohnerzahl einer MegaCity mit gut 13 Millionen Einwohnern, in der EU die Bevölkerung einer Großstadt mit 250.000 und in Deutschland die Population einer größeren Kleinstadt mit 32.000 Menschen ausgelöscht. Dabei wächst die Zahl der Straßenverkehrstoten weltweit von Jahr zu Jahr. Es handelt sich dabei nicht um den »Preis der Mobilität«. Der extrem hohe Blutzoll ist zu mehr als 90 Prozent auf die spezifische Form der Automobilität zurückzuführen. Es handelt sich dabei noch um stark untertriebene Angaben. Dies hat vor allem der Filmregisseur und Sachbuchautor Klaus Gietinger deutlich gemacht. Weltweit gibt es eine gewaltige Dunkelziffer; es gibt gute Gründe, von doppelt so hohen Zahlen auszugehen. In der EU existieren unterschiedliche Definitionen dafür, wann es sich um

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einen Straßenverkehrstoten handelt. In Deutschland gilt: Nur diejenigen, die innerhalb von dreißig Tagen nach einem Verkehrsunfall an seinen Folgen sterben, werden als Verkehrstote statistisch erfasst. Wer nach diesem Zeitraum stirbt, ist keiner mehr – auch wenn er nachvollziehbar an den Folgen eines Verkehrsunfalls starb. Die erhebliche Verbesserung der Unfallhilfe und der medizinischen Versorgung in den letzten Jahrzehnten führten so dazu, dass ein wachsender Teil von tatsächlichen Straßenverkehrsopfern nicht mehr als solche statistisch erfasst werden (Gietinger, 2019, S. 11 ff.). Die entscheidende Ursache für Tod und schwere Verletzungen im Straßenverkehr ist die Geschwindigkeit. Verharmlosend ist dabei im Amtsdeutsch von »nicht angepasster Geschwindigkeit« die Rede. Das Statistische Bundesamt fasst dies wie folgt zusammen: »Unfälle durch nicht angepasste Geschwindigkeit haben nach wie vor die schlimmsten Unfallfolgen: Im Jahr 2017 gab es bei Unfällen, bei denen die Polizei mindestens einer Fahrzeug führenden Person zu schnelles Fahren zur Last legte, 24 Tote je 1.000 Unfälle mit Personenschaden. Bei allen Unfällen waren es elf Getötete. Auch die Zahl der Schwerverletzten war mit 336 je 1.000 Unfällen mit Personenschaden überdurchschnittlich hoch. […] Im Jahr 2017 kamen 1.077 Menschen bei Geschwindigkeitsunfällen ums Leben, 60.079 wurden verletzt. Damit starb mehr als jeder Dritte (34 Prozent) aller im Straßenverkehr Getöteten bei Unfällen aufgrund nicht angepasster Geschwindigkeit« (Statistisches Bundesamt, 2018).

Geschwindigkeit, Aggression und Gewalt Die massenhafte Motorisierung und die ersten Erscheinungen von Ölkrisen, Energieverknappung und Treibstoffverteuerung führten in allen Ländern mit hohem Motorisierungsgrad, die Bundesrepublik Deutschland ausgenommen, zur Einführung von allgemeinen Begrenzungen der Höchstgeschwindigkeit, die in einer Spannweite zwischen 88 Stundenkilometern in den USA, 120 in der Schweiz und 130 Stundenkilometern in den meisten übrigen Ländern liegen. Diese reduzierten teilweise – und zeitlich begrenzt – die Brutalität und den Blutzoll, die mit dem Straßenverkehr verbunden sind. Seit den 1990er Jahren gab es einen wachsenden Druck, die Tempolimits

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an- und teilweise auch aufzuheben. Vor allem werden sie in der Praxis flächendeckend unterlaufen, was in einigen Ländern kaum geahndet wird. In den meisten mittel- und osteuropäischen Ländern gab es nach der Wende Anhebungen der Tempolimits. Ähnliches erfolgte in einzelnen US-Bundesstaten – so in Texas, wo die Zahl der Unfalltoten nach einer 1996 eingeführten Anhebung des Tempolimits auf Highways von 65 auf 70 Meilen pro Stunde um 17 Prozent anstieg, nachdem sie zuvor seit 1980 kontinuierlich zurückgegangen war (Deutscher Bundestag, 1999). Es sind im Übrigen meist rechte und rechtsextreme Parteien und Strömungen, die für die Aufhebung von Tempolimits mobilisieren. In Österreich führte zum Beispiel der dem Bündnis Zukunft Österreich (BZÖ) angehörige Verkehrsminister Hubert Gorbach 2005 versuchsweise eine zwölf Kilometer lange Autobahnstrecke mit einer Höchstgeschwindigkeit von 160 Stundenkilometern ein, die zum Anziehungspunkt für Raser (»4,5 Minuten Fahrspaß«) wurde. Das politische Zwischenspiel des aus der FPÖ hervorgegangenen BZÖ wurde unter anderem dadurch beendet, dass ihr Führer Jörg Haider seinen VW Phaeton mit hoher Geschwindigkeit gegen einen Baum fuhr und dabei den Tod fand. Worauf die Quellpartei FPÖ einen neuen Aufschwung nahm und 2017 ihrerseits im Bündnis mit der ÖVP für eineinhalb Jahre Regierungspartei wurde. Im Sommer 2018 führte der damalige FPÖ-Verkehrsminister Norbert Ho­fer (seit Mitte 2019 auch der neue FPÖ-Parteichef) zwei neue »Versuchsstrecken« ein, auf denen das Tempolimit auf 140 (statt 130) angehoben wurde. Die Gewalt im Autoverkehr, mal als »Asphalt-Aggression«, mal als »road rage« bezeichnet, ist Teil des Alltags der Autogesellschaft. Prominente machen es vor. Die Sportlerin Franziska von Almsick raste mit 116 Stundenkilometern durch Berlin (Frankfurter Rundschau, 04.02.1999). Der Schauspieler Mel Gibson wurde in Malibu, USA, mit zu hohen Promillewerten und überhöhter Geschwindigkeit festgenommen und klärte die Verkehrspolizei darüber auf, dass »die Juden für alle Kriege in der Welt verantwortlich« seien (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.07.2006). Der Schauspieler Jack Nicholson, der sich von einem Mercedes-Fahrer geschnitten fühlte, stieg an der nächsten roten Ampel aus, nahm den Golfschläger von der Rückbank seines Wagens und traktierte das »gegnerische« Auto (Süddeutsche

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Zeitung, 02.07.1997). Der aus Armenien stammende und in Berlin lebende Berufsboxer Arthur Abraham, dem der Tagesspiegel mit kaum verhohlener Bewunderung zuerkennt, mit 230 Stundenkilometern »den Berliner Rekord in Sachen Geschwindigkeitsüberschreitungen« zu halten (Tagesspiegel, 29.09.2011), wird von führenden Medien als eine Art Kultfigur und Teil der High Society hofiert – zum Beispiel in einem ganzseitigen Interview, in dem er seine Begeisterung für die nur in Deutschland erlaubte »unbegrenzte Geschwindigkeit« bekundete: »Das ist Adrenalin. Wenn man über 300 fährt, geht es schon richtig zur Sache. Das macht mir Spaß« (Berliner Zeitung, 17.12.2017). Die dadurch verursachte Gefährdung für Leib und Leben von Tausenden Menschen wurde vom Interviewer mit keinem Wort angesprochen. Was Prominente mit ihrem Verhalten in die Schlagzeilen bringen, entspricht auch einem Massenphänomen. In Berlin wurde ein Mercedes-Fahrer verurteilt, der mit einem Tischbein auf den Lenker eines Austin-Mini eingeprügelt hatte. Die Erklärung des Tischbeinschwingers vor Gericht: Er habe dringend einkaufen und zu lange auf einen freien Parkplatz warten müssen (Der Spiegel, 13.07.1998). In den USA endeten harmlose Streiche böse: In Florida bespritzte ein Jugendlicher vorbeifahrende Autos mit seiner Wasserpistole; ein Pkw-Fahrer zog eine richtige Waffe und erschoss den Jungen. Der US-Autoclub AAA gab die Warnung aus: »Jeden Tag sind Tausende geistig und emotional gestörte Fahrer auf den Straßen unterwegs. Provozieren Sie niemanden! Sie spielen Russisches Roulette, wenn sie einem anderen Fahrer den Mittelfinger zeigen« (Süddeutsche Zeitung, 02.07.1997). Der Berliner Verkehrsrichter Peter Fahlenkamp: »Da wird gehauen, getreten, gespuckt oder gleich der Baseballschläger eingesetzt.« Selbst »mit Kreuzschlüssel und Klappspaten« wird aufeinander losgegangen (Der Spiegel, 13.07.1998). Die deutsche Polizei setzt Teams in zivilen Pkws ein, die Extrem-Raser auf den Autobahnen filmen und diese dann mit aufgesetztem Blaulicht zu stellen versuchen. Das gelingt nicht immer. Aus einem Bericht aus dem Jahr 2004: »Doch das Auto flüchtet so lange, dass selbst der […] herbeigerufene Polizeiwagen den Fahrer nur zum Anhalten bringen kann, indem er ihn rammt« (Mies, 2004). Es gibt Fälle von deutschen Rasern, die im Ausland bei massiven Geschwindigkeitsüberschreitungen erfasst, festgenommen und in

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der Folge gerichtlich verurteilt wurden – und danach in Deutschland gewissermaßen »Exil« erhielten. Am 20. Februar 2017 verurteilte das Geschworenengericht des Schweizer Kantons Tessin einen 43-jährigen Deutschen, der wiederholt mit Tempo 200 gefahren war, zu dreißig Monaten Haft. Die deutsche Justiz weigerte sich, den Mann in die Schweiz zu überstellen oder eine Haftverbüßung in einem deutschen Gefängnis in Erwägung zu ziehen – mit der Begründung, dass Geschwindigkeitsüberschreitungen in Deutschland lediglich eine »Ordnungswidrigkeit« seien (Stuttgarter Zeitung, 22.03.2018). Erst in jüngerer Zeit gab es in Deutschland erste harte Urteile gegen Raser – allerdings nur in Fällen, in denen diese konkret Menschenleben gefährdet, Menschen schwer verletzt oder getötet hatten. Nach einer Häufung von Raser-Unfällen (vor allem bei illegalen Straßenrennen) hob der Gesetzgeber im Herbst 2017 die Strafen an. Seither gelten illegale Rennen nicht mehr nur als Ordnungswidrigkeit, sondern als Straftat. Allerdings haben deutsche Gerichte höchst unterschiedliche Urteile gefällt. Die Strafen reichen von lebenslänglich wegen Mordes bis zu vergleichsweise kurzen Haftstrafen wegen fahrlässiger Tötung. So wurden in Berlin (illegales Autorennen auf dem Kudamm, bei dem ein unbeteiligter Autofahrer getötet wurde) und Hamburg (ein 24-Jähriger war mit einem gestohlenen Taxi gegen einen Pkw geprallt – ein Mensch wurde getötet) Urteile wegen Mordes gefällt. In Köln (illegales Autorennen, bei dem eine unbeteiligte Fahrradfahrerin getötet wurde) kam ein Gericht jedoch zum Schluss, es handle sich nur um fahrlässige Tötung; die Strafen wurden sogar zur Bewährung ausgesetzt (Stern, 26.03.2019). Die allgemeine Gefährdung von Leben und Gesundheit durch überhöhte Geschwindigkeiten besteht so lange weiter, wie es in Deutschland kein allgemeines Tempolimit auf Autobahnen und nur unzureichende Geschwindigkeitsbegrenzungen auf anderen Straßen und in Wohngebieten gibt. Dabei muss beachtet werden: Die gesundheitliche Gefährdung durch überhöhte Geschwindigkeiten existiert nicht nur in den Fällen, in denen es konkret zu Unfällen, Verletzungen und Tod kommt. Diese sind auch mit einem allgemeinen Klima von Stress und Hektik verbunden, das gesundheitsgefährdend wirken muss.

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Die Erklärungen für die wachsende Aggression auf den Straßen und die allgegenwärtige Gefährdung der menschlichen Gesundheit sind vielfältig. Vielfach wird eine weit hergeholte Vulgärpsychologie bemüht und auf die traditionell-archaische Rolle des Mannes als Jäger, auch, so der US-Automobilisten-Club AAA, als »Verteidiger eines Reviers« hingewiesen (Süddeutsche Zeitung, 02.07.1997), wobei es rund um das »Revier Parkplatz« oft zu gewalttätigen, auch tödlichen Szenen kommt. Es ist stattdessen sinnvoll, auf objektive Faktoren zu verweisen. Der Geschwindigkeitswahn wird gezielt – durch Technik und Regeln – »produziert«.

PS-Hochrüstung und SUV-Boom Von den Autoherstellern werden immer stärkere und schwerere PkwModelle angeboten. Diese vermitteln den Fahrern ein Gefühl von Sicherheit, das nicht in Übereinstimmung mit den Gesetzen der Physik zu bringen ist. Sie bieten erst die technischen Möglichkeiten für ein besonders aggressives Fahren und sie betreiben dabei eine gezielte Aufrüstungsstrategie. 1993 gab es in Deutschland bei einem Bestand von knapp 39 Millionen Pkws rund neun Millionen Pkws (oder 23  Prozent), die Spitzengeschwindigkeiten von 181 und mehr Stundenkilometern ermöglichten. Darunter befanden sich 2,5 Millionen Pkws mit TopSpeed 200 und darüber. Die letztgenannte Gruppe hatte somit einen Anteil von 6,4 Prozent am gesamten Pkw-Bestand. 2016 wies die offizielle Statistik einen Gesamtbestand von 45 Millionen Pkws aus, unter denen sich bereits 13,5 Millionen Pkw (oder 30 Prozent) mit Top-Geschwindigkeiten von 200 Stundenkilometern und mehr befanden. (Der tatsächliche Anstieg der Pkw-Zahl zwischen 1993 und 2016 liegt freilich um rund fünf Millionen darüber, da seit 2008 die »vorübergehend abgemeldeten Fahrzeuge« nicht mehr statistisch erfasst werden.) Bei den Neuzulassungen hat inzwischen sogar die Mehrheit der Pkws Spitzengeschwindigkeiten von mehr als 200 Stundenkilometern; ein Fünftel der neuen Pkws hatte sogar TopSpeed 250 und darüber (Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, 2006, S. 136 f.; Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur, 2017, S. 136; Handelsblatt, 06.09.2019).

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Die Struktur der Pkw-Typen bringt den aggressiven Trend nochmals deutlicher zum Ausdruck. Das Gewicht des durchschnittlichen Pkw hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren um mehr als 50 Prozent auf rund 1,4 Tonnen erhöht. 1998 gab es in Deutschland 700.000 Geländewagen; 2018 waren es (allein schon nach der sehr engen Definition des Verkehrsministeriums) 4,5 Millionen. Der Anteil der SUVs an den Neuzulassungen von Pkws in Deutschland lag 2005 bei 6 Prozent; 2018 sind es 30 Prozent (Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur, 2018, S. 145). Die Beteuerungen auf der 2019er IAA, wonach wir vor dem Zeitalter der Elektro-Pkws stünden, sind lächerlich – einmal abgesehen davon, dass Elektroautos selbst keine überzeugende Alternative zu den konventionellen Pkws darstellen (vgl. Wolf, 2019). Im Vorfeld dieser Ausstellung verkündete der VW-Vorstand Ralf Brandstätter, man werde »bis 2025 allein bei der Marke Volkswagen das SUV-Angebot weltweit von derzeit elf auf dreißig Modelle ausweiten«. Dann wird jedes zweite Fahrzeug von VW ein SUV sein. Bei den VW-Töchtern Audi und Porsche wird dieser Anteil noch höher liegen (Handelsblatt, 06.09.2019). Dieser Trend gilt für alle deutschen und für die meisten Hersteller aus anderen Ländern. Es kommt dabei zu verstörenden Bildern. Im August 2019 präsentierte der Chef der Peugeot-Tochter Opel, Michael Lohscheller, in Eisenach das neue Opel-Modell Grandland, einen wuchtigen SUV. Er wurde bei der Präsentation flankiert vom IG-Metall-Vorstand Rudolf Luz, dem Ostbeauftragten der Bundesregierung Christian Hirte (CDU), der Oberbürgermeisterin von Eisenach Katja Wolf (Linke) und dem thüringischen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow (Linke). Der CO2-Ausstoß des Modells liegt um rund 50 Prozent über dem durchschnittlichen Grenzwert, der ab Januar 2020 für die Pkw-Flotten der Autohersteller gelten soll (Handelsblatt, 06.09.2019). Bei dem klobigen SUV-Wagentyp sind die Verletzungsgefahren vor allem für nichtmotorisierte Verkehrsteilnehmer besonders hoch. Oft sind solche Pkws noch mit einem Gestänge am Kühler ausgerüstet (»Kuhfänger«), das im Fall von Unfällen vor allem Fußgängern, Radfahrenden und Kindern besonders schwere Verletzungen zuzufügen kann. Das Risiko, bei einem Autounfall mit einem SUV schwer verletzt oder getötet zu werden, ist 50 ­Prozent

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höher als beim Zusammenstoß mit einem konventionellen Pkw. »Hauptursache dabei: der höhere Kühlergrill, der angefahrene Fußgänger nicht an den Beinen, sondern am empfindlicheren Oberkörper trifft. Besonders gefährdet sind Kinder, für die sich der Kühlergrill oft genau auf Kopfhöhe befindet« (Handelsblatt, 06.09.2019). So gut wie alle großen Hersteller rüsteten in jüngerer Zeit ihre SUV-Paletten auf. VW und Daimler bauen riesige Diesel-SUVs mit sechs Zylindern. Das VW-Modell Amarok fährt bis zu 205 Stundenkilometer schnell; in einem Motorbericht wird es als »rasender Lastwagen« beschrieben, der »in sieben-komma-irgendwas von null auf hundert« komme (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 15.07.2018). Der Wolfsburger Konzern will ab 2020 in den USA einen riesigen Pick-up-Truck bauen. In China vertreibt VW den SUV-­ Riesen Terramont. Es handelt sich wahrlich um eine Hochrüstung, die Elemente einer Kriegführung gegen Natur, Umwelt und Menschen enthält. Und so ist es nicht verwunderlich, wenn das besonders berüchtigte Modell dieser Klasse, der 3,1 Tonnen schwere Hummer H1, zunächst ausschließlich als teilgepanzertes Fahrzeug bei der US-Armee eingesetzt wurde. Seine großen Auftritte hatte der H1 im Golfkrieg 1991, da es das Lieblingsfahrzeug von General Norman Schwarzkopf war. Einem breiten Publikum wurde der H1 mit dem aggressiven Film »Terminator III« vertraut gemacht. Der Anteil der Frauen unter den Hummer-Käufern soll bei exakt null Prozent gelegen haben (Gropp, 2003). Die Geländewagen-Modelle sind Teil einer asymmetrischen Kriegführung im Pkw-Alltag: Es geht darum, sich panzerartig zu schützen und dadurch andere zu gefährden. In den Worten von Hans Mahr, Informationsdirekter des TV-Senders RTL, nach einer Probefahrt mit dem VW-Modell Touareg: »Als Familienwagen kann ich mir den gut vorstellen. Die meisten Menschen, die starke, große Autos kaufen, tun das, um darin ihre Familie zu beschützen« (zitiert nach Schäfer, 2003). Schließlich gibt es einen massenpsychologischen Effekt. In den Worten von Helmut Holzapfel, Professor für Verkehrsplanung an der Universität Kassel: »Aggressivität pflanzt sich fort. Es geht um ein Gruppenverhalten, und wer dabei

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ist, wird nach einiger Zeit selbst aggressiv« (Frankfurter Rundschau, 05.02.2004). Im Kontrast zu den aktuellen Debatten um Raser-Urteile gab es in Deutschland jahrzehntelang spektakuläre Prozesse, in denen aggressive Raser mit unverantwortlich milden Urteilen reingewaschen wurden. Das bestätigte den Eindruck, dass in der Autogesellschaft der Einsatz des Pkw als Waffe als Kavaliersdelikt akzeptiert wird. So erhielt der Kasseler Landgerichtspräsident W. E., der im Sommer 2000 mit 2,37 Promille am Steuer erwischt worden war und die ihn kontrollierenden Polizisten zu bestechen versucht hatte, nur eine Strafe auf Bewährung und durfte auch Richter im Amt bleiben (Frankfurter Rundschau, 24.01.2004). Ein 22-jähriger Autofahrer, der sein voll besetztes und verriegeltes Auto im Dezember 2003 mit zwei Promille gegen einen Baum fuhr, wodurch drei Insassen getötet wurden, wurde zu nur zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt (Frankfurter Rundschau, 13.05.2005). Ein Autofahrer ohne Führerschein mit einer Vorgeschichte von Fahrdelikten, der im April 2006 in Hannover mit 64 Stundenkilometern in einer Tempo-30-Zone ein neunjähriges Mädchen getötet hatte, konnte in einer Berufungsverhandlung erreichen, dass seine Haftstrafe von zwei Jahren zur Bewährung ausgesetzt wurde (Bild, 30.03.2007). Ein Mercedes-Testfahrer, der im Juli 2003 auf der Autobahn bei Karlsruhe mit einem 476-PS-Auto so dicht an den Kleinwagen einer 21-jährigen Mutter aufgefahren war, dass die Fahrerin, die mit ihrer zweijährigen Tochter unterwegs war, erschreckt das Steuer verriss, gegen einen Baum prallte und todlich verunglückte, wurde zu nur einem Jahr Haft auf Bewährung verurteilt (Der Spiegel, 30.08.2004). Im Prozess gegen den Testfahrer wurde auch deutlich, dass es sich bei seiner Fahrweise nicht allein um individuelles Fehlverhalten handelte. Der Daimler-Autokonzern testet seine Pkw mit Höchstgeschwindigkeiten in, wie ein Konzernsprecher mitteilte, »kundennaher Erprobung«, also nicht nur auf Teststrecken, sondern auch im zivilen Straßenverkehr. Besonders beliebt bei mehreren deutschen Autokonzernen waren lange Zeit Fahrten nach Skandinavien, bei denen, so ein Zeitungsbericht, »Tausende Testfahrer« regelmäßig die Straßen unsicher machten und auch für tödliche Unfälle verantwortlich gemacht wurden – wie zum Beispiel nahe der schwedischen

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Kleinstadt Ytterhogdal, wo im Februar 2005 eine 44-jährige Frau von einem Testpiloten mit einem 300 PS starken Mercedes-­Modell getötet wurde (wobei nach dem Unfall die im Unglückswagen installierte Messausrüstung vom Hersteller heimlich ausgebaut und beiseitegeschafft wurde). In der Tageszeitung Aftonbladet schrieb der erfahrene Motorjournalist Robert Collin: »Ich weiß, dass jeder Kilometer von Stuttgart nach Arjeplog [in Schweden; W. W.] ein Test ist. […] Die Fahrer fahren fast immer zu schnell und rücksichtslos« (zitiert nach Gamillscheg, 2005).

Autogesellschaft und Patriarchat Je höher der Automotorisierungsgrad in einer Gesellschaft, desto höher liegt der Grad, in dem Frauen an der Pkw-Mobilität teilhaben. Das ist auch kaum anders vorstellbar, da Frauen für die Organisation eines erheblichen Teils der familiären Mobilität – die Kinder zum Kindergarten und zur Schule bringen, Einkäufe und Verwaltungsgänge erledigen – verantwortlich sind und immer mehr Ziele der Alltagsmobilität nur oder fast nur per Pkw erreichbar sind. Dennoch wird die Gleichberechtigung zwischen dem männlichen und dem weiblichen Geschlecht in Sachen Pkw-Mobilität regelmäßig überschätzt. Im Alltag verfügten 2014 laut offizieller deutscher Statistik 81 Prozent der Männer über einen Pkw; bei den Frauen liegt der Anteil bei 72 Prozent. Bei aggressiven Akten im Straßenverkehr sind in circa 85 Prozent der Fälle Männer die Verantwortlichen. Generell gilt, so auch die Erkenntnis der Versicherungswirtschaft, dass der Anteil von Frauen an selbst verschuldeten Straßenverkehrsunfällen in dem Maß sinkt, wie solche Unfälle mit schweren Verletzungen oder gar Todesopfern verbunden sind. Besonders hoch liegt der Anteil von Männern dort, wo Autofahrende Fußgänger oder Fahrradfahrer schwer verletzen oder töten. Es handelt sich dabei um ein internationales Phänomen. So legen zum Beispiel die Ergebnisse einer in der New York Times beschriebenen umfangreichen Studie nahe, »dass Fußgänger schnell aus dem Straßenraum verschwinden sollten, wenn sich ein männlicher Autofahrer nähert. Männliche Pkw-Fahrer sind in Unfälle, bei denen Fußgänger getötet werden, drei Mal mehr verwickelt

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als Frauen, und zwar je gefahrener Meile […]. Und in Unfälle, bei denen Fahrradfahrende getötet werden, sind männliche Autofahrer sogar zehn Mal mehr verwickelt als Frauen am Steuer.« Die offiziellen Zahlen der US-Highway Traffic Safety Administration besagen, dass Männer je gefahrenen 100 Millionen Meilen 3,11 Mal in Unfälle mit Todesopfern verwickelt sind; bei Frauen »liegt dieser Anteil nur etwas höher als bei der Hälfte, bei 1,81« (Wald, 1999). Das korrespondiert ziemlich direkt mit der Pkw-Wahl: Der Anteil von Frauen bei den Zulassungen liegt bei kleinen Pkws mit wenigen PS – so entsprechende Modelle der Hersteller Peugeot, Hyundai, Renault und Fiat – am höchsten. Bei Pkws mit hoher PS-Zahl und hohen Top-Geschwindigkeiten – also zum Beispiel Porsche, Jaguar, Audi, Daimler und BMW – sind Männer dominierend (Handelsblatt, 04.05.2018).

Fordismus, Faschismus und Autorennen Am Anfang von Henry Fords Aufstieg und zu Beginn der Massenmotorisierung in Nordamerika kam der Tempowahn mit einer offenen Tollkühnheit zur Geltung, die auch als Todessehnsucht bezeichnet werden kann. Ford startete in die Automobilgeschichte mit ab 1901 veranstalteten Autorennen, mit denen er einen durchschlagenden Öffentlichkeiterfolg erzielen konnte. Zu einem der ersten Rennwagen meinte er: »Das Röhren des Zylinders konnte bereits einen Menschen halb töten.« Der vormalige Radrennfahrer Barney Oldfield, der mit einem der ersten Ford-Modelle daran teilnahm, äußerte sich dazu vor dem Start: »Na, die Karre kann ja mein Tod sein, aber wenigstens soll man sagen, ich sei wie der Deibel gefahren, wenn ich über die Böschung gehe« (zitiert nach Ford, 1923, S. 33). Ford gehörte auch zu den ersten Geldgebern für die erste, 1909 gebaute Autorennstrecke in Indianapolis (Lacey, 1987, S. 59 f.). Auch im faschistischen Zeitalter diente die Kultfigur des Rennfahrers als vorrangiges Mittel zur Verherrlichung von Tempowahn und Massenmotorisierung. Der Literaturwissenschaftler ­Victor Klemperer beschrieb die entsprechenden Inszenierungen des NSStaats: »Eine Zeitlang sind die Sieger in internationalen Autorennen, hinter dem Lenkrad ihres Kampfwagens oder an ihn gelehnt oder

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auch unter ihm begraben, die meist photographierten Tageshelden. Wenn der junge Mensch sein Heldenbild nicht von den muskelbeladenen nackten oder in SA-Uniformen steckenden Kriegergestalten […] abnimmt, dann gewiss von den Rennfahrern; gemeinsam ist beiden Heldenverkörperungen der starre Blick, in dem sich vorwärtsgerichtete harte Entschlossenheit und Eroberungswille ausdrücken.« In der Rennfahrer-Kluft erblickte er die »zeitlich zweite Uniform, in der nazistisches Heldentum auftritt. […] Die Vermummung des Rennfahrers sind sein Sturzhelm, seine Brillenmaske, seine dicken Handschuhe. […] Das einprägsamste und häufigste Bild des Heldentums liefert Mitte der dreißiger Jahre der Autorennfahrer. Nach seinem Todessturz steht Bernd Rosemeyer eine Zeitlang fast gleichwertig mit Horst Wessel vor den Augen der Volksphantasie« (Klemperer, 1947/1975, S. 10). Natürlich geht es heute zivilisierter zu. Oder besser gesagt: Der Kult um den Tempowahn wurde smart. Die Autorennen als Symbol der Autogesellschaft, als Ausdruck von faschistoid verstandener Männlichkeit, von Geschwindigkeitswahn und Menschenverachtung sind weiter präsent. Die Todesgefahr ist bewusst einkalkulierter Teil des Spektakels. Viele Formel-1-Rennfahrer, die in den Rennen den Tod fanden – Jochen Rindt, Ronnie Petersen, Roland Ratzenberger, Ayrton Senna –, werden bis heute wie Helden geehrt. Als im Juni 2007 der polnische Formel-1-Pilot Robert Kubica mit Tempo 280 beim Großen Preis von Kanada von der Strecke abkam, mit Tempo 230 gegen eine Betonmauer prallte, überlebte und erklärte, bereits vier Wochen später beim nächsten Rennen in Indianapolis mitzufahren, wurde er in Polen als Nationalheld gefeiert. Der Sportpsychologe Jan Mayer erteilte ihm den Ratschlag, er müsse nun »die Angst akzeptieren«, dürfe dieser aber nicht gehorchen, denn: »Bei Angst wird früher gebremst, doch dann braucht man keinen Leistungssport mehr zu machen« (zitiert nach Päätalo, 2007). Der Formel-1-Pilot Lewis Hamilton äußerte noch 2019: »Alle Formel-1-Piloten setzen ihr Leben aufs Spiel.« Die Menschen sollten dies »angemessen würdigen«. Zum Tod des Nachwuchspiloten Anthoine Hubert in Monza im September 2019 äußerte er: »Hubert ist für mich ein Held, weil er das Risiko auf sich genommen hat, für seinen Traum zu leben« (zitiert nach Hecker, 2019). Deutliche An-

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klänge an Mystik und Religion in der Verherrlichung des Tempowahns kommen denn auch in einem 2019 verfassten Bericht über das Formel-1-Heiligtum Monza zur Geltung, in dem unter anderem von »einem langgezogenen Heulen« die Rede ist, mit dem die »Motoren in den roten Bereich getrieben« werden. »›Monza hat etwas Ikonisches‹, sagt Renault-Pilot Nico Hülkenberg. Der Veranstalter lässt Journalisten ein schwarzes Büchlein überreichen, auf dem in blutroten Lettern die Markenbotschaft geschrieben steht: ›The Temple of Speed‹« (Hecker, 2019). Mit ihrer religiös-ideologischen Verbrämung begleiten die Autorennen und der Formel-1-Zirkus die Ausweitung der Autogesellschaft auf globaler Ebene. 2004 konnte der Formel-1-Zirkus erstmals den »Großen Preis von Bahrain« und die »Formula 1 of China« feiern. Letztere wurde in der Nähe von Schanghai, inmitten bitterer bäuerlicher Armut, mit Raum für 200.000 Zuschauer aus dem Boden gestampft. »Die Jugend sucht neue Begeisterung und liebt die Freude an der Geschwindigkeit«, wusste der Präsident der chinesischen Automobilsportvereinigung und Abteilungsleiter im Sportministerium Shi Tianshu (zitiert nach Blume, 2004). Die autoritären Verhältnisse, die in den neuen Gastländern des Geschwindigkeitskults herrschen, kommen dem Credo Bernie Ecclestones, der den Formel-1-Zirkus jahrzehntelang dirigiert hatte, ohne Weiteres entgegen: »Ich glaube an die Diktatur. Nicht nur in der Formel 1, sondern überall. Nur so können Sie wirklich die Sachen schnell erledigen« (zitiert nach Päätalo, 2004).

Literatur Blume, G. (2004). Großer Preis für China. Die Zeit, 01.04.2004. Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (2006). Verkehr in Zahlen 2006/2007. Hamburg: Deutscher Verkehrs-Verlag. Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (2017). Verkehr in Zahlen 2017/2018. Hamburg: DVV Media Group. Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (2018). Verkehr in Zahlen 2018/2019. Hamburg: DVV Media Group. Deutscher Bundestag (1999). Drucksache 14/1082 vom 27.05.1999. Ford, H. (1923). Erfolg im Leben. Mein Leben und Werk. Leipzig: List. Gamillscheg, H. (2005). Sie fahren wie verrückt. Frankfurter Rundschau, 25.02.2005.

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Gietinger, K. (2019). Vollbremsung. Warum das Auto keine Zukunft hat und wir trotzdem weiterkommen. Frankfurt a. M.: Westend. Gropp, M. (2003). Mammut im Tagebau. Handelsblatt, 06.12.2003. Hecker, A. (2019). Spiel mit dem Tod. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.09.2019. Heine, H. (1843/1984). Lutetia. Sämtliche Schriften, Bd. 5. München/Wien: Hanser. Illich, I. (1975/1998). Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik. München: Beck. Klemperer, V. (1947/1975). LTI. Notizbuch eines Philologen. Leipzig: Reclam. Knoflacher, H. (2001). Stehzeuge – Fahrzeuge. Der Stau ist kein Verkehrsproblem. Wien u. a.: Böhlau. Lacey, R. (1987). Ford. Eine amerikanische Dynastie. Düsseldorf: Econ. Mies, P. (2004). Ohne Rücksicht auf Verluste. Frankfurter Rundschau, 05.02.2004. Päätalo, J. (2004). Der kleine Diktator. Financial Times Deutschland, 08.03.2004. Päätalo, J. (2007). Dem Traum davonrasen. Financial Times Deutschland, 14.06.2007. Schäfer, P. (2003). Indiana Jones im Bauch des Konsumtempels. Handelsblatt, 30.05.2003. Statistisches Bundesamt (2018). Unfallentwicklung auf deutschen Straßen 2017. www.destatis.de/DE/Presse/Pressekonferenzen/2018/Verkehrsunfaelle-2017/ pressebroschuere-unfallentwicklung.pdf?__blob=publicationFile – Zugriff am 10.10.2019. Virilio, P. (1980). Geschwindigkeit und Politik. Ein Essay zur Dromologie. Berlin: Merve. Wald, M. L. (1999). Walking? Beware the male driver! The New York Times, 09.04.1999. Wolf, W. (2009). Verkehr. Umwelt. Klima. Die Globalisierung des Tempowahns (2., vollst. überarb. und aktual. Aufl.). Wien: Promedia. Wolf, W. (2019). Mit dem Elektroauto in die Sackgasse. Warum E-Mobilität den Klimawandel beschleunigt. Wien: Promedia.

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  Forschung unter Zeitdruck

Hans-Hermann Dubben

Beschleunigte medizinische Forschung

In der Praxis der medizinischen Forschung gibt es bewährte und anerkannte Methoden, mit deren Hilfe die Wirksamkeit und die Sicherheit medizinischer Maßnahmen gemessen und geprüft werden. Diese Forschung macht verständlicherweise Arbeit und braucht Zeit. Wenn Forscher unter Druck stehen, möglichst viel und schnell zu publizieren (Arbeitsverdichtung, Publikationsverdichtung), leidet die Qualität der Forschung. Das ist wie bei allem, das in Eile durchgeführt wird. Die Ergebnisse werden unzuverlässig. Wie einige dieser anerkannten Forschungsmethoden funktionieren und weshalb sie unter Druck1 versagen können, wird hier erläutert. Der Impact-Faktor als vermeintliches Maß für gute Forschung wird vorgestellt. Es werden einige Designs für klinische und epidemiologische Studien beschrieben und es wird erwogen, um welchen Preis man bei der Auswahl eines Designs »Zeit sparen« kann.

Qualitätskriterien für Forscher und ihre Produkte Einmal ist keinmal, sagt der Volksmund, und: Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Eine einzelne Beobachtung reicht für einen spannenden Erlebnisaufsatz oder einen interessanten Fallbericht, aber keinesfalls für nachhaltige allgemeingültige Schlussfolgerungen. Das Gleiche gilt für einzelne Experimente oder Studien. Wenn Experimente und Studien mehrfach wiederholt werden – noch dazu von verschiedenen Forschergruppen in verschiedenen Ländern und unter variablen Bedingungen – und die Ergebnisse konsistent sind, dann wird das Gesamtergebnis mit jeder Wiederholung vertrauens1 Druck steht hier für »Beschleunigung der Zeit, Zeitdruck, Zeitmangel …« Aus meinem Beitrag »Anmerkungen zum Begriff ›Zeit‹« in diesem Band geht hervor, dass wir es eher »Hyperaktionismus, Aktionsverdichtung, Arbeitsverdichtung …« nennen sollten.

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würdiger. Replizieren – auch Reproduzieren oder schlicht Wiederholen genannt – ist eine wichtige Säule der Naturwissenschaften und entscheidendes Abgrenzungsmerkmal gegen Pseudowissenschaften. Jegliche Forschung sollte von dem Gedanken der Nachhaltigkeit2 beseelt sein. Schließlich will man mit Hilfe neuer Erkenntnisse die Zukunft verändern. Da nützen nicht replizierbare Ergebnisse nichts. Und gerade in der medizinischen Forschung sollten Ergebnisse mit möglichst großer Wahrscheinlichkeit wahr sein, damit man Patienten mehr hilft als schadet. Wahr ist hier so zu verstehen, dass etwas verlässlich funktioniert. Das wiederum ist gleichbedeutend damit, dass etwas wiederholt werden kann. Der Nutzen diagnostischer und therapeutischer Methoden muss in Studien überprüft werden – und zwar mehrfach. Man muss etwas replizieren, denn nur so kann man feststellen, ob es wirklich replizierbar ist. Die schließende Statistik soll dabei helfen, möglichst selten auf Zufallsergebnisse hereinzufallen. Das Replizieren kann dadurch aber nicht ersetzt werden. Zur Einschätzung einzelner Studien sind Qualitätskriterien wünschenswert, die bereits frühzeitig greifen und Indizien liefern, ob eine Studie überhaupt so gut durchdacht war und auch so durchgeführt wurde, dass sie valide Ergebnisse liefern kann, ob die berichteten Resultate einer bestimmten Publikation valide sind und ob deren Autoren fachkundig und seriös sind. Letzteres ist bereits seit Jahrzehnten eine Forderung des Nürnberg-Kodex und der Deklaration von Helsinki.

Qualität eines Forschers Der wohl einfachste Versuch, die Qualität eines Forschers zu messen, besteht darin, seine Publikationen zu zählen. Das ist objektiv, transparent und nachvollziehbar. Allerdings ist zweifelhaft, dass auf diese Art wirklich das gemessen wird, was man wissen will: ob ein Forscher gute Arbeit abliefert und ob er besser ist als ein anderer 2 Es gibt eine ganze Flut von Definitionen und Auffassungen für diesen Begriff. Hier ist »nachhaltig« wörtlich gemeint, nämlich dass Forschungsergebnisse nachher auch noch halten und nicht nur bis zur Publikation eines Manuskripts.

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Forscher mit ähnlicher Ausbildung und ähnlichen akademischen Meriten. Es gibt Publikationen, in denen schlechte Forscher über schlecht durchgeführte Forschung berichten. Einigen Autoren (Ioannidis, 2005; Chalmers u. Glasziou, 2009) zufolge berichtet sogar die Mehrzahl medizinisch-wissenschaftlicher Publikationen über so genannten Forschungsmüll (siehe auch meinen Beitrag »Indizien für schlechte Forschung und ein Plädoyer« in diesem Band). Einfach nur Veröffentlichungen zu zählen, ist ein unzureichendes Vorgehen. Zusätzlich müssen Studien und zugehörige Publikationen auf methodische Qualität und Konsistenz geprüft werden.

Qualität einer Publikation: Peer-Review Im Peer-Review werden wissenschaftliche Publikationen von anderen Forschern mit möglichst gleicher Qualifikation (peer: engl. Kollege, Ebenbürtiger, Gleichgestellter) begutachtet. Er soll dafür sorgen, dass nur valide Forschungsergebnisse publiziert werden. Den Gutachtern werden Fristen gesetzt (DFG, 1998), damit der organisatorische Teil des Publizierens funktioniert. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Aufsatz ist zeitaufwendig und für den Gutachter zusätzliche und unbezahlte Arbeit. Das Begutachten läuft meist ehrenamtlich nebenbei. Das ist ein archaisch anmutender Vorgang in einer durchökonomisierten Forschungswelt. Da die Gutachter meist anonym bleiben, gibt es für Peer-Reviews nur selten wissenschaftliche Anerkennung. Ein Peer-Reviewer sollte einen Aufsatz kritisch und konstruktiv begutachten. Es liegt auf der Hand, dass es mehr Zeit erfordert, einen Aufsatz begründet abzulehnen oder konkrete Überarbeitungen vorzuschlagen bzw. zu fordern, statt ihn einfach durchzuwinken. Zu den zeitlichen Folgekosten des gewissenhaften Reviewers gehört, dass er Wochen später die überarbeitete Version des Aufsatzes erneut begutachten muss. Das Peer-Review ist trotz allem eine der wichtigsten Maßnahmen für Qualitätserhalt und Selbstkorrektur der Wissenschaft, befindet sich aber in einem sehr renovierungsbedürftigen Zustand. In der DFG-Denkschrift »Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis« wird empfohlen: »Hochschulen und Forschungseinrichtungen sollen ihre Leistungs- und Bewertungskriterien für Prüfungen, für

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die Verleihung akademischer Grade, Beförderungen, Einstellungen, Berufungen und Mittelzuweisungen so festlegen, dass Originalität und Qualität als Bewertungsmaßstab stets Vorrang vor Quantität haben« (DFG, 1998, S. 10). Wie man Originalität und Qualität objektiv einschätzen kann, wird in der Denkschrift offengelassen.

Qualität von Zeitschriften: Impact-Faktor Manchmal werden nicht nur die Publikationen gezählt, sondern es wird die Qualität der Zeitschriften mitbewertet, in denen der Forscher publiziert hat. Für die Einschätzung der Zeitschriften gibt es den so genannten Impact-Faktor (IF). Er gibt an, wie oft die Artikel einer Zeitschrift in den letzten zwei Jahren zitiert wurden3. Ein IF = 10 im Jahr 2019 bedeutet, dass die Artikel, die in 2017 und 2018 publiziert wurden, in 2019 im Mittel zehnmal zitiert wurden. Eine Zeitschrift mit einem IF = 2 ist aber, was die Qualität der Artikel betrifft, nicht unbedingt um den Faktor Fünf weniger gut (wie auch immer das zu interpretieren wäre) als eine mit IF = 10. Sie wird nur seltener zitiert, was auch daran liegen kann, dass die zugehörige Forschergemeinde viel kleiner ist als die eines Mainstream-Fachgebietes. Oder Zeitschrift und Artikel sind schwer auffindbar bzw. lesbar, weil sie in einer Sprache geschrieben sind, die nicht so verbreitet ist wie zum Beispiel Englisch. Der Impact-Faktor bevorzugt schnelle Wissenschaftszweige. In einem Forschungsgebiet, in dem zum Beispiel die Nachbeobachtung der Patienten schon allein drei Jahre erfordert, haben die Publikationen in der Regel ältere Zitate, die dann, weil zumeist älter als zwei Jahre, nicht mehr zum IF beitragen. Schnellere Fachgebiete, in denen ein Experiment in wenigen Tagen oder Wochen durchgeführt werden kann, haben jüngere Zitate und damit einen höheren IF, ohne unbedingt mehr »Impact« für die Wissenschaft zu haben.

3 »Equation that defines the IF: the number of citations received by a journal in a certain year for articles published during the two preceding years divided by the number of ›citable‹ articles published by the journal during the same two years« (Garfield, 1955).

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Impact-Faktor, Forschungsmüll und Nachhaltigkeit Der Impact-Faktor wird natürlich auch durch die gegenseitigen Zitate der zahlenmäßig vermutlich überlegenen (Ioannidis, 2005; Chalmers u. Glasziou, 2009) Forschungsmüll-Publikationen erhöht. Der Einfluss wichtiger, valider, sorgfältig geplanter und durchgeführter Arbeiten auf den Impact-Faktor ist zudem deshalb relativ gering, weil sie zeitaufwendiger sind und daher vornehmlich ältere Zitate anführen. Welche Publikationen und wissenschaftlichen Erkenntnisse sind denn tatsächlich valide, reproduzierbar, »nachhaltig«? Ob ein Studienergebnis weiteren Prüfungen standhält und in 20 Jahren als nachhaltig angesehen wird, weiß man – richtig, man weiß es in 20 Jahren. Es lässt sich nur retrospektiv ermitteln. Vielleicht ist (oder war) die Latenzzeit bei einigen Nobelpreisen deshalb so lang. Barbara McClintock erhielt 1983 den Nobelpreis für Medizin. Ihre Entdeckung der springenden Gene, der diese Auszeichnung galt, war da schon dreißig Jahre alt. Ziemlich sicher hat Barbara McClintock damit keiner Fachzeitschrift den Impact-Faktor aufgebessert. Ein weiteres Beispiel wird zeigen, dass es wichtige und langfristig (nachhaltig!) viel zitierte Arbeiten gibt, die dem publizierenden Journal in Sachen Impact-Faktor wenig nützten. Van Noorden, Maher und Nuzzo (2014) haben retrospektiv untersucht, welches die 100 am häufigsten zitierten Arbeiten auf diesem Planeten sind. Auf Platz 11 dieser All-time-citation-Hitliste steht eine Arbeit der Autoren Kaplan und Meier aus dem Jahre 1958. Sie stellen dort eine statistische Methode vor, mit der man Daten von Personen auswerten kann, die in einer Studie unterschiedlich lange nachbeobachtet wurden. Diese Methode ist essentielle Grundlage eines großen Teils klinischer Studien und nach wie vor aktuell und unverzichtbar. Die treppenförmigen so genannten Kaplan-Meier-Kurven dürfte jeder kennen, der mit klinischen Daten zu tun hat. Der Liste der Top-100-Papers kann man entnehmen, wann die einzelnen Arbeiten publiziert wurden und wann sie wie oft zitiert4 wurden. Die Zitierkinetik für die Kaplan-Meier-Arbeit zeigt eine sehr 4 Die Zitierkinetiken des Van-Noorden-Papers gibt es interaktiv hier: http://www. nature.com/news/the-top-100-papers-1.16224 (Letzter Zugriff 22.08.2019).

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lange Latenzzeit. Zwischen dem Publikationsjahr 1958 und dem Beginn häufiger Zitierungen liegen mindestens 15 Jahre. Die KaplanMeier-Methode erfordert Rechenkapazität, die erst in den 1970er Jahren ausreichend zur Verfügung stand und die routinemäßige Anwendung ermöglichte (van Noorden et al., 2014). Die Zitierhäufigkeit der ersten zwei Jahre war hier sicher kein guter Indikator für den späteren Erfolg der Publikation. Und da der Impact-Faktor nur Zitate von Arbeiten berücksichtigt, die jünger als zwei Jahre sind, kann man davon ausgehen, dass die Arbeit von Kaplan und Meier den ImpactFaktor des Journal of the American Statistical Association nicht beeinflusst hat. Geniale Arbeiten, die »der Zeit voraus«5 sind, schlagen sich nicht zwangsläufig im Impact-Faktor einer Zeitschrift nieder. Es gibt auch das Gegenstück, nämlich Arbeiten mit sehr vielen Zitierungen, aber nicht gerade bahnbrechendem Inhalt. Die am häufigsten zitierte Arbeit ist eine Publikation von 1951, in der ein Assay zur Bestimmung der Proteinmenge in einer Lösung beschrieben wird. Mittlerweile wurde sie mehr als 305.000-mal zitiert – eine Anerkennung, die den Hauptautor, den Biochemiker Oliver Lowry, immer wieder verblüffte. »Although I really know it is not a great paper […] I secretly get a kick out of the response«, schrieb er 1977 (zitiert nach van Noorden, 2014, S. 550). Es stellt sich ein weiteres Mal die Frage, ob Zitierhäufigkeit ein gutes Qualitätskriterium ist. Wenn ja, dann sollten sehr viele Arbeiten unter den Top 100 sein, die zu Nobelpreisen6 führten. Zumindest zwei der in den Top-100-Publikationen beschriebenen biologischen Techniken haben zu Nobelpreisen geführt. Nummer 4 auf der Liste beschreibt die DNA-Sequenzierungsmethode, die Frederick Sanger seinen Anteil am Nobelpreis für Chemie von 1980 einbrachte. Nummer 63 beschreibt die Polymerase-Kettenreaktion (PCR), eine Methode zum Kopieren von DNA-Abschnitten, für die der US-Biochemiker Kary Mullis 1993 den Preis erhielt. Die Aufdeckung der DNA-Struktur durch Watson und Crick (Nobelpreis 1962) ist nicht unter den Top 100. 5 In Anführungsstrichen, weil der-Zeit-voraus-Sein ein Unding ist (siehe meinen Beitrag »Anmerkungen zum Begriff ›Zeit‹« in diesem Band). 6 Vorausgesetzt, Nobelpreise sind ein gutes Qualitätskriterium.

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Vom Impact-Faktor einer Zeitschrift wird mit großer Selbstverständlichkeit auf die Qualität einzelner Artikel geschlossen, obwohl diese weit entfernt vom Durchschnitt liegen kann. Damit nicht genug: Von dort aus wird auf die Qualität des Autors geschlossen. So einfach ist die Welt des wissenschaftlichen Publizierens: In guten Zeitschriften stehen gute Artikel von guten Autoren. Ob eine Forschungsfrage gut beantwortet ist, kann üblicherweise nicht anhand einer einzelnen Publikation beurteilt werden. Die einzelne Publikation kann ein mehr oder weniger selektiertes Einzelbild sein (publication bias), ein Zufallstreffer sein, einen unbemerkten methodischen Fehler haben oder gar auf Manipulation beruhen. Wesentlich sinnvoller ist eine Gesamtschau der Evidenz (siehe auch meinen Beitrag »Indizien für schlechte Forschung und ein Plädoyer« in diesem Band). Diese erfordert jedoch Zeit und Geduld.

Fazit Die Reproduzierbarkeit als Maß für Forschungsqualität wurde weitgehend verdrängt durch das Abzählen von Publikationen und die Verwendung des Impact-Faktors. Aufgrund der Definition des Impact-Faktors haben die Zeitschriften von Forschungsgebieten, in denen Experimente weniger zeitaufwendig sind, automatisch einen höheren IF als die Zeitschriften zeitintensiver Forschungsgebiete. Der IF ist manipulierbar. Er wird ferner stark durch die gegenseitigen Zitate der Forschungsmüll-Publikationen bestimmt. Nachhaltige Forschung schlägt sich nicht unbedingt im Impact-Faktor nieder. Der Impact-Faktor ist nicht von einer Zeitschrift auf eine einzelne Publikation und von dort auf den Autor/die Autoren übertragbar. Es wird aber trotzdem getan. Der Impact-Faktor leistet nicht das, was er soll bzw. was viele glauben. Er vermittelt eine Scheinsicherheit, die Illusion, die Qualität von Fachzeitschriften, Publikationen und Forschern sei mit einer einfachen Zahl messbar. Forschungsmüll kann mit dem Impact-­ Faktor nicht diagnostiziert werden. Der Impact-Faktor ist schnell ermittelt. Wohingegen Repro­ duzieren Zeit kostet. Die valide Beurteilung von Forschungsqualität ist offenbar ein Opfer des Zeitdrucks.

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Qualitätsunterschiede langsamer und schneller Forschung Eile führt zu schlechter Forschung. Gute Forschung braucht Zeit. Wir werden hier einige Methoden der medizinischen Forschung kennenlernen und dabei auch erfahren, wie Zeitdruck die Qualität von klinischen und epidemiologischen Studien beeinträchtigen kann. Es geht dabei nicht um Flüchtigkeitsfehler, die in Eile wohl überall geschehen und deren Auswirkungen sicherlich ebenfalls relevant sind. Es geht vielmehr um systematische Mängel, die in der Forschung auftreten können oder in Kauf genommen werden bei dem Versuch, »Zeit zu sparen«. Diese Mängel können direkt die Durchführung einzelner Studien betreffen, aber auch die Interpretation der Publikation zu einer Studie oder die Interpretation eines ganzen Bündels an Studien und weiteren Experimenten.

Studiendesigns Randomisierte Studien In einer Studie bekommen zwei Patientengruppen unterschiedliche Behandlungen A und B.7 Am Ende möchte man durch Vergleich der Behandlungsergebnisse darauf schließen können, welche Behandlung die bessere war. Das Studienergebnis wäre jedoch verfälscht und nicht eindeutig interpretierbar, wenn zum Beispiel besonders kranke oder empfindliche Patienten vermehrt in eine der Gruppen gelangen. Die Patienten müssen daher vorher unter Berücksichtigung möglichst vieler Risikofaktoren ausgewogen über die Gruppen verteilt werden. Das lässt sich am einfachsten und mit dem geringsten Risiko, dass etwas manipuliert werden kann, mit einem Zufallsverfahren, einer so genannten Randomisierung, bewerkstelligen. Dadurch werden sogar Risikofaktoren gleichmäßig verteilt, die man noch gar nicht kennt – zumindest im Mittel. Im Prinzip wird bei jedem in die Studie aufgenommenen Patienten per Münzwurf entschieden, ob er in Gruppe A oder B gelangt. Natürlich 7 Das ist das einfachste Studiendesign. Natürlich können es auch mehrere Gruppen und mehrere Behandlungen sein.

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werden die Patienten vorher gefragt, ob sie an solch einer Studie teilnehmen wollen. Wenn alles gut läuft, dann unterscheiden sich die Gruppen nur durch die Behandlung. Wenn dann die Behandlungsergebnisse unterschiedlich ausfallen und der Unterschied nicht zufällig ist, dann können nur die unterschiedlichen Behandlungen die Ursache dafür sein. Diese Ursache-Wirkung-Interpretation ist ausschließlich mit randomisierten Studien möglich. Randomisierte Studien haben leider den Nachteil, dass sie nicht immer durchführbar sind. Dies gilt insbesondere für lebensstilassoziierte Themen wie Sport, Rauchen, Alkohol, Kontrazeption, Vitamine etc. Durch die zufällige Zuteilung gelangen Studienteilnehmer unter Umständen in eine Gruppe, die nicht dem eigenen Lebensstil entspricht, zum Beispiel Raucher in die Nichtrauchergruppe und umgekehrt. Es liegt nahe, dass einige unpassend randomisierte Raucher heimlich rauchen und einige unpassend randomisierte Nichtraucher nur vorgeben, zu rauchen. Es leidet in dem Fall die so genannte Compliance. Sie bezeichnet den Anteil der Studienteilnehmer, die in ihrer Studiengruppe tatsächlich das tun, was sie dort tun sollten. Bei geringer Compliance wird das Ergebnis verwässert, unter Umständen so weit, dass die Studie unbrauchbar ist. Matched pairs Diese Methode wird eingesetzt, wenn man mit möglichst wenigen Teilnehmern auskommen will oder muss oder wenn eine Randomisierung nicht möglich ist (z. B. Rauchen), oder weil die Intervention bereits stattgefunden hat. Nach den Atombombenabwürfen in Hiroshima und Nagasaki wollte man das strahlenbedingte Krebsrisiko der Menschen erforschen, die die unmittelbare Katastrophe überlebt hatten, aber ionisierender Strahlung ausgesetzt waren. Für die Kontrollgruppe hat man zu jedem Strahlenopfer eine Person gesucht, die diesem in möglichst vielen relevanten Parametern glich, mit Ausnahme der Bestrahlung. Man hat Zwillingspaare gebildet, so genannte matched pairs. Es liegt auf der Hand, dass diese Methode arbeitsintensiver und zeitaufwendiger ist als eine Randomisierung, denn die jeweiligen Zwillingspartner müssen erst noch gefunden werden. Matched-pairs-Studien sind sehr aussagekräftig. Für Spezialisten: Man benötigt weniger Studienteilnehmer als in einer rando-

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misierten Studie, um die gleiche statistische Power zu erzielen. Etwas allgemeiner gesagt: Mit mehr Zeit- und Arbeitsaufwand kann man die Ergebnisqualität verbessern. Kohortenstudie Jeder Teilnehmer macht, was er oder sie ohnehin macht: Rauchen oder nicht, Sport treiben oder nicht usw. Das Compliance-Problem besteht hier nicht, wird aber leider durch ein anderes Problem ersetzt. Das Ergebnis ist nicht mehr eindeutig interpretierbar. Wenn zum Beispiel die Kohorte der Sportler im Vergleich zur Kohorte der Nicht-Sportler im Mittel gesünder ist oder länger lebt, muss es nicht zwangsläufig daran liegen, dass sie Sport treiben. Es kann auch daher rühren, dass sie weniger rauchen, sich insgesamt anders ernähren, weniger Alkohol trinken, regelmäßiger schlafen etc. Diese weniger arbeitsaufwendige Art von Studien hat daher den Nachteil, dass die Interpretation hinsichtlich einer Ursache-Wirkung-Beziehung viel unsicherer ist als bei der randomisierten Studie. Man kann sagen: Mit weniger Zeit- und Arbeitsaufwand kann man die Ergebnisqualität verschlechtern. Fall-Kontroll-Studie Bei den bisher beschriebenen Studiendesigns muss man unter Umständen sehr lange warten, bis das Ergebnis, zum Beispiel das Auftreten einer Erkrankung, festgestellt werden kann. Ob Krebsfrüherkennung, Vitamine oder fleischarme Kost die Krebshäufigkeit verändern, kann man – falls überhaupt – erst nach zehn bis zwanzig Jahren feststellen. Mit Fall-Kontroll-Studien erspart man sich die lange Nachbeobachtungszeit. Man befragt einfach die gegenwärtigen Fälle, also zum Beispiel Patienten mit Darmkrebs und Kontrollpatienten ohne Darmkrebs, nach ihren Ernährungsgewohnheiten in den letzten Jahrzehnten. Wenn sich dann herausstellt, dass die eine Gruppe mehr Fleisch oder Kartoffeln gegessen oder Kaffee getrunken hat, dann könnte man vermuten, dass das eine oder andere die Ursache von Darmkrebs ist – oder Darmkrebs vorbeugt, je nach Ergebnis. Fall-Kontroll-Studien lassen sich sehr viel schneller durchführen als prospektive Studien, aber dafür treten dann andere Probleme auf. Betroffene mit Krebs und Nicht-Betroffene ohne Krebs erinnern

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sich unterschiedlich gut. Sie haben sich unterschiedlich intensiv mit ihrem Lebensstil auseinandergesetzt, denn die Erkrankten hatten im Gegensatz zu den Nicht-Betroffenen einen Anlass, das zu tun. Die Beschreibung der Ernährungsgewohnheiten fällt dann schon aus diesem Grund unterschiedlich aus. Dies ist der so genannte recall bias. Außerdem sollten die Fall- und die Kontrollgruppe möglichst ähnlich sein, was nicht immer gelingt. Das Forscherteam muss sich vor der Studie genau überlegen, woher es die beiden Gruppen rekrutiert. Mit Fall-Kontroll-Studien kann man offenbar sehr viel Zeit einsparen. Allerdings geht es deutlich auf Kosten der Aussagekraft. Dieses Tauschgeschäft ist nicht grundsätzlich verkehrt, aber es muss bei der Interpretation der Ergebnisse berücksichtigt werden. Diagnostik-Studien Von diagnostischen Tests muss man wissen, wie gut sie einen kranken Menschen als krank erfassen (Sensitivität des Tests) und wie gut sie darin sind, Gesunde richtigerweise für gesund zu halten (Spezifität des Tests). Diese beiden Qualitätskriterien des Tests versucht man in so genannten Diagnostik-Studien zu messen. Dazu nimmt man zum Beispiel hundert tatsächlich Kranke und hundert tatsächlich Gesunde, wendet den Test bei ihnen an und stellt fest, wie viele Kranke und wie viele Gesunde richtig erkannt wurden. Aber woher weiß man, wer tatsächlich krank und wer tatsächlich gesund ist? Man braucht einen sehr verlässlichen so genannten Referenztest. Und woher weiß man, wie verlässlich der ist? Aus einer DiagnostikStudie, bei der man dieselben Fragen wieder stellen kann und muss. Letztlich weiß man es nicht völlig sicher. Es gibt auf dem Gesundheitsmarkt Tests, die angeblich eine Krebserkrankung vorhersagen können. Das Mantra der Krebsfrüherkennung lautet, dass der Krebs viele Jahre, bevor er symptomatisch wird, erkannt wird und, so hofft man, erfolgreicher behandelt werden kann. Allerdings werden einerseits Erkrankungen übersehen und andererseits werden Krebserkrankungen vorhergesagt, die dann doch nicht auftreten. Wie kann man die Qualität dieser Krebsfrüherkennungstests messen? Man müsste jahrelang nachbeobachten und auch positiv getestete Personen jahrelang unbehandelt lassen, um zu sehen, ob der Test die richtige Vorhersage gemacht hat. Das

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jedoch ist ethisch äußerst bedenklich. Man darf auch fragen, wer sich wissentlich auf eine solche Studie einlässt, schließlich ist die Teilnahme an Studien immer freiwillig und die Teilnehmer müssen vorab darüber aufgeklärt werden, was sie erwartet. Jahrelange Nachbeobachtung heißt auch, dass der Test noch nicht mit aller Kraft vermarktet werden kann; dass die Dauer der konkurrenzlosen Vermarktung vor Ablauf des Patents auf den Test um Jahre verkürzt wird; dass die Konkurrenz die Chance bekommt, zwischenzeitlich einen »verbesserten Test neuester Generation« auf den Markt zu bringen, neben dem der »alte Test« überholt aussieht8. Wir halten fest: Aus zeitlichen, moralischen und methodischen Gründen ist es nicht möglich zu überprüfen, wie gut oder schlecht Krebsfrüherkennungstests Krebserkrankungen vorhersagen. Krebsfrüherkennungsstudien Um herauszufinden, ob Krebsfrüherkennung die Krebsmortalität verändert, werden randomisierte Studien benötigt. Eine der häufigsten Krebsarten in Europa ist das Prostatakarzinom. Trotzdem sterben nur etwa 3 % aller Männer daran, und noch dazu in relativ hohem Alter. Wenn Früherkennung ein Viertel dieser Krebstode vermeiden könnte (mehr ist nicht zu erwarten), würden nur noch 2,25 % aller Männer am Prostatakarzinom sterben. Die Verbesserung um 0,75 % ist sehr schwierig in einer Studie nachzuweisen. Die erforderliche Teilnehmerzahl geht unter realistischen Bedingungen und Einbeziehung der Gesamtmortalität in die Millionen. Und tatsächlich sind Krebsfrüherkennungsstudien von vornherein zu klein angelegt. Deren Aussagekraft ist daher unzureichend (Dubben, 2009, 8 Mit welcher Motivation und Energie unausgereifte Tests vermarktet werden, zeigt ein Beispiel von der Universität Heidelberg. Hier wurde 2019 ein Brustkrebstest »erkennbar zu früh« veröffentlicht. Eine Expertenkommission, die den Vorgang untersucht hat, spricht ferner von »Führungsversagen, Machtmissbrauch und Eitelkeit«. »Falsch verstandene Wissenschaftsfreiheit habe auf übergeordneter Ebene dazu geführt, dass niemand die Publikation des Tests verhindert habe. Dabei sei der Chef der Frauenklinik, Christof Sohn, vor dem Pressetermin gewarnt worden, den Bluttest vorzeitig zu veröffentlichen«. Der Anteil von Fehldiagnosen sei bei diesem Test »dramatisch hoch« (https://www.tagesschau.de/inland/brustkrebs-bluttest-kommission-heidelberg-101.html – Letzter Zugriff am 19.8.2019).

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2014). Warum die Teilnehmerzahl regelmäßig zu klein ist, wissen wohl nur die Initiatoren dieser Studien. Man darf vermuten, dass eine aussagekräftige Studie ganz einfach zu viel Arbeit macht, zu teuer ist, zu viel Zeit in Anspruch nimmt und dass einige Forscher so sehr von Optimismus beseelt sind, dass sie sich über die statistische Power ihrer Studie keine Gedanken machen müssen. Es liegt in der Natur des Forschungsgegenstandes, dass Studien zur Krebsfrüherkennung (Screening-Studien) viel Zeit erfordern. Um auf die erforderliche Anzahl an Teilnehmern zu kommen, müssen diese über viele Jahre rekrutiert werden; die Screening-Phase selbst dauert meist etwa zehn Jahre; mindestens weitere zehn Jahre sind für das Abwarten des Effektes des Screenings auf die krebsspezifische Mortalität notwendig. Das Zusammentragen, Auswerten und Publizieren der Daten wird auch ein paar Jahre in Anspruch nehmen. Nehmen wir an, eine solche Studie wird trotz aller Schwierigkeiten perfekt durchgeführt und generiert nach 25 Jahren ein valides Ergebnis. Dieses Ergebnis bezieht sich dann auf eine Gruppe von Menschen, die vor über zwanzig Jahren mit dem Screening begannen. Entsprechend veraltet sind die diagnostischen Verfahren und Behandlungsmethoden, die in dieser Studie angewandt wurden. Die Bevölkerung, auf die diese Ergebnisse in Zukunft angewandt werden sollen, lebt, insbesondere vor dem Hintergrund beschleunigten sozialen Wandels, nicht mehr so wie vor einem Vierteljahrhundert (Ernährung, Bewegung, Arbeitsbedingungen, Freizeitaktivitäten,  …), hat eine andere Altersstruktur, Lebenserwartung und evtl. ethnische Zusammensetzung. Das Ergebnis der perfekten Studie mag eine präzise und valide Beschreibung der Vergangenheit und eine akademische Bereicherung sein. Für die Gestaltung der Zukunft nützt es jedoch nichts, weil es zwangsläufig veraltet ist. Insbesondere Prävention läuft Gefahr, schon veraltet zu sein, bevor sie überhaupt wirkt (Wiesing, 2018). Falls sie wirkt. Derartige Studien können auch nicht unter gleichen Bedingungen reproduziert werden. Grundsätzlich kann man festhalten: Je schneller Forschung voranschreitet, desto schneller ist Wissen veraltet. Damit nicht genug. Der Endpunkt Krebsmortalität ist für die Patienten nur eingeschränkt relevant. Es wäre sinnvoller, die Gesamt-

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mortalität zu messen, denn sie bildet auch die Nebenwirkungen des Screenings ab: Überdiagnosen, Überbehandlungen, falsch positive Diagnosen, psychischen Stress, erhöhte Suizidrate. Der Endpunkt Gesamtmortalität erfordert eine noch längere Nachbeobachtungszeit. Schließlich beträgt die mittlere Lebenserwartung bei Eintritt ins »Screeningalter« gut dreißig Jahre. Fazit: Es gibt kein einziges angewandtes Krebsfrüherkennungsverfahren, das auf wissenschaftlich soliden Füßen steht. Wer nicht zum Krebsscreening geht, versäumt einen bestenfalls sehr geringen und nicht nachgewiesenen Nutzen und vermeidet die nachgewiesenen Überdiagnosen, Überbehandlungen und deren Nebenwirkungen, unnötige Diagnostik und deren Nebenwirkungen, Stigmatisierung und erheblichen psychischen Stress. Und sie/er »spart Zeit«. Schon vor Beginn einer Screening-Studie kann es noch ein hausgemachtes Problem geben. Früherkennungstests werden schnell an die Öffentlichkeit gebracht und vermarktet, noch bevor aussagekräftige Studien durchgeführt werden. Patentrecht und die Aussicht auf schnelle Gewinne sorgen für Eile. Wenn dann später eine Studie durchgeführt werden soll, findet man unter Umständen kaum noch ungetestete Personen für die Kontrollgruppe. So geschah es beim PSA-Screening in den USA. In einer der PCa-Screening-­Studien (Andriole et al., 2009) war die Kontrollgruppe »kontaminiert«, das heißt, viele der Kontrollteilnehmer hatten ebenfalls einen PSA-Test gemacht. Ökologische Studie Eine ökologische Studie erhebt Daten auf Bevölkerungsniveau (bekanntes Beispiel: Anzahl der Störche in einem Land und gleichzeitig die Geburtenrate; Sies, 1988), aber nicht auf Personenniveau. Wer glaubt, dass so gefundene Korrelationen etwas mit Kausalbeziehungen zu tun haben, der muss auch glauben, dass Störche die Kinder bringen und dass der Verzehr von Schokolade die Chance auf einen Nobelpreis erhöht, wie das folgende Beispiel zeigt. Eine Arbeit des Forschers Franz H. Messerli (2012) im New England Journal of Medicine zeigte eine statistisch signifikante Korrelation zwischen dem Pro-Kopf-Schokoladenkonsum eines Landes und der Pro-Kopf-

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Nobelpreisträger aus demselben Land. Damit wollte Messerli nicht auf die anregende Wirkung von Schokolade hinweisen, sondern auf den Umstand, dass ökologische Studien für das Belegen von Kausalbeziehungen ungeeignet sind. Das liegt in diesem Fall daran, dass wir aus der Studie nicht erfahren, wer im Einzelnen wie viel Schokolade gegessen hat und wer im Einzelnen einen Nobelpreis erhalten hat. Wenn man lediglich auf Bevölkerungsniveau misst, dann fehlt diese Zuordnung. Mit den Daten in Messerlis Arbeit wäre es durchaus vereinbar, dass sämtliche Nobelpreisträger nie ein Stück Schokolade gegessen haben. Vielleicht ist ja gerade diese Abstinenz der Königsweg zum Nobelpreis? Eine in einer ökologischen Studie gefundene Korrelation ist kein Beweis für eine Kausalbeziehung, wird aber von Forschern und den vielen Lesern derartiger Studien gern so interpretiert, insbesondere wenn das »Ergebnis« das unterstützt, was man aus ganz anderen, nicht unbedingt wissenschaftlichen Gründen ohnehin glaubt oder behaupten möchte. Wenn man populistische Forschung betreibt und unter Zeitdruck wissenschaftlich anmutende Argumente generieren soll, dann sind ökologische Studien ein geeignetes Mittel. Man kann sich sofort zum Beispiel in statistischen Datenbanken bedienen und sehr schnell Korrelationen aller Art finden. Vorher-Nachher-Studien In Vorher-Nachher-Studien wird in einer Population am Tag X eine neue Behandlung eingeführt oder eine bestehende Behandlung variiert (z. B. Zusatz von Fluoriden ins Trinkwasser; Disease-Management-Programme). Später werden die nach Tag X erzielten Ergebnisse (z. B. Zahnstatus oder Erkrankungsgrad bzw. Mortalität) mit denen von vor Tag X verglichen. Aus etwaigen Ergebnisunterschieden möchte man dann auf die Wirkung der neuen oder variierten Behandlung schließen. Je länger die Behandlung dauert und/ oder je länger die Entwicklung des Endpunktes dauert, umso wahrscheinlicher ist es, dass sich zwischenzeitlich, insbesondere in Zeiten beschleunigten sozialen Wandels, auch andere Parameter geändert haben. Die Ergebnisse der Vorher-Nachher-Studie sind dann nicht eindeutig interpretierbar bzw. sie sind Artefakt-anfällig.

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Endpunkte Was wollen wir aus einer Studie lernen? Wenn man in einer Studie feststellen möchte, ob zum Beispiel das wahre Medikament (Verum) besser ist als ein Scheinmedikament (Placebo), muss zunächst geklärt werden, was mit »besser« gemeint ist. Dass es besser schmeckt oder besser aussieht, könnte die Werbeabteilung interessieren; die Marketing-Abteilung versteht unter »besser« sicherlich, dass es höhere Profite beschert. Für den Patienten ist es viel wichtiger, dass seine Schmerzen gelindert werden oder ganz allgemein seine gesundheitsbezogene Lebensqualität verbessert wird und dass er länger lebt. Wenn man wissen will, ob ein Medikament das Leben verlängert, dann muss man in einer Studie genau das messen, nämlich wie lange die einzelnen Patienten leben. Um zu erfahren, ob ein Medikament den Blutdruck senkt, muss man natürlich den Blutdruck der Patienten messen. Überlebensdauer bzw. Blutdruck wären in diesem Fall die so genannten Endpunkte oder Zielgrößen der Studie. Am Ende der Studie werden die Messwerte der Verum- und der Placebo-Patienten (oder der mit einem anderen Medikament behandelten Patienten) miteinander verglichen. Man erfährt, ob sich die Messwerte der einen Patientengruppe von denen der anderen Patientengruppe unterscheiden. Schneller forschen mit Surrogatendpunkten Eine Studie mit dem Endpunkt Mortalität benötigt naturgemäß wesentlich mehr Zeit als eine Studie mit dem Endpunkt Blutdruck. Im ersten Fall muss man solange warten, bis die Patienten oder zumindest ein Teil der Patienten, die einer Studie angehören, gestorben sind. Das kann unter Umständen Jahrzehnte dauern, wenn man zum Beispiel die Wirkung von Blutdrucksenkern, Cholesterinsenkern oder der Krebsfrüherkennung auf die Mortalität bestimmen möchte. Sehr viel schneller geht es, wenn man einen anderen Endpunkt wählt und sich nicht fragt, ob etwa der Cholesterinsenker das Leben verlängert, sondern nur fragt, ob er den Cholesterinwert senkt. Allerdings interessiert sich kaum ein Patient ernsthaft für seinen Cholesterinwert an sich oder andere Laborwerte, sondern vielmehr für seine Lebensqualität und seine Lebensdauer. Der Cholesterinwert ist für den Patienten

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nur dann interessant, wenn er mit dessen Schicksal zuverlässig verknüpft ist. Da das Messen patientenrelevanter Endpunkte wie etwa Mortalität oder krankheitsspezifische Mortalität sehr viel Zeit in Anspruch nehmen kann, sind Forscher, die oft und schnell publizieren sollen und/oder wollen, an Endpunkten interessiert, bei denen man nicht so lange warten muss. Statt des »wahren Jakobs« werden so genannte Surrogatendpunkte gemessen, in der Hoffnung, Zeit zu sparen. Sie ermöglichen schnelles Publizieren und sie fördern die schnellere »Entwicklung« von Medikamenten. Letzteres könnte auch dem Patienten recht sein, birgt aber das Risiko lediglich scheinbarer oder falsch interpretierter und damit falsch eingeschätzter Wirksamkeit, wenn die Wirkung auf den Surrogatendpunkt nicht streng mit dem patientenrelevanten Endpunkt korreliert. Die mit Surrogatendpunkten bewirkte Verkürzung der Studien- und Nachbeobachtungsdauer erhöht zudem das Risiko, Nebenwirkungen zu übersehen, die erst nach längerer Zeit auftreten. Ferner werden Surrogatmarker und Laborwerte häufig mit (Pseudo-)Krankheit verwechselt. Der Surrogatmarker, der lediglich eine höhere Wahrscheinlichkeit für eine zukünftige Erkrankung anzeigt, wird oft bereits zur Krankheit erklärt – vom Patienten, vom Arzt, von der Pharmaindustrie. Das kann auf Ahnungslosigkeit beruhen, aber auch auf hinterlistigem Kalkül bei der Erfindung von Krankheiten (disease mongering) oder dem Ausweiten von Diagnosen. Laborwerte sind natürlich wichtig, wenn Wirkmechanismen erforscht werden sollen bzw. die Kenntnis von Wirkmechanismen für Diagnostik und Behandlung genutzt werden soll. Ein Surrogatendpunkt muss mehrere Kriterien erfüllen, um als valider Endpunkt gelten zu können. Die Beziehung zwischen Surrogatendpunkt und patientenrelevantem Endpunkt muss wissenschaftlich plausibel sein. Es muss Evidenz aus unterschiedlichen Studien geben, die einen kausalen Zusammenhang zwischen Surrogat und relevantem Endpunkt vermuten lassen. Es müssen Ergebnisse aus RCT vorliegen, die zeigen, dass durch eine therapiebedingte Veränderung des Surrogatendpunkts eine gleichgerichtete Veränderung des klinisch relevanten Endpunkts erreicht wird. Unabhängig von der Validität soll der Surrogatendpunkt auch pragmatischen An-

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forderungen genügen, um seinen Einsatz überhaupt zu rechtfertigen. Der Surrogatendpunkt sollte eine s­ chnellere Bewertung einer Maßnahme ermöglichen. Dafür müssen Veränderungen des Surrogatmarkers früher auftreten als bei dem patienten-relevanten Endpunkt. Zudem soll die Messung des Surrogats einfach, reliabel und reproduzierbar sein (Mangiapane, 2009). Der Impact-Faktor als Surrogatendpunkt zur Bewertung von Wissenschaft(lern) Zur Bewertung eines Forschers werden, wie eingangs erwähnt, seine Publikationen gezählt. Zur Bewertung der Qualität der einzelnen Publikationen wird der Impact-Faktor herangezogen, der nichts anderes ist als ein Surrogatmarker. Weitere Surrogatmarker in diesem Fall sind etwaige Titel, der Stand des Forschers in der Hierarchie seiner Institution und in Fachgesellschaften sowie die Summe der von ihm eingeworbenen Drittmittel. Man bemerke das Absurde: Es geht darum, wie viel Geld er eingeworben hat, aber nicht, ob und welche nützlichen Erkenntnisse er damit ans Licht gebracht hat. Dem Autor dieser Zeilen ist nicht bekannt, dass diese Surrogate jemals im Sinne des vorhergehenden Absatzes validiert wurden. Peter Higgs (Physiker, Universität Edinburgh, Royal Society of Edinburgh, Nobelpreis 2013) sagt über seinen Wert als Wissenschaftler in der gegenwärtigen Einschätzung: »Today I wouldn’t get an academic job. It’s as simple as that. I don’t think I would be regarded as productive enough« (zitiert nach Kleinert u. Horton, 2014, S. 197). Die Indikatoren für wissenschaftliche Produktivität sollten überdacht werden. Es besteht der Verdacht, dass sie mit der viel gepriesenen Nachhaltigkeit nicht vereinbar sind, sondern eher die »Entdeckung« von Eintagsfliegen begünstigen. Die schwarze Zahl als Surrogatendpunkt in der Versorgung In einem strikt ökonomischen Gesundheitssystem sind schwarze Zahlen (gefolgt von einem Währungssymbol) Pflicht. Das führt unter anderem zur Bevorzugung von Privatpatienten, zahlungskräftigen Patienten aus anderen Ländern, Aufdrängen von »individuellen Gesundheitsleistungen« (IGeL), Krankheitserfindung durch diejenigen, die an der Krankheit verdienen; »Unterstützung« aus

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der Industrie, Überversorgung, Betrug. Wenn mit der Forderung nach schwarzen Zahlen Druck ausgeübt oder geködert wird, dann werden schwarze Zahlen geliefert; aber nicht unbedingt ein besseres Gesundheitssystem. Es ist ferner zu befürchten, dass gerade diejenigen Gesundheitsberufler, die sich ein humanes Gesundheitssystem wünschen, das bestehende Gesundheitssystem verlassen und das Feld denjenigen überlassen, denen schwarze Zahlen als Motivation genügen. Natürlich gehört ökonomisches Denken in den Gesundheitsbetrieb, aber nicht als Zweck des Betriebes, sondern als ein Mittel, vorhandene Ressourcen optimal zu nutzen. Schneller forschen mit kompositen Endpunkten In vielen klinischen Studien zu lebensbedrohlichen Erkrankungen, wie beispielsweise Herzerkrankungen, geht es darum, Interventionen zu testen, die das vorzeitige Versterben der Patienten verhindern sollen. Der primäre Endpunkt solcher Studien sollte daher die Mortalität sein. Zählt man jedoch einzig die Verstorbenen, dann kann die Nachbeobachtungsdauer sehr lang werden. Das ist karriereunfreundlich für den Forschenden und auch teurer als eine kurze Studie. Beharrt man auf einer kurzen Beobachtungszeit, bekommt man aber unter Umständen zu wenige Ereignisse, so dass die Studie keine Aussagekraft hat. In der Situation kann ein kompositer Endpunkt9 hilfreich sein. Man nimmt zu den Sterbeereignissen weitere nicht letale Ereignisse wie beispielsweise Herzinfarkte hinzu. Dieser zusammengesetzte Endpunkt »Tod oder Herzinfarkt, je nachdem, was zuerst auftritt« tritt im Mittel selbstverständlich häufiger und früher auf als nur eine seiner Komponenten. Dadurch benötigt man weniger Patienten, die Rekrutierungszeit und die Dauer der Nachbeobachtung und damit die Gesamtstudiendauer werden kürzer. Komposite Endpunkte können unter Umständen menschliche und finanzielle Ressourcen schonen und schnellere Ergebnisse ermöglichen. Darüber hinaus können zusammengesetzte Endpunkte ein komplexes Krankheitsgeschehen unter Umständen vollständiger abbilden, als eine einzelne Komponente dies könnte.

9 Composite endpoint. Gelegentlich auch als kombinierter Endpunkt übersetzt.

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Hans-Hermann Dubben

Aber nicht alle kompositen Endpunkte ergeben ein sinnvolles Abbild des Geschehens. So lautet in der TIME-Studie der komposite Endpunkt »Sterblichkeit, Herzinfarkt und Krankenhauseinweisung wegen eines akuten koronaren Syndroms« (TIME Investigators, 2001). Verglichen werden die Ergebnisse einer optimalen medikamentösen Behandlung mit denen einer invasiven Behandlung. In der Zusammenfassung berichten die Autoren, es sei ihnen gelungen, die Anzahl der kardialen Ereignisse statistisch signifikant zu senken. Für den schnellen Leser erscheint die invasive Therapie als die bessere. Die einzelnen Komponenten des Endpunkts liefern aber ein ganz anderes Bild (s. Tabelle 1). Tabelle 1: Endpunkte der TIME-Studie Endpunkt

Optimale medikamen­töse Invasive Behandlung Behandlung (n = 148) (n = 153)

Tod

6

13

Nichtletaler Herzinfarkt

17

12

Krankenhauseinweisung wegen akutem koronarem Syndrom

73

15

Kompositer Endpunkt

96

40

In der vermeintlich besser abschneidenden Gruppe der invasiv behandelten Patienten versterben 13 Menschen; in der Gruppe mit medikamentöser Behandlung sind es sechs Menschen. Die medikamentöse Gruppe schneidet hauptsächlich wegen der Krankenhauseinweisungen so schlecht ab. Allerdings konnte in der Studie ein und derselbe Patient mehrere Ereignisse haben. Ein Patient, der dreimal ins Krankenhaus musste, aber noch lebt, bringt seiner Gruppe drei Minuspunkte ein. Ein Patient, dessen erstes und damit einziges Ereignis sein Ableben ist, bringt nur einen Minuspunkt ein. Wer an seinem Leben hängt, dem wird dieser komposite Endpunkt egal sein und er wird sich wohl für die medikamentöse Behandlung entscheiden. Lieber öfter mal ins Krankenhaus als gleich tot. Das Endpunktbündel der TIME-Studie war nicht sinnvoll, sondern irreführend.

Beschleunigte medizinische Forschung145

Das Beispiel zeigt, dass es komposite Endpunkte gibt, mit denen man auf den ersten Blick Patienten schonen sowie Zeit und Geld einsparen kann, deren Ergebnisse aber irreführend sind. Komposite Endpunkte korrelieren nicht unbedingt mit jeder einzelnen Komponente und können eine Wirkung auf eine relevante Komponente suggerieren, wo gar keine ist. Freemantle und Mitarbeiter (2003) haben eine Übersicht über Arbeiten mit kompositen Endpunkten erstellt. Dabei zeigte sich, dass in über einem Drittel der Studien der komposite Endpunkt statistisch signifikant verändert war, die Gesamtmortalität jedoch nicht. Deshalb gehört in Studienberichte mit kompositen Endpunkten immer auch die Betrachtung der Komponenten. Damit diese aussagekräftig ist, muss sich die Fallzahl zur Erreichung einer bestimmten Power an den Komponenten orientieren. Allerdings ist dann nicht mehr gegeben, Patienten einzusparen. Und selbst wenn es für die Messung einer erwünschten Wirkung funktionieren würde, mit reduzierter Patientenanzahl und verkürzter Nachbeobachtung ist immer ein erhöhtes Risiko verbunden, unerwünschte Wirkungen zu übersehen, die erst nach längerer Behandlung bzw. Latenz auftreten. Für die Planung und Interpretation von Studien mit kompositen Endpunkten sollte beachtet werden: Die Komponenten sollten gleichermaßen wichtig sein. Sie sollten in den Vergleichsgruppen mit ähnlicher Häufigkeit auftreten. Alle Komponenten sollten auf die Behandlung reagieren (Montori et al., 2005). Die hier geschilderten Zeitersparnisse mit Surrogatendpunkten oder kompositen Endpunkten sparen nicht unbedingt Zeit im Sinne der Patienten bei der Entdeckung oder Verbesserung medizinischer Maßnahmen. Sie beschleunigen die Forschung, das Publizieren und damit die Reise auf der wissenschaftlichen Karriereleiter. Der forsche Forscher ist schneller oben. Aus wissenschaftlicher Sicht wird hier nichts gespart. Im Gegenteil, gute Wissenschaft wird durch falsch positive Ergebnisse erschwert oder gar verhindert. Und letztlich sind dann auch noch die falschen Leute oben angekommen, die damit obendrein die Möglichkeit haben und wahrscheinlich auch das Eigeninteresse, diese Verhältnisse zu verfestigen.

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Fazit Höhere Studienqualität führt zu einer verlässlicheren Aussage der Studie, macht aber mehr Arbeit und erfordert mehr Zeit. Mit Surrogatendpunkten wird versucht, Studien zeitlich abzukürzen, aber nicht alle Surrogatendpunkte sind für die jeweilige medizinische Fragestellung sinnvoll. Die zeitliche Abkürzung birgt ferner das Risiko, unerwünschte Nebenwirkungen, die erst nach längerer Behandlung oder Latenz auftreten, zu übersehen. Mit kompositen Endpunkten wird versucht, die Anzahl der Teilnehmer einer Studie zu reduzieren und die Dauer einer Studie zu verkürzen. Nicht jeder komposite Endpunkt ist für die jeweilige medizinische Fragestellung sinnvoll. Ferner ist das Risiko höher, mit schnelleren und kleineren Studien unerwünschte Nebenwirkungen zu übersehen.

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Thomas Zimmermann

#FastScience

Beschleunigung und Überproduktion im Wissenschaftssystem

Wissenschaftliche Abläufe und wissenschaftliche Kommunikation haben sich in den vergangenen Jahrzehnten beschleunigt. Das lässt sich leicht illustrieren: Zu Beginn meines Psychologie-Studiums 1986 war es üblich, Daten aus Fragebögen zu extrahieren und für die Auswertung über ein Terminal (Konsolen ohne Festplatten und Betriebssystem) an einen IBM-Großrechner im Rechenzentrum der Universität zu schicken, auf dem das Statistikprogramm lief. Ein paar Stunden später konnte dann an einer Ausgabestelle ein großzügig bedrucktes Leporello aus Endlosnadeldruckerpapier abgeholt werden. Wer sich bei Dateneingabe oder Berechnung vertan hatte, konnte das Faltbuch gleich vor Ort entsorgen und durfte den gesamten Vorgang noch einmal starten, inklusive erneuter Buchung des Großrechners. 2020 sind Online-Umfragetools im Einsatz, die in Echtzeit Daten berechnen und bunte Grafiken ausgeben. 2020 ist es in vielen Forschungsbereichen nicht mehr notwendig, ein Bibliotheksgebäude aus Stein und Glas zu betreten. Alles ist sofort abrufbar an den vernetzten Computer-Arbeitsplätzen. ­E-Mail, Messenger-Dienste und abonnierte Newsletter von Ärzteblatt, BMJ, The Lancet, BMC Medicine usw. erfordern permanentes und – idealerweise – diszipliniertes Informationsmanagement. Das Arbeitsgeschehen in der Wissenschaft hat sich in den vergangenen dreißig Jahren stark verändert, verdichtet und zersplittert, mit verkürzten Taktungen zwischen den Arbeitsgängen. Der Herausgeber einer Zeitschrift antwortet eben nicht erst nach zwei Wochen per Brief, sondern kaum zeitversetzt per Mail. Neben der überwältigenden, sofort verfügbaren Informationsfülle ist auch deren technische Aufbereitung inzwischen kaum ein Problem. Multiple Prozessoren, Rechnerfarmen mit zehntausenden Einheiten, verteiltes Rechnen und preiswerte Energie machen es möglich, 65.000 Suchanfragen pro Sekunde in quasi Echtzeit zurück an die Endanwender zu bringen. Das ist Google.

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Große Datenmengen können in ausgefeilte statistische Modelle eingebaut werden, um Antworten auf Fragen zu immer komplexeren Zusammenhängen zu bekommen. Doch der Hang, die unbegrenzte Verfügbarkeit von Daten zum beliebigen DataMining zu benutzen und dem ein schönes Etikett zu verpassen (BigData-Analyse), lässt Forschende mahnen, die um den Verlust der Theorie fürchten (Kriston, 2020).

Leistungsstarke Rechner für die datengetriebene Wissenschaft Der Mitgründer der Chip-Firma Intel, Gordon Moore, sagte 1965 voraus, dass sich die Zahl der Transistoren auf Silizium-Halbleitern (und damit deren Leistung) bis 1975 jährlich verdoppeln würde (Moore, 1965). Zum Erstaunen der Welt behielt der Ingenieur recht – und das »Moore’sche Gesetz« hatte seine Gültigkeit nachgewiesen. Einst über den Daumen gepeilt, stellte der lineare Anstieg der Kapazitäten den Entwicklungshintergrund für immer kleinere, dafür umso leistungsfähigere Computer dar, vom Mainframe in den 1950er Jahren bis zum Herzschrittmacher mit WLAN (Waldrop, 2016). Prozessortechnik und Frequenzmodulation haben inzwischen den Datendurchsatz vom Modem-Anschluss (56 Kbit/s) zum Ethernet-Glasfaserkabel (100 Gbit/s) um das 1,8-Millionenfache gesteigert. Das Beobachten der Wirklichkeit und die systematische Erhebung von Daten gehört zu den wissenschaftlichen Kernaufgaben. Dabei ist Wissenschaft immer datengetrieben, denn sie basiert zunächst auf experimentellen und/oder Erfahrungsdaten. Eine Ärztin, die eine Anamnese erhebt, beobachtet den Patienten (visueller Eindruck, Händedruck, Sprache, Orientiertheit), und sie erhebt Daten, zum Beispiel Blutdruck, Puls, Herzfrequenz, Atemgeräusche. Für eine Diagnose sind dann Beobachtung und Messung zu bewerten. Die Indikationsstellung schließlich ist personen- und kontextabhängig. Ein abnormer Blutdruck wirft bei einem 26-jährigen Patienten andere Fragen auf als bei einem 66-jährigen. Erst dieses systematische Gruppieren macht aus Einzeldaten Wissenschaft: Während bei Jüngeren höherer Blutdruck eher selten vorkommt, ist er in der Gruppe der Älteren sehr häufig. Vor diesem Hintergrund bildet sich

#FastScience151

der Konsens zwischen Ärztin und Patient: Behandlungsentscheidung oder abwartendes Offenlassen? Weiter beobachtet wird so oder so. Von diesen Einzelfällen werden täglich Millionen für Abrech­ nungszwecke in Praxisverwaltungsprogrammen dokumentiert und beispielsweise anhand der Diagnose-Verschlüsselung gruppiert. Daten fallen aber nicht nur in der täglichen Routine von ambulanter oder stationärer Versorgung an. Statistische Ämter erheben Daten, Ministerien, Verwaltungen, die Europäische Union, die Weltgesundheitsorganisation, die Weltbank. Mit sehr viel Kapitaleinsatz und hohen Renditeerwartungen im Gesundheitssektor sammeln Apple, Google & Co. Daten. Hinzu kommen drittmittelfinanzierte Datensätze wie die »Nationale Kohorte« (NaKo) oder die »Hamburg City Health Study« (HCHS). Im Kontext von BigData, also sehr großen, aus mehreren Quellen zusammengeführten Datensätzen, in denen intelligente Algorithmen nach Zusammenhängen suchen, werden Daten manchmal für einen Trägerstoff gehalten und als das Öl des 21. Jahrhunderts bezeichnet – ein ökologischer Fehlschluss. Öl kann nur einmal verarbeitet und/ oder verfeuert werden. Recycling erweist sich als schwierig und ineffizient. Die Datenberge, die es in der digitalen Welt zu vermessen gilt, wachsen täglich weiter. Sie werden preiswert erzeugt und gelagert – anders als Öl. Der Wert von Daten entsteht durch deren kreative Verarbeitung, Fragestellung und Auswertungsmethodik (van Zeeland, 2019).

Beschleunigung durch Vernetzung In den 1960er Jahren beauftragte das US-Verteidigungsministerium die RAND-Corporation damit, die Kommunikationswege der global stationierten Truppen sicherzustellen. RAND-Forschungsgruppen entwickelten Lösungen, Daten systematisch in kleine Päckchen zu zerlegen, auf einem Umschlag Absender und Adressaten zu vermerken und auf die Reise zu schicken. Jedes Päckchen suchte den Adressaten. Die Empfangsstelle forderte Päckchen erneut an, wenn sie auf dem Weg verloren gegangen waren. Daran küpfte Tim Berners-Lee 1989 am Forschungsinstitut CERN in der Schweiz an. Er entwickelte eine Skriptsprache, die es möglich

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machte, auf verschiedenen Rechnern lagernde Dokumente auf einer Ansichtsseite darzustellen: Hypertext und HTML waren verfügbar, und erste Webseiten entstanden: für Datenaustausch, Informationssuche und Echtzeit-Kommunikation (Chat). Wissenschaft selbst trieb die Forschung über Netze und Datenaustausch voran. Die Forschenden wollten sich die Möglichkeit schaffen, über weite Entfernungen und in entlegene Gegenden zu kommunizieren. Heute ermöglichen große Rechenzentren und Glasfasernetzwerke Telemedizin (Echtzeit-Fern-OP, Videokonsultation). Lernende Algorithmen werden mit vielen Gigabytes Bilddaten trainiert, um pathologische Muster in Gewebezellen zu detektieren. Die Digitalisierung der Wissenschaften umfasste auch das Wissensmanagement. Zunächst wurde das Blättern in den Bibliothekskarteikarten durch die Suche auf Datenträgern (CD) ersetzt. Diese Übergangstechnologie wurde von der Online-Datenbank ersetzt. Als Scannen im großen Stil erschwinglich wurde, begannen Verlage und Bibliotheken ihre Bestände zu digitalisieren. Dazu entstand die Möglichkeit, ausschließlich elektronisch zu publizieren. Neue Akteurinnen und Akteure etablierten sich am Zeitschriftenund Verlagsmarkt. Anbieter wie PLoS, PeerJ oder BMC stellten Online-Plattformen zur Verfügung, um Fachaufsätze frei zugänglich mit Open Access (OA) zu publizieren. In der virtuellen Welt entstanden Verlage, denen eine Webseite und ein Postfach genügten, um am Publikationsgeschäft teilzunehmen.

Beschleunigung durch multimedialen öffentlichen Diskurs Doch nicht nur die Kapazitäten von Prozessoren, Speichermedien und Datenleitungen sind die Treiber im Forschungsprozess. Die Konkurrenz der Medien um die Aufmerksamkeit der Nutzerinnen und Nutzer wirkt ebenso beschleunigend. Ob Printmedien, Funkoder Fernsehmedien, ob Online- oder Soziale Medien – Forschungsergebnisse werden in den multiplen Kanälen in schnellem Rhythmus und mit hohem Durchsatz unter der informationshungrigen, neugierigen Kundschaft verteilt. Ergebnisse aus der Medizin – ein besserer Test hier, ein neues Medikament dort – zählen dabei zu

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den interessantesten Informationsangeboten, weil der Neuigkeitswert einer Meldung meist hoch ist. Medizinische Forschung eignet sich dadurch hervorragend als »clickbait« (Klickköder), um User auf Webseiten zu locken. Viele Online-Angebote sind nicht an (teurer) Qualität interessiert, weil wiederum die User den (kosten-)freien Zugang erwarten. Ein Thema zu vertiefen und zu differenzieren, ist im schnellen und hart umkämpften Klick-Geschäft kaum möglich. Erkenntnisse und Limitationen eines Forschungsergebnisses ausgewogen an Nutzerinnen und Nutzer von Zeitungen, Rundfunk, Fernsehen, Online-Medien zu vermitteln, ist hohe journalistische Kunst. Um Aufmerksamkeit zu erlangen, muss sich Journalismus kürzer fassen, schnell auf den Punkt kommen und sich einer verständlicheren Sprache bedienen. Zu viel »aber« und andere Relativierungen in einem Text sorgen meist für Stirnrunzeln beim verantwortlichen Redakteur. Diese fachinternen Gegebenheiten sowie ein Mangel an Zeit und Geld erschweren eine ausgewogene Darstellung. In einer Übersichtsarbeit berichtet Wormer (2013), in Deutschland kämen knapp 30 Prozent aller Wissenschaftsthemen aus der Medizin. Eine US-amerikanische Studie kam auf einen Anteil von 58 Prozent, wenn auch die Verhaltensforschung einbezogen wurde. Sumner et al. (2014) berichten, dass auch die Pressemitteilungen der Universitäten und Forschungseinrichtungen Auswirkungen haben: Übertreibungen in den Pressemitteilungen mündeten mit einem 2,4-fach erhöhten Risiko auch in Übertreibungen in der Berichterstattung. In einer anderen Auswertung von Presseberichten (Dumas-­Mallet, Smith, Boraud u. Gonon, 2018) war das Risiko für reißerische Schlagzeilen umso größer, je weniger im Nachrichtentext auf eine notwendige Replikation der Ergebnisse hingewiesen wurde. Noch problematischer für den Journalismus (und dessen Kundschaft) ist zudem, dass seine (wissenschaftlichen) Quellen vergiftet sein können: Fälschung oder Erfindung von Daten, Auswertungstricks, Verzerrung durch Selektion, Verschweigen oder Unterdrücken von Ergebnissen (Publication bias), Ghostwriting und »Guest Authorship« (Zimmermann, 2014; vertiefend dazu der Beitrag »Indizien für schlechte Forschung und ein Plädoyer« von Dubben in diesem Band).

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Verfrühte mediale Ankündigungen, zumal in Großbuchstaben, sind ein weiteres Übel und wecken unhaltbare Erwartungen. Meist liegt nämlich die Zeitperspektive für die Anwendung beim Menschen (klein- oder ungedruckt) bei zehn bis zwanzig Jahren. Lassen sich die Forschenden einspannen, um gegen Beratungshonorar ein bestimmtes Medizinprodukt, ein Medikament oder eine Behandlung öffentlich zu empfehlen, oder preisen sie gar ihr eigenes Produkt an, geben sie die seriös abwägende Wissenschaftssicht zugunsten von Marketing auf. Mit diesem Schritt muss dann alles irgendwie schneller gehen als bei der Konkurrenz. Ob ein geklontes Tier, eine hybride, tierische Organspende, ein Bluttest für Alzheimer oder zur Früherkennung von Brustkrebs: Alles muss schnell raus – denn die Milliarden der möglichen investiven Mittel ziehen sonst weiter rund um den Globus. Ein solcher Schnellschuss mit einem Blutkrebstest erschütterte 2019 das Universitätsklinikum Heidelberg – immerhin ein Fall, bei dem die verantwortlichen Personen zurückgetreten sind, als deren unverantwortliches Handeln durch eine Kommission belegt wurde (Maybaum, 2019). Den Fragen der journalistischen Qualität in der Medizin-Berichterstattung stellt sich der www.medien-doktor.de der TU Dortmund. Das Angebot bietet ein Monitoring von veröffentlichten Medieninhalten und fördert den kritischen Umgang mit den journalistischen Arbeiten genauso wie mit den medizinischen Fachtexten.

Die ökonomisierte Wissenschaft auf Wachstumskurs Industriegesellschaften entwickeln sich zu Wissensgesellschaften. Die Transformation von Lebenswelten in die digitalisierte Sphäre befeuert (oder auch: beschleunigt) diesen Prozess. Die Möglichkeiten der Informationsverarbeitung stehen dabei wohl erst am Anfang. Beschleunigung innerhalb der Wissenschaft ist meist unmittelbar an die technische Ausstattung gebunden – für neue Rechner, bildgebende Verfahren, mehr Glasfaser, automatisierte Formen der Datenerhebung, Gen-Sequenzierer und Tomografen. Die Grundlage all dessen ist die Ausstattung mit finanziellen Mitteln und mit Personal. Während weltweit im Jahr 1996 620 Milliarden US-Dollar für Forschung und Entwicklung ausgegeben wurden, gingen im Jahr

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2015 bereits 1.666 Milliarden US-Dollar in diesen Bereich, eine Steigerung um das 2,7-fache. Rund 2,3 Prozent der globalen Wertschöpfung des Jahres 2015 entstand in diesem Sektor, eine Steigerung um 0,3 Prozent seit 1996 (Weltbank, o. J.). Derzeit zieht die Forschung in den Lebens-, Verhaltens- und Ingenieurswissenschaften (Psychologie, Biologie, Medizin, Pharmazie, Chemie, IT, Nanotechnologie, Biomechanik) viel Kapital an. In Deutschland übersteigen privatwirtschaftliche Ausgaben in Forschung und Entwicklung (61,6 Milliarden Euro) die der staatlichen Förderung in Höhe von 50,4 Milliarden Euro. Der Forschungsanteil am deutschen Bruttoinlandsprodukt stieg zwischen 2000 und 2017 von 3,1 auf 3,6 Prozent (BMBF, o. J.). Öffentliche Förderung erfolgt vor allem auf der Basis eines Systems der Ausschreibung, Antragstellung und Begutachtung sowie schließlich der Einwerbung von Finanzmitteln mit projektspezifischen Laufzeiten. In den wissenschaftlichen Einrichtungen führt die große Geldmenge hin und wieder zu wenig wünschenswerten Effekten, etwa zum ungeordneten Wachstum einzelner Abteilungen und Bereiche. Ein Wachstum, mit dem die Infrastruktur oft nicht mithalten kann, weil Büros fehlen, ein starker Konkurrenzkampf um freie Forschungslaborflächen entbrennt und schließlich die Abwicklung der Projekte und die Veröffentlichung der Ergebnisse gar nicht mehr Schritt halten kann mit der Menge neu eingeworbener Drittmittel. Über das Fördersystem wurden und werden Tausende Stellen geschaffen, die kurzfristig den Bedarf decken, einen Teil der akademisch Ausgebildeten zu beschäftigen: Mit dem Antrags- und Förderwesen umgehen die gesetzgebenden Parlamente in Bund und Ländern die Frage, ob die Grundfinanzierung der Hochschulen und Universitäten (Budgets) nicht so zu erhöhen sein müsste, dass zumindest für einen größeren Teil des akademischen Proletariats eine Dauerstelle in Aussicht stünde. Innerhalb von zwanzig Jahren hat sich die Anzahl der wissenschaftlich-künstlerisch Beschäftigten immerhin verdoppelt. Zwischen 2009 und 2018 ist die Anzahl des wissenschaftlichen Personals um circa 100.000 Köpfe gestiegen (Statistisches Bundesamt, o. J.). Laut Zahlen der Weltbank waren im Jahr 2015 weltweit rund 10,7 Millionen Menschen in Forschung und Ent-

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wicklung tätig, Tendenz steigend (Weltbank, o. J.). Aufstrebende Nationen wie Indien oder China bauen ihr Hochschulwesen systematisch aus. Jährlich absolvieren mehrere Millionen indische und chinesische Ingenieurinnen und Ingenieure ihre Ausbildungsgänge. Allein Indien entlässt jährlich 1,5 Millionen Ingenieure auf den heimischen Arbeitsmarkt, auch wenn Zweifel an deren Fähigkeiten und Fertigkeiten aufgekommen sind (Chakrabarty, 2016).

Der Output wächst Fachaufsätze in wissenschaftlichen Journalen sind ein zentrales Element, um wissenschaftliche Ergebnisse zu kommunizieren. Mehr Mittel und forschende Personen sowie beschleunigte Datenverarbeitungsprozesse vergrößern die Ergebnisbasis: Laut Weltbank veröffentlichte die wissenschaftliche Gemeinschaft 2010 knapp zwei Millionen Fachaufsätze im Sektor Forschung und Entwicklung. Im Jahre 2016 wuchs diese Zahl bereits auf 2,3 Millionen. In den Datenbanken von Clarivate Analytics, Herausgeberin des »Web of ­Science«, sind 161 Millionen Fachaufsätze aus 34.000 Zeitschriften mit 1,7 Milliarden Zitierungen hinterlegt, konsistent aufbereitet seit 1950 (Clarivate Analytics, 2019). Die produzierte Menge an Wissenschaft ist für die einzelnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler selbst innerhalb der eigenen Fachdisziplin (oder einer Subdisziplin) kaum überschaubar. Immer schwerer wird es in diesem Zusammenhang, relevantes und irrelevantes Material für das eigene Fach voneinander zu unterscheiden. Jeder der ungefähr 20 Millionen Fachaufsätze aus dem letzten Jahrzehnt ist dabei nur ein einzelner Datenpunkt im Ozean der Forschungsergebnisse. Hinzu kommt eine Menge an Monografien und Sammelwerken. Zum Zeitpunkt der Untersuchung von Bastian, Glasziou und Chalmers (2010) erschienen täglich bis zu 75 randomisiert-kontrollierte Studien und elf systematische Übersichtsarbeiten. Die größte Herausforderung ist es nun, aus den Datenpunkten die Evidenz zu extrahieren, zu systematisieren und zu synthetisieren sowie Fragestellungen zu verdichten. Doch auch das schafft neue Schwierigkeiten. Ioannidis (2016) konstatiert mittels PubMed-Daten für den Zeitraum zwischen 1991 und 2014 eine um 2.728 Prozent

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gewachsene Trefferquote für systematische Übersichtsarbeiten und eine Steigerung um das 2.635-fache für Metaanalysen. Alle sonstigen PubMed-Items hatten im Vergleichszeitraum nur 1,5-fach zugelegt. Bemerkung am Rande: Allein für Antidepressiva konnten 185 Metaanalysen identifiziert werden, und zwar nur für die Jahre 2007–2014. Digitale Unterstützungssysteme (Datenbanken) zur Literatursuche und deren Verwaltung beschleunigen den wissenschaftlichen Prozess. Eine Forschungsfrage ist schnell aus dem Ozean der vermeintlichen Evidenz herausgefischt – siehe Anzahl der Metaanalysen oben. Doch die stetig steigenden Zahlen veröffentlichter Fachaufsätze zu einem Thema verlangsamen den Prozess des Schreibens wieder. Mehr Literatur muss gesichtet und auf Relevanz geprüft werden. Nicht nur die Zahl der Aufsätze steigt, auch die Zahl der Zeitschriften.

Die wissenschaftliche Verlagslandschaft Zeitschriftentitel entstehen fortlaufend neu. Neben spezialisierten Ablegern etablierter Abonnementtitel (Nature  → Nature Communications) hat sich im Internet ein florierendes Open-Access-(OA-) Angebot entwickelt. Aufsätze mit Forschungsergebnissen in vernetzten Datenbanken oder anderen Online-Ablagesystemen frei verfügbar zu machen, wurde das Herzensanliegen vieler Forscherinnen und Forscher. Über 50  Prozent des Fachzeitschriftenmarktes befinden sich in den Händen eines Oligopols aus fünf Verlagen: Reed-Elsevier, Wiley-­Blackwell, SpringerNature, Taylor & Francis und Sage Publications (Larivière, 2015). Deren gewinnorientiertes Geschäftsmodell basiert auf exkludierend teuren Abonnements und der kostenfreien Lieferung der Inhalte durch die wissenschaftliche Gemeinschaft. Bezahlschranken im Internet kamen zum Jahrtausendwechsel hinzu. Ein Wegbereiter für diese Kohabitation war der britische Verleger Robert Maxwell. Er erkannte nach dem Zweiten Weltkrieg, wie wertvoll es werden könnte, wissenschaftliche Zeitschriften im Programm zu haben. Maxwell nahm an den Tagungen der Fachgesellschaften teil, vernetzte sich, warb exklusive Manuskripte an oder initiierte Zeitschriften-Gründungen mit den Fachgesellschaften. Das Perga-

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mon-Press-Imperium, das er 1991 an Elsevier verkaufte, umfasste am Ende 418 Titel (Cox, 2002). Maxwells Trick, den Container zu bieten, der von der Wissenschaft befüllt wird, funktioniert bis heute: Die Verlage bekommen den Content kostenfrei aus der wissenschaftlichen Gemeinschaft, die in weiten Teilen öffentlich finanziert ist. Die Peers schreiben kostenlose Gutachten zum eingereichten Aufsatz (siehe den Abschnitt zum Peer-Review im Beitrag »Beschleunigte medizinische Forschung« von Dubben). Öffentlich finanzierte Hochschul-­Bibliotheken kaufen diesen Content über die Abonnements wieder zurück. 2018 betrug die Umsatzrendite der Zeitschriftensparte des börsennotierten Unternehmens RELX, zu dem die Verlagsgruppe Reed-­ Elsevier gehört, 37,1 Prozent (RELX-Group, 2019). In einer Liste der Universität Duisburg-Essen mit den 15 teuersten von der Bibliothek erworbenen Jahresabonnements im Jahr 2016 stellt Elsevier allein sechs Zeitschriften. Darunter mit Cell das teuerste Abonnement einer Einzelzeitschrift, das bei zweiwöchentlicher Erscheinungsweise 19.551 Euro kostet (Universität Duisburg-Essen, o. J.). Wegen starker Preisanstiege begannen die Bibliotheken, EinzelAbonnements zu kündigen. Die Verlage bündelten im Gegenzug Abonnements, also große Angebotspakete, die dann in der Summe preiswerter waren als die Listenpreise der einzelnen Zeitschriften. Allerdings kauften die Einrichtungen nun Abos für Zeitschriften mit, die sie allein nie bestellt hätten. Da die Verlage Geheimhaltungsklauseln in den Verträgen unterbrachten, bedurfte es eines Auskunftsersuchens nach dem Freedom of Information Act, um die Bündel-Preise zu analysieren (Bergstrom, Courant, McAfee u. Williams, 2014). Um eine Vergleichsgrundlage über Verlage und Zeitschriften hinweg zu schaffen, erzeugten die Autorinnen und Autoren zunächst einen Index, der die Kosten pro Zitat einer Zeitschrift enthielt. Die Autorinnen und Autoren fanden heraus, dass Verlage wie Emerald, Sage sowie Taylor & Francis fast zehnmal soviel AboGebühren pro Zitat verlangten wie Non-Profit-Verlage. Elsevier hingegen verlangte unter den kommerziellen Firmen nur dreimal höhere Preise pro Zitat im Vergleich zu nicht kommerziellen Verlagen. Die öffentliche Hand hat sich in Deutschland im Verbund mit Bibliotheken und Fachgesellschaften zur Initiative DEAL zu-

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sammengeschlossen, um mit den großen Wissenschaftsverlagen faire Lizenzierungsbedingungen auszuhandeln. Größte Herausforderung jedoch sind die stark verbesserten und vereinfachten Möglichkeiten durch das Online-Publishing. Seit der Jahrtausendwende setzt die Open-Access-Bewegung den Verlagen zu. Die kommerziellen Anbieter begannen eigene OA-Programme aufzulegen, die von den Autorinnen und Autoren oder deren Institutionen Bearbeitungs­ gebühren (APCs – Article Processing Charges) erheben. Die Verlage öffneten ihre Archive, bereits digitalisierte Zeitschriften wurden zugänglich(er). Aufsätze aus der prä-digitalen Zeit wurden gescannt und ebenfalls online gestellt. Den Preismodell-Kritiken sollte etwas entgegengesetzt werden.

Das Peer-Review-Verfahren an seinen Grenzen Das geniale Verlagsgeschäft lebt unter anderem vom Goldstandard der Wissenschaft, dem Peer-Review: Nach einer Einreichung bei einem Verlag ist die Begutachtung durch mindestens zwei unabhängige Fachkolleginnen oder -kollegen (Peers) vorgesehen. Jene, die begutachten, müssen vom Inhalt etwas verstehen und sich innerhalb des Fachs auskennen. Mit der Begutachtung sollen wissenschaftliche Integrität, methodische Angemessenheit und die Einbettung in die bereits bekannte Forschungsliteratur sichergestellt werden (Resnik u. Elmore, 2015; Smith, 2006). Damit ist klar, dass keineswegs alle Personen Gutachten verfassen können, die wissenschaftlich arbeiten. Der wissenschaftliche Nachwuchs kann hier nur langsam und idealerweise unter Supervision herangeführt werden. Das Standardverfahren bei den meisten Zeitschriften ist ein anonymisiertes Review. Die Autorinnen und Autoren erfahren nicht, wer sie begutachtet. Open Review ist eine Begutachtungsform, die in den vergangenen Jahren im Zuge der OA-Bewegung entstanden ist. Die Ablehnungsquote bei begehrten Zeitschriften ist hoch: Aus dem Bericht der American Psychological Association (APA, 2018) zu verschiedenen Indikatoren lässt sich erkennen, dass die 29 APA-Zeitschriften eine durchschnittliche Ablehnungsquote von 70 Prozent haben. In der Zeitschrift Nature sank die Rate der veröffentlichten Einreichungen zwischen 1997 und 2017 von 10,7 Prozent der begut-

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achteten Einreichungen auf 7,6 Prozent (Nature, o. J.). Nature ist ein Zieljournal mit sehr hohem Impact-Faktor (IF). Diese Verhältniszahl von Nature-Zitaten zur Anzahl von Aufsätzen, die in Nature erschienen sind, betrug 2018: 43. Zum Vergleich: In der Allgemeinmedizin sind die »Annals of Family Medicine« mit einem IF von 4,5 das begehrteste Zieljournal. Wie der IF einer Zeitschrift durch herausgeberisches Geschick nach oben gebracht werden kann, beschreibt Dubben in dem Beitrag »Beschleunigte medizinische Forschung« in diesem Band. Viele Einreichungen werden bereits abgelehnt, ohne den ReviewProzess zu starten. Das verkürzt die Wartezeit und gibt den Aufsatz frei für einen erneuten Versuch in einem anderen Journal. Einige Zeitschriften haben in den vergangenen Jahren begonnen, Gebühren allein für die Einreichung zu nehmen, um damit eine Art Damm gegen eine Flut eingereichter Manuskripte zu schaffen. Die große Menge an Einreichungen sorgt für Anspannung in den Zeitschriftenredaktionen. Für das Deutsche Ärzteblatt, Cell oder BMC Medicine ist es sicher kein Problem, Gutachten zu beauftragen. Durch eine Zeitschrift des eigenen Fachs um ein Gutachten gebeten zu werden, würdigt die bisherigen Leistungen der Angesprochenen, die entweder empfohlen wurden – oder durch eigene Veröffentlichungen zum Thema auf dem Radar der Redaktion erscheinen. Für weniger prestigeträchtige Journale jedoch, die einen kleinen oder keinen Impact-Faktor haben bzw. an keine Fachgesellschaft gebunden sind, stellt der Beginn des Review-Prozesses eine erste Engstelle dar: Findet sich in angemessener Zeit jemand, der bereit ist, die Einreichung kostenlos zu begutachten? Das ist oft mühselig, zumal die Angefragten die Bitte um ein Review auch ablehnen: Wegen fachfremder Vorschläge, Urlaubszeiten, Zeitmangel, uninteressanten Fragestellungen, schlechter Wissenschaft (erkennbar am Abstract des eingereichten Textes). In einzelnen Fällen kann es auch einmal sechs Monate dauern, bis das gutachterliche Verfahren überhaupt eröffnet ist. Üblicherweise vergehen zwischen Einreichung, geordnetem Peer-Review, Revision und Veröffentlichung einer Arbeit in etwa drei Monate, in Einzelfällen ein halbes oder sogar ein ganzes Jahr. Die Hälfte der Einreichungen bei rund 5.000 ausgewerteten Pub-

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Med-Zeitschriften erhält nach 100 Tagen die Akzeptanzmitteilung (Powell, 2016). Das Peer-Review ist wegen zahlreicher »Schönheitsfehler« wie schlechte Qualität der Gutachten, Eigeninteressen oder erfundenen Reviewern unter Druck geraten (Resnik u. Elmore, 2015; Smith, 2006) – aber im Augenblick ist keine wirkliche Alternative zur Hand. Ein Gedankenexperiment macht klar, dass das Peer-Review-System bei stetigem Wachstum wie in den letzten Jahrzehnten an die eigenen Grenzen gelangen muss: 2,3 Millionen Fachaufsätze im Jahr 2015 erfordern mindestens 4,6 Millionen Gutachten. Viele Journals beauftragen bereits im Standardmodus drei Gutachten. Von den 10,7 Millionen Beschäftigten in Forschung und Entwicklung können allenfalls rund 25 Prozent aufgrund ihrer Erfahrung tatsächlich gutachterliche Leistungen erbringen. Es bleiben circa 2,7 Millionen Personen (von denen sicherlich nicht alle zur Verfügung stehen), um 4,6 Millionen Gutachten zu schreiben (von denen sicherlich deutlich mehr gebraucht werden)  – ein Flaschenhals, wenn Ablehnungen einkalkuliert werden und Interessenkonflikte der Peers ebenfalls berücksichtigt werden müssen. Leider helfen manchmal auch sechs Gutachten nicht, betrügerische Wissenschaft zu erkennen und auszusortieren. So geschehen bei der Studie, die 1998 in The Lancet den Zusammenhang von Impfungen und frühkindlichem Autismus in die Welt setzte – und die erst 2010 von der Zeitschrift zurückgezogen wurde. Die gärende Debatte um die Qualität, Fairness und Integrität des Peer-Review nahm Fahrt auf, als der Wissenschaftsjournalist John Bohannon die Ergebnisse seines Experiments veröffentlichte (Bohannon, 2013). Er verschickte den gleichen sinnfreien Aufsatz an 304 OA-Zeitschriften. 157 wären gegen Gebühr bereit gewesen, den Zufallstext zu drucken. Das Dilemma ist benannt: Einer stetig wachsenden Zahl an Einreichungen durch eine stetig wachsende Zahl an wissenschaftlich Tätigen, die immer mehr Forschungsgelder ausgeben, steht ein Gutachterverfahren gegenüber, das an seine Grenzen gelangt (Nowotny, 2018). Reviewer-Kapazitäten reichen nicht aus, die zunehmenden Einreichungen aus wissenschaftlich aufstrebenden asiatischen Nationen wie etwa Indien und China mit Publikationsplatz zu versorgen.

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Unter den gegenwärtigen Bedingungen der ökonomiegetrie­benen Wissenschafts- und Veröffentlichungspraxis ist es Forschenden aus Asien, Afrika oder arabischen Ländern kaum möglich, in etablierten Journalen zu veröffentlichen. Zudem sind deren Hochschuleinrichtungen kaum in der Lage, teure Bibliothekslizenzen zu erwerben oder die OA-Option zu finanzieren.

Raubverlage als Symptom – #FastScience In diesem Veröffentlichungsdilemma zwischen wissenschaftlichem Anspruch und der Ökonomie der Abonnement-Verlage bieten so genannte Raubverlage wie Omics, OAText oder Global Science Publishing Group eine (scheinbare) Lösung. Sie schaffen die Gelegenheit, zu publizieren. Dabei halten sie sich nicht an die üblichen Regeln des Geschäfts (etwa Peer-Review, funktionierende DOI-Adresse, Editorial Boards). Der Bibliothekar Jeffrey Beall erstellte eine erste Systematik der »Potential predatory scholarly OA publishers«, definierte Kriterien und begann, Verlagsnamen und Zeitschriftentitel zu sammeln. Kategorien der Bewertung sind: Integrität, Herausgeberschaft, Redaktion, Geschäftsauftreten (Beall, 2015). Verlage, die vorgaukeln, sie würden eine wissenschaftliche Plattform bieten, wachsen bis heute wie Pilze im feuchten Herbst in die wissenschaftliche Verlagslandschaft hinein. Mit dem meist völligen Fehlen wissenschaftlicher Mindeststandards beschädigen sie gleichwohl das Ansehen der gesamten wissenschaftlichen Gemeinschaft. Sie sind das Symptom von Beschleunigung und Überproduktion in der Wissenschaft und bedienen sich dabei des gesellschaftlichen Trends OA. Sie locken mit ultrakurzen Review- und Veröffentlichungszeiten. #FastScience eben. Ist die Gebühr für die Bearbeitung und Veröffentlichung des Artikels überwiesen, dauert es in der Regel nicht länger als ein bis vier Wochen, einen Aufsatz zu begutachten, zu akzeptieren und zu veröffentlichen – je nachdem, wann die nächste monatliche Ausgabe erscheint. Doch eine so genannte (Original-)Veröffentlichung, die innerhalb so kurzer Fristen auf einer Webseite erscheint, kann nach allem, was sich über die gegenwärtige Wissenschaft wissen lässt, nicht seriös begutachtet worden sein.

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In mehreren Fächern (Pflege, Chirurgie, Psychologie) sind inzwischen erste Übersichtarbeiten entstanden. Exemplarisch dafür ist die Untersuchung einer Arbeitsgruppe aus dem Fach Anästhesiologie (Cortegiani et al., 2019): Sie identifizierte 212 OAZeitschriften aus 83 Verlagen allein in diesem und in angrenzenden Fächern. Nur 32 Prozent der Zeitschriften hatten einen Herausgeber benannt. Die Ortsangaben des Verlags wurden mit einem Werkzeug von Google Maps geprüft. In 43 Prozent der Fälle erschienen sie der Arbeitsgruppe als zweifelhaft. Nur 24 Prozent (50/212) der untersuchten OA-Zeitschriften hatten sich selbst ethische Richtlinien oder Regeln zum Umgang mit wissenschaftlichem Fehlverhalten gegeben. Das Geschäftsmodell der Wegelagerer zieht interessengeleitete Fachaufsätze (»activist research«) an, die am Begutachtungsverfahren vorbei bestimmte Inhalte in die Welt streuen. Ein Beispiel sind die nicht wirksamen, aber teuren Krebsmedikamente wie im Fall der Moderatorin Miriam Pielhau. Deren Geschichte deckten Mitte 2018 NDR, WDR und SZ unter dem Schlagwort »#FakeScience« auf, um über die Praktiken in diesem Sektor des Verlagsmarktes aufzuklären (Hornung u. Eckert, 2018). In diesen Verlagen erscheinen weitere Titel, etwa zu Kondensstreifen (Chemtrails) als Beleg dafür, durch Regierende manipuliert zu werden; oder Texte, um die Evidenz der von Menschen verursachten Klimaveränderung zu widerlegen. Mit diesen ungeprüften, aber eben publizierten Behauptungen wird die wissenschaftliche Expertise diskreditiert, um damit Politik zu machen (wie im Fall des EIKE-Instituts, eines Hotspots der Klimaskepsis-Bewegung; vgl. EIKE, 2016). Die hier besprochenen Verlagsmodelle ermöglichten es dem Institut, sich ein wissenschaftliches Oeuvre zuzulegen. Auf diesen »Expertenstatus« bezieht sich dann beispielsweise die Fraktion der AfD im Brandenburgischen Landtag, wenn sie einen EIKE-Experten zu einer Anhörung einlädt (Landtag Brandenburg, 2018). Leider floriert das Geschäftsmodell der neuen Spieler am Verlagsmarkt. Einer der erfolgreichsten Akteure (Omics) hatte bis ins Jahr 2016 so viel Kapital angesammelt, dass ein strategisch wichtiges Investment erfolgen konnte: Kauf eines Verlages mit guter wissenschaftlicher Reputation. Der Anbieter aus Hyderabad in Indien er-

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warb zwei kleine etablierte Medizin-Fachverlage: Pulsus und Andrew John. Mehrere Fachgesellschaften trennten sich daraufhin von diesen Verlagen und übernahmen die Herausgabe ihrer Publikationen selbst (Oved, 2016). Der OA-Erfolg des letzten Jahrzehnts, der Flaschenhals PeerReview und die Digitalisierung des Verlagsgeschäftes ermöglichen es, den wissenschaftlichen Zeitschriften-Markt mit einem räuberischen Geschäftsmodell zu beschädigen. Das blühende Wachstum dieser Angebote ist ein Symptom dafür, dass die etablierten Veröffentlichungsformen an ihre globalen Grenzen stoßen. Nun könnte der Einwand kommen: Vielleicht ist das ja alles gar nicht so schlimm? Vorsicht ist geboten. Landet ein Aufsatz in den Archiven der Wegelagerer, war der ganze zuvor betriebene Aufwand umsonst. Die Verlage kidnappen das Material und stellen es online. Selbst eine letzte Umkehr, ausgelöst durch Informationen aus kollegialen Kreisen oder die Hoffnung, mit verweigerter Zahlung der APC aus deren Krallen herauszukommen, fruchtet nichts (Moher et al., 2017).

Kann sich die Wissenschaft selbst helfen? Die Entwicklung menschlicher Gesellschaften basiert ganz wesentlich auf Erkenntnissen der wissenschaftlichen Forschung. Deswegen hält der finanzielle Mittelzufluss ungebrochen an. Der Erfolg bedroht jedoch das System: weltweit mehrere Millionen Beschäftigte, jährlich mehr als zwei Millionen Fachaufsätze, ein unüberschaubarer Ozean von empirischen Daten. Über Relevanz entscheidet die Perspektive: Eine ausgewählte Messreihe aus einer größeren Versuchsanordnung, die zu einer medizinischen Doktorarbeit verarbeitet wird und in einen Fachaufsatz mündet, vermag den Gesamtpool des bereits vorhandenen Wissens kaum zu bereichern. Es ist ein weiterer Datenpunkt unter vielen anderen, an die diese Messreihe angelehnt ist. Für eine zukünftige Ärztin ist der Fachaufsatz jedoch sehr relevant: Sie hat im Labor gemessen, und mit der Veröffentlichung schließt sie diese Qualifikationsphase mit einem Doktortitel ab.

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Eine Wissenschaft, die schnell ist und Prozesse beschleunigt, ist unter folgenden Umständen wünschenswert: Ȥ Sie nützt den Patientinnen und Patienten. Ȥ Sie stärkt das Zusammenleben und das Gemeinwesen. Ȥ Sie beugt einem Fehlverhalten vor. Ȥ Sie verhindert einen langfristigen Schaden für den Einzelnen oder die Gemeinschaft. Datengetriebene Medizin bietet enorme Chancen, Menschen früher, wirksamer, schonender zu behandeln – sie beinhaltet aber auch das Risiko, immer mehr Kontrolle an Technik, Infrastruktur und Algorithmen abzugeben. Vielleicht geht zukünftig durch automatisiertes Messen (Stichwort: Selbstvermessung mittels Smartphone) das Handwerk verloren: Wer kann bzw. will noch die Blutdruckmanschette oder das Stethoskop bedienen, wenn kluge Endgeräte das übernehmen können? Ein Risiko für uns Menschen ist, dass wir Prozesse und Entscheidungsketten eventuell nicht mehr verstehen, weil deren Komplexität nicht mehr nachvollziehbar ist. Von seiner Robustheit, seinem Anspruch, seiner finanziellen Ausstattung her könnte es sich das System Wissenschaft durchaus erlauben, mehr reformerische Ideen für die eigenen Probleme zu entwickeln und den kritischen Geist auf sich selbst anzuwenden: Wie könnte eine Wissenschaft aussehen, die nicht so sehr dem ökonomieorientierten Selbstzweck dient als vermehrt dem Gemeinzweck? Parlamente, Ministerialbürokratien, sämtliche staatlichgemeinschaftlichen Instanzen, die Forschung finanzieren, sollten nicht länger dabei zuschauen und tolerieren, dass für Forschung dreimal gezahlt wird: für Aufbau, Durchführung und Auswertung des Experiments, für den Review durch mehrere unabhängige Dritte, für die Veröffentlichung bzw. den Ankauf der Zeitschriftenlizenz. Darüber hinaus bedürfen die gängigen Belohnungssysteme einer Adjustierung: Ȥ Impact-Faktor-basierte Mittelvergabe verleitet zu Überpro­ duktion. Ȥ Promotionsordnungen müssen auf den neuen Verlagsmarkt hin überdacht und angepasst werden.

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Ȥ Herausgeberinnen und Herausgeber sollten genau hinschauen, für wen sie ihren guten Namen einsetzen. Ȥ Redakteurinnen und Redakteure sowie Gutachterinnen und Gutachter aus Hochschuleinrichtungen sollten Umsicht walten lassen, für wen sie ihre Arbeitszeit aufwenden. In der Wissenschaft verschränken sich gegenwärtig Beschleunigungsund Verlangsamungsprozesse. Im Bereich Verkehr führt dies zu Stillstand. Im Bereich digitalisierter Kommunikation verweigern sich bei Overload die kognitiven Verarbeitungssysteme. Mit einer wissenschaftlichen Haltung jedoch sind Forscherinnen und Forscher in der Lage, solche gegenläufigen Phänomene zu integrieren. Wissenschaft macht dann genau das, was sie am besten kann, nämlich weitere Forschungsfragen zu stellen: Welche Plagiatssoftware ist am besten geeignet? Wie kann das Peer-Review verbessert werden? Wann hören wir endlich auf, dem Signifikanztest so viel Macht über unsere Forschungsergebnisse einzuräumen (siehe dazu den Beitrag »Beschleunigte medizinische Forschung« von Dubben in diesem Band)? Whatever happens, further research is needed – as sure as there is weather tomorrow.

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Hans-Hermann Dubben

Indizien für schlechte Forschung und ein Plädoyer Oberstes Qualitätskriterium für Forschung ist die Reproduzierbarkeit von Ergebnissen. Reproduzierbarkeit erfordert mehrere Studien und damit zwangsläufig auch mehr Zeit als eine einzelne Studie. Eine Studie zu wiederholen, kostet Zeit und Geld, und es besteht das Risiko, dass eigene Ergebnisse sich als nicht reproduzierbar herausstellen. Dem Forscher bringt das Wiederholen der Studien anderer Forscher kaum Lorbeeren ein, denn er macht ja »nichts Neues«. Für den Forscher selbst mag es unbefriedigend sein, die Ideen anderer zu überprüfen, statt den eigenen Ideen nachzugehen. Auch journalistisch werden mit Vorliebe neue, unerwartete, bahnbrechende Entdeckungen aufgegriffen, obwohl diese abgegriffene Kombination von Adjektiven schon fast eine Garantie für wissenschaftliche Eintagsfliegen ist (Ioannidis, 2005; Yong, 2012; Yong, 2013). Wiederholungsstudien wird auch häufig ein ethisches Problem angelastet. Wenn in einer ersten Studie die Therapie A bessere Ergebnisse gezeigt hat als Therapie B: Darf man dann die Studie wiederholen? Man würde dann doch die eine Hälfte der Teilnehmer wissentlich suboptimal behandeln? Das kann sein, muss aber nicht. Das Ergebnis der ersten Studie könnte falsch sein, auf Zufall oder einem systematischen Fehler beruhend. Setzt man nun fälschlicherweise auf Therapie A, dann werden alle weiteren zukünftigen Patienten suboptimal behandelt. Eine voreilige Entscheidung für Therapie  A hat ein hohes Schadenspotenzial, weil damit Fehlbehandlungen und Fehlforschung über Jahre hinaus festgeschrieben werden. Bei der Vier-Säfte-Lehre waren es über 2000 Jahre. Eine Studie zu wiederholen, ist sehr wahrscheinlich ein geringeres ethisches Problem, als die Studie nicht zu wiederholen.

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Statistische Signifikanz Es gibt kaum eine quantitative medizinische Forschungspublikation, in der nicht statistische Signifikanztests durchgeführt werden. Mit diesen Tests möchte man erreichen, möglichst selten auf zufällig falsch positive Ergebnisse hereinzufallen. Diese Tests werden oft falsch angewandt und noch häufiger falsch interpretiert (Beck-Bornholdt u. Dubben, 2003; Dubben, 2017; Gigerenzer, Krauss u.Vitouch, 2004; Nuzzo, 2014). Ein Ergebnis mit einem so genannten p-Wert unter 5 % darf man »statistisch signifikant«1 nennen. So ein als positiv und bestätigend gewertetes Ergebnis ist einfacher zu publizieren als ein negatives (Dubben u. Beck-Bornholdt, 2004b) und lässt den Wissenschaftler im Licht eines (vermeintlichen) Entdeckers glänzen. Vernachlässigt wird dabei, dass 5 % aller Ergebnisse per definitionem »statistisch signifikant« sind und dass der p-Wert allein so gut wie nichts darüber aussagt, ob ein Ergebnis wahr bzw. replizierbar ist. Der p-Wert sagt rein gar nichts über systematische Fehler und auch ebenfalls rein gar nichts über die Relevanz eines Ergebnisses. Aber man ist schnell »fertig« in dem Sinn: schnell publiziert, schnell promoviert, schnell habilitiert – und schnell saniert, wenn sich das Ergebnis vermarkten lässt. Da Zeitdruck unsauberes Arbeiten fördert, sorgt er auch für falsch positive, nicht replizierbare Ergebnisse und zur Überschätzung von Effekten (Fanelli, 2017). Bessere Wissenschaft wäre, zusätzlich nach der Power und dem prädiktiven Wert von Studien zu fragen; nach Experimenten zu suchen, die die eigene These falsifizieren könnten; eine Gesamtschau der Evidenz zu erstellen, in der man alle Evidenz vom Reagenzglas bis zur klinischen Studie berücksichtigt und sich fragt, ob das ein in sich konsistentes und repliziertes Bild ergibt und ob man gar einen plausiblen Wirkmechanismus erkennen kann. Das alles kostet Zeit und ist nicht unmittelbar kommerziell verwertbar. Aber es sorgt für das, was das Ziel guter Forschungsmethodik ist, nämlich dass man sich seltener irrt. 1 Kaum ein Wissenschaftler weiß, was das tatsächlich bedeutet, aber fast alle haben eine falsche Vorstellung davon. Es geht sogar so weit, dass einige denken, mit einem »statistisch signifikanten« Ergebnis sei etwas bewiesen.

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Power einer Studie: Sehen und Übersehen (wollen) Mit einer falschen Brille sieht man schlecht und man kann vorhandene Dinge übersehen. Dasselbe kann passieren, wenn man eine Studie durchführt, die dem Forschungsgegenstand nicht angemessen ist. Dass ein Ergebnis fälschlicherweise negativ ausfällt, kann auf systematischen Fehlern beruhen, aber auch auf Zufall. In der Statistik gibt es den Begriff der Power. Das ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Studie einen tatsächlich vorhandenen Effekt auch findet. Mit der Wahrscheinlichkeit 100 % – Power wird der Effekt zufällig übersehen. Wie beim p-Wert sind in der Power systematische Fehler nicht berücksichtig. Eine Studie mit falsch justierten Messgeräten, falsch diagnostizierten Patienten oder Unausgewogenheiten zwischen den Patientengruppen kann vorhandene Effekte übersehen, ganz gleich, wie groß die statistische Power ist. Die Power einer Studie nimmt mit der Anzahl der Probanden zu. Dabei kommt es aber auch auf die Anzahl der Ereignisse an, die Größe des gesuchten Effektes und das Signifikanzniveau. Die Mindestanzahl kann und muss vorab mathematisch und auf validen empirischen Daten beruhend ermittelt werden. Nur so kann man den Aufwand für eine Studie oder gar deren Machbarkeit vorab einschätzen. Kleine Studien mit kleiner Power haben einen kleinen prädiktiven Wert. Auch kleine Studien »liefern« statistisch signifikante Ergebnisse. Die Ergebnisse sind allerdings seltener wahr als statistisch signifikante Ergebnisse von Studien hoher Power. Letzteres bemerken und wissen offenbar nur sehr wenige (Gigerenzer et al., 2004, Ioannidis, 2005; Nuzzo, 2014). Ein Forscher, der unter Zeitdruck schnell vorankommen will und für den seine Karriere wichtiger ist als der Wahrheitsgehalt seiner Ergebnisse, wird daher kleine und damit schnelle Studien bevorzugen. Er wird schneller »voran«kommen als die Wissenschaftler, die solide und damit zeitaufwendigere Forschung betreiben. Tatsächlich haben die meisten klinischen Studien eine zu geringe Power (Freiman, Chalmers, Smith u. Kuebler 1978, 1992; Lochner, Bhandari u. Tornetta, 2001; Halpern, Karlawish u. Berlin, 2002; Button et al., 2013; Ioannidis et al., 2014; Dubben u. Beck-Bornholdt, 2016). Der prädiktive Wert dieser Studien ist gering. Es werden Ressourcen verschwendet in Form von Gesundheit

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und Vertrauen der Probanden, Forschungsgeldern, Zeit, und nicht zuletzt der Begeisterung junger Nachwuchswissenschaftler, denen diese Verschwendung auffällt. Je kleiner eine Studie ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, tatsächlich vorhandene unerwünschte Nebenwirkungen zu übersehen. Auch das ist nicht zum Nachteil der beschleunigt Forschenden, aber der Patienten. Um Studien möglichst schnell durchführen zu können, werden Patienten nicht an einem einzigen Ort rekrutiert, sondern in Multicenter-Studien gleichzeitig an mehreren Orten. Das kann erstaunliche Ausmaße annehmen. In einer Studie zur Wirksamkeit von Dabigatran wurden 18.113 Patienten mit Vorhofflimmern aus 952 »investigational sites« in 44 Ländern rekrutiert (Connolly et al., 2009). Das sind 19 Patienten pro Site. In einer anderen Studie wurden 7.038 Diabetes-Patienten aus 590 Sites in 42 Ländern rekrutiert (Zinman et al., 2014; Zinman et al., 2015). Das sind knapp 12 Patienten pro Site2. Diese schnelle Rekrutierungsstrategie hat eine große Heterogenität der Patientenpopulation zur Folge. Dies wiederum bewirkt, dass die tatsächliche Power solcher Studien kleiner ist als die theoretisch berechnete. Auch das kommt nicht unbedingt ungelegen, beispielsweise wenn man in einer Non-inferiority-Studie gar kein Interesse daran hat, einen Unterschied in der Wirksamkeit zweier Medikamente zu sehen. Es stellt sich auch die Frage, für welchen Durchschnittsweltbürger aus Dutzenden von Ländern das Ergebnis solch heterogener Studien zutrifft. Das Problem der Heterogenität betrifft auch systematische Reviews und Metaanalysen, in denen die Ergebnisse mehrerer Studien zusammengelegt werden.

2 Nebenbei bemerkt: Für eine Studie mit Patienten aus 1.081 Krankenhäusern in 15 Ländern erhielten Eric Topol und seine 975 Koautoren den Ig-Nobelpreis in Literatur des Jahres 1993. Nicht eine wissenschaftliche Leistung wurde damit gewürdigt, sondern die Leistung, so vielen Autoren die Literaturliste zu verlängern – immerhin mehr als 100 Autoren pro Seite der Publikation.

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Publication bias Publication bias bezeichnet unausgewogene Berichterstattung in der Wissenschaft (Dubben u. Beck-Bornholdt, 2004a). Sie führt zu einer Fehleinschätzung wissenschaftlicher Ergebnisse und im Allgemeinen zu einer Überschätzung von Therapieerfolgen. Ursachen für publication bias sind die Mentalität der Forscher, die Erwartungen der Gesellschaft sowie Konkurrenz- und Zeitdruck auf dem jeweiligen wissenschaftlichen Schlachtfeld. Positive Ergebnisse sind bei Herausgebern von Fachzeitschriften beliebter als negative. Sie werden von anderen Forschern auch lieber gelesen und zitiert. Publikationen mit negativen Ergebnissen erfordern vom Autor mehr Überzeugungsarbeit gegenüber Herausgebern und Reviewern und gelangen obendrein meist in Zeitschriften mit geringerem Impact-Faktor. Einige Forscher halten das für Zeitverschwendung. Der häufigste und wichtigste Grund, eine Studie nicht zu publizieren, ist Zeitmangel, stellten Scherer, Ugarte-Gil, Schmucker u. Meerpohl (2015) in einer systematischen Übersichtsarbeit fest. Sie fordern daher: »To allow more time for preparing articles for publication, authors and funding agencies should negotiate some protected time within the grant funding period« (S. 804). Für die Karriere ist es meist vorteilhafter, Negatives nicht zu publizieren oder es wenigstens in Positives umzuwandeln, indem man Hypothesen nachträglich abändert und Daten selektiert bzw. fälscht (Fanelli, 2009; Fanelli, 2012; Yong, 2013). Publication bias behindert somit wissenschaftlichen Fortschritt und verursacht Fehlbehandlungen von Patienten. Die beste Maßnahme gegen publication bias ist die lückenlose Registrierung aller Studien und die Verpflichtung zur Offenlegung aller Ergebnisse. Letzteres ist seit Jahrzehnten eine Forderung der Deklaration von Helsinki. Eine Arbeit von Stern und Simes (1997) illustriert den Sachverhalt und zeigt auch eine Methode, wie man publication bias überhaupt nachweisen und quantifizieren kann. Stern und Simes verfolgten das Schicksal klinischer Studien von dem Zeitpunkt an, an dem sie die Zustimmung einer Ethikkommission erhalten hatten (s. Abb. 1). Die Treppenkurven zeigen an, wie viel Prozent der genehmigten Studien im Laufe der Zeit immer noch nicht veröffent-

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licht waren. Die Hälfte der Studien mit einem statistisch signifikanten und damit nach üblicher Einschätzung positiven Ergebnis (p < 0,05) war nach vier bis fünf Jahren publiziert. Die Hälfte der negativen Studien war erst nach sieben bis acht Jahren erschienen. Zu dieser Zeitverschiebung tragen zwei Dinge bei: Zum einen sind kleine, schlechte Studien schneller durchführbar und neigen zu zufälligen großen, falsch positiven Effekten (Hopewell, Clarke, Stewart u. Tierney, 2007; Fanelli, Costas u. Ioannidis, 2017). Zum anderen werden diese »positiv« verlaufenen Studien mit besonderer Vorliebe von ihren Forschern aufgeschrieben und von Herausgebern angenommen (Dubben, 2004a). Des Weiteren werden sie mit Vorliebe von anderen Forschern gelesen und zitiert. Die Publikationen zu schnellen Studien haben im Mittel jüngere Zitate und tragen damit mehr zum Impact-Faktor bei als Publikationen über länger dauernde, sorgfältige Studien (Borgwardt, 2014). Das erklärt, weshalb die Herausgeber die schnellen positiven Studien so mögen. Die Forscher wiederum mögen die Zeitschriften mit den hohen Impact-Faktoren, weil deren Glanz auf sie abfällt und ihre Karriere beschleunigt. Die weniger aussagekräftigen Studien sind den aussagekräftigen daher zeitlich voraus; sie sind eher auf dem Markt. Die sorgfältigeren, damit zeitaufwendigeren und der Wahrheit näheren Studien, von denen ein größerer Anteil negativ ist, erscheinen erst später oder gar nicht. Nach zehn Jahren (s. Abb. 1) sind von den positiven Studien 15 % nicht veröffentlicht, von den negativen sind es fast 80 %. Der Leser dieser Zeitschriften erfährt im Laufe der Zeit eine Welle positiver Nachrichten zu einem Thema, gefolgt von einer Welle negativer Nachrichten. Die zu erwartende Ernüchterung tritt dann jedoch nicht ein oder ist zumindest nicht von Dauer, denn der Reigen beginnt alsbald von vorn. Es erscheinen andere, neue »bahnbrechende« Studien über völlig neue »bahnbrechende« Medikamente oder verbesserte Medikamente »der neuesten Generation«. Schnelle, positive, überraschende, sensationelle Arbeiten – Eigenschaften, die aus journalistischer Sicht reizvoll sind (Ransohoff u. Ransohoff, 2001) – tragen während ihrer ersten zwei Jahre zum Impact-Faktor der Zeitschrift bei. Der Impact-Faktor wird aber nicht nach unten korrigiert, wenn die viel zitierten Arbeiten später nicht replizierbar sind. Auch wenn in publizierten Artikeln Fehler nach-

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Abbildung 1: Anteil nicht publizierter Arbeiten im Lauf der Zeit nach Zustimmung der Ethikkommission (Daten aus Stern u. Simes, 1997)

gewiesen werden, werden deren obsolete Ergebnisse noch jahrelang zitiert (Ioannidis et al., 2014). Beobachtungsstudien und deren Ergebnisse werden in der medizinischen Literatur trotz widersprechender Evidenz aus randomisierten Studien weiterhin zitiert (Tatsioni, 2007). Der Impact-Faktor ist leicht zu manipulieren (Falagas, 2008). Ein Herausgeber, der darauf achtet, dass in allen von ihm angenommenen Artikeln die eigene(n) Zeitschrift(en) häufig zitiert wird bzw. werden, verbessert systematisch den Impact Faktor seiner Zeitschrift(en). Was daraus für die Autoren folgt, muss der Herausgeber den Autoren nicht explizit sagen. Das wissen die meisten von selbst (Falagas u. Alexiou, 2007).

Hamsterrad: Impact-Faktor, schnelle Studien und Publication bias  … jeder Forscher muss publizieren. Von innen und/oder außen getrieben, durch die Deklaration von Helsinki und die Vorgaben »Guter wissenschaftlicher Praxis« dazu verpflichtet. Gern in einer Fachzeitschrift mit hohem Impact-Faktor. Das ist gut für das Prestige des Forschers. Es macht auch mehr Freude, Positives zu berichten, zum Beispiel: »Medikament A hilft bei Problem XYZ« oder »Imp-

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fung verursacht Autismus«. Dann locken auch noch der Glanz des Entdeckers, sowie Urheber- und Patentrechte, Einladungen in Talkshows und Erwähnungen in der Presse. Negatives fällt eher unter den Tisch. Die Chancen, dass das Manuskript über negative Ergebnisse irgendwo angenommen wird, sind relativ gering. Es ist freudund ruhmlos, so etwas zu schreiben. Auch die Leser (Anwender, Forscher, Patienten) mögen lieber Positives: Neues Medikament gegen XYZ!3 Der Herausgeber wiederum muss seinen Lesern Positives bieten, um sie zu halten und um neue anzulocken. Sie finanzieren schließlich das Journal und den Verlag. Es geht um Geld. Dem Herausgeber sind daher positive Ergebnisse lieber, noch dazu von schnellen Studien, denn die haben jüngere Zitate. Außerdem werden positive Studien häufiger zitiert als negative. Das alles erhöht die (gefühlte) Wichtigkeit des Herausgebers und den Impact-Faktor seines Journals. Der wiederum lockt Forscher an, denn … (siehe oben). Aus diesem Gerangel muss eine Inflation des Impact-Faktors folgen. Und so ist es auch. Die Inflationsrate beträgt 2,6 % pro Jahr. Die Wachstumsrate der wissenschaftlichen Literatur insgesamt hat dabei nur geringen Einfluss (Althouse, West u. Bergstrom, 2009).

Forschungmüll Forschung und Wissenschaft stecken offenbar in einer Krise. Begriffe wie Forschungsmüll, scientific waste, replication crisis machen die Runde (Macleod et al., 2014; Chalmers u. Glasziou, 2014; Ioannidis et al., 2014; Al-Shahi Salman et al., 2014; Chan et al., 2014; Glasziou et al., 2014). Im Jahr 2017 widmete das Deutsche Netzwerk Evidenzbasierte Medizin dem Thema seine Jahrestagung (https://www.ebmnetzwerk.de/was-wir-tun/jahrestagungen/2017). Schlechte Forschung ist kein neues Phänomen und vielleicht so alt wie die Wissenschaft. Hier ein paar Aussagen aus wissenschaftlichen Journalen: 3 Das ist verständlich. Aber auch Negatives muss berichtet werden. Sonst würden die richtig negativen Studien immer nochmal durchgeführt werden, weil niemand von deren negativem Ausgang weiß. Und die publizierten, vornehmlich selektierten positiven Studien würden ein verzerrtes Bild der Realität abgeben.

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»95 % of articles in medical journals failed to reach minimum standards of quality and clinical relevance« (Godlee, 1998; Haynes, 1993). »Guidelines for critical appraisal […] screens out about 98 % or more of the medical research literature« (Haynes, 2002). »Avoid­able waste in the production and reporting of research evidence: 85 % of research investment lost« (Chalmers u. Glasziou, 2009). »Avoidable waste of research related to inadequate methods in clinical trials« (Yordanov, 2015). »Increasing value and reducing waste in biomedical research« (Moher et al., 2016). Ausgewiesene Wissenschaftler bezeichnen hier einen großen Teil der medizinischen Forschung als Forschungsmüll und liefern auch gute Begründungen für ihren Vorwurf. Die obige Liste ist unvollständig. Und auch vor 1993 gab es schlechte Forschung. In einer Übersichtsarbeit über andere Übersichtsarbeiten zeigten Freedman, Cockburn und Simcoe (2015), dass in der dort untersuchten präklinischen Forschung zwischen 51 % und 89 % der Studienergebnisse nicht reproduzierbar sind. Die Open Science Collaboration (2015) versuchte, hundert Psychologie-Studien zu reproduzieren und war nur in etwa einem Drittel der Studien erfolgreich. Ioannidis und Kollegen untersuchten 18 Artikel über Genexpressionsanalysen, die auf Microarrays basierten, und in Nature Genetics in den Jahren 2005–2006 publiziert worden waren. Zwei (11 %) konnten reproduziert werden, sechs (33 %) nur teilweise und zehn (56 %) gar nicht. Das ist natürlich nicht nur ein wissenschaftliches Problem, sondern auch ein ethisches und ein wirtschaftliches. Im Jahre 2009 publizierte The Lancet einen Viewpoint-Artikel von Iain Chalmers und Paul Glasziou mit dem Titel »Avoidable waste in the production and reporting of research evidence«, in dem dargelegt wird, dass 85 % der Forschungsausgaben verschwendet werden (Chalmers u. Glasziou, 2009). Im Jahr 2010 wurden weltweit 240 Milliarden4 US$ für Forschung in den Lebenswissenschaften (das meiste biomedizinisch) ausgegeben (Macleod et al., 2014; Røttingen et al., 4 Die europäische und die amerikanische »Billion« unterscheiden sich um den Faktor 1.000. 1 Billion in USA = 1 Milliarde in EU. Sicherer, verständlicher und beeindruckender ist es, die Zahl auszuschreiben.

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2013). Ausgeschrieben sind das US$ 240.000.000.000. Davon werden US$ 204.000.000.000 (= 85 %) verschwendet. In diesen Zahlen sind die Kosten für resultierende Unter- und Fehlbehandlungen sowie Fehlforschung, das heißt die Erforschung der durch Forschungsmüll eröffneten Sackgassen, und deren Folgekosten nicht enthalten. Wir sehen bestenfalls die Spitze des Eisberges der Verschwendung. Es werden massenhaft Ergebnisse produziert, die sich später als nicht haltbar erweisen (Ioannidis, 2005; Prasad et al., 2013). Die gute Nachricht daran ist, dass in einigen Fällen wenigstens versucht wurde, Ergebnisse zu replizieren. Die schlechten Nachrichten sind vielfältig: Viele nicht replizierbare Maßnahmen gehen in die medizinische Praxis ein. Und in ihrem Nutzen widerlegte Maßnahmen werden nicht umgehend aus der Praxis entfernt. Die Widerlegung eines Gesamtnutzens kann auch darauf beruhen, dass nicht die Wirkung fehlt, sondern die Nebenwirkungen den Nutzen überwiegen, weil sie häufiger oder schwerwiegender sind als ursprünglich anhand zu kleiner und zu schneller Studien angenommen. Häufig werden Nebenwirkungen nicht oder nur nachlässig und mit ungeeigneten Methoden untersucht. Bei der Berechnung der Studiengröße wird fast ausschließlich darauf abgezielt, dass die Power für den Nachweis der gewünschten Wirkung ausreicht, nicht aber unbedingt für die Nebenwirkungen. Behauptungen aus qualitativ schlechteren Studien, zum Beispiel Beobachtungsstudien oder Studien mit relevanten Fehlern, werden weiterhin zitiert und vertreten, auch wenn gut geplante randomisierte Studien den Behauptungen bereits widersprechen. Der Abriss von Luftschlössern ist meist schwieriger und teurer als deren Bau. Einmal in die Welt gesetzte »Erkenntnisse« sind selbst gegen gute Argumente und valide Daten sehr resistent (Yong, 2012; Tatsioni, ­Bonitsis u. Ioannidis, 2007). Aderlass, Eisen im Spinat, Abderhaldens Abwehrfermente, Krebsfrüherkennung, Knie-Arthroskopie, Masernimpfung und Autismus sind bekannte Beispiele. 2000 Jahre Aderlass – und keiner hat gemerkt, was für ein Unsinn das ist? George Washington wurde per Aderlass zu Tode therapiert.5 Die Publikation, in der der Zusammenhang zwischen Masernimpfung und Autismus 5 Dies ist auch ein historisches Beispiel für negative Folgen von Überversorgung. George Washington hatte drei Ärzte.

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erfunden wurde (Godlee, Smith u. Marcovitch, 2011), wurde immerhin schon nach zwölf Jahren zurückgezogen. Das Gerücht hält sich aber hartnäckig. Theorien, so der Physiker und Nobelpreisträger Max Planck, verschwinden nicht durch Widerlegung, sondern dadurch, dass ihre Vertreter nach und nach aussterben. Auf dem biomedizinischen Sektor werden Irrtümer manchmal erst nach langer Zeit offensichtlich, und sie werden dann auch nicht sofort korrigiert. Auch das Aussterben der Irrenden6 kann sich hinziehen, denn medizinische Irrtümer sind meist weniger zum Nachteil des Irrenden als zum Nachteil der Patienten. Das permanente Zitieren schlechter Publikationen muss nicht auf Unkenntnis beruhen. Es können auch Vorsatz und eine simple Propaganda-Strategie dahinterstecken, nämlich die ständige Wiederholung von Behauptungen. Auch die Aussagen valider Studien können so gezielt mit Zweifel übersät werden. »Unser Produkt ist der Zweifel«, soll ein Tabakmanager im Zusammenhang mit von der Tabakindustrie unterstützten Krebsstudien gesagt haben (Gøtzsche, 2015, S. 40). Der Zigarettenindustrie ist es mit dieser Strategie gelungen, einen Paradigmenwechsel zumindest hinauszuzögern.

Wenn es noch schneller gehen soll: Betrug in der Forschung Weiteres Indiz für die Existenz schlechter Forschung sind die Art und Häufigkeit »schlechter wissenschaftlicher Praxis«. Im Jahr 2014 wurden Manipulationen in Studien bekannt, die von der indischen Firma GVK Biosciences im Auftrag von Pharmafirmen durchgeführt wurden. In Deutschland wurde das Ruhen der Zulassung von 80 Arzneimittelzulassungen von 16 Pharma-Unternehmen angeordnet. EUweit überprüften Zulassungsbehörden 1.250 Zulassungen. Es ist aus vielerlei Gründen eine fragwürdige Praxis, klinische Studien in Schwellenländern durchzuführen. Man bekommt hier »geeignete Patienten« schneller und billiger zusammen als zum Beispiel in Deutschland. Die Qualität der Daten ist aber auch ohne di6 Ob jemand etwas irrtümlich oder vorsätzlich tut, weiß letztlich nur der »Irrende«.

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rekte Manipulationen zweifelhaft. Die Patienten befinden sich häufig in einem Abhängigkeitsverhältnis mit der forschenden Firma, denn außerhalb der Studie würden ihnen keine Medikamente zur Verfügung stehen. Oder sie sind finanziell abhängig, weil sie für die Teilnahme bezahlt werden. Dadurch besteht die Gefahr, dass die Teilnehmer unkritisch werden und, um auch bei der nächsten Studie wieder dabei sein zu dürfen, gern die Wünsche der Forscher vorwegnehmen, indem sie beim Berichten von Wirkung und Nebenwirkungen über- bzw. untertreiben. Als ein weiteres Argument für Forschung in Schwellenländern wird angeführt, dass die Studienergebnisse deutlich weniger durch Polypharmazie beeinträchtigt werden. Das mag richtig sein, liegt aber nicht unbedingt daran, dass die Menschen in Schwellenländern so gesund und vor Multimorbidität geschützt sind, sondern daran, dass deren Versorgung so schlecht ist. Damit stellt sich die Frage, auf wen die dort erzielten Ergebnisse übertragbar sind. Vielleicht gelten sie ja nur für schlecht versorgte Schwellenlandbewohner. In einem (schlechten) Wissenschaftsbetrieb werden auch Methoden angewandt, die nicht der Erkenntnis dienen, sondern in erster Linie dem Vorteil einzelner unredlicher Forscher. Mit der wissenschaftlichen Untersuchung dieser unlauteren Methoden zeigt sich eine Stärke guter Wissenschaft, denn sie beschäftigt sich kritisch nicht nur mit ihren Forschungsgegenständen, sondern auch mit sich selbst. Sich selbst zu hinterfragen und damit letztlich sich auch selbst regeln zu können, ist ein guter Weg dahin, dass Wissenschaft unabhängig bleibt und nicht eines Tages von anderen Institutionen geregelt werden muss. Martinson et al. (2005) haben 3.247 Wissenschaftler befragt, ob sie in den letzten drei Jahren an unredlichem wissenschaftlichem Verhalten beteiligt waren. 15 % gaben an, »ungeeignete« Datenpunkte nach »gut feeling that they were inaccurate« entfernt zu haben. 12 % gestanden, den Gebrauch fehlerhafter Daten durch andere oder fragwürdige Interpretation von Daten lieber zu übersehen. 10 % waren auf ungerechtfertigte Art Autoren von Publikationen geworden. 0,3 % gaben das Fälschen von Daten zu. Andere Autoren fragten Forscher, ob sie Kenntnis davon hätten, dass einer ihrer Kollegen Daten erfunden oder verändert hätten. Dies wurde im Mittel von 14 % der Befragten bejaht. Die Frage, ob

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die befragten Forscher selbst schon einmal Daten erfunden oder verändert haben, wurde nur von 2 % bejaht (Fanelli, 2009).

Fazit Es gibt zahlreiche Indizien für schlechte Forschung. Es gibt Belege für Betrug in der Wissenschaft. Das wissenschaftlich notwendige Replizieren von Studien ist nicht die Regel. Es ist bekannt, dass positive und negative Ergebnisse nicht ausgewogen kommuniziert werden. Schlechte Forschung beruht nicht unbedingt auf vorsätzlichem Betrug. Sie beruht auch auf schlechter Ausbildung der Wissenschaftler. Ein großes Schadenspotenzial besteht darin, dass Forscher Forschungsmethoden nicht verstehen und/oder falsch anwenden und/oder Ergebnisse falsch interpretieren. Betrug und Unverständnis können nicht eindeutig unterschieden werden. Seine wahre Motivation kennt letztlich nur der Urheber selbst.

Plädoyer für bedächtige Forschung Medizinische Forschung sucht nach Interventionen, mit denen sich Krankheiten vermeiden, lindern oder heilen lassen. Man möchte gezielt eingreifen können. »Was muss ich tun, damit dieses oder jenes geschehen wird?«, lautet die Frage. Gesucht sind Kausalzusammenhänge. Wenn es in einer Studie zwischen dem Ergebnis und der Intervention einen Kausalzusammenhang gibt, dann muss die Studie mitsamt Ergebnis beliebig oft wiederholbar sein.

Viele Wege zum Irrtum Wie bereits erwähnt, kann einzig aus fehlerfreien, randomisierten, kontrollierten Studien auf einen Kausalzusammenhang geschlossen werden. Andererseits ist nicht immer ein RCT möglich und nicht jeder RCT mit statistisch signifikantem Unterschied in den Ergebnissen beweist einen Kausalzusammenhang zwischen Intervention und Outcome. »Statistisch signifikant« besagt lediglich Folgendes: Wenn die verglichenen Interventionen eigentlich gleichermaßen wirken (die so genannte Nullhypothese), dann tritt der gefundene

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Unterschied im Ergebnis mit einer Wahrscheinlichkeit von weniger als < 5 % (das so genannte – und völlig willkürlich gesetzte – Signifikanzniveau) auf. Welche Information – und vor allem wie wenig Information – in der Bezeichnung »statistisch signifikant« steckt, bedarf einer detaillierten Betrachtung, die stattgefunden hat bzw. stattfindet (Beck-Bornholdt u. Dubben, 2003; Dubben u. BeckBornholdt, 2004b; Ioannidis, 2005; Dubben, 2016; Nuzzo, 2014), die aber hier nicht angestellt werden soll. Zwei Ergebnisse dieser Betrachtung aber sollen und müssen genannt werden: 1.) Weder der p-Wert noch das Signifikanzniveau sind die Wahrscheinlichkeit dafür, dass ein Ergebnis zufällig aufgetreten ist. 2.) Auch wenn ein Ergebnis tatsächlich nicht zufällig ist, sondern eine systematische Ursache hat, verrät uns die Bezeichnung »statistisch signifikant« nicht, welches die Ursache ist. Die Ursache ist nicht zwangsläufig das, was sich der Forscher erhofft hat, nämlich die hoffnungsvolle neue Intervention. Die Ursache kann ein völlig anderer, unerwarteter, aber vielleicht sehr interessanter Effekt sein. Oder ein unbemerkter Fehler im Studiendesign. Oder eine unbemerkte Verzerrung der Studiendaten hat das Ergebnis bewirkt. Laut Chavalarias et al. (2010) gibt es immerhin 235 (bisher bekannte) systematische Fehler und Verzerrungsmöglichkeiten in quantitativen Studien. Man sollte bereits bei der Planung einer Studie überlegen, für welche Fehler sie empfindlich ist und welche Gegenmaßnahmen sinnvoll sind. Auch nachträglich bei der Interpretation einer Studie – als Schreiber der Publikation oder als deren Leser – sollte überlegt werden, welche Fehler möglich waren, oder noch besser, ob man sie möglichst alle ausschließen kann.7

Ein Weg, sich seltener zu irren Ebenso sollte man sich Gedanken darüber machen, welche Argumente es gibt, dass die Intervention die Ursache des Ergebnisses 7 In dem Zusammenhang muss erwähnt werden, dass etwa 200 kognitive Verzerrungen bekannt sind, mit denen Homo sapiens ausgestattet ist (Ellis, 2018). Der Forschungsgegenstand ist also nicht das einzig komplizierte in der Forschung.

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ist. Mit anderen Worten, was spricht eigentlich dafür, eine Kausalbeziehung einzuschließen? Bei diesen Überlegungen ist eine Auflistung von Sir Austin Bradford-Hill (1965) sehr hilfreich. Bradford-Hill geht nicht in die  – letztlich endlosen  – Tiefen einer philosophischen Abhandlung über Kausalität, sondern er geht das Problem pragmatisch an: Wenn Ereignis B (Auftreten einer Krankheit oder Heilung von einer Krankheit) und Merkmal A (Umweltfaktor oder eine Intervention) miteinander assoziiert sind oder korrelieren – unter welchen Umständen ist es dann nicht unvernünftig, einen Kausalzusammenhang zu vermuten? Folgendes sollte bedacht werden: Wie groß ist der Effekt? Wurde das Ergebnis von anderen Forschergruppen, an anderen Orten und auch unter anderen Rahmenbedingungen repliziert? Gibt es eine Dosis-Effekt-Beziehung? Gibt es eine plausible, beispielsweise biologische Erklärung für den mutmaßlichen Kausalzusammenhang? Wenn ja, dann ist das sehr ermutigend. Wenn nein, dann sollte man das nicht überschätzen, denn Plausibilität hängt vom jeweiligen zeitgenössischen Wissen ab. Passen die Erkenntnisse aus Experimenten mit Molekülen, Zellen, Mäusen, Menschen widerspruchsfrei zusammen? Der mutmaßliche Kausalzusammenhang und Wirkmechanismus sollte nicht in krassem Widerspruch zu validen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen stehen. Verändert der Entzug der mutmaßlichen Ursache das Auftreten der Wirkung? Ist für einen ähnlichen, analogen Zusammenhang eine Ursache-WirkungBeziehung bekannt? Diese Aufzählung ist als Hilfe zum strukturierten Nachdenken über etwaige Kausalität gedacht. Sie ist nicht als Checkliste zu verstehen. Keine einzelne der aufgelisteten Fragen kann Kausalität mit Sicherheit belegen oder widerlegen.

Gesamtschau Wichtiger Bestandteil des Wissenschaftsbetriebes ist Kommunikation über Forschungsergebnisse und darüber, wie vorhandene und neue Erkenntnisse zusammenpassen. Dafür sind u. a. Publikationen und Kongresse gedacht. Das Zusammentragen von Daten und von Vorstellungen über Wirkmechanismen kann zwar auch nicht zu

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Gewissheit führen, trägt aber entscheidend dazu bei, dass sich die Forschergemeinde möglichst selten irrt. Wenn keine Korrelation besteht, gibt es wenig Grund, über einen Kausalzusammenhang nachzudenken. Fehlende Korrelation ist jedoch kein Beweis für fehlende Kausalität. Oder allgemeiner: Absence of evidence is not evidence of absence. Eine vorhandene Korrelation beweist ebenfalls keine Kausalität. Die Frage nach Kausalität lässt sich nicht mit Statistik allein beantworten. Auch kann nicht mit einer einzelnen Studie über Kausalität entschieden werden. Vielmehr ist eine Gesamtschau von bekannten naturwissenschaftlichen Zusammenhängen, Ergebnissen der Grundlagenforschung und der klinischen Forschung notwendig. Es liegt auf der Hand, dass das Sammeln und Bewerten dieser Evidenz mehr Zeit kostet als eine einzelne Studie. Kausalität ist nicht prinzipiell beweisbar. Es bleibt Ermessenssache, ob es genügend und ausreichend gewichtige Indizien gibt, um an einen Kausalzusammenhang zu glauben – zumindest solange, bis neue Erkenntnisse Zweifel aufwerfen. Eine Art von Gesamtschau der Evidenz bieten systematische Reviews und Metaanalysen, die ein wichtiges Werkzeug der evidenzbasierten Medizin sind. In Metaanalysen werden die Daten publizierter Studien zusammengefasst und gegebenenfalls gemeinsam ausgewertet. Die Aussagekraft dieser gemeinsamen Analyse ist dann höher als die der einzelnen Studien, und Effektgrößen können genauer angegeben werden. Mit Metaanalysen können auch Zeit und Ressourcen eingespart werden, insbesondere wenn mit einer Metaanalyse eine Fragestellung bereits zufriedenstellend geklärt werden kann und man auf weitere Studien verzichten kann. Natürlich kommen Metaanalysen später auf den Markt als die in ihr enthaltenen Studien, die ja vorher durchgeführt worden sein müssen. Forschungsqualität und die Validität von Ergebnissen kosten auch hier wieder Zeit. Die Deklaration von Helsinki fordert, dass ein Experiment am Menschen nur durchgeführt werden darf, wenn die Frage, die damit geklärt werden soll, nicht auf andere Art beantwortet werden kann und die Forschergruppe auf dem aktuellen Stand der Forschung ist. Das bedeutet implizit und wird im CONSORT-Statement dringend

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empfohlen (Moher et al., 2010), dass vor jeder klinischen Studie zunächst ein systematischer Review, möglichst mit Metaanalyse, durchgeführt werden muss, um zu prüfen, ob die Frage nicht mit bereits vorliegenden Daten ausreichend beantwortet ist. In Reviews und Metaanalysen wird nochmals die Qualität der Studien geprüft. Qualitativ nicht ausreichende Studien werden von der Analyse ausgeschlossen, um einer Verzerrung des Ergebnisses vorzubeugen. In Metaanalysen wird vorrangig der quantitativen Frage nachgegangen, wie stark die Korrelation zwischen Intervention und Behandlungsergebnis ist. Zumindest für Cochrane-Reviews werden die Autoren darüber hinaus aufgefordert darzulegen, wie die Intervention funktionieren könnte (»how the intervention might work«). Auch Metaanalysen sind leider nicht perfekt. Die Autoren eines systematischen Reviews können meist nur auf publizierte Arbeiten zurückgreifen. Der publication bias kann dann diese Gesamtschau übertrieben positiv ausfallen lassen. Ein weiteres Handicap von Metaanalysen kann die Heterogenität der untersuchten Datenkollektion sein. Darunter ist zu verstehen, dass zum Beispiel die durchgeführten Behandlungen nicht in allen eingeschlossenen Studien exakt die gleichen sind; die Patientenpopulationen unterscheiden sich; die Studien unterscheiden sich in Ort, Zeitraum, Umfeld etc. Die Aussagekraft der Metaanalyse wird dadurch reduziert. Auch die Übertragung der Ergebnisse kann schwierig sein. In den einzelnen Studien einer Metaanalyse der Cochrane Collaboration zum Mammakarzinom-Screening (Gøtzsche u. Jørgensen, 2013) wurde beispielsweise mit unterschiedlichen Methoden und mit unterschiedlichen Zeitabständen gescreent. Letztlich verrät die Metaanalyse nicht, wie man denn screenen sollte, wenn es bei ausreichender Evidenz ratsam wäre. Es ist ein gutes Zeichen, wenn eine gut durchgeführte Metaanalyse eine Korrelation zeigt. Worauf die Korrelation beruht, erklärt die Metaanalyse nicht. Auch hier sollte man über die Bradford-HillKriterien nachdenken. Wie jedes noch so nützliche Werkzeug können auch Metaanalysen missbräuchlich verwendet werden, zum Beispiel zur artifiziellen Erhöhung des Impact Faktors einer Fachzeitschrift oder zum Generieren von schnellen Publikationen nur

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um der Publikation willen (s. auch den Beitrag von Zimmermann in diesem Band).

Fazit Zur soliden Naturwissenschaft gehört nicht nur die quantitative Evaluation von Daten eines einzelnen Experiments, einschließlich schließender Statistik, sondern auch eine Gesamtschau der Indizien. Dieses Denken über und Verstehen von Zusammenhängen ist ein langwieriger Prozess, dessen Dauer weit über die Dauer einer einzelnen Studie hinausgeht. Metaanalysen sind ein solides Werkzeug der evidenzbasierten Medizin, aber auch sie können Kausalzusammenhänge nicht beweisen. Solide medizinische Forschung besteht nicht aus einzelnen »bahnbrechenden« Experimenten. Sie ist vielmehr das Sammeln und Analysieren von Beobachtungen über zahlreiche Experimente und Studien und somit über längere Zeiträume hinweg, in denen sich hin und wieder ein grundlegender Zusammenhang entdecken lässt, der dann das tatsächlich Bahnbrechende wäre.

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 Probleme in der medizinischen Versorgung

Martin Scherer

Medizinische Versorgung unter Zeitdruck

Vorbemerkung Die Zeit ist für unser Leben nicht nur dadurch von Bedeutung, dass die Dauer unserer Existenz begrenzt ist. Zeit ist das Medium, durch das wir die Veränderungsprozesse in unserem Leben wahrnehmen und einschätzen. Kurz nach Abschluss des Wachstums finden sich mehr oder weniger progrediente, sichtbare Zeichen der Alterung, die in unser Selbstbild eingehen. Vielen Menschen ist es viel Geld wert, so lange wie möglich aktiv zu sein und jung auszusehen. Zu den wahrnehmbaren Veränderungen gehören auch Schwankungen im Befinden. Viele Symptome sind erst durch ihre Ausprägungen im Verlauf einschätzbar und hinsichtlich ihres Krankheitswertes zu beurteilen. Ob eine Befindlichkeitsstörung nur eine vorübergehende, selbstlimitierende Erscheinung oder eine behandlungsbedürftige Erkrankung ist, wird oft erst im Laufe der Zeit ersichtlich. Aufgabe der Medizin ist es, die Veränderungsprozesse so zu beobachten, dass unnötige diagnostische und therapeutische Maßnahmen unterlassen werden, das Nötige jedoch ohne Zeitverzug getan wird. Die Allgemeinmedizin kennt das Konstrukt des »abwartenden Offenlassens«. Das bedeutet im Wesentlichen, dass sie zwischen gefährlich und ungefährlich, interventionsbedürftig und nicht interventionsbedürftig, diagnostisch abklärungsbedürftig bzw. nicht weiter abklärungsbedürftig unterscheidet. Nicht immer ist unmittelbar eine Diagnosestellung möglich. An ihre Stelle tritt dann die Arbeitshypothese. Sie muss der Ärztin oder dem Arzt die Frage beantworten: Habe ich Zeit oder nicht? Kann ich abwarten oder muss ich jetzt etwas tun? Handelt es sich um eine Störung, mit der der Körper selbst fertig wird, oder sind von meiner Seite aus dia­ gnostische oder therapeutische Maßnahmen erforderlich?

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Zeit für Arzt und Patient Dies alles erfolgt nach Möglichkeit auf dem Boden einer stabilen und vertrauensvollen Arzt-Patient-Beziehung und in einem Prozess der partizipativen Entscheidungsfindung. Dieser Prozess braucht allerdings Zeit. Natürlich gibt es Situationen, in denen es wirklich schnell gehen muss: etwa akute medizinische Notfälle, bei denen es auf jede Minute ankommt. Für das »normale«, also nicht notfallmäßige Arzt-Patienten-Gespräch scheint jedoch immer weniger Zeit zur Verfügung zu stehen. Versorgungsforscher beschäftigen sich unter anderem mit Kon­ sultationszeiten bzw. Konsultationslängen. Die Analyse, Messung, Interpretation und Bewertung von Konsultationszeiten sowie deren Auswirkungen auf die Zufriedenheit von Arzt und Patient haben eine lange Tradition. Erste Arbeiten entstehen in den 1960er Jahren (Mechanic, 1968). 23 Jahre später, stellte Andrew Wilson (1991) in einem Übersichtsartikel fest, dass im Vereinigten Königreich die Länge der Arzt-Patienten-Konsultationen von 1970 bis 1990 zwar zugenommen habe, im Vergleich zum internationalen Standard jedoch recht kurz sei. Die Konsultationslänge sei bestimmt durch beide Akteure, Arzt und Patient. Wilson weist darauf hin, dass längere Konsultationszeiten auch mit einer höheren Patientenzufriedenheit assoziiert seien. Andersson und Kollegen (Andersson, Ferry u. Mattsson, 1993) führten im Jahr 1993 eine Beobachtungsstudie durch, um die Faktoren zu analysieren, die die Länge der Konsultationen beeinflussen. In dieser Studie hatten die teilnehmenden Hausärzte selbst die Zeit zu messen. Im Anschluss an die Konsultationen wurden Arzt und Patient mit einem Fragebogen befragt. Die Autoren diskutierten unterschiedliche Methoden der Zeitmessung während der Konsultation, von der Tonbandaufnahme über die externe Beobachtung bis hin zur Zeitnahme durch den Doktor selbst. Die letztgenannte Methode wurde als ausreichend valide erachtet, um eine Kategorisierung der Konsultationen nach Länge vorzunehmen. Die Analyse dieser 463 Konsultationen zeigt, dass kurze Gespräche eher bei jungen männlichen Patienten mit körperlichen Problemen stattfanden. Längere Gespräche wurden mit älteren Patien-

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ten geführt, die sowohl psychische als auch körperliche Probleme hatten. 1998 fragten Forscher im Gesundheitszentrum von Denver, USA, nach dem Zusammenhang zwischen der Erwartung der Patienten an die benötigte Konsultationszeit, seiner geschätzten beanspruchten Konsultationszeit und seiner Zufriedenheit mit der Konsultation (Peltenburg, 2001). Die Patientenbefragung vor und nach der Konsultation brachte das Ergebnis, dass die Sorge um die eigene Gesundheit, die eigene Einschätzung einer ausgeprägten gesundheitlichen Beeinträchtigung, der Wunsch nach einer Überweisung und die Konsultation des eigenen Hausarztes mit dem Wunsch nach längeren Konsultationszeiten verbunden waren. Die Patienten waren signifikant weniger zufrieden, wenn ihre Schätzung der beanspruchten Zeit kürzer als ihre Schätzung der erwarteten Zeit war. Im Jahr 2008 publizierte die Arbeitsgruppe Stunder, Scherer und Himmel (2008) eine Studie, die untersuchte, wie gut hausärztliche Patienten den Zeitbedarf einer Konsultation einschätzen können. 95 Patienten einer hausärztlichen Praxis wurden vor dem Gespräch mit dem Arzt um die Einschätzung der voraussichtlichen Konsultationsdauer gebeten. Nach der Konsultation wurde die Patientenzufriedenheit durch einen standardisierten Fragebogen erhoben. Die Konsultationen dauerten im Durchschnitt 9,4 Minuten, bei Patienten mit psychosomatischen oder psychosozialen Problemen etwas länger. Bei etwa der Hälfte der befragten Patienten dauerte die Konsultation länger als von den Patienten zuvor geschätzt. Patienten mit psychosomatischen Erkrankungen unterschätzten signifikant häufiger die Konsultationsdauer. War die Konsultationszeit kürzer als von den Patienten erwartet, wirkte sich dies negativ auf die Patientenzufriedenheit aus. Dass die Einschätzung der Konsultationsdauer nicht nur von der tatsächlichen Konsultationszeit, sondern auch vom wahrgenommenen Gesprächsgehalt abhängt, legte John Cape bereits im Jahre 2002 in einer ähnlichen Zeitmessungsstudie nahe. Waren die Patienten mit dem Gespräch zufrieden, schätzten sie die Konsultationsdauer tendenziell etwas länger ein. In einem Kommentar zu Wilsons Studie setzten sich Benjamin Druss und David Mechanic (2003) mit der Frage auseinander, ob

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die Konsultationslänge als ein Qualitätsindikator in die Primärversorgung eingeführt werden sollte. Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass eine bestimmte Mindestlänge für alle Patientinnen und Patienten kein Indikator für eine qualitativ hochstehende Versorgung sein kann und die Frage nach der notwendigen Dauer einer Konsultation je nach Problemlage, Komorbidität und Komplexität individuell zu beantworten ist. Der Appell »I want more time with my doctor« (Ogden et al., 2004) ist nach der Forschungslage nicht zielführend. Es kommt nicht nur auf die Zeiteinheit, sondern auf die emotionalen Komponenten des Gesprächs und vor allem darauf an, dass das Beratungsergebnis mit dem eigentlichen Beratungsanlass übereinstimmt. In einer Arbeit von Stirling und Kollegen (Stirling, Wilson u. McConnachie, 2001) war ein hohes Maß an sozialer Deprivation mit kurzen Konsultationszeiten assoziiert. In derselben Studie wurde gezeigt, dass die Wahrscheinlichkeit, eine psychosoziale Belastung zu identifizieren, steigt, je länger eine Konsultation dauert. Spätere Studien haben gezeigt, dass Patientinnen und Patienten in sozial deprivierten Regionen andere kommunikative Bedürfnisse haben und eher zu einem paternalistischen Arztstil tendieren. Insofern muss auch hier die Frage offenbleiben, ob kurze Konsultationszeiten tatsächlich mit einer schlechteren Versorgung gleichzusetzen sind. Unstrittig ist, dass eine höhere Komplexität auch mehr Gesprächszeit erfordert. Während oben in erster Linie Beobachtungsstudien zitiert wurden, führten Mercer und Kollegen (2007) eine Interventionsstudie durch, in der die Konsultationszeiten in einer sozioökonomisch stark deprivierten Region erhöht wurden. In dieser Studie wurden in einer einzelnen Praxis in Glasgow Zeitabschnitte im Terminkalender freigehalten, um mehr Zeit für komplexe Konsultationen beim Management chronischer Krankheiten und bei der Gesundheitsförderung zu haben. Sowohl die Patientenzufriedenheit als auch die wahrgenommene Empathie des Arztes als auch die Förderung des Selbstmanagements konnten durch diese Zeitorganisation positiv beeinflusst werden.

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Folgen des Zeitdrucks Während der positive Effekt einer Konsultationszeitverlängerung in komplexen Situationen naheliegt, haben sich Autoren einer Studie aus dem Jahr 2016 mit der Hypothese befasst, dass Zeitdruck die Qualität des ärztlichen Handelns verschlechtere (AlQahtani, Rotgans, Ahmed, Alalwan u. Magzoub, 2016). Hierzu wurden 37 internistisch erfahrene Ärzte in eine Gruppe mit und eine Gruppe ohne Zeitdruck aufgeteilt. Zielvariablen waren diagnostische Genauigkeit sowie die tatsächlich aufgewandte Zeit während der Untersuchung. Innerhalb dieses experimentellen Designs wurden computerbasierte Fallvignetten verwendet, anhand derer die diagnostischen Strategien überprüft werden sollten. Die Ärzte in der Zeitdruckgruppe wurden darauf hingewiesen, dass wenig Zeit für die Diagnosestellung zur Verfügung stünde und dass nach jeder einzelnen Fallbeschreibung die noch verbleibende Zeit angegeben werden müsse. Entgegen der Hypothese der Autoren unterschieden sich die beiden Gruppen hinsichtlich der diagnostischen Genauigkeit nicht signifikant voneinander. Wichtiger Einflussfaktor für die diagnostische Genauigkeit und auch für die tatsächlich aufgewandte Zeit war allerdings die Komplexität des klinischen Falles. In einer etwas früheren Studie aus dem Jahr 2013, die ebenfalls einem experimentellen Design folgte, konnte bereits gezeigt werden, dass Zeitdruck zu einer verminderten Leitlinienadhärenz führt und damit auch zu einer geringeren empirischen Absicherung des ärztlichen Handelns (Tsiga, Panagopoulou, Sevdalis, Montgomery u. Benos, 2013). Die Autoren dieser Studie sahen sich gezwungen, vor dem Hintergrund abnehmender Konsultationszeiten in Europa auf die Gefährdung der Patientensicherheit durch ärztlichen Zeitdruck hinzuweisen. In einem aktuelleren randomisiert-kontrollierten Versuch aus dem Jahr 2018 konnte die Hypothese bestätigt werden, dass Zeitdruck die diagnostische Genauigkeit des Arztes nachteilig beeinflusst, indem er seine Stressreaktion erhöht und die Anzahl der plausiblen Hypothesen verringert (AlQahtani et al., 2018).

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Zeitdruck und gesellschaftliche Werte In einer ethnospezifischen Studie hat sich Irene Stepanikova (2012) mit der Frage befasst, inwiefern potenziell fremdenfeindliche Einstellungen durch Zeitdruck ausgelöst werden und somit medizinische Entscheidungen beeinflussen können. Mit anderen Worten: Wie fällt für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen unter Zeitdruck eine medizinische Entscheidung bei derselben klinischen Situation aus? Den Anlass für diesen Artikel gaben die ethnischen Ungleichheiten in den Vereinigten Staaten. Stepanikovas Arbeit liegt zwar bereits einige Jahre zurück, hat aber an Aktualität keinesfalls verloren, insbesondere vor dem Hintergrund des Wertegefüges der aktuellen US-Regierung. Die in ihrer Studie unter die Lupe genommenen Ethnien waren genau diejenigen, die in der Folgezeit immer wieder im Fadenkreuz von Donald Trumps Polarisierung standen: die so genannten Hispanics, Amerikaner schwarzafrikanischer Herkunft und asiatischen Ursprungs. In ihrer Studie wählte Stepanikova ein experimentelles Design, das mit der Einschätzung sozialer Erwünschtheit eine wissenschaftlich nur schwer vermeidbare Fehlerquelle meistern musste. Sie bediente sich hierfür der Methode der subliminalen Primings, das heißt der Darbietung unterschwelliger Reize bzw. Wahrnehmungsimpulse. Unterschwellig bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Schwelle des Bewusstseins nicht überschritten wird, weil der Reiz nur sehr kurz (80 Millisekunden) und in der Regel nur im peripheren Gesichtsfeld gezeigt wird. Ihre Probanden waren 82 Ärztinnen und Ärzte der American Medical Association, die entweder Allgemeinmediziner oder Allgemeininternisten waren. Sie wurden unter dem Vorwand, an einem Konzentrationstest teilzunehmen, zur Studie eingeladen. Dabei wurden sie zunächst mit einem Schriftzug unter der Wahrnehmungsgrenze konfrontiert, der entweder den Wortstamm »schwarz«, »afro-«, »afrikanisch« oder »hispanic«, »latina«, »spanisch«, »mexikanisch« oder »weiß«, »europäisch«, »anglo-« und »kaukasisch« beinhaltete. Dieser subliminale Impuls sollte der nachfolgenden Fallvignette eine nicht bewusst wahrgenommene ethnische Einfärbung geben. Die Fallvignette enthielt die Informationen Brustschmerz, Angaben zur Familienanamnese, Lebensstil und vorangegangene diagnostische Prozeduren. In der Fallvignette

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waren Aspekte eines hohen kardio-vaskulären Risikos kombiniert mit Hinweisen auf ein geringgradiges oder mittleres kardio-vaskuläres Risiko, das heißt, es wurde den Probandinnen und Probanden nicht einfach gemacht, auf ein akutes Koronarsyndrom zu schließen. So war zum Beispiel die Raucheranamnese nicht durchgängig konsistent, sondern die in der Fallbeschreibung genannte Person hatte schon vor einigen Jahren mit dem Rauchen aufgehört. Nach dem Lesen der Fallvignette wurden die teilnehmenden Ärztinnen und Ärzte nach dem weiteren diagnostischen Vorgehen befragt. Um künstlich Zeitdruck herzustellen, erhielt die Hälfte der Probandinnen und Probanden durch randomisierte Zuteilung eine zweite Fallvignette (zum Thema Rückenschmerz), die in derselben Zeit absolviert werden musste. Das erstaunliche Ergebnis dieser Studie bestand darin, dass die Chance, eine Überweisung zu erhalten, nach Priming auf schwarze Hautfarbe unter hohem Zeitdruck nur noch halb so groß war wie unter niedrigem Zeitdruck. Ebenso wurden nach Priming auf schwarze Hautfarbe unter Zeitdruck seltener schwerwiegende Diagnosen gestellt, wie zum Beispiel koronare Herzkrankheit oder Angina Pectoris. Ein ähnliches Muster zeigte sich bei hispanischem Priming. Im Großen und Ganzen waren die Ergebnisse der Studie konsistent mit der Eingangshypothese, dass implizite ethnische Stereotype unter Zeitdruck medizinische Entscheidungen beeinflussen können. Das Modell des impliziten Bias ist nicht neu, ebenso wenig wie die Vermutung, dass er zur Benachteiligung von Minoritäten in der Gesundheitsversorgung führen kann. Dabei ist wichtig zu betonen, dass impliziter Bias bzw. die Beeinflussung medizinischer Entscheidungen durch implizite Stereotype nicht gleichzusetzen ist mit politisch extremen Grundhaltungen. Dennoch wirft Stepanikovas Untersuchung die Frage auf, wie stabil gesellschaftlich anerkannte moralische Werte unter Zeitdruck sind.

Das »Hamsterrad« Trotz zahlreicher Bemühungen, die Gesundheitskompetenz und das Selbstmanagement von Patientinnen und Patienten zu verbessern, ist die Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen unvermindert hoch.

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Durchschnittlich hat jeder gesetzlich Versicherte in Deutschland fast 15 ambulante Arztkontakte pro Jahr (Fricke, 2017). Bereits im Jahr 2009 wies Ferdinand Gerlach, Vorsitzender des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, darauf hin, dass sich Ärzte und Patienten in Deutschland in einem »Hamsterrad« befinden (Korzilius, 2009). Ursache hierfür sei eine Fehlverteilung von Ärzten. Sie erfolge nicht nach Fachgruppen, sondern nach Regionen. Die Hamsterradthese stützt Gerlach unter anderem mit dem Befund, dass ärztliche Konsultationszeiten in Deutschland pro Patient um 30 Prozent kürzer als im europäischen Durchschnitt und damit die kürzesten in Europa seien. Im internationalen Vergleich liegt die durchschnittliche Kontaktzeit bei Hausärzten in Deutschland unter zehn Minuten, während sie in anderen OECD-Ländern (zum Beispiel in den USA oder Schweden) gemäß einer jüngsten Übersichtsarbeit durchschnittlich bis zu 30 Minuten beträgt. Dennoch haben deutsche Ärztinnen und Ärzte längere Arbeitszeiten (Koch, Miksch, Schürmann, Joos u. Sawicki, 2011). Ursächlich für die Beschleunigung des »Hamsterrads« ist nach Gerlach unter anderem das Honorierungssystem; denn die aktuellen Vergütungsmechanismen setzen voraus, dass eine Patientin oder ein Patient in der Praxis erscheint. Insbesondere in Ballungsgebieten mit einer hohen Konzentration von Ärzten, die alle ihre Praxen amortisieren müssen, kommt es Gerlach zufolge zu einer angebotsinduzierten Nachfrage. Wichtige Einflussfaktoren der Inanspruchnahme sind Einkommen, Bildungsstand, somatoforme Störungen, Angst, Depressionen und mitunter auch Einsamkeit (Vedsted u. Olesen, 2005; Dinkel, Schneider, Schmutzer, Brähler u. Häuser, 2016; Ellaway, Wood u. Macintyre, 1999; Bergh, Baigi u. Marklund, 2005; Morriss et al., 2012). Eine weitere wesentliche Ursache der häufigen Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen ist die Multimorbidität, das heißt das Vorliegen von mindestens drei chronischen Erkrankungen. Nach van den Bussche und Kollegen haben Patientinnen und Patienten mit Multimorbidität durchschnittlich 36 Arztkontakte pro Jahr, Patientinnen und Patienten mit weniger als drei chronischen Krankheiten im gleichen Zeitraum dagegen durchschnittlich nur 16 Arztkontakte (van den Bussche et al., 2011).

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Der »demografische Wandel« wird diese Tendenz noch verstärken. Wenngleich dieser Begriff im wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Diskurs der letzten Jahre überstrapaziert worden ist, ist das, was er ankündigt, nicht zu leugnen: nämlich eine steigende Lebenserwartung, eine erhöhte Inzidenz chronischer Erkrankungen, häufigere Multimorbidität und Polypharmazie. Gleichzeitig blicken wir sorgenvoll auf die Herausforderung, die primärärztliche Versorgung in der Zukunft sicherzustellen. In vielen Fächern, insbesondere in der Allgemeinmedizin, mangelt es an Nachwuchs. Nur jeder zweite Hausarzt, der in Rente geht, findet einen Nachfolger. Dabei benötigt das künftige System die Allgemeinmedizin stärker denn je. Der Anteil der Patienten mit komplexen gesundheitlichen Problemen nimmt zu. Die Komplexität der Probleme hat häufig zur Folge, dass sie fächerübergreifend sind, dass sie somatische Aspekte ebenso betreffen können wie psychische oder soziale Problemlagen und dass sie sich dem Angebot eines von Verantwortungsdiffusion und Spezialisierung geprägten Versorgungssystems entziehen. Diese Aufgabe wird nicht leichter, wenn soziale Faktoren von Krankheit zunehmen. Niedriger sozialer Status und das Auftreten chronischer Krankheiten sowie eine Verschlechterung der Prognosen sind eng miteinander verknüpft. Es sind besonders Patienten mit niedrigem sozialem Status, die unter Multimorbidität leiden (von dem Knesebeck et al., 2015).

Abklärungsnotstand Die Toleranz gegenüber Befindlichkeitsstörungen und Einschrän­ kungen des Wohlbefindens tendiert in der Bevölkerung deutlich nach unten, was auch hinsichtlich der Patientenerwartungen zu einem gestiegenen Abklärungsbedürfnis führt. Dies macht sich auch in der Frequentierung von Notaufnahmen bemerkbar. So steigen die Patientenzahlen in den Notaufnahmen in den deutschen Kliniken konstant. Bereits 2007 meldete das Universitätsklinikum HamburgEppendorf einen ungewohnt hohen Zuwachs an Patienten, die die medizinische Notaufnahme aufsuchen: Innerhalb eines Jahres war ihre Zahl um 25 Prozent von 18.000 auf 22.500 Patientinnen und

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Patienten gestiegen (Fengler, 2008). Zudem scheint sich die Entwicklung deutschlandweit zu verstetigen (aerzteblatt.de, 2017). So wurden 2013 im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf 70.000 Patienten in der Zentralen Notaufnahme behandelt, was einer Steigerung von 40 Prozent gegenüber dem Stand von 2009 entspricht (Tiedemann, 2014). In einem eigenen Projekt (Patientenströme in Notaufnahmen, »PiNo Nord«) untersuchten wir, wie sich die Population der in die Notfallambulanzen gelangten Patienten, die keiner unmittelbaren Behandlung bedürfen, hinsichtlich soziodemografischer Merkmale und des Morbiditätsprofils charakterisieren lässt, unter welchen Umständen die Notaufnahme aufgesucht wurde und wer jeweils die Entscheidung zur Inanspruchnahme der Notaufnahme getroffen hatte (Scherer, Lühmann, Kazek, Hansen u. Schäfer, 2017). Es handelte sich hierbei um eine querschnittliche Beobachtungsstudie mit Patientinnen und Patienten, die sich selbstständig und zu Fuß in die Notaufnahmen von drei Krankenhäusern in Hamburg und zwei Kliniken in Schleswig-Holstein begeben hatten. Die Erhebung erfolgte über einen Zeitraum von insgesamt 210 Tagen, wobei pro Klinik ein Äquivalent von zwei vollen Arbeitswochen abgebildet wurde und die Erhebungstage per Zufall auf die Kliniken verteilt wurden. Unter den Patienten, die mit ihren Beschwerden in die Notaufnahme gegangen waren, fand sich ein höherer Anteil an Personen mit gehobenem schulischem oder berufsbezogenem Bildungsabschluss als in der Allgemeinbevölkerung. Der ambulanten Bewältigung des Gesundheitsproblems stand aus Patientensicht in erster Linie die Dringlichkeit der Diagnose oder Behandlung entgegen, insbesondere waren die Patientinnen und Patienten oft wegen der Stärke der Beschwerden, wegen einer Zunahme der Beschwerden oder wegen befürchteter Ursachen oder Verläufe besorgt. Allerdings gaben sie im Schnitt einen mittleren (mit Tendenz zum guten) Gesundheitszustand an. Die Beschwerden bestanden bei etwa jedem zehnten Patienten seit weniger als einer Stunde und bei mehr als jedem fünften Patienten seit mehr als drei Tagen. Die gefühlte Dringlichkeit der Behandlung und die subjektive Besorgtheit wegen des Gesundheitsproblems bewegten sich im Schnitt im mittleren Bereich. Die Bekanntheit der ambulanten Notfallversorgung, also des Kassenärztlichen Notdienstes und der nächs-

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ten KV-Notfallpraxis, war eher gering. Diese Versorgungsangebote waren also jeweils mehr als der Hälfte der Patienten nicht bekannt. Der Rettungsdienst der Feuerwehr dagegen war fast allen Patienten geläufig.

Gesundheitsmärkte Es wäre zu einfach, die Ursachen für die Rastlosigkeit in der Gesundheitsversorgung allein bei den sie Aufsuchenden zu sehen. Die Entfesselung des ersten und zweiten Gesundheitsmarkts hat inzwischen eine atemberaubende Eigendynamik entwickelt, die weltweit zu unbestrittenen Leistungszahlen im Bereich der Endoprothetik, der Bildgebung und anderen medizinischen Bereichen geführt hat. Hierfür sind sicherlich auch systemische Fehlanreize ausschlaggebend. Was die Gesundheitsmärkte am Laufen hält, folgt zunehmend den Regeln von Angebot und Nachfrage und bei Weitem nicht nur dem objektiven Bedarf oder der medizinischen Notwendigkeit. Viele der in den Medien angebotenen Gesundheitsthemen sind sensationell aufgemachte Storys, die nichts anderes als eine Werbung für eine Therapie, eine unnötige Prozedur oder eine Erkrankung in den Mittelpunkt stellen, die eine potenzielle Bedrohung darstellt und anhand einer ans Herz greifenden Kasuistik ausgemalt wird. Salutogenese, das Vertrauen auf die Funktionalität des eigenen Körpers und die Übernahme gesundheitlicher Eigenverantwortung sind medial wenig attraktiv und bei Weitem (noch) kein Kernstück eines gesellschaftlichen Gesundheitskonsenses. Stattdessen wird der Verantwortungsbereich der Medizin immer weiter ausgeweitet und Sammelbecken für das, was Menschen suchen und befürchten. Nicht selten werden auch durch die Medien Ängste vor gesundheitlichen Beeinträchtigungen geschürt. Der erste Gesundheitsmarkt, das heißt im Wesentlichen der Zuständigkeitsbereich der gesetzlichen Krankenkassen sowie die so genannte »Schulmedizin«, ist den psychosozialen Bedürfnissen der Menschen zumindest zeitlich oft nicht mehr gewachsen, weil er zum Sinnbild einer gehetzten Medizin geworden ist. Gegen die Schulmedizin wird häufig die Alternativmedizin (zweiter Gesundheitsmarkt, Selbstzahlermedizin) positioniert, die wenigstens noch

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Zeit für die Menschen habe, die mit Zuwendung und Natur und nicht mit Chemie heile. Die stereotype Unterscheidung zwischen Schulmedizin und Alternativmedizin ist schon aufgrund der Begrifflichkeiten absurd und längst überholt. Sie hält sich jedoch wacker im öffentlichen Diskurs, weniger als die in diesem Buch vertretene These, dass es nur wirksam und unwirksam gibt. Bei dieser Unterscheidung hilft die evidenzbasierte Medizin. Allerdings hat die Alternativ-, Komplementär- und Paramedizin einen entscheidenden Vorteil gegenüber dem etablierten Gesundheitssystem: Sie schenkt (oder verkauft) ihrer Klientel Zeit. In einer Arbeit von Heiligers und Kollegen (Heiligers, de Groot, Koster u. van Dulmen, 2010) wurden Versorgungsabläufe in komplementär- und allgemeinmedizinischen Mainstreampraxen miteinander verglichen. Die komplementärmedizinischen Praxen waren entweder homöopathisch, traditionell chinesisch (Akupunktur) oder naturheilkundlich ausgerichtet. Die Ärztinnen und Ärzte mussten sechs Monate lang konsekutiv für jeden neuen Patienten individuelle Charakteristika, Diagnosen und Konsultationslänge dokumentieren. Diese Daten wurden mit ähnlichen Daten aus (klassischen) allgemeinmedizinischen Praxen verglichen. Die Autoren fanden heraus, dass in den komplementärmedizinischen Praxen insbesondere unspezifische Beschwerden sehr viel häufiger diagnostiziert und dokumentiert wurden. Zudem war die Konsultationslänge hier deutlich höher: Während sie in den allgemeinmedizinischen Praxen zwischen einer und 15 Minuten schwankte, lag sie bei den komplementärmedizinischen Praxen im Durchschnitt bei 30 Minuten. Es ist bereits viel darüber gemutmaßt worden, was Menschen in die Alternativmedizin treibt: die Abkehr von der Hightech-Medizin, die Abkehr von der so genannten Chemie oder die Hinwendung zu einer Zurück-zur-Natur-Einstellung. Vielleicht wurde bislang eine wesentliche Attraktion der Alternativmedizin unterschätzt: die Zeit. Beim Heilpraktiker und Homöopathen zum Beispiel haben Patientinnen und Patienten ausreichend Zeit, ihre Befindlichkeit zu erörtern. Sie werden gesehen, sie werden gehört, sie fühlen sich ernst genommen, und alles wird dokumentiert. Welche Implikationen dieses Zeitlassen und das Eingehen auf alle Selbstbeobachtungen für somatoforme Störungen und für Fixierungen haben kann, die

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möglicherweise durch die Arzt-Patient-Beziehung entstehen, bleibt an dieser Stelle offen. Doch stellt sich für den alternativmedizinisch orientierten Patienten und seinen Behandler diese Frage häufig nicht. Es handelt sich für beide um eine Win-win-Situation: Der Behandler verdient sein Brot und der Patient präsentiert seine Not. Er erhält die verdiente Aufmerksamkeit und die Zeit, die in der Regelversorgung häufig nicht zur Verfügung steht oder zur Verfügung gestellt wird.

Epilog Der Druck auf das sich durch die Digitalisierung verändernde Gesundheitssystem wird noch zunehmen. Umso mehr wird es auf Ärztinnen und Ärzte angewiesen sein, die »da« sind, die sich für komplexe Situationen Zeit nehmen wollen – und die das auch können, weil die Rahmenbedingungen es ihnen ermöglichen, ohne dass die dafür in Anspruch genommene Zeit zulasten ihrer eigenen Gesundheit und ihres Einkommens geht. Gerade das Navigieren zwischen Funktionsstörungen von Herz und Niere, endokrinen Funktionseinbußen, chronischen Schmerzen oder körperlicher Hinfälligkeit kann es schwer machen, auf das einzugehen, was Patienten möglicherweise wirklich umtreibt, zum Beispiel die Angst vor Autonomieverlust oder vor familiären Konflikten, die Sorge um das »Leben danach« oder schlichtweg finanzielle Nöte. In der Antwort des Gesundheitssystems darauf, verkörpert durch seine Ärztinnen und Ärzte, erweist sich der Grad seiner Übereinstimmung mit den Grundwerten unserer Gesellschaft.

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Beschleunigungsdruck in der medizinischen Versorgung und seine Auswirkungen auf Endometriose-Patientinnen Symptomatik Frauen, die an Endometriose erkrankt sind, tragen eine doppelte Last. Sie erleiden zum einen eine erhebliche Beeinträchtigung ihrer Lebensqualität durch die Erkrankung an sich, und zum anderen müssen sie die kränkenden Auswirkungen des Beschleunigungsdrucks in der medizinischen Versorgung in besonders ausgeprägter Form erleben. Endometriose ist eine chronische, feingeweblich gutartige Erkrankung, bei der sich Zellverbände, die der Gebärmutterschleimhaut ähnlich sind, außerhalb der Gebärmutterhöhle befinden (Neis, Neis u. Bühler, 2017, S. 273). Am häufigsten sind sie im kleinen Becken feststellbar, zum Beispiel an Eierstöcken, Eileitern, Bauchfell, Blase, Harnleitern und Darm, selten aber auch in weit von der Gebärmutter entfernten Organen (Keckstein, 2017, S. 123). Dort verursachen sie chronische Entzündungsprozesse, Gewebebeschädigungen bis hin zur Organzerstörung, Verwachsungen (Mechsner, 2016, S. 481) und eine verstärkte Schmerzempfindung (Götte u. Kiesel, 2016, S. 3). 50 Prozent der betroffenen Frauen haben Therapiebedarf (Mechsner, 2016, S. 478). Sie leiden unter schmerzhaften und starken Regelblutungen, chronischen Unterbauchschmerzen, Schmerzen beim Geschlechtsverkehr, Beschwerden beim Stuhlgang oder Wasserlassen, ungewünschter Kinderlosigkeit (Schäfer u. Kiesel, 2018, S. 50 f.) und vielfältigen, teils unspezifischen Symptomen, je nachdem, wo sich die Herde befinden (Imboden u. Mueller, 2018, S. 76). Dabei können kleine Endometrioseherde starke Schmerzen verursachen, während große Befunde gelegentlich unbemerkt bleiben. Die Schmerzen sind sehr unterschiedlich charakterisiert, je nachdem, ob sie von der Beckenboden-, Bauch- oder Skelettmuskulatur, dem Bauchfell, den inneren Organen oder Nerven ausgehen oder durch Verwachsungen bedingt sind. Bei allen zyklischen, also menstruationsabhängig auf-

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tretenden Beschwerden sollte an eine Endometriose als Ursache gedacht werden (Mechsner, 2016, S. 480). Zur konkreten Verbreitung der Erkrankung liegen bisher lediglich relativ grobe statistische Annäherungen vor. Die Bandbreite der meisten Angaben liegt zwischen 4 und 15 Prozent der Frauen im fruchtbaren Alter (Kruckenberg, Schippert u. Brandes, 2018, S. 214; Beyer, Bielfeld, Krüssel u. Fehm, 2017, S. 948; Imboden u. Mueller, 2018, S. 76). Die Größenordnung der in Deutschland betroffenen Frauen liegt im Bereich von zwei Millionen; jährlich kommt es zu 40.000 Neuerkrankungen (Mechsner, 2016, S. 478). Um die Diagnose zu sichern, muss ein operativer Eingriff erfolgen (Agic u. Küpker, 2017, S. 428). Dies geschieht durchschnittlich erst sechs bis acht Jahre nach Beginn der Beschwerden (Bühler u. Neis, 2019, S. 164). In 50 bis 80 Prozent der Fälle kommt es nach der operativen und hormonellen Behandlung zu einem erneuten Auftreten der Erkrankung (Mechsner, 2016, S. 478). Die Ursache der Erkrankung ist bis heute nicht ausreichend geklärt, es gibt lediglich hypothetische Erklärungsmodelle (Keckstein, 2017, S. 122 f.). Daher wurde auch noch keine ursächliche Behandlungsform gefunden (Kruckenberg et  al., 2018, S. 214). Hormonpräparate, Schmerzmedikamente, operative Eingriffe und Kinderwunschbehandlung kommen zum Einsatz (Arbeitsgruppe »Leitlinie für die Diagnostik und Therapie der Endometriose«, 2013). Es werden physikalische Therapien und Physiotherapie, insbesondere Osteopathie (Mechsner, 2016, S. 485), sowie Naturheilverfahren zum Beispiel aus dem Bereich der traditionellen chinesischen Medizin oder Homöopathie angewandt (Charité Endometriosezentrum, 2019). Eine individuelle Ernährungsumstellung kann sich positiv auswirken (von Hoerschelmann, 2017, S. 78 ff.). Eine vitaminreiche, mediterrane Ernährung beeinflusst die Lebensqualität günstig (Schweppe, 2018, S. 754). Trotz umfassender Therapieversuche wird häufig nur eine geringfügige oder kurzzeitige Schmerzlinderung erreicht. Unter Einnahme von Hormonen müssen Nebenwirkungen in Kauf genommen werden, zum Beispiel unregelmäßige Blutungen, Wassereinlagerungen, Gewichtszunahme, Stimmungsschwankungen, Depressionen, Wechseljahresbeschwerden und Libidoverlust (Schäfer u. Kiesel, 2018, S. 55). Bei 30 bis 50 Prozent der Patientinnen bleibt der Kinderwunsch unerfüllt (Kruckenberg et al., 2018, S. 214).

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Endometriose-Patientinnen bewerten ihre psychische Gesundheit im Durchschnitt schlechter als Krebs-Patientinnen (Brandes, 2007, S. 1229). Einschränkungen in der Sexualität, Partnerschaftskonflikte, sozialer Rückzug und Vereinsamung sind Folgen der Erkrankung. Bei chronischen Schmerzen treten vermehrt Angstzustände und Depressionen auf. Verminderte Leistungs- und häufige Arbeitsunfähigkeit bestimmen nicht selten den Alltag (Imboden u. Mueller, 2018, S. 77). Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum die Behandlung von Endometriose ausgesprochen zeitintensiv ist.

Mit vielen Fragen allein gelassen Seit 15  Jahren bin ich als Gynäkologin in einer Rehabilitationsklinik tätig, die 2013 für die Behandlung von EndometriosePatientinnen zertifiziert wurde. Täglich begleite ich Frauen, die mit einer bewundernswerten Courage ihr Leben mit dieser Erkrankung führen. Im März 2019 hatte ich die Gelegenheit, mit einer meiner Patientinnen ein offenes Interview zum Thema Zeit und Beschleunigung in der medizinischen Versorgung von Frauen, die an Endometriose erkrankt sind, zu führen. Frau X. hat als Gesundheitswissenschaftlerin eine besonders differenzierte Sichtweise. Daher war es möglich, die Thematik mit ihr umfassend zu reflektieren. Um auch das ärztliche Erleben der Problematik darzustellen, interviewte ich zwei Gynäkologinnen: Dr. P. arbeitet in eigener gynäkologischer Praxis, Dr. T. ist in einer Klinik operativ tätig. Außerdem sprach ich mit der Psychologin Frau Z., die in der Rehabilitation eine Gesprächsgruppe leitet, aber auch Einzelgespräche mit Endometriose-Patientinnen führt. Frau X. berichtet, »dass gerade nach der ersten OP so viele Fragen noch offen sind. Als Patientin weiß man noch gar nicht: Welche Bereiche tangiert das überhaupt, und was bedeutet Endometriose wirklich? So war es auch bei mir. Ich bin dann nach der OP zu meiner Gynäkologin hin. Dann war klar, okay, es wurde so und so viel gefunden. Dann probieren Sie eben die Pille, und damit entlasse ich Sie jetzt erstmal.« Für das Erstgespräch nach der OP standen ihr höchstens zehn Minuten mit der Gynäkologin zur Verfügung. Auf die Frage, wie

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viel Zeit sie gebraucht und was ihr gut getan hätte, antwortet sie: »Bestimmt eine halbe Stunde – um den OP-Bericht wirklich zu verstehen. Was wurde gemacht? Daran anknüpfend: Wie sieht es aus mit der Therapie, mit der Hormontherapie, welche Pillen kommen in Frage? Was kann ich darüber hinaus noch machen? Welche Schmerztherapie vielleicht? Physiotherapeutische Begleitung oder auch eine psychologische Möglichkeit in Anspruch nehmen? Also einfach etwas ganzheitlicher schauen. Die Krankheit an sich auch einfach erstmal verstehen. Dass es eine chronische Erkrankung ist. Was sind die Ursachen? Da hätte ich bestimmt mehr Zeit gebraucht.« Frau X. hatte das Glück, eine Gynäkologin im Bekanntenkreis anrufen zu können. »Mit der habe ich dann bestimmt eine Stunde telefoniert, und danach war ich riesig erleichtert, konnte ganz viele Fragen loswerden, und es war für mich auch schon vieles klar, und von der Stimmung her war es ganz anders. Erst durch das Telefonat mit der bekannten Ärztin habe ich erfahren, dass zum Beispiel meine Eileiter frei sind und es organisch erstmal gut aussieht. Diese Info hatte ich eben auch noch nicht. Das hat viel Erleichterung für den Moment geschaffen, dass es organisch erstmal soweit gut aussieht und da jetzt nichts großartig Schaden genommen hat.« Die Situation von Frau X. ist kein Einzelfall. Von einer weiteren Patientin erfuhr ich, dass sie direkt nach der Operation im Aufwachraum über die Diagnose aufgeklärt wurde. Vielleicht wurde noch genauer ausgeführt, was das für sie bedeuten könnte, aber unter den Nachwirkungen der Narkose werden Informationen nur sehr eingeschränkt aufgenommen, geschweige denn verarbeitet. Wegen des hohen Zeitdrucks findet in der Klinik auch zu einem späteren Zeitpunkt nicht in jedem Fall ein ausführlicheres Gespräch in ruhiger Atmosphäre statt. Eine andere Patientin erfuhr durch eine beiläufige Bemerkung des Arztes auf dem Flur, dass sie an Endometriose erkrankt war. Weitere Erklärungen blieben aus. Dr. T. erläutert, wie es zu diesem Missstand kommen kann: »Wenn eine Patientin nicht von demselben Arzt aufgenommen, untersucht, operiert und entlassen wird, kommt es zu einem enormen Qualitätsverlust – und das kommt aus Zeitgründen mehrfach täglich vor. Ich stehe noch im OP, und die Patientin, die ich vorher operiert habe, muss schon entlassen wer-

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den. Dann kann ich nicht mehr persönlich mit ihr über den OPVerlauf sprechen, und sie wird von einer Kollegin entlassen, die bei der Operation gar nicht dabei war und zudem vielleicht noch eine Berufsanfängerin ist. Dann geht die Patientin ohne wichtige Informationen nach Hause.« Insbesondere im Zusammenhang mit der Operation leiden die betroffenen Frauen oftmals unter Ängsten und Unsicherheiten. Dr. T. ist sich dessen bewusst und versucht trotz der beschriebenen organisatorischen Schwierigkeiten, einen guten Weg zu finden: »Ich nehme mir möglichst die Zeit, die Patientin direkt vor der Operation noch kurz zu sehen und auch hinterher im Aufwachraum zu ihr zu gehen. Auch wenn sie noch nicht so aufnahmefähig ist, kommt eine Grundstimmung rüber und sie fühlt sich sicher, wenn sie mich sieht und ich ihr sage, dass alles gut ist oder die OP sich gelohnt hat. Das ist ein wichtiger Geborgenheitsfaktor.« Endometriose-Patientinnen benötigen ärztliches Gehör, Verständnis und Antworten auf ihre zahlreichen Fragen. Im heutigen, von Beschleunigungsdruck beherrschten Gesundheitssystem gibt es dafür viel zu wenig Raum. Wenn den Ärztinnen und Ärzten dennoch ein zufriedenstellendes Gespräch gelingt, wird es nicht angemessen vergütet. Dazu heißt es in der Fachzeitschrift »Frauenarzt«: »Ein freiberuflich tätiger Arzt muss heute den Konflikt zwischen empathischer Patientenversorgung und angemessener Honorarforderung mehr denn je wirklich aushalten und zu bewältigen in der Lage sein« (Enderer-Steinfort, 2019, S. 296). Zudem wird die Schlange der wartenden Patientinnen unüberschaubar. Besonders engagierte Kolleginnen und Kollegen legen längere Gesprächstermine in die Stunden nach dem eigentlichen Feierabend – und enden nicht selten im Burn-out. Dr. P. hat in ihrer Praxis vergleichsweise große Zeitfenster für ihre Patientinnen vorgesehen, um möglichst stressfrei und gründlich arbeiten zu können und den Bedürfnissen ihrer Patientinnen gerecht zu werden. Dennoch steht sie unter Zeitdruck: »Wenn eine Endometriose-Patientin kommt, denke ich immer gleich: Hoffentlich wurde ein Doppeltermin für sie eingeplant. Und bei uns dauert jeder normale Termin schon 20 Minuten. Aber damit kommt man meistens nicht hin, es sei denn, es geht nur um eine Arbeitsunfähigkeits­

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bescheinigung. Manche Patientinnen rutschen völlig ungeplant mit akuten Beschwerden dazwischen. Bei geplanten Terminen sind es aber meistens komplexe Situationen. Lange Gespräche, abends so als Letztes, lassen sich kaum abrechnen. Mit einer Patientin, die nach ihrer OP Beschwerden hatte, habe ich abends eine halbe Stunde telefoniert, nachdem sie nochmal bei ihrem Operateur gewesen war.«

Ärztinnen und Ärzte im Beschleunigungskarussell Werfen wir einen Blick auf die heutige Realität des medizinischen Systems. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung ließ in Kooperation mit dem NAV-Virchowbund im Rahmen des vierten Ärztemonitors zwischen Januar und Mai 2018 telefonisch 11.000 niedergelassene Ärztinnen und Ärzte bzw. Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten zur Einschätzung ihrer beruflichen Tätigkeit befragen. Durchschnittlich beträgt die Wochenarbeitszeit niedergelassener Ärztinnen und Ärzte 51,1 Stunden (2012 waren es noch 56,4 Stunden). Von den Befragten stimmen der Aussage »Ich fühle mich ausgebrannt« 8 Prozent »voll und ganz«, 25 Prozent »eher« zu. Gefragt, ob ihnen für die Behandlung ihrer Patienten ausreichend Zeit zur Verfügung stehe, antworten 16 Prozent »ganz und gar nicht«, 41  Prozent »eher nicht« (Beerheide, 2018, S. B1611 f.). Um eine bessere Work-Life-Balance zu erreichen, arbeiten Ärztinnen und Ärzte zunehmend im Angestelltenverhältnis oder in Teilzeit. Die Gesamtheit der zur Verfügung stehenden Arztzeit verringert sich dadurch erheblich. Bis zum Jahr 2025 werden der Versorgung nach Berechnungen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung 2 243 865 898 Arztminuten verlorengehen, das entspricht umgerechnet 21.249 in Vollzeit tätigen Menschen (Beerheide, 2019, S. B159). Das ist ein gespenstisches Szenario, besonders angesichts des großen Bedarfs an zeitintensiver ärztlicher Begleitung. Durchschnittlich dauert in Deutschland ein Arztbesuch 7,6 Minuten (Spiegel online, 2017). Seit der Einführung von Fallpauschalen soll die Reduktion der durchschnittlichen Behandlungsdauer die betriebswirtschaftliche Effizienz erhöhen (Döring, Dudenhöffer u. Herdt, 2005, S. 19). Dr. T äußert sich dazu folgendermaßen: »Viele Operateure arbeiten ambulant und operieren häufiger nicht zu Ende, das heißt, sie

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entfernen nicht alle Endometrioseherde, obwohl die Operation eigentlich in einer Sitzung vollständig möglich gewesen wäre, aber mit erheblichem Zeitmehraufwand. Dann muss die Patientin zu einem anderen Zeitpunkt nochmal operiert werden. Bei einer OP, die länger dauert als geplant, ist ja auch die Nachüberwachung länger. Das spielt im ambulanten Setting eine große Rolle. Und die Fallzahlen müssen stimmen. Da muss man eine bestimmte Anzahl an Operationen pro Tag schaffen und kann sich nicht an einem Fall festbeißen.« Der Medizinethiker Giovanni Maio benennt das Problem: »Das Diktat der Ökonomie […] ist ein Diktat, das zur Minimierung der Kontaktzeit mit dem Patienten anhält, wodurch die Tätigkeiten der Heilberufe in ein strenges Zeitkorsett eingezwängt werden, denn in einem Betrieb kostet Zeit bekanntlich Geld, und wenn man einsparen muss, dann spart man zu allererst an der Zeit« (Maio, 2014, S. 38 f.). Es kommt zu verschiedenen Teufelskreisen: Der ökonomische Druck führt zu Stress bei den Ärztinnen und Ärzten und Pflegekräften, deren Krankenstand ansteigt. In dessen Folge sinkt die Versorgungsqualität und die Einrichtung verliert an Wettbewerbsfähigkeit. Dadurch nimmt der ökonomische Druck weiter zu (­Osterloh, 2018). Der Zeitdruck führt zur Beschleunigung von Abläufen. Dadurch treten mehr Fehler auf, deren Korrektur wieder Zeit erfordert, so dass der Zeitdruck weiter steigt (von Spee, 2018, S. 191 ff.). Doch wie ist es möglich, dass in anderen Ländern mehr Zeit zur Verfügung steht? In Schweden dauert ein Arztbesuch im Durchschnitt 22,5 Minuten (Spiegel online, 2017). Ein Grund dafür könnte sein, dass das Pflegepersonal in Schweden akademisch qualifiziert ist und mehr Kompetenzen hat, zum Beispiel unter gewissen Umständen sogar Rezepte ausstellen darf, so dass die Ärztinnen und Ärzte entlastet werden können (Gatermann, 2004). In der Klinik stehen die Ärztinnen und Ärzte ebenso wie in der Praxis unter enormem Zeitdruck. Dr. T. schildert eindrücklich, wie sie diese Situation als Operateurin erlebt: »Wenn der OP-Plan erstellt wird, muss ich angeben, wie lange die Operation dauern wird. Das ist bei Standard-Operationen kein Problem, aber Endometriose kann ein Fass ohne Boden sein. Dann gerät man schon ins Schwitzen, sieht hier und dort Verwachsungen. Man wird dann unruhig

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und denkt: Ich mach das noch, zack, zack. Und wenn die OP länger dauert als geplant, weil ich gründlich arbeite, darf ich zur Strafe die nächste Patientin nicht mehr einbestellen. Das macht Stress. Menschen, die mit dem Fall medizinisch nichts zu tun haben, zum Beispiel der OP-Koordinator, haben kein Verständnis und viel Macht. Man wird dann nicht respektvoll behandelt, sondern eher wie ein kleines Kind. Es kommt auch vor, dass mein Chef guckt, wie viele Minuten ich für die OP gebraucht habe, und vergleicht, wie schnell der andere Kollege war. Für ihn ist Arbeit = Leistung × Zeit. Und wenn die Zeit nicht stimmt, ist die Leistung schlecht.« Ärztinnen und Ärzte brauchen ausreichend Zeit, um ihren Patientinnen und Patienten geduldig und empathisch zuzuhören, ihre Sorgen, Zweifel und Ängste zu verstehen, ihnen soweit wie möglich Sicherheit und ein Gefühl der Geborgenheit zu geben und offene Fragen umfassend zu beantworten. »Dieses geduldige Handeln, jenseits jeglicher Hast, stellt eine heilsame Form des Handelns dar. […] Durch die Verinnerlichung der Geduld könnte somit einer Denkweise Raum gegeben werden, die die Medizin wieder in die Nähe einer zuwendungsorientierten sozialen Praxis rückt, und nichts braucht die moderne Medizin mehr als eine solche Rückbesinnung«, stellt Maio (2018, S. 46) eindringlich dar. Gerade im Zusammenhang mit der Endometriose, die den Betroffenen die gezielte Planung und selbstbestimmte Gestaltung ihres Alltags besonders erschwert oder sogar unmöglich macht, ist eine ganzheitliche ärztliche Betreuung bedeutsam. »Diese Ausrichtung geht über eine medikalisierende Betrachtungsweise hinaus und thematisiert das Selbst- und Weltverhältnis der kranken Person. So können auch bewältigungsorientierte Möglichkeitsräume im Umgang mit dem Unvorhersehbaren und Unkontrollierbaren eröffnet werden, die einer technisch-rationalen Zugangsweise verschlossen bleiben« (Sautermeister, 2018, S. 120). Da offensichtlich im Alltag die Zeit für eine solche erweiterte medizinische Versorgung fehlt, trennen sich viele Ärztinnen und Ärzte von ihrem hohen Anspruch und verdrängen ihn, um tägliche Frustrationen zu vermeiden. Die Patientin wird zu einem Objekt, einer Nummer, zu einer unter vielen, die abgearbeitet werden müssen.

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Zu wenig Zeit für Information, Austausch und Vertrauen Die Patientinnen benötigen nach der Erstdiagnose generelle Informationen über Endometriose, Therapiemöglichkeiten und Themen wie zum Beispiel Ernährung oder Pillenpräparate. Frau X. bemerkt diesbezüglich: »Dass ich als Betroffene weiß, wenn ich jetzt auf einmal total depressiv werde oder zehn Kilogramm zunehme, liegt es nicht an mir. Gerade über diese Nebenwirkungen wird meistens nicht geredet.« Wenn die Zeit für die Erklärung von Fakten nicht ausreicht, könnten zumindest eine Broschüre und Kontaktadressen mitgegeben, Vernetzungsmöglichkeiten aufgezeigt und speziell geschulte Arzthelferinnen intensiver in die Informationsvermittlung eingebunden werden. Dadurch würde der Patientin verdeutlicht, dass ihre komplexe Situation Anerkennung findet. Für Frau X. wäre schon hilfreich gewesen, von ihrem Arzt zu hören: »Ich sehe Sie und nehme den Bedarf wahr. Ich kann das vielleicht zeitlich gerade nicht so abdecken, aber mal gucken, wie wir sonst Wege finden. Ich nehme Sie ernst und sehe, dass es nicht einfach ist.« Ihr ist bewusst, dass ihre Fragen nicht in der regulären Sprechstunde bearbeitet werden können. Für sie wäre aber eine gute Lösung, in ein spezielles Endometriose-Zentrum überwiesen zu werden. Dr. P. schildert jedoch ein Dilemma. Als niedergelassene Gynäkologin gerät sie leicht zwischen die Fronten, wenn ihre Patientinnen an anderer Stelle Rat gesucht haben. Dann stehen zahlreiche, von kompetenten, teilweise auf Endometriose spezialisierten Kolleginnen oder Kollegen empfohlene Therapiestrategien im Raum. Dr. P. muss daraufhin ihre Patientinnen durch ein Spannungsfeld teils konträrer Aussagen führen und Orientierung bieten – eine sehr zeitaufwendige Aufgabe. Sie fühlt sich in dieser Situation gelegentlich auch fachlich überfordert: »Manchmal wurden in einem Endometriose-Zentrum Empfehlungen ausgesprochen, zum Beispiel, dass die Gebärmutter entfernt werden soll. Vielleicht möchte die Patientin das aber gar nicht. Dann soll ich zuhören und gute Tipps geben. Ich möchte dann gar nicht allein so viel Verantwortung haben. Manchmal fühle ich mich nicht

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so kompetent, wenn die Patientin schon in Fachzentren gewesen ist oder sich auf Foren ausgetauscht hat. So viele EndometriosePatientinnen habe ich auch gar nicht in meiner Praxis. Manche Patientinnen pendeln zwischen nichtgynäkologischen Chirurgen und Gynäkologen, das ist dann auch schwierig. Die einen sagen, es sei doch alles gut, die anderen raten zu einer erneuten OP. Ich versuche dann immer, soweit es möglich ist, die nächste OP hinauszuzögern oder zu verhindern, es sei denn, es gibt wirklich eine klare medizinische Indikation. Wenn schon Voroperationen in Kliniken erfolgt sind, die nicht auf Endometriose spezialisiert sind, empfehle ich einen Wechsel in ein Endometriose-Zentrum. Manche Patientinnen reisen aber nicht dorthin. Auch dort gibt es übrigens lange Wartezeiten.« Abgesehen von der Vermittlung von Fakten und Behandlungsstrategien geht es im ärztlichen Gespräch auch um die Klärung sehr individueller, intimer Fragen. Dafür ist ein weiterführendes Gespräch notwendig, das eine vertrauensvolle Arzt-Patient-Beziehung voraussetzt. Eine Vertrauensbasis kann sich aber im Rahmen der üblichen gynäkologischen Vorsorgeuntersuchungen nur in den seltensten Fällen entwickeln. Wie soll die Patientin nun ihre tiefer­gehenden Fragen äußern? Die Dimensionen, die die Endometriose im Leben der Patientin angenommen hat, sind den Ärztinnen und Ärzten entweder zum Teil nicht bewusst, oder der Zeitrahmen lässt es nicht zu, sie genauer zu eruieren. Ärztlicherseits besteht eine Hemmschwelle, detailliert nachzufragen, wenn absehbar ist, dass sich große schmerzund leidvolle Welten eröffnen. Aber erst, wenn die Betroffene ihre ganz eigene Geschichte erzählen kann, fühlt sie sich wirklich verstanden. Dann kann Heilung beginnen. Frau X. schildert, dass der Zeitdruck spürbar sei, und warum sie sich dann dem Arzt nicht öffnen und anvertrauen könne: »Weil dann auch die Angst da ist oder viele Fragen nicht gestellt werden, wenn ich als Patientin das Gefühl habe, nee, das ist eher so, okay, keine Zeit und Stress und – nee, doch nicht. Dann schlucke ich natürlich vieles runter und sage mir selbst, okay, dann ziehen wir diese Mauer mal hier hoch und dann frage ich das auch gar nicht, sondern nehme das für mich mit und gucke, wie ich meine Fragen anderweitig beantwortet bekomme. Dadurch entsteht einfach Stress. Es entstehen neue Schmerzen, also die Spirale läuft ja weiter, da man

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auf einmal so ein Problem hat, dass man ganz viel mitnimmt, ganz viele ungeklärte Fragen da sind, ganz verunsichert, Angst … Ich muss mich erstmal orientieren und gucken, was mache ich jetzt mit meinen Fragen, die noch da sind, wo bekomme ich professionelle Antworten her? Das ist ja schon eine große Herausforderung. Von Seiten der Ärzte ist die Zeit ein ganz großer Faktor, gerade bei Endometriose. Das ist in so einem niedergelassenen Ärzterahmen ganz, ganz schwierig, das kann ich absolut nachvollziehen.« Es wird deutlich, dass der Beschleunigungsdruck in der medizinischen Versorgung ein fehlendes Ernst- und Wahrnehmen der Patientin und eine Vernachlässigung ihrer Informationsbedürfnisse zur Folge hat. Durch diese Kränkung werden Kommunikationsbarrieren aufgebaut, Ängste erzeugt und Schmerzen verstärkt. Ein gutes Arztgespräch hingegen kann neue Wege eröffnen. Frau X. meint dazu: »Wenn man als Betroffene selbst nicht noch das Gefühl hat, ich muss irgendwie kämpfen oder Arbeit reinstecken, wie ich jetzt an meine Infos komme – sondern ich weiß, mein Arzt, meine Ärztin sieht mich und gibt mir die und die Möglichkeiten, oder ich kann auch Fragen stellen. Oder wenn mich was bedrückt, kann ich da nochmal nachhaken und werde dann nicht schief angeguckt oder so. Das ist es manchmal, ja, diese Gefühlsebene, oder Empathie oder wie auch immer man das beschreiben soll, das ist das Entscheidende – und das macht natürlich ganz viel mit einem selbst. Ich kann mich dann wirklich öffnen, ich kann dann auch selbst nochmal ganz andere Fragen stellen.« Dr. P. nimmt ihre Patientinnen in ihrem Kontext wahr und hat als niedergelassene Ärztin den Anspruch, sie langfristig und ganzheitlich durch verschiedene Lebensabschnitte zu begleiten. Eine besondere Herausforderung besteht dabei darin, dass die Endometriose situationsabhängig immer wieder Umstellungen und Anpassungen mühsam erarbeiteter individueller Therapiestrategien erfordert: »Eine meiner Patientinnen studiert gerade und kommt jetzt endlich mit der hormonellen Therapie ganz gut zurecht. Aber das wird sie nicht ewig so weitermachen. Irgendwann geht es auf die Familienplanung zu, und dann wird wieder alles anders.« Für die Patientin ist es wichtig, eine Anlaufstelle zu haben. Sie muss sie gar nicht unbedingt in Anspruch nehmen, aber das Ge-

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fühl, dass es möglich wäre, ist schon hilfreich. Maio betont die Bedeutung »einer neuen Aufwertung des Zwischenmenschlichen, der Begegnung zwischen Arzt und Patient, einer Aufwertung der spontanen Regungen wie Mitgefühl und persönlicher Anteilnahme. […] Ohne diese Empathie […] wird der Patient in seiner Verzweiflung alleingelassen, und da wird das beste Medikament schlichtweg nichts nützen« (Maio, 2014, S. 154 f.). Dr. T. schildert eine Situation, die sie kürzlich in der Kliniksprechstunde erlebt hat: »In der Sprechstunde besteht auch ein hoher Zeitdruck. Neulich kam eine Endometriose-Patientin mit einem Überweisungsschein von ihrer niedergelassenen Gynäkologin, in dem stand: ›Patientin erbittet Beratungsgespräch‹. Offensichtlich hatte sich die Patientin von ihrer Gynäkologin nicht verstanden gefühlt, oder die Chemie stimmte einfach nicht. Das Beratungsgespräch hat dann über eine Stunde gedauert. Die Patientin hatte sehr viele Fragen. Danach hat sie gesagt: ›Jetzt fühle ich mich endlich so richtig aufgeklärt.‹ Ich habe eine Zeichnung von dem Untersuchungsbefund gemacht und dem Kollegen gegeben, der die Patientin operieren wird, da ich selbst zum durch die Patientin gewünschten OP-Zeitpunkt nicht in der Klinik bin. Ich habe ihm alles ausführlich erklärt. Er ist ein sehr guter Operateur, aber er steht so unter Zeitdruck, dass er nur mit einem halben Ohr zugehört hat. Auch an dieser Stelle kommt es zu einem großen Informationsverlust. Und darunter leidet natürlich die Qualität der Behandlung.«

Zeitoasen Von meinen Patientinnen in der Rehabilitation höre ich gelegentlich: »Sie sind die Erste, die das fragt«, oder »Sie sind die Erste, die sich das anhört und nicht vor meinem dicken Ordner wegrennt.« Wäre ich in anderen Zusammenhängen ärztlich tätig, dann könnte ich die Gespräche höchstwahrscheinlich nicht in dieser Intensität führen. In der Rehabilitation gibt es sie noch – die Zeitoasen. Und bei den Patientinnen besteht nach der langen Krankheitsphase ein erhebliches Nachholbedürfnis. Die Psychologin Frau Z. beschreibt in diesem Zusammenhang, »dass hier mal eine andere Erfahrung gemacht wird. Hier wird sich ja mal Zeit genommen, die Ärztin hört

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sich die Beschwerden an und geht darauf ein. Das ist eine unglaublich heilsame Erfahrung, die natürlich auch Zeit erfordert. Das ist elementar wichtig für Patientinnen mit negativen Vorerfahrungen, die sich oft von Ärzten abgewatscht, nicht ernst genommen, nicht verstanden fühlen und das hier ganz anders erleben und dann durchaus mit einem anderen Fokus nochmal Richtung Arztkontakt oder auf Suche nach neuen Ärzten gehen. Sie merken, dass es auch anders sein kann, und das fühlt sich gut an.« Häufig kommen aufgrund des Zeitmangels nicht nur die Patientinnen selbst, sondern auch ihre Partner zu kurz, finden kein Gehör und verstehen nicht, worum es geht, obwohl sie direkt involviert sind. Fehlinterpretationen, Missverständnisse, Unmut und Entfremdung sind die Folge und belasten die Beziehung. Sinnvoll wäre, die Partner in die ärztliche Beratung einzubeziehen. Frau X. betont dazu: »Ja, aber dafür braucht man Zeit! Gerade von einer Bekannten weiß ich das noch, die hat auch gerade überlegt zum Thema Geschlechtsverkehr, ob sie den Partner mitnimmt zum Gynäkologen oder nicht – und hat es dann doch allein gemacht. Und der konnte ihr dann auch nicht wirklich weiterhelfen, also war auch überfordert damit. Aber eigentlich ist das doch generell wichtig, und gerade wenn es um das Thema Geschlechtsverkehr oder Kinderwunsch geht, ist die Einbeziehung des Partners ja ganz, ganz wichtig. Das kann auch für die Paarbeziehung an sich wichtig sein, weil eh die Gefahr besteht, dass man zu viel Distanz reinkriegt, auch bei dieser Erkrankung. Um so die Nähe zueinander zu haben und dass der Partner einfach das Verständnis dafür entwickelt. Für viele Partner ist das eine Überforderung, weil das Verständnis einfach nicht da ist, natürlich kann es ja auch nicht da sein. Das wirklich nachzuvollziehen geht einfach nicht. Und da hängen so viele Themen noch mit dran: Wie viel Raum gebe ich der Erkrankung? Was kann mein Partner für mich tun, wenn es mir nicht gut geht? Wie bespreche ich das?« Dr. P. macht in ihrem Praxisalltag bisher folgende Erfahrung: »Auf die Partnerproblematik kann ich kaum eingehen, da bräuchte man viel mehr Zeit. Eigentlich müsste man das Paar ja psychotherapeutisch begleiten. Paartherapeuten gibt es hier im näheren Umfeld nicht, und es ist wegen der langen Wartezeiten sehr schwierig,

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einen Psychotherapeuten zu finden. Für Einrichtungen, die Kriseninterventionen für Paare anbieten, ist das oft eine Überforderung, da dem Konflikt ja meistens Sexualstörungen zugrunde liegen. Bisher hat keine meiner Endometriose-Patientinnen ihren Partner mitgebracht, obwohl ich es schon mehrfach angeboten habe.« Zur Spezialsprechstunde im Endometriose-Zentrum hat Frau X. ihren Partner mitgenommen und dort eine halbe Stunde – inklusive Untersuchung – Zeit gehabt, um alle Fragen zu stellen. Objektiv betrachtet ist eine halbe Stunde nicht viel Zeit für zahlreiche elementare Themen. Dennoch war es für Frau X. ein sehr guter Arztbesuch: »Dr. Y. hat es wirklich komprimiert auf den Punkt gebracht und mir die wichtigsten Infos verständlich übermittelt. ›Ich kann nachvollziehen, dass Sie Schmerzen haben, und es ist nicht normal, dass Sie Schmerzen haben.‹ Allein durch solche Aussagen habe ich das Gefühl bekommen, ich werde hier wahrgenommen und gesehen. Und da braucht es nicht viel, es sind manchmal kleine Sätze, einfache Worte. Und das macht etwas anderes mit einem. Ich bin mit einem ganz anderen Gefühl rausgegangen, habe das alles verstanden, was er mir erzählt hat. So gesehen ist eine halbe Stunde auf jeden Fall nicht exorbitant viel.« Aber in dieser kurzen Zeit ist viel passiert: Die richtige Begegnung zum richtigen Zeitpunkt und im richtigen Zeitraum. Das ist gut investierte, kostbare Zeit. Wenn zu Beginn der Behandlung ein klärendes, weitreichendes, tiefgehendes Gespräch ohne Zeitdruck stattgefunden hat, kann später wiederum viel Zeit eingespart werden. Durch Ängste, Unklarheiten, Zweifel und Unsicherheiten, die nicht ausgesprochen werden konnten, können sich negative Glaubenssätze bilden, oder es setzen sich unbemerkt erschreckende Bilder fest. Diese unbewussten, hoch wirksamen Prozesse, die schmerzverstärkend wirksam werden, können in einem gut geführten Arztgespräch rechtzeitig erkannt und aufgelöst werden. Frau X. lacht: »Dann hat man so einen Aha-Effekt!« Und dann kann sich die ganze Muskulatur entspannen und die Situation kann anders betrachtet werden. Rational und nüchtern gesehen, lohnt es sich also, in das Erstgespräch einmal richtig Zeit zu investieren, um später Zeit einzusparen. Frau X. meint dazu: »Wenn man sich wirklich einmal die

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Zeit nimmt und sagt, wir machen jetzt ein halbstündiges Gespräch, dann hat man aber dafür in Zukunft auch wirklich viel mehr Ruhe. Da kann man dann viele Unsicherheiten abbauen und spart dadurch Zeit. Ich kann mir vorstellen, dass es wirklich nur ein einmaliger Aufwand ist. Wenn ich einmal so ein Gespräch gehabt hätte, auch am Anfang, dann hätte ich gedacht, jetzt weiß ich so grob ungefähr Bescheid und kann mich neu sortieren.«

Fluchtpunkt Internet Vor dem Hintergrund der stetigen Beschleunigung des Gesundheitssystems gewinnt das Internet an Bedeutung (Enderer-Steinfort, 2019, S. 294). Frau X. schildert: »Durch Internetrecherchen, Austausch in Foren oder über soziale Netzwerke habe ich geschaut, wo ich Infos herbekommen kann. Ich habe jetzt noch mal ein bisschen in den Gruppenverlauf reingeguckt und da waren wirklich mehrere, die da ihre ganzen OP-Berichte reinstellen und fragen, was bedeutet das und das, und was bedeutet das für mich, was mache ich damit.« Die Antworten kommen meistens von anderen Mitbetroffenen, die Laien sind. Das birgt die Gefahr, dass Fehlinformationen kursieren, sich zweifelhafte Thesen oder Behauptungen verbreiten, die zu konkreten Gesundheitsgefährdungen führen können. Viele Endometriose-Patientinnen sind relativ gut aufgeklärt und haben ein großes, aber meist natürlich kein medizinisch ausreichend gesichertes Wissen. Ebenso wie Zuversicht, Hoffnung und Stärke können sich in den Foren auch Verzweiflung und Unwissen potenzieren. Wie Frau X. erläutert: »In dieser einen Selbsthilfe-Gruppe sind 6.000 Frauen drin – nur für Deutschland. Die heißt einfach ›Endometriose‹, auf Facebook. Ich weiß nicht, wie viele weitere Gruppen es noch gibt. Es ist ein ganz schön großes Gefüge oder Netzwerk, das sich da so gebildet hat. Dann gibt es auch noch Gruppen, die sich mit dem Thema Kinderwunsch beschäftigen oder mit Ernährung. Das spaltet sich dann irgendwie auch noch mal. Da werden durchaus ganz wertvolle Infos weitergegeben. Aber bei manchen Fragen denke ich, dass das hier nicht reingehört. Da merkt man schon die Verzweiflung: ›Ich weiß gar nicht, was ich jetzt tun soll!‹ oder ›Dann schreib ich mal, vielleicht kann mir da jetzt irgendjemand helfen‹.«

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Wo die in Zeitnot gefangenen Ärztinnen und Ärzte keinen Beistand leisten, versuchen die Patientinnen, sich selbst zu helfen. Je weniger Arztkontakt möglich ist, desto mehr verschiebt sich die Suche nach Antworten, Begleitung und Trost auf virtuelle Ebenen. Aber wohin mit allen Fragen, für die im Internet kein angemessener Ort zu finden ist? Wo »Dr. Google« keine Antwort gibt? Hier liegt der Sinn der ärztlichen Betreuung.

Möglichkeitszeiträume in der Rehabilitation Vielen Ärztinnen und Ärzten und Endometriose-Patientinnen ist nicht klar, dass die Rehabilitation ein Potenzial ist, das genutzt werden kann – zur Entlastung aller. In Deutschland gibt es inzwischen fünf für die Behandlung von Endometriose-Patientinnen zertifizierte Reha-Kliniken, die zunehmend in Anspruch genommen werden. Sie bieten einen Zeitrahmen, in dem viel Inhaltliches nachgeholt werden kann, was in Klinik und Praxis nicht möglich war. Dr. P. schildert ihre Gefühle im Zusammenhang mit der Begleitung von Endometriose-Patientinnen: »Es ist manchmal frustrierend, man hat das Gefühl, trotz vieler verschiedener Therapieversuche keine richtige Lösung gefunden zu haben. Dann ist es eine Erleichterung, wenn die Patientinnen in die Reha können.« Frau X. macht in diesem Jahr ihre zweite Rehabilitation bei uns: »Dieses Bewusstsein zu haben, diese Zeit ist für mich. Man ist aus allem Alltagsstress erstmal raus. Das habe ich letztes Jahr schon gemerkt, bei der ersten Reha. Ich habe so viel mitgenommen – auch wenn die Schmerzen nicht unbedingt besser waren. Ich habe auch in meinem Alltag so viel geändert. Auf jeden Fall eine Zeit, von der ich super profitiert habe und die echt wichtig ist. Auch nochmal auf das gesamte Leben zu schauen, zu gucken, wie erreiche ich mehr Lebensqualität, wo kann ich etwas anders machen, also ein bisschen globaler gedacht sozusagen. Das wird hier schon zumindest angestoßen und hat auch wirklich einen nachhaltigen Effekt gehabt.« In der Leitlinie für die Diagnostik und Therapie der Endometriose der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe wird hervorgehoben: »Nach ausgedehnten chirurgischen Eingriffen – dies gilt in besonderem Maße für die tief infiltrierende Endometriose,

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nach wiederholten Endometriose-Operationen oder bei chronischen Schmerzpatientinnen – besteht häufig Rehabilitationsbedarf. […] Dieser Bedarf sollte eruiert und Rehabilitationsmaßnahmen oder eine Anschlussheilbehandlung eingeleitet werden« (Arbeitsgruppe »Leitlinie für die Diagnostik und Therapie der Endometriose«, 2013, S. 16). In der Rehabilitation können sich in verschiedensten Zusammenhängen Antworten auf offengebliebene Fragen entwickeln. Die Zeit ist da, um Unübersichtliches zu sortieren, Verknüpfungen herzustellen und den vielschichtigen Gesundungsprozess anzuregen. Hier ist die Entschleunigung das Heilungsprinzip. Frau Z. beschreibt dieses Potenzial aus ihrem psychologischen Blickwinkel: »In Rehabilitation ist der Zeitfaktor ganz erheblich, was Krankheitsverarbeitung, aber auch Krankheitsbewältigung in der Zukunft angeht. Bei Endometriose-Patientinnen haben wir ja sehr häufig den psychologisch ungünstigen Fall, dass lange mit Beschwerden gelebt wird, ohne dass eine Diagnose, eine Erklärung da ist. Das führt dazu, dass sowohl Symptome als auch eigene Bedürfnisse unterdrückt werden, um irgendwie weiter zu funktionieren. Die Patientinnen, die wir in der Rehabilitation erleben, haben ja nun eine Diagnose bekommen, zum Teil kürzlich, zum Teil länger zurückliegend, das sind natürlich zwei unterschiedliche Ausgangspunkte. In der Rehabilitation wird die Kombination wirksam, dass jetzt eine Erklärung für die Beschwerden und Einschränkungen da ist, und dass man Raum und Zeit bekommt, sich herausgelöst aus dem Alltag mit sich selbst, mit der Erkrankung, mit den Symptomen befassen zu können und sich mit anderen Betroffenen über Umgangsweisen damit auszutauschen. Diese Patientinnengruppe praktiziert meiner Beobachtung nach in vielen Fällen eine Überkompensation, die aufgrund der fehlenden Erklärung entsteht – dieses Erleben, ›Irgendwas stimmt mit mir nicht, das darf nicht sein, also muss ich noch mehr leisten, noch besser funktionieren als andere.‹ Das klingt erstmal paradox. Das, was häufig hier in der Rehabilitation passiert, ist eine Umkehr im Erleben, und daraus entsteht sehr viel Neues für den weiteren Weg.« In der Rehabilitation setzen sich Endometriose-Patientinnen freilich auch häufig selbst unter Zeitdruck – nach einer langen Phase des Aushaltens und Ertragens soll nun schnell etwas passieren, die

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Symptome sollen endlich verschwinden und die Schmerzen besser werden. Das ist ein hoher Anspruch. Frau Z. sagt dazu: »Das äußern viele Patientinnen in den psychologischen Einzel- und Gruppengesprächen. Da entsteht viel Veränderungsdruck, also auch eine Tendenz zur Überforderung. Die Patientin hat das Gefühl, ›Jetzt muss ich alles angehen, alles verändern‹. Das wandelt sich dann hier im Idealfall im Verlauf, wenn die Patientin merkt, dass sie sich überfordert und sehr viel vornimmt.« Auf die Frage, ob im psychologischen Einzelgespräch Entschleu­ nigung ein Thema ist und Möglichkeiten erarbeitet werden, um in Alltagssituationen das Tempo zu reduzieren, antwortet Frau Z.: »In den Gesprächen geht es primär um die Anspruchshaltung, die diesen Zeitdruck erzeugt. Und sich darüber klarzuwerden: ›Da habe ich auch selbst Spielraum, bin es also ein ganzes Stück selbst, die das Tempo verursacht.‹ Viele Patientinnen erkennen das relativ schnell selbst und führen es auf ihre eigene Lebensgeschichte mit der Endometriose zurück. Entschleunigung kann durchaus ein Thema sein, aber dafür braucht es erst einmal diese Auseinandersetzung mit dem Druck, der sich selbst an vielen Seiten gemacht wird. Es geht also nicht nur um den Zeit-, sondern auch um den allgemeinen Leistungsfaktor.« Wenn ein beschleunigtes medizinisches System auf eine Patientin trifft, die sich in ihrer Not auch selbst antreibt, wird der Zeitdruck also aus zwei Richtungen begünstigt – wie auch Frau Z. beobachtet: »Ja, da treffen zwei im ersten Moment zueinander passende Welten aufeinander. Die Patientin läuft Gefahr, diese Erfahrung zu wiederholen, wenn es dann keinen Raum gibt, in dem Druck herausgenommen wird. In der Psychologie sprechen wir das oft an – sich selbst die Erlaubnis zu geben, Druck herauszunehmen. Das würde sich natürlich ad absurdum führen, wenn die Patientin hier in der Reha einen straffen Zeitplan bekäme und man ihr vermitteln würde: ›Daran kannst du nichts ändern, da musst du jetzt durch. Es interessiert nicht, ob du es schaffst oder nicht, ob da Grenzen sind oder nicht.‹« In der Rehabilitation wird jedoch das Gegenteil praktiziert, und die Patientinnen fühlen sich tatsächlich nur selten von zu stark gefüllten Therapieplänen unter Druck gesetzt. Frau Z. berichtet: »Es ist

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eher andersherum, es kommt wieder das Gefühl, ›Ich könnte noch mehr machen, mitnehmen‹. Positiv gesprochen, sind die Patientinnen sehr motiviert und würden Gefahr laufen, alles schaffen zu wollen, unter Umständen ohne zu merken, dass es zu viel ist. Da ist das bewusste Herausnehmen wichtig. Hier in der Reha besteht die Freiheit, das Ganze für sich selbst zu gestalten und auch anzusprechen. Frau  Z. berichtet, dass Zeitdruck in der medizinischen Versorgung bisher kein zentrales Thema in der von ihr psychologisch geleiteten Gesprächsgruppe war: »Es wird eher am Rande angesprochen: ›Na, wie viel Zeit haben die Ärzte denn?‹ Das wird von einigen Patientinnen vorgebracht, fast schon zur Entlastung der Ärzte. Es geht ja immer wieder um die Frage, warum die Endometriose nicht schon früher gefunden wurde. Da wird das Thema Zeitmangel nicht so betont wie bei orthopädischen Patienten. Die Endometriose-Patientinnen legen den Fokus mehr auf das erlebte Unverständnis, auf das Gefühl, abgetan zu werden. Was viel beklagt wird, ist die Problematik, kurzfristig Alternativen, also einen anderen Arzt als Ansprechpartner zu finden. Wenn man dann vertröstet wird, und man bekommt einen Termin in drei Monaten, ist das eine sehr unbefriedigende Situation.« Die oft langjährige Diagnoseverzögerung ist aus Sicht der Patientinnen nicht unbedingt durch ärztlichen Zeitmangel erklärbar. Frau Z.: »Sie wird dadurch erklärt, dass es anscheinend nicht genug Thema ist. Schlichtweg unter diesem Aspekt: ›Der Arzt hat es nicht besser gewusst und unter Umständen auch nicht besser wissen können, denn es ist ja schwer festzustellen.‹ Der Zeitfaktor ist nicht die Haupterklärung, sondern eher das Unwissen, die Unkenntnis. Es wird natürlich der Ball auch persönlich zurückgespielt. Die Patientinnen erleben häufig, dass der Arzt sie persönlich für ihre Beschwerden verantwortlich macht, nach dem Motto ›Stell dich nicht so an!‹ Weil keine Erklärung gefunden wurde, kann es natürlich auch passieren, dass die Patientin den Arzt persönlich dafür in die Verantwortung zieht, dass nicht vorher etwas gefunden wurde. Das sind sehr komplexe Vorgänge, die dann weitergehen.« Frau Z. nimmt zu meinem Eindruck Stellung, dass in der Rehabilitation die Psychologinnen und Psychologen vieles wieder wettmachen, was im Vorfeld von Ärztinnen und Ärzten nicht geleistet

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wurde: »Es kann sein, dass wir manches abfangen, aber ich denke, dass es vom Gesamtfokus her medizinisch und psychologisch eine sehr unterschiedliche Arbeit ist. Aber wir haben als Psychologen eher den Luxus, diesen Zeitfaktor zu haben. Was heißt Luxus? Eine Stunde Gespräch ist ja eigentlich kein Luxus. Würde man da noch herunterbrechen, was ja durchaus der Trend ist, nach dem Motto, ›Lass uns das mal in zwanzig Minuten machen‹, dann könnten wir das auch gar nicht mehr auffangen. Dieser Raum wird von den Patientinnen extrem genutzt, was man vielleicht auch als Zeichen interpretieren kann, dass er an anderer Stelle nicht da war und jetzt die Möglichkeit besteht, wirklich alles rauszulassen. Das geht so weit, dass das Gespräch häufig schwer zu begrenzen ist. Man hat wirklich eine Stunde gesprochen und muss dann stoppen, und im Grunde bräuchte man noch mehr Raum, um die ganze Geschichte nochmal darzulegen. Es wäre interessant, was unser Eindruck von psychologischer Seite wäre, wenn Ärzte mehr Zeit hätten – ob es dann nicht ganz so übersprudeln und -schäumen würde und schon im Vorfeld ein Stück Druck entlastet wäre. Ich erinnere mich an den Satz eines Kollegen: ›Ärzte denken in Sekunden, Psychologen eher in Monaten oder Jahren‹ – woran man schon diese ganz andere Sichtweise erkennt und dadurch natürlich einen ganz anderen Fokus hat.« Besonders nach meinen Berufserfahrungen in verschiedenen Akutkliniken, wo der wachsende Zeitdruck und seine verheerenden Auswirkungen hart zu spüren waren, ist mir bewusst, dass mir in der Rehaklinik für die Behandlung und Begleitung meiner Patientinnen unvergleichbar große Zeiträume zur Verfügung stehen. Diesen wertvollen Zustand weiß ich sehr zu schätzen und zu würdigen. Ich richte mich mit einem ernsten Appell an alle Verantwortungsträgerinnen und -träger im Gesundheitssystem, alle Möglichkeiten umfassend auszuschöpfen, um eine heilsame Entschleunigung zu erreichen. An dieser Stelle danke ich Frau X., Dr. P., Dr. T. und Frau Z. für ihre Bereitschaft, sich die Zeit für ein Interview mit mir zu nehmen. Die Auseinandersetzung mit diesem komplexen Thema war für mich persönlich bereichernd und hat meinen Horizont erweitert.

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Christa Maria Bauermeister

Geld, Zeit und Sinn Beobachtungen und Erfahrungen im Umgang mit der Verfügbarkeit und dem Sinn von Zeit am Beispiel »Krankenhaus« in Tansania und in Deutschland

Zeit, Geld und Krankenpflege in Tansania »In Germany you have the clock, we have the time.« Diesen Satz haben die Schülerinnen und Schüler der Hildesheimer RobertBosch-Gesamtschule im tansanischen Massaidorf Lekrimuni nicht nur einmal gehört. Er fiel, wenn es darum ging, mit den Schwestern im Charlotte Health Center oder mit Sister Mary, der leitenden Ärztin des Hildegard Dispensary, eines »Erste-Hilfe-Krankenhauses« in Lekrimuni, über sinnvolle Formen der Entwicklungszusammenarbeit zu sprechen. Den Rahmen für diesen Gedankenaustausch bildet ein jährlicher Studienaufenthalt, bei dem zwölf Hildesheimer Schülerinnen und Schüler und ihre Begleitlehrerinnen und -lehrer vier Wochen lang die Möglichkeit erhalten, die Lebensverhältnisse dieser entlegenen Region im Norden Tansanias in direkter Begegnung kennenzulernen (vgl. Bauermeister, Reisener, von der Recke, Redlin u. Mounajed, 2018). In diesen Gesprächen konnten unsere tansanischen Partnerinnen sehr deutlich machen, inwiefern sie unsere Unterstützung benötigten, aber auch, wo und wie wir von ihnen lernen konnten. Sie zeigten uns, dass in Tansania die Uhren anders gehen als in Deutschland, dass es nicht genügen konnte, gemeinsam ein Konzept für ein neu zu bauendes Erste-Hilfe-Krankenhaus in dem abseits der größeren Straßen gelegenen Massaidorf zu entwickeln und von unserer Seite das benötigte Geld dafür zur Verfügung zu stellen. Einen genauen Zeitrahmen gab es entgegen unseren Hoffnungen für die Realisierung des Bauvorhabens nicht. Es kam auf die Kommunikation mit denen an, die es umsetzen würden – vom tansanischen Architekten und Bauleiter bis zu den Maurern aus der Region, welche die einzelnen Arbeiten durchführen würden. Dies konnte mal sehr viel länger dauern als erwartet und dann wieder sehr viel schneller gehen, als wir vermutet hatten.

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Die Lage des Dorfes, die langen, steinigen Wege mit den tiefen Schlaglöchern und die große Entfernung bis zur nächsten Krankenstation waren der entscheidende Grund für die Wahl dieses Dorfes. Die kleinen Kinder, die sich immer wieder lebensgefährliche Verletzungen zuzogen, oder die Mütter, die kurz vor der Entbindung standen, brauchten schnelle medizinische Hilfe. Denn oft gehörten sie zu den Frauen, die den Eingriff einer Beschneidung ohne Betäubung im frühen Kindesalter überlebt hatten. Bis ein Krankentransport zur nächsten Klinik etwa in Moshi, der nächsten mittelgroßen Stadt, organisiert war, konnte es für diese Frauen und Kinder zu spät sein. Hier also konnte es lebensentscheidend sein, möglichst wenig Zeit verstreichen zu lassen. Helfendes Handeln unter Zeitdruck war in dieser Situation ein Gebot der Stunde. Natürlich teilten die Nonnen des tansanischen Holy Spirit Sisters-Ordens in diesem Punkt unsere Einschätzung und hatten daher unseren Vorschlag, gerade in diesem Dorf ein Dispensary zu bauen, das ihrer Leitung übergeben werden sollte, gern angenommen. Besonders was den Umgang mit den Patienten betraf, gab es für uns einiges zu lernen! Geduldig hörten sich die tansanischen Schwestern die Erzählungen der Erkrankten an und gaben ihnen, wo dies möglich war, Hilfestellung, etwa wie der Hintergrund einer Erkrankung der Familie des Kranken zu erklären sei. War nach einer Operation oder einer Entbindung mit Komplikationen ein mehrtägiger Aufenthalt in der Krankenstation notwendig, so war es selbstverständlich, dass sich mindestens ein Familienmitglied in der Nähe der Genesenden einfand und sich für Gespräche und auch für die Ernährung der kranken Person bereithielt. Selbstverständlich stand für die Genesenden die nicht durch andere Aufgaben absorbierte Zeit der jeweiligen Besucherin – fast immer waren es Frauen – zur Verfügung. Und diese von den Angehörigen geschenkte Zeit, die oft nur aus stillem Sitzen neben dem Krankenbett bestand, war für alle Betroffenen eine selbstverständliche Voraussetzung des Heilungsprozesses. Wer wie die Schülerinnen und Schüler der Robert-BoschGesamtschule diesen Alltag im schon bestehenden Charlotte Health Center oder im kürzlich fertiggestellten Dispensary in Lekrimuni miterleben durfte, erfuhr anschaulich, was der Satz bedeutet: »Wir haben die Zeit.«

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Zeit zu haben für ein Stehenbleiben auf dem Weg, für ein »­Habari gani?« – »Wie geht es dir (oder euch)?« – ist Zeichen einer natürlichen Wertschätzung, die von den Landbewohnern durchgehend praktiziert wird, sowohl den Fremden als auch den benachbarten Dorfbewohnern gegenüber. Diese Unterbrechungen der Alltagsverrichtungen wie etwa der Feld- oder Gartenarbeit, wenn jemand des Weges kommt, gehören zur tansanischen Alltagskultur. Man gibt sich Wertschätzung, indem man die Arbeit unterbricht und für einen Gedankenaustausch Zeit hat. Lohnarbeit im engen Zeittakt und gegen Geld wurde unter Zwang während der deutschen Kolonialzeit eingeführt. Bis heute sperren sich viele der ländlichen Lohnarbeiter gegen allzu großen Zeitdruck und machen immer wieder längere Pausen. Der Lohn für die Feldarbeit wird, wie wir feststellen konnten, dann auch nicht nach Arbeitsstunden ausgegeben, sondern als Tageslohn, häufig verbunden mit einem Teil der Feldfrüchte, die gerade geerntet wurden. Zudem ist die Einstellung zu Geld eine ganz andere als in Deutschland. Hat jemand aus einer Großfamilie eine bezahlte Arbeit, ein festes Monatseinkommen zum Beispiel, so wird erwartet, dass er das verdiente Geld sogleich an die Familienangehörigen verteilt. »Dieses ›soziale‹ Verhältnis zum Geld, ist es nicht wertvoller als Geld um seiner selbst willen zu horten und über Börsenspekulationen vermehren zu lassen? – Wie verändert sich die ›Temperatur‹ in einer Gesellschaft, wenn Zeit wertvoller ist als Geld und Geld nur ein Mittel zum Zweck, den Alltag etwas einfacher zu gestalten?«, fragten wir uns in den abendlichen Gesprächen auf dem breiten Balkon des Gästehauses der Holy Spirit Sisters auf der von ihnen bewirtschafteten Kilari-Farm. Diese ganz andere Erfahrung mit der Qualität der Zeit, die sich aus einem geringeren Effizienzdruck ergibt, war für uns in der Rückbesinnung auf den Wert der Praxiserfahrungen in Tansania von zentraler Bedeutung. Wie diese Erfahrung zurückbringen in den Hildesheimer Alltag? Dies machte das Wiedereinleben trotz der Erleichterung über manchen überstandenen »Kulturschock« dann doch nicht einfacher! Immer schon war neben den vielen positiven Erinnerungen beim ersten Erfahrungsaustausch der Tansania-Rückkehrer ein Aufseufzen zu hören: Mal als eine wehmütig klagende Resignation, mal mit erstauntem Unterton.

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»Wo ist die Zeit geblieben, die wir in Afrika hatten?« – »Solange wir in Tansania waren, hatte die Zeit für uns ein freundliches Gesicht! Sie stellte sich uns zum freien Gebrauch zur Verfügung.« – »Ja, so geht es mir auch! Und wie ist es jetzt? Termine, Lerndruck, Klausurendruck!« – »In Tansania gibt es kein Handeln mit so engen Zeitvorgaben. Warum ist es hier in Deutschland so ein Muss, dass man sich selbst lieber ständig abhetzt, um alles zu schaffen, statt sich auch mal mitten im Alltag eine Auszeit zu gönnen«, fragten sich die Zurückgekehrten. Die Schülerinnen und Schüler hätten gern mehr Zeit gehabt, um ihre Erfahrungen auf dem fremden Kontinent »sacken« zu lassen und in Ruhe verarbeiten zu können. So beginnt die abschließende Reflexion »Zukunft gestalten als kritische Sicht auf die eigene Lebensweise. Die Chance zur Selbstwahrnehmung im Fremden« in der Broschüre »Lernen im Massaidorf Lekrimuni. Lokale Projekte. Globale Visionen« (Bauermeister et al., 2018, S. 59 f.), in der die siebenjährige Projektarbeit in Tansania durch die beteiligten Schülerinnen und Schüler selbst dargestellt, durch die Begleitlehrerinnen und -lehrer kritisch reflektiert und auch aus der weiteren Perspektive der Entwicklungszusammenarbeit durchdacht wird.

Leben, Zeit und Freiheit im deutschen Bildungswesen: »scholae« heißt doch eigentlich »Muße« Ganz sicher sind die obigen Zitate nicht als Kritik an dem Stoffund Klausurendruck speziell an der Robert-Bosch-Gesamtschule in Hildesheim zu verstehen, an die ich mich in meinem letzten Dienstjahr versetzen ließ – nach der Herausgabe eines Sammelbandes unter dem Titel »Sehnsucht nach Wahrheit« mit von Oberstufenschülerinnen und -schülern des Gymnasiums Alfeld durchgeführten Interviews (Bauermeister, 2012). Die Robert-Bosch-Gesamtschule, die 2007 den Deutschen Schulpreis gewann, zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass die Schülerinnen und Schüler über vielfältige Formen des außerschulischen Engagements wie durch Projektarbeiten und Studienaufenthalte auch im außereuropäischen Ausland die Möglichkeit erhalten, ihre Neigungen zu entdecken. Durch außerschulische Erfahrungen konnten und können sie auch möglichen

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Berufswünschen näherkommen als dies an staatlichen Gymnasien mit dem dichteren Stoffplan des G8 – das heißt der Verkürzung der obligatorischen Unterrichtszeit von neun auf acht Jahre – möglich ist. Doch auch an der Gesamtschule muss im Sinne der Auflagen des Zentralabiturs Vergleichbarkeit hergestellt werden, und dies erfordert, sich besonders in der Oberstufe analog den Gymnasien den Zwängen des Stoffdrucks zu fügen. Gerade in dieser Zeit der staatlich verordneten Kürzung der Schulzeit von dreizehn auf zwölf Jahre entstand zwischen 2010 und 2012 am Gymnasium Alfeld, einem typischen Gymnasium in der Region Hildesheim – auch in Opposition gegen diese selbstbestimmtes Lernen behindernde Reglementierung – das eben erwähnte Interviewbuch »Sehnsucht nach Wahrheit«. Wenn mir, der Lehrerin, und meinen Schülerinnen und Schülern behördlicherseits eine Zeitverdichtung für die Aneignung von Lernstoff und Kompetenzen aufoktroyiert wurde, dann wollten wir darauf antworten, indem wir uns jenseits des obligatorischen Unterrichts Zeit nahmen, um umfassender zu lernen und tiefer zu fragen, als es die Bindung an Stoff und Schulfach ermöglichte. »Bei dem notwendigen radikalen ökologischen und ökonomi­ schen Wandel, auf den sich die Menschen auf diesem Globus verständigen müssen, wird die Schule zu einer Institution werden müssen, die die Erfahrung von Sinn möglich macht. […] Junge Menschen brauchen die Erfahrung von Vertrauen und Verantwortung, die zum Beispiel durch solche Interviews mit Zeitgenossen jenseits der Schulmauern entstehen kann. Ein Lernen primär für die Entlohnung durch ein Notengeld mit dem klaren Verfallsdatum ›Eintritt in die Berufstätigkeit‹ – dafür ist auch die auf zwölf Jahre verkürzte Schulzeit an einem staatlichen Gymnasium viel zu lang!« (Bauermeister, 2012, S. 13 f.). So stand es in der »Gebrauchsanleitung«, die ich in Absprache mit meinem Ko-Autor Roman Kirk einleitend schrieb, um unsere Motivation für dieses aufwendige InterviewProjekt zu erläutern. Diese Interviews sollten Pilotcharakter haben. Roman Kirk, ein Mitglied der Schülervertretung, blieb dem Projekt auch in dem Jahr nach seinem Abitur treu, unterstützte seine Mitschülerinnen und -schüler bei der Vorbereitung der Interviews und übernahm einen

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Großteil der Transkriptionen. Trotz des großen Zeit- und Stoffdrucks hofften wir, dass unsere Projektidee zünden und in den Oberstufen anderer staatlicher Schulen Nachahmung finden würde. Es ging um nichts weniger, als die »Einbeinigkeit« des Lernens nach vereinheitlichten Stoffplänen und zum Erwerb oft inhaltsleerer »Kompetenzen« durchschaubar werden zu lassen und der Bildung ihr »zweites Bein« zurückzugeben – das heißt, sie wieder als das erfahrbar werden zu lassen, was sie nach den bereits in der Antike entwickelten Ideen sein sollte: schulisches Lernen als Mittel zur Bildung einer Persönlichkeit, die schon in der Schule ein mutiges und eigenverantwortliches Handeln praktizieren lernt. Diese Praxis, so waren wir uns einig, konnte im Rahmen des G8 nicht mehr ausreichend geübt werden. In sanften Worten, doch inhaltlich sehr klar, brachte der ehemalige Direktor des Alfelder Gymnasiums, Dr. Horst Berndt, den herrschenden Ökonomismus, der immer mehr auch das System der gymnasialen Bildung durchsetzt hat, zur Sprache. Auch hier spielt wieder – wie bei unseren Erfahrungen in Afrika – die Qualität der Zeit eine entscheidende Rolle. In seinem Interview führt er, zur damaligen Bildungssituation befragt, aus: »Mir scheint, dass es inzwischen Entwicklungen gibt, die sehr stark durch die ökonomischen Zwänge gesteuert werden. Dass die Bildung oder die Organisation von Bildung und somit auch viele Entwicklungen in den Schulen davon abhängen, wie viel Geld da ist und dass man also zum Beispiel die Schulzeit verkürzt aus ökonomischen Gründen. Das ist für mich nicht so gut nachvollziehbar; denn ich meine, dass man für eine wirklich nachhaltige Bildung Zeit braucht. Man kann das nicht in beliebig knapper Zeit machen. Das ist eigentlich ein Widerspruch in sich. Unser schönes deutsches Wort ›Schule‹ kommt ja eigentlich aus dem Griechischen, heißt ursprünglich schole und hat mit Schule gar nichts zu tun. Es heißt nämlich Muße. Um Schule wirklich für den Menschen richtig zu betreiben, muss man Zeit haben, muss man Muße haben. Schule im Eiltempo ist etwas Schreckliches. Dann läuft es darauf hinaus, dass man sich nur an den Bedürfnissen einer Wirtschaftsgesellschaft orientiert« (Bauermeister, 2012, S. 626). »Schole«, Schule, die ursprünglich doch »Muße« heißt – also gerade keine Zeit, die dem Zwang der Zeitverdichtung oder des

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Konkurrenzkampfes unterworfen war – das hatten die fragenden Schülerinnen und Schüler in keinem Unterrichtsfach gelernt! Was sich erst aus der heutigen Perspektive ergibt, ist der Vergleich der reichlichen »Beziehungszeit« in den ländlichen Regionen des östlichen Afrika, die Sinn in einer wertschätzenden Beziehung erfahren lässt, mit der durch den Zwang zur Profitmaximierung überall spürbaren Zeitverdichtung im globalen Norden, die als leer und kräftezehrend empfunden wird. Wir einigten uns damals auf diese »afrikanische« Praxis einer von Stress und Zeitverdichtung möglichst freien Zeit durch die Art, wie wir die Befragungen durchführen wollten. Um die Menschen zu dem, was sie geworden waren und gern hätten werden wollen, so befragen zu können, dass sie Zeit hatten, in Ruhe nachzudenken, verzichteten wir auf ein allzu einengendes Zeitfenster. Einige hatten uns nach 30 Minuten alles Wichtige gesagt. Andere brauchten länger als zwei Stunden. Niemand, den wir um ein Interview baten, wies uns ab. Alle freuten sich, weil sie das tiefe Interesse an ihrer Person spürten, weil sie erfuhren, dass es uns darum ging, von ihren besonderen Herausforderungen und dem Leidensdruck zu erfahren, der entstand, wenn sie sich selbst in ihrer Rolle in Beruf und Gesellschaft nicht mehr wiederfanden.

Warum »Sehnsucht nach Wahrheit«? Als ich nach der Aufnahme und Transkription von 55 Interviews mit Menschen aus der Kleinstadt Alfeld und der angrenzenden Region nach einem Titel für diesen Sammelband suchte, kam die Idee dafür in einem Gespräch mit einem Freund. Ich hatte ihm berichtet, dass die Schülerinnen und Schüler, die sich in ihrer freien Zeit für diese Interviews zur Verfügung gestellt hatten, der Frage nach dem Sinn des Lebens in einer durch Rationalismus und Ökonomismus geprägten Gesellschaft näherkommen wollten, als dies in einem durch Stoffpläne und Kompetenztraining geprägten Alltag in der Schule möglich schien. Zurückblickend auf die knapp zwei Jahre zwischen Spätsommer 2010 und Frühsommer 2012, in der diese Befragungen stattfanden, sagte ich dem Freund: »Einen ganz besonderen Eindruck haben bei den Schülerinnen und Schü-

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lern jene Gespräche hinterlassen, bei denen sie im Anschluss noch einmal beschworen wurden, das Gesagte anonym zu veröffentlichen. Sie fragten sich, weshalb die Interviewten sich dem Risiko ausgesetzt hatten, namentlich bekannt zu werden. Bei den abhängig Beschäftigten hätte eine Veröffentlichung ihrer Interviews zur Entlassung führen können, erfuhren sie. Aber die Möglichkeit, gerade das vor diesen jungen Zeugen auszusprechen, was sie in ihrer Arbeitssituation am meisten belastete, und dies mit der Hoffnung, dass ihre Erfahrungen öffentlich gemacht werden könnten, ließ sie sich für das Interview entscheiden.« – »Kannst du zusammenfassen, wie man das Motiv dieser Menschen benennen könnte?« – »Es war die Sehnsucht nach Wahrheit«, sagte ich spontan. – »Da habt ihr doch den Titel für euer Interviewbuch!«

Das kranke Krankenhaus Am signifikantesten waren schon damals die Berichte über die Arbeit in den privatisierten Kliniken. Ärzte, Krankenschwestern und Krankenpflegerinnen sowie zwei befreundete Hebammen hatten sich zu Interviews bereit erklärt. Aus dem Interview mit einer Ärztin: »Wie äußert sich die Zusammenarbeit mit den Kollegen? Gibt es gemeinsame Konzepte?« »Wenn man sich nicht gegenseitig im Alltag hilft, hilft einem keiner – dies gilt auch unter den Berufsgruppen untereinander. Das Krankenhaus funktioniert schon seit langem nur noch durch Selbstausbeutung der Pfleger und Ärzte, die die Patienten nicht unversorgt im Stich lassen können. Das weiß und nutzt jeder Arbeitgeber« (Bauermeister, 2012, S. 81). Aus dem Interview mit einer verrenteten Krankenpflegehelferin (zur Zeit des Interviews siebzig Jahre alt): »Wie lange dauerte die zweite Phase Ihrer Berufstätigkeit?« »Von 1975 bis zum Jahr 2000. Ich lernte unterschiedliche Arbeitsplätze kennen, was mir nachher in der ambulanten Krankenpflege zugutekam. Das selbstständige Arbeiten dort fand ich so angenehm. Aber noch zu meiner Zeit begann es, dass in Zeitkorridoren gearbeitet wurde.« »Können Sie uns den Begriff ›Zeitkorridor‹ erklären?« »Nehmen Sie zum Beispiel das Anziehen der Patienten. Es gab nun Vorgaben,

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dass man dafür nur eine Zeit von acht Minuten zur Verfügung hatte. In dieser kurzen Zeit konnte man nicht mehr auf die Eigentätigkeit der Patienten achten. Während meiner Arbeit in der Ambulanz war zum Beispiel die Zeit für eine Injektion so knapp bemessen, dass ich noch nicht einmal den Mantel ausziehen konnte, keine Zeit für ein gutes Wort, Zuhören. Es gab jetzt einen Plan, der die Abfolge der Tätigkeiten genau regelte.« »Wie erfährt man als Berufsanfängerin heute diese Arbeit?« »Es kommt eine große Unzufriedenheit auf. Wenn man diesen Beruf ernstnimmt, steht doch der Mensch im Mittelpunkt. Und alles wird fragwürdig, wenn nicht genug Rücksicht auf den Menschen genommen wird. Gerade wer gut ist, wird es in diesem Beruf nicht lange aushalten.« »Kennen Sie jemanden, dem es so geht?« »Meine Enkelin. Sie war Krankenschwester und hat nach vier Berufsjahren ihren Beruf aufgegeben. Sie hatte keine Zeit mehr, Freundschaften zu pflegen, keine Zeit für Patienten, keine Zeit für Beziehungen. Es ist nichts mehr planbar. Die Wochenenden sind durch Nachtdienstpflichten unvorhergesehen verplant. Das will man, gerade wenn man jung ist, seinem Freund nicht zumuten. Aber am schlimmsten ist, dass die Patienten zu kurz kommen. Und auch die Patienten sind ja unzufrieden. Die unzureichende Versorgung kreiden die Patienten in der Regel nicht dem Pflegepersonal an. Sie erkennen, unter welchen Bedingungen das Personal arbeitet, und sind häufig einsichtig und dankbar« (Bauermeister, 2012, S. 77). Diese Interviewabschnitte gehen auf die Arbeitssituation in den meisten derzeitigen Kliniken ein, die im Besitz börsennotierter Großkonzerne sind. Zeit als »Beziehungszeit«, die den Zusammenhalt unter den Beschäftigten erfahrbar machen könnte, ist wegrationalisiert worden. Und dieser Raubbau an sinnstiftender Zeit greift auch ins Privatleben über. Dies berichtet die ehemalige Krankenpflegehelferin über die Freizeit ihrer Enkelin, die aufgrund dieses Mangels an privater Beziehungszeit sogar ihren Beruf als Krankenschwester aufgab. In diesem Interview wird auch am Beispiel der Einführung des »Zeitkorridors« gezeigt, wie eine scheinbare Objektivierung der pflegerischen Arbeit die Zuwendungszeit wegrationalisiert – und die Pflegekräfte zu »Versorgungsautomaten« werden lässt.

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Aus dem Interview mit einer Krankenschwester: »Ihr Beruf macht Ihnen auch Spaß?« »Ja. Ich arbeite gern, und es macht mir auch jetzt noch Spaß. Aber die Arbeitssituation ist schwieriger geworden.« »Was erleben Sie so tagtäglich in Ihrem Beruf?« »Ich erlebe eine starke Veränderung in der Arbeitswelt. Dadurch, dass die Liegezeiten verkürzt wurden, hat man viel weniger Zeit pro Patient. Als ich angefangen habe, war es so, dass zum Beispiel Patienten, die einen Herzinfarkt hatten, erst einmal strikte Bettruhe verordnet wurde, bis sie dann zur Reha kamen. Heute bleiben diese Leute nur noch eine Woche anstatt wie früher drei Wochen. Es hat sich auch ganz viel an der Diagnostik und damit auch an der Therapie verändert. Heute hat man einen ganz anderen Geld- und Zeitdruck. Früher war es nicht so wichtig, ob ein Patient einen Tag länger liegt. Heute wird schon bei der Aufnahme geguckt, wie lange die Verweildauer ist. Es wird quasi schon bei der Aufnahme die Entlassung geplant. Dies hat zur Folge, dass es genau begründet werden muss, wenn jemand länger bleibt. Es gibt also mehr Kontrollen, zum Beispiel gegenüber den Ärzten. Die kürzere Verweildauer hat auch zur Folge, dass viele Untersuchungen in viel kürzerer Zeit durchgeführt werden sollen. Durch die verkürzten Liegezeiten hat sich auch die Pflege ganz stark verändert. Sachen, die man früher vielleicht noch mal mit den Patienten gemacht hat, wie: sich ans Bett setzen, mit ihnen reden, basteln – mit Patienten also, die nicht akut krank waren, sondern eher psychisch krank waren, diese Betreuung fällt fast völlig weg« (Bauermeister, 2012, S. 83 f.). In diesem Gespräch mit einer Krankenschwester, die die Situation, als ihr Krankenhaus noch in öffentlicher Hand war, mit der Zeit vergleichen kann, als es nach dem Verkauf an einen börsennotierten Konzern umorganisiert wurde, wird sehr deutlich, welche Folgen die dabei durchgezogene »Effizienzsteigerung« für die Patientinnen und Patienten hat. Sie erfahren das Krankenhaus jetzt eher als Durchlaufstation zu einer anderen Rehabilitationseinrichtung oder werden nach Operationen gerade noch so lange in diesem Haus gepflegt, wie dies der Einsatz der Gerätemedizin verlangt. Vielleicht noch einen Tag ausruhen und die freundliche Zuwendung der Pflegekräfte genießen – dies ist nach der Privatisierung nicht mehr möglich. Hier

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drängt sich besonders der Vergleich mit den tansanischen Dispensaries auf, wo man weiß, dass Heilung und Genesung auch ein psychischer Prozess ist. Dort ist klar, dass die Kranken der wertschätzenden Zuwendung bedürfen, die Zeit kosten muss und darf. Dies bedeutet in Afrika auch die Zeit des gemeinsamen Schweigens mit dem Kranken, damit er die Stimme seiner Seele in einem durch die Nähe der vertrauten Person geschützten Raum hören kann. »Muße ist verfügbare Zeit, über die nicht verfügt wird«, ist eine geniale Definition dieser nicht zweckrational entfremdeten Zeit (vermutlich durch Theodor Adorno). Gerade diese Zeitqualität ist im Zuge der Privatisierung der kommunalen Krankenhäuser und ihrer Übernahme durch börsennotierte Konzerne massiv beeinträchtigt worden. »Hat sich dadurch auch das Arbeitsklima verändert?« »Ja, es ist halt einfach stressiger geworden. Die Zeiten, die man früher hatte, um auch mal was im Team zu besprechen, die fehlen meistens. Es bleibt kaum Zeit, um mal durchzuatmen, um mal zu hören, wie es den Kolleginnen geht, ob jemand Probleme hat … Alle nehmen ihre Belastungen mit nach Hause. Die ›Sozialhygiene‹, wie ich sie nenne, hat sich schon sehr verändert.« »Es ist ja vieles anders geworden. Warum halten Sie noch an diesem Beruf fest?« »Weil ich nichts Besseres weiß. Und an sich ist es ja auch ein schöner Beruf. Die Umstände werden nur immer schlechter. Und es deprimiert halt, dass das Problem nicht angefasst wird. Wir wandern von einer Reform in die nächste, aber nichts passiert so richtig, nichts wird angefasst. Zum Beispiel der Verkauf von öffentlichen Häusern, die es inzwischen sowieso kaum noch gibt, an Aktiengesellschaften ist wenig verständlich. Denn wenn die AG aus den Krankenhäusern Gewinn herausschlagen kann, hätten sie auch in öffentlicher Hand bleiben können.« »Welche Probleme entstehen denn durch diese Haltung, die es früher vielleicht so nicht gab?« »Weniger Mitarbeiterorientierung, ziemlich viele Burnouts. Vor 15 Jahren kannte man dieses Wort kaum, also diesen Zustand, der sich hinter diesem Wort verbirgt, kannte man kaum. Es gab natürlich auch früher mal Fälle, wo Mitarbeiter mit dem psychischen Druck nicht klar gekommen sind oder wo es im Team nicht klappte. Aber das wird immer schlimmer, weil es nur noch um Zeit und Geld geht« (Bauermeister, 2012, S. 84 f.).

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Die Devise »time is money« greift die Psyche der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an, eine Form von Stress, die auch angesichts anderer belastender Faktoren des Pflegeberufes leicht zum Burn-out führen kann. Die Zeit, sich auszutauschen und sich als Team zu spüren, ist nach Aussage dieser Krankenschwester eingespart worden. Wenn man schon darauf hinwirken zu müssen meinte, nach Möglichkeit mit Gewinn zu bilanzieren – so argumentiert die Interviewpartnerin –, hätten die Krankenhäuser wenigstens in öffentlicher Hand bleiben sollen. Die dabei erzielten finanziellen Mittel hätten dann auch einer besseren Absicherung der medizinischen Versorgung dienen können. »Gab es schon einmal Situationen, in denen Sie daran gedacht haben, den Beruf zu wechseln?« »Ja.« »Und welche?« »Wenn ich seelisch an meine Grenzen gekommen bin. Wenn man so viel arbeiten muss und man dann die Sachen, warum man mit diesem Job angefangen hat, nicht mehr machen kann. Es gibt Situationen, da denkt man tatsächlich: ›Den Patienten spreche ich lieber nicht an. Der hat Tränen in den Augen, und das kostet mich dann wieder zehn bis fünfzehn Minuten, und die habe ich ja einfach nicht.‹ Nach solchen Situationen geht man dann nach Hause und fragt sich: ›Was hast du hier eigentlich gemacht?‹« (Bauermeister, 2012, S. 90). Wenn sich die Krankenschwester aufgrund des oktroyierten Zeitdrucks nicht einmal mehr für kurze Zeit einem alten weinenden Mann zuwenden darf, stellt sich ihr unmittelbar die Frage nach dem Sinn ihres ganzen Berufes – ein Erkenntnisgewinn für die Schülerinnen und Schüler, der die Mühen und den großen freiwillig betriebenen Zeitaufwand dieses Interviewprojektes rechtfertigt. Hier kommt ein Zug zur sozialen Kälte und Hartherzigkeit besonders unverhüllt zur Geltung, der sich bei einem Vorrang für die Renditensteigerung privater Investoren mehr und mehr durchsetzt. Das »Sein in der Zeit« verkürzt sich dabei zu einem bloßen Funktionieren. Wo dieser Zeitmangel Teil des Systems ist, verdrängen mechanischmaschinenartige Abläufe die sinnliche Fülle erfahrener und gelebter Zeit.

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Zwei Hebammen geben Auskunft und finden von der durchlebten Praxis zur Systemkritik Ein langes »Gespräch mit zwei Hebammen zur Nachtzeit« schenkte uns einen sozialphilosophischen Blick auf die durch eine zunehmende Dominanz von ökonomischen Interessen deformierte Gesellschaft der Bundesrepublik. Diese Hebammen, die zur Zeit des Interviews in einem großen Krankenhaus arbeiteten, das seit geraumer Zeit von einem börsennotierten Konzern übernommen worden war, hatten zuvor lange selbstständig gearbeitet. Sie hatten jedoch wegen der in den letzten Jahren stark erhöhten Versicherungskosten, die von selbstständigen Hebammen aufzubringen waren, und nach der Schließung des städtischen Geburtshauses für sich keine andere Perspektive mehr gesehen als in einer privatisierten Klinik zu arbeiten. Die von diesen Frauen angesprochenen Themenfelder gleichen in der Bewertung der negativen Folgen des Arbeitsdrucks den vorangegangenen Interviews. Aus der Beobachtung der Rationalisierungszwänge erstreckt sich ihr Nachdenken darüber hinaus auch auf die Zwänge und die Verführung zur Vernachlässigung des Körperbewusstseins und einer entspannten Beziehung der Frauen zu sich selbst. In der Zeit eines zunehmenden marktkonformen »Selbstoptimierungs«-Drucks und technischen Machbarkeitswahns wird der weibliche Körper zur Gebärmaschine, die möglichst komplikations- und schmerzfrei funktionieren soll. Mit der Darstellung des Umgangs mit der selbstbestimmten Zeit in einem Geburtshaus im Vergleich zur Klinik möchte ich bei der Wiedergabe einiger Interviewabschnitte beginnen: »Wie genau läuft eine Geburt in einem Geburtshaus ab? Gibt es da auch ärztliche Betreuung?« Frau L.: »Es ist eine Art Zwischeninstanz zwischen einer Klinik und der häuslichen Geburt. Ein Arzt ist nicht ständig anwesend; er kommt aber gleich, wenn es zu Komplikationen kommt. Der große Vorteil des Geburtshauses im Vergleich zur Klinik ist die Atmosphäre, es hat nicht diesen Krankenhauscharakter. Es ist deutlich wohnlicher, gemütlicher, man kriegt nicht ständig den Krankenhausalltag mit. Im Krankenhaus ist man außerdem häu-

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fig unter Zeitdruck. Man muss zusehen, dass sich die Geburten möglichst nicht ewig lang hinziehen, damit man den Kreißsaal für die nächste Frau frei hat. Die ganzen Routineeingriffe, die dort stattfinden, sind für viele Frauen auch sehr abschreckend. Im Geburtshaus ist es eher so, dass man die Frau ihre Geburt einfach durchleben lässt, ohne dass man großartige Interventionen betreibt – vorausgesetzt natürlich, dass alles gut abläuft.« Frau M.: »Was das Geburtshaus in der Hinsicht anders macht, ist die ganzheitliche Betreuung durch eine Hebamme, die man sich im Vorfeld ausgesucht hat, und die Gewissheit, dass man die gesamte Geburtssituation hindurch von derselben Person betreut wird; es gibt keinen Schichtwechsel. Da entsteht auch eine sehr intime persönliche Beziehung. Und es ist egal, wie lange die Geburt dauert. Es ist eher so, dass man da als Hebamme abwartend, unterstützend danebensitzt, zwischendurch auch mal einen Tee trinkt oder Ähnliches. Es ist einfach eine durchaus schöne Situation – sofern alles gut verläuft –, während es in der Klinik Schichtwechsel und Zeitnot gibt.« »Eigentlich ist eine Geburt ja auch keine Krankheit. Von daher ist es naheliegend, dass manche sie möglicherweise lieber zu Hause erleben möchten oder in der familiären Atmosphäre eines Geburtshauses. Hatte sich diese Einrichtung in vielen Städten eingebürgert?« Frau L.: »Ja, in ganz vielen Städten – oder es gab sie dort zumindest. Mittlerweile haben sie sich zum Großteil in Hebammen-Praxen umgewandelt, wo nur noch Vorsorge und Kurse gemacht werden. Die Geburtshilfe selbst hat man dort aufgrund dieser horrenden Versicherungsprämien leider sterben lassen müssen.« »Die Einstellung der Frauen zur Schwangerschaft, war sie zu der Zeit, als Sie mit Ihrem Beruf angefangen haben, deutlich anders?« Frau L.: »Das war auf jeden Fall anders. Man sieht die Veränderung schon daran, dass bereits in der Frühschwangerschaft enorm viel Diagnostik betrieben wird, weil viele Frauen einfach nicht mehr auf ihren Körper und auf die ›Normalität‹ vertrauen, sondern man sucht eigentlich immer die Pathologie. Deshalb wird schon in den frühesten Schwangerschaftsphasen geprüft, ob alles

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in Ordnung ist oder ob man nicht irgendwo was finden kann. Und aufgrund dieser ganzen Diagnostik-Maßnahmen findet man natürlich irgendwann mal irgendwas, und dann werden aus irgendwelchen fadenscheinigen Gründen im schlimmsten Fall sogar Schwangerschaftsabbrüche oder verfrühte Geburtseinleitungen durchgeführt. Viele Frauen nehmen eine Schwangerschaft nicht mehr als normal hin, als etwas, das zum Frausein dazugehört, sondern man muss immer zum Arzt, man muss alles kontrollieren lassen. Und genauso sind sie häufig nicht mehr gewillt, auch die Schmerzen als normal hinzunehmen, sondern man muss was dagegen machen können, und das muss dann die Hebamme übernehmen. Wir werden, glaube ich, häufig verwechselt mit irgendwelchen Zauberinnen, die Probleme wegzaubern können oder die Geburt beschleunigen. Das Ganze soll sich nicht über so viele Stunden hinziehen, sondern man muss doch irgendwie irgendwas machen können, und wenn dieses ›Irgendwie‹ nicht in das Konzept der Frau hineinpasst, dann muss zum Schluss wenigstens der Kaiserschnitt sein, um das Ganze endlich zu beenden. Dass eine Frau wirklich mit Geduld eine Geburt erträgt und die Schmerzen annimmt, ist leider ganz, ganz, ganz, ganz selten geworden. Das ist wirklich traurig« (Bauermeister, 2012, S. 44 f.). Im Folgenden reflektieren die Hebammen über einen zunehmenden Verlust des Körpergefühls, der schon in der Kindheit beginnt. Viele Kinder bewegen sich allzu wenig, spielen oder toben kaum noch im Freien, sondern begnügen sich mit Computerspielen, bei denen sie oft stundenlang vor dem Bildschirm sitzen. Die durch die Zeitverdichtung in vielen Berufen erschöpften Eltern wirken diesem Verhalten nicht entgegen, weil sie kaum noch Kraft haben, aktiv auf das Spiel der Kinder einzugehen. Dann führt der Gesprächsverlauf wieder zum Berufsalltag der Hebammen und der mangelnden Zeit, tiefe Erfahrungen, die mit Tod und Leben zu tun haben, zu verarbeiten: »Sehen Sie da auch Ursachen [für diese schwindende Wahrnehmung der Bedürfnisse der Kinder] in der Arbeitswelt selbst, dem System, nach dem sie funktioniert?«

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Frau M.: »Speziell in unserem Berufsfeld ist es so, dass wir mit Menschen arbeiten. Wir haben oft schwierige Situationen. Es gibt ja nicht nur die unkomplizierte Frau, die mal nebenbei ihr zweites Kind bekommt. Es passiert auch, dass Frauen beispielsweise tote oder kranke Kinder bekommen. Wir müssen viele Überstunden machen, weil entweder so viel zu tun ist oder weil man eine Frau in der Endphase der Geburt nicht allein lassen möchte. Aber mit der Geburt ist für uns die Betreuung nicht beendet. Beendet ist die Geburt sowieso erst, wenn die Nachgeburt auch geboren ist. Und die kommt ja nicht gleich mit dem Kind heraus. Da liegt schon mal eine halbe oder Dreiviertelstunde dazwischen. Wenn das gut gelaufen ist, setzen wir uns danach an den Schreibtisch und machen den ganzen Papierkram über die Arbeit, die wir in den letzten acht Stunden erledigt haben. Es gibt keine Pause dazwischen, in der wir diese belastenden Erfahrungen innerlich verarbeiten können. Diese Sachen mit den schwierigen Geburten, den kranken Kindern, den toten Kindern, die nimmt man mit nach Hause. So, wie die Zeiteinteilung jetzt ist, gelingt es, glaube ich, kaum einer Hebamme, diese Situation an der Tür abzustreifen, die Krankenhaustür hinter sich zuzumachen, sich dann umzudrehen und zu sagen: ›So, jetzt habe ich Feierabend.‹ Das ist sicherlich auch ein wichtiger Aspekt unseres Berufes, der einen begleitet, den man zu Hause durchaus auch mit der Familie teilt. Wie soll es da funktionieren – es funktioniert ja durchaus, aber es ist schwierig, dass man im Krankenhaus Hebamme ist, dann nach Hause kommt und da einfach Mutter ist, bei Hausaufgaben hilft, mit seinem Kind auf den Spielplatz geht oder, wenn es älter ist, einfach mal mit ihm durch die Stadt bummelt, ein Eis isst oder einen Kaffee trinkt, und dem Kind bei alledem seine ungeteilte Aufmerksamkeit schenkt? Genauso schwierig ist es, sich dann anzuhören, ob es Probleme in der Schule gibt, mit Lehrern, mit Mitschülern, ob es ihm nicht gut geht oder es, wenn doch mal irgendwelche Maleschen da sind und nicht alles geradeaus läuft, zu unterstützen und zu bestärken, ihm zu sagen: ›Hör auf dein Gefühl. Wenn du findest, dass diese Freundin nicht gut für dich ist, dass die doof über dich redet, dann nimm das nicht einfach hin.‹

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 nd das ist nicht nur bei Hebammen so. Ich denke, da müssen wir U wirklich an unserer Gesellschaft arbeiten, denn nur solche Frauen, die die Zeit und Kraft für all das haben, können selbstbestimmt und aufgeklärt Kinder kriegen« (Bauermeister, 2012, S. 52 f.). » Dabei soll doch eigentlich der Geburtenrückgang bekämpft werden, indem man den Familien Mut macht, Kinder zu bekommen. Diese mangelnde Betreuung ist dafür sicherlich nicht gerade förderlich und die von Ihnen beschriebene Erschöpfung, mit der man von der Arbeit kommt, wird da auch nicht helfen …« Frau L.: »… und dazu kommen diese ganzen prekären Arbeitsverhältnisse. Viele haben nicht mal mehr einen unbefristeten Arbeitsvertrag. Es ist fast schon blauäugig, zu sagen: ›Ach, es wird schon alles gut gehen, ich setze trotzdem Kinder in die Welt‹, wenn man nicht mal weiß, ob man in einem Jahr noch irgendwie ein Auskommen mit seinem Einkommen hat. Ich kann gut verstehen, dass sich manche dreimal überlegen, ob sie sich das überhaupt leisten können, weil Kinder nun mal definitiv eine Menge Geld kosten, ganz unabhängig von der Zeit, die man in sie investieren sollte« (Bauermeister, 2012, S. 58). »Das Problem liegt also auch beim Aufbau des Wirtschaftssystems?« Frau L.: »Auf jeden Fall. Es ist eigentlich schon ziemlich in Frage gestellt, ob der Kapitalismus wirklich das Allheilmittel ist, um den Menschen glücklich zu machen. Ich würde das mit Nein beantworten.« Frau  M.: »Das System muss sich verändern, sonst wird diese Abwärtsspirale immer weitergehen. Die Menschen werden immer kränker, unsere Kinder werden auch nicht glücklicher, und sie können nicht zu vernünftigen Erwachsenen werden, nicht unter diesen Bedingungen. Denn die Kraft aufzubringen, aus unserer Berufswelt im sozialen Bereich nach Hause zu kommen, umzuschwenken und seine Kinder vernünftig großzuziehen, ist ein Drahtseilakt« (Bauermeister, 2012, S. 61). Was die befreundeten Hebammen hier, basierend auf ihren Beobachtungen hinsichtlich des Verlustes des Körpergefühls der Mütter

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wie auch ihrer Kinder diagnostizieren, können sie auch spontan mit einem kritischen Blick auf die entfremdenden Wirkungen auf die Familienbeziehungen verbinden, die sich aus den kapitalistischen Verwertungszwängen im Arbeitsleben ergeben. Als entscheidenden Zusammenhang benennen sie die fehlende Kraft, die Freizeit mit den Kindern als Beziehungszeit zu nutzen, und die tiefe seelische Erschöpfung am Feierabend als eine Folge der den Eltern geraubten Zeit im Prozess der Arbeitsverdichtung. Wie bereits Karl Marx aufzeigen konnte, ist die Beschleunigung der Produktion unter dem kapitalistischen Konkurrenzdruck ein Überlebensgebot, unter dem die Arbeitszeit verdichtet wird, um in immer kürzerer Zeit den Gegenwert der Arbeitskraft zu schaffen und somit den relativen Mehrwert zu erhöhen (vgl. Marx, 1867/1972, S. 531 ff.). Unter diesem Druck wird auch der Sinn von »Freizeit« als selbstbestimmter Zeit der Muße in der Tendenz ähnlich obsolet wie der Begriff »Feierabend«, denn die Freude am Feiern kann sich zunehmend weniger einstellen. Um Mehrwert zu generieren, der dann an den Börsen in Spekulationskapital mit häufig zunehmend schwindendem Bodenkontakt zur Realwirtschaft verwandelt wird, mussten auch die Krankenhäuser in Wirtschaftsbetriebe umorganisiert werden. Die fatalen Folgen der Verdichtung der Arbeitszeit beschreiben die Befragten sehr klar und kommen so, auch ohne Marx zu kennen, zu einer grundsätzlichen Systemkritik. Wie aktuell das Leiden an der Zeitnot in privatisierten Kliniken ist, zeigt ein 2019 in der Hildesheimer Lokalzeitung veröffentlichter Bericht über die Gefahr von Alleingeburten in freier Natur – weit abseits der Mauern der durchrationalisierten Gebärinstitutionen. Die Autorin Irene Habich begründet diesen waghalsigen Trend mit dem Zeitdruck beim Geburtsprozess, dem sich auch professionelle Hebammen nicht entziehen könnten, um den Müttern eine entspannte Geburt zu ermöglichen. »Die Stationen sind mit zu wenigen Hebammen besetzt, und die sind dann meist sehr gestresst. Das führt auch bei den Frauen zu Stress und Verunsicherung«, wird eine Hebamme aus Mainz zitiert. »Unter Anspannung hätten Gebärende stärkere Schmerzen und bekämen dadurch mehr Schmerzmittel verabreicht als eigentlich nötig. Wenn eine Geburt nicht schnell genug gehe, würden außerdem zu früh Wehen fördernde Mittel verabreicht.

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[…] Der natürliche Geburtsvorgang werde durch die unnötigen Eingriffe pathologisiert, findet die Hebamme – ein Argument, das auch viele Alleingebärende vorbringen«, fasst Habich den Bericht der Hebamme zusammen (Habich, 2019, S. 33). Lieber ohne alle Unterstützung in der freien Natur gebären, als sich dem quälenden Zeitdruck in den Spezialabteilungen der privatisierten Kliniken aussetzen. So weit ist es schon gekommen!

Die Weitung des Blicks auf gelebte transformative Strukturen in Tansania Wo gibt es Auswege? An den Arbeitsbedingungen in vielen deutschen Kliniken scheint sich trotz der zunehmenden Wahrnehmung dieser Problematik in Politik und Öffentlichkeit seit der Entstehung dieser Interviews in den Jahren 2010–2012 nichts Wesentliches geändert zu haben. In etlichen Krankenhäusern und Altersheimen scheinen die Defizite in der Pflege eher noch gravierender geworden zu sein, wie ich aus persönlichen Gesprächen mit den Pflegekräften und den Angehörigen von Patienten entnehmen kann, die ich in den Folgejahren führte. »Die Kommerzialisierung des Gesundheitssystems hat zu einer Arbeitsverdichtung geführt, die die Patientenversorgung und die Gesundheit der Ärzte gefährdet«, war denn auch der Tenor einer diesem Problem gewidmeten Tagung der Bundesärztekammer im November 2018 (Osterloh, 2018, S. A-2211). Blicken wir nach Tansania: Ein Zukunftsmodell gelebter Beziehungszeit in einem weitgehend autonomen System bleibt das vom ersten, 1961 angetretenen Präsidenten Julius Nyerere beschriebene »Dorf der Zukunft«. Es ist die Vision eines Lebens in stabilen Großgemeinschaften, den »ujamaa«. Dieser Swahili-Begriff wurzelt in einer Tradition des Arbeitens und Produzierens der Feldfrüchte, die sich an den Bedürfnissen des Stammes, der Großfamilie orientierte und eine ganz andere Zielsetzung beinhaltete als die Lohnarbeit im industrialisierten globalen Norden. Arbeit im dörflichen Kontext war sinnvoll, wenn sie gemeinsam verrichtet wurde. Vor der Kolonialisierung wurde nicht für Geld und Lohn gearbeitet, es mussten keine Gewinne um ihrer selbst willen erwirtschaftet werden, sondern es sollte so viel erwirtschaftet werden, wie es für ein sinn-

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volles Leben der Bezugsgruppe notwendig war. Häufig hatte dafür die Praxis der Subsistenzwirtschaft ausgereicht. Nyerere erkannte freilich, dass die Subsistenzwirtschaft dem Bedarf der wachsenden Bevölkerung auf dem Land und vor allem auch der Versorgung der städtischen Bevölkerung mit heimischen Produkten immer weniger genügen würde. Deshalb wollte er die dörflichen Strukturen in einer Weise verändern, dass die agrarische Produktion dem wachsenden Nahrungsmittelbedarf entsprechen konnte. Das Flächenland Tansania sollte nicht mehr auf den Import von Agrarprodukten angewiesen sein, sondern in die Lage versetzt werden, selbst Nahrungsmittel zu exportieren. Die Umsetzung von Nyereres Modell scheiterte wohl vor allem, weil es dem Zeitdruck und der Konkurrenz von Seiten der Märkte des globalen Nordens keine geschützte eigene Entwicklungszeit entgegensetzen konnte. Folgerichtig beendete die Schuldenkrise 1985 das von Nyerere vorangetriebene Dorfentwicklungsprogramm. Hätte es sich ohne den äußeren Druck der globalen Märkte umsetzen lassen? Unsere tansanischen Gesprächspartner – Lehrerinnen und Lehrer, Nonnen und Priester – halten dies für möglich. Je mehr ins Bewusstsein kommt, dass der dem Kapitalismus inhärente Wachstumszwang die natürlichen Ressourcen der Erde übernutzt und das Klima so verändert, dass er die Lebensgrundlagen der nachfolgenden Generationen untergräbt, gewinnen Gesellschafts- und Wirtschaftsmodelle an Aufmerksamkeit, die eine Abwehr dieser tödlichen Bedrohung ermöglichen könnten. Ein intensives Nachdenken darüber verbreitet sich auf der ganzen Welt. In Afrika besteht der Vorteil, dass in den ländlichen Regionen, die noch nicht durch Terror und kriegerische Auseinandersetzungen destabilisiert sind, die Ressource Zeit als offene Beziehungszeit zu den Nachbarn, aber auch zum Boden, der sorgsam mit einfachen Geräten bearbeitet wird, noch nicht durch Verdichtung zerstört worden ist. Daher ist die Frage, was heute von Nyerere zu lernen ist, für viele Menschen in Tansania, die sich für die Zukunft ihres Landes verantwortlich fühlen, sehr bedeutungsvoll (vgl. Seitz, 2015).

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Dorfentwicklung als transformative Bildung im Kontext einer zukunftsfähigen Gesellschaft Der Gedanke der Transformation zu einer zukunftsfähigen Entwicklung setzt eine grundlegende Revision alter Modelle von Entwicklungshilfe für den globalen Süden voraus, die von einer Überlegenheit der Nationen des globalen Nordens ausgingen. Dieser weltweite Transformationsprozess muss als gemeinsame Veränderung der Wirtschaft und Gesellschaft in Nord und Süd, Ost und West gedacht werden. Die Transformation zu einer nachhaltigen Weltgesellschaft fordert vor allem auch die Bildung heraus, die sich in erster Linie als »transformative Bildung« begreifen sollte. Wie der Bildungswissenschaftler Klaus Seitz überzeugend ausführt, muss diese sozial-ökologische Transformation als »ein wissensbasierter gesellschaftlicher Suchprozess« begriffen werden, denn »eine Blaupause für ein Gesellschaftsmodell, dem es gelingt, den Schutz natürlicher Lebensgrundlagen mit der Verwirklichung eines guten Lebens zu versöhnen«, sei noch nicht in Sicht (Seitz, 2015, S. 13; vgl. auch Bauermeister et al., 2018, S. 56 ff.). In diesem Sinne kann Seitz die Notwendigkeit ganz neuer Paradigmen einer transformativen Bildung zusammenfassend wie folgt begründen: »Denn die Krise der Weltentwicklung ist auch Ausdruck einer Lernkrise. Transformative Bildung beginnt daher mit Bildungskritik: Die Lernund Bildungsprozesse, die die mentalen Voraussetzungen für eine nicht nachhaltige Entwicklung schaffen, gilt es zu überwinden« (Seitz, 2015, S. 13 f.). Im Gespräch mit unseren tansanischen Partnerinnen und Partnern können wir solche Schritte zu einer nachhaltigen Dorfentwicklung ganz konkret an der sozialen und ökonomischen Entwicklungsarbeit in Lekrimuni erfahren. Wenn wir die »Zuwendungsarbeit« in »unserem« Krankenhaus dort wahrnehmen, spüren wir, dass die Zeit der Besucherinnen und Besucher, die sie mit ihren kranken Angehörigen verbringen, nicht nur die physischen Wunden, sondern auch die Seele heilt. Wir können aber auch die Suchprozesse der Einwohner von Lekrimuni nach einem »guten Leben« begleiten und sie durch ökonomische Hilfe für den Bau eines Gästehauses, das auch Kurse zur Dorfentwicklung anbieten wird, vor Ort unterstützen.

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Von dem Mut der Menschen in Lekrimuni, die bereit sind, überholte Lebensformen hinter sich zu lassen und tradierte Rollenmuster zu transformieren, können wir lernen! Und durch dieses Lernen ergibt sich ein anderer, verwandelter Blick auf manches, was uns im täglichen Leben als notwendig und erstrebenswert erscheint. Was brauchen wir wirklich? Für was wollen wir einstehen? Und wenn es für ein sinnvolles Leben auf der einen gemeinsamen Erde zu kämpfen gilt – wer sind unsere Bundesgenossen? (Bauermeister et al., 2018, S. 59 f.) Und wie steht es mit dem Wissen der gleichaltrigen Schülerinnen und Schüler an der Karansi Secondary School um die Schattenseiten der »imperialen Lebensweise« (vgl. Brand u. Wissen, 2017) – die Einsamkeit, den Konkurrenzdruck und die Entfremdung, die solch ein Leben in den reichen Gesellschaften des globalen Nordens mit sich bringen? Ihre Smartphones zeigen ihnen die glatt polierte Oberfläche der Warenwelt des globalisierten Kapitalismus! Würden diese tansanischen Jugendlichen zu einer kritischeren Einstellung finden, wenn es uns gelänge, die Studienfahrten nach Hildesheim zu einem Austauschprogramm zu erweitern? Wären einige Tage Aufenthalt in einer freundlichen Gastfamilie, in der es an nichts zu fehlen scheint, genug, um diese Lebensweise kritisch zu hinterfragen? Was könnte den Blick unserer Gäste schärfen? Sollten wir mit ihnen eine der privatisierten Kliniken besuchen, in der unsere Interviewpartnerinnen arbeiten? Würden sie nicht auch bei solch einer Führung zunächst nur die glänzende Oberfläche der Gerätemedizin und der besser ausgestatteten Krankenzimmer wahrnehmen? Wir brauchen jemanden, der unsere Interviews übersetzt: eine SwahiliÜbersetzung des »Gesprächs mit zwei Hebammen zur Nachtzeit«! An dieser Stelle möchte ich noch Roman Kirk herzlich danken, ohne dessen Initiative die hier wiedergegebenen Interviews mit in privatisierten deutschen Krankenhäusern Arbeitenden nicht zustande gekommen wären und dem daher auch ein wesentliches Verdienst am Zustandekommen dieses Beitrags zukommt.

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Literatur Bauermeister, C. M. (Hrsg.) (2012). Sehnsucht nach Wahrheit. Schüler befragen ihre Region und begreifen die Welt. 55 Interviews der Alfelder Initiative »Geld und Leben«. Alfeld/Leine: Leinebergland. Bauermeister, C. M., Reisener, M., von der Recke, K., Redlin, M., Mounajed, R. (Hrsg.) (2018). Lernen im Massaidorf Lekrimuni. Lokale Projekte. Globale Visionen. Hildesheim: Robert-Bosch-Gesamtschule. Brand, U., Wissen, M. (2017). Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus. München: oekom. Habich, I. (2019). Die Gefahr von Alleingeburten. Hildesheimer Allgemeine Zeitung, 19.01.2019. Marx, K. (1867/1972). Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1: Der Produktionsprozess des Kapitals. Marx-Engels-Werke, Bd. 23. Berlin: Dietz. Osterloh, F. (2018). Patientenversorgung unter Druck: Gegen die Kommerzialisierung. Deutsches Ärzteblatt, 115 (48), A-2211. Seitz, K. (2015). Transformation als Bildungsaufgabe. Forum Loccum. Das Magazin der Evangelischen Akademie Loccum, 34 (3), 9–15.

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 Die Sicht des Gesundheitssystems

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Experteninterviews mit Repräsentanten des Gesundheitssystems »Was würde wohl passieren, wenn wir Feuerwehr und Polizei nur noch nach Fällen bezahlen?« Interview mit Dr. Jonas Niemann Hausarzt und Autor des Buchs »Patient Krankenhaus –  Dr. Faber hat Dienst« (2018) Prof. Scherer:  Sie sind Autor des Buches »Patient Krankenhaus – Dr. Faber hat Dienst«. Das ist ein packender Roman über einen jungen Arzt, der 24 (eigentlich 26) Stunden am Stück durch die Klinik rennt. Jedes Kapitel ist mit einer Uhrzeit überschrieben. Können Sie für Menschen, die das Buch nicht gelesen haben, in groben Zügen erzählen, was Dr. Faber dort erlebt? Dr. Niemann:  Der Protagonist ist Assistenzarzt in der Inneren Medizin in einem deutschen Krankenhaus. Er absolviert dort einen 24-Stunden-Bereitschaftsdienst. Der rote Faden des Buches ist dieser Dienst. Das Buch beginnt morgens um 10 Uhr und endet am nächsten Morgen um 10 Uhr – etwa. Das Buch, das im Jeetzelbuch-Verlag erschienen ist, kann stellvertretend gelten für die Arbeit in einem deutschen Krankenhaus und kann auf jede Klinik dieses Landes übertragen werden. Nach einer meiner letzten Lesungen kam ein sehr erfahrener Chefarzt zu mir und sagte, man könne dieses Buch sogar auf das Ausland übertragen, denn in Amerika und England habe er genau solche Dienste erlebt. Viele Rückmeldungen von Nichtmedizinern lauteten: Nach der Lektüre dieses Buches würde man die Abläufe im Krankenhaus besser verstehen. Dieses Buch ist also exemplarisch und übertragbar. Die Leser bekommen einen Eindruck von der Arbeit in einem Bereitschaftsdienst. Ärztliche Bereitschaftsdienste variieren natürlich von Krankenhaus zu Krankenhaus. In größeren Krankenhäusern mit vielen Statio-

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nen, Klinikbetten und Patienten gibt es in der Regel mehrere Bereitschaftsdienstärzte, in kleineren Krankenhäusern nicht selten nur einen Diensthabenden. In dem Buch, das ich geschrieben habe, versorgt Dr. Faber die Intensivstation und die peripheren Stationen, also die Normalstationen, und, als sein Kollege mit dem NEF (»Notarztwagen«) ausrücken muss, zusätzlich auch noch die Notaufnahme. In diesem Buch kommt alles vor, was in einem Dienst stattfindet: lustige Geschichten, ernste Geschichten, entsetzliche Geschichten. Einige Vorkommnisse sind sehr traurig, manche Vorgänge banal. Einige Kollegen kommentierten das Buch mit den Worten: »Das ist ja, als würdest du mit der Kamera mitlaufen.« Viele Episoden in dem Buch kann man auf die Gesellschaft und das Berufsleben allgemein übertragen. Es ist in diesem Sinne exemplarisch für die heutige Zeit. Das heißt: Es geht Schlag auf Schlag. Der Protagonist stolpert kafkaesk durch das Krankenhaus, rennt einem Fall nach dem anderen, einer Anforderung nach der anderen hinterher. Wie in einem Hamsterrad. Ständig werden Erwartungen an ihn herangetragen, neue Aufgaben, die er zu erledigen hat. Wie in einer Mühle, die sich dreht. Und der Protagonist ist in dieser Mühle. Prof. Scherer:  Und in diese Mühle würde ich gern einmal mit Ihnen hineinleuchten. Die Zeit ist ja ein strukturierendes Element Ihres Buches, von Buchdeckel zu Buchdeckel 24  Stunden. Dann die einzelnen Kapitel, wie gesagt, mit Uhrzeiten überschrieben. Der Protagonist rennt gehetzt von Fall zu Fall. Das Beeindruckende ist, er geht kaum aufs Klo, er genießt die 13 Betonstufen im Treppenhaus, und er isst, glaube ich, sehr spät, und irgendwann in der Nacht schläft er ganz kurz. Das heißt, die persönlichen Bedürfnisse werden zurückgestellt. Inwiefern illustriert dieses Buch den Zeitdruck und den Beschleunigungsdruck der medizinischen Versorgung? Dr. Niemann:  Es illustriert diesen Zeitdruck, den Beschleunigungsdruck absolut. Ich würde fast sagen, es versucht diesen Beschleunigungsdruck darzustellen, und der ist in der Realität sogar noch stärker, als das im Buch zum Ausdruck kommt. Prof. Scherer:  Können Sie das an ein paar Beispielen festmachen?

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Dr. Niemann:  Dass der Zeitdruck existiert oder dass dieser heutzutage sogar noch stärker ist? Prof. Scherer:  Vielleicht am Beispiel von Dr. Faber. Dr. Niemann:  Dann nehmen wir die Sequenz »Notaufnahme«, die ab 16 Uhr beginnt. Zu diesem Zeitpunkt gehen die internistischen Kolleginnen und Kollegen nach Hause, und Dr. Faber bleibt als diensthabender Arzt übrig. Er ist nun für alle internistischen Patienten der Klinik zuständig. Dazu gehören die peripheren Stationen, die Intensivstation und in dieser Sequenz auch noch die Notaufnahme. Und dort kommen Schlag auf Schlag Notfälle an. Der Protagonist muss in Sekundenschnelle Entscheidungen treffen, Diagnosen stellen, Behandlungen festlegen. Im Minutentakt muss er einschätzen, welcher Patient am gefährdetsten ist, wer als Erster sterben könnte. Es geht Knall auf Fall, die Schlagzahl ist hoch: Das ist eine typische Sequenz. Dr. Faber rennt nur hinterher. Personal, das ihn unterstützen könnte, ist fast nicht da. Das Pflegepersonal gibt sein Bestes, doch die Pfleger sind völlig überlastet. Am Pflegepersonal wurde drastisch gespart und gekürzt. Prof. Scherer:  Jetzt heißt ihr Buch: »Patient Krankenhaus«. Was ist denn das Kranke an der Institution Krankenhaus? Dr. Niemann: Das Kranke ist, dass es nicht mehr funktioniert. Der Patient ist aus dem Fokus verloren gegangen, und viele Patienten haben inzwischen keine guten Erfahrungen im Krankenhaus gemacht. In der Medizin herrscht ein wirtschaftlicher Druck. Das Patientenwohl steht nicht mehr im Mittelpunkt, sondern ein bestimmtes Umsatz- und Renditeziel. Es geht nicht mehr in erster Linie darum, den Patienten gut zu versorgen, sondern darum, einen wirtschaftlichen Gewinn zu erzielen oder den Anforderungen von Aktionären, Auftraggebern, Klinikbetreibern usw. gerecht zu werden. Krankenhäuser haben eigentlich eine ganz wichtige Funktion in unserem Gesundheitssystem, historisch gesehen sie sind eine Errungenschaft. Krankenhäuser springen dort ein, wo die ambulante Versorgung an ihre Grenzen stößt. Auf Intensivstation und im OP wird hervorragend gearbeitet und manchmal schier Unglaubliches geleistet. Die Idee eines »Hauses für Kranke«, in

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dem mehrere Disziplinen, bestehend aus Fachleuten mit hoher Expertise, gemeinsam Patienten behandeln, ist eine phantastische. Dass Ärzte, Pfleger, MTAs, Röntgenassistenten, Mitarbeiterinnen im Labor, in den verschiedenen Funktionsuntersuchungen, in der Küche, beim Krankentransport – ich hoffe, ich vergesse niemanden – an einem Strang ziehen und das Beste für den Patienten wollen, ist ein hohes Gut, das es zu verteidigen gilt. Allerdings ist die Institution Krankenhaus selbst zum Patienten geworden, weil sie sich bestimmten Zwängen, Sachzwängen, wirtschaftlichen Zwängen unterworfen hat, unterworfen wurde durch die Vorgaben der Politik. Mein Buch ist jedoch kein Abgesang auf die deutschen Krankenhäuser. Es legt vielmehr den Finger in die Wunde. Es soll aufrütteln, Eingeschliffenes hinterfragen, Defizite aufzeigen. Vergleichbar mit einem medizinischen Debridement, bei der eine chronische Wunde erneut chirurgisch angefasst, ausgeräumt, gesäubert und schließlich saniert wird. Damit es zu einer Heilung kommen und der »Patient Krankenhaus« genesen kann. Jeder muss dafür bereit sein, sich zu hinterfragen: Die Politik, gibt sie die richtige Richtung vor? Die Klinikbetreiber, die den Patienten aus dem Auge verloren und die Rendite in den Fokus genommen haben. Die Patienten, die oft sehr anspruchsvoll geworden sind und mit zu hohen Erwartungen im Krankenhaus aufschlagen. Und natürlich die Krankenhausangestellten, allen voran die Ärzte, die sich an die eigene Nase fassen und sich im Kant’schen Sinne fragen sollten: Habe ich die Patienten so behandelt, wie ich auch selbst behandelt werden möchte? Handle ich empathisch genug? Deshalb gilt es den Ist-Zustand zu konstatieren, die Ursachen zu analysieren und anschließend die Situation mit aller Kraft und Anstrengung zu verbessern, um wieder das zu erlangen, was eigentlich oberste Prämisse sein sollte, nämlich dem Patientenwohl zu dienen und nicht Aktionären oder irgendwelchen betriebswirtschaftlichen Vorgaben. Prof. Scherer: Es geht Ihrer Ansicht nach also eigentlich um Rahmenbedingungen, innerhalb derer es schwer möglich ist, dem einzelnen Patienten gerecht zu werden?

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Dr. Niemann: Exakt. Prof. Scherer: Dennoch vollbringt Dr. Faber diesen Spagat. Wenn man das Buch liest, man ist ja von Dr. Faber als Arzt auch irgendwie beeindruckt, weil er es doch ganz gut macht. Dr. Niemann: Das stimmt. Dr. Faber versucht trotz der 24-Stunden-Arbeit, trotz des Ausgelaugtseins, trotz des permanenten Zurückstellens der eigenen Bedürfnisse immer empathisch zu sein, die Patienten wahrzunehmen und für sie das Beste zu tun. Prof. Scherer: Ich möchte auf die von Herrn Dr. de Ridder verfasste Einleitung zu Ihrem Buch zu sprechen kommen. Da kommt ein Satz vor, der ist mir im Gedächtnis hängengeblieben: dass vieles ja schon im Studium gebahnt wird, dass das Studium auf das wissenschaftliche Denken fokussiert, auf Unvoreingenommenheit und Distanz zu seinem Gegenstand, nämlich dem Patienten, und dass im Zentrum der Lehr- und Lerninhalte die Aneignung anatomischer und pathophysiologischer, biochemischer Gegebenheiten und Prozesse steht. Und dass zwangsläufig die Aufmerksamkeit und die Begeisterung der Studenten auf die Krankheit gelenkt werden, aber weniger auf den kranken Menschen in seiner leidenden Ganzheit. Hier liegt, sagt Herr Dr. de Ridder, der Keim der Abhärtung des Arztes gegen seine natürlichen empathischen Regungen, der Entfremdung von sich selbst. Inwiefern ist das jetzt eine Persönlichkeitsfrage? Dr. Faber, der beeindruckende Protagonist, wuppt es ja irgendwie, der schafft es. Aber wir haben auf der einen Seite individuelle Komponenten, Persönlichkeitsaspekte, wir haben vielleicht das Studium, dass das irgendwie bahnt, und dann die Rahmenbedingungen: Patient Krankenhaus. Deshalb die Frage: Was sind Ihrer Meinung nach die Hauptfaktoren dafür, dass die Empathie verloren geht? Dr. Niemann: Bevor ich dazu etwas sage, noch einmal zurück zu den Rahmenbedingungen und dem Patienten Krankenhaus. In den 2000er Jahren wurde das DRG-Abrechnungssystem im Krankenhaus zu einem Fallpauschalensystem umgestaltet. Als Folge kam es in den letzten zwanzig Jahren zu einem Anstieg der Fallzahlen um 30 Prozent und zu einem Absinken der Liegedauer um 50 Prozent. Man hat also die Betriebswirte in die Krankenhäuser geholt, um nun verwundert festzustellen, dass diese ziemlich effizient ihre

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Arbeit gemacht haben. Auf dem Rücken von Alten, Kranken, Gebrechlichen und Kindern sollte jedoch kein Geld verdient werden – genau darauf zielt das derzeitige Abrechnungssystem im Krankenhaus jedoch ab. Beim Abrechnungssystem in den Krankenhäusern bedarf es dringend einer Korrektur. Etwas überspitzt möchte ich zu folgendem Gedankenexperiment einladen: Was würde wohl passieren, wenn wir in Deutschland Feuerwehr und Polizei privatisieren und nur noch nach Fällen bezahlen würden? Nun, die Anzahl der Einbrüche und Brände würde steigen! Denn genau das ist im Gesundheitssystem in Deutschland passiert. Mit dem medizinischen Fortschritt steigt erfreulicherweise die Lebenserwartung, und mit zunehmendem Alter werden Krankheiten wahrscheinlicher, das ist mir durchaus bewusst. Das Ansteigen der Fallzahlen jedoch ist in erster Linie ein Produkt des Abrechnungssystems. Die Steigerung der Fallzahl bei gleichzeitig sinkender Verweildauer hat natürlich enorme Auswirkungen auf die Arbeitsbelastung im Krankenhaus. Untersuchungen, die zuvor innerhalb einer Woche durchgeführt wurden, müssen nun innerhalb weniger Tage stattfinden. Der Arbeitsprozess der Pflegekräfte und Ärzte verdichtet sich zunehmend, am Tag wie auch bei Nacht. Und es hat Auswirkungen auf die Patienten, die durch das Krankenhaussystem regelrecht durchgeschleust werden. Wir haben es also mit einer Verdichtung des Arbeitsprozesses zu tun, die auf dem Rücken der Arbeitnehmer und der Patienten ausgetragen wird. Am Beispiel der Appendizitis, im allgemeinen Sprachgebrauch also der Blinddarmentzündung, bedeutet das: Früher haben die Leute damit eine Woche lang im Krankenhaus gelegen, heute nur noch drei Tage. Und wenn Sie in einer Woche zwei Blinddarmentzündungen im gleichen Bett behandeln, bekommen Sie also das Doppelte an Geld. Das ist der Hintergrund. Es interessiert nicht, ob das die Blinddarmentzündung eines Achtzigjährigen ist. Es wird nicht berücksichtigt, ob der Achtzigjährige zu Hause versorgt wird, ob es Angehörige gibt, die sich kümmern. Es wird nur noch der Fall gesehen, nicht mehr die Umstände vorher, hinterher. Das muss sich ändern. Zu den Problemen in der ambulanten Versorgung sage ich später noch

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etwas, denn im Krankenhaus wird offenbar, dass auch im ambulanten Bereich enorme Defizite existieren. Sie haben gerade gesagt, der Protagonist schafft es. Wenn man es genau beleuchtet, trifft das zwar für den Dienst zu, aber bezogen auf das, was Sie eben zitiert haben, was Herr Dr. de Ridder über das Medizinstudium sagt, muss man die Frage stellen: Schafft er es wirklich oder erfüllt er nur die Bedingungen des Hamsterrads? Schafft er es vielleicht nur oberflächlich? Müsste man nicht eigentlich mehr in die Tiefe gehen und sagen: Moment mal, wieso macht er das überhaupt mit? Warum stellt er sich dem nicht entgegen und sagt: Stopp! So nicht! Wie das im Buch ja auch vorkommt, in der Mitte ungefähr, als sich Dr. Faber dem chirurgischen Oberarzt Dr. Krass entgegenstellt und sagt: Stopp mal eben! Und ihn zur Rede stellt und sagt: Dieses Vorgehen hier kann ich so nicht akzeptieren. Wie gehen Sie mit der Patientin um, der Sie an den Kopf knallen, dass sie Krebs hat? Das ist aber sowohl im Buch als auch in der Krankenhausrealität eine absolute Ausnahme. Denn Dr. Faber ist selbst ein Produkt des Medizinstudiums, des Erlernten, nämlich der Entfremdung von sich selbst, wie Herr Dr. de Ridder sagt. Die eigenen Bedürfnisse komplett zurückstellen, um etwas zu schaffen, was an sie herangetragen wird, um möglichst gut eine Aufgabe zu erfüllen, etwas zu leisten, das können Medizinstudenten. Das sind Einserkandidaten, die schaffen das, und zwar richtig gut. Es gibt ja diesen blöden Witz mit dem Telefonbuch: Bekommt ein Medizinstudent ein Telefonbuch vorgelegt. Und er antwortet: »Bis wann?« Er fragt also nicht: »Was soll ich damit? Wozu benötigen Sie welche Nummer?« Sondern er fragt wie selbstverständlich, bis wann er es auswendig gelernt haben soll. Medizinstudenten sind sehr leistungsfähige Leute. Aber da muss man schon die Frage stellen: Ist es nur das, was wir benötigen? Oder brauchen wir vielleicht auch etwas anderes? Brauchen wir vielleicht Tiefe? Brauchen wir das Hinterfragen, brauchen wir eigenständiges Denken, eigenständige Meinungen? Auch mal den Mut, »Nein« zu sagen? Und das, würde ich sagen, macht Dr. Faber zu wenig. Prof. Scherer: Dennoch ist es beeindruckend, dass er sich da wirklich dem chirurgischen Oberarzt entgegengestellt hat. Und

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da sind Sie, glaube ich – und der Roman hat autobiografische Anteile, wie ich von Ihnen weiß – auch mehrfach gefragt worden: War das wirklich so, ist Ihnen das wirklich so damals passiert? Dr. Niemann: Ja, das ist definitiv so. Als ambulanter Kollege höre ich das inzwischen von Patienten sehr häufig, dass diese Kommu­ nikationsweise immer noch gang und gäbe ist. Prof. Scherer: Aber ist es wirklich passiert, dass sich Dr. Faber alias Jonas Niemann dem Oberarzt entgegengestellt hat? Dr. Niemann: Das ist passiert. Prof. Scherer: Wie viel Prozent des Buches – vielleicht wollen Sie es auch nicht sagen, ich frage trotzdem – sind autobiografischer Natur? Dr. Niemann: Der Großteil, sage ich mal. Es ist natürlich pseudonymisiert und anonymisiert, damit sich niemand wiedererkennt. Aber es ist passiert. Vielleicht nicht genau eins zu eins, aber so hätte es definitiv sein können oder so ist es eigentlich gewesen. Prof. Scherer: Wie viel hat das, was in diesem Buch passiert ist, damit zu tun, dass Dr. Jonas Niemann nicht mehr im Krankenhaus arbeitet, sondern auf dem Land? Würden Sie sagen, diese Erfahrungen, die in Ihrem autobiografischen Roman niedergelegt sind – im Grunde genommen ist es das, was Ihnen das Krankenhaus verleidet hat, und deshalb sind Sie ambulant tätiger Allgemeinmediziner geworden? Dass Sie praktisch mit einem Fingerzeig auf das Buch sagen können: Und deshalb bin ich gern Hausarzt in einem anderen Setting? Dr. Niemann: Also ja und nein. Ich bin eher durch einen Zufall Hausarzt geworden: Ich setzte mich damals mit der für die Region, in der ich heute lebe, zuständigen KV in Verbindung und erzählte, dass ich in der Facharztausbildung zum Internisten stecke, noch circa ein Jahr benötige und gern in die Region ziehen würde. Auf die Frage, welche Ärzte in der Region benötigt werden, lautete die knappe Antwort: »Internisten nicht.« Sondern Hausärzte. Also bin ich dann Hausarzt geworden. Der Grund für mich, überhaupt nach einer Alternative zur Klinik Ausschau zu halten, waren jedoch diese Bereitschafts- und Nachtdienste. Sie müssen sich das einmal vor Augen führen: Wenn man alles zusammenrechnet, habe ich in fünfeinhalb Jahren Weiter-

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bildungszeit ungefähr ein Jahr lang nicht geschlafen! Ein Jahr einfach durchgearbeitet. In fünfeinhalb Jahren habe ich in über 300 Bereitschaftsdiensten mehr oder weniger 24 Stunden am Stück gearbeitet, mit höchstens zwei Stunden Schlaf. Und das zehrt an den Kräften, das macht einen fertig. Deswegen habe ich irgendwann gesagt, das kann ich mit Familie auf Dauer nicht durchhalten. Das ist der Grund gewesen, den Dienst in der Klinik zu quittieren, deswegen habe ich mich nach einer Alternative umgeguckt. Das Buch ist bitte nicht als Abrechnung mit den Kliniken zu verstehen. Es heißt im Untertitel nicht »Dr. Faber packt aus«, sondern »hat Dienst«. Es ist keine Abrechnung, sondern eine Beschreibung der Verhältnisse, so wie es sinngemäß bei Brecht heißt: Wir müssen erst den Sozialismus beschreiben, bevor wir ihn verändern können. Das Buch beschreibt auch keine Utopie. Ich zeige nicht auf: So wäre es besser. Nein, ich frage erstmal: Wie ist es denn? Prof. Scherer: Eine Skandalisierung wollen wir auch auf keinen Fall, sondern wir wollen die Problematik zuspitzen auf das Thema Beschleunigung und Zeitdruck. Wenn Sie die frühere Situation mit Ihrer ambulanten Tätigkeit vergleichen, auch im Hinblick auf Beschleunigung und Zeitdruck: Inwiefern geht es da, wo Sie jetzt arbeiten, anders als Schlag auf Schlag? Dr. Niemann: Nun, auch hier herrscht ein Beschleunigungs- und Zeitdruck. Und natürlich greifen stationärer und ambulanter Sektor ineinander. Das Beispiel der Blinddarmentzündung bei einem alten Menschen habe ich schon genannt. Natürlich betrifft es mich als Hausarzt, wenn ich im Falle einer Altersappendizitis bei einem achtzig Jahre alten Menschen, der keine Angehörigen mehr hat, weil sie der Landflucht folgend nicht mehr da sind, der einzige Mensch bin, der diesen Patienten versorgt. Vielleicht guckt manchmal noch eine Nachbarin vorbei, aber das war es häufig dann auch schon. Es betrifft mich, wenn dieser Patient nicht nach sieben Tagen entlassen wird, sondern schon nach drei Tagen, wenn es darum geht, die Wunde zu beurteilen. Vielleicht ist er auch bereits pflegebedürftig, dann haben wir zumindest den Pflegedienst mit im Boot, sofern es dort genug Personal gibt. Die

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medizinischen Probleme jedoch werden bei Pflegebedürftigen eher mehr als weniger. Also bin ich als Hausarzt unmittelbar davon betroffen, wie die Situation im Krankenhaus ist. Umgekehrt gilt das natürlich auch: Krankenhäuser sollen auffangen, was in der ambulanten Versorgung schiefläuft, doch damit sind sie häufig überfordert. Die Probleme nur in den Krankenhäusern zu suchen, greift zu kurz. Ähnlich wie bei einem Dachstuhl, der zum fünfzehnten Mal an derselben Stelle bricht, nützt es nichts, zum sechzehnten Mal an dieser Stelle einen Balken auszutauschen. Die ganze Statik des Dachstuhls muss in Augenschein genommen und an den richtigen Stellen korrigiert werden. Analog gilt das für das deutsche Gesundheitssystem: Nicht nur die Bedingungen in der stationären, sondern auch in der ambulanten Versorgung bedürfen einer Korrektur. Wir haben in Deutschland einen relativen Ärztemangel, keinen absoluten. Tatsächlich arbeiten in Deutschland so viele Ärzte wie noch nie. Aber wir haben ein Verteilungsproblem, so dass Ärzte in bestimmten Regionen unseres Landes fehlen: auf dem Land und in den schlecht situierten Stadtteilen. Die ärztliche Versorgung gleicht eigentlich einer Pyramide. Die unterste Stufe bilden die Hausärzte, sie arbeiten an der Basis. In der nächsten Stufe folgen die Fachärzte und in der obersten Stufe die Kliniken. Die unterste Stufe bildet epidemiologisch den so genannten Niedrigprävalenzbereich ab. Die Vortestwahrscheinlichkeit für bestimmte Krankheiten ist niedrig. Neben der hausärztlichen Versorgung an der Basis ist es die Aufgabe der Hausärzte, diejenigen Patienten aus dem so genannten »unselektierten Patientengut« herauszufiltern, die weiter beim Facharzt oder gar im Krankenhaus behandelt werden müssen. Nun ist die Situation in Deutschland jedoch so, dass sich in den nächsten zehn Jahren rund ein Drittel der Hausärzte, je nach Quelle variiert diese Zahl zwischen »nur 20 Prozent« bis »sogar 50 Prozent«, in den Ruhestand verabschieden. Ausreichend Ersatz ist nicht in Sicht. Der in bestimmten Regionen bereits bestehende Hausarztmangel wird sich also noch massiv verschärfen. Die Folgen sind bereits heute zu spüren: Patienten überspringen die unterste Stufe und gehen direkt zum Facharzt oder gleich ins Krankenhaus. Auf Facharzt-

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termine warten Patienten deshalb bereits jetzt mehrere Monate, und die Notaufnahmen der Krankenhäuser sind gnadenlos überfüllt. Die Pyramide der ärztlichen Versorgung wird zunehmend auf den Kopf gestellt. Zwischen der ambulanten und der stationären Versorgung besteht also eine Wechselwirkung, eine sektorenübergreifende Versorgung wäre deshalb wünschenswert. Auch in meiner Praxis ist – dem allgemeinen gesellschaftlichen Trend folgend – der Erwartungsdruck hoch. Vieles soll am besten innerhalb von 24 Stunden geklärt werden, die Patienten möchten sofort behandelt werden. Es herrscht eine Ungeduld in der Gesellschaft, die auch ich zu spüren bekomme. Dabei steht dieser Zeitdruck der hausärztlichen Arbeitsweise diametral entgegen. Denn wir befinden uns im hausärztlichen Bereich nun mal im Niedrigprävalenzbereich. Wir müssen »abwartend offenhalten«, wie der Fachterminus dafür heißt. Ganz häufig können wir keine Diagnose nennen, so sind die epidemiologischen Gegebenheiten nun einmal. Die berufstheoretische Forschung, begründet von Braun in den 1950er und 1960er Jahren, klassifiziert allgemeinmedizinische Beratungsergebnisse in vier Gruppen. Rund die Hälfte der Beratungsergebnisse sind lediglich Symptome und Symptomgruppen, bei denen eine Zuordnung zu Krankheitsbildern oder exakten Diagnosen nicht möglich ist. Selbst bei Zusammenarbeit mit Spezialisten kann in der allgemeinmedizinischen Praxis in nur einem von zehn Fällen eine exakte Diagnose gestellt werden. Aber der Wunsch besteht, auch wenn die epidemiologischen Besonderheiten das gar nicht hergeben. In diesem Missverhältnis, diesem Spannungsfeld, bewegen wir Hausärzte uns. Prof. Scherer: Das heißt, auch die Menschen müssen sich ein wenig ändern und geduldiger werden? Dr. Niemann: Ja, das würde manche Situation entschärfen. Prof. Scherer: Was müsste sich im Krankenhaus ändern, damit für Dr. Faber II oder für die nächste Generation der nächste 24-Stunden-Dienst anders verläuft? Dass man sich selbst gerecht werden kann und nicht seine Bedürfnisse ständig hintanstellen muss, andererseits aber auch dem Patienten in seiner leidenden Gesamtheit mit Empathie gerecht werden kann. Was muss sich da ändern?

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Dr. Niemann: Im Krankenhaus brauchen wir mehr Personal: Vor allem im Pflegebereich muss der Personalschlüssel angehoben werden. Und wir brauchen andere Abrechnungsmodalitäten. Es darf nicht nur der (Krankheits-)Fall zählen, es müssen der Patient und seine Lebensumstände Berücksichtigung finden, es muss das Patientenwohl wieder im Mittelpunkt stehen. Das fordert viele individuelle Lösungen, keine einheitliche Fließbandarbeit. Und um noch einmal das Bild der Pyramide zu bemühen: Wir müssen massiv in die unterste Stufe investieren, also in den ambulanten Bereich der Hausärzte. Wir benötigen in Deutschland tatsächlich viel, viel mehr Hausärzte. Denn alles andere wird deutlich teurer. Die Kosten, die durch eine Krankenhausbehandlung entstehen, liegen um ein Vielfaches über denen einer ambulanten Behandlung. In den ambulanten Bereich der Hausärzte massiv zu investieren, würde sowohl die Stufe der Fachärzte als auch den stationären Sektor entlasten. Und nur dann können wir die von der Bertelsmann-Stiftung geforderte Schließung von Krankenhäusern angehen, sonst geht der Schuss nach hinten los. Hintergrund dieser Forderung ist, dass wir in Deutschland im internationalen Vergleich mehr Kliniken und mehr Klinikbetten haben als in anderen Ländern. Da müsste eigentlich ein gesamtgesellschaftlicher Konsens her, eine Überlegung: Welche Kliniken benötigen wir wo? Natürlich muss der Versorgungsauftrag gewährleistet bleiben. Auch kleine Landkreise benötigen ein Krankenhaus mit der Grundversorgung, bestehend aus Innerer Medizin, Chirurgie, Anästhesie und Gynäkologie. Um ein Beispiel zu nennen: In einem Kreis X haben Sie fünf kleine Städte. Sie können eine Polizeiwache in einer Stadt einrichten, die dann für den gesamten Kreis zuständig ist und das gesamte Personal dorthin ziehen, oder fünf kleine Reviere, jeweils mit zu wenig Personal. Alles auf eine Stadt zu konzentrieren, funktioniert aber nur, wenn Sie in den vier übrigbleibenden Städten für Ersatz sorgen. Im übertragenen Sinn bedeutet das: Sie müssen für mehr Hausärzte sorgen! Ist das verständlich geworden? Prof. Scherer: Absolut. Was müsste sich in der nächsten Zukunft ändern, zum Beispiel im Hinblick auf das ambulante, stationäre

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Setting? Was muss sich ändern, um dem Beschleunigungsdruck, der ja sowohl den Akteuren als auch den Patienten schadet, entgegenzutreten? Dr. Niemann: Wir haben sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich viel zu viel Bürokratie, da besteht ein regelrechter Dokumentationswahnsinn. Das muss man zurückfahren. Das gilt vor allem auch für den ambulanten Bereich. Ich sage immer, ich mache als Hausarzt zwei Arten von Medizin: eine vernünftige am Patienten und Schwachsinnsarbeit, das ist die Dokumentation. Mit Letzterer verdiene ich mein Geld. Das ist Wahnsinn! Und überhaupt nicht gut. Dokumentation zurückfahren, Bürokratie abbauen, das muss das Ziel sein. Das Gegenteil passiert jedoch! Man muss wieder mehr Zeit für den Patienten haben. Wir reden über Zeitdruck, aber für das »Zeit-Haben« gibt es keine Gebühr. Schnelligkeit – also Patienten durchschleusen – und möglichst wenig Kontakt zum Patienten lohnen sich; das kann es nicht sein. Also müssen wir auch im ambulanten Bereich die Abrechnungsmodalitäten ändern. Ständig müssen wir Dokumentationsbögen ausfüllen: DMP-KHK, Diabetes, COPD, Asthma, es sollen sogar noch weitere Krankheiten hinzukommen, geriatrische Assessments, Korrekturen von Heilmittelverordnungen, auf denen ein Kreuz falsch gesetzt wurde. Und regelmäßig kommen neue bürokratische Regelungen, von denen der Patient zwar nicht profitiert, für die es aber eine Vergütung gibt – das ist doch irrsinnig! Die Gesundheitsbranche hat in Deutschland eine enorme  wirtschaftliche Bedeutung. Im Jahr 2018 lag die Bruttowertschöpfung bei knapp 370 Milliarden Euro, das sind circa 12 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Geld ist also unfassbar viel vorhanden. Es ist nur die Frage, wie es verteilt, wo es eingesetzt wird. Die Verteilung ist unzureichend. Prof. Scherer: Wie würde denn eine von Dr. Faber entwickelte Utopie aussehen? Wie sähe der utopische 24-Stunden-Dienst aus? Hätte er dann die Hälfte der Patienten? Dr. Niemann: Der erste Punkt wäre: Wir halbieren den Dienst. Nur noch zwölf, keine 24 Stunden mehr. Dann würde ich sagen: sektorenübergreifende Behandlung. Dazu müssten sich die verantwortlichen Behandler, also Hausarzt, Facharzt, Klinikarzt

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zusammensetzen und überlegen: Was benötigen wir, und wie können wir das bewerkstelligen? Gemeinsam an einem Strang ziehen und nicht gegeneinander arbeiten. Prof. Scherer: Und wahrscheinlich kommt es dann auch zum Essen und Trinken. Dr. Niemann: Genau, na klar. Kollegen haben mir gesagt, die einzige unrealistische Stelle in dem Buch betrifft die Situation, in der Dr. Faber gegen den Oberarzt das Wort ergreift. Als er einmal aufmuckt und aufbegehrt. Weil das eben nicht gelehrt wird, wie man auf sich selbst achtet, wie man Widerspruch formuliert. Das Ganze ist ja durch dieses ganze verschulte System, zumindest zu meiner Zeit, darauf ausgerichtet gewesen: etwas zu leisten, etwas abzureißen, und nicht zu sagen, halt stopp, wir halten das Rad mal an. Eine sehr erfahrene Psychotherapeutin, die seit über dreißig Jahren als Supervisorin in Kliniken arbeitet, kommentierte mein Buch mit den Worten: Wir müssen dringend Ärzte und Medizinstudenten stärken, damit sie diesen Wahnsinn nicht mehr länger mitmachen. Prof. Scherer: Gibt es Aspekte im Hinblick auf Beschleunigung und Zeitdruck, zu denen ich Sie nicht befragt habe und die Sie gern ergänzen würden? Dr. Niemann: Ich finde, für den ambulanten Bereich muss noch einmal überdacht werden, wie viele Patienten ein Arzt tatsächlich betreuen soll. Prof. Scherer: Meinen Sie den Verteilungsschlüssel? Dr. Niemann: Ja, genau. Soll ein Hausarzt wirklich 1.300 Patienten betreuen oder tun es auch 800? Die Bedingungen im ambulanten Bereich müssen so attraktiv gestaltet werden, dass es viele machen wollen. Dann werden die Mediziner freiwillig Hausärzte. Das heißt nicht nur eine bessere Vergütung, das heißt auch das Abschaffen von Bestrafungen wie zum Beispiel den Heilmittelregressen. Deutschland ist das einzige Land auf der ganzen Welt, das zu solchen Sanktionen greift – und da wundern wir uns ernsthaft, das keiner mehr Hausarzt werden möchte? Und für die Universitäten bedeutet das: Stärkung der Allgemeinmedizin! Also mehr Personal, mehr Budget. Ob es den anderen Disziplinen passt oder nicht, das muss erfolgen. Wenn Sie den

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Versorgungsauftrag ernst nehmen, eine Systemanalyse machen und sich die Pyramide der Patientenversorgung vor Augen führen, dann werden Sie nicht umhinkommen, die Basis, also die Hausärzte zu stärken. Alles andere wird sich dieses Gesundheitssystem auf Dauer nicht leisten können, alles andere wird viel teurer. Und dieser Weg sollte in den allgemeinmedizinischen Instituten der Universitäten beginnen. Zu meiner Zeit wurden Hausärzte und das Fach Allgemeinmedizin in den Universitäten belächelt. Das ist zum Glück nicht mehr so, gleichwohl sollte die Entwicklung aber voranschreiten, das Fach politisch weiter gefördert werden. Auch die Verantwortlichkeit des Patienten müsste nochmal überdacht werden: Womit gehe ich wann zum Arzt? Prof. Scherer: Und welche Erwartungen habe ich an das Versorgungssystem? Dr. Niemann: Genau, und alles transparenter machen: Was kostet eigentlich die medizinische Versorgung, was kostet ein MRT? Muss es tatsächlich gleich ein MRT sein bei Rückenschmerzen? Muss ich wirklich mitten in der Nacht über die 116 117 einen Hausbesuch anfordern, bei dem die Politiker auch noch suggerieren, alles ist jederzeit möglich, alles wird 24 Stunden lang vorgehalten? Prof. Scherer: Auch dadurch könnte man Zeit gewinnen. Dr. Niemann: Ich denke, bei der gesetzlichen Krankenversicherung besteht ein enormer Bedarf an Reformen. Die verantwortlichen Politiker benötigen eine Vision: Wohin soll die Reise mit unserem Gesundheitssystem gehen? Ein klares Konzept ist vonnöten, von dem die Patienten profitieren und nicht die Klinikkonzerne. Bloßer Aktionismus ist sicherlich nicht die Lösung. Leider kann ich bei den derzeit verantwortlichen Akteuren jedoch bislang kein klares Konzept erkennen.

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»Die Maßnahmen, die eigentlich den Kern der Pflege ausmachen, bleiben ungetan.« Interview mit Prof. Dr. Katrin Balzer Universität Lübeck, Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie, Stellvertretende Leiterin der Sektion Forschung und Lehre in der Pflege Prof. Scherer: Wie bedeutsam schätzen Sie die gesellschaftlichen Beschleunigungstrends in unserer Zeit ein? Prof. Balzer: Ich finde es sehr schwer, diese Frage zu beantworten. Grundsätzlich nehme ich wahr, dass sich die Aufeinanderfolge von Informationen verdichtet. Was sich eben mit der Digitalisierung verändert, ist die schnellere Verfügbarkeit von Informationen innerhalb einer gewissen Zeiteinheit, Zeit ist eine andere Währung geworden. Natürlich ist eine Minute immer noch eine Minute, ganz objektiv gemessen, aber das, was man an Informationen konsumieren oder an Entfernungen zumindest virtuell zurücklegen kann, ist eben deutlich größer geworden. Und das Verhältnis der Zeit im Verhältnis zu anderen Gütern hat sich verändert. Prof. Scherer: Wie schätzen Sie die Auswirkungen auf die gesundheitliche Versorgung ein, und können Sie das an bestimmten Beispielen festmachen? Prof. Balzer: Darüber habe ich länger nachgedacht. Natürlich sieht man jetzt an den Statistiken, dass im Krankenhaus die Anzahl der Patienten, die pro Monat behandelt werden, bei sich stetig verkürzender Verweildauer steigt. Das ist ein ganz objektives Kriterium, das damit einhergeht, dass weniger Zeit für die Klärung bestimmter Prozesse bei einer Behandlung und für die Versorgung – mein Fachgebiet ist ja die pflegerische Versorgung – zur Verfügung steht, und das bei dem inzwischen vielfach dokumentierten Personalmangel, zum Beispiel in der Pflege. Dabei versuchen wir, das, was uns an Ressourcen zur Verfügung steht, maximal auszunutzen. Ob das jetzt immer gut ist, steht auf einem anderen Blatt. Prof. Scherer: Was bedeutet das für die Pflege? Wie macht sich das in der Pflege bemerkbar?

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Prof. Balzer: Für die Pflege bedeutet das, dass Pflegekräfte gefordert sind, jeden Tag zu priorisieren. Was hat man also an Pflegezeit an diesem Tag zur Verfügung im Verhältnis zu dem, was die Patienten benötigen, und wie lässt sich diese Zeitressource zielgerichtet dem Bedarf der Patienten zuordnen? Dass über Mangel an Zeit geklagt wird, das ist kein neues Lied in der Pflege. Das hat man vor zehn, vor zwanzig Jahren bereits gehört. Was man aber durchaus sieht, ist, dass der Druck, Prioritäten zu setzen, deutlich gestiegen ist und auch artikuliert wird und dass klar definierte Maßnahmen unterlassen werden, oder dass versucht wird, diese an geringer qualifiziertes Personal zu delegieren – wobei man aber bisher wenig darüber weiß, was für Effekte solche expliziten Strategien der Rationierung haben. Worüber wir jedoch zunehmend mehr wissen, ist das Ausmaß der impliziten Rationierung, das heißt des Unterlassens von Pflegemaßnahmen infolge der kurzfristigen, eher intuitiven Entscheidung der Pflegenden, wenn ihre Ressourcen zu knapp sind. Prof. Scherer: Haben Sie da konkrete Beispiele vor Augen? Prof. Balzer: Ich denke hierbei vor allem an die Versorgung von älteren Krankenhauspatienten, weil dieser Bereich ein Schwerpunkt meiner Forschung und Lehrtätigkeit ist. Diese Patienten werden nicht mehr oder zumindest nicht ausreichend mobilisiert, weil auf den ersten Blick die Ressourcen dafür zu fehlen scheinen und weil zumindest die gewohnten Prozesse nicht mehr funktionieren und dann eben bestimmte Maßnahmen unterbleiben. Aus der Literatur wissen wir auch, dass gerade dann, wenn in der Pflege bewusst oder unbewusst priorisiert wird, Maßnahmen im Bereich der körpernahen Pflege bei diesen Patienten eher unterbleiben zugunsten von Maßnahmen, die der medizinischen Assistenz dienen, wie etwa die Wundversorgung. Die wird noch durchgeführt, oder die Injektion oder die Infusion wird verabreicht. Aber die Maßnahmen, die eigentlich den Kern der Pflege ausmachen, bleiben ungetan. Damit werden auch wichtige prophylaktische Maßnahmen der Pflege nicht durchgeführt. Das finden wir auch in der Literatur immer wieder bestätigt, und trotz aller Bestrebungen, die Leitlinien und Empfehlungen zum Beispiel zur Dekubitusprävention

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umzusetzen, sieht man regelmäßig, dass im Prinzip weniger als 50 Prozent der dekubitusgefährdeten Patienten die Maßnahmen erhalten, die eigentlich erforderlich wären, um, ganz wörtlich gemeint, den Druck zu reduzieren. Prof. Scherer: Das würde ja auch bedeuten, dass es Pflegefehler oder zumindest Pflegemängel gibt, die dem Zeitdruck oder dem Beschleunigungsdruck geschuldet sind. Fallen Ihnen noch andere konkrete Auswirkungen im Bereich der Pflege ein? Prof. Balzer: Insgesamt gibt es inzwischen international zunehmend Forschung zum Zusammenhang zwischen unterlassenen Pflegemaßnahmen und patientenrelevanten Ergebnissen der Pflegequalität. Diese Studien zeigen relativ einheitlich, dass mit dem Ausmaß unterlassener Pflegemaßnahmen das Risiko adverser Ereignisse wie etwa nosokomialer Infektionen, Dekubitus oder Stürze steigt. Die wichtigste Konsequenz aus meiner Sicht läge darin, dass man, um die von mir geschilderten ungünstigen Folgen zu vermeiden, neu darüber nachdenkt, wie pflegerische Arbeit organisiert werden muss. Wer muss was, wann, wie häufig durchführen, um diesem Zeitdruck in irgendeiner Weise begegnen zu können? Wie ich schon sagte, ist das Klagen über fehlende Zeit in der Pflege nicht neu. Gefühlt waren die Personalkapazitäten schon immer zu gering. Man hatte ja schon in den 1990er Jahren versucht, mit einer Personalbemessung etwas mehr Rationalität in die Steuerung von pflegerischen Ressourcen hineinzubringen. Diese so genannte Pflegepersonal-Regelung ist dann, der Legende nach, aufgrund der ökonomischen Konsequenzen – weil man eben gesehen hat, dass der Bedarf größer war als projiziert – wieder partiell zurückgenommen worden. Letztlich fehlt es aktuell an einer objektiven, validen Bewertung dessen, was an pflegerischem Arbeitsaufwand vonnöten ist. Zum anderen bräuchte es eine ganz nüchterne Betrachtung, welche Kompetenzen, welche Form der Arbeitsorganisation wir benötigen, um diesem Bedarf sowohl nach Wirksamkeits- als auch nach Wirtschaftlichkeitskriterien gut zu begegnen. Das ist aus meiner Sicht etwas, das erst in den Kinderschuhen steckt. Prof. Scherer: Inwieweit kann die Professionalisierung der Pflege, die ja seit vielen Jahren schon voranschreitet, dabei helfen? Es

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gibt Pflegewissenschaften, Lehrstühle für Pflegewissenschaften, duale Studiengänge, und es gibt in großen Krankenhäusern eine Ausdifferenzierung von Qualifikationsmodellen. Inwiefern hilft das dabei? Prof. Balzer: Meine Hoffnung ist, dass genau die Prozesse, die ich jetzt zuletzt beschrieben habe, durch diese Entwicklungen befördert werden. Nun muss man aber auch realistisch sein. Zwar steigt die Anzahl der pflegewissenschaftlichen und der primärqualifizierenden Studiengänge. Sie wird auch in den nächsten Jahren mit dem Inkrafttreten des Pflegeberufegesetzes weiter steigen, genauso wie die Anzahl der Professuren und hoffentlich auch der Umfang der Forschung. Aber die letzten zwanzig Jahre, in denen wir bereit erste Veränderungen in diese Richtung beobachtet haben, stimmen doch eher skeptisch, weil sich momentan von diesen Strukturen, von diesem Wissen, das auf akademischer Seite generiert wird, noch wenig in der Praxis wiederfindet. Wir wissen aus einer im Jahr 2015 durchgeführten Erhebung, dass bisher in den Universitätskliniken nur ein Prozent der wirklich im direkten Patientenkontakt arbeitenden Pflegekräfte einen akademischen Abschluss hat. Das ist im Prinzip nichts. Wenn man dann einmal hochrechnet, dass vielleicht pro Jahr zwischen 1.000 und 2.000 Absolventinnen und Absolventen in den dualen Studiengängen oder in den primärqualifizierenden Studiengängen zu verzeichnen sind und davon nur ein Bruchteil tatsächlich dort ankommt, wo wir sie im Sinne der Konzepte des Wissenschaftsrats und all unserer Ziele – auch der Ziele unseres Studiengangs in Lübeck – eigentlich erwarten und uns wünschen würden, nämlich in der praktischen Patientenversorgung, dann liegt noch viel Arbeit vor uns. Ich denke dabei vor allem an die erforderliche Definition der verschiedenen Rollen, wie von Ihnen genannt, und die weitere Ausdifferenzierung, die ja nur möglich ist, wenn auch ein entsprechendes Entgeltsystem danebengestellt wird, weil das ein sehr wichtiger Motivator ist, zumal es genug andere potenzielle Tätigkeitsfelder für die Absolventinnen und Absolventen dieser Studiengänge gibt. Dann kommt es auch auf diejenigen an, die bereits in der Praxis arbeiten, die andere Ausbildungs- und Fortbildungsstrukturen

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durchlaufen haben, die die Chancen einer akademischen Ausbildung noch nicht hatten. Die Umstrukturierung kann ja nicht gegen diese Kolleginnen und Kollegen erfolgen, sondern muss mit ihnen erfolgen. Das ist wie jede Anpassung von Verhalten, vor allem auf der Organisationsebene, ein längerer Prozess. Das Wachsen der Pflegewissenschaft und hoffentlich auch der primär qualifizierenden akademischen Ausbildungen in den nächsten Jahren wird sicher mehr Druck entfachen hinsichtlich einer weiteren notwendigen Ausdifferenzierung der Rollen innerhalb des Berufsfeldes der Pflege – und damit hoffentlich auch neuen Arbeitsorganisationsmodellen und einer besseren Zuteilung von pflegerischen Ressourcen entsprechend dem Aufwand Vorschub leisten. Aber es ist auch nur eine Stellschraube, das muss man ganz klar sagen. Prof. Scherer: Wenn wir schon bei der Zukunft sind, v­ ielleicht auch noch einmal einen Ausblick im Hinblick auf den Beschleunigungsdruck in der Pflege: Was wird sich da verändern? Prof. Balzer: Das ist schwer zu sagen, weil wir nicht wissen, ob und wie sich die politischen Rahmenvorstellungen, zum Beispiel zur Zukunft des Krankenhauses, irgendwann einmal in anderen Strukturen der Finanzierung und Regulation des Leistungsangebotes materialisieren werden. Dass man diesen Druck, der etwa mit der wachsenden Rate an Neuaufnahmen entsteht, vielleicht doch einmal limitiert, wäre aus meiner Sicht ein ganz wesentlicher Punkt. An dieser Stelle sehe ich es für ganz wichtig an, dass die pflegerische Berufsgruppe dazu beiträgt, nicht nur ihr eigenes berufliches Feld, sondern auch die Strukturen, die es tragen und die es auch zu einem gewissen Teil mitdefinieren, zu verändern. Wichtig wäre einerseits zum Beispiel die Schaffung von Versorgungsstrukturen außerhalb des Krankenhauses, die es erlauben, dass ältere Patienten, die ein akutes Gesundheitsproblem haben und damit vorübergehend mehr pflegerische und ärztliche Betreuung benötigen, nicht zwangsläufig in einem hoch technisierten, auf Maximalversorgung ausgerichteten Krankenhaus landen, sondern vielleicht in einer Struktur der stationären Versorgung, die primär darauf ausgerichtet ist, diese gesundheitliche

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Situation oder den erhöhten pflegerischen Unterstützungsbedarf zu stabilisieren und möglichst schnell wieder in den Ausgangszustand zurückzuentwickeln. Wir brauchen solche Strukturen auch, falls dann doch eine Einweisung in ein Akut-Krankenhaus erfolgt, für ältere Patienten, die zwar auf keine intensive medizinische Behandlung mehr angewiesen sind, die aber noch nicht wieder nach Hause entlassen werden können. Sie sollten dann nicht in einem Pflegeheim aufgenommen werden müssen. Es sollte dann Strukturen für sie geben, die verschiedenste Unterstützungsarrangements für unterschiedliche Bedarfssituationen anbieten. Das ist auch eine Aufgabe des Pflegeberufs: neue Pflegeangebote in der Gesundheitsversorgung zu entwickeln und zu erproben. Dazu ist es aber auch wichtig, dass die pflegerische Berufsgruppe eine entsprechende berufspolitische Schlagkraft entwickelt und auch an den entscheidenden Stellen, wie zum Beispiel im gemeinsamen Bundesausschuss, mit Stimmrecht beteiligt ist. Das wäre neben der Änderung von lokalen Arbeitsprozessen, der Implementierung von wissenschaftlichen Erkenntnissen in die Praxis und einer besseren Ausrichtung von Versorgungsprozessen an dem, was wirklich wichtig ist und dem Patienten hilft, eine weitere wichtige Voraussetzung. Prof. Scherer: Der viel beschworene demografische Wandel wird ja dazu führen, dass der Anteil der Pflegebedürftigen weiter ansteigt. Ist das im Zusammenhang des Beschleunigungsdrucks ein Befund, der Ihnen Sorge bereitet? Prof. Balzer: Natürlich werden immer mehr Menschen immer älter. Aber letztlich wissen wir auch, dass der größte persönliche Ressourcenbedarf im Gesundheitssystem in der Regel erst in den letzten Wochen und Monaten unmittelbar vor dem Versterben einer Person anfällt. Insofern sehe ich diese Befürchtung im Hinblick auf den demografischen Wandel etwas differenzierter. Was natürlich ansteigt, ist die Prävalenz chronischer Verläufe und damit der Bedarf an Unterstützung über eine längere Lebensspanne hinweg. Aber der Unterstützungsbedarf ist, wie gesagt, häufig erst in den letzten Wochen und Monaten vor dem Tod wirklich sehr hoch. Ich sehe die Notwendigkeit, schon beginnend mit der Ausbildung der einzelnen Professionen oder Berufsgruppen im Gesundheits-

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wesen den Blick dafür zu sensibilisieren, in welcher Struktur, in welcher Versorgungsform welcher Patient oder welcher Betroffene wirklich am besten aufgehoben ist. Hinzu kommt das Vermeiden von Fehlanreizen in der Vergütung von Gesundheitsleistungen, die dazu führen, dass Leistungen über Bedarf in Anspruch genommen werden – Stichwort »Überversorgung«. Wir wissen ja, dass in unserem deutschen Gesundheitssystem die Zahl der Arztkontakte und die Anzahl der Krankenhauseinweisungen deutlich höher ist als in anderen Ländern, ohne dass wir beim gesundheitlichen Outcome bisher ein besonders gutes Ergebnis im Vergleich zu den anderen hoch entwickelten Ländern vorweisen können. Chronisch kranke Menschen gibt es in anderen Ländern auch. Ich glaube, unsere Strukturen sind noch nicht ausreichend gut darauf vorbereitet. Aber ich sehe das nur bedingt als eine Konsequenz des demografischen Wandels, sondern eher als eine Folge unseres Gesundheitssystems, so wie es strukturiert ist und funktioniert. Prof. Scherer: Stichwort »Überversorgung«: Die neue Leitlinie »Schutz zur Über- und Unterversorgung« der DEGAM ist kürzlich auf dem AWMF-Portal und auf der DEGAM-Webseite erschienen. Vielleicht noch einmal, bevor wir zum Ende kommen, ein Blick zurück oder auch in die Gegenwart: Sie haben gesagt, dass Klagen über Zeitmangel in der Pflege nicht neu sind. Sie haben auch schon die DRGs bzw. Liegezeiten angesprochen. Wenn das kein neues Phänomen ist, gibt es heute dennoch etwas, was zum Zeitdruck in besonderer Weise beiträgt? Prof. Balzer: Ich denke, dass sich der Personalmangel verschärft. Es zeigt sich gerade in der intensivmedizinischen und intensivpflegerischen Versorgung, dass aufgrund von fehlendem Pflegepersonal einfach Betten nicht belegt werden können und Abteilungen geschlossen werden müssen, weil die personellen Ressourcen nicht zur Verfügung stehen. Dazu kommt – ich kenne jetzt keine Statistiken dazu – das gefühlte Erleben der pflegerischen Kolleginnen und Kollegen, noch häufiger unvorhergesehen einspringen zu müssen oder eben nicht mit der personellen Besetzung arbeiten zu können wie geplant – oder mit Personen zusammenarbeiten zu müssen, die

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über Zeitarbeitsfirmen ausgeliehen sind, also nicht mit Kolleginnen und Kollegen, die mit den Prozessen vertraut sind. Das ist sicher ein Problem, das dem fehlenden Nachwuchs im Pflegeberuf nochmal eine neue Dimension gibt. Prof. Scherer: Wie bekommt man das in den Griff? Prof. Balzer: Ich denke, das Wichtigste ist, die Arbeitsbedingungen und die Aufgaben des pflegerischen Berufsfeldes so zu gestalten, dass mehr Menschen sich für diesen Beruf entscheiden. Und dass sie, wenn sie sich dafür entschieden haben, auch in diesem Beruf bleiben. Da sehe ich zum einen die Notwendigkeit für kreativere Arbeitszeitmodelle, die es zum Beispiel in skandinavischen Ländern bereits gibt. Dann geht es auch um eine Erhöhung der Vergütung. Aber ganz besonders, das hatte ich ja vorhin schon einmal angedeutet, geht es um eine differenziertere, genauere Ausgestaltung und Beschreibung der Aufgabenprofile in der Pflege. Also, wer ist eigentlich wofür zuständig? Wer muss wann eigentlich was machen? Welche Aufgaben sollten der niedrig qualifizierten, der beruflich qualifizierten und dann der akademisch qualifizierten Pflegekraft obliegen? Wofür genügen anders qualifizierte oder geringer qualifizierte Pflegekräfte? Im Rahmen meiner Lehrtätigkeit bin ich für Praxisbegleitungen und praktische Prüfungen unserer Pflege-Studierenden mehrmals im Jahr über mehrere Stunden in der Praxis und beobachte die pflegerische Versorgung. Hierbei fällt mir immer wieder auf, dass es nach wie vor viele Aufgaben gibt – und damit meine ich auf keinen Fall die Dokumentation, sondern Aufgaben im Bereich der medizinischen Assistenz, in der Organisation von Abläufen –, die ganz selbstverständlich von Pflegenden ausgeführt werden, die aber ebenso gut oder vielleicht sogar besser von anders qualifizierten Mitarbeiterinnen übernommen werden könnten. Ich denke dabei zum Beispiel an medizinische Fachangestellte. Was ich unterstützen möchte, sind die Aussagen des letzten Gutachtens des Sachverständigenrates für die Begutachtung von Entwicklungen im Gesundheitswesen. Die Pflege ist zwar nicht dezidiert Thema der dortigen Analysen und Empfehlungen, aber es geht in diesem Bericht um eine bedarfsgerechte Steuerung des Gesundheitswesens, insbesondere die Inanspruchnahme der

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Ressourcenverteilung. Ich wünsche mir, dass solche wissenschaftlich fundierten Expertisen stärker in der Politik genutzt werden, für eine gleichzeitig am Patientenwohl orientierte Gestaltung der Gesundheitsversorgung wie auch für einen schonenden Umgang mit den Ressourcen der Gesellschaft. Das ist aus meiner Sicht das, was ansteht. Ich glaube, dann würden wir auch ein anderes Gesundheitssystem haben und weniger Klagen über fehlende Zeit. * »Kurzfristig schneller ist in der Regel doch nicht schneller.« Interview mit Prof. Dr. Erika Baum Schatzmeisterin und ehemalige Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) Prof. Scherer: Wir haben Expertinnen und Experten gefunden, die bereit waren, mit uns darüber zu sprechen, inwiefern Beschleunigung in der Gesellschaft und im Gesundheitswesen eine Rolle spielen kann im Hinblick auf die medizinische und insbesondere auf die hausärztliche Versorgung. Für wie bedeutsam oder auch folgenschwer schätzen Sie das Schnellerwerden unseres Lebens ein? Prof. Baum: Das macht uns natürlich erst einmal stressanfälliger und auch fehleranfälliger. Prof. Scherer: Können Sie das an einem Beispiel festmachen? Prof. Baum: Wenn man die Sachen ganz schnell zu machen versucht und nicht hinterher irgendwo eine Schleife hat, wo man die Dinge reflektieren kann, dann kommen auf alle Fälle Fehler vor. Prof. Scherer: Sie waren viele Jahre auch als Hausärztin tätig. Haben Sie da auch Beschleunigungssituationen beobachtet? Prof. Baum: Das war unterschiedlich: Also erstmal bin ich selbst von Natur aus schnell. Daher habe ich mich nicht von außen unter Druck gesetzt gefühlt. Im Zweifelsfall habe ich dann auch gesagt, nein, stopp, jetzt muss es halt mal langsam gehen. Jetzt müssen wir da nochmal etwas nacharbeiten. Und es ist tatsächlich noch ein etwas anderes Phänomen: Bei meinen Hausbesuchen habe

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ich festgestellt, dass ich früher in einer Stunde fünf Patientinnen und Patienten absolvieren konnte und zum Schluss meiner Laufbahn so drei bis vier. Das liegt aber daran, dass die Probleme der Patienten sehr viel komplexer geworden sind. Prof. Scherer: Das heißt, Sie haben sich einfach die Zeit genommen, die Sie gebraucht haben? Prof. Baum: Ja, die habe ich mir dann einfach genommen. Es war für mich auch nicht anders möglich, wenn ich es vernünftig hinbekommen wollte. Also ich persönlich habe mich nie unter Druck setzen lassen, sondern im Gegenteil, ich habe mir selbst die Strategie vorgenommen: Wenn Druck von außen kommt, dann muss ich mir selbst sagen, nein, jetzt langsam. Denn man wird nicht schneller, sondern man wird nur fehleranfälliger, und dann dauert es erst recht länger. Prof. Scherer: Und das ist Ihnen offensichtlich so gut gelungen, dass Sie nicht in ein Hamsterrad gekommen sind? Prof. Baum: Dann haben wir auch wirklich den Patienten gesagt: Heute ist es so. Wenn euch die Zeit zu lang wird, macht einen Termin aus. Bei uns in der Praxis hatten wir eine sehr schöne Organisation (das ist jetzt geändert worden, nachdem ich ausgeschieden bin): Einer macht die offene Sprechstunde, da kommen die Leute halt, wie sie kommen. Dann kann es schnell gehen oder es kann auch lange dauern. Und der andere macht die Terminsprechstunde, und unsere Wartezeit war, außer wenn mal wirklich ein Notfall war, dann nie länger als zehn Minuten. Die haben wir dann auch immer so geplant, dass wir genug Zeit hatten. Da haben wir uns auch nicht unter Druck setzen lassen. Wir haben zum Beispiel, als die DMPs eingeführt worden sind, statt einer Viertelstunde 20-Minuten-Termine gemacht. Wir haben uns da diesem Trend nicht angeschlossen, immer schneller zu machen, und haben die Strategie vertreten: Wem das nicht passt, der kann ja woanders hingehen. Prof. Scherer: Konnten Sie außerhalb Ihrer Praxis einen erhöhten Druck in der medizinischen Versorgung wahrnehmen? Und an welchen Stellen? Prof. Baum: Der Druck entsteht einfach durch den Zwang, gelegentlich warten zu müssen. Die Leute haben keine Geduld, auch ein-

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fach mal zu sagen: Okay, mit dem Problem, das muss auch nicht über Nacht gelöst werden, da muss ich jetzt halt mal vier Wochen auf einen Termin warten. Oder die Arbeitgeber machen Druck: »Das muss jetzt ganz schnell gehen.« Dann die Unverschämtheit von den Rentenversicherungen: Die geben den Leuten ein Schriftstück in die Hand und dann soll der Hausarzt in drei Tagen ein vierseitiges Gutachten fertig machen. Das haben wir immer abgelehnt, und damit sind wir auch immer durchgekommen. Also man muss sich diesem Druck auch nicht unbedingt beugen. Und gerade in so einer Landpraxis, die gut läuft, habe ich große Freiheit zu sagen: »Mit mir nicht.« Prof. Scherer: Was sind die Antriebsfaktoren dieses Drucks oder dieser Erwartungshaltung, die da aufgebaut wird? Sind es wirtschaftspolitische Entwicklungen? Prof. Baum: Von der Wirtschaft her ist es so, dass die Manager meinen, immer schneller, immer schneller ist immer besser. Allerdings passieren dabei immer mehr Fehler, und hinterher dauert es länger, sie auszubügeln. Es ist also diese furchtbar kurzsichtige Sichtweise, die ja auch durch diese Incentives gegeben wird: Jetzt schaffe ich das also mit zwei Leuten weniger. Aber nachher steigt der Krankenstand, und irgendwann funktioniert es überhaupt nicht mehr. Das sind einfach Dinge, wo man sehr kurzfristig denkt. Der Vorteil in unserer Hausarztpraxis war, dass man immer längerfristig denken konnte. Ich habe immer langfristig gedacht und gewusst, ich bin ja hier noch zehn Jahre. Es kommt nicht darauf an, was in den nächsten 14 Tagen geschieht. Die langfristige Perspektive ist leider verloren gegangen in unserer Gesellschaft. Das ist ein großer Fehler, und das macht uns letztlich ineffizienter. Prof. Scherer: »Die langfristige Perspektive in unserer Gesellschaft ist verloren gegangen«, sagen Sie. Was genau meinen Sie damit? Prof. Baum: Da wird ein neuer Manager eingestellt, und der braucht Erfolge. Die Erfolge muss er in sechs bis zwölf Monaten liefern. Was nach zwei oder fünf Jahren passiert, da guckt keiner oder hat auch nicht die Geduld, dann mal zu sagen: Wir lassen dem mal die Zeit, wir lassen uns auch mal das Konzept zeigen, wir gucken, ob er die Leute mitnimmt. Geht das? Oder ist das etwas, was tatsächlich nur kurzfristig funktioniert, und nachher funk-

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tioniert es nicht mehr? Ich kann mich natürlich dopen, aber das funktioniert eben nicht auf Dauer. Ich kann natürlich eine halbe Stunde weniger schlafen, aber irgendwann werde ich dann nervös, fehleranfällig usw. Prof. Scherer: Gibt es auch gesetzgeberische oder politische Zusammenhänge, die diesen allgemeinen Trend befeuern? Prof. Baum: Das sind natürlich auch wieder diese kurzfristigen Wahlerfolge. Wir sehen es ja jetzt auch wieder, dass man nicht die Geduld hat, auch mal eine Durststrecke durchzustehen. Zu sagen, wir sind jetzt einmal in einer schwierigen Phase, da geht es mal abwärts, aber nachher haben wir langfristig wieder gute Chancen. Es wird immer nur auf das Hier und Jetzt und die Umfrage heute geschaut. Und die Leute glauben es dann auch noch. Prof. Scherer: Ich habe Sie jetzt so verstanden, dass Sie in Ihrer Praxis dem Druck entgegengewirkt haben. Sehen Sie darüber hinaus im hausärztlichen Bereich oder in der Primärversorgung, inwiefern dieser Druck im System sich auf die Patientenversorgung auswirkt? Prof. Baum: Ja, gerade wenn von außen Druck kommt: Du brauchst schon am ersten Tag die Krankmeldung, das führt zu einer Menge von Kontakten, die medizinisch völlig sinnlos sind. Ich muss dann halt die Krankschreibung ausstellen usw., und das frustriert eigentlich alle und ist völlig ineffizient. Auch diese ganzen Kontrollmechanismen. Man misstraut sich so viel. Das hat natürlich auch damit zu tun, dass wir sehr viel anonymer geworden sind in der Gesellschaft, man kennt sich nicht mehr so. Die zunehmende Anonymisierung bewirkt, dass mehr Misstrauen entsteht, dass da mehr Dokumentation verlangt wird, dass man da wieder umsonst Zeit verliert. Prof. Scherer: Also Vertrauen und Geduld sind verloren gegangen. Ist das vermeidbar? Prof. Baum: Ganz klar! Wir müssen wieder viel mehr auf Nachhaltigkeit setzen, in allen Bereichen. Wir müssen einfach die langfristige Perspektive sehen. Und wir müssen auch zusehen, dass wir dabei die Menschen mitnehmen. Prof. Scherer: Der Patient ist im Wortsinn ja unter anderem auch der Geduldige. Nehmen Sie da eine geschlechtsspezifische Dimension wahr?

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Prof. Baum: Es gibt schon Unterschiede. Ein typisches Beispiel ist die ältere Landfrau. Die ist glücklich, wenn sie mal eine halbe Stunde bei mir im Wartezimmer sitzen muss, weil das ihre akzeptierte Auszeit ist. Oder auch manche Ältere, die diese Zeiten auch nutzen, um sich mit anderen zu unterhalten. Auf der anderen Seite stehen natürlich die Jüngeren, die dann meinen: Jetzt muss ich das und das noch machen. Das ist aber weniger geschlechtsspezifisch als altersspezifisch. Die Jüngeren sind ganz anders sozialisiert, die haben eine ganz andere Erwartungshaltung. Prof. Scherer: Welche Entwicklungen erwarten oder vermuten Sie im Hinblick auf den Beschleunigungsdruck? Wie wird es weitergehen? Prof. Baum: Ich hoffe, dass wir kapieren, dass kurzfristig schneller in der Regel eben doch nicht schneller ist. Wir müssen gucken, dass wir einfach wieder solide werden. Prof. Scherer: Gibt es da etwas, was Ihnen wirklich Sorge macht? Prof. Baum: Nein, ich habe sogar wieder Hoffnung. Wenn ich jetzt mir die Schüler bei Fridays for Future ansehe: Die haben eine längerfristige Perspektive. Prof. Scherer: Welche Möglichkeiten sehen Sie grundsätzlich, den Beschleunigungsdruck in der medizinischen Versorgung zu verringern? Oder zumindest einen weniger belastenden Umgang mit ihm zu finden? Prof. Baum: Wir brauchen einfach ein gut strukturiertes und gesteuertes System. Und da ist natürlich das, was Gesundheitsminister Spahn jetzt mit den schnellen Terminvergaben macht, genau das Falsche. Was wir brauchen, ist einfach eine gute Strukturierung, eine langfristige Planung, zum Beispiel die Einschreibung in die hausarztzentrierte Versorgung (HZV). Prof. Scherer: Ein Patient, der Leidensdruck hat, könnte das vielleicht auch ein bisschen als zynisch empfinden, wenn man ihm sagt, nun hab doch mal Geduld … Prof. Baum: Dann soll er doch zu mir kommen und dann besprechen wir seine Situation. Also ich habe hier so eine Patientin im Auge, die hatte Krampfadern, dicke Beine usw. Irgendwann war es ihr dann zu viel und sie hat beim Phlebologen angerufen, und der hat gesagt, in einem halben Jahr hat sie einen Termin, es sei

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denn, der Hausarzt ruft an und sagt, es ist dringend. Dann kam sie zu mir … Prof. Scherer: … damit Sie sagen, dass es dringend ist … Prof. Baum: Ja, genau. Dann habe ich sie angeguckt und gesagt: Das ist völlig klar, das ist eine Veneninsuffizienz. Ich schreibe Ihnen jetzt mal Kompressionsstrümpfe auf, so und so machen wir das, damit sie ganz normal das halbe Jahr auf ihren Termin warten kann. Danach kann er nochmal schauen, ob sonst noch irgendwelche Sachen zu machen sind, aber ich helfe ihr jetzt schon mal. Und siehe da, sie hat ihre Strümpfe gekriegt, hat sie dann tatsächlich angezogen, und dann hat sie nach einem halben Jahr einen Termin gehabt beim Phlebologen. Der Phlebologe war glücklich, dass ich das nicht als dringend verkauft habe. Er hat nochmal gesagt: Ihre Hausärztin hat genau das Richtige gemacht. Ich darf sie nur nicht einfach vertrösten, sondern muss ihr etwas anbieten können. Das kann ich ja auch in aller Regel. Prof. Scherer: Aber auch das Vertrauensverhältnis zwischen Ihnen beiden hat den Druck verringert? Prof. Baum: Ja, da war auch noch der Mann krank, und sie konnte nicht in die Praxis kommen. Da habe ich sogar noch einen Hausbesuch gemacht, habe gesagt, ich komme mal dahin und wir reden darüber. Dann war alles gut, das hat mich zehn Minuten gekostet … Prof. Scherer: Die waren gut investiert. Prof. Baum: So kann man natürlich nur agieren, wenn man langfris­ tige Beziehungen hat und die Patienten einem vertrauen. Dass sie zum Beispiel wissen, ich biete ihnen keine individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL) an, ich mache keine Schaumschlägereien, von mir kriegen sie auch die Wahrheit gesagt: So, jetzt muss halt mal das halbe Jahr gewartet werden, es ist nicht dringend. Prof. Scherer: Das ist jetzt die Arzt-Patienten-Ebene. Wenn man die Ansätze zur Verringerung des Beschleunigungsdrucks ins Auge fasst, muss man da an so eine Art kulturelles Leitbild denken oder an die Gesundheitspolitik – oder an neue Anreizstrukturen? Oder wo müsste man sonst ansetzen? Prof. Baum: Eine Anreizstruktur wäre zum Beispiel die hausarztzentrierte Versorgung. Die Patienten müssen sehen: Da habe ich

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was davon. Sie brauchen Boni dafür, dass sie sich da einschreiben und dass sie da nicht durch das System flippen müssen. Wir brauchen aber insgesamt in der Gesellschaft durchaus Veränderungen. Es sind ja gute Ansätze da. Es fängt eigentlich beim Unterricht in der Schule an, dass man da solche Dinge auch mal bespricht, dass schneller nicht unbedingt besser ist. Auch in den Medien, in der Presse: Dass man da mal sagt, ich muss nicht den ganzen Tag im Internet hängen, ich brauche auch mal eine Auszeit. Ich fände, es wäre ganz sinnvoll, ein Fach »Lebensführung« einzuführen, wo man auch ethische oder gesundheitliche Dinge bespricht: Was bedeutet für mich nachhaltige Lebensführung? Prof. Scherer: Worüber wir noch gar nicht gesprochen haben, sind die Vergütungsstrukturen. Prof. Baum: Da ist es einfach ganz wichtig, dass wir diese primärärztliche Versorgungsebene haben, die im Wesentlichen mit Einschreibepauschalen arbeitet. So dass einfach das Incentive (ich muss den Patienten einmal im Quartal sehen, wegen nichts), dass das weg ist. Da muss das Incentive sagen, ich muss den Patienten so hinbringen, dass er selbst so gut wie möglich mit seiner Gesundheit klarkommt. Das muss einfach das Haupt-Incentive sein. Auch bei den Spezialisten: Diese quartalsweisen Sachen, das ist einfach völlig blödsinnig, immer wieder diese Budgets quartalsweise, die sind letztlich kontraproduktiv. Prof. Scherer: Sie haben eben das schöne Beispiel mit der VenenPatientin gebracht. Könnten Sie ein paar Vorschläge machen für die Arzt-Patienten-Kommunikation, für einen besseren Umgang mit dem Zeitdruck, für eine gründlichere Anamnese oder Diagnostik? Prof. Baum: Für den Erstkontakt mit einem Patienten braucht man einfach schon Zeit. Also da haben wir immer eine halbe Stunde eingeplant und meistens noch einen Folgetermin. Wenn man in den Erstkontakt investiert, spart man hinterher. Investieren muss man auch in eine gute Kooperation innerhalb wie außerhalb der Praxis, also mit dem Pflegedienst usw. Diese Investitionen lohnen sich. Wichtig ist, dass man sich nicht mehr als Einzelkämpfer versteht, sondern als zu einem Team gehörig. Das heißt auch, die Routine möglichst auf andere Ebenen zu verlagern. Auch der Patient

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selbst muss einbezogen werden. Meine Patienten sind immer gekommen und haben sich Blutdruckwerte schon mal mitnotiert. Mit den Blutdruckwerten, die sie zu Hause gemessen haben, und mit ihrer Gewichtsangabe sind sie zu uns in die Praxis gekommen. Prof. Scherer: Die anderen Gesundheitsberufe haben wir noch gar nicht angesprochen: Sie haben jetzt den ambulanten Pflegedienst erwähnt. Es gibt ja auch medizinische Fachangestellte, Ergo-, Physiotherapie, Logopädie. Welche Rolle spielen denn diese Gesundheitsberufe im ambulanten Kontext im Hinblick auf den Zeitdruck? Prof. Baum: Auch die stehen sehr unter Druck. Wir sehen es gerade bei den Physiotherapeuten, dass sie Schwierigkeiten haben, alles hinzukriegen, und die dann die Neigung haben, die Patienten, die sie immer haben, oft zu sehen und neue dann weniger. Von dem ganzen Vergütungssystem her wäre es sinnvoll, wenn man da wieder am Anfang mehr Zeit lassen würde oder mehr Flexibilität zulässt, anstatt sich auf diesen 20-Minuten-Rhythmus festzulegen. Als genereller Rhythmus ist der ja völlig »pille-palle«. Wir brauchen eher mal weniger und mal länger. Und dann müsste man die Patienten stärker integrieren, so dass man sagt, wir üben das jetzt nochmal, beobachten das noch zweimal und dann ist es gut. Dann musst du selbst auch klarkommen. Dagegen stehen diese 20-Minuten-Takte, und dann muss das alles dokumentiert werden anstatt das eher globaler zu sehen. Der Patient kommt mit einem bestimmten Problem, und du machst selbst, wie du denkst. Prof. Scherer: Sie haben eben auch noch gesagt: sich einfach mal zehn Minuten Zeit nehmen, mal mit dem Pflegedienst sprechen. Häufig fehlt uns ja im Alltag auch die Zeit, an den Schnittstellen miteinander zu kommunizieren. Prof. Baum: Also das hat bei uns gerade bei den Problempatienten wunderbar geklappt. Da haben wir zwar auch unsere festen Zeiten gehabt. Aber ich konnte mich mit einem Patienten mal um 7:15 Uhr morgens treffen, und später haben wir uns zu anderen Zeiten getroffen, um nochmal zu besprechen, wie es weitergeht. Das hat super geklappt. *

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»Heutzutage herrscht durch die digitale Erreichbarkeit eine ›Alles-undsofort‹-Erwartung.« Interview mit Dr. Stephan Hofmeister Stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung Prof. Scherer: Ich möchte Sie in diesem Gespräch um Ihre Sichtweisen zu den Beschleunigungstrends in unserer Gesellschaft befragen. Die erste Frage wäre: Wie bedeutsam schätzen Sie diese Prozesse in unserer Zeit ein? Dr. Hofmeister: Sie sind ungeheuer und in allen Lebensbereichen vorhanden und damit natürlich auch und vielleicht sogar insbesondere relevant für die Arzt-Patienten-Beziehung. Prof. Scherer: Können Sie das im Hinblick auf die medizinische Versorgung präzisieren? Wie wäre das dann im Hinblick auf die Arzt-Patienten-Beziehung bzw. auf die medizinische Versorgung? Dr. Hofmeister: Ich würde im Wesentlichen zwei Teilaspekte herausgreifen wollen. Der eine ist die ubiquitäre Verfügbarkeit von Informationen, deren Validität überhaupt nicht beurteilbar ist. Man kann jederzeit 24/7 – täglich und rund um die Uhr – vermeintlich sachliche, fachliche Informationen zu allen Themen bekommen. Entsprechend ist der Druck gegenüber dem Laien, dann mit dem Material umzugehen, mit den Informationen umzugehen und sich eben Sorgen zu machen, weil regelhaft beim Informationsbeschaffen dieser Art Dinge herauskommen, die Angst machen, Sorgen machen, und im Umkehrschluss will man dann 24/7 natürlich auch eine Erledigung dieser Sorgen und will Antworten und will jemanden fragen können, der etwas davon versteht. Das macht einen enormen Druck auf die Patienten und in weiterer Folge auch auf Ärzte und nichtärztliches Gesundheitspersonal – in der Abarbeitung dieser Informationsflut und der Verunsicherung, die dadurch entsteht. Prof. Scherer: Das heißt, es besteht eine Erwartungshaltung, die dazu führt, dass der gewünschte Leistungszeitraum ausgedehnt wird?

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Dr. Hofmeister: Vielleicht andersherum: Dadurch, dass sich jeder jederzeit mit Themen befassen kann und informieren kann. Wo man früher vielleicht gesagt hätte: »Weiß nicht genau, was es ist, zwickt halt ein bisschen, kann man auch nichts machen«, googelt man heute, warum es zwickt, und hat am Ende eine fürchterliche potenzielle Diagnose und braucht dann im Umkehrschluss, um sich wieder zu beruhigen, natürlich möglichst schnell eine Differenzierung aus kompetentem Munde: Ist es denn jetzt schlimm oder zwickt es nur? Und sucht sich die, und die muss dann auch geliefert werden. Das sind gar nicht Erwartungen im negativen Sinn, sondern das ist dann einfach eine zwingende Folge. Prof. Scherer: Gibt es in Ihrer Wahrnehmung eventuell eines oder mehrere spezielle Beispiele, wo Ihnen die Auswirkungen in besonders aussagekräftiger Weise vor Augen gekommen sind? Dr. Hofmeister: Man führt häufig in der Praxis Dialoge mit Menschen, die Symptome gegoogelt und Diagnosen herausbekommen haben, die nicht zutreffend sind, aber zu großer Sorge führen. Das geht von so banalen Dingen wie die übliche Diskussion über Nahrungsmittelunverträglichkeiten, die an allem schuld sein sollen, es aber ganz häufig nicht sind, bis hin zu den Ängsten, onkologische Erkrankungen zu haben oder andere schwerwiegende, ganz seltene Kolibri-Erkrankungen, die aber natürlich, wenn man allgemeine Symptome googelt, theoretisch durchaus auch immer in Frage kämen. Das sind Sachen, die im ärztlichen Arbeitsalltag, würde ich sagen, sogar so gut wie täglich vorkommen. Der Bezug zu Beschleunigung ist: Als es das noch nicht gab, gab es auch dieses Phänomen nicht. Dadurch, dass man solche Information in Echtzeit jederzeit bekommt, tritt das einfach auch furchtbar häufig auf und beschleunigt damit die Inanspruchnahme der Ärzte ungeheuer. Prof. Scherer: Ich verstehe. Wo liegen Ihrer Meinung nach Ursachen und Antriebsfaktoren für die zunehmende Beschleunigung auch in der medizinischen Versorgung? Dr. Hofmeister: Das ist die zweite große Komponente. Da ist einerseits die inhaltliche, tatsächlich sich mit Informationen zur Krankheit auseinanderzusetzen. Die andere besteht darin, dass heutzutage durch die digitale Erreichbarkeit – ich kann nachts

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Flüge buchen, Kinokarten buchen, ich kann Restaurants buchen und wieder absagen, ich kann noch auf dem Flughafen meinen Sitzplatz verändern – eine »Alles-und-sofort«-Erwartung herrscht. Man lernt: Ich kann jederzeit alles am besten vom Handy aus steuern und zwar auch 24/7. Das ist inzwischen so tief in unser Leben eingedrungen, dass das auch in der ärztlichen und medizinischen Versorgung sehr stark spürbar wird. Auch dort wird das erwartet. Insbesondere in einem so ungesteuerten System wie unserem, in dem es ja keinerlei Incentivierung gibt, sich irgendwie ressourcenschonend zu verhalten. Dass man einfach sagt, ich will jederzeit rund um die Uhr ganz bequem und möglichst direkt vor der Haustür versorgt werden, wenn ich das Gefühl habe, jetzt, genau jetzt will ich die Versorgung haben. Das war früher mit Sicherheit nicht so, da war klar, ein Arzt oder eine Post oder irgendwas ist »von – bis« offen und dazwischen ist das geschlossen und nicht erreichbar. Fertig. Das akzeptiert heute niemand mehr. Prof. Scherer: Sie sind stellvertretender Vorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und somit an der Spitze einer großen Institution. Inwieweit spielen institutionelle oder auch gesetzgeberische Zusammenhänge eine Rolle, wie zum Beispiel Anreize, Honorierungs- oder Abrechnungssysteme im Hinblick auf den Beschleunigungsdruck? Dr. Hofmeister: Die spielen auf jeden Fall eine ganz große Rolle. Natürlich ist auf der Honorierungsseite immer darauf zu achten, dass die Anreize möglichst nicht Mengenanreize sind, sondern idealerweise Anreize für die Qualität der Arbeit. Das ist eine Herausforderung, die wir immer haben. Da muss immer eine Balance gefunden werden zwischen der Bezahlung der Menge, also sozusagen Pauschale vs. Einzelleistung. Das bleibt ein Spannungsfeld, an dem wird immer gearbeitet werden müssen. Und auf der anderen Seite, auf der Zahlerseite ist natürlich die große Frage: Ist es tatsächlich auf Dauer leistbar, dass ein völlig ungesteuertes Leistungsversprechen gegeben wird, das dem Bürger suggeriert, er könne jederzeit alles erwarten? Wir wissen als diejenigen, die im System arbeiten, dass man nicht jederzeit alles braucht und dass wir die Ressourcen überhaupt nicht

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haben, um das zu liefern, völlig unabhängig davon, ob es medizinisch sinnvoll ist oder nicht. Wir könnten es schlicht nicht. Und es hängt nicht allein am Geld, es hängt schlicht an den fehlenden Fachkräften, die so etwas leisten könnten. Das ist bei uns sicher ein systemischer, ein Strukturfehler, dass wir eine Inanspruchnahme für alle medizinischen Leistungen haben, die im System der gesetzlichen Krankenversicherung gegenüber den Versicherten keinerlei Einschränkungen bietet. Prof. Scherer: Sie haben von unrealistischen Ansprüchen und Erwartungen gesprochen. Inwiefern gibt es da auch unrealistische Erwartungen im Hinblick auf schnelle Linderung oder Heilung von Krankheiten oder Symptomen? Mit anderen Worten: Haben wir vielleicht sogar ein Problem bei der Gesundheitskompetenz? Erwarten Menschen auch im Hinblick auf eine schnelle Linderung und Heilung zu viel? Dr. Hofmeister: Das Erste: Es ist schon bemerkenswert, wenn auf höchster politischer Ebene mitgeteilt wird, dass Krebs bald ausgerottet sei. Das trägt zu Heilserwartungen bei, die medizinisch unsinnig sind. Das ist ein Problem, eine Komponente, so eine Art Technik- oder Methodengläubigkeit, dass wir alles besiegen können. Das ist das eine. Das Zweite: Ich will nicht ausschließen, dass die vorher schon genannte Informationsflut auch dazu führen kann, dass eine gewisse Ungeduld entsteht: Kann man da nicht etwas machen? Ich habe doch gelesen, da gibt es etwas ganz Neues. Bei genauer Betrachtung möglicherweise für den Fall überhaupt nicht geeignet, aber man hat es halt gelesen und fühlt sich dieser Gruppe zugehörig. Der dritte Punkt: Die Gesundheitskompetenz ist im freien Fall. Das gilt für die theoretische – ich glaube, dazu gibt es gute Daten. Das gilt aber auch für das allgemeine Gesundheitswissen. Die Familienstrukturen werden immer dünner, und damit wird es immer unwahrscheinlicher, dass innerhalb eines Familien- oder Sozialverbandes noch jemand da ist, der so eine Kompetenz hat und der dann sagen kann: Pass mal auf mit dem Kind, das kenne ich, da musst du jetzt nicht zum Arzt, das kann man jetzt auch mal zu Hause angucken und behandeln. Der vierte Punkt betrifft die Gesundheitskompetenz im erweiterten praktischen Sinn. Ich denke zum

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Beispiel an die Bewegungszuständigkeit, Bewegungsfähigkeit und die Bewegungskompetenz von Kindern in Grund- und weiterführenden Schulen. Die hat dermaßen abgenommen, dass man bei Polizei und Militär zunehmend Schwierigkeiten hat, Rekruten zu finden, die an den einfachsten Sportprüfungen erfolgreich teilnehmen können. Prof. Scherer: Wenn wir über den Beschleunigungsdruck sprechen, können Sie da auch etwas über dessen Auswirkungen sagen? Vielleicht aus Ihrem beruflichen Kontext als KBV-Vorstand. Dr. Hofmeister: Ich sage mal, der Bogen vom Hausarzt zum KBVVorstand ist da gar nicht so weit. Wenn natürlich die Erwartungen eines Patienten immer stärker sind, dass er irgendwo hingeht und dort etwas »weggemacht« wird, dann ist das ja sehr häufig weit weg von der medizinischen Realität. Ich denke da an die Rückenschmerzen, von denen wir alle wissen, dass der ganz große Teil von ihnen sehr gut in den Griff zu kriegen wäre, würde man sich nur selbst aktiv regelmäßig sportlich oder rückengymnastisch betätigen. Im Umkehrschluss kriege ich Rückenschmerzen solcher Art fast nie weg, wenn ich das nicht tue, aber regelmäßig zum Arzt gehe und dem immer sage: »Es tut weh, mach mal was!« Das Gleiche gilt beim metabolischen Syndrom usw. Also ganz klar, wenn diese Entwicklung weiter zunimmt, dass man vom Arzt, vom Therapeuten, vom medizinischen System erwartet, dass es das Problem wegmacht oder löst, und dabei die Notwendigkeit nicht zu Kenntnis nimmt, dass man selbst dazu beitragen muss, dann entsteht eine Spannung, die wir nicht mehr auflösen können. Prof. Scherer: Würden Sie sagen, dass die Erwartung »Bitte das Problem wegmachen« dann auch zu einer Überversorgung führt, so dass dann eben mal schnell eine Wirbelsäulenchirurgie gemacht wird oder auch ein Hüft- oder Knie-TEP? Dr. Hofmeister: Nicht auszuschließen, aber viel häufiger kommt doch vor, dass mir eine Antwort bei dem einen Arzt nicht passt und ich dann zu einem weiteren und vielleicht auch noch zu einem dritten gehe – so lange, bis ich das finde, was meiner eigenen Vorstellung, wie ich es gern geregelt hätte, am besten zupass kommt. Und diese Freiheit gibt es ja bei uns, so dass es auf beiden

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Seiten tatsächlich zu einer Überversorgung kommen kann oder zu einer Fehlversorgung, wie ich in diesem Fall eher sagen würde. Prof. Scherer: Wenn es um die Erwartung geht, dass ich ein Problem habe und das soll mir weggemacht werden, da würden, glaube ich, 90 Prozent der Deutschen möglicherweise sagen: »Ja, deshalb gehe ich zum Arzt: Ich habe ein Problem und möchte, dass es weggeht.« Dr. Hofmeister: Aber Sie fragen mich ja als Arzt, und als Arzt würde ich sagen, das trifft auf die meisten Probleme nicht zu, dass es so einfach ist. Auch den hohen Blutdruck macht ja nicht der Arzt weg, sondern neben den Tabletten, die den Blutdruck senken helfen, würde ich immer sagen: Wenn Sie sich bewegen, wenn Sie Gewicht reduzieren, wenn Sie Ihre Ernährung umstellen, wird Ihr Blutdruck signifikant sinken. Und das ist notwendig, weil das für Ihre Gesundheit und für Ihre Langfristprognose viel besser ist, als ausschließlich diesen Blutdrucksenker zu futtern. Außerdem müssen Sie den auch regelmäßig nehmen und können ihn nicht jeden zweiten Tag vergessen. Oder wie manch einer sagt: »Mensch, da ging es mir so gut, da hab ich ihn mal eine Zeit lang nicht genommen, aber jetzt habe ich wieder so einen roten Kopf.« Sie kennen das ja alles. Es ist eben so, dass die meisten medizinischen Probleme nicht von einem Arzt weggemacht werden. Natürlich gibt es digitale Lösungen. Wenn ein Appendix entzündet ist, muss er raus. Das macht der Arzt, danach ist es geheilt, na klar. Das meine ich natürlich nicht. Klar gibt es auch »digitale« Krankheiten, die tatsächlich weggemacht werden. Aber insbesondere in der Allgemeinmedizin, also in der breiten Versorgung etwa von chronisch Kranken ist es eben nicht so, dass man zum Arzt geht und der das wegmacht: Denken Sie an Asthma, Diabetes, Blutdruck und vieles andere. Prof. Scherer: Ich habe Sie schon so verstanden. Das heißt, was es eigentlich braucht, ist Geduld auf Seiten der Patienten. Aber damit sie diese Geduld haben können, bräuchten sie wiederum etwas mehr Gesundheitskompetenz oder auch Verständnis für die Dinge. Dr. Hofmeister: Ja, und Sie haben gerade ein wunderschönes Stichwort gesagt: Geduld geht uns verloren bei der Beschleunigung, die wir erleben. Wir sind es nicht mehr gewohnt, geduldig zu

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sein. Es muss alles sofort erledigt werden: Telebanking. Früher war völlig klar (damit will ich nicht sagen, dass ich die alten Zeiten zurückhaben möchte): Meine Bankfiliale hat »von – bis« offen. Und wenn die nicht offen war, konnte ich nichts machen, nichts überweisen, nichts abheben, gar nichts. Da gab es keine Geldautomaten. Die Welt hat auch funktioniert. Da hätte mir die Ungeduld nichts geholfen, also hatte ich sie nicht. Heute kann ich 24/7-Banking machen. Beim Kauf kann ich alles machen. Das heißt, die Geduld geht uns verloren. Das ist nicht Schuld der Patienten, sondern die Geduld geht uns durch die Beschleunigung verloren, aber in der Medizin braucht man Geduld. Völlig richtig. Prof. Scherer: Inwiefern verursacht die Beschleunigung Schäden? Inwieweit schadet sie dem Patienten oder beschädigt sie das ArztPatienten-Verhältnis? Inwiefern ist sie problematisch für die Versorgungsqualität? Dr. Hofmeister: Eigentlich vornehmlich aus dem gerade Gesagten, nämlich aus der fehlenden Bereitschaft, vor allem bei ernsteren oder chronischen Erkrankungen zu sagen: Ich muss eigentlich viel mehr lernen, mit der Krankheit zu leben oder den Prozess der Heilung zu erlauben und nicht diesem ungeheuren Druck nachzugeben: Das muss weggemacht werden. Das muss jetzt weggehen. Ich muss funktionieren, es muss sofort erledigt werden. Das, glaube ich, ist eine hohe Belastung, weil es schlicht nicht lieferbar ist. Und wenn man Forderungen stellt oder Ergebnisse erwartet, die unrealistisch sind, ist die Frustration nachher enorm hoch. Prof. Scherer: Wir kommen zum vorletzten Themenkomplex, zu den Zukunftsperspektiven. Welche zukünftigen Entwicklungen erwarten Sie im Hinblick auf den Beschleunigungsdruck in der medizinischen Versorgung? Dr. Hofmeister: Die Digitalisierung wird eine ungeheure Rolle dahingehend spielen, dass es vermutlich immer mehr Interaktionen gibt, die elektronisch stattfinden werden. Ob es dann mit Künstlicher Intelligenz auch Algorithmen gibt, die abgefragt werden, Diagnose-Tools – ich begrüße das nicht, aber es wird halt kommen. Möglicherweise wird durch diese Rubrik auch einiges abgeräumt. Möglicherweise gibt es dann auch eine ganze Reihe

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von Kontakten, die innerhalb dieses Feldes stattfinden und die dann gar nicht mehr beim Arzt auftauchen. Das will ich nicht ausschließen. Also vielleicht entsteht da so eine Art Bereinigung, indem sich dann die Leute damit auch abschließend beschäftigen und dann am Ende nur noch zum Arzt kommen, wenn sie wirklich Probleme haben. Das wird aber auf jeden Fall kommen. Ich kann im Moment nicht abschätzen, was das am Ende auslösen wird, ob es ganz negativ wird, dass es also jeden dauerhaft ständig zum Arzt treibt, oder ob es eher in die andere Richtung geht, wie ich es vorhergesagt habe, dass vielleicht eine ganze Reihe von Leuten dadurch erstmal mit sich und dem System beschäftigt sind und dann nur bei uns anlanden, wenn sie uns wirklich brauchen. Die zweite Komponente ist die Frage der Gesundheitskompetenz. Wenn wir nicht ungeheure Anstrengungen im Bildungswesen unternehmen – das hat zunächst überhaupt nichts mit den Ärzten oder mit der medizinischen Versorgung zu tun –, Wissen zur Primärprophylaxe zu vermitteln, zur Vermeidung von Krankheiten oder zu chronischen Zuständen und damit eine allgemeine Gesundheitskompetenz anbahnen (das kann in Kindergärten, Tagesstätten, Grundschulen und weiterführenden Schulen geschehen) – wenn wir da nicht investieren in unserem reichen Land, dann werden wir das nicht in den Griff kriegen, und wir werden sowohl kostentechnisch als auch personaltechnisch mittelfristig nicht bewältigt bekommen, was wir an Last zu stemmen haben. Es ist eine absolute Notwendigkeit, dass wir uns dem Problem Prophylaxe, Primärprophylaxe, Gesundheitskompetenz widmen. Da wäre ein ungeheures Potenzial im Sinne der Einsparung und der Volksgesundheit (bitte den Begriff nicht missverstehen). Prof. Scherer: Einsparungen verstehe ich auch im Sinne von Zeitersparnis. Dr. Hofmeister: Zeitersparnis und dann natürlich auch Geld- und Personalersparnis. Herauszufinden, was tatsächlich durch eigenes Tun nicht vermieden oder nicht gelöst werden kann. Dafür sollte dann das medizinische System da sein. Prof. Scherer: Jetzt frage ich mal provokativ: Sie stehen an der

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Spitze einer großen Vereinigung, die ja auch regulatorische Funktionen hat und ausüben kann. Sie sagen aber, dass es auch am Individuum liegt, seine Gesundheitskompetenz zu verbessern und sein ungerichtetes Inanspruchnahme-Verhalten bzw. seine Erwartungs- und Anspruchshaltung zu verändern. Dr. Hofmeister: Drei Teile: Als Institution versuchen wir – zum Beispiel durch die 116 117, die bundesweit erreichbare Nummer des ärztlichen Bereitschaftsdienstes –, genau dieses Beschleunigungsphänomen, dieses Digitalisierungs- und Informationsflutphänomen, das wir ja nicht aushalten können, zu kanalisieren, indem wir ein 24/7-Angebot machen, das fast barrierefrei zu erreichen ist. Das ist die institutionelle Antwort. Die zweite Antwort: Wir fordern, dass die Gesundheitskompetenz  – also eine Entschleunigung dadurch, dass Menschen tatsächlich lernen, über sich und ihren Körper Bescheid zu wissen und auch die nötige Bewegung zu haben – schon im Kindesalter gefördert werden soll, um sich grundsätzlich gesund zu halten. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die wir als Staat leisten müssen. Dem steht in Deutschland vermutlich am meisten der Föderalismus im Weg. Das ist eine Aufgabe, deren Lösung nicht bei uns liegt, aber sie muss gelöst werden. Und die dritte Aufgabe: das Individuum. Ich habe nicht viel Hoffnung, dass bei 80 Millionen Menschen die große Mehrheit von sich aus sagt: Mensch, ich muss mich solidarisch verhalten. Das ist nicht zu erwarten. Es ist aber umgekehrt relativ einfach und funktioniert in allen anderen Lebensbereichen auch, eine gewisse Steuerung vorzunehmen. Es ist höchste Zeit, dass der Gesetzgeber im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung auch ein solidarisches Verhalten anreizt, dazu motiviert. Das ginge zum Beispiel über Tarifmodelle für ärztliche Steuerungstarife, also hausarztzentrierte Tarife etc. Das ist eine Forderung, die wir an den Gesetzgeber gestellt haben, mehrfach, die bisher leider noch nicht so implementiert wurde, außer in einigen Selektivverträgen. Wir fordern das für den Kollektivvertrag, für alle. Das ist sozusagen unsere realistische Annahme, dass nicht die Individuen von sich aus sagen: »Mensch, jetzt habe ich verstanden, jetzt verhalte

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ich mich ordentlich«, sondern dass wir da eine Incentivierung brauchen, wie man sie auch in anderen Versicherungen und in vielen anderen Bereichen des Lebens kennt. Prof. Scherer: Sie sind praktisch schon in den letzten Abschnitt gegangen, in dem es um Ansätze zur Verringerung des Beschleunigungsdrucks gehen soll. Sie haben jetzt einige Maßnahmen genannt. Gibt es noch weitere, die hilfreich wären, um den Druck aus dem System zu nehmen? Dr. Hofmeister: Es ist meiner Einschätzung nach unrealistisch, zu sagen, wir kontrollieren und korrigieren das ubiquitäre Angebot von Gesundheitsinformationen. Es gab und gibt ja noch immer solche Bestrebungen: Wir machen eine Plattform, wo dann alles zertifiziert ist. Selbst wenn es gelänge, eine Plattform zu schaffen, auf der wir hoch qualifizierte und laienverständlich, in einfachem Deutsch geschriebene medizinische Informationen haben, ist es ja vollkommen naiv anzunehmen, dass Bürgerinnen und Bürger dann genau diese Plattform besuchen und nicht eben doch all die anderen schönen und vielleicht beworbenen und besser platzierten Angebote, die es noch dazu gibt. Das soll uns nicht hindern, trotzdem so ein Angebot zu machen, ein Angebot mit konzentrierter und seriöser Information. Aber ich habe keinerlei Hoffnung, dass das dann die große Mehrheit dazu bewegen wird, nur noch das zu lesen und auf den anderen »Quatsch« zu verzichten. Prof. Scherer: Sie hatten eben die Digitalisierung angesprochen, und ich will da auf ein mögliches Szenario zu sprechen kommen: Wenn man sich vorstellt, dass vielleicht im Jahr 2025 »Siri« oder »Alexa« oder andere elektronische Angebote Kopfschmerzen oder auch Patienten direkt behandeln, könnte es dann passieren, dass bei den niedergelassenen Ärzten nur die komplexen, aufwendigen Patienten landen, die wirklich sehr viel Zeit brauchen, und man dann auch Vergütung und Abrechnung völlig neu überdenken muss? Dr. Hofmeister: Das will ich überhaupt nicht ausschließen und ich hätte auch gar keine Angst davor. Zum einen habe ich überhaupt keine Sorge, dass es uns Ärzte in Zukunft nicht mehr braucht. Ich bin sogar – je mehr »Siri« und je mehr künstliche Intelligenz wir haben, umso mehr – davon überzeugt, dass Menschen am

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Ende für ganz viele, vor allem ernsthafte Dinge mit einem anderen Menschen, den sie als kompetent einschätzen, sprechen wollen. Das wird nicht mehr zu meiner Lebenszeit sein, dass eine Maschine es übernimmt, die onkologische Diagnose mit mir zu reflektieren und mit mir dann zu überlegen, was das für mich und meine Familie und meine Pläne heißt. Möglicherweise wird es so sein, dass viele Menschen ihr Kopfweh oder ihre Rückenoder andere Probleme mit der Maschine diskutieren. Das mag im Einzelfall dazu führen, dass Dinge übersehen werden. Das liegt dann nicht in der Verantwortung des Arztes, sondern dafür ist dann das jeweilige System verantwortlich. Und ja, es kann auch dazu führen, dass zu uns wirklich nur noch Leute kommen, die uns wirklich brauchen, die also komplex krank sind, schwer krank sind. Darin würde ich allerdings auch die Kernaufgabe von Ärztinnen und Ärzten sehen. Wir haben ja in Deutschland das fast ein bisschen verrückte System, dass wir in unseren Praxen ganz viele Gesunde »behandeln«. Das ist nicht wirklich wünschenswert. Und wenn wir dann in Zukunft fast nur noch wirklich ernsthaft Kranke behandeln, dann müsste unbedingt die Vergütungslogik angepasst werden, die zur Zeit sehr stark über Frequenz und Fallzahl geht und nicht so sehr auf Behandlungstiefe, -breite und -intensität rekurriert. Prof. Scherer: Sie waren viele Jahre Hausarzt, und die letzte Frage möchte ich gern an Sie als jemanden stellen, der in beiden Rollen zu Hause ist, in der Hausarztfunktion, aber auch in Ihrer jetzigen Funktion. Welche konkreten Vorschläge würden Sie unter dem Aspekt eines angemesseneren Umgangs mit der Zeit für eine verbesserte Arzt-Patienten-Kommunikation oder auch für Anamnese und Diagnostik machen? Dr. Hofmeister: Natürlich ist es eine ganz wesentliche Komponente, wenn ich ausreichend Zeit zur Behandlung habe. Ich habe mir in den USA ein System angeguckt, in dem ein Hausarzt vier Patienten pro Stunde hat. Vier. Weil das System dort so getaktet ist. Das ist natürlich eine Zeit, von der man annehmen kann, dass in ihr sehr viel mehr Erkenntnisse gewonnen werden können, um mit dem Patienten gemeinsam einen Weg zu finden, wie man seine Krankheit angeht. Das heißt, natürlich spielt es eine Rolle, ob ich

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als Behandler Zeit habe, mich um das Individuum zu kümmern, das mit einem medizinischen Problem zu mir kommt. Diese Zeit haben wir heute bei der Arbeitsverdichtung, die in den meisten Praxen durch die ungeheuer hohen Patienten- und Fallzahlen vorherrscht, zunehmend weniger, und zwar sowohl bei Hauswie bei Fachärzten. Und sicher täte es gut, wenn man manchmal fünf Minuten mehr hätte für einen Patienten. Die würden am Ende wahrscheinlich insgesamt Zeit und möglicherweise auch erheblich Kosten sparen, weil sie wahrscheinlich ein besseres Outcome, eine höhere Compliance zur Folge hätten. Zeit ist ein ganz wertvoller Faktor in der Medizin, und deswegen ist diese Beschleunigung auch eine sehr besorgniserregende und der Medizin und der Behandlung überhaupt nicht dienliche Entwicklung. Prof. Scherer: Meine allerletzte Frage: Verpulvern wir durch die freie Arztwahl nicht auch viel Zeit? Durch die Möglichkeit, unbegrenzt viele Fachspezialisten in Anspruch nehmen zu können? Dr. Hofmeister: Wir haben auch die Wahl zwischen mehreren Hausärzten. Natürlich wäre das einer der ersten Hebel zu sagen: In einem solidarischen Gesundheitswesen kann nicht der Laie derjenige sein, der mit seinem eigenen rudimentär vorhandenen Wissen, verschärft noch durch das Unwissen aus dem Internet, sich selbst seine Behandlungspfade zusammenstellt. Das ist ein ziemlich irrsinniges System. Deswegen sind wir für eine Steuerung im System, grundsätzlich sicher hausärztlich. Aber ich betone immer als Hausarzt, ich kann mir auch vorstellen, dass ein 21-jähriger MS-Patient, der sonst keine weiteren Krankheiten hat, sich über seinen Neurologen steuern lässt. Insofern will ich das ein bisschen flexibler gesehen wissen. Aber grundsätzlich bin ich für die Steuerung durch eine kompetente Ärztin oder einen kompetenten Arzt im Gesundheitswesen, insbesondere dann, wenn man chronisch krank ist oder multimorbide. Klar, bei Erkältung braucht es keine Steuerung, da muss man überlegen, muss ich überhaupt zum Arzt? Prof. Scherer: Ich habe meinerseits keine weiteren Fragen mehr. Möchten Sie noch etwas ergänzen? Dr. Hofmeister: Nein, ich hoffe, dass das ein bisschen hilfreich

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war für die Themenstellung. Das ist ja, wenn man das so sieht, ein weites Feld mit der Beschleunigung. Das hat so viele Auswirkungen in allen Richtungen. Ich finde, die wichtigste Botschaft von meiner Seite ist, dass ich diese Beschleunigung für extrem kontraproduktiv halte. Medizin ist keine Sache, die schnell gehen muss, wenn man vom akuten Notfall absieht, sondern die in der Regel durch Sorgfalt, durch Ruhe und durch ruhige Kommunikation wesentlich erfolgreicher sein kann als durch Schnelligkeit. Prof. Scherer: Ja, und »patiens« heißt unter anderem auch »geduldig«. Dr. Hofmeister: Deswegen war vorhin Ihr Stichwort auch die Geduld. Die fehlt heute oft, und die Ungeduld verschärft sich noch. Das war früher vielleicht anders, da war man geduldiger, demütiger oder gottesfürchtiger. Bestimmte Dinge hat man eher hingenommen. Das ist heute immer weniger der Fall. * »Es dreht sich ganz viel, es wird beschleunigt, aber die Dinge kommen trotzdem nicht von der Stelle.« Interview mit Prof. Dr. Ferdinand Gerlach Vorsitzender des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin, Goethe-Universität Frankfurt a. M., Vorsitzender des Stiftungsrates der Deutschen Stiftung für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) Prof. Scherer: Vielen Dank, dass wir dieses Gespräch führen können. Es geht um Beschleunigungstrends in der Gesellschaft, aber auch um den Impact gesellschaftlicher Beschleunigungstrends auf die medizinische Versorgung. Ich möchte das Ganze in fünf Schwerpunkte einteilen: Einmal geht es um Ihre grundlegenden Beobachtungen und Einschätzungen, zweitens um die wichtigsten Ursachen und Antriebsfaktoren, drittens um die Auswirkungen der Beschleunigungstrends auf die medizinische Versorgung, viertens um Zukunftsperspektiven und fünftens um

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Möglichkeiten, den Beschleunigungsdruck im Gesundheitswesen zu verringern. Zunächst also die Frage: Wie bedeutsam oder auch folgenschwer schätzen Sie allgemein die gesellschaftlichen Beschleunigungstrends in unserer Zeit ein? Prof. Gerlach: Ohne dass ich mich wissenschaftlich empirisch damit beschäftigt und das nachgemessen habe, kann ich jetzt nur sagen, dass ich ebenfalls Trends zur Beschleunigung wahrnehme, beruflich wie privat und auch auf der gesellschaftlichen wie auf der spezifisch gesundheitspolitischen Ebene. Wobei man unterscheiden muss zwischen Beschleunigung zum Beispiel der Kommunikation auf der einen Seite – Stichworte »E-Mail«, »Chats« oder »neue Medien«. Diese Prozesse verlaufen heute sehr viel schneller als vor zwanzig, dreißig Jahren. Das ist aber nicht unbedingt gleichzusetzen mit einer Beschleunigung zum Beispiel von Entscheidungen oder gar Strukturveränderungen. Wir beobachten an manchen Stellen ein Phänomen, das ich als »hyperdynamen Stillstand« bezeichnen möchte. Es dreht sich ganz viel, es wird beschleunigt, aber die Dinge kommen trotzdem nicht von der Stelle. Ein Beispiel dafür ist die Digitalisierung des Gesundheitswesens in Deutschland: Seit 15 Jahren soll hier die elektronische Gesundheitskarte eingeführt werden. Es wird viel geredet, alles Mögliche gemacht, aber sie ist bis heute nicht da und inzwischen eine veraltete Technologie. Also ich würde da unterscheiden zwischen oberflächlicher Prozessbeschleunigung, insbesondere in der Kommunikation, und Beschleunigung von Entscheidungen und Strukturveränderungen. Prof. Scherer: Wie bedeutsam sind die Beschleunigungstrends für die medizinische Versorgung? Prof. Gerlach: Sie sind generell sehr bedeutsam. In Deutschland speziell haben wir ja Hamsterräder, die sich sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich mit zunehmender Geschwindigkeit drehen. Das hat etwas mit den Anreizsystemen und der damit verbundenen Fehlsteuerung zu tun. Wir liegen ja bei circa 20 ambulanten Arzt-Patient-Kontakten pro Einwohner und Jahr. Genau wissen wir das nicht, weil seit 2006 nicht mehr jeder einzelne Kontakt zu Abrechnungszwecken dokumentiert

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wird. Im stationären Bereich sehen wir eine bemerkenswerte Zunahme von Prozeduren und Belegungstagen. Sie ist auch im internationalen Vergleich extrem auffällig. Ursächlich für diese Beschleunigungen sind stark wirksame Mengenanreize, die zu einem Hamsterrad-Effekt führen. Ärzte, Pflegekräfte und andere Gesundheitsfachberufe sind zusammen mit ihren Patienten in diesen Hamsterrädern, die durch Fehlanreize in Schwung gehalten werden und sogar zunehmend schneller laufen. Prof. Scherer: Was sind solche Fehlanreize? Prof. Gerlach: Im stationären Bereich vor allem die deutsche Ausprägung des DRG-Systems. Das ist als solches nicht schlecht, etwa weil es die Transparenz erhöht und anderen ebenfalls nicht erwünschten Trends wie der zuvor üblichen »legitimierten Freiheitsberaubung« durch tagesgleiche Pflegesätze etwas entgegensetzt. Ein Problem beim deutschen DRG-System ist, dass sich die Zahl der DRGs seit der Einführung verdoppelt hat; dass wir also fast schon ein Einzelleistungssystem haben und kein an Morbidität oder an Diagnosen orientiertes Fallpauschalensystem. Darüber hinaus ist der Anteil der DRG-Finanzierung an den Gesamtbetriebserlösen zu hoch geworden. Dadurch haben die Krankenhäuser, um überlebenswichtige Erlöse zu generieren, leider auch um Investitionen zu refinanzieren, starke Anreize, in die Menge zu gehen. Das müssen wir – da hat der Rat verschiedene Vorschläge gemacht  – dringend durch gezielte Umsteuerung korrigieren. Ähnlich ist es im ambulanten Bereich: Es gibt da zum Beispiel die nur historisch erklärbare Quartalsabrechnung und regional sehr unterschiedliche Honorarverteilungsmaßstäbe, und beide führen letztlich dazu, dass alle Niedergelassenen gezwungen sind, innerhalb ihrer Praxisbudgets bzw. ihrer Regelleistungsvolumina Umsatzoptimierung zu betreiben, und das quartalsweise. Auch damit werden Hamsterrad-Effekte bei der Einbestellung und Abrechnung von Patienten provoziert. Prof. Scherer: Ich finde die Metapher »Hamsterrad« sehr anschaulich und überlege gerade, welche Metapher man für den hyperdynamen Stillstand wählen könnte? Das wäre wahrscheinlich ein Standbild. Könnten Sie für den hyperdynamen Stillstand – die elektronische Gesundheitskarte hatten Sie schon genannt – noch

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ein weiteres Beispiel nennen? Das ist ja eine Entwicklung, die quer liegt zu dieser ganzen Hamsterradentwicklung. Prof. Gerlach: Das Hamsterrad selbst ist ja auch so ein hyperdynamer Stillstand. Da rennt der Hamster im Rad und kommt keinen Millimeter voran. Das ist mehr oder weniger das gleiche Bild. Auch wenn er immer schneller läuft, läuft er letztlich auf der Stelle. Grundsätzlich ist es so, dass dieses Problem der Beschleunigung durch Mengenanreize viele Dimensionen hat. Ein Grundproblem besteht darin, dass unser gesamtes System, ambulant, stationär, aber auch bei der Refinanzierung der Krankenkassen, kontakt- und morbiditätsorientiert ist. Das heißt, nur wenn ich Patientenkontakte habe, eine Diagnose stelle, Morbidität feststelle, bin ich legitimiert, eine Abrechnungsdiagnose zu dokumentieren und erst damit diagnostische und therapeutische Leistungen zu erbringen. Das heißt: Morbidität ist die Eintrittsvoraussetzung für die Leistungserbringung, für Umsatzgenerierung, für Erlöse. Das gilt auch für die Refinanzierung der Krankenkassen. Über den morbiditätsorientierten Risiko-Strukturausgleich haben alle ein Interesse daran, dass bestimmte Krankheiten (nämlich 80) bevorzugt dokumentiert werden, dass also Morbidität spezifisch festgestellt wird. Deshalb haben Kostenträger und Leistungserbringer letztlich ein immanentes Interesse an Morbidität. Umgekehrt bedeutet das, dass Gesunderhaltung, Abwarten, Betreuen, ohne etwas zu tun, Trösten, Begleiten etc. keinen relevanten Preis hat und sich letztlich sogar »geschäftsschädigend« auswirkt. Prävention ist  – überspitzt gesagt  – besonders geschäftsschädigend, denn wenn sie funktionieren würde, wären die Menschen tatsächlich gesünder. Dann würden weniger diagnostische und therapeutische Leistungen erbracht. Damit wäre weniger abzurechnen, und das ganze Anreizsystem würde denjenigen bestrafen, der sich präventiv ausrichtet, der nicht in die Menge geht, der »nur« redet, anstatt aktiv zu therapieren und zu operieren. Prof. Scherer: Könnten Sie mir einen kleinen Überblick über konkrete Auswirkungen des Beschleunigungsdrucks geben, mit denen Sie im Rahmen ihrer beruflichen oder auch institutio-

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nellen Tätigkeit konfrontiert werden? Erzählen Ihnen zum Beispiel Ärzte oder Pfleger oder auch Patienten in dieser Hinsicht Einschlägiges? Oder erfahren Sie etwas in berufsethischen Diskussionen oder auch im Zusammenhang mit Ihrer Tätigkeit als Ratsvorsitzender? Prof. Gerlach: Ja, auf vielfältige Weise. Wobei Beschleunigung ja nicht nur heißt, innerhalb kürzester Zeit etwas mehr und schneller zu machen, sondern es geht auch darum, dass gegebenenfalls etwas unnötig oder falsch gemacht wird. Wir haben zum Beispiel bei der enormen Ausweitung von Linksherzkathetern oder Wirbelkörperoperationen deutliche Hinweise auf so genannte angebotsinduzierte Leistungen. Und darüber berichten Ärzte. Ich hatte eine Arbeitsgruppe mit Kardiologen, die darunter leiden, dass sie durch die Geschäftsführung in ihren Kliniken dazu gedrängt werden, mehr invasive Diagnostik und Therapie zu machen, als sie selbst als Ärzte für verantwortlich und sinnvoll halten. Und »mehr« bedeutet ja auch innerhalb gleicher Zeit mit dem gleichen Personal mehr Prozeduren, das heißt schneller. Das fühlt sich an wie Beschleunigung, das fühlt sich an wie Hamsterrad, das korrumpiert nicht zuletzt das ärztliche Gewissen, weil dann Indikationsausweitung und Indikationsüberdehnung resultieren. Das führt zum Beispiel dazu, dass wir in der Kardiologie in Deutschland »sehr gut« sind bei invasiven diagnostischen und therapeutischen Prozeduren. Die werden häufig angewendet. Da gibt es ein flächendeckendes Angebot, aus unserer Sicht ein Überangebot. Aber gleichzeitig stehen wir in der Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen im internationalen Vergleich ausgesprochen schlecht da. Wir tun viel zu wenig für Herz-KreislaufPrävention, wir investieren hingegen zu viel in Kuration. Das ist eine direkte Auswirkung des Anreizsystems, und darunter leiden viele Ärzte, die das sehr gut reflektieren können. Patienten wissen das oft nicht. Die fühlen sich dann sogar noch gut behandelt, wenn man alles unternommen hat und alles gründlich untersucht wurde. Aber von Ärzten, auch gerade Kardiologen – da übrigens interessanterweise speziell von älteren Kardiologen, die das mit einem gewissen Abstand sehen können –, habe ich das schon häufiger gehört.

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Prof. Scherer: Das ist sehr nachvollziehbar und wirft die Frage auf, ob das Thema des relativen Zeitmangels in Wirklichkeit nicht doch ein Fehlversorgungsthema ist. Wenn ich falsche Dinge tue, dann schade ich nicht nur dem Patienten, sondern dann fehlt mir auch die Zeit fürs Richtige oder fürs Wesentliche. Prof. Gerlach: Richtig. Über- und Fehlversorgung sind immanent damit verbunden. Das betrifft übrigens auch den gefühlten Ärztemangel. Die Wahrnehmung resultiert ja auch aus diesen Beschleunigungseffekten und Hamsterradbedingungen. Ursächlich ist hier häufig eine durch Fehlanreize und Fehlverteilung bedingte Hamsterradsituation, die, wenn man sie kompensieren würde, zu geringerem Leistungserbringungsbedarf je Zeit führen würde. Das heißt, würden wir die Hamsterräder abbremsen, eventuell sogar ganz anhalten, würden alle sich besser fühlen, hätten also nicht mehr das Gefühl, ständig gehetzt zu sein und oft gegen einen gewissen inneren Widerstand gezwungen zu sein, in die Menge zu gehen. Prof. Scherer: Inwieweit erscheinen Ihnen diese Auswirkungen zwangsläufig bzw. unter welchen Voraussetzungen wären sie vermeidbar? Prof. Gerlach: Sie sind zum Teil auf jeden Fall vermeidbar. Ich will das nochmal an einem Beispiel aus dem stationären Bereich belegen: Wir liegen bei der Zahl der Ärzte in Deutschland auf Platz fünf von 29 OECD-Ländern, wahrscheinlich inzwischen sogar schon auf vier oder drei, weil die Zahl der berufstätigen Ärzte in Deutschland jedes Jahr deutlich ansteigt. Wir sind aber bei Ärzten je 1.000 Belegungstagen im Krankenhaus plötzlich ganz am Ende der Tabelle, da haben wir nur 0,9 Ärzte je 1.000 Belegungstagen im Krankenhaus. Mein Vergleichsland ist Dänemark, nicht weit von Hamburg entfernt. Da gibt es insgesamt weniger Ärzte, nämlich nur 3,7 pro 1.000 Einwohnern, in Deutschland gibt es 4,1 pro 1.000 Einwohnern. Dort gibt es aber je Klinikbett 3,7-mal so viele Ärzte, nämlich 3,3 je 1.000  Belegungstagen. Also nochmal im Vergleich zu uns: Es gibt in Dänemark weniger Ärzte pro Einwohner (3,7 pro 1.000, in Deutschland 4,1), aber je Klinikbett gibt es 3,3 je 1.000 Belegungstagen und bei uns nur 0,9. Für dieses eklatante

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Missverhältnis gibt es nur eine Erklärung: Wir haben in Deutschland viel zu viele Belegungstage. Wir haben ein Hamsterrad und schleusen ganz viele Patienten durch unsere Krankenhäuser. Wir sind ineffizient, was die Leistungserbringung angeht, und wir weiten die Indikationen aus. Und genau deshalb fühlt es sich für diese 0,9 Ärzte pro 1.000 Belegungstagen an wie im Hamsterrad, beschleunigt mit hängender Zunge. Würde man die unnötigen Krankenhausaufnahmen und Prozeduren reduzieren, dann hätte man bei gleicher Zahl von Ärzten ein besseres Verhältnis zu den Patienten. Würden wir also von den 2.000 Krankenhäusern diejenigen schließen, die wir nicht benötigen, insbesondere die kleineren, nicht bedarfsnotwendigen Häuser in den Ballungsgebieten, dann könnte man die Ärzte, die dort jetzt tätig sind, in den Häusern einsetzen, die wirklich gebraucht werden und bestehen bleiben. Wenn man dann die Zahl der stationären Aufnahmen reduzieren würde, hätte man plötzlich ein viel günstigeres Verhältnis von Ärzten zu Patienten als vorher. Das Gleiche gilt übrigens für Pflegekräfte. Wenn man also an dieser zentralen Stellschraube drehen würde – das ist schwierig, aber möglich –, dann würde man für Entschleunigung sorgen, für mehr Zufriedenheit und für weniger Überversorgung. Prof. Scherer: Nehmen Sie in der Problematik des Beschleunigungs- oder auch Zeitdrucks eine geschlechtsspezifische Dimension wahr? Stellen Sie Unterschiede zwischen Männern und Frauen fest? Prof. Gerlach: Das kann ich jetzt nicht empirisch fundiert beantworten. Ich kann dazu ad hoc nur einzelne Beobachtungen mitteilen. Ich glaube, es gibt da verschiedene Einflüsse. Zum Beispiel ist es so, dass insbesondere junge Mütter, die zu Hause Kinder haben und berufstätig sind, sich sehr gut organisieren müssen. Und das können sie auch. Die arbeiten zum Teil effizienter und besser organisiert sowie strikter nach Zeitplan als das bei Männern der Fall ist. Aber das ist jetzt eine anekdotische Beobachtung. Auf der anderen Seite sind Männer vielleicht zum Teil eher bereit, sich aus Karrieregründen auch über die eigenen Grenzen hinaus selbst auszubeuten. Aber dafür kann ich keine empirischen, repräsentativen Quellen zitieren. Bei den anderen Dingen, die ich

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eben genannt habe, kann ich noch weitaus mehr Zahlen nennen und auch Zusammenhänge. Da bin ich mir sicher, dass wir da ein Problem haben. Prof. Scherer: Wir sind schon beim vierten Themenkomplex: Zukunftsperspektiven. Welche zukünftigen Entwicklungen erwarten Sie im Hinblick auf den Beschleunigungsdruck? Prof. Gerlach: Da ist schwer zu prognostizieren. Es hängt nämlich davon ab, wie im Gesundheitswesen in Zukunft die Anreizsysteme gestaltet sind und ob wir die Kraft finden, notwendige Strukturbereinigungen durchzuführen. Und das wiederum hängt davon ab, ob wir eine ökonomische, insbesondere Einnahmen-, vielleicht auch Ausgabenkrise bekommen. Das wird wahrscheinlich so sein, und dann ist die Frage, was dann politisch beschlossen wird. Da sind jetzt mehrere Variablen unklar, wo ich nicht bei allen absehen kann, was daraus wird. Ich befürchte, dass bis auf Weiteres der Beschleunigungsdruck erhalten bleibt und dass die Politik zunächst nicht die Kraft für tiefgreifende Veränderungen findet. Ich möchte hinzufügen, dass wir als Sachverständigenrat bereits verschiedene Vorschläge gemacht haben, wie man da herauskäme. So haben wir zum Beispiel schon im Gutachten 2009 eine so genannte Capitation-Finanzierung vorgeschlagen, letztlich also Managed-Care-artige Strukturen. Würde man das intelligent, auf die deutsche Situation angepasst, einführen, dann hätten wir eine sofortige Entschleunigung und Präventionsorientierung. Nochmal zur Erinnerung: Es gibt dann lokale Versorgungsnetze, in denen sich Anbieter, also Kliniken, Haus- und Fachärzte, Apotheken, Physiotherapeuten, Psychotherapeuten etc. zusammenschließen. Ein solches Versorgungsoder Gesundheitsnetz übernimmt dann die Versorgungsverantwortung für eingeschriebene Patienten. Patienten entscheiden sich aktiv dafür, durch dieses Versorgungsnetz versorgt zu werden. Und dann bekommt das Versorgungsnetz eine so genannte Capitation, das ist eine umfassende Pauschale je Versichertem, nach Risiko, Alter und Morbidität gestaffelt. So können die Beteiligten vor Ort selbst überlegen, wie sie mit dem Geld, das sie prospektiv, risikoadjustiert bekommen, unabhängig davon, ob sie Leistungen erbringen oder nicht – das ist jetzt der ent-

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scheidende Punkt – umgehen. Sie können also zum Beispiel in Prävention investieren, denn ab dem Tag, ab dem die Honorierung nicht mehr kontakt- und leistungsabhängig ist, haben sie ja gar kein Interesse mehr daran, unsinnige Leistungen zu erbringen. Dagegen haben sie ein sehr viel stärkeres Interesse daran, in Prävention zu investieren und die eingeschriebenen Versicherten möglichst lange gesund zu erhalten. Das ist ein Konzept, das in der Schweiz bereits ungefähr ein Drittel der Bevölkerung für sich gewählt hat. Diese Organisationsform gibt es auch in den USA in verschiedenen Ausprägungen. Da muss man dann wieder aufpassen, dass es keine Unterversorgung gibt, dass also zum Beispiel teure Leistungen nicht vorenthalten werden, dass keine Wartelisten entstehen. Dafür muss man dann in Kombination zur Capitation so genannte Area- und Access-Indikatoren-abhängige qualitätsorientierte Vergütungs­ variablen für erwünschte Leistungen einführen. Das heißt, man belohnt dann zum Beispiel Pflegeheimversorgung, Versorgung von Palliativpatienten, Prävention etc. Man monitort die Patientenzufriedenheit, die Zugänglichkeit, guckt, ob Wartelisten entstehen usw. Letztlich ist, in Übereinstimmung mit der internationalen Literatur, immer ein so genannter Payment-Mix erforderlich, hier mit einem größeren Anteil (circa 80 bis 90 %) prospektiver Pauschalierung und einem kleineren Teil (circa 10 bis 20 %) leistungs- und qualitätsorientierter Vergütung. So wie es in der Schweiz schon an vielen Stellen oder bei uns mit ersten Schritten dahin im »Gesunden Kinzigtal« gemacht wird. Auf diese Weise könnten wir aus diesem Hamsterrad aussteigen und eine präventionsorientiertere Vergütung wählen. Aber ob die Politik in Deutschland die Kraft dazu findet und ob dies das Modell der Zukunft wird oder ob wir kleinere Schritte dahin machen, das müssen wir noch abwarten. Das wage ich nicht vorauszusagen. Prof. Scherer: Damit haben Sie eigentlich den letzten Komplex schon fast en passant abgearbeitet, nämlich den der Ansätze zur Verringerung des Beschleunigungsdrucks. Welche Möglichkeiten sehen Sie grundsätzlich, den Beschleunigungsdruck in der medizinischen Versorgung zu verringern? Welche Ansätze

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erscheinen Ihnen da verfolgenswert? Was für Schritte in Ihrem Verantwortungsbereich könnten sinnvoll sein? Prof. Gerlach: Die Ursachen sind ja vielschichtig, und deshalb sind auch die Lösungsmöglichkeiten vielschichtig. Zum Beispiel hat die Digitalisierung einerseits das Potenzial, für Entschleunigung zu sorgen. Denken wir mal an automatisierte Algorithmen, die Ärzten die Arbeit abnehmen, die teleradiologische Befunderhebung machen etc. Andererseits wirkt Digitalisierung im Sinne von Beschleunigung, weil alles nur noch »real time« und sofort bzw. »on the fingertip« geliefert werden soll und weil dann Patienten mehr denn je Rund-um-die-Uhr-Beratung und Rundum-Service erwarten. Da kommt es auch wieder darauf an, wie das ausgestaltet wird, wie die Rahmenbedingungen gesetzt werden und wie Instrumente konkret genutzt werden. Was wird sich auch in einem zunehmend wettbewerblichen Markt, einem eventuell weniger regulierten Markt durchsetzen? Man könnte sich noch weitere Dinge vorstellen wie die Delegation von Aufgabenbereichen an andere Berufsgruppen. Da könnte man auch noch viel dazu sagen, welche Effekte das haben kann. Teamarbeit, andere Versorgungsstrukturen mit besserer Vereinbarkeit von Familie und Beruf usw., da gibt es natürlich ganz viele Facetten. Zu jeder dieser Facetten könnte ich jetzt noch etwas sagen, das würde aber, glaube ich, den Rahmen sprengen. Vielleicht eine wichtige Sache noch: Im Augenblick haben Ärzte eigentlich eine relativ starke Position und können von ihren Arbeitgebern sehr viel stärker Dinge einfordern als das früher der Fall war, als es nicht so viele Stellen für relativ mehr Ärzte gab. Heute sind Ärztinnen und Ärzte auf dem Arbeitsmarkt sehr begehrt und können zum Beispiel neue Arbeitsmodelle, bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder organisierte Kinderbetreuung einfordern sowie auch leichter durchsetzen. Es könnte also sein, dass unter diesen Vorzeichen Entschleunigung zumindest bei Ärzten besser gelingt. Zum Teil ist das ja auch bereits so. Wir haben zwar während der Arbeitszeit eine höhere Leistungsdichte – da gibt es übrigens auch noch andere Gründe, den technologischen Fortschritt usw. –, aber wir haben insgesamt kürzere ärztliche Arbeitszeiten. Also die Mammutdienste,

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wie sie unsere Vorgänger hatten oder wie ich sie auch noch gemacht habe (ich habe 32-Stunden-Dienste gemacht), die gibt es ja gottseidank nicht mehr. Es könnte also sein, dass in der jetzigen Situation junge Ärztinnen und Ärzte auch bessere Arbeitsbedingungen erfolgreicher durchsetzen können. Was dann auch zur Entschleunigung beitragen könnte. Prof. Scherer: Sie sind ja nicht nur Träger zahlreicher Funktionen, sondern auch Professor. Und Professoren haben nie Zeit. Wie entschleunigen Sie sich bzw. welchen Tipp haben Sie für Funktionsträger und auch für akademische Vertreter der Medizin? Prof. Gerlach: Tja, ich weiß nicht, ob ich der Richtige bin für diese Frage. Ich finde ja nicht, dass die Dauer der Arbeitszeit das Entscheidende ist, sondern die Qualität und die innere Übereinstimmung damit. Man braucht ja so einen sense of coherence nach Antonovsky. Das heißt, man muss mit dem, was man gerade tut, übereinstimmen, und wenn man sich zum Beispiel in einem so genannten »Flow« befindet, dann merkt man ja gar nicht, wie die Zeit vergeht. Dann ist man ja in Übereinstimmung mit sich und der Aufgabe unterwegs und arbeitet nicht gegen einen inneren Widerstand. Man sollte also erstmal versuchen, möglichst gut in Übereinstimmung mit dem zu sein, was man tut. Das Zweite ist – das kann ich jetzt nur persönlich sagen – ich brauche ein sehr gutes Selbstmanagement und die Fähigkeit sowie Möglichkeit, in einem Team viele Aufgaben arbeitsteilig zu erledigen, sich also als Teil eines Teams zu verstehen. Ich habe im Institut und auch in der Geschäftsstelle des Rates sowie jetzt auch in der Geschäftsstelle der KOMV, also der Kommission für ein modernes Vergütungssystem, jeweils hoch motivierte wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Da komme ich mir manchmal ein bisschen so vor wie ein Dirigent. Ich dirigiere quasi die einzelnen Stimmen und Instrumente, lasse denen aber, anders als vielleicht in einem Orchester, relativ viel Freiraum für die Zielerreichung. Und das muss man gut hinkriegen. Dann kann man auch relativ viel schaffen, finde ich. Prof. Scherer: Das ist ein sehr schönes Schlusswort, weil es auch Teile dessen widerspiegelt, was Sie eben gesagt haben: sense of coherence und in Übereinstimmung sein mit dem, was man

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tut. Ich glaube, wenn wir in der Versorgung mit dem übereinstimmen, was wir tun, und im Sinne einer richtigen Medizin das Notwendige tun und das Unsinnige unterlassen, besser priorisieren, dann sind wir auch eher in Übereinstimmung mit unserer Arbeit und gewinnen möglicherweise auch mehr Zeit für das Wesentliche. * »Ich setze große Hoffnungen auf die jetzigen Generationen, die sogar beim Arbeiten leben wollen.« Interview mit Prof. Dr. Frank-Ulrich Montgomery Chair of Council, World Medical Association (WMA), President, Committee of European Doctors (CPME), Ehrenpräsident der Bundesärztekammer Prof. Scherer: Ich bereite mit Kollegen ein Buchprojekt über Beschleunigung und Zeitdruck im Gesundheitswesen vor. Was mich interessiert, ist die Perspektive des langjährigen Bundesärztekammerpräsidenten, aber auch die des Präsidenten des Weltärztebundes. Könnten Sie etwas aus diesen beiden Perspektiven sagen? Prof. Montgomery: Aus der Sicht des Präsidenten der Bundesärztekammer wissen wir, dass sich der Zeitdruck und die Arbeitsintensität im Gesundheitswesen in der Zukunft noch weiter vermehren werden. Das hat vor allem drei Gründe: Der erste Grund liegt in der zunehmenden Komplexität der Medizin, die immer weniger von allen Menschen komplett durchdrungen werden kann, weswegen wir immer mehr Spezialisierung haben. Der zweite Grund liegt in der Tatsache, dass wir zu wenig hoch qualifiziertes Personal haben, und zwar nicht nur auf Seiten der Ärzte, sondern genauso in anderen Berufen, die uns im Gesundheitswesen helfen, so dass sie große Schwierigkeiten haben, die Aufgaben, die sie zum Teil bewältigen müssen, an andere Berufe abzugeben. Und schließlich das dritte Thema, das uns alle ganz immens beschäftigt, wird die Digitalisierung sein. Wir müssen

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das als Chance nutzen, uns bei den beiden eben vorgenannten Problemen zu helfen. Es wird von uns aber gleichzeitig verlangt, dass wir ganz viel lernen und dass wir uns anpassen, dass wir mit diesen Instrumenten umgehen können. Das ist, glaube ich, eine der zentralen Herausforderungen, vor denen wir in der Bundesärztekammer stehen. Im Weltärztebund gibt es ebenfalls drei ganz große Themen, die uns in Zukunft bewegen: Das erste sind veränderte Gesellschaftsstrukturen, mit denen auch veränderte ethische Rahmenbedingungen – ich sage »leider« – in dem Maße einhergehen, in dem Strukturen wie Familie und Religion an Wert und an Bindungskraft verlieren. Dadurch bekommen wir es mit neuen ethischen Strömungen zu tun. Das zeigt sich in den Diskussionen zur Euthanasie, zum assistierten Suizid, aber auch im viel laxeren Umgang mit Daten und weiterhin mit den ethischen Fragen am Anfang und Ende des Lebens. Das macht uns große Sorgen. Das zweite große Thema ist weltweit genau wie in Deutschland der Mangel an qualifiziertem Personal. Die WHO prognostiziert für das Jahr 2030 einen Mangel an 18 Millionen qualifizierten Ärzten und Krankenschwestern weltweit, die man jetzt bereits ausbilden müsste, damit sie dann 2030 da wären. Und schließlich das dritte Thema, das uns in Deutschland nicht so tangiert, das aber weltweit ein Riesenproblem ist: die so genannte »Universal Health Coverage«, also der Versuch, alle Menschen auf der Welt mit medizinischer Versorgung zu erreichen. Da gibt es noch ungefähr 1,5 Milliarden Menschen auf dieser Welt, die haben überhaupt gar keinen Zugang zu irgendeiner Medizin, und das müssen wir versuchen hinzukriegen. Prof. Scherer: Bevor wir uns gleich vertieft auf die Medizin beziehen: Haben Sie einen Blick auf aktuelle Beschleunigungstrends in der Gesellschaft? Prof. Montgomery: Die Medizin, das hat ja schon Virchow gesagt, ist immer nur ein Teil der ganzen Gesellschaft oder der Politik. Insofern gibt es Wechselwirkungen. Ich bin wieder bei der Digitalisierung: Wenn ich mich früher über jemanden geärgert habe, habe ich einen Brief diktiert, der wurde abgeschrieben, korrigiert, nochmal abgeschrieben, mit der Post verschickt, und eine

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Woche nach meinem Ärger hatte der, über den ich mich geärgert habe, den Brief in seinem Briefkasten. Und genauso hatte ich eine Woche später seine Antwort. Heute habe ich mich an einem Tag siebenmal mit dem, der mich geärgert hat, hin und her ausgetauscht. Und das ist ja nur ein symptomatisches Beispiel für diese unbeschreibliche Beschleunigung in allen Prozessen von Kommunikation und Administration um uns herum, und das bleibt nicht folgenlos auch in der Medizin. Wir müssen in einer unbeschreiblichen Geschwindigkeit lernen. Alle zwei Jahre kommen komplett neue iPhones heraus. Dann müssen wir neue Softwarebefehle lernen, müssen wir unsere Verwaltungssysteme im Krankenhaus umstellen, befassen wir uns mit elektronischer Gesundheitskarte und der Frage einer zentralen Datenspeicherung. Das sind ja alles Themen, die es in dieser Geschwindigkeit früher nicht gegeben hat. Deswegen glaube ich, dass wir in einer totalen Beschleunigung der Welt leben und langsam anfangen, darunter auch zu leiden – und deswegen Strategien entwickeln, wie man dem entkommen kann. Prof. Scherer: Könnten Sie dieses Leiden konkretisieren? Prof. Montgomery: Das Leiden drückt sich für mich zum einen darin aus, dass ich in letzter Zeit oft das Gefühl hatte, meine Arbeit nicht mehr zu schaffen. Ich will für mich selbst solche Worte wie »Burn-out« nicht in Anspruch nehmen, aber man hat einfach das Gefühl, man rennt, hechelt immer hinter irgendeiner zu lösenden Aufgabe her und kommt nie an, so ein Sisyphos-­ Phänomen. Das Zweite ist – das wird man auch einfach objektiv merken –, dass Ärzte und pflegende Berufe (also ich will immer die anderen Professionen mit einbeziehen) sehr viel ausgebrannter und sehr viel müder und erschlaffter sind als früher. Nicht umsonst haben wir in der letzten Neufassung der Deklaration von Genf, also der modernen Fassung des hippokratischen Eides, auch einen Passus über die Resilienz von Ärzten mit aufgenommen, weil wir glauben, dass wir darauf achten müssen, dass wir uns nicht als ganzer Berufsstand verbrennen in dem, was wir tun, sondern auch auf uns selbst achtgeben müssen.

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Prof. Scherer: Gibt es Beispiele, an denen Sie die Folgen des Zeitdrucks auch an den Patienten festmachen können? Prof. Montgomery: Ich möchte von den Folgen des Zeitdrucks zunächst einmal wertfrei sprechen. Die Senkung der Verweildauer in den Krankenhäusern zum Beispiel ist ja ein positiver Aspekt dieses ganzen Phänomens. Dass man die Leute heute mit weniger Freiheitsberaubung nicht schlechter behandelt als früher, sondern sogar besser, das ist ein großer Erfolg dieser ganzen Diskussion. Aber auf der anderen Seite haben wir manchmal auch das Gefühl, dass wir dem Menschen in seinen psychologischen und emotionalen Problemen nicht mehr ausreichend gerecht werden. Ich erinnere mich so lebhaft daran, dass man einen Menschen zwar medizinisch ausbehandelt hat, aber sich fragt, kannst du den jetzt nach Hause lassen? Du hast keine Ahnung, wie der zu Hause versorgt ist. Ich glaube, dass hier auch in der Interaktion zwischen Krankenhaus und niedergelassenen Ärzten noch sehr viel verbesserungsfähig wäre, um allen drei Seiten – dem Hausarzt, dem Patienten und dem Krankenhaus – die Sicherheit zu geben, dass hier eine bessere Versorgung stattfindet. Prof. Scherer: Sie hatten in Ihrem Eingangsstatement schon auf die Ursachen und Antriebsfaktoren Bezug genommen. Vielleicht könnten wir die noch einmal konkretisieren. Wenn Sie gesetzgeberische, institutionelle oder auch berufsständische Zusammenhänge betrachten, was wären für Sie die wichtigsten Antriebsfaktoren für den Zeitdruck? Prof. Montgomery: Das Allererste ist, wir brauchen mehr Personal. Ich sage jetzt bewusst »Personal«, weil ich über die Ärzte hinausdenke. Die Ausbildung qualifizierten Personals, bis es wirklich selbstverantwortlich in der Versorgung vorhanden ist, dauert bei Krankenschwestern und Ähnlichen sechs bis sieben Jahre, bei Ärzten 12 bis 15 Jahre, weil man ja immer die Spezialisierungsphase mit einrechnen muss. Deswegen müssen wir heute damit anfangen. Gleichzeitig müssen wir uns aber auch Gedanken machen, welche Aufgaben wir anders und besser verteilen können, ohne dabei den Vorbehalt des Arztes für Diagnose und Therapie zu tangieren. Ich glaube, wir machen heute in unserem Bereich viele Aufgaben, die überhaupt nicht primär ärztliche Auf-

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gaben sind, die uns viel Zeit kosten. Ich will nur als ein Schlagwort Bürokratie und Administration nennen. Da kann man ganz viel an andere Berufsgruppen übertragen. Und drittens: Wir müssen uns natürlich auch über die Kompensationsmechanismen unterhalten. Das DRG-System ist in meinen Augen ein vernünftiges System, aber es wird durch Hyperkomplexität unvernünftig angewendet, und deswegen muss es reformiert werden. Prof. Scherer: Sie haben die Resilienz von Ärztinnen und Ärzten angesprochen, auch die Belastungen. Nehmen Sie da auch geschlechtsspezifische Unterschiede wahr? Prof. Montgomery: Das sehe ich ambivalent. Ich glaube, dass Frauen – das ist eine ganz erstaunliche Erkenntnis – zum Teil sehr viel bessere Mechanismen haben, sich gegen Belastungen zu wehren, als Männer. Und zwar erlebe ich ganz viele Frauen, die dann in Teilzeit oder in ähnliche Jobs gehen – jedenfalls sehr viel mehr als Männer –, um sich auf diese Art und Weise diesem Druck zu entziehen. Ich bewundere die Frauen dafür, wie sie diese Doppelbelastung, die sie ja durchaus von zu Hause und mit der Arbeit haben, bewältigen. Ich glaube, wir Männer verkriechen uns sehr viel mehr in die Komplexität unseres Berufes, machen aber dann weiter bis zum Burn-out. Aber der Gesamtdruck ist auf beide Geschlechter gleich. Prof. Scherer: Wenn wir nochmal in die Zukunft schauen: Wie, glauben Sie, wird sich der Beschleunigungsdruck entwickeln? Wird er zunehmen oder wird die Digitalisierung Abhilfe schaffen können? Prof. Montgomery: Im Moment wird der Druck mit Sicherheit zunehmen. Wir sind momentan in einer Phase dramatisch schneller Veränderungen und Entwicklungen. Das beginnt damit, dass in der Medizin komplette Umwälzungen, nicht nur durch Digitalisierung, sondern auch durch modernen Fortschritt kommen. Denken Sie mal daran, wie viele chirurgische Verfahren heute entweder durch medikamentöse Verfahren oder durch radiologisch interventionelle Verfahren abgelöst wurden. Oder sehen Sie, welchen Fortschritt die Digitalisierung zum Beispiel in meinem Fach Radiologie bringt. Und dann sagen manche Menschen, sie haben Angst davor. Denen antworte ich immer: Als

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ich vor 35 Jahren angefangen habe mit der Radiologie, da war das noch Schwarz-Weiß-Zelluloid in zwei Ebenen und hatte mit dem, was wir heute in der Radiologie machen, kaum etwas zu tun. Mein Berufsbild hat sich in diesen 35 Jahren drei- oder viermal vollkommen gewandelt. Deswegen habe ich auch überhaupt keine Angst vor der Digitalisierung. Die wird uns sehr helfen. Sie wird eher in vielen Berufen zu einer erhöhten Qualifikationsanforderung führen, und der müssen wir uns stellen durch eine vernünftige Ausbildung, Weiterbildung und Fortbildung. Prof. Scherer: Welche künftigen Szenarien im Hinblick auf den Zeitdruck machen Ihnen besondere Sorge, und worauf richten sich die größten Hoffnungen? Prof. Montgomery: Die größte Sorge bereitet mir der zunehmende Konflikt zwischen – ich sag das jetzt mal sehr platt – der Verwaltung auf der einen Seite und den Ärzten auf der anderen Seite. Jeder gibt den ökonomischen Druck mit den für ihn völlig rationalen Methoden weiter. Der Verwaltungsmensch als reiner Ökonom gibt also ökonomische Vorgaben weiter. Der Arzt wehrt sich dagegen, sie umzusetzen, wann immer er auf ein Individuum Patient trifft. Wir haben diese Sprachlosigkeit zwischen Verwaltung und Ärzten noch nicht ausreichend bearbeitet und schon gar nicht gelöst. Da müsste viel Arbeit investiert werden. Denn der ökonomische Druck, den wir in Deutschland momentan eigentlich sogar noch relativ milde spüren, weil durch die konjunkturelle Entwicklung viel Geld in der Krankenversicherung vorhanden ist, wird in der Sekunde zunehmen, in der bei uns die Konjunktur kippt. Wenn die Krankenversicherungen unter Geldmangel leiden, wird sich dieser Druck dramatisch verstärken. Ich habe manchmal das Gefühl, dass wir im Moment nicht ausreichend vorbauen, um uns für diese Situation zu wappnen. Prof. Scherer: Ich möchte gern noch einmal auf die Ansätze zur Verringerung des Beschleunigungsdrucks zu sprechen kommen: Sie haben den Nachwuchs im pflegerischen und im ärztlichen Bereich angesprochen, gleichzeitig dazu gesagt, dass die Ausbildung relativ lange dauert. Welche Möglichkeiten sehen Sie zusätzlich, den Beschleunigungsdruck in der medizinischen Versorgung zu verringern?

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Prof. Montgomery: Erstens setze ich ganz große Hoffnung auf die jetzigen Generationen. Wenn Sie den Generationen-Ablauf betrachten, war das ja so: Als ich 1979 mein Studium beendet hatte und in die Klinik ging, wusste ich, ich verschwinde für fünf Jahre 100 Stunden pro Woche in der Klinik. Wir haben damals eigentlich nur gelebt, um zu arbeiten. Dann kam die Generation X, also die in den 1980er Jahren Geborenen, die haben uns gesehen, haben uns den Vogel gezeigt und gesagt: »So wollen wir nicht arbeiten!« Und haben ganz klare Grenzen gesetzt und gesagt: »Also ich arbeite, um zu leben!« Und das ganz große Problem, das wir momentan haben, besteht darin, dass jetzige Generationen sogar beim Arbeiten leben wollen. Das ist eine ziemliche Herausforderung für Verwaltungen, für Ärztekammern, für uns alle. Da wird dann Ökonomie sogar mal sinnvoll, weil wir auf den Druck der Verknappung mit gezielter Vermehrung reagieren müssen. Das wird sie auch immer mit einem Zeitverzug, mit einem Nachhall tun. Ich bin ziemlich sicher, es wird in absehbarer Zeit mehr Ärzte geben, und die Arbeit wird besser und vernünftiger zwischen den einzelnen Gruppen verteilt werden. Damit wird der Zeitdruck an sich abnehmen. Ob Sie, Herr Scherer, und ich das noch erleben werden, weiß ich nicht, weil diese Zeitläufte ja auch gegenläufige Bewegungen sind. Alles, was wir jetzt machen, um auf der Basis der heutigen Zahlen mehr Leute in den Job zu bringen, die Arbeit besser zu verteilen, wird zum Teil aufgefressen durch die immer weiter zunehmende Verdichtung von Arbeit und den immer weiter zunehmenden Zeitdruck. Wir werden uns noch auf absehbare Zeit mit dem Problem beschäftigen dürfen. Prof. Scherer: Sie haben das eben sehr nett apostrophiert: Die Generation, die sogar schon beim Arbeiten leben will. Das ist ja kein schlechtes Ansinnen. Ich bringe den Begriff »Work-LifeBalance« ins Spiel. Prof. Montgomery: Die haben wir so erzogen! Da müssen wir uns mal an die eigene Nase fassen: Die haben wir so erzogen, und wir haben sie sehr gut erzogen. Ich finde das ja richtig, was die machen. Die leben ja das, was wir uns mit Resilienz erst verschreiben müssen. Und sie haben total recht dabei.

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Prof. Scherer: Der Begriff »Work-Life-Balance« suggeriert ja eine Trennung, die es eigentlich nicht geben muss. »Work« auf der einen und »Life« auf der anderen Seite, das darf schon zusammenhängen. Prof. Montgomery: Da reden Sie jetzt natürlich mit dem völlig Falschen, weil ich in dieser Hinsicht privilegiert bin. Durch die ärztliche Tätigkeit, die ich ja bis zuletzt immer aufrechterhalten habe, durch die parallele berufspolitische Tätigkeit, die mir Riesenfreude macht, aber auch durch das Engagement bei der Apotheker- und Ärztebank gehen bei mir so viele Handlungsstränge durcheinander, dass ich »Work« und »Life« gar nicht trennen kann. Sagen wir mal so: Überall ist immer »Work« dabei, aber »Life« ist so toll, und deswegen habe ich gar kein Problem. Ich kann aber Menschen verstehen, die so nicht leben wollen und die sagen: »Ich möchte das sauber getrennt haben«, und dann müssen wir denen helfen, das zu trennen. Das ist deren gutes Recht. Das müssen wir anerkennen. Nicht jeder kann so ein verrücktes Multitasking-Leben führen, wie manche von uns das tun. Prof. Scherer: Wenn man jetzt nochmal auf die Institutionenebene geht: Gibt es Forderungen, Modelle der Bundesärztekammer oder sogar des Weltärztebundes, oder ist der Zeitdruck einfach ein Thema, das in anderen Themen aufgeht? Prof. Montgomery: Ich würde Letzteres sagen. Es gibt keine allein selig machende Lösung dafür. Es ist ein multifaktorielles Geschehen, und es muss auch multifaktoriell gelöst werden. Es gibt nicht die eindeutige Lösung, mit der man alles erreichen wird. Und wie so oft im Gesundheitswesen: Mit jedem Loch, das ich irgendwo stopfe, reiße ich woanders wieder ein Loch auf. Deswegen müssen wir uns wirklich Stück für Stück durch diese ganzen Arbeitsthemen hindurchhangeln, und die werden sich ja auch verändern, weil so wie sich die Zeit verändert, verändert sich auch die Umgebung um uns herum und verändern sich die Fragestellungen. Deswegen glaube ich überhaupt nicht an das eine große Konzept, sondern wir sind alle gefordert, jeder an seiner Stelle, immer dafür zu arbeiten, dass die Versorgung sich optimiert. Prof. Scherer: Jeder an seiner Stelle. Nun kann ich, glaube ich, sagen, dass Sie als Chef des Weltärztebundes der bedeutendste Funktionär sind, den die Weltärzteschaft kennt.

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Prof. Montgomery: Nein, das sehe ich selbst nicht so. Ein bisschen mehr Bescheidenheit hilft hier manchmal. Sagen wir mal so: Ich bin ja auch nur ein Verkaufsstand für die Ideen, die die Ärzteschaft insgesamt hat. Das muss man nüchterner sehen. Die Ärzteschaft muss sich nach außen artikulieren und ihre Inhalte vertreten können, aber sie sollte nie den Anspruch haben … Also diese Superlative, die Sie mir da eben angehängt haben, die mag ich nicht. Prof. Scherer: Gut, dann lassen Sie es mich anders sagen: Sie haben einen relativ großen Verantwortungsbereich gehabt und jetzt auch weiterhin. Vielleicht ist er sogar noch größer. Was könnten die nächsten Schritte in Ihrem Verantwortungsbereich sein? Was sind die verfolgenswerten Ansätze, die Ihres Erachtens jetzt anstehen? Prof. Montgomery: Ich habe mir momentan für die zwei Jahre, die ich jetzt als Vorsitzender des Weltärztebundes erstmal gewählt bin, zwei Ziele gesetzt: Das erste steckt im Thema »Universal Health Coverage«. Es geht also um die Erreichbarkeit der Medizin für alle Menschen. Das ist eine Verpflichtung, die wir aus den reichen Industriestaaten gegenüber den ärmeren Ländern haben. Wir müssen versuchen, sie an unserem medizinischen Wohlstand partizipieren zu lassen. Es kann nicht sein, dass mir, wenn ich mit afrikanischen Kollegen über das Gesundheitswesen rede, der Kollege aus Ghana nach zehn Minuten leicht lächelnd sagt: »I would like to have your problems.« Da müssen wir ran, und da müssen wir auch vorankommen. Wir sind in der Vergangenheit übrigens schon sehr viel weitergekommen. Es gibt heute viel weniger Menschen, die hungern, viel weniger Menschen, die an schlechten Umgebungsbedingungen sterben, obwohl es immer noch viel zu viele sind. Aber es ist deutlich besser geworden, und wir dürfen das Ziel nicht aus den Augen verlieren, hier noch mehr Menschen zu erreichen. Das zweite: Ich erlebe momentan im Rahmen der Spezialisierung ein langsames Verschwinden der kurativen Medizin – der klassischen Ärzte, vom Hausarzt bis hin zum Spezialisten – aus der politischen Wahrnehmung und Bedeutung, und zwar durch den Zuwachs der so genannten »Public-Health«-Strömungen, die heute zum Teil komplett auch außerärztlich organisiert sind. Das

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sind gar nicht mehr Ärzte, die das machen, da findet keinerlei Kuration mehr statt, da findet nur noch politologische Strukturdiskussion statt. Hier möchte ich gern rauskommen und helfen, dass es uns gelingt, wieder mehr kurativ tätige Ärzte einzusetzen. Das ist für mich ganz wichtig. Prof. Scherer: »Medicus curat, natura sanat«, also der Arzt pflegt, die Natur heilt. Was wäre das Pflegen in Ihrem Sinne? Prof. Montgomery: Ich könnte es jetzt mit Voltaire halten: »Die Aufgabe des Arztes ist es, so lange zu amüsieren, bis die Natur ihr Werk erledigt hat.« Ich kann Ihre Frage so nicht beantworten, also das weiß ich nicht. Prof. Scherer: Aber wenn Sie sagen, »mehr kurativ«, kann ich das so verstehen, dass echte kurative Medizin wieder den gesamten Menschen mehr in den Blick nimmt trotz aller Spezialisierung? Ist das so gemeint? Prof. Montgomery: Genau. Ich kann Ihnen da ein wunderbares Beispiel nennen: Die Debatte um Impfpflicht und Impfen, und jetzt weltweit, gar nicht nur in Deutschland: Masernimpfpflicht. Die Diskussion wird ausschließlich im Public-Health-Sektor geführt. Da wird vollkommen vergessen, dass es nachher kurativ tätige Ärzte sind, die eine Impfanamnese erheben und die Menschen impfen müssen. Und die mit den Menschen in Kontakt sind. Das kann nicht vom Schreibtisch eines Public-HealthMenschen aus geregelt werden. Hier nimmt man die praktisch tätigen Ärzte nicht ausreichend mit bei der Umsetzung der von mir ja gar nicht hinterfragten Grundideen, die dort entstehen. Aber das ist etwas, das mich momentan sehr kümmert. Ich will das auch mit einem Beispiel belegen: Es gab im September 2019 einen Weltgipfel zum Impfen in Brüssel, der von der EU-Kommission und der WHO gemeinsam veranstaltet wurde. Da redete als Einziger mit einem ärztlichen Hintergrund ein Public-HealthMensch, der – ich sage mal, wahrscheinlich – die letzten dreißig Jahre keinen Patienten mehr gesehen hatte. Das kann nicht sein. Hier muss einfach mehr direkte Patientenversorgung auch in diesen Grundfragen stattfinden. Prof. Scherer: Um zum Schluss zu kommen: Welche Vorschläge würden Sie unter dem Aspekt eines angemessenen Umgangs

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mit der Zeit für eine verbesserte Arzt-Patienten-Kommunikation, eine gründlichere Anamnese, Diagnose usw. machen? Oder würden Sie sagen, das ist gar nicht mein Thema, das ist die Freiheit jedes Behandlers? Prof. Montgomery: Nein. Ich glaube, dass die Freiheit des Behandlers zum Teil durch die Anspruchshaltung des Patienten oder vielleicht besser des »Nachfragers« limitiert wird. Ich glaube, dass es uns zumindest in Deutschland, jetzt bin ich mal sehr deutsch, an ausreichenden Methoden der Patientensteuerung fehlt. Wir vergeuden wahnsinnig viel Zeit mit geringmedizinischen Fragestellungen und konzentrieren uns nicht ausreichend auf die wirklich wichtigen Dinge. Das liegt an unserem System, das leider die Menge der Leistungen und nicht die Qualität der Leistungen ausreichend finanziert. Deswegen glaube ich, dass wir auch im Finanzierungssystem – und bei der Novelle der GOÄ versuchen wir, so etwas auch hinzukriegen – mehr wegkommen müssen von dem Finanzieren von massenhaften Leistungen hin zum Finanzieren von lieber weniger, aber dafür dem Patienten zugewandteren, menschlicheren Leistungen, als wir das heute tun. * »Eine konsequente Digitalisierung könnte dazu führen, dass wieder mehr Aufmerksamkeit dem einzelnen Patienten gegenüber ermöglicht wird.« Interview mit Prof. Dr. Heyo K. Kroemer Vorstandsvorsitzender der Charité – Universitätsmedizin Berlin Prof. Scherer: Nehmen Sie neben den allgemeinen gesellschaftlichen Beschleunigungstrends in den unterschiedlichsten Rollen, die Sie haben – Institutsdirektor, Forscher, Lehrer, Dekan, lange MFT-Präsident, Chef der Charité, Privatmensch – spezielle Beschleunigungstrends wahr? Prof. Kroemer: Wenn ich eine Unterteilung in private und berufliche Dinge vornehme, wie Sie das gerade gemacht haben, dann

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ist in meinem privaten Bereich keine wesentliche Veränderung festzustellen. Darum bemühen wir uns aber auch aktiv. In dem ganzen anderen Kontext, sei er unmittelbar beruflich, sei er politisch, ist aus meiner Sicht eine deutliche Beschleunigung auf praktisch allen Ebenen festzustellen, die verschiedenste Ursachen hat. Es gibt aus meiner Sicht keinen Bereich, der von dieser höheren Taktung wirklich ausgenommen ist. Prof. Scherer: Wenn Sie jetzt die einzelnen Bereiche anschauen, einmal den Fakultätsbereich, dann die Leitung eines Klinikums, dazu Forschung und Lehre: Gibt es da Unterschiede, die Sie auch mit Beispielen untermauern könnten? Prof. Kroemer: Wenn wir mit den ganz allgemeinen Dingen anfangen, dann ist der politische Bereich meines Erachtens einer sehr starken Beschleunigung unterworfen. Sie hängt nach meinem Dafürhalten wieder eng mit der sehr veränderten Öffentlichkeitswahrnehmung und Öffentlichkeitsdarstellung zusammen – als Schlagwort würde ich nur »soziale Medien« nennen –, die in den letzten Jahren stattgefunden hat. Sie haben auf jede Art von politischer Äußerung sofort sehr intensive und zeitlich unmittelbare Äußerungen in sozialen Medien, die dann wieder entsprechende Antworten finden. Das heißt, das AktionsReaktions-Spiel im ganzen politischen Raum – und das wird sich wie ein roter Faden durch die ganze Sache ziehen – hat sich aufgrund der schon stattgehabten Digitalisierung und aufgrund der neuen Medien aus meiner Sicht dramatisch verändert. Ich bin ein passiver Twitter-Nutzer und folge nur wenigen Leuten. Ich verfolge zum Beispiel regelmäßig, was der amerikanische Präsident postet, und sehe mir auch die Reaktionen darauf an. Das hat sich schon dramatisch verändert. Und das hat ziemliche Konsequenzen, weil natürlich universitäre Medizin in den großen Kliniken politisch so abhängig ist wie sonst keine anderen Großunternehmen. Das müssen wir uns immer wieder deutlich vor Augen führen. Wir haben weder auf die Preise, die wir erzielen, noch die Löhne, die wir zahlen, noch auf sonstige Rahmenbedingungen, etwa wie viel Geld für Neubauten zur Verfügung gestellt wird oder Ähnliches, einen Einfluss, der politikunabhängig ist. Es gibt meines Erachtens keine großen Unternehmen, die politisch so

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abhängig sind wie Universitätskliniken, und deswegen ist dieser Beschleunigungsprozess in der Politik, der nicht immer zielgerichtet ist, von erheblichen Konsequenzen für das, was wir jeden Tag machen. Im Krankenhaus haben wir eine erhebliche Akzeleration aller Arbeitsvorgänge aufgrund der Art und Weise, wie die Bundesrepublik ihre Universitätskliniken im klinischen Bereich vergütet. Durch die Fallpauschalierung und die daraus resultierenden Konsequenzen hat sich meines Erachtens eine enorme Beschleunigung in allem ergeben, was sich rund um klinische Prozesse dreht, ohne dass wir parallel dazu die notwendigen Voraussetzungen, etwa im Rahmen der Informationstechnologie oder der Infrastruktur, geschaffen hätten. Im Forschungsbereich, würde ich sagen, haben wir einen wettbewerblichen Druck, der sich nach meiner Wahrnehmung nicht wesentlich von dem unterscheidet, wie er vor zehn oder fünfzehn Jahren war. Es gibt also eine Differenzierung je nach Aufgabengebiet. Prof. Scherer: Sie haben gerade im Hinblick auf die Universitätskliniken auch eine bestimmte Drucksituation angesprochen: Da gibt es ja auch Kennzahlen und Lohnsteigerungen, die dann auch immer wieder erwirtschaftet werden müssen. Häufig landet die Belastung dann wieder beim einzelnen Arzt oder Mitarbeiter. Im Grunde genommen reden wir über die Selbstoptimierung des Einzelnen, oder? Prof. Kroemer: Ob das als Optimierung bezeichnet werden kann, weiß ich nicht, aber wir reden über sehr stark veränderte Arbeitsbedingungen der Kollegen, die klinisch tätig sind, und zwar letztendlich auf allen Ebenen. Es geht um die ärztliche Seite, die es, weil zumindest sie sehr gut organisiert ist, geschafft hat, sich zahlenmäßig deutlich zu adaptieren. Es gibt wesentlich mehr Ärzte als noch vor wenigen Jahren, und sie werden mittlerweile auch wesentlich besser vergütet. Diese Beschleunigung trifft natürlich genauso die Pflege. Und in der Pflege haben wir in der Bundesrepublik insgesamt betrachtet über viele Jahre massiv Arbeitsplätze abgebaut, so dass der Quotient Patient – Pfleger sich in Deutschland in einer Größenordnung bewegt, die im inter-

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nationalen Vergleich nicht besonders gut dasteht. Hier ist wirklich ein Problem durch Beschleunigung entstanden. Wir dürfen nicht vergessen, dass von diesem ganzen Prozess, den Sie gerade richtig beschrieben haben, auch selbstverständlich die Verwaltungsstrukturen betroffen sind. Wenn Sie allein nur bedenken, dass ein ganz erheblicher Teil unserer Fälle vom medizinischen Dienst der Krankenkassen angezweifelt wird, entsteht auch auf der Verwaltungsseite ein erheblicher Beschleunigungsfaktor. Prof. Scherer: Wenn man sich jetzt den viel beschworenen demografischen Wandel anschaut und sieht, dass Multimorbidität und die Komplexität der Behandlungsfälle eher zunehmen, dann sind das ja alles Phänomene, die eigentlich mehr Zeit brauchen in der Versorgung. Prof. Kroemer: Das ist völlig korrekt. Und was wir nicht vergessen dürfen: Sie haben jetzt die Seite derjenigen Menschen beschrieben, die die Leistung in Anspruch nehmen. Durch den demografischen Wandel verändert sich ja auch die Zahl der Menschen, die in der Lage sind, diese Leistung zu erbringen. Wir werden viel weniger Leute haben, die im aktiven Arbeitsprozess sind. Da heißt, das Gesundheitssystem hat die zwei Komponenten – also mehr Leute, die es in Anspruch nehmen werden, und im Vergleich dazu weniger Leute, die in der Lage sein werden, die Leistung zu erbringen. Und der dritte Punkt gerade im Gesundheitswesen ist der rasante medizinische Fortschritt, der noch eingepreist werden muss. Da entsteht ein Dreieck aus mehr Leuten, die es in Anspruch nehmen, weniger Leuten, die die Leistung erbringen – und auch weniger Leuten, die überhaupt durch ihre Beiträge das Gesundheitssystem finanzieren –, und das Ganze verknüpft mit einem ganz schnellen medizinischen Fortschritt. Das ist schon eine extrem komplexe Gesamtsituation, die da im Gesundheitswesen entsteht. Prof. Scherer: Wenn wir uns jetzt die wichtigsten Ursachen und Antriebsfaktoren dieser Beschleunigung anschauen, dann haben Sie schon die neuen Medien und auch den MDK genannt. Sind es nicht auch wirtschaftliche Entwicklungen oder institutionelle, gesetzgeberische oder berufsständische Faktoren, die das Rad weiter antreiben?

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Prof. Kroemer: Ich glaube, dass dieses Vergütungssystem wirklich ein wesentlicher Antreiber ist. Die Frage ist, welche Alternative wir dazu haben oder was hier Abhilfe schaffen kann. Neben einer grundsätzlichen Änderung des Vergütungssystems, die politisch ja durchsetzbar ist, wäre dies meines Erachtens eine konsequente Digitalisierung, gerade im universitätsmedizinischen Bereich, und zwar nicht mit der Vorstellung, dass dadurch wesentlich Personal eingespart wird, sondern dass wieder mehr Raum dafür entsteht, dass Menschen sich mit Menschen auseinandersetzen können im Rahmen ihrer Tätigkeit im Krankenhaus. Eine konsequente Digitalisierung, das heißt eine ganz konsequente Übertragung von allen Tätigkeiten, die nicht von Menschen an Menschen ausgeführt werden, sondern die irgendwelche Dokumentationspflichten und Ähnliches implizieren – die heute absolut überbordend sind –, die könnte jetzt in der Tat dazu führen, dass wieder mehr Aufmerksamkeit dem einzelnen Patienten gegenüber ermöglicht wird. Ansonsten gibt es im Prinzip nur einen Weg. Dieses Fallpauschalsystem ist wie eine sich selbst anziehende Schraube. Mein Eindruck ist, dass diese Schraube ihre maximale Anziehung bereits erreicht hat, eigentlich aber schon überdreht ist. Das heißt, dass wir bereits über systemische Adaptionen nachdenken müssen. Und wenn Sie sehen, was der Minister Spahn jetzt macht, nämlich den ganzen Pflegebereich von den Personalzahlen her festzulegen, dann ist zu erwarten, dass das Gleiche auch im ärztlichen Bereich passiert. Damit sind dann die größten Personalkosten komplett fixiert und können gar nicht mehr gemanagt werden. Das könnte eben dazu führen, dass es in der Tat zu einem anderen Grundsystem der Vergütung kommt. Prof. Scherer: Sie sehen das eher positiv? Prof. Kroemer: Ich glaube, dass das Fallpauschalsystem, so wie wir es haben, mit der universitären Medizin nicht wirklich kompatibel ist und dass das nicht lange gutgehen kann. Insofern haben wir sehr lange dafür gekämpft, universitäre Medizin anders zu finanzieren, was im Übrigen in allen uns umgebenden Ländern so gemacht wird. Sie sind damit nicht sehr weit gekommen und insofern halte ich diese Spahn’sche Initiative für sehr begrüßungswert.

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Prof. Scherer: Wir haben das Thema jetzt auf einer systemisch-abstrakten Ebene erörtert. Können Sie mir einen kleinen Überblick über konkrete Auswirkungen des Beschleunigungsdrucks geben, den Sie in Ihrer täglichen Arbeit wahrnehmen, zum Beispiel im Gespräch mit Ärztinnen, Pflegern und auch mal Patienten. Gibt es ein paar ganz konkrete Auswirkungen, die Sie in Ihrem Alltag beobachtet haben? Prof. Kroemer: Natürlich gibt es ganz konkrete Effekte. Wenn Sie darüber nachdenken, wie wir heute wirtschaften, dass wir zu Anfang des Jahres im Prinzip festlegen, wie viele Fälle welchen Schweregrads wir innerhalb des Jahres übernehmen werden, und wir mit den Krankenkassen vereinbaren, wie viele solcher CaseMix-Punkte wir erreichen werden, dann widerspricht das schon mal grundsätzlich meinem Bild von einem Krankenhaus. Ein Krankenhaus sehe ich so wie eine Feuerwehr: Die kommt, wenn Not am Mann oder an der Frau ist, und ich würde niemals auf die Idee kommen, eine Feuerwehr nach Einsätzen zu bezahlen. Es ist eine Einrichtung, die im ausreichenden Maße und in ausreichender Menge bereitgehalten wird, um, wenn sie benötigt wird, da zu sein. Damit fängt das schon an. Und wenn Sie jetzt heute mit Ärzten in der Versorgung reden, dann sagen die Ihnen, dass ihre Tage praktisch völlig durchgetaktet sind, dass sie für einzelne Patienten viel weniger Zeit haben, als sie gern hätten, weil bestimmte Aufgaben abgearbeitet werden müssen, um in einem wirtschaftlich vernünftigen Rahmen zu bleiben, der komplett von außen vorgegeben ist. Das Bild der ärztlichen Tätigkeit, insbesondere wenn Sie es dann möglicherweise mit sehr guter Forschung kombinieren wollen, hat sich somit dramatisch geändert, und ich glaube schon, dass das sehr große Konsequenzen für die nächste Generation haben wird, weil sich viele Leute fragen, ob sie diese Form von Tätigkeit, die anders ist als das, was sie sich bei ihrer Berufswahl vorgestellt haben, langfristig wollen. Im Pflegebereich ist es ja ziemlich extrem, wenn Sie mit den Pflegenden reden. Die haben in der Vergangenheit keine Lobby wie die Ärzte gehabt oder waren nicht so gut organisiert. Dementsprechend haben sie deutlich weniger Personal als noch vor einigen Jahren, das auch nicht sensationell viel besser vergütet

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ist als früher. Von daher machen sich in der Pflege die Effekte des Gesamtsystems wirklich konkret bemerkbar. Aber es sollte nicht vergessen werden, dass die administrativen Strukturen, die dahinterstehen – ich habe Ihnen dieses MDK- Beispiel genannt –, sich natürlich auch grundlegend geändert haben. Prof. Scherer: Sie haben eben schon etwas zu Ansätzen zur Verringerung des Beschleunigungsdrucks gesagt. Bevor ich darauf zu sprechen komme, möchte ich Sie nochmal kurz nach Zukunftsperspektiven befragen. Welche Entwicklungen erwarten Sie im Hinblick auf den Beschleunigungsdruck in der medizinischen Versorgung? Und welche Szenarien erscheinen Ihnen am wahrscheinlichsten? Prof. Kroemer: Ich bin immer grundsätzlich optimistisch, und ich hoffe sehr stark, dass es uns durch das Hilfsmittel der Digitalisierung gelingen könnte, den unmittelbaren Beschleunigungsdruck in der Krankenversorgung etwas zu verringern. Es wäre sehr positiv, wenn das so funktionieren könnte. Sie könnten aber auch ziemlich leicht andere Szenarien an die Wand malen, nämlich dass die wirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik sich nicht so positiv gestaltet wie in den letzten zehn Jahren, dass es zu Einsparmaßnahmen kommt und diese wieder unmittelbar die staatlichen Organisationen betreffen werden, wo dann universitäre Medizin ganz vorne steht. Wir haben das in Göttingen über viele Jahre erfahren. Das ändert sich jetzt. Wir haben ein großes Neubauvorhaben vor uns. Aber hier ist an einem Standort konsequent über 40 Jahre kein einziger neuer klinischer Bau entstanden. Das wäre in einem anderen Unternehmen dieser Größenordnung vollkommen undenkbar. Das heißt, ich komme praktisch wieder zurück zum Eingang unseres Gesprächs: Es gibt keine großen Unternehmen, die politisch so abhängig sind wie Universitätskliniken, und insofern können Sie bei einer sich abkühlenden Wirtschaftssituation auch durchaus Szenarien an die Wand malen, dass die Situation noch schwieriger wird, als sie heute ist. Es hängt immer sehr stark davon ab, wohin jetzt die politischen Richtungen gehen. Beim aktuellen Minister Spahn habe ich schon den Eindruck, dass er wirklich grundsätzlich Dinge verändern will und diese auch an-

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geht. Das ist sonst nicht die durchgängige Wahrnehmung, die man im politischen Raum hat, dass es tatsächlich einen intensiven Veränderungswunsch gibt. Prof. Scherer: Das heißt, wenn ich Sie nach eventuellen Trends befragen würde, die Sie zur Sorge veranlassen, dann würden Sie sagen, das hängt auch sehr von der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes ab, weil gerade Universitätskliniken stark davon betroffen sind. Gibt es noch andere Trends, die Ihnen Sorge machen? Prof. Kroemer: Ja, die vorhin beschriebene Trias halte ich mit für eine der größten Herausforderungen. Dass wir, wenn die geburtenstarken Jahrgänge anfangen in den Ruhestand zu gehen, wesentlich weniger Arbeitskräfte und wesentlich mehr Leute haben werden, die dann krank werden und die Dienstleistung des Gesundheitswesens in Anspruch nehmen. Das geht meines Erachtens nur mit konsequenter Digitalisierung. Das wird eine ganz große Herausforderung. Und persönlich bin ich davon überzeugt, dass in einem zukünftigen Gesundheitssystem der Staat wieder eine größere Rolle spielen sollte und müsste, in der Form, dass von staatlicher Seite deutlich stärker festlegt wird, wie ein Gesundheitswesen eigentlich aussehen soll. Wir hören heute ständig diese Argumentation: Deutschland hat zu viele Krankenhausbetten. Es gibt aber keinen wirklichen Plan, wie diese Betten dann an die benötigten Zahlen adaptiert werden sollen oder was überhaupt die benötigten Zahlen sind, weil sich der Staat in den letzten Jahren sehr konsequent rausgehalten und erhebliche Teile der stationären Krankenversorgung privatisiert hat. Insofern denke ich, dass die staatliche Einflussnahme auf das Gesamtsystem und eine gesellschaftliche Diskussion, wie eigentlich das Gesundheitssystem der Zukunft aussehen soll, eine ganz wichtige Rolle spielen. Prof. Scherer: Sie haben jetzt mehrfach die Digitalisierung erwähnt. Können Sie einmal umreißen, inwiefern die Digitalisierung dabei helfen könnte, zeitliche Ressourcen freizusetzen? Prof. Kroemer: Sie würden in Zukunft zum Beispiel einen ganz großen Teil der händisch durchgeführten Dokumentation digital haben. Wir hätten somit alle Informationen zu einem

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Patienten immer unmittelbar verfügbar. Abgesehen davon, dass Doppeluntersuchungen überflüssig wären, bräuchten Sie auch nicht nach den Dingen zu suchen, die möglicherweise für diesen Patienten notwendig sind. Ich meine, wenn Sie überlegen: Sie setzen sich heute in ein modernes Auto, da können Sie mit wenigen Handbewegungen alle wesentlichen Dinge in diesem Auto steuern. Diese fortgeschrittene Technologie könnte natürlich auch im Krankenhaus eingeführt werden, um auf digitaler Basis die Arbeitsabläufe zu verbessern. Somit bliebe dann Zeit für die direkte Interaktion mit Patienten oder für einen interprofessionellen Austausch über die unmittelbaren medizinischen Notwendigkeiten. Diese Zeit gibt es heute nicht. Dabei dürfen wir auch nicht vergessen, dass die Patienten auch immer älter werden und insofern vergleichsweise vielleicht auch einfach mehr Zuwendung benötigen als jüngere Patienten. Prof. Scherer: In den Ärztebefragungen der letzten 15 Jahre geben Ärzte auf die Frage, wo sie am meisten der Schuh drückt, immer dasselbe an: die Bürokratisierung. Wenn ich höre, was Sie sagen, könnte die Digitalisierung gerade an dieser Stelle helfen. Prof. Kroemer: Ich bin davon überzeugt, dass das eine Geschichte ist, die man in der Tat dadurch deutlich verbessern könnte, wenn man das klug macht. Prof. Scherer: Sie haben schon ein paar Ansätze zur Verringerung des Beschleunigungsdrucks genannt. Die einzelnen Betroffenen haben Sie im Augenblick noch nicht einbezogen, obwohl sie über den gesellschaftlichen Wandel, den Sie angeregt haben, doch wieder ins Spiel kommen. Prof. Kroemer: Ja, für den Einzelnen werden sich fundamentale Dinge ändern. Wenn Sie Lust und Zeit haben, geben Sie mal bei Google meinen Namen ein und gehen dann auf Videos. Ich habe zu dieser Frage in Göttingen in der Akademie der Wissenschaften eine Vorlesung gehalten, inwieweit wir am Ende des Aufklärungszeitalters angekommen sind. Ich bin in der Tat der Überzeugung, dass sich unter anderem aufgrund der Digitalisierung für den Einzelnen seine persönlichen Lebensumstände ganz erheblich ändern werden. Das hat sehr viel mit der digitalisierungsbedingten Auflösung konventioneller Strukturen zu tun, und zwar überall.

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Im Bereich der Mobilität, im Bereich der Medizin, im Bereich der Migration, im Bereich der Politik haben wir überall die gleichen Phänomene: dass die Strukturen, die wir bisher hatten, sich auflösen und dass das sehr viel mit der ubiquitären Verfügbarkeit von Informationen zu tun hat, auf die überall und auch sehr zeitnah zurückgegriffen werden kann, ohne dass man ihren Wahrheitsgehalt noch wirklich prüfen kann. Dass sich für jeden von uns das Leben innerhalb dieser Gesamtsysteme, die wir diskutiert haben, sehr dramatisch ändern kann, das halte ich wirklich für gegeben oder sehr wahrscheinlich. Ich glaube, das ist auch einer der Gründe, die zu der allgemeinen Verunsicherung der Leute führt, die dann wieder zu einem bestimmten Wahlverhalten führt. * »Auf der einen Seite der massive Zuwachs von wissenschaftlichen Erkenntnissen, der nicht so große Zuwachs von medizinischen Handlungsoptionen, und auf der anderen eine geradezu beschleunigungsresistente Eigenzeitlichkeit.« Interview mit Prof. Dr. Urban Wiesing Universität Tübingen, Institut für Ethik und Geschichte der Medizin Prof. Scherer: Wir führen ein Interview über Beschleunigungstrends in der Gesellschaft und ihre Folgen für die medizinische Versorgung. Wir haben Sie, Herr Prof. Wiesing, als Experten ausgewählt, weil Sie Medizinethiker sind. Für wie bedeutsam halten Sie die gesellschaftlichen Beschleunigungstrends unserer Zeit? Prof. Wiesing: Ob das nun die differentia specifica der Moderne überhaupt ist oder ob man die Moderne nur unter diesem Aspekt verstehen kann, wage ich zu bezweifeln. Aber ich glaube, dass es sich um eine sehr wichtige, sehr hilfreiche Perspektive handelt, um die gegenwärtigen Verhältnisse gewinnbringend zu analysieren und historische Fragestellungen zu strukturieren. Wir sollten uns unter dieser Perspektive die Gegenwart anschauen und eben auch die Medizin. Prof. Scherer: Können Sie das konkretisieren?

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Prof. Wiesing: Ich glaube, man muss differenzieren. Es gibt Bereiche in der Gesellschaft, die massiv von Beschleunigung geprägt sind, und andere, die absolut beschleunigungsresistent sind. Und es gibt dann eben die so genannten Desynchronisationen, das heißt, dass das eine mit dem anderen in Konflikt gerät. Ich habe keinen Zweifel, dass in den Bereichen, die durch die moderne Technologie und die weiteren wissenschaftlichen Erkenntnisse der letzten Zeit verändert wurden, die Beschleunigung eines der zentralen Elemente ist. Prof. Scherer: Inwiefern und mit welchen Folgen überträgt sich die Beschleunigung der Gesellschaft auf die medizinische Versorgung? Prof. Wiesing: Wir haben in der Medizin eine enorme Beschleunigung der Wissensproduktion und einen nicht ganz so schnellen Wandel in Bezug auf Therapien. Die Therapien hinken in der Regel hinter der Wissensproduktion her. Gleichzeitig haben wir Verdichtungen von Arbeitsabläufen aus ökonomischen, krankenhausstrukturellen Vorgaben, und zugleich haben wir in der Medizin eben Bereiche, die absolut resistent sind gegen jede Art von Beschleunigung. Das ist das Typische an der Medizin. Prof. Scherer: Gibt es in Ihrer Wahrnehmung spezielle Beispiele, an denen man diese Auswirkungen besonders festmachen kann? Prof. Wiesing: Man kann die Bereiche benennen: Auf der einen Seite eben den massiven Zuwachs von wissenschaftlichen Erkenntnissen, den nicht so großen Zuwachs von medizinischen Handlungsoptionen und auf der anderen eine geradezu beschleunigungsresistente Eigenzeitlichkeit. Also Schwangerschaften dauern weiterhin neun Monate, der normale grippale Infekt dauert eine Woche, und wenn man alles anwendet, was die Medizin an guten und teuren Dingen anbietet, dann dauert sie eben sieben Tage. Auch die Konstellation von Arzt – Patient, das heißt einerseits von jemandem, der aus seiner körperlichen Selbstverständlichkeit herausgerissen ist, der Krankheitssymptome hat oder Schmerzen hat, und andererseits von jemanden, zu dem er dann hingeht und Hilfe sucht, hat ihre Eigenzeitlichkeit und sich nur wenig verändert. Und dann kommt es zu diesen Desynchronisierun-

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gen. Man hat auf der einen Seite massive Fallzahlerhöhungen, die zur Beschleunigung zwingen, und man hat gleichzeitig absolut beschleunigungsresistente Elemente wie die Arzt-PatientBeziehung. Das passt dann nicht mehr. Prof. Scherer: Wo liegen Ihrer Meinung nach die wichtigsten Ursachen oder Antriebsfaktoren für die Beschleunigung? Prof. Wiesing: Erstens einmal in der Wissenschaft, das ist gar keine Frage. Sie scheint mir einer der entscheidenden Antriebsfaktoren zu sein. Zweitens in der Wirtschaft. Viele der Bedingungen im Gesundheitswesen sind so, dass es für die Wirtschaft lukrativ ist, schneller zu arbeiten. Die ganze Lebenswelt der Patienten hat sich zudem geändert. Sie leben natürlich auch in ganz anderen Zeitrhythmen. Viele haben ein hohes Interesse daran, möglichst schnell behandelt zu werden. Es gibt aber auch Patienten, die ein hohes Interesse haben, bloß nicht schnell behandelt zu werden, sondern möglichst lange krank zu bleiben. Prof. Scherer: Das heißt, es gibt wirtschaftliche Entwicklungen, aber möglicherweise auch institutionelle, gesetzgeberische oder berufsständische Zusammenhänge? Prof. Wiesing: Ja. Angenommen, wir hätten noch die Tagesvergütung in den Krankenhäusern, wo sie eben pro Tag Geld bekämen, dann wäre es ja für die Krankenhäuser wirtschaftlich attraktiv, zu entschleunigen. Das hat man ja früher auch reichlich gemacht, weshalb es irre lange Liegezeiten in deutschen Krankenhäusern gab. Die Wirtschaft ist eine Institution, die versucht, Profite zu maximieren unter bestimmten Rahmenbedingungen. Das muss nicht zwingend in allen Fällen zur Beschleunigung führen, aber im Augenblick sicher in sehr, sehr vielen Fällen. Prof. Scherer: Welche Rolle spielen allgemeine kulturelle Beschleu­ nigungstrends, die sich etwa in unrealistischen Ansprüchen und Erwartungen niederschlagen? Prof. Wiesing: Das muss man, wie ich eben schon sagte, auch differenziert behandeln. Es gibt sicherlich viele Menschen, die überhaupt keine Lust haben, lange krankgeschrieben zu werden oder es sich nicht leisten können. Aber es gibt Menschen, die auch gerade unter Beschleunigung als Kompensationsmechanismus gern lange krankgeschrieben werden wollen. Oder Menschen,

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die mit der Beschleunigung nicht mehr zurechtkommen und deswegen frühberentet werden wollen und alles daransetzen, so schnell wie möglich so krank zu werden, damit sie eine Rente bekommen. Die Auswirkungen sind unterschiedlich. Es geht nicht nur einfach in eine Richtung. Prof. Scherer: Wir haben jetzt über grundlegende Einschätzungen und Beobachtungen gesprochen. Sehen Sie noch weitere Antriebsfaktoren für die Beschleunigung in der medizinischen Versorgung? Prof. Wiesing: Ich glaube, dass wir im Augenblick in der Medizin in einer Art Futurologie leben, also in Narrativen über die Zukunft, die uns sehr viel versprechen und geradezu Heilserwartungen verkünden. Ich denke daran, dass zum Beispiel immer wieder versprochen wurde, dass der Krieg gegen den Krebs – allein die Metaphorik ist ja schon hoch interessant –alsbald gewonnen wird und dass auch jetzt führende Politiker, der Bundesgesundheitsminister oder eben der ehemalige Spitzenkandidat der europäischen Volksparteien für das Europaparlament ganz klar sagen: »Dann können wir den Krebs besiegt haben«. Wenn man sagt, wir stehen unmittelbar vor einer neuen Epoche in der Menschheit, nämlich einer Menschheit ohne Krebs, dann sind das Vorgaben, die massiv zur Beschleunigung aufrufen und die dann natürlich die beteiligten Leute sagen lässt: »Ja, jetzt stehen wir kurz davor, jetzt müssen wir alles bündeln, alle Kräfte bündeln, um das zu erreichen.« Dieses Programm hat die Ministerin Karliczek unlängst in der Dekade gegen den Krebs genau mit den Worten verkündet: »Wir wollen alle Kräfte bündeln.« Das Programm ist übrigens sehr kärglich ausgestattet, nur sechs Millionen pro Jahr, und sie will eben auch in dieser Vision »Da muss jetzt bald der Durchbruch kommen« ganz schnell eine neue Zeitrechnung herbeifördern. Diese Vorstellungen, wir stehen kurz vor einem Durchbruch, verkündet auch das Silicon Valley. Mark Zuckerberg sagt ja, er geht davon aus, seine Kinder werden in einer Welt ohne Krankheit leben. Ich kann mir das schwer vorstellen, aber das zeigt, dass wir angeblich am Ende der Vorgeschichte der Menschheit stehen, weil alles besser wird, wenn nur das Silicon Valley weiter-

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hin so erfolgreich ist, wie es zu sein glaubt. Das führt auch zu Beschleunigungen. Wir müssen uns jetzt zusammenraufen und alles bündeln, um ganz schnell Grundprobleme der Menschheit loszuwerden. Und das können wir durch die neuen Technologien: Digitalisierung, künstliche Intelligenz, Molekularisierung, Genetisierung der Medizin. Prof. Scherer: Sie würden also nicht sagen, dass die Heilsversprechungen eine Folge von Arbeitsverdichtungen sind, sondern dass eher umgekehrt diese Heilsversprechungen zu einer Arbeitsverdichtung führen, die dann wiederum auch als Beschleunigung wahrgenommen wird. Prof. Wiesing: Ja, ich glaube, dass wir derzeit in der Tat so eine Art von Zukünftigkeit leben. Unsere Zeit ist eine besondere, nicht weil sie selbst besonders ist, sondern weil unmittelbar eine so glorreiche heilvolle Zukunft vor uns steht. Die Wissenschaft feiert Advent. Die Protagonisten des Silicon Valley und die Pro­ tagonisten der neuen Technologien leben ja alle in der Zukunft. Die sagen ja alle: »Heute ist es stinklangweilig, weil es morgen ja viel besser sein wird. Und morgen wird es immer besser sein, das ist ja gar keine Frage.« Ich glaube, dass das ein Faktor ist für Beschleunigung. Prof. Scherer: Bleiben wir noch für einen Augenblick bei der Zukunft: Welche Entwicklungen erwarten Sie im Hinblick auf den Beschleunigungsdruck in der Versorgung? Prof. Wiesing: Erstens muss man davon ausgehen, dass er im Bereich der Wissenschaften, der Technologie weitergeht. Das scheint mir nur realistisch zu sein. Ich habe nicht den Eindruck, dass die Wissenschaft in irgendeiner Weise planen würde, ihre Produktionsgeschwindigkeit zu reduzieren. Gleichzeitig muss man davon ausgehen, dass es weiterhin absolut resistente Bereiche gibt, dass es Eigenzeitlichkeiten gibt, Menschen, die sich nicht ändern werden. Insofern glaube ich, dass die Dissonanzen einerseits stärker werden, andererseits – und das ist ganz wichtig in der Medizin – dürfen wir nicht das, was in der Gesellschaft zuweilen pauschal kritisiert wird, dass nämlich die Beschleunigung die Leute überfordert, eins zu eins in die Medizin übernehmen. Es kann ja Bereiche geben in der Medizin, wo

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eine Beschleunigung nur gut ist. Mit einer Gallenblasenoperation lag man noch vor wenigen Jahrzehnten zwei, drei Wochen im Krankenhaus, weil sie sehr aufwendig und nicht mit Schlüssellochtechnologie durchgeführt wurde. Heute kann man das fast halbambulant machen, und man liegt eine oder zwei Nächte im Krankenhaus. Es kann also Bereiche geben, in denen die Beschleunigung einfach nur gut ist. Wer hätte jetzt etwas dagegen? Und wenn man dann noch eine vernünftige Nachsorge zu Hause macht, also dann quasi auch die Eigenzeitlichkeiten des Körpers akzeptiert, kann das ja auch gut sein. Das heißt, wir müssen differenzieren. Das Gute ist ja, dass wir in der Medizin ziemlich stabile Maßstäbe haben, um die Frage zu entscheiden: »Ist das gut oder schlecht?« Die Medizin ist eine Disziplin, die kranken Menschen helfen will und den Menschen nutzen soll, nicht schaden. Das steht schon im hippokratischen Eid. An dieser Stelle hat sich nichts geändert. Und wenn das gelingt in der Medizin, dann hat man gute Argumente zu sagen: »Beschleunigung ist gut.« Nur haben wir eben gewisse Bereiche, wo ich glaube, dass die Beschleunigung nicht dazu beiträgt, und deswegen wäre mein Appell an die Medizin, in jedem Fall die bewährten Maßstäbe heranzuziehen. Sie könnten so übersetzt werden: »Wenn jemand es schafft, kranken Menschen besser zu helfen, dann ist das auch gut so, dann kann das auch ein Vorteil sein.« Prof. Scherer: Wenn Sie auf die medizinische Versorgung der Zukunft blicken: Gibt es da wünschenswerte Szenarien, die unter realistischen Annahmen begünstigt werden könnten? Prof. Wiesing: Wir wissen doch sehr genau, dass das DRG-System in Verbindung mit einem völlig veralteten Krankenhauswesen dazu führt, dass die Fallzahlen hochgetrieben werden, und zwar die Fallzahlen pro Zeit. Und das erhöht natürlich die Beschleunigung in den Kliniken, die Arbeitsverdichtungen, die Arbeitsbelastungen der Beteiligten und – wie wir ja auch wissen – die Unzufriedenheit. Obwohl wir in Deutschland viel Pflegepersonal und viele Ärzte pro Bürger haben, sogar über dem OECD-Durchschnitt, gibt es doch viele, die darüber klagen. Da würde ich mir wünschen, dass man tatsächlich einerseits

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am DRG-System arbeitet und Veränderungen vornimmt. Man muss es nicht abschaffen, aber in einigen Bereichen deutlich revidieren. Andererseits muss man politisch in dem Sinne in das Krankenhaussystem eingreifen, dass zum Beispiel die überzähligen Betten, die wir in Deutschland haben, abgebaut werden, die nur dazu führen, dass wir die Fallzahlen erhöhen und damit eben auch die Beschleunigung im Krankenhaus erhöhen. Da würde ich mir deutliche politische Maßnahmen wünschen; denn was die Krankenhäuser im Augenblick machen, also die Beschleunigung innerhalb der Krankenhäuser, ist ja funktional. Sie reagieren damit auf die gegenwärtige ökonomische Situation. Von ihnen wird keine Abhilfe kommen. Prof. Scherer: Ich verstehe. Nehmen Sie aktuell bestimmte ausgeprägte Trends wahr, die Sie zur besonderen Sorge für die Zukunft veranlassen? Oder die Sie auch zuversichtlich stimmen? Prof. Wiesing: Beides. Nehmen Sie als klassisches Beispiel die digitalen Apps. Die werden ja sehr schnell entwickelt. Wenn ich das richtig sehe, kommen jeden Tag neue Apps auf den Markt. Nun kann es einerseits sein, dass Gesundheits-Apps in der Tat Vorteile haben für die Patienten und für die Arzt-Patient-Kommunikation. Wenn man das gut nutzt, kann das sein. Aber dadurch, dass sie so unglaublich schnell auf den Markt kommen, ist keines von diesen Dingern anständig geprüft, und ich habe den Eindruck, dass wir da genau das machen, was wir bei den Medikamenten nicht mehr machen: Wir schmeißen erstmal alles auf den Markt, und dann schauen wir, was sich dabei bewährt. Ich würde mir wünschen, dass man auf die beschleunigte Produktion von neuen Apps mit Sorgfalt reagiert und dass man sie erst einmal anständig untersucht, bevor wir sie in die Arzt-Patient-Beziehung einbauen, und nicht umgekehrt. Prof. Scherer: Zwei Fragen dazu: Wie setzen wir das um? Und: Was hat die Umsetzung mit Beschleunigung oder Entschleunigung zu tun? Prof. Wiesing: Umgesetzt kriegt man das sicherlich nicht nur durch eine einzelne Maßnahme. Man muss auch unterscheiden zwischen dem, was man einem Bürger anbietet, und dem, was für Ärzte geeignet ist. Man kann es einem Bürger nicht ver-

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bieten, irgendeine App zu nutzen. Aber bevor Ärzte es nutzen, sollte es geprüft sein. Was hat das mit Beschleunigung und Entschleunigung zu tun? Wir sollten die Medizin soweit beschleunigen oder soweit entschleunigen, dass sie ihre Aufgabe erfüllen kann. Ich komme auf das zurück, was ich vorher gesagt habe: Wir müssen aufpassen, dass wir nicht voreilig viel zu schnell ungeprüfte Dinge in der Medizin nutzen. Das wäre ein negatives Resultat der Beschleunigung. Für mich wäre es ein Moment der Entschleunigung, wenn tatsächlich nur geprüfte, gute Apps oder KI-Elemente in der Medizin Anwendung fänden. Prof. Scherer: Eine Innovationsbremse also? Prof. Wiesing: Nein, im Gegenteil, eine Beschleunigung der wirklichen Innovationen durch eine Innovationsselektion. Wenn bei der Prüfung herauskommt, das ist so fantastisch und das ist so hilfreich, dann soll man es bitteschön auch beschleunigt verbreiten. Nochmal: Das Kriterium ist der Nutzen für die Patienten. Wie können wir kranken Menschen besser helfen? Aber es gilt: Erst prüfen, dann verbreiten. Prof. Scherer: Können wir von den Zukunftsentwicklungen noch einmal zurück in die Gegenwart kommen, nämlich zum Themenkomplex: wesentliche konkrete Auswirkungen? Könnten Sie mir einen kleinen Überblick über konkrete Auswirkungen des Beschleunigungsdrucks geben? Ein bisschen haben Sie ja schon über den stationären Bereich gesprochen, über Liegezeiten und DRGs. Prof. Wiesing: Da muss ich auf meinen Beruf verweisen und sagen, das kenne ich für das Krankenhaus wie für die Patientenversorgung nur aus Berichten von anderen oder eben aus der Literatur, und ich weiß nicht, ob ich da der Geeignetste bin, weil ich ja keine Krankenversorgung betreibe. Ich bin ja ausschließlich in der Ethik, also in der Theorie tätig. Ich kann aber aus meinem Bereich darauf hinweisen, wie das Drittmittelverfahren sich gegenüber der Generation meiner akademischen Lehrer und Lehrerinnen dramatisch verändert hat. Die Generation, bei der ich meine Ausbildung bekommen habe, hat überhaupt nicht unter so einem Drittmitteldruck gestanden. Dort war das Arbeiten erheblich kontemplativer, auch das Reisen war deutlich

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geringer, die Internationalisierung war deutlich geringer, damit auch die Beschleunigung. Heute gibt es bei den Antragsverfahren eine Deadline, und man muss manchmal innerhalb von wenigen Wochen reagieren. Das ist schon eine harte Herausforderung an die Urteilskraft und an die Kunst des selektiven Nein-Sagens. Also man muss unter diesen Bedingungen auch wirklich zuweilen die Fähigkeit haben zu sagen: »Nein, das geht zu schnell, das mache ich nicht, ich kann keine Qualität garantieren.« Prof. Scherer: Insofern haben Sie schon implizit darauf geantwortet, wie man bestimmte Auswirkungen der Beschleunigung vermeiden kann: Man muss eben priorisieren. Prof. Wiesing: Indem man sich auf Eigenzeitlichkeiten besinnt, nämlich die, die man nicht ändern kann. Es hat ja keinen Zweck, dass man permanent gegen seine Eigenzeitlichkeit arbeitet, da kommt ja nichts dabei heraus, die Arbeit wird nur schlechter. Es geht nicht anders, als dass man Urteilskraft walten lässt und eben auch mal »nein« sagt. Prof. Scherer: Damit schlagen wir die Brücke zum letzten Themenkomplex: Ansätze zur Verringerung des Beschleunigungsdrucks. Welche Möglichkeiten sehen Sie grundsätzlich, den Beschleunigungsdruck in der Medizin zu verringern? Prof. Wiesing: Das kommt, wie gesagt, eben auf die Ebenen an. Ich glaube, dass wir politische Änderungen im Krankenhauswesen brauchen und politische Änderungen im Abrechnungswesen. Das ist sozusagen die politische Struktur. Auf der Mesoebene sollten wir uns über das Mindestpersonal auf Stationen Klarheit verschaffen und entsprechende Konsequenzen ziehen. Ich möchte nochmal auf der Makroebene darauf hinweisen, dass wir in Deutschland in einigen Bereichen eine massive Übertherapie haben. Dass wir bei bestimmten Interventionen weit über dem OECD-Durchschnitt liegen, ohne dass es einen gesundheitlichen Nutzen gäbe. Wenn wir es schaffen würden, die Übertherapien in der Bundesrepublik Deutschland abzubauen, dann würde das zu einer massiven Entschleunigung führen. Die Techniker Krankenkasse behauptet, dass 90 Prozent aller Rückenoperationen überflüssig sind. Würde man tatsächlich die Rückenoperationen entsprechend reduzieren, dann hätte das

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Personal, das mit der Betreuung der Patienten betraut ist, eben auch erheblich weniger Zeitdruck und könnte sich tatsächlich den verbleibenden Patienten mit einer ganz anderen Zeitvorgabe widmen. Also: Wir sollten abbauen. Und dann natürlich die individuelle Ebene. Ich wiederhole, was ich eben gesagt habe: Es macht keinen Sinn, sein ganzes Leben lang gegen Eigenzeitlichkeit anzuarbeiten, weil das Ergebnis dadurch nicht besser wird. Insofern muss man versuchen – was sicherlich immer nur partiell gelingt –, Arbeitsanforderung und Eigenzeitlichkeit in Einklang zu bringen und sich eben zu akzeptieren, wie man ist. Das gilt auch für den Fall von Krankheiten. Bei bestimmten Erkrankungen hat es keinen Zweck, schneller wieder in der Arbeit zu sein, und das sollte man dann auch akzeptieren. Prof. Scherer: Kann man aus Ihrer Hypothese zur Futurologie oder, wie Sie es an anderer Stelle nennen, der euphorisierten Zukünftigkeit, Handlungsansätze für die Zukunft ableiten? Prof. Wiesing: Vor allen Dingen sollte die Wissenschaft das tun, was sie von Haus aus eigentlich immer tun sollte, nämlich kritisch und skeptisch sein. Ich finde es zum Teil erschreckend, was von der Wissenschaft an völlig unsinnig präzisen Prognosen und an Heilserwartungen verkündet wird. Das wird dann natürlich gern von der Politik aufgenommen. Da sollte sich die Wissenschaft auf ihre Grundtugenden besinnen und nur das verkünden, was sie kritisch und skeptisch geprüft verkünden kann, und keine Heilserwartungen in die Welt setzen, vielleicht sogar noch mit einem Datum versehen. Ich darf daran erinnern: Im Januar 2019 hat eine Firma aus Israel gesagt, in einem Jahr, das heißt also im Januar 2020, sei jede Form von Krebs besiegt. Da muss man sich fragen: Was hat das noch mit Seriosität zu tun? Oder ich darf daran erinnern, dass der Strategiekreis der Nationalen Dekade gegen Krebs (und das sind tatsächlich führende Wissenschaftler in der Krebsforschung) gesagt hat, wir werden jedes Jahrzehnt die vermeidbaren Tumore um 10 Prozent reduzieren. Also jetzt im Augenblick sind 40 Prozent vermeidbar, in zehn Jahren werden es dann nur 36 Prozent sein und in weiteren zehn Jahren nur noch 32,4 Prozent. Das ist eine merkwürdige Prognose, weil man

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nicht weiß, ob die absolute Zahl reduziert wird oder nur das Verhältnis zu den unvermeidbaren Tumoren. Wie dem auch sei: Herr Spahn im Ministerium behauptet gleichzeitig, in zehn bis zwanzig Jahren können wir den Krebs besiegt haben. Und die sitzen in einem Ministerium oder beteiligen sich an ein und derselben Aktion. Da fragt man sich, wie kommen Wissenschaftler und Politiker zu solchen merkwürdigen und widersprüchlichen Prognosen? Warum eigentlich? Und die sagen noch nicht einmal, wir wollen das, sondern: Wir werden das tun. Und das Ganze wird in einem Konsortium gesagt. Das sind Beispiele, da würde ich einfach sagen: »Liebe Wissenschaft, konzentriere dich auf das, was immer gute Wissenschaft war, nämlich: kritisch und skeptisch. Was ihr sagt, sollte gut begründet sein, und kündigt bitteschön nicht eure Zukunftsvisionen so unkritisch und widersprüchlich an, wie ihr das im Augenblick macht.« Prof. Scherer: Wir haben uns ja bei einer Veranstaltung der »Zeit« kennengelernt, bei einer Podiumsdiskussion, bei der es um Kommunikation ging und auch um die Qualität der Kommunikation in der Versorgung. Welche Vorschläge würden Sie unter dem Aspekt eines angemessenen Umgangs mit der Zeit für eine verbesserte Arzt-Patienten-Kommunikation, eine gründlichere Anamnese oder auch Diagnose machen? Prof. Wiesing: Einerseits glaube ich, dass gute Gespräche auch nicht länger dauern als schlechte Gespräche. Das heißt, wir sollten auch lernen, mit begrenzter Zeit besser umzugehen und auch in begrenzter Zeit besser zu kommunizieren. Aber gleichzeitig sollten wir, wie schon gesagt, auch Eigenzeitlichkeiten akzeptieren. Zur Verarbeitung beispielsweise einer Krebsdiagnose braucht der Patient einfach Zeit. Es wird nicht besser, wenn man bereits im Gespräch dem Patienten diese Zeit nicht gibt, im Gegenteil. Dann kann die Nicht-Akzeptanz von Eigenzeitlichkeit auch kontraproduktiv werden. Wir müssen in der Medizin unter der normativen Vorgabe »Wie können wir am besten kranken Menschen helfen?« immer schauen, wo sich Eigenzeitlichkeiten nicht verändern und auch unglaublich renitent sind gegen jedwede Beschleunigungsabsicht. Und das sollte man dann auch akzeptieren.

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Prof. Scherer: Wenngleich das alles gut verständlich war: Könnten Sie den Begriff »Eigenzeitlichkeit« noch einmal erläutern? Prof. Wiesing: Ja, eine Schwangerschaft dauert neun Monate, das ist so. Und der normale Mensch braucht sechs bis acht Stunden Schlaf. Und wenn ich jemandem sage: »Sie haben Krebs, und der Krebs ist nicht behandelbar«, dann dauert eine Reaktion darauf eine gewisse Zeit. Die ist bei den Menschen unterschiedlich, und das nicht zu akzeptieren, kann kontraproduktiv sein. Prof. Scherer: Möchten Sie zu dem, was wir besprochen haben, noch etwas hinzufügen? Prof. Wiesing: Ja. Ich glaube, dass wir im Augenblick in der Forschung zur Beschleunigung sehr auf vordergründige Resultate von Zeitknappheit im Klinikalltag konzentriert sind. Das ist auch wichtig, aber es gibt weiterreichende Perspektiven, und die sollte man auch untersuchen. Für mich stellt sich die Frage, wie man unter den Bedingungen der Beschleunigung einerseits und der resistenten Elemente in der Medizin andererseits eine gelingende Biografie schreiben kann. Als Wissenschaftler spüren wir ja immer deutlicher, was Max Weber uns schon längst gesagt hat, dass die Wissenschaft dazu da ist, um übertroffen zu werden. Und das führt dazu, dass wir im Grunde in der Wissenschaft an unserer beschleunigten Selbstabschaffung arbeiten. Das liegt nun mal in der Natur der Sache. Je erfolgreicher ich als Wissenschaftler bin, umso größer ist die Chance, dass ich etwas initiiere, das dann ganz schnell dazu führt, dass ich überholt werde. Da stellt sich für mich die Frage, wie ich hier noch eine gelingende Biografie als Wissenschaftler schreiben kann. Wie kann ich unter den Vorgaben der Beschleunigung noch eine gelingende Biografie als Arzt schreiben? Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass es durch die Einführung von neuen Technologien nicht mehr zu einem intergenerationellen Wandel, sondern zu einem intragenerationellen Wandel kommt. Man muss sich während seiner eigenen Biografie auf neue Technologien einstellen, was dazu führt – und da gibt es ja mittlerweile gute Erkenntnisse –, dass die Qualität des ärztlichen Handelns mit den Jahren an Berufstätigkeit eher sinkt. Während man bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts sagen konnte: Okay, die Theorie, die Wissenschaft hat sich kaum geändert, und ein erfahrener Arzt ist

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jemand, der weiterhin auf der Grundlage der bestehenden wissenschaftlichen Erkenntnisse arbeitet, aber eben mehr persönliche Erfahrungen hat. Deswegen hat man den erfahrenen Arzt sehr geschätzt. Doch derzeit laufen erfahrene Ärzte Gefahr, dass sie gar nicht mehr die neuesten Technologien beherrschten. Gleichzeitig leben wir in einer Generation von Ärzten, die glaubt: Wir sind die letzte Generation, die etwas noch nicht heilen kann. Die nächsten werden es heilen können, aber dann sind wir nicht mehr da. Und da stellt sich die Frage: Wie kann man unter diesen Bedingungen, wo man stets gefordert ist, mit der Zeit Schritt halten zu können, das aber eben immer weniger gelingt – wie kann man unter diesen Bedingungen eine gelingende Biografie als Arzt schreiben? Oder, auf den Patienten bezogen: Wie kann ich eine gelingende Biografie als Patient schreiben, wenn ich zum Beispiel bei chronischen Erkrankungen immer darauf spekuliere, dass während meiner Krankheit noch neue technologische Durchbrüche kommen, die eventuell die Krankheit heilen können? Ich glaube, dahinter steckt dieses alte Diktum von Max Weber, der auch sagt, wir können in der Moderne nicht mehr lebensgesättigt, sondern nur noch lebensmüde sterben. Und ich habe den Eindruck, dass sich das verschärft. Dies führt auch zu einigen Ungereimtheiten in unserem Gesundheitswesen. Man müsste sich nur einmal die Themen von Abschiedsvorlesungen anschauen. Langer Rede kurzer Sinn: Ich glaube, wir können den Wandel in der Medizin auch etwas tiefgründiger untersuchen, anstatt uns vor allem über die Beschleunigung und die Zeitknappheit beim Tagesgeschäft Gedanken zu machen. Prof. Scherer: Sie haben eben Abschiedsvorlesungen erwähnt. Was lässt sich dort beobachten? Prof. Wiesing: Ich habe den Eindruck, dass es für Ärzte und für Forscher doch zunehmend schwieriger wird, auf der Höhe der Zeit zu bleiben. Und dass diese Personen dann zuweilen lange, gestützt durch Hierarchien und durch ihre Unkündbarkeit, in Positionen bleiben, die sie inhaltlich gar nicht mehr ausfüllen können. Man wartet dann auf der einen Seite darauf, dass sie möglichst bald abtreten. Sie selbst aber wollen gern immer noch

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in der Klinik bleiben, weil es eben auch ihre Biografie ist und weil sie sonst wenig anderen Lebensinhalt haben. Ich habe den Eindruck, dass Abschiedsrituale gelegentlich die Frage zudecken, ob die Lebensdauer von Stellen, von Hierarchien und Positionen noch mit diesem dramatischen Wandel vereinbar ist. Entstehen da nicht große Unfunktionalitäten und Dissonanzen? Prof. Scherer: Sie kennen möglicherweise meinen Freund und Kollegen Heiner Raspe, der die Begriffe »Public Health« und »Versorgungsforschung« mitgeprägt hat. Er sagt immer: »Ein Professorenleben hat eine produktive, eine reproduktive und eine magische Phase.« Vielleicht ist die magische Phase dann die Möglichkeit, ins Philosophieren überzutreten und das, was die Wissenschaft im operativen Geschäft weiterbringt, den Jungen zu überlassen. Das könnte eine Möglichkeit sein. Prof. Wiesing: Ja, das könnte so sein. Man muss nur aufpassen, welche faktische Verantwortung man in der magischen Phase trägt und ob man ihr überhaupt noch gewachsen ist. »Magisch« ist ja nun mal keine typisch wissenschaftliche Kategorie. Und man muss sich fragen: Wie kann man in dieser Situation eine gelingende Biografie schreiben, gelingend für das Fach, für die Patienten, gelingend für sich. Und sind eigentlich die gegenwärtigen Arbeitsbedingungen diesen Phasen noch angemessen? Und da habe ich Zweifel. Prof. Scherer: Ich hoffe, es wird jedenfalls die nächsten zwanzig Jahre noch so bleiben, sonst müsste ich mir einen anderen Job suchen. Eine letzte Frage noch: Sie haben von der Selbstabschaffung des Wissenschaftlers gesprochen … Prof. Wiesing: Die Wissenschaft führt dazu, dass der Wissenschaftler sich selbst abschafft. Prof. Scherer: Und ich stelle mir Wissenschaft und Wissen oft wie einen Kreis vor. Innerhalb des Kreises ist das Wissen und außerhalb des Kreises ist das Unwissen. Je größer der Kreis des Wissens wird, desto größer wird auch die Kontaktfläche zum Unwissen. Mit anderen Worten: Immer mehr Wissen generiert auch immer mehr Fragen. Da hat doch der Wissenschaftler genug zu tun. Prof. Wiesing: Ja. Aber es ist häufig so, dass die neuen Fragen, die seine Wissenschaft damit hervorgebracht hat, von anderen be-

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antwortet werden und schneller beantwortet werden und der Wissenschaftler sich selbst dabei überflüssig macht. Und er steht vor der Situation, dass er immer viel, viel mehr wissenschaftlich bearbeiten könnte, als seine Lebenszeit zulässt.

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Wie sich der medizinisch tätige Mensch gegen den wachsenden Mobilitätsstress im Gesundheitswesen wehren kann … »Wunderliches Wort: die Zeit vertreiben! Sie zu halten, wäre das Problem« (Rainer Maria Rilke, 1956)

Mobilität – dieses mittlerweile allgegenwärtige Wort kennzeichnet zum einen eine große Verheißung, andererseits aber auch ein fatales Verhängnis der technokratischen Industriegesellschaft, die mit Fug und Recht sehr oft auch als Mobilitätsgesellschaft bezeichnet worden ist. Allerdings darf, um allen Aspekten des gleichermaßen umfassenden wie rasanten sozialen Wandels gerecht zu werden, jene Mobilität nicht allein als Beschleunigung (zum Beispiel als schnellere Beweglichkeit vom Raumpunkt A zum Raumpunkt B) begriffen werden. Auch Konservierungstechniken (zum Beispiel Tiefkühlkost) und Aufbereitungsverfahren (zum Beispiel das Garen in der Mikrowelle) gehören zur sich ständig weiter steigernden Mobilität, die folglich am besten definiert werden könnte als das sich intensivierende Bemühen, immer mehr Verhaltensoptionen in immer kürzere Zeitintervalle hineinzupressen. Unsere moderne Konsum- und Freizeitgesellschaft hat man wegen dieser Überfülle der von ihr gebotenen Möglichkeiten – zwischen denen sich entscheiden zu müssen vielen unserer Mitmenschen ja keineswegs leichtfällt – sehr treffend auch als »Multioptionsgesellschaft« bezeichnet (Gross, 1994). Zu den subjektiven Gefühlsäquivalenten, die den aus alledem erwachsenden Mobilitätsdruck begleiten, gehören Ungeduld, Hektik und Eile, aber auch – überaus typisch für den Menschen des 21. Jahrhunderts! – eine quälende Angst, das Beste zu verpassen. Der mit dieser wachsenden Fülle an Optionen einhergehende, beständig wachsende Mobilitätsdruck hat selbstredend auch die Medizin, hat auch das Gesundheitswesen keineswegs verschont – kein Wunder, dass sich zum Beispiel das »Deutsche Ärzteblatt« immer häufiger den diesbezüglichen Nöten der Mediziner widmet (etwa: »Kommunikation: So gelingt die Visite«; Holtel u. Weber, 2019), kein Wunder auch, dass das jährlich erscheinende »Jahrbuch Ethik in der

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Klinik« seine Ausgabe für das Jahr 2018 unter den bezeichnenden Titel gestellt hat: »Entschleunigung als Therapie? Zeit für Achtsamkeit in der Medizin« (Bergemann, Hack u. Freyer, 2018). Wenn wir die »Mobilitätsnot« in der Medizin genauer betrachten, ist es gewiss nicht überflüssig, zunächst einmal darauf hinzuweisen, dass eben dieses Gesundheitswesen schon seit geraumer Zeit zu den größten Energieverbrauchern der Gegenwartsgesellschaft gehört – sein Energiehunger steht (was leider viel zu selten erörtert wird) dem des Verkehrswesen und der Landwirtschaft durchaus ebenbürtig zur Seite: Die modernen Geräte, mit deren Hilfe die allerneuesten »bildgebenden Verfahren« realisiert werden, kommen in ihrem Stromverbrauch bisweilen dem einer Kleinstadt gleich … Neben dem Energiebedarf ist auch der Mobilitätsdruck im Gesundheitswesen enorm geworden  – worunter die in ihm Beschäftigten wie die vom ihm Versorgten gleichermaßen leiden (Beispiele hierfür sind im vorliegenden Buch ja bereits in Hülle und Fülle erörtert worden). Ein besonders nachhaltiger Mobilitätsschub war mit den in Deutschland im Jahr 2003 eingeführten »Fallpauschalen« (DRGs) verbunden. War die stationäre Behandlung eines Kranken zuvor gemäß der Anzahl der von ihm im Krankenhaus zugebrachten Tage vergütet worden, so wurde jetzt für den jeweiligen »Krankheitsfall« (also für einen Herzinfarkt oder für einen Leistenbruch) eine zuvor in einem »Leistungskatalog« fixierte Pauschalsumme an das diesen »Fall« behandelnde Krankenhaus überwiesen – dieses profitiert unter den mit den DRGs neu gestalteten Bedingungen somit ganz unmittelbar von einer möglichst kurzen »Verweildauer«, und just dies war ja auch der Sinn dieser neuen Regelung. Zu den für Patienten eher unerfreulichen Auswirkungen dieses Systemwechsels gehörte in der Folge zum Beispiel das »Phänomen der blutigen Entlassung«, also der sehr frühen Beendigung der Behandlung trotz schlecht oder gar nicht verheilter Operationswunden – wohingegen es früher meist das Bestreben des Krankenhauses gewesen war, einen operierten Patienten noch möglichst lange »auf der Station zu behalten« (zum Beispiel oft auch noch über das bevorstehende Wochenende hinweg). Aber eine solche Beschleunigung des Therapieverlaufs zum Beispiel durch eine möglichst kurze Aufenthaltsdauer ist nur ein Aspekt

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des wachsenden Mobilitätsdrucks im Krankenhaus – ihm steht der oft geradezu gebetsmühlenartig vorgetragene Wunsch nach »Digitalisierung« (was immer dieses modische Schlagwort im Einzelfall bedeuten mag) ebenso zur Seite wie die Tendenz zum »Multitasking«, also der Zwang, immer öfter mehrere Tätigkeiten gleichzeitig erledigen zu müssen. Es gilt mittlerweile als allgemein anerkannt, dass eine unangemessene Ökonomisierung des Gesundheitswesens der Hauptmotor für diesen Mobilitätsdruck in der Medizin ist (hierzu z. B. Deutscher Ethikrat, 2016), und es besteht leider nur wenig Anlass für die Hoffnung, dass das Establishment der politisch Verantwortlichen Interesse daran finden könnte, einen grundlegenden Systemwandel einzuleiten (ein Positionspapier zu diesem Dilemma hat die Bundesärztekammer im Sommer 2019 veröffentlicht). Was aber kann nun, unabhängig von den Windungen und Wendungen der »großen« Politik, der mit dem massiven, rasant anwachsenden Mobilitätsdruck in der Medizin nicht einverstandene Mensch diesem wirksam entgegensetzen? Wichtig scheint mir zunächst, sich nicht das Blickfeld verengen zu lassen – es geht zwar sicher auch um Entschleunigung, aber keineswegs nur um diese! Mindestens ebenso wichtig ist es in meinen Augen, an alte, heute vielleicht schon als altmodisch geltende Tugenden anzuknüpfen, von denen einige auch ganz speziell als ärztliche Tugenden gegolten haben, wie etwa die Geduld, für die der Freiburger Sozialmediziner Giovanni Maio ein flammendes (und überaus lesenswertes) Plädoyer gehalten hat. Ausgehend von der sicherlich zutreffenden Diagnose: »Zunehmend werden Schnelligkeit, Stromlinienförmigkeit und Reibungslosigkeit zu Leitwerten der modernen Medizin erklärt und alle anderen Werte diesen untergeordnet« (Maio, 2018, S. 37), erläutert Maio ausführlich die Vielseitigkeit, aber auch die Unentbehrlichkeit der ethischen Tugend Geduld (zum Begriff der Tugendethik klassisch: Bollnow, 1958). Sowohl Maio wie auch schon vor ihm der Philosoph Otto Friedrich Bollnow vergleichen Geduld mit der Arbeit des Gärtners, der die Reifung als Naturprozess abzuwarten hat und nicht beschleunigen kann oder soll (hierzu kommt mir sogleich das Mahatma Gandhi zugeschriebene Bonmot in den Sinn, für das ich allerdings keine exakte Quelle ausfindig machen konnte: »Das Gras

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wächst auch nicht schneller, wenn man daran zieht …«). Geduld anerkennt also – und gerade hierfür besteht in der modernen Medizin gewiss dringlicher Bedarf! – die Eigenart, aber auch das Eigenrecht des Gegenübers, sei es nun Pflanze oder Mensch, der nach seiner eigenen Zeit lebt und dafür Achtung verdient. Insoweit ist Geduld eine Haltung des Respektes, aber auch – wie Maio zu Recht betont – der Nachsicht, ja der Milde: Sie kann zulassen und ertragen, dass es »anders läuft«, als ich mir das vorgestellt, möglicherweise auch gewünscht habe. Kulturgeschichtlich gesprochen, wäre diese gelassene (und zulassende) Geduld nicht der Attitüde des britischen Philosophen und Politikers Francis Bacon (1561– 1626) verwandt, der dem Menschen »die Macht zu allen Werken« zubilligen wollte und ihm dringlich anriet, hierfür gegebenenfalls die Natur auf die Folter zu spannen: »An die Stelle des Glückes der Betrachtung tritt die Sache des Glückes der Menschheit und die Macht zu allen Werken« hieß es in seinem »Novum Organon« (Bacon, 1620/1962, S. 31). Sie entspricht weit eher dem Gebaren eines Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832), der in absichtsvoller Abgrenzung von Bacon seine klassischen, auch für den medizinisch tätigen Menschen der Gegenwart sehr bedenkenswerten Verse formuliert hat: »Geheimnisvoll am lichten Tag / Lässt sich Natur des Schleiers nicht berauben / Und was sie dir nicht offenbaren mag / du zwingst es ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben« (Goethe, 1808/1962, S. 28). Die Tugend der Geduld ist, wie ja schon im letzten Abschnitt angedeutet worden ist, augenscheinlich mit jener anderen der Gelassenheit verwandt, und diese ist schon vom unmittelbaren Wortsinn her verknüpft mit zulassen und mit unterlassen  – insofern steht sie, jedenfalls tendenziell, für eine innere Unabhängigkeit vom Weltenlauf mit all seinen Fährnissen. Pointiert gesagt: Geduld ist Zeit-Distanz, und Gelassenheit ist Welt-Distanz. Was ich für mich als Erfolg meines Tuns und Lassens bewerte, das entscheidet (wenn auch nach reiflicher Überlegung, und vielleicht auch nach der Diskussion mit anderen) niemand anders als ich selbst, und nicht das »Da draußen«! So mag ich es als großen und mich tief befriedigenden Erfolg ansehen, wenn es im Gespräch mit dem Patienten XY zu einer anrührenden mitmenschlichen Begegnung ge-

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kommen ist – aber gerade nicht, wenn der Chefarzt mich nach der Visite »vor versammelter Mannschaft« ob meines »energischen ärztlichen Handelns« zu loben versucht … Der Geduld und der Gelassenheit als jener hier nur grob skizzierten, ihrem Wesen nach demütigen, aber autonomen Haltung sollte indes noch die Bereitschaft ergänzend zur Seite treten, durch sich wiederholende soziale Interpunktionen Distanz zu sich selbst und zum eigenen Tun einnehmen zu können, um dieses durch einen der Ruhe, nicht der Aktivität verpflichteten Wechsel der Perspektive in neuer Art und Weise betrachten und in der Folge, wo nötig, auch kritisch bewerten zu können. Sicherlich ist es sinnvoll, den »output« solcher »schöpferischen Pausen« (vgl. Bastian, 2019), der ja oft genug zuvörderst in einer Fülle ungelöster Fragen besteht, nicht im Inneren der eigenen Seele zu vergraben, sondern ihn (wie oben bereits angedeutet) lösungsorientiert mit anderen zu teilen und konstruktiv zu erörtern – zum Beispiel im Sinne der klassischen Supervision. Gerade der geduldige, der gelassene Mensch ist nicht einsam – und will es auch gar nicht sein … Im konstruktiv-kritischen Dialog mit anderen eröffnet sich dann auch (und für den geduldigen und gelassenen Menschen deutlich leichter) die Möglichkeit, den Klippen und Untiefen im eigenen Seelenleben auf die Spur zu kommen, die im Alltags- und Berufsleben ja oft recht hinderlich sein können. Hierzu gehört auch, die eigene Berufswahl zu hinterfragen. Zwar steht die Fachwelt einem möglichen »Helfer-Syndrom« heute längst nicht mehr so kritisch gegenüber wie unmittelbar nach dem Erscheinen von Wolfgang Schmidbauers klassischer Studie über die Probleme der »hilflosen Helfer« (Schmidbauer, 1977), aber es ist und bleibt richtig, dass unbewusste Wünsche und Motive (etwa der übermäßig starke Wunsch nach Geltung und Anerkennung) zu einer seelischen Verhärtung und Verbitterung führen können, die es dann sehr schwer macht, in sich selbst Geduld und Gelassenheit heranreifen zu lassen. Es scheint mir wesentlich, an dieser Stelle auch noch das Folgende zu unterstreichen: Sowohl die Neigung zur Geduld und zur Gelassenheit und zu der mit ihnen verbundenen nichtinvasiven Beobachtung (der Hinnahme des Geschehens, ohne Eingreifen zu wol-

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len) wie auch die sie ergänzende Bereitschaft, immer wieder neben sich selbst zu treten und sich selbst (gegebenenfalls durch die Kommunikation mit anderen unterstützt) von außen zu betrachten – es sind dies in erster Linie allemal Haltungen, nicht Aktivitäten. Das bedeutet aber auch, dass nur diejenigen auf Dauer eine Chance realisieren können, sich dem Mobilitätsdruck zumindest tendenziell zu entziehen (ob nun im Gesundheitswesen oder im einem anderen Genre), die in der Lage sind, der Regulation des Selbst Priorität einzuräumen: Wer sein sich im Ablauf der Zeit vollziehendes Leben den eigenen Wertgesichtspunkten anpassen will, wird nicht artig über jedes Stöckchen springen, das die Mitwelt ihm erwartungsvoll vor die Füße hält … Denn auch dies gilt es festzuhalten: Zeitmanagement, um dieses viel zitierte Wort aufzugreifen, gibt es nicht, die Zeit lässt sich nun einmal nicht »managen« (was vermutlich heißen soll: nach Belieben unseren wechselnden Bedürfnislagen anpassen). Das vermeintliche Zeitmanagement ist (und zwar gerade dann, wenn es auf Dauer und nachhaltig gelingt) in Wahrheit immer ein Selbstmanagement. Nun aber noch einige Worte zu den Studierenden der Medizin und zu den jungen Ärztinnen und Ärzten, an die sich dieses Buch in erster Linie richtet und die sich ja einer Tätigkeit widmen wollen, die man sehr treffend auch als »Einsamkeitsberuf« bezeichnet hat. Gerade für sie ist es besonders wichtig, den vielfältigen Forderungen und Anforderungen nicht vereinzelt gegenüberzutreten (»Allein machen sie dich ein!«), sondern alle Möglichkeiten zur kollektiven Konfliktbewältigung zu nutzen, wo immer diese sich bieten, von der Fachschaftsarbeit bis zur Selbsterfahrungsgruppe, von der Gruppe für gemeinsames Lernen bis zu der nach dem ungarischen Psychiater Michael Balint (1896–1970) benannten Balint-Gruppe zur »Fallbesprechung«, bis hin auch zur oft sehr hilfreichen externen Einzel-Supervision. Für mich selbst war es sehr wichtig und wertvoll, während meines von heftigen, nur sehr langsam abnehmenden Selbstzweifeln begleiteten Medizinstudiums (1969–1976) mindestens fünf Jahre in einer Initiativgruppe Kritische Medizin mitzuwirken, die die Lehrinhalte, die uns geboten wurden, systematisch hinterfragte (und trefflicherweise auch eine Zeitschrift mit dem schönen Namen »Das rote Klistier« herausgegeben hat …).

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Gemeinsame Lektüre von Fachliteratur, aber auch von Literatur überhaupt kann allgemein sehr hilfreich sein – zu nennen wäre etwa das Buch »House of God« des US-amerikanischen Psychiaters Philip Bergman, das er unter den Pseudonym Samuel Shem veröffentlicht hat (Shem, 2007) und das äußerst einfühlsam die Nöte eines angehenden Arztes beschreibt. Während meines eigenen Studiums gab es diesen Roman allerdings noch nicht – mir diente damals als literarisches Leitgestirn Albert Camus’ Werk »Die Pest«, die Chronik des Seuchenausbruches in der algerischen Stadt Oran – eine Chronik, die laut Camus von seinem Helden, dem Arzt Dr. Rieux, verfasst worden sei. Rieux wußte genau, »daß dies nicht die Chronik des endgültigen Sieges sein konnte. Sie konnte nur das Zeugnis dessen sein, was man hatte vollbringen müssen und was ohne Zweifel noch alle jene Menschen vollbringen müssen, die trotz ihrer inneren Zerrissenheit gegen die Herrschaft des Schreckens und seine unermüdlichen Waffen ankämpfen, die Heimsuchungen nicht anerkennen wollen, keine Heiligen sein können und sich dennoch bemühen, Ärzte zu sein« (Camus, 1947/1958, S. 283). Just in diesem Sinne habe ich mich bis zum Ende meiner ärztlichen Berufstätigkeit im Sommer 2019 stets bemüht … Ich möchte gegen Ende dieser Betrachtungen einen für Leserin und Leser vielleicht überraschenden, in meinen Augen aber durchaus weiterführenden Rückblick in die Geistesgeschichte einschalten. Denn für unser Thema gibt es, gerade unter den Verhältnissen unserer hektischen Gegenwart, nach meiner festen Überzeugung sehr viel zu lernen von dem Landvermesser, Reformpädagogen, Philosophen und Einsiedler Henry David Thoreau (1817–1862). Dieser erstaunliche Mensch hat ja nicht nur das Buch »Walden« hinterlassen, in dem er über sein »Hüttenleben im Walde« berichtet, sondern auch jenen Aufsatz, der später den Titel »Civil Disobedience« (ziviler Ungehorsam) erhielt und sowohl Mahatma Gandhi als auch Martin Luther King stark beeinflusst hat. Thoreaus Buch über seine zwei Jahre und zwei Monate »Hüttenleben im Walde« singt keineswegs ein bloßes Loblied auf die Beschaulichkeit naturnahen Einsiedlerlebens. Es enthält viele kritische Gedanken über die Gegenwartsgesellschaft von 1850 und über ihre Wirtschaftsweise. Damit beginnt Thoreau schon auf den ersten Sei-

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ten: »Warum soll einer, kaum ist er geboren, damit anfangen, sich sein Grab zu schaufeln«, heißt es da: »Warum sich mit Hab und Gut abplagen, statt ein menschenwürdiges Leben zu führen, so gut es geht?« Und einige Zeilen später, noch auf derselben Seite: »Wer sich abrackert, ist in einem Irrtum befangen. Sein besseres Teil ist bald als Dünger unter den Boden gepflügt. Im Glauben, es sei dies des Menschen Los, dem niemand entgeht, müht er sich damit ab, Schätze zu sammeln, die die Motten und der Rost fressen und denen die Diebe nachgraben, um sie zu stehlen. Es ist eine Dummheit, so zu leben; das merkt jeder, wenn es ans Ende geht, wenn nicht schon vorher« (Thoreau, 1854/1967, S. 8). Ja, Thoreau ist der wahre Urheber des Leitsatzes »Vereinfache dein Leben!«, mit dem ein Bestseller-Autor des späten 20.  Jahrhunderts so viel Furore zu machen wusste. Und er wird nicht müde, immer wieder zu betonen, dass die Überfülle der Gegenstände, an die wir uns zerstreuen, uns innerlich arm werden lässt, dass die Hektik und die Eile, die unsere Lebensgestaltung prägen, uns blind machen für das, worauf es wirklich ankommt – und er ermutigt uns, auf unser eigenes Tempo zu hören: »Warum haben wir es alle so verzweifelt eilig, zu Erfolg zu kommen, noch dazu in so verzweifelten Unternehmungen. Wenn einer nicht Schritt hält mit den anderen, rührt das vielleicht daher, dass er auf einen anderen Trommler hört. Jeder richte seine Schritte nach der Musik, die er vernimmt, mag sie noch so gemessen und leise klingen« (Thoreau, 1854/1967, S. 457). Mit besseren Worten kann man sich nicht gegen die moderne Tendenz verwahren, in seinem Leben und Leisten die meiste Zeit »directed by the others«, außengesteuert zu sein (dieser Begriff stammt aus dem soziologischen Bestseller »Die einsame Masse« von David Riesman und Mitarbeitern [1950/1958]). Thoreaus Emphase, mit der er die Hinwendung zu den eigenen inneren Werten verficht, gipfelt in den berühmten poetischen Worten: »Lieber ein lebender Hund als ein toter Löwe! Soll einer hingehen und sich aufhängen, bloß weil er zum Menschenschlag der Pygmäen gehört, statt als Pygmäe so groß zu sein, wie er kann? Sehe jeder zu, dass er das ist, wozu er geschaffen wurde« (Thoreau, 1854/1967, S. 457). Seine Einsichten in die ökologischen Zusammenhänge der modernen Industriegesellschaft muten bisweilen prophetisch an. In

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seinem Vortrag »Leben ohne Prinzipien«, den er 1854 an mehreren Orten gehalten hat, heißt es unter anderem: »Wenn ein Mensch einmal einen halben Tag lang in den Wäldern spazieren geht, weil er sie liebt, dann besteht die Gefahr, dass er als Tagedieb angesehen wird; wenn er dagegen den ganzen Tag als Unternehmer zubringt und diese Wälder abhackt und die Erde vorzeitig kahl werden lässt, so wird er als fleißiger und unternehmungslustiger Bürger betrachtet« (Thoreau, 1863/1967, S. 39). Diese Welt ist ein Ort des Geschäfts – was für ein endloses Hasten, heißt es an anderer Stelle im selben Text. Dem endlosen Hasten der geschäftigen Menschen setzt Thoreau jene Gelassenheit entgegen, die er selbst offenbar – siehe oben – auch im Angesicht des Todes noch bewahren konnte: die Einsicht, dass es für ein gelingendes Leben auf die Erfahrungen ankommt, die man gemacht hat – nicht auf die Fülle der Dinge, die man besitzt. »Fahrt meinetwegen hinaus an den Rand der Welt«, heißt es im »Walden«, »was ihr an Ortsveränderung vor mir voraushabt, habe ich vor euch an Lebensveränderung voraus« (Thoreau, 1854/1967, S. 451). Und das Buch endet mit den wundervollen Sätzen, die ich auch heute noch nicht ohne innere Bewegung lesen kann: »Nur der Tag bricht für uns an, den wir wachen Sinnes erleben. Und es will noch viel Tag herausdämmern. Die Sonne ist lediglich ein Morgenstern« (Thoreau, 1854/1967, S. 469). Die Nachwirkung des »Walden« war groß. »Die amerikanische Literatur, so kühn und großartig sie ist, hat kein schöneres und tieferes Buch aufzuweisen«, soll sich späterhin einer seiner großen Bewunderer, der sechzig Jahre jüngere deutsche Dichter Hermann Hesse (1877–1962) geäußert haben. Manche Darlegungen Hesses wirken so, als bezöge er sich mit seinen Worten direkt auf Thoreau, etwa auf dessen Frage: »Warum haben wir es alle so verzweifelt eilig, zu Erfolg zu kommen?« Wie eine Antwort darauf wirkt die folgende, überaus hellsichtige – und deshalb hier etwas länger zitierte – Passage, der er 1899 den Titel »Kleine Freuden« gegeben hat: »Die hohe Bewertung der Minute, die Eile, als wichtigste Ursache unserer Lebensform, ist ohne Zweifel der gefährlichste Feind der Freude. Daß diese Eiligkeit unseres heutigen Lebens uns von der frühesten Erziehung an angreifend und nachteilig beeinflusst, erscheint trau-

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rig, aber – notwendig. Leider aber hat sich diese Hast des modernen Lebens längst auch unserer geringen Muße bemächtigt; unsere Art zu genießen ist kaum weniger nervös als der Betrieb unserer Arbeit. ›Möglichst viel und möglichst schnell‹ ist die Losung. Daraus folgt immer mehr Vergnügung und immer weniger Freude. So wenig als andere weiß ich ein Universalrezept gegen diese Mißstände. Ich möchte nur ein altes, leider ganz unmodernes Privatmittel in Erinnerung bringen: Mäßiger Genuß ist doppelter Genuß! Und: Überseht doch die kleinen Freuden nicht. Also: Maßhalten! Mit der Gewohnheit des Maßhaltens ist die Genußfähigkeit für die ›kleinen Freuden‹ innig verknüpft. Denn diese Fähigkeit, ursprünglich jedem Menschen eingeboren, setzt Dinge voraus, die im modernen Tagesleben vielfach verkümmert und verlorengegangen sind, nämlich ein gewisses Maß von Heiterkeit, von Liebe und von Poesie. Jeden Tag so viel wie möglich von den kleinen Freuden erleben und die größeren, anstrengenderen Genüsse sparsam auf Feiertage und gute Stunden verteilen, das ist, was ich jedem raten möchte, der an Zeitmangel und Unlust leidet. Zur Erholung vor allem, zur täglichen Erlösung und Entlastung sind uns die kleinen, nicht die großen Freuden gegeben« (Hesse, 1899/1977, S. 10). Kommen wir, nach diesem Verweis auf Thoreau und Hesse, nun zum Schluss. Gibt es für ein solches auf einen anderen, besser gelingenden Umgang mit den Zeitvorgaben der Um- und Mitwelt ausgerichtetes Selbstmanagement, wenn es denn erfolgreich sein soll, Grund- oder Leitsätze? Ja, es gibt sie durchaus (vgl. hierzu auch Bastian, 2016), und ich will sie hier, zum Beschluss meines Gedankenganges, in der gebotenen Kürze umreißen. Ein Mensch, der sich langfristig und nachhaltig gegen den wachsenden Mobilitätsterror der Gegenwartsgesellschaft behaupten will, tut gut daran, dabei die folgenden vier Gesichtspunkte zu berücksichtigen: Erstens ist es wichtig, die unablässig auf uns einströmende und uns über Gebühr stimulierende Menge an Außenreizen drastisch zu reduzieren. Zweitens ist eine einschneidende, dauerhafte und nachhaltig wirksame Vereinfachung der alltäglichen Lebenspraxis, eine Konzentration auf das wirklich Wesentliche, von größter Bedeutung.

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Drittens kommt es darauf an, durch bewusst in die alltäglichen Abläufe eingeschaltete soziale Interpunktionen (»schöpferische Pausen«) wieder mehr Zeit zur Muße, zur Besinnlichkeit und zur Selbstreflexion zu gewinnen. Viertens ist der nötige Respekt für die eigene innere Vielschichtigkeit, für die Ambivalenz und Mehrdimensionalität des eigenen Seelenlebens, von hohem Wert für die Selbsterforschung und die nur aus ihr zu gewinnende Selbst-Zufriedenheit. Vermutlich werden etliche Leserinnen und Leser jetzt erstaunt fragen: Was, das soll alles sein? Ja, das ist alles. Und um mit der würzigen Kürze meiner Darlegungen zu versöhnen, möchte ich diese noch mit einer Anekdote aus einem fremden Kulturkreis untermauern: Der junge Novize im buddhistischen Kloster fragt den Zen-Meister: »Meister, wie kann ich die Buddha-Natur erlangen?« Der Meister antwortet: »Geh und wasche deine Ess-Schüssel!«

Literatur Bacon, F. (1620/1962). Das neue Organon. Berlin: Akademie. Bastian, T. (2016). Seelenleben. Eine Bedienungsanleitung für unsere Psyche. Gießen: Psychosozial. Bastian, T. (2019). Der Getriebenheit widerstehen. Plädoyer für eine Kultur der Pause. In H. Hierdeis (Hrsg.), Fleiß und Faulheit. Interdisziplinäre Beobachtungen, Erfahrungen und Reflexionen (S. 131–142). Kröning: Asanger. Bergemann, L., Hack, C., Frewer, A. (Hrsg.) (2018). Entschleunigung als Therapie? Zeit für Achtsamkeit in der Medizin. Jahrbuch Ethik in der Klinik, 11. Würzburg: Königshausen & Neumann. Bollnow, O. F. (1958). Wesen und Wandel der Tugenden. Frankfurt a. M. u. a.: Ullstein. Bundesärztekammer (2019). Patientenversorgung unter Druck. http://daebl.de/ XQ53 – Zugriff am 27.08.2019. Camus, A. (1947/1958). Die Pest. Düsseldorf: Rauch. Deutscher Ethikrat (2016). Patientenwohl als ethischer Maßstab für das Krankenhaus. Stellungnahme, 05.04.2016. www.ethikrat.org/pressekonferenzen/ veroeffentlichung-der-stellungnahme-patientenwohl-als-ethischer-mass­ stab-fuer-das-krankenhaus/?cookieLevel=not-set&cHash=1c98d97367051 bd10149adcab5e1c177 – Zugriff am 27.08.2019. Goethe, J. W. von (1808/1962). Faust. Erster Teil. Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 3. Hamburg: Wegner. Gross, P. (1994). Die Multioptionsgesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

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Hesse, H. (1977). Kleine Freuden. Kurze Prosa aus dem Nachlaß. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Holtel, M., Weber, H. (2019). Kommunikation: So gelingt die Visite. Deutsches Ärzteblatt, 116 (1–2), A-40, B-32, C-32. Maio, G. (2018). Für eine Wiederentdeckung der Geduld als Grundelement der Sorgeidentität der Heilberufe. In L. Bergemann, C. Hack, A. Frewer (Hrsg.), Entschleunigung als Therapie? Zeit für Achtsamkeit in der Medizin (S. 37–50). Jahrbuch Ethik in der Klinik, 11. Würzburg: Königshausen & Neumann. Riesman, D., Denney, R., Glazer, N., Schelsky, H. (1950/1958). Die einsame Masse. Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters. Hamburg: Rowohlt. Rilke, R. M. (1956). Gedichte. Nach der von Ernst Zinn besorgten Edition der sämtlichen Werke. Frankfurt: Insel. Schmidbauer, W. (1977). Die hilflosen Helfer. Über die seelische Problematik der helfenden Berufe. Reinbek: Rowohlt. Shem, S. [Bergman, Ph.] (2007). House of God. München: Knaur. Thoreau, H. D. (1854/1967). Walden, oder Hüttenleben im Walde. Zürich: Manesse. Thoreau, H. D. (1863/1967). Leben ohne Prinzipien. In H. D. Thoreau, Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat und andere Essays (S. 37–62). Zürich: Diogenes.

Verzeichnis der Abkürzungen

AWMF Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. COPD Chronic Obstructive Pulmonary Disease = chronisch obstruktive Lungenerkrankung DEGAM Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin DMP Disease-Management-Programm DRG Diagnosis Related Groups = diagnosebezogene Gruppierung von Krankheitsfällen GOÄ Gebührenordnung für Ärzte IGeL Individuelle Gesundheitsleistungen KBV Kassenärztliche Bundesvereinigung KHK Koronare Herzkrankheit KOMV Wissenschaftliche Kommission für ein modernes Vergütungssystem MDK Medizinischer Dienst der Krankenversicherung MRT Magnetresonanztomografie MS Multiple Sklerose MTA Medizinisch-technischer Assistent/Medizinisch-technische Assistentin NEF Notarzteinsatzfahrzeug OECD Organization for Economic Cooperation and Development = Organisation für Ökonomische Zusammenarbeit und Entwicklung OP Operation/Operationssaal TEP Totalendoprothese = Gelenkersatz

Die Autorinnen und Autoren

Till Bastian, Dr. med.; bis 1982 praktischer Arzt, dann Geschäftsführer der Gesellschaft »Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges. Ärzte in sozialer Verantwortung e. V.« (Friedensnobelpreis 1985); nach 1986 Schriftsteller und Journalist; 2004–2019 Arzt an der Fachklinik Wollmarshöhe. Mail: [email protected] Christa Maria Bauermeister, Oberstudienrätin für Deutsch und Geschichte; zuletzt am Gymnasium Alfeld und an der Robert-BoschGesamtschule Hildesheim (UNESCO-Projektschule); 2010–2012 Leiterin und Herausgeberin des Interviewprojekts »Sehnsucht nach Wahrheit – Schüler befragen ihre Region und begreifen die Welt« am Gymnasium Alfeld; seit 2013 jährliche Mitwirkung am Entwicklungszusammenarbeits- und interkulturellen Lernprojekt der Robert-Bosch-Gesamtschule in Lekrimuni, Nordtansania. Mitherausgeberin und -autorin der Broschüre »Lernen im Massaidorf Lekrimuni. Lokale Projekte. Globale Visionen« (2018); Zusammenarbeit mit lokalen Akteuren in Tansania für die Konzeption von Dorfentwicklungsmodellen im Sinne der 17 Ziele der UN-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung. Langjährige Mitgestalterin der Friedensbewegung in Südniedersachsen; Mitglied von »Erlassjahr. de – Entwicklung braucht Entschuldung«. Mail: [email protected] Josef Berghold, Dr., PD, Sozialpsychologe; Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut und Poliklinik für Allgemeinmedizin des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf; Forschungsaufträge des österreichischen Wissenschaftsministeriums (italienisch-österreichische Beziehungen, Schwerpunkt »Fremdenfeindlichkeit«); Lehrtätigkeit u. a. an den Universitäten Wien, Klagenfurt, Ferrara, Innsbruck, Bozen und Lüneburg; Mitglied im wissenschaftlichen Beirat von Attac. Wissenschaftliche Schwerpunkte: Vorurteile und Feind-

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Die Autorinnen und Autoren

bilder, interkulturelle Entwicklung, globale Gesellschaft, Solidarität und Sozialdarwinismus, ökologische Nachhaltigkeit, Deutungen des Unbewussten im öffentlichen Leben, Hindernisse gegen ein Ernstnehmen der Klimakatastrophe. Mail: [email protected] Antje Buitkamp, Dr. med., Fachärztin für Frauenheilkunde; Oberärztin in der gynäkologischen Abteilung der Asklepios Klinik Am Kurpark, Bad Schwartau. Schwerpunkt: Behandlung von Patientinnen mit Endometriose und gynäkologisch-onkologischen Erkrankungen in der Rehabilitation. Weitere Fachbereiche: Palliativmedizin, Psychoonkologie, Akupunktur, Ernährungsmedizin. Langjährige Tätigkeit als Ärztin, Mitbegründerin und wissenschaftliche Begleiterin der gemeinnützigen Stiftung »Vertiente« zur sozialen, ökologischen, gesundheitlichen und bildungsmäßigen Entwicklung im Andenhochland Boliviens. Mail: [email protected] Hans-Hermann Dubben, Dr. rer.nat., PD, Diplom-Physiker, Biophysiker, Autor populärwissenschaftlicher Bücher; Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung für Medizinische Optik, am Institut für Biophysik und Strahlenbiologie, am Institut für Zellbiochemie und klinische Neurobiologie, in der Abteilung für Strahlentherapie und Radioonkologie sowie am Institut und der Poliklinik für Allgemeinmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Gastwissenschaftler an der Northwestern University, Chicago, USA. Mail: [email protected] Helmwart Hierdeis, Dr. phil., Prof. i. R.; seit 1968 als Erziehungswissenschaftler tätig an den Universitäten Bamberg, Erlangen-Nürnberg und Innsbruck (bis 2002); von 1998–2001 Gründungsdekan der Fakultät für Bildungswissenschaften in Brixen der Freien Universität Bozen; seit 1997 Psychoanalytiker; a. o. Mitglied der Münchner Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalyse (MAP). Forschungsschwerpunkte: Pädagogische Historiographie, Bildungstheorie, Psychoanalytische Pädagogik, Psychoanalyse. Mail: [email protected]

Die Autorinnen und Autoren363

Martin Scherer, Dr. med., Prof.; seit 2004 Facharzt für Allge­ meinmedizin; 2004–2009 Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Allgemeinmedizin der Göttinger Universitätsklinik, ab 2006 als Oberarzt; 2009 W2-Professur »Versorgungsforschung und ihre Methoden« am Institut für Sozialmedizin der Universität Lübeck; 2009 Gründungsmitglied und stellv. Sprecher des akademischen Zentrums für Bevölkerungsmedizin und Versorgungsforschung; 2010 Kommissarischer Direktor des Instituts für Sozialmedizin der Universität Lübeck; 2012 Direktor, Institut und Poliklinik für Allgemeinmedizin, Universitätsklinikum HamburgEppendorf und Leiter der klinischen Allgemeinmedizin am UKE. Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) 2010–2019 sowie Sprecher der Leitlinienkommission der DEGAM 2006–2018; seit September 2019 DEGAM-Präsident. Schriftleiter des Hamburger Ärzteblatts seit 2015. Vorsitzender des Expertenbeirats der Stiftung Gesundheitswissen seit 2018. Forschungsschwerpunkte: Leitlinien und Qualitätsindikatoren, Vermeidung von Über- und Unterversorgung, Multimorbidität. Mail: [email protected] Winfried Wolf, Dr. phil., Diplom-Politologe; Chefredakteur von »Lunapark21 – Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie«; Mitglied des Deutschen Bundestags 1994–2002; Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat von Attac; Sprecher des Bündnisses »Bahn für alle«. Arbeitsschwerpunkte: Verkehrspolitik und Bahn; Ökonomie und Globalisierung; Krieg, Frieden und Rüstungsindustrie. Website: www.winfriedwolf.de Thomas Zimmermann, Dr., Diplom-Psychologe, Versorgungsforscher, systemischer Berater und Coach; Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Institut und Poliklinik für Allgemeinmedizin. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Interventionelle Versorgungsforschung; Sozialmedizin; soziale Probleme in der Hausarztpraxis; Kooperation von sozialem Hilfesystem und hausärztlicher Versorgung; Kooperation verschiedener Gesundheitsfachberufe in der ambulanten Versorgung zur Förderung des

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Die Autorinnen und Autoren

Selbstmanagements (Gesundheitskiosk Hamburg-Billstedt/Horn); Metawissenschaft. Mail: [email protected]