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German Pages 256 Year 2015
Fabian Karsch Medizin zwischen Markt und Moral
2015-01-21 10-31-33 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03e2388235862904|(S.
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Fabian Karsch (Dr. phil.) ist Soziologe und arbeitet am Institut TTN an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
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Fabian Karsch
Medizin zwischen Markt und Moral Zur Kommerzialisierung ärztlicher Handlungsfelder
2015-01-21 10-31-33 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03e2388235862904|(S.
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Korrektorat & Satz: Fabian Karsch Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-2890-6 PDF-ISBN 978-3-8394-2890-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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Inhalt
A BBILDUNGEN _ VORWORT _ 1 EINLEITUNG _ 1.1 Medizin zwischen Markt und Moral _ 11 1.2 Gliederung der Studie _17 2 DIE DISKURSIVE V ERH ANDLUNG
NORMATIVER
O RDNUNG _
2.1 Sozialkonstruktivistische Wissenssoziologie _22 2.2 Die normative Ordnung der Medizin als Aushandlungsordnung _29 3 M ETHODOLOGIE UND FORSCHUNGSDESIGN DER STUDIE _ 3.1 Zum Verhältnis von WDA und GTM _35 3.2 Von der GTM zur Situationsanalyse _42 3.3 Erhebungsdesign und Datenauswahl _52 3.4 Mappingstrategien _59 3.5 Bedingungskontext _66 4 VERGESELLSCHAFTUNG DER M EDIZIN – M EDIK ALISIERUNG DER G ESELLSCHAFT _ 4.1 Vormoderne Medizin als Wegbereiter _72 4.2 Medizin als Profession _79 4.2.1 Professionstheoretische Aspekte _79 4.2.2 Ärztliche Moral und Berufsethik _ 86 4.2.3 Die Arzt-Patient-Beziehung und die Klientenautonomie _89 4.3 Theorien gesellschaftlicher Medikalisierung _ 94 4.3.1 Die Etablierung der modernen Medizin _ 98 4.3.2 Expansion medizinischer Deutungsansprüche _ 102 4.3.3 Entgrenzung der Medizin: Von der Heilung zur Verbesserung? _106 4.4 Von der Grundversorgung zur Service-Medizin _ 120 4.4.1 Das deutsche Gesundheitswesen _ 120 4.4.2 Der zweite Gesundheitsmarkt _ 124
5 DIE K OMMERZIALISIERUNG MEDIZINISCHER H ANDLUNGSFELDER IM DISKURS _ 5.1 Akteure und Inhalte _ 136 5.1.1 Mapping des Diskurses _138 5.1.2 Umstrittene Leistungen _ 146 5.2 Ärzte in kassenärztlicher Niederlassung _150 5.2.1 Kassenpatienten: souverän und informiert? _ 152 5.2.2 Der Igel – Nützling oder Schädling? _ 155 5.2.3 Der Sonderfall der „Alternativmedizin“ _ 159 5.3 Heilst du noch oder optimierst du schon? Das Beispiel der ästhetischen Chirurgie _161 5.3.1 Das Spektrum ästhetisch-chirurgischer Leistungen _162 5.3.2 „Schwarze Schafe“ in weißen Kitteln _165 5.3.3 Zwischenfazit _171 5.4 Das Interpretationsrepertoire des Diskurses _172 5.4.1 Phänomenstruktur _173 5.4.2 Positionsmaps _182 5.4.3 Die medizinische Indikation als Kernkriterium _188 5.5 Zusammenfassung: Professionelles Handeln als Politikum _192 6 DISKUSSION _ 6.1 Zwischen Gesundheit und Krankheit: Patientenbedürfnisse als Handlungsanlass? _203 6.2 Professionalität als Grundbedingung medizinischen Handelns _207 7 REFLEXIVE M ODERNISIERUNG DER M EDIZIN _ 7.1 Kursorischer Überblick der Theorie reflexiver Modernisierung _218 7.2 Reflexive Medikalisierung _220 8 F AZIT : D AS ENDE DER
„KLASSISCHEN
9 LITERATURVERZEICHNIS _
M EDIZIN“ ? _
Abbildungen
Abbildung 1: Der iterative Forschungsprozess ......................................................53 Abbildung 2: Übersicht der Interviewpartner ........................................................56 Abbildung 3: Abstrahierte ungeordnete Situationsmap ..........................................61 Abbildung 4: Abstrahierte geordnete Situations-Map ............................................62 Abbildung 5: Maps von Sozialen Welten/Arenen ..................................................63 Abbildung 6: Positions-Map .................................................................................65 Abbildung 7: Projekt-Map....................................................................................66 Abbildung 8: Heuristik des Wandels im medizinischen Handlungsfeld ................ 109 Abbildung 9: Die Medikalisierung der Gesellschaft............................................. 110 Abbildung 10: Typologie von Gesundheitssystemen (nach Rothgang 2009) ......... 122 Abbildung 11: Modi der Finanzierung (nach Rothgang 2009) .............................. 123 Abbildung 12: Praxisumsatz ............................................................................... 127 Abbildung 13: Situationsmap des Diskurses........................................................ 139 Abbildung 14: Geordnete Situationsmap ............................................................. 140 Abbildung 15: Situationsmap der Diskursarena ................................................... 142 Abbildung 16: Zentrale Akteure und Sprecherpositionen ..................................... 144 Abbildung 17: Plastisch-ästhetische Chirurgie .................................................... 163 Abbildung 18: Phänomenstruktur des Diskurses.................................................. 174 Abbildung 19: Verhältnis von Freiberuflichkeit und Marktorientierung ............... 184 Abbildung 20: Verhältnis von Wert- und Marktorientierung ................................ 185 Abbildung 21: Zwischen Kundenwusch und Notwendigkeit ................................ 186 Abbildung 22: Arztbild und Akzeptanz kommerzieller Leistungen ...................... 188 Abbildung 23: Differenzierung von Leistungen................................................... 189 Abbildung 24: Medizinische Indikation zwischen Diskurs- und Systemebene ...... 191 Abbildung 25: Typen medizinischer Praxis ......................................................... 201 Abbildung 26: Prozesse der Kommerzialisierung in der Medizin ......................... 222
Vorwort
Es ist so eine Sache mit der Medizin. Als „Kunstfertigkeit“ am menschlichen Körper nimmt sie gewissermaßen eine Sonderstellung in der Vielfalt der Kulturleistungen ein. In der ihr eigenen Mischung aus Ritualisierung und Aberglaube, aus empirischer Beobachtung und experimenteller Methodik, und dem Aufbäumen gegen die schicksalhafte Natur körperlichen Leids und Gebrechens ist sie immer schon mehr gewesen als etwa eine Ingenieurskunst, die sich der Reparatur defekter Maschinen widmet. Medizin wird auch als ein humanistisches Vorhaben verstanden. Von Ärzten wird denn auch erwartet, sich dem Leid der Mitmenschen aufopferungsvoll anzunehmen. Eine Erwartungshaltung, die nicht nur von außen an die Berufsgruppe herangetragen wird, sondern insbesondere auch einem inneren Selbstverständnis dient. Doch werden die Medizin und ihre Standesvertreter dafür keineswegs nur geliebt. Die Geschichte der Medizin ist auch eine Geschichte von Irrlehren, Quacksalbern und Medizinkritikern. Und so ist der Vertrauensvorschuss, den Patienten den Ärzten entgegenbringen, nicht zu unterschätzen – sind Mediziner doch legitimiert, Tabuzonen zu durchbrechen, Krankheit und Scham zu blicken und sogar Körper zu öffnen, wenn es denn der ärztlichen Heilbehandlung dienlich ist. So nehmen Ärzte, wie weiland die Schamanen oder Priester, jene Sonderstellung ein, die denen vorbehalten ist, die sich um das Heil ihrer Mitmenschen kümmern. Mit der Ausweitung medizinischer Handlungsfelder steigen auch die Erwartungen an die Heilkunst. Gesundheit sei ein „Megatrend“ heißt es heute. Und damit sind vor allem expandierende Märkte gemeint. Die zunehmende Medikalisierung der Gesellschaft führt zu einem Konflikt zwischen Markt und Moral, wenn Ärzte konträr zu ihrem tradierten humanistischen Selbstverständnis systematische neue Erwerbsfelder erschließen. Die Ausweitung und fortschreitende Kommerzialisierung medizinischer Handlungsfelder bedarf angesichts der zunehmend öffentlich ausgetragenen Konflikte über die Zielsetzungen der Medizin verstärkt
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der sozialwissenschaftlichen Reflexion. Da Systemen ihre Selbstbeobachtung nicht immer gelingt (und auch nicht immer gewollt ist), kann ein medizinsoziologischer Ansatz hier einen Beitrag leisten, um zu beschreiben und zu analysieren, welche Implikationen die Medikalisierung der Gesellschaft und die Kommerzialisierung der Medizin haben. Das vorliegende Buch ist das Ergebnis einer behutsamen Überarbeitung meiner Dissertationsschrift, die im Oktober 2013 an der philosophisch-sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Augsburg eingereicht wurde. Viele Kollegen und Freunde haben durch Ratschläge und in mancher Hinsicht auch durch wichtige Vorarbeiten zur inhaltlichen Entwicklung dieser Arbeit beigetragen. Namentlich möchte ich Prof. Dr. Christoph Lau und Prof. Dr. Reiner Keller von der Universität Augsburg sowie PD Dr. Peter Wehling von der Universität Frankfurt danken, welche die Betreuung und Begutachtung der Dissertation übernommen haben. Außerdem danke ich Prof. Dr. Alfons Bora von der Universität Bielefeld und Prof. Dr. Regine Kollek von der Universität Hamburg sowie dem Evangelischen Studienwerk Villigst e.V. für die Aufnahme in den Promotionsschwerpunkt „Biomedizin – Gesellschaftliche Deutungsmuster und soziale Praxis“. Besonders danke ich dem Institut TTN an der LMU München für die großzügige finanzielle Unterstützung dieser Publikation. Fabian Karsch, München im Oktober 2014
1 Einleitung „Sage mir: Der Arzt in dem strengen Sinne, von dem du eben gesprochen, – ist er einer, der Geld erwirbt, oder einer, der Kranke heilt? Dabei nimm den wirklichen Arzt! Der, welcher Kranke heilt, versetzte er.“ (PLATON : DER STAAT)
1.1 MEDIZIN
ZWISCHEN
MARKT UND MORAL
Die zentrale Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin bei der Bundesärztekammer hat im Herbst 2012 im Rahmen einer Stellungnahme, grundsätzliche Überlegungen zu den Aufgaben des Arztes unter den Rahmenbedingungen der modernen Medizin gefordert, da es in zunehmendem Maße, so die Verfasser, zu ärztlichen Behandlungen „ohne Krankheitsbezug“ komme (Zentrale Ethikkommission 2012: A 2000). Derartige Dienstleistungen bedürften nicht nur einer besonderen Qualitätssicherung, vor allem gerieten „Ärzte zunehmend in einen Konflikt zwischen dem ärztlichen Berufsethos und ihren finanziellen Interessen“ (ebd.). Die Stellungnahme ist nun in vielerlei Hinsicht aufschlussreich für den in diesem Buch anvisierten Konflikt der Medizin zwischen Markt und Moral: Erstens wird von den Autoren mit dem Anstieg von „Behandlungen ohne Krankheitsbezug“ eine Tendenz beschrieben, die in soziologischer Hinsicht unter das Phänomen der Medikalisierung fällt. Medikalisierung bezeichnet einen weitreichenden Trend der Ausweitung der Deutungsansprüche und Handlungsfelder der Medizin. Diese Ausweitung beinhaltet zum einen die Expansion der Medizin im Kontext der Logik der Krankheitsbehandlung, etwa indem Zustände als behandlungsbedürftig definiert werden, die zuvor nicht als Krankheiten verstanden wurden (Pathologisierung), zum anderen aber auch die Ausweitung medizinisch-therapeutischer und diagnostischer Leistungen, die bei gesunden Menschen mit dem Ziel
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der Prävention, der Leistungssteigerung oder der Verbesserung des körperlich und geistigen Wohlbefinden angewandt werden (Medikalisierung von Gesundheit). Zweitens schließen die Autoren aus dem Trend einer Medikalisierung von Gesundheit („Behandlungen ohne Krankheitsbezug“) auf einen zunehmenden Wertekonflikt zwischen berufsethischen und finanziellen Interessen. Diese Hypothese beruht a) auf der Tatsache, dass Leistungen, die nicht der Krankheitsbehandlung dienen, laut SGB V privatmedizinische Selbstzahlerleistungen sind, und b) auf der Annahme, dass das ärztliche Ethos durch die Profitorientierung unterminiert würde. Diese Annahme ist durchaus nicht überraschend, denn medizinisches Handeln ist von professionellen Normen geprägt, die vorsehen, dass hinter angebotenen Dienstleistungen in erster Linie das Wohl des Patienten zu stehen habe. Gesellschaftlich und/oder medizinisch umstrittene Handlungsfelder werden also dann zum Problem, wenn sie die professionelle Moral und Wertevorstellungen in Frage stellen, die die Grenzen ärztlicher Spielräume zentral mitbestimmen. Dabei scheint der Antagonismus von „Ethik und Monetik“ ein entscheidendes Deutungsmuster zur Bestimmung ärztlicher Professionalität und legitimer ärztlicher Handlungsspielräume zu sein. Das dieser Einleitung vorangestellte Zitat aus einem Sokrates-Dialog Platons, weist bereits eindrücklich auf den Wertekonflikt des Arztberufes hin, aus dem das Spannungsverhältnis von Markt und Moral im medizinischen Handeln hervorgeht. Platon lässt aufscheinen, dass der „wirkliche Arzt“ derjenige sei, der Kranke heilt und nicht der, dessen Handlungen in erster Linie durch finanzielle Anreize motiviert sind. Die Notwendigkeit einer Balance zwischen den ökonomischen Eigeninteressen der Ärztinnen und Ärzte1 und der erforderlichen Kollektiv- bzw. Patientenorientierung scheint also traditionell ein Konfliktfeld des Arztberufes zu sein, denn dort wo Profite in den Vordergrund rücken, so die Befürchtung, werden nolens volens auch Patienteninteressen vernachlässigt. Daher ist die Abgrenzung vom marktförmigen Handeln ein konstitutives Element des Arztberufes, das die Legitimität ärztlichen Handelns mitbestimmt. Die gewinnorientierten Aspekte des Arztberufes sind aktuell zu einem besonderen Streitfall im berufspolitischen Diskurs geworden: Gesundheit sei, so eine gängige Argumentation in der diskursiven Verhandlung, ein öffentliches Gut, von dem im Idealfall niemand ausgeschlossen sein sollte. Das öffentliche Gesundheitswesen folgt denn auch anderen Regeln als der freie Markt. Zwar spielen
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Bei unspezifischen Bezeichnungen wird im Folgenden aus Gründen der leichteren Lesbarkeit auf eine geschlechtsspezifische Differenzierung verzichtet.
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ökonomische Determinanten auch im Gesundheitswesen eine Rolle, doch normative und politische Regulierungsmechanismen und Begrenzungen, die der freie Markt in dieser Form nicht kennt, sind, sofern es um die Krankenbehandlung geht, ungleich bedeutsamer. Auf Märkten werden Waren und Dienstleistungen im Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage angeboten, während die Maßnahmen zur Versorgung von Kranken oder zur Förderung von Gesundheit im Normalfall keinen Warencharakter haben (Deppe 2002: 250) und Dienstleistungen, zumindest im Kernbereich der Gesundheitsversorgung, nicht im direkten Wettbewerb um die Abnehmer stehen. Ein häufig hervorgebrachtes Argument (etwa bei Hoppe 2004) lautet außerdem, dass Patienten, weil sie als Laien bezüglich der Diagnose und Therapie von der Deutung durch professionelle Experten abhängig sind (und zudem aufgrund ihres Krankenstatus oft in ihrer Souveränität eingeschränkt sind), als Hilfsbedürftige und nicht als Konsumenten auftreten. So gilt der Zugang zur Gesundheitsversorgung als ein grundlegender Anspruch, der nicht von der Zahlungsfähigkeit abhängig sein sollte, da Patienten meist unfreiwillig zu Abnehmern medizinischer Dienstleistungen werden und auf die vom Gesundheitswesen bereitgestellten Güter nicht so einfach (wie etwa auf Konsumgüter) verzichten können (Deppe 2002: 250; Hoppe 2004). Ferner ist der Verlauf der Therapie von den Abnehmern nur bedingt steuerbar. Ärztinnen und Ärzte sind deshalb im Idealfall als Advokaten ihrer Patienten zu verstehen, deren Interessen sie unter Zurückstellung (vor allem finanzieller) Eigeninteressen vertreten sollten. Wie bereits Talcott Parsons (1951) betont, ist die Abgrenzung von kommerziellem Handeln gleichermaßen tief in der professionellen Ideologie der Ärzteschaft verankert, wie auch die Handlungsorientierung am Patientenwohl: „The ideology of the profession lays great emphasis on the obligation to the ‚welfare of the patient‘ above his personal interests, and regards ‚commercialism‘ as the most serious and insidious evil with which it has to content.“ (Parsons 1951: 435)
Diese deutliche Abgrenzung zur kommerziellen Sphäre des Marktes beruht darauf, dass sich die Medizin als traditionsbewusstes, an humanistischen Konventionen und ethisch begründeten Handlungsbegrenzungen orientiertes und gerade deswegen auch als moralisches Handlungsfeld versteht und inszeniert. Dies ist unter anderem der Grund dafür, dass die kommerziellen Aspekte des Arztberufes immer wieder zum Streitfall im berufspolitischen Diskurs werden. Parsons pointiert, dass sich das (konflikthafte) Verhältnis von Patientenwohl und Eigenwohl erst im Kontext der Kommerzialisierung zuspitzt – eine Problematik, die heute
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aktueller ist denn je. Der ehemalige Präsident der Bundesärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe, bezieht deutlich Stellung, wenn er bezüglich der gegenwärtigen Situation bemerkt: „In der Medizin ist das Pendel weit in Richtung Kommerz ausgeschlagen“ (zitiert nach Klinkhammer/Stüwe 2011: A1150). Hoppe beschreibt mit der Pendel-Metapher präzise den Möglichkeitsraum ärztlicher Wertorientierung zwischen den zwei Wertsphären Markt (Gewinnorientierung) und Moral (Patientenorientierung). Dabei kann das Pendel als ein moralischer Kompass verstanden werden. In Ruheposition zeigt es den Idealzustand an, in dem notwendiges Wirtschaften und Profitorientierung nur soweit gehen, dass das Pendel den Bereich ärztlicher Moral nicht vollständig verlässt. Hoppes Beurteilung, dass das Pendel „weit in Richtung Kommerz ausgeschlagen“ sei, ist insofern kontrovers aufgenommen worden, als sich der Arztberuf als freier Beruf nicht nur berufsethisch, sondern auch berufsrechtlich vom gewerblichen Handeln abgrenzt. Daher finden sich in aktuellen Argumentationen nicht selten Rückgriffe auf die Berufsordnung der deutschen Ärztinnen und Ärzte, die durch einen bezeichnenden Passus eingeleitet wird: „Der ärztliche Beruf ist kein Gewerbe“ (§ 1 Abs. 2 BÄO). Hiermit ist zweierlei gemeint: Zum einen wird damit auf den Status des Arztberufes als einem freien Beruf verwiesen, was vor allem der Aufrechterhaltung der weitgehend autonomen Handlungspraxis der Ärzte dienen soll (vgl. Vilmar 2008). Gleichwohl, und dies ist hier von größerer Bedeutung, beschränkt diese Regelung auch die gewerbliche Berufsausübung im Sinne einer rein auf Gewinnerzielung fokussierten Ausübung der ärztlichen Tätigkeit. Berufsrechtlich zweifelhaft sind Angebote dann, wenn sie gegen die Berufsordnung (mehr oder weniger eindeutig) verstoßen, etwa wenn es sich um augenscheinlich gewerbliche Angebote handelt. Mit Blick auf die jüngere Entwicklung der medizinischen Versorgungslandschaft, die durch starke Tendenzen der Kommerzialisierung von Gesundheitsleistungen geprägt ist, erscheint dieses Kernelement der ärztlichen Berufsordnung jedoch zunehmend anachronistisch. Erschwert wird die Situation dadurch, dass kaum eindeutig fest gelegt ist, wann ärztlich Angebote und Dienstleistungen diese Grenze tatsächlich überschreiten. Daher wird diese Problematik eher im Rahmen einer moralischen Kommunikation verhandelt. Dass gewinnorientierte Aspekte aktuell im Gesundheitswesen immer stärker in den Vordergrund treten, erscheint denn auch nicht nur „externen“ Beobachtern wie der Ethikkommission als besorgniserregend. Auch praktizierende Ärzten äußern bedenken. Viele Ärzte, so scheint es, sehen in dieser Entwicklung nicht weniger als den (zumindest moralischen) Verfall eines ganzen Berufsstandes. Schließlich, so die Befürchtung, könne eine fortschreitende Kommerzialisierung der Medizin dazu führen, dass der Zugang zu bestimmten Gesundheitsleistungen in zunehmendem Maße von der Zahlungsbereitschaft und Zahlungsfähigkeit der
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Abnehmer bestimmt wird, anstatt von der medizinischen Notwendigkeit. In der Folge ist im berufspolitischen Diskurs der Medizin im Rahmen der aktuellen Debatte um die zunehmende Kommerzialisierung der ärztlichen Praxis ein Deutungskampf um die Identität des Berufsstandes entbrannt. Um die Befürchtung einer grenzenlosen Kommerzialisierung der Medizin, die als ein zentrales Element im berufspolitischen Diskurs aufscheint, gruppieren sich Aussageereignisse, die anzeigen, wie eine Profession um ihr Selbstbild, ihre Außenwirkung und ihre innere moralische Grundkonstitution kämpft. Im Selbstverständnis der Ärzteschaft als der zentralen Profession im Gesundheitswesen spiegeln sich aber nicht nur die gesellschaftlichen Erwartungen wider, die an die Medizin der Gegenwart gestellt werden, sondern auch Erwartungen, Hoffnungen und Bedenken gegenüber einer zukünftigen medizinischen Versorgung. Daher ist es nicht nur von zentraler Bedeutung, den Stellenwert der ärztlichen Professionalität und tradierter normativer Begrenzungen des Arztberufes einer genaueren Betrachtung zu unterziehen, sondern auch deren Kontextbedingungen und Situiertheit. Die Problematik wird schließlich nicht zuletzt auch dadurch verschärft, dass sich die gesellschaftlichen Anforderungen an die Medizin verändern. Die stete Ausweitung der „medizinischen Machbarkeit“ (Karsch 2010) sowohl in technischer als auch in sozio-kultureller Dimension beschwört derzeit ein Klima, in dessen Rahmen die Ansprüche an das ärztliche Leistungsspektrum stetig wachsen. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass Gesundheitshandeln, Körperwissen und Körperbilder heute verstärkt zu sozialer Integration und Identifikation beitragen (vgl. Keller/Meuser 2011). In einer medikalisierten Gesellschaft (vgl. Conrad 2007; Viehöver/Wehling 2011; Karsch 2011b) wird von der Medizin anscheinend mehr erwartet, als nur die Bereitstellung einer gesundheitlichen Grundversorgung (welche freilich ebenfalls Effekt erfolgreicher Medikalisierung ist). Es ist zu beobachten, dass vor allem Ärzte in Niederlassung in zunehmendem Maße Zusatz-, Lifestyle- und Beratungsleistungen anbieten, die vom kassenärztlichen Solidarsystem nicht mitgetragen werden (können) und die als Privatleistungen vom Patienten aus eigener Tasche bezahlt werden müssen. Als Rechtfertigung für den Ausbau des Leistungsspektrums wird nicht eben selten die steigende Nachfrage genannt. Der Trend zur Kommerzialisierung von Gesundheitsleistungen beschränkt sich demnach nicht auf die Anbieterseite (und deren mutmaßlich zunehmende Profitorientierung), sondern muss im Gefüge eines Wandels der Figurationen im Gesundheitswesen betrachtet werden, zu dem auch eine zunehmende Patientensouveränität und Kundenmentalität auf Abnehmerseite beitragen. Die Gesundheitswissenschaftlerin Illona Kickbusch (2006) hat in diesem Zusammenhang mit dem Begriff der „Gesundheitsgesellschaft“ eine Gegenwartsdiagnose formuliert,
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die einen zunehmend gesundheits- und körperbezogenen Lebensstil und die generell gestiegene Bedeutung von Gesundheit als ein zentrales kulturelles Artefakt zum Ausgangspunkt nimmt. Nicht nur sei der Markt der Gesundheit zu einem Wirtschaftsfaktor von enormer Bedeutung angewachsen, auch lasse sich eine verstärkt gesundheitsbezogene Lebenswelt beobachten, die, so Kickbusch, fest im Alltag verankert sei und in der „immer mehr Verhalten als gesundheitsschädlich bezeichnet und bekämpft und immer neue Verbesserungen am menschlichen Körper“ (ebd.: 8) angestrebt würden. Kickbusch interpretiert diesen Prozess als einen Zuwachs der „Machbarkeit von Gesundheit“ (ebd.: 11). Gesundheit wird demnach nicht mehr nur negativ als die Abwesenheit von Krankheit bestimmt, sondern gilt heute als eine individuell gestaltbare und ausbaufähige Ressource. 2 Zusammenfassend kann nun konstatiert werden, dass mit dieser in der „Gesundheitsgesellschaft“ stattfindenden Transformation des Gesundheitswesens sukzessive ein neuer Markt für Gesundheitsleistungen entstanden ist, in dessen Rahmen auch ärztliche Dienstleistungen als ein handelbares Gut erscheinen. Die Ärzteschaft gerät mithin in einen Konflikt zwischen ihrer moralischen Grundorientierung einerseits, die eine Abgrenzung vom marktförmigen, kommerziellen Handeln vorsieht, und der zunehmenden Marktorientierung andererseits. Die Debatte um die Problematik einer zunehmenden Kommerzialisierung der ärztlichen Handlungspraxis beinhaltet die Frage, was überhaupt die legitimen Zielsetzungen der modernen Medizin sind (bzw. normativ gewendet: sein sollten) und wo ihre Grenzen und Regulierungsmöglichkeiten liegen. Die Versuche zur Erhaltung und Gestaltung einer modernen Grundversorgung unter widersprüchlichen Bedingungen von wettbewerbsorientierter Marktwirtschaft einerseits und traditionellem Solidarsystem andererseits, stellen in der Folge neue Herausforderungen an eingespielte ärztliche Rollenbilder. Gegenstand der Untersuchung ist die Analyse des Deutungskampfes um den mutmaßlichen Gestaltwandel der modernen Medizin, in dessen Kontext, so meine Vermutung, grundlegende Elemente ärztlicher Professionalität zur Disposition stehen. Die normativen Handlungsorientierungen, Strukturen und Deutungsmuster, also die Regeln, die anleiten, was als legitime ärztliche Praxis gelten kann bzw. welche Handlungsweisen und Praxen über diese normativen Grenzen hinaus gehen, können als Bestandteil einer institutionellen Wissensordnung verstanden werden, deren Gültigkeit in diskursiven Deutungskämpfen zur Aushandlung steht. Die berufspolitische Diskursarena ist der Ort der Austragung dieser Deutungskämpfe, in denen die normative Ordnung des sozialen Kollektivs der Ärzteschaft zum Thema gemacht wird.
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Vgl. zum Thema der „Körpermodellierung in neoliberal geprägten Zeiten“ auch: Schulz 2007.
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Mit den Umstellungen in den kulturellen Grundlagen der Medizin, die sich derzeit beobachten lassen und mit der Entgrenzung medizinischer Zielsetzungen müssen in der Medizin auch die Grenzen zwischen Markt und Moral neu verhandelt werden. Haben wir es in diesem Sinne mit dem „Ende der klassischen Medizin“ (Unschuld 2009) zu tun, da sich die auf traditioneller Standesethik beruhende normative Ordnung des ärztlichen Handlungsfeldes zugunsten des ökonomischen Renditedenkens verschiebt? Ist der Arzt heute mehr Lifestyle-Dienstleister als Heiler? Oder deutet, andersherum gefragt, nicht bereits die in dieser Arbeit zum Gegenstand gemachte standespolitische Problematisierung dieser Entwicklung auf einen inneren Widerstand gegen das Aufbrechen eingespielter Ordnungen und damit auf eine gewisse Stabilität des traditionellen ärztlichen Wertesystems hin? Dies sind die Fragen, durch die die vorliegende Studie angeleitet wird.
1.2 G LIEDERUNG DER S TUDIE Zunächst noch einige Anmerkungen zur Vorgehensweise in dieser Studie: Dass der Forscher nach Möglichkeit als „tabula rasa“ seinen Daten gegenübertritt, dass er sein Vorwissen auf Zeit verabschiedet und die Theorie nur aus den Daten emergieren lässt, ist eine Forderung im Paradigma der (klassischen) Grounded-Theory-Methodologie (Glaser/Strauss 1998), die forschungspragmatisch häufig nur begrenzt umzusetzen ist. Schwierig ist dies oft schon deshalb, da Gegenstand, Thema und Perspektive der Untersuchung bereits durch die eigenen Vorarbeiten oder die theoretische und disziplinäre Herkunft vorgeprägt sind. Nicht zuletzt deshalb haben zahlreiche Varianten der Grounded-Theory-Methodologie mit diesem Dogma gebrochen (vgl. Kapitel 3). Die vorliegende Studie wurde ursprünglich als Dissertationsschrift verfasst. Dies ist zu betonen, da daraus unweigerlich bestimmte Arbeitsschritte folgen, die in dieser Regelmäßigkeit in Forschungsprozessen, die nicht der Qualifikation dienen, nicht vorkommen. So ist oft schon vor dem eigentlichen Forschungsprozess ein Exposé gewünscht, das idealiter bereits Thesen und Ergebnisse aufzeigt. Doch woher kommen diese? Auch müssen schon aus Legitimationszwecken bestimmte theoretische Raster, Lesarten oder Positionen den Daten übergestülpt werden, bevor diese dann in der analytischen Interpretationsarbeit einer künstlichen Naivität weichen sollen. Durch die Dokumentation des Fortschritts der eigenen Studie in Arbeitspapieren, Kolloquien oder Vorträgen, kommt es schon früh zur Verortung der eigenen Gedanken in theoretischen Zusammenhängen und zu ersten teilweise deduktiven aus theoretischen Erkenntnissen abgeleiteten, teilweise induktiven, aus der Einarbeitung in das Feld abgeleiteten Schlüssen über
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den Gegenstand der Untersuchung, ohne dass eine systematische Analyse eines spezifischen Datensamples überhaupt begonnen wurde. Man könnte also behaupten, dass der Prozess der Gestaltung eines Forschungsvorhabens stets einer impliziten Form der gegenstandsbasierten Theoriebildung („Grounded Theory“) folgt, da erste theoretische Deutungen eben immer aus der Beschäftigung mit dem Feld emergieren – auch wenn dies dem eigentlichen Analyseprozess vorgeschaltet ist. Schon der Prozess der Themenfindung ist in den Sozialwissenschaften oft ein langwieriges Herantasten an den Gegenstand und das Forschungsinteresse, in dessen Verlauf es unweigerlich zur Sichtung von „Daten“, ersten Interpretationsprozessen und ersten (teilweise unbewussten) Schritten der Theoriebildung kommt. Die Anbindung einer Forschungsarbeit, vor allem einer Qualifikationsarbeit, an eigene oder externe Vorarbeiten, an fachliches Vorwissen und frühe Präkonzepte, ist daher nicht nur kaum zu vermeiden, sondern eben auch wünschenswert und ein zentraler Bestandteil wissenschaftlichen Arbeitens und Fortschritts. Jedoch sollte dieser Vorgang, zumindest im Rahmen des Grounded-Theory-Paradigmas (das in dieser Arbeit zur Anwendung kommt), problematisiert, wenn nicht sogar aktiv in den Forschungsprozess eingebunden werden. Ich habe beim Erarbeiten der vorliegenden Studie versucht, diesen Prozess des Umgangs mit dem eigenen Vorwissen und theoretischen Kategorisierungen in die eigentliche Forschungsarbeit, also in den Prozess des „grounded theorizing“ aufzunehmen. Daher ist das Buch, so wie es nun vorliegt, das Ergebnis zahlreicher Umarbeitungen, die sich im iterativen Forschungsprozess in Auseinandersetzung mit den Daten ergeben haben: „In many ways doing the research is doing the design“ (Clarke 2005: 186). Im folgenden Kapitel (2) wird das Forschungsprogramm, das der Studie zu Grunde liegt, in mehreren Schritten systematisch entwickelt und theoretisch sowie methodologisch untermauert. Zunächst werde ich dazu in die Perspektive der hermeneutischen Wissenssoziologie einführen indem ich ihre sozialkonstruktivistischen Grundannahmen darstelle (2.1). In einem weiteren Schritt schließe ich dann an die Wissenssoziologische Diskursanalyse (im Folgenden: WDA) als Variante einer hermeneutischen Wissenssoziologie an. Über die im Rahmen der hermeneutischen Wissenssoziologie üblichen Untersuchungen subjektiver Sinn- und Lebenswelten hinausgehend, verfolgt der Ansatz der WDA den Anspruch, die hermeneutische Wissenssoziologie durch eine „Foucaultsche Wende“ (Keller 2006: 116) für institutionell-organisatorische Wissensproduktionen, kollektive Wissensordnungen und damit für den Diskurs zu öffnen. In einem dritten Schritt erläutere ich daraufhin, wieso ich die normative Ordnung in der Medizin, in Ab-
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grenzung zu Parsons, als ausgehandelte Wissensordnung verstehe (2.2). Den Ansatz der Aushandlungsordnung geht auf Anselm Strauss zurück, der schließlich auch die methodologischen Paradigmen der Grounded Theory und der Situationsanalyse, die in dieser Studie zur Anwendung kommen, entscheidend geprägt hat. In Kapitel 3 diskutiere ich die Methodologie und das Forschungsdesign der Studie. Dazu wird zunächst das Verhältnis der Wissenssoziologischen Diskursanalyse zur Grounded Theory Methodologie und zur Situationsanalyse ausgelotet (3.1), gefolgt von einer Darstellung des Erhebungs- und Auswertungsdesigns (3.2 und 3.3) In Kapitel 4, dem ersten Teil der Analyse, werde ich zunächst die Kontextbedingungen des Kommerzialisierungsdiskurses ausarbeiten. Dazu stelle ich die Entwicklung der modernen Medizin und damit die historischen Bedingungen der Professionalisierung dar (4.1) und verorte diese Entwicklungen professionstheoretisch (4.2) sowie in einem medikalisierungstheoretischen Rahmen (4.3). Ich zeichne dabei den Prozess der Medikalisierung der Gesellschaft anhand eines analytischen Dreischritts – Etablierung/Expansion/Entgrenzung – nach, und stelle verschiedene sozialwissenschaftliche und medizinethische Diagnosen der Transformation des medizinischen Feldes überblicksartig zur Diskussion. In Kapitel 4.4 skizziere ich den grundlegenden Aufbau und aktuelle Entwicklungen im Gesundheitswesen. Dabei wird anhand der Institutionalisierung und strukturellen Ausweitung des Konzepts der Individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL) der Wandel von der Grundversorgung zur Service-Medizin veranschaulicht. In Kapitel 5 wird die eigentliche Darstellung der Situations- und Diskursanalyse vorgenommen. Das Kapitel beinhaltet die systematische Analyse des standespolitischen Spezialdiskurses zur Kommerzialisierung in der ambulanten Versorgung. Die Ausführung der Ergebnisse der empirischen Untersuchung verfolgt das Ziel einer möglichst breiten Vorstellung der berufspolitischen Problematisierung des Phänomens „Kommerzialisierung der Medizin“. Dies beinhaltet die unterschiedlichen Diskursstränge, die Themenstruktur, die Argumentationsformen und -strategien, die Positionierungen der verschiedenen Akteure sowie die zentralen Deutungsmuster und Elemente, die den Diskurs strukturieren. So entsteht eine empirisch fundierte Kartographie des Problemfeldes, die im Anschluss unter Einbezug soziologischer Theorieansätze und im Zusammenhang der strukturellen Kontextbedingungen diskutiert wird. Die Ergebnisse werden in Kapitel 6 diskutiert. Ich werde dabei aufzeigen, dass die institutionelle Aushandlung der Grenzen legitimer Medizin im berufspolitischen Diskurs nicht zuletzt auch der gesellschaftlichen Integration neuer (und
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teilweise umstrittener) Handlungsbereiche der Medizin dient, aber gleichzeitig zur Stabilisierung tradierter Wertemuster beiträgt. Im Fokus dieser abschließenden Diskussion steht die Zusammenführung theoretischer und empirischer Erkenntnisse unter dem Aspekt des Zusammenhangs von Medikalisierungsdynamiken, sozialem Wandel und der diskursiven Aushandlung von normativer Ordnung in der Medizin. Indem der institutionelle Umgang der Medizin mit ihren Handlungsanlässen im Konnex von Patientenbedürfnissen und Bedürftigkeit diskutiert wird, kann geschlussfolgert werden, dass im Zusammenhang der Kommerzialisierung die Frage nach der ärztlichen Professionalität nicht danach entschieden wird, ob eine Leistung rein therapeutisch ist oder darüber in Zielsetzungen hinaus geht. Während die Medizin weiterhin dem systemischen Zwang zur möglichst eindeutigen Zuweisung von Krankheit und Gesundheit unterliegt, zeigt sich dahinter eine hybride Praxis, die subjektorientiert ist, und sich an einem breiten Spektrum von Patientenbedürfnissen orientiert (6.1). Dabei werde ich weiter argumentieren, dass Professionalität als Grundbedingung medizinischen Handelns gilt, und auch im Rahmen von Kommerzialisierungstendenzen zentrale Grundlage der normativen Ordnung der Medizin bleibt (6.2). Schließlich werden in Kapitel 7 die Erkenntnisse der Analyse theoretisch verortet, indem die Veränderungen im medizinischen Feld als Prozesse einer Reflexiven Modernisierung der Medizin interpretieret werden. Die Kommerzialisierung der Medizin, die als eine Erosion der normativen Ordnung der Medizin auszulösen scheint, wird mit Medikalisierungsprozessen in Zusammenhang gesetzt. So kann veranschaulicht werden, welche Rolle diskursive Wissenspolitiken im Prozess des sozialen Wandels zentraler gesellschaftlicher Institutionen und deren Handlungslogiken spielen und wie die diskursiven Deutungskämpfe einerseits zum Wandel, andererseits zur Stabilisierung institutioneller Ordnungen beitragen können. Abschließend wird auf drei Aspekte hingewiesen, die auf Ambivalenzen einer reflexiven Medikalisierung hinweisen. Dies ist erstens die potentielle Legitimationskrise in die die Medizin gerät, zweitens die Möglichkeit zur De-Professionalisierung und drittens, die sich teilweise verstärkenden und teilweise gegeneinander wirkenden Dynamiken der Medikalisierung, Ökonomisierung und Kommerzialisierung. Zum Schluss wird in Kapitel 8 ein Fazit gezogen und in einem Ausblick darauf hingewiesen, dass Kommerzialisierung durchaus zu einer Stabilisierung professioneller Ethik führen kann, und dass diese ein notwendiges regulativ von Medikalisierungsprozessen ist.
2 Die diskursive Verhandlung normativer Ordnung
Die in der Einleitung explizierte Problemstellung soll aus der Perspektive einer sozialkonstruktivistischen bzw. hermeneutischen Wissenssoziologie bearbeitet werden (vgl. Soeffner 1989; Schroer 1994; Schroer/Reichertz 1994; Reichertz 2007; Keller 2008a), in deren Fokus kollektiv geteilte Wissensordnungen und deren subjektiven Deutungen stehen. Als ein zentrales Anliegen dieser Forschungsperspektive formuliert Soeffner (2004: 40) die folgende Fragestellung: „Welches Problem wurde aus Sicht der Akteure wahrgenommen und durch die daran anschließenden gesellschaftlichen Konstruktionen bewältigt, also welche Motive verbanden die Handelnden mit ihrer Selbstzuordnung zu einer Institution, zu einem Verband, zu einer bestimmten Wahrheit?“
Mir geht es nun darum zu erkunden, wie die Akteure, das heißt die praktizierenden Ärzte, in ihrem spezifischen Milieu, das ihnen mit der Gesamtheit seiner Wissensformen, Normen und Typisierungen als „soziohistorisches apriori“ (Luckmann 1980: 127) entgegentritt, handeln und wie sie sich mit diesen (Wissens-) Strukturen auseinandersetzen und diese mit konstruieren. Meine Untersuchung schließt daran insofern an, als sie die Thematisierung der zunehmenden Kommerzialisierung der Medizin im professionellen Diskurs als die Aushandlung einer normativen Wissensordnung des ärztlichen Kollektivs begreift, die diskursiv hervorgebracht, stabilisiert und abgeändert wird. Im Folgenden werde ich zunächst in die Perspektive der hermeneutischen Wissenssoziologie einführen (2.1), indem ich ihre sozialkonstruktivistischen Grundannahmen darstelle. In einem weiteren Schritt schließe ich dann an die Wissenssoziologische Diskursanalyse (im Folgenden: WDA) als Variante einer hermeneutischen Wissenssoziologie an. Über die im Rahmen der hermeneutischen Wissenssoziologie üblichen Untersuchungen subjektiver Sinn- und Lebenswelten hinausgehend, verfolgt der
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Ansatz der WDA den Anspruch, die hermeneutische Wissenssoziologie durch eine „Foucaultsche Wende“ (Keller 2006: 116) für institutionell-organisatorische Wissensproduktionen, kollektive Wissensordnungen und damit für den Diskurs zu öffnen. In der weiteren Argumentation wird ausgeführt, wieso ich die normative Ordnung in der Medizin, in Abgrenzung zu Parsons, als ausgehandelte Wissensordnung verstehe. Den Ansatz der Aushandlungsordnung habe ich von Anselm Strauss (vgl. Strauss 1978b) übernommen, der mittlerweile als Klassiker der Wissenssoziologie rezipiert wird (vgl. Strübing 2004, 2007), und der auch die methodologischen Paradigmen der Grounded Theory sowie der Situationsanalyse, die in dieser Studie zur Anwendung kommen, entscheidend geprägt hat.
2.1 S OZIALKONSTRUKTIVISTISCHE W ISSENSSOZIOLOGIE In der Tradition von Alfred Schütz (1974) stehend, interessiert sich die hermeneutische Wissenssoziologie für sinnhaft handelnde soziale Akteure und die „sozialen Erzeugungsprozesse und Erscheinungsformen gesellschaftlicher Wissensvorräte“ (Keller 2007: 6). Das Ziel ist es zu untersuchen, wie Handlungssubjekte sich alltägliche Routinen und institutionalisierte Deutungen des jeweiligen Handlungsfeldes aneignen und immer wieder neu ausdeuten und aushandeln müssen (Reichertz 2007: 171). Das bedeutet, dass bestimmte Wissensbestände den Individuen durchaus als vorgegebene Systeme von „Regelstrukturen“ (Lüders/Meuser 1997: 62) gegenüber treten, diese Strukturen jedoch nicht unabhängig von den Handlungen und Deutungsleistungen der Subjekte existieren bzw. diese sogar ständigen diskursiven Aushandlungsprozessen unterliegen. Derartige Annahmen lassen sich auf die phänomenologisch begründete, sozialkonstruktivistische Sozialtheorie (vgl. Schütz 1974; Berger/Luckmann 1969/1980) zurückführen. Intersubjektivität, also die Einigung auf eine gemeinsame, sinnhafte Deutung der Situation, wird prozesshaft generiert und beruht auf ständigen Interpretationsund Aushandlungsleistungen (Bohnsack 2003: 83). Dieser Prozess beruht auf sozialen Handlungsvollzügen, genauer: Interaktionen. Erst in und durch die Interaktionsprozesse bilden sich intersubjektive Deutungsmuster heraus (Schnettler 2006: 93). Den Blick auf die normativ-moralische Ordnung in der Medizin gerichtet, interessiere ich mich zunächst für die Prozesse der Institutionalisierung und der Legitimierung von Wissensordnungen. Entscheidend für das Verständnis dieser Prozesse und damit für die Perspektive der hermeneutischen Wissenssoziologie
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ist die sozialkonstruktivistische Theorie der Wissenssoziologie nach Peter L. Berger und Thomas Luckmann (1966/2003). Berger und Luckmann greifen in der für die Wissenssoziologie richtungweisenden Arbeit „The Social construction of Reality“ auf unterschiedliche Konzepte zurück, auf deren Basis sie eine neue „Theorie der Wissenssoziologie“ (so der deutsche Untertitel des Buches) begründen. Vor allem die Arbeiten der philosophischen Anthropologie Helmut Plessners und Arnold Gehlens sowie die Sozialphänomenologie nach Alfred Schütz und die Arbeiten G.H. Meads stellen die tragenden Elemente ihrer Wissenssoziologie dar (Maasen 2009: 34). Von Gehlen und Plessner übernehmen Berger und Luckmann bestimmte Auffassungen über die Sonderstellung des Menschen in der Natur bzw. „im Tierreich“ (Berger/Luckman 2003: 49). So weist Plessner auf die „Exentrizität“ des Menschen hin, die sich darin ausdrückt, dass der Mensch sich als Subjekt und Objekt wahrnimmt; dass er als Organismus ein Körper ist und sich gleichsam als Wesen erfährt, das einen Körper hat (ebd.: 53). Mit Gehlen argumentieren Berger und Luckmann dahingehend, dass sie den Menschen als ein Lebewesen verstehen, das „weltoffen, aber instinktarm“ (Gehlen 1986: 69) auf die entlastende Funktion von Institutionen angewiesen ist, die ihm als „kulturelle Verhaltensmuster“ (ebd.: 71) zur zweiten Natur geworden sind. Gehlen weist im Anschluss an Helmut Schelsky1 (und ähnlich wie später auch Berger und Luckmann) darauf hin, dass sich aus den zunächst subjektiv-funktionalen Institutionen überindividuelle „Institutionengefüge“ (ebd.: 75) entwickeln. Dass aus subjektiv sinnvollen Vorgängen „Objektivationen“ (Berger/Luckmann 2003: 22) entstehen, ist dann auch ein Kernargument der „Gesellschaftlichen Konstruktion“, das Berger und Luckmann vor allem unter Bezug auf Alfred Schütz (vgl. Schütz 1974; Schütz/Luckmann 1979) weiter entwickeln. Wirklichkeit „an sich“ wird als „Wirklichkeitsordnung“ erfahren, die „vor-arrangiert nach Mustern“ (ebd.: 24) und vor aller Erfahrung existieren zu scheint. Sowohl die Objekte als auch die Sprache, die diese beschreibt und mit Sinn ausstattet, treten dem Einzelnen als weitestgehend vorgefertigte Ordnung gegenüber. Als weitere argumentative Stützpfeiler sind Max Weber und Emile Durkheim zu nennen. Bei der Annahme einer Gleichzeitigkeit der Gesellschaft (bzw. des Sozialen) als objektive Faktizität und als subjektiv gemeinter Sinn (Berger/Luckmann 2003: 20) handelt es sich um eine Emergenz der Annahmen der Strukturalisten in der Tradition Durkheims („soziologische Tatbestände sind wie Dinge zu betrachten“) und der Interaktionisten in der Tradition Webers („der Sinnzusammenhang des Handels“ ist Gegenstand der soziologischen Betrachtung) (ebd.).
1
Gehlen nimmt hier Rückbezug auf seinen Schüler Schelsky, der Gehlens Institutionenbegriff fruchtbar weiterentwickelt hatte (vgl. Gehlen 1986: 75).
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Berger/Luckmann stellen diesen scheinbaren Widerspruch in einen wissenssoziologischen Rahmen, indem sie als Kernfrage formulieren: „Wie ist es möglich, dass menschliches Handeln (Weber) eine Welt von Sachen hervorbringt?“ (ebd.) Der subjektiv gemeinte Sinn handelnder Subjekte wird zu der objektiven Faktizität der Strukturen, welche wiederum sinnprägend wirken. Dies ist der Prozess der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit; und dessen Erforschung ist – zumindest im Verständnis von Berger und Luckmann – „die Aufgabe der Wissenssoziologie“ (ebd.). Berger und Luckmann greifen damit ein Grundproblem der soziologischen Theoriegeschichte auf, indem sie sich mit dem Dualismus von Handlung und Struktur auseinandersetzen. Die Dialektik überindividueller Wissensvorräte und ihrer individuellen Prozessierung durch die Subjekte erzeugt die soziale Welt. Zentral für diesen Prozess ist die Bedeutung von Institutionen, auf die ja bereits Plessner verwiesen hatte und die bei Berger und Luckmann als „kollektive Wissensvorräte“ (Keller 2009: 89) erscheinen. Anders als Plessner und Gehlen, legen Berger und Luckmann Wert auf den dynamischen Prozess der Institutionalisierung. Institutionalisierung beruht auf habitualisierten Tätigkeiten. Genauer findet Institutionalisierung dann statt, „sobald habitualisierte Handlungen durch Typen von Handelnden reziprok typisiert werden“ (Berger/Luckmann 2003: 58). Jede derartige Typisierung von habitualisierten Handlungen verstehen Berger und Luckmann als Institution. Erst Institutionen gewährleisten also die dauerhafte Stabilität der gesellschaftlichen Ordnung. Über einzelne situative Kontexte hinaus stellen Institutionen dauerhafte wissensbasierte Einigungen dar (vgl. Keller 2009: 89), die durch Interaktionen objektiviert werden. Um ihre relative Dauerhaftigkeit und Stabilität sicher zu stellen, „werden Legitimationen, also Erklärungen und Rechtfertigungen für das Bestehen der Institutionen und ihren Geltungsanspruch entwickelt – es wird eine entsprechende Geschichte erzählt, in der die institutionelle Ordnung begründet und sowohl als kognitiv wie auch normativ einzig mögliche ausgewiesen wird“ (Keller 2009: 90).
Die Notwendigkeit der Legitimation entsteht, wenn die Vergegenständlichung einer bereits historischen institutionellen Ordnung an eine neue Generation weitergegeben wird. Legitimierung ist der Prozess des Erklärens und des Rechtfertigens von zentralen Elementen der institutionellen Ordnung, indem objektiviertem Sinn kognitive Gültigkeit zugeschrieben wird (Berger/Luckmann 2003: 100). Die in der primären Objektivation festgelegten „pragmatischen Imperative“ (ebd.) werden erklärungsbedürftig und dadurch gerechtfertigt, dass sie normativ umkodiert
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werden. Die institutionelle Ordnung ist demnach nicht nur eine normative Ordnung, sondern auch eine Wissensordnung. Wenn beispielweise bestimmte Handlungsoptionen innerhalb des ärztlichen Kollektivs normativ eingeschränkt sind, muss das Individuum zunächst „wissen“, dass es Bestandteil des ärztlichen Kollektivs ist, und dass sich diese professionelle Berufsform von anderen beruflichen Organisationsformen bezüglich kultureller und normativer Signifikanten unterscheidet. Die Legitimation beinhaltet also eine normative Komponente, die besagt, dass bestimmtes Verhalten erwartet und anders sanktioniert wird, und sie beinhaltet auch eine kognitive Komponente, die vermittelt „warum die Dinge sind, was sie sind“ (ebd., Hervorhebung im Original). Das Wissen gehe dabei, so Berger und Luckmann, den Werten voraus. Berger/Luckmann (2003: 100ff.) unterscheiden analytisch verschiedene Ebenen der Legitimation, deren Rechtfertigung sich anhand der Komplexität ihrer Erklärung unterscheiden. Diese können beispielhaft auch auf die institutionelle Ordnung der (professionellen) Berufsformen übertragen werden. Die einfachste Art der Erklärung ist bereits in die basalen sprachlichen Kategorisierungen (Arzt/Patient, etc.) eingebaut. Das Verhalten „als Arzt“ wird auf einfachster Ebene mit Verweisen auf die traditionelle Gegebenheit der Ordnung selbst legitimiert („so ist es eben“, Berger/Luckmann 2003: 101). Die zweite Ebene der Legitimation verweist auf rudimentäre theoretische Postulate, die den tradierten Handlungsorientierungen Sinn verleihen sollen. Hierzu können moralische Kodizes und tradierte (zum Teil verschriftlichte) Handlungsanleitungen gezählt werden. Diese verweisen auf die normativen Grenzen, ohne diese aber explizit historisch oder theoretisch zu plausibilisieren. Sie sind eher als pragmatische Handlungsorientierungen zu verstehen. Die dritte Ebene beinhaltet „explizite Legitimationstheorien“ (ebd.), deren Begründungen einen stärkeren Formalisierungsgrad aufweisen und die durch „hauptamtliche Legitimatoren“ (ebd.) abgesichert werden. Diese Form der Legitimation greift bei praktischen Schwierigkeiten, in denen die institutionalisierten Legitimatoren auf den Plan treten, weist aber darüber hinaus auch übersituativen Charakter auf: Wenn spezialisierte Legitimationstheorien erst einmal da sind und von hauptamtlichen Legitimatoren betreut werden, so beginnt Legitimation über die Verwendbarkeit für die Praxis hinauszugreifen und „reine“ Theorie zu werden. Mit diesem Schritt gewinnt die Sphäre der Legitimation gegenüber den durch sie zu legitimierenden Institutionen ein gewisses Maß an Autonomie, ja, sie kann sich sogar ihre eigenen institutionellen Prozesse zulegen.“ (Berger/Luckmann 2003: 102) Am Beispiel der Medizin lässt sich dieser Prozess anhand des hohen Stellenwerts der Berufsethik beschreiben, die zur Herausbildung der Medizinethik als
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moralischer Instanz der Ärzteschaft, etwa in Form der Ethikkommission der Bundesärztekammer und darüber hinaus zur Etablierung einer eigenen universitären Disziplin geführt hat. Die Medizinethik in ihrer institutionalisierten Form unterscheidet sich von der Ebene des ethischen Handelns oder Reflektierens einzelner Vertreter des Berufsstandes. Schließlich benennen Berger und Luckmann (ebd.) als vierte Ebene der Legitimation die symbolischen Sinnwelten. Die symbolische Sinnwelt der Ärzteschaft konstituiert sich aus der Gesamtheit der Elemente der professionellen Berufsform, den gesellschaftlichen Rollenerwartungen, den Normen und Werten des Berufsstandes sowie dem Experten- und Erfahrungswissen des Kollektivs und der Individuen. Dazu könnte man das Paradigma der Medizin als wissenschaftliche Disziplin oder auch die (Selbst-)Wahrnehmung der Medizin als freien, helfenden Beruf zählen. Legitimatorische Sinnwelten können dabei durchaus durch konkurrierende Sinnwelten in Frage gestellt werden. Die Sinnwelten weisen spezifische „Stützkonzeptionen“ (ebd.: 115) auf, die das immanente Wissen systematisieren und prozessierbar machen. Als Beispiel dafür ist die Wissenschaftlichkeit medizinischen Wissens zu nennen, die einen absoluten Geltungsanspruch erhebt und das Laienwissen im Feld weitgehend verdrängt hat. Das esoterische professionelle Wissen, aber auch die nahezu mythologisch übersteigerte (Fremd-)Wahrnehmung des Arztberufes, rechtfertigt die Richtigkeit der bestehenden Ordnung der medizinischen Subsinnwelt. Dies formulieren Berger und Luckmann so: „Der Arztberuf selbst hüllt sich dazu, um seine Autorität zu unterstre ichen, in die uralten Symbole von Macht und Geheimnis – vom Arztkittel bis zur Geheimsprache – die für den Arzt selbst und für die Patienten pragmatische legitimiert sind. Die vollakkreditierten Bewohner der medizinischen Subsinnwelt werden zugleich an jed er ‚Quacksalberei‘, das heißt, am Abfall von der Subsinnwelt in Gedanken und Taten gehindert. Dazu stehen der Zunft nicht nur mächtige Kontrollmittel zur Verfügung, sondern auch das ganze Corpus professionellen Wissens, das dem Möchtegern-Abweichler die ‚wissenschaftlichen Beweise‘ für die Verrücktheit und Ungehörigkeit seiner Verirrungen bereithält Mit anderen Worten: eine ganze Legitimationsmaschinerie ist in Betrieb damit Patienten Patienten und Ärzte Ärzte bleiben und zudem, wenn das überhaupt möglich ist, auch noch glücklich dabei sind.“ (Berger/Luckmann 2003: 93f.)
Bezugnehmend auf die hier ausgeführten Formen der Legitimation nehme ich an, dass die Medizin als Institution ihren Geltungsanspruch über bestimmte Legitimationsmuster und Rechtfertigungssemantiken aufrechterhält. Der Antagonismus von Profitstreben und Patientenorientierung in der Medizin bedarf ständiger
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Legitimierung. Diese Praxis der (Selbst-)Legitimierung und Selbstvergewisserung bildet sich im berufspolitischen Diskurs ab. In dieser Arena treffen Rechtfertigung und Legitimation sowohl der tradierten Ordnung als auch neuer Sinnprovinienzen aufeinander. Die aus der Praxis entlehnten Problemlagen, die zu Handlungen außerhalb der institutionellen (normativen) Ordnung führen, treffen auf „hauptamtliche Legitimatoren“. An diesem Punkt setzt meine Argumentation an: Die normative Ordnung der Medizin wirkt identitätsstiftend für ihre Mitglieder und steckt den Bereich legitimer Handlungsmöglichkeiten (und damit gewissermaßen die Systemgrenzen) ab, kommuniziert aber auch nach außen eine Begründung für die Legitimität der Institution und die Struktur der Rechte und Pflichten ihrer Mitglieder, die gesellschaftliche Erwartungen reflektieren. Die gesellschaftliche Integration einer Institution beruht auf der Grundlage des Wissens, das die Mitglieder über diese Institution haben. Demnach gilt es, zur Untersuchung der normativen Ordnung einer Institution eine Analyse dieses „Wissens“ vorzunehmen (Berger/Luckmann 2003: 69). Das vortheoretische Primärwissen über die normative Ordnung, „das was jedermann weiß“ (ebd: 70), dient dazu, institutionelle Verhaltensvorschriften inhaltlich zu füllen und verständlich zu machen, in diesem Sinne: „institutionellen Sinn“ (ebd. 75) herzustellen. Berger und Luckmann verweisen in ihrer Argumentation zentral auf den Stellenwert der Sprache in Bezug auf die Vermittlung von Legitimationen: „Die Logik [von Institutionen] steckt nicht in den Institutionen und ihrer äußeren Funktionalität, sondern in der Art, in der über sie reflektiert wird. [..] Die objektivierte soziale Welt wird von der Sprache auf logische Fundamente gestellt. Das Gebäude unserer Legitimationen ruht auf der Sprache, und Sprache ist ihr Hauptinstrument.“ (Ebd.)
Die hermeneutische Wissenssoziologie stellt insofern eine Fortführung und Weiterentwicklung des wissenssoziologischen Ansatzes von Berger und Luckmann dar, als sie sich für sprachliche bzw. textförmige Interaktionen und Formen der Sinnvermittlung interessiert, um die Prozesse des Verstehens und des Interpretierens methodisch zu rekonstruieren. Auch die WDA steht als ein hermeneutischer Ansatz, der mit der Interpretation von Texten bzw. textförmigen Aussagen arbeitet, in dieser Tradition. Im Folgenden werde ich die grundlegenden Annahmen einer wissenssoziologischen Diskursanalyse kursorisch darstellen 2. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse ist ein von Keller (2008a) konzipiertes Forschungsprogramm, das als genuin sozialwissenschaftlicher, diskurstheoretischer Ansatz
2
Für eine ausführliche Darstellung siehe vor allem: Keller 2011 sowie Keller 2008a.
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zu verstehen ist, der auf einer Zusammenführung zweier unterschiedlicher Forschungstraditionen, der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie und der Diskursforschung in Anschluss an Michel Foucault, beruht. Keller verortet die Wissenssoziologische Diskursanalyse im Kontext der hermeneutischen Wissenssoziologie (ebd.). Demnach nimmt die symbolisch vermittelte, das heißt sprachliche Repräsentation sozialer Typisierungen in Diskursen Gestalt an, sie wird durch (diskursive) Praktiken zu sozialer Realität. Diskurse sind als Strukturierungen von Wissenspolitiken zu verstehen, in denen sich Prozesse der sozialen Konstruktion von Wirklichkeitsdeutungen abbilden. Das Forschungsprogramm der WDA beruht auf der theoretischen und methodischen Verortung Foucaultscher Diskurstheorie im Kontext des symbolischen Interaktionismus und der hermeneutischen Wissenssoziologie. Foucaults Arbeiten können als ein Versuch verstanden werden, die Art und Weise zu rekonstruieren, in der eine Gesellschaft Wissen über die Welt und über die Sozialbeziehungen konstruiert und dabei bestimmte Verhaltensweisen und Wissensformen als akzeptabel oder inakzeptabel definiert (O’Farrell 2005: 17, zitiert nach: Keller 2008b: 14). Dabei wird auch kollektiven Prozessen der Wissensprozessierung Rechnung getragen. Der WDA geht es gegenüber der klassischen hermeneutischen Wissenssoziologie um eine „Akzentverschiebung von der Konzentration auf die Wissensbestände und Deutungsleistungen individueller Akteure des Alltags hin zur Analyse von diskursiven Prozessen der Erzeugung, Zirkulation und Manifestation kollektiver Wissensvorräte“ (Keller 2008a: 185). Foucault (1970) versteht Diskurse als Wahrheitskämpfe oder strategische Auseinandersetzungen. Mit der Hinwendung zur Genealogie von Macht/Wissens-Komplexen begreift Foucault Diskurse nicht mehr nur als sprachliche Phänomene, sondern „als strategische Spiele aus Handlungen und Reaktionen, Fragen und Antworten, Beherrschungsversuchen und Ausweichmanövern, das heißt als Kampf“ (Foucault 2002:777; vgl. Keller 2008a: 137). Keller verbindet diese diskurstheoretische Perspektive mit den Annahmen der sozialkonstruktivistischen, hermeneutischen Wissenssoziologie: „Der Diskursanalyse geht es darum, Prozesse der sozialen Konstruktion, Objektivation, Kommunikation und Legitimation von Sinnstrukturen auf der Ebene von Institutitonen, Organisationen beziehungsweise kollektiven Akteuren zu analysieren.“ (Keller 1997: 319)
Keller interpretiert die Foucaultsche Diskurstheorie als eine „poststrukturalistische Wissenssoziologie“ (Keller 2008a: 188) um diese als Bestandteil einer hermeneutischen Wissenssoziologie und im Kontext des interpretativen Paradigmas zu entfalten. Das Ziel der WDA ist demnach die Rekonstruktion der „diskursiven
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Konstruktion der Wirklichkeit“ (Keller et al. 2005; Keller 2008a: 190). Sie untersucht, wie Diskurse als symbolische Ordnungen wirklichkeitskonstituierend wirken und wie diese strukturiert sind.
2.2 D IE ALS
NORMATIVE O RDNUNG DER AUSHANDLUNGSORDNUNG
MEDIZIN
Die theoretische Bezugnahme auf das Forschungsprogramm der WDA in dieser Studie beruht auf der Entscheidung, bei der Untersuchung der Kommerzialisierung des ärztlichen Dienstleistungssektors, die diskursive Verhandlung dieses Prozesses innerhalb der Ärzteschaft zu fokussieren und dabei insbesondere die Wissenspolitiken und Aushandlungsordnungen innerhalb der Profession in den Blick zu nehmen. Auch die Performativität des ärztlichen Handelns kann als diskursive Praxis interpretiert werden.3 Da im Rahmen des hier durchgeführten Studiendesigns der Zugang zu den tatsächlichen Handlungsvollzügen aber nur über Narrationen (in Dokumenten oder Interviewtranskripten) gegeben war, ist die Performativität ohnehin nur als diskursives Element (etwa: als Nacherzählung) verfügbar. Das Untersuchungsfeld in dieser Studie ist demnach vielfältig. Es konstituiert sich aus der Gesamtheit der unterschiedlichen kollektiven und individuellen Akteure, ihren Äußerungen, Ansichten, Handlungs- und Diskursstrategien, den rechtlichen Voraussetzungen, den tradierten ethisch-normativen Deutungsmustern und vielem mehr. Um dieses multidimensionale Ensemble handhabbar zu machen, ist es sinnvoll, die verschiedenen Elemente als Formen der diskursiven Ausprägung von kollektiv geteilten Wissensvorräten zu verstehen und diese hermeneutisch in ihren textförmigen Aussagepraxen, den Deutungs- und Aushandlungsprozessen zu analysieren. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass die normative Ordnung der Medizin aus dieser Perspektive als eine spezifische Wissensordnung zu verstehen ist, die diskursiv konstruiert ist. In der sozialen Welt der Ärzteschaft lassen sich kollektiv (mehr oder weniger) gültige diskursive Wissensordnungen vorfinden, die durch diskursive Praktiken hervorgebracht, stabilisiert und transformiert werden. Das Verständnis einer wertbezogenen, diskursiven Wissensordnung als normative Ordnung muss zum besseren Verständnis und unter Bezug auf Talcott Parsons, der den Begriff der normativen Ordnung geprägt hat, erläutert werden. Wichtig für die hier vorliegende Studie ist zunächst, dass Parsons (1939; 1951;
3
Vgl. zum Konzept der Perfomanz u.a.: Butler 1991.
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1997) sich in seinen frühen medizinsoziologischen Studien bereits mit der Besonderheit der Wertorientierung des professionellen Komplexes in der modernen kapitalistischen Industriegesellschaft und der zentralen Bedeutung der Wertorientierung für die Medizin auseinandergesetzt hat. Ihn beschäftigte vor allem die Frage, welche funktionalen Erfordernisse zur Stabilität der normativen Ordnung in der Medizin beitragen (ebd.). Parsons Forschungsinteresse entflammte sich zunächst an „der Parole der Mediziner, dass das ‚Wohl der Patienten‘ für den Arzt an erster Stelle stehen müsse und dass die Eigeninteressen, finanzieller und anderer Art, dem systematisch untergeordnet werden sollten“ (Parsons 1997: 411).
Parsons setzt sich mit der sozialen Ordnung des medizinischen Systems auseinander, indem er exemplifiziert, wie Normen und Rollenerwartungen das Handlungssystem Arzt-Patient strukturieren und stellt damit gleichzeitig dar, welche normativen Strukturbedingung die medizinische Profession erfüllen muss, um ihre Stabilität und Anerkennung zu gewährleisten. Die medizinische Praxis beinhaltet ein Set an institutionalisierten Rollen – sowohl auf Seiten des medizinischen Professionellen, als auch auf Seiten der Erkrankten4. Die funktional spezifische Rolle des praktizierenden Arztes verortet Parsons als den professionellen Rollen zugehörig, die wiederum eine spezifische Form beruflicher Rollensets darstellen. Die Professionalität als Spezifikum zeichnet sich neben der funktionalen Spezifität durch ihre Wertorientierung, Universalismus, affektive Neutralität und insbesondere die benannte Kollektivorientierung aus (Parsons 1951: 434). Die normative Ordnung, die darin zum Ausdruck kommt, unterscheidet Parsons von der faktischen oder „tatsächlichen“ Ordnung, die zumeist als nicht-intendierte Nebenfolge von Handlungen zu Stande kommt. Soziale Ordnungen sind zwar immer auch faktische Ordnungen insofern, als sie zum Gegenstand positivistischer Beobachtung gemacht werden können, jedoch beziehen soziale Ordnungen ihre Stabilität erst durch die Funktion ihrer normati-
4
Auf die Krankenrolle sei nur in aller Kürze verwiesen, da die professionelle Rolle des Arztes hier von größerem Interesse ist. Zunächst entlastet die Krankenrolle von den Erwartungen anderer sozialer Rollen. Der Kranke kann für seinen Zustand nicht verantwortlich gemacht werden, muss seinen Krankenstatus und professionelle Hilfestellung allerdings akzeptieren und aktiv aufsuchen. Zudem soll der Erkrankte durch die Compliance dem Arzt gegenüber an seiner Genesung mitarbeiten (vgl. Parsons 1951: 437, zur Kritik an diesem Modell: Bloor/Horobin 1975).
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ven Elemente (Parsons 1968a: 92). Es ist Parsons Position, dass jede soziale Ordnung auf Werten und Normen beruht, durch die individuelle Handlungsziele strukturiert und eingeschränkt werden (Joas/Knöbl 2004: 60). Die normative Ordnung ist eine Form der sozialen Ordnung die auf einem vorhandenen Normgefüge beruht und in deren Rahmen soziale Prozesse sich an der Konformität in Bezug auf die vorherrschenden Normen ausrichten (vgl. Parsons 1968a: 91). Handeln Akteure auf der Grundlage eines kollektiven normativen Konsenses, handelt es sich (nach Parsons) um eine konformistische Ordnung (Münch 2003: 49) und die innerhalb der Lebenswelt einer spezifischen Gruppe geteilten Normen der Gruppenmitglieder sind dann die konstitutiven Elemente der sozialen Ordnung (ebd.). „Soziale Ordnung wird manchmal durch eine Rigidität gekennzeichnet, die impliziert, dass Akteure in ihren Alltagshandlungen lediglich ein traditionell gegebenes Programm ausführen. Traditioneller Konsens ist in diesem Fall die strukturelle Bedingung, gemeinschaftliche Assoziation ist das Instrument, das soziale Ordnung produziert und reproduziert“. (Münch 2003: 325)
In Abgrenzung zu den tendenziell deterministischen Vorstellungen sozialer Ordnung, wie sie von Parsons (und im Anschluss daran auch von Münch) vertreten werden, richtet Strauss (1978) im Sinne des symbolischen Interaktionismus den Schwerpunkt seiner Untersuchungen auf die Aushandlungsprozesse der sozialen Ordnung (vgl. Münch 2003) durch die Individuen. Bezeichnend ist die Kritik des positivistisch argumentierenden Struktur-Funktionalisten Münch an der Strausschen Position: „Die Legitimität der sozialen Ordnung ist schließlich eine Eigenschaft, die nicht aus Verhandlungen entstehen kann, weil sie nicht einen Kompromiss zwischen rivalisierenden Interessen darstellt, sondern die Korrektheit der Legitimation von Ansprüchen, indem diese Ansprüche von bestimmten allgemeingültigen Ideen unter spezifische Bedingungen abgeleitet werden. […] Es ist bemerkenswert, dass uns das Paradigma des symbolischen Interaktionismus generell und seine Spezifizierung auf Prozesse der Verhandlung nur über einen spezifischen sekundären Aspekt der Kommunikation informieren, nämlich den Aspekt der Verhandlung. Der primäre Aspekt der Kommunikation, nämlich das Erzielen einer Übereinkunft, und der primäre Aspekt des Diskurses, nämlich die Erzeugung von gültigem Wissen, liegen außerhalb der Reichweite des Verhandlungsparadigmas“ (ebd.)
Dass Münch davon ausgeht, dass das Erzielen einer Übereinkunft und die Erzeugung gültigen Wissens als Primäraspekte verstanden werden und dass Legitimität
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aus der „Korrektheit“ von Ansprüchen abgeleitet wird, die sich aus allgemeingültigen Ideen speisen, ist bezeichnend. Hier zeigt Münch, dass er im Geiste Parsons argumentativ nicht über die Vorstellung einer gemeinsam geteilten Werteordnung hinauskommt. Der von Münch im symbolischen Interaktionismus verortete Ansatz von Strauss, der präziser als „pragmatistisch-interaktionistischer Ansatz“ (Strübing 2005: 168) beschrieben ist, positioniert sich jedoch genau in seinem Kern gegen dieses Verständnis sozialer Ordnung und vor allem auch gegen die positivistische Vorstellung, im Diskurs könne überhaupt so etwas wie gültiges Wissen erzeugt werden. Die Gültigkeit ist immer nur eine ausgehandelte und situativ bedingte. Die pragmatistische Tradition, in der Strauss steht, ist im Kern eine anti-deterministische Soziologie, die Strukturen als durch Handlungen konstituiert betrachtet. Strauss interpretiert Handeln als das fortwährende Prozessieren des Sozialen. Strukturen stellen die Bedingungen des Handelns dar und Handeln ist „der aktive Part von Struktur, also Strukturierung“ (Strübing 2007: 54) Strauss erweitert die im Kern interaktionistische Perspektive, indem er den strukturellen Kontext bzw. die Prozesse der Strukturierung stärker mit einbezieht. Strukturen, Handlungskontext und situative Bedingungen nehmen ebenso Einfluss auf die Interaktion, wie die Interaktionsprozesse umgekehrt strukturierend wirken (vgl. Strauss 1993: 248). Noch deutlicher wird dies bei Clarke (1991: 129, Hervorhebung im Original), die feststellt: „For interactionists, structures are the enduring temporal conditions of situations. They may be taken for granted by the actors and/or hidden from them […], but structures are obdurate and intrusive and must be studied and ‘taken into account’ in the pragmatist analysis of situations, along with social processes.”
Strauss geht es, anders als Münch dies in seinem vom Parsons geprägten Denken vermutet, eben nicht um Entscheidungsfindungsprozesse oder die Herstellung von Einigung zwischen divergierenden Interessen (vgl. Strübing 2005: 196), sondern Hervorbringung, Erhaltung oder Modifikation sozialer Ordnung in ganz spezifisch situierten Aushandlungskontexten (ebd.). Ich schließe im Folgenden einerseits an die medizinsoziologischen Untersuchungen von Parsons an, indem ich die normative Ordnung der Medizin, die auf der ausgeprägten Wertorientierung der Profession beruht, zum Gegenstand der Untersuchung mache. Anders als bei Parsons wird die normative Ordnung hier jedoch als eine kollektive Wissensordnung verstanden, die diskursiv verhandelt wird und bei der nicht von einem stabilen Wertekonsens auszugehen ist, sondern von einer durch den Diskurs prozessierten Stabilisierung der sozialen Ordnung.
D IE DISKURSIVE V ERHANDLUNG NORMATIVER ORDNUNG |
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Erst die Problematisierung der Grenzüberschreitungen in den Deutungskämpfen stellt die Stabilität der sozialen Ordnung, wenn auch nicht auf Dauer, so doch temporär, durch die Aktualisierung der zentralen Deutungsmuster her. 5 So verstehe ich die normative Ordnung als eine institutionelle Wissensordnung, ein kollektiv erzeugtes Sinnsystem, das das berufsethische „Rüstzeug“, wie etwa bestimmte Deutungsmuster bereitstellt, die das medizinische Feld sinnhaft vorstrukturieren. Ich nehme zur Untersuchung dieses Sinnsystems die Perspektive einer wissenssoziologischen Diskursanalyse ein. Wissenssoziologisch ist die Herangehensweise, da sie sich für kollektive Wissensbestände (hier: die normative Ordnung des ärztlichen Kollektivs) und deren Aushandlungsprozesse interessiert. Diskurstheoretisch argumentiert sie, da bestimmte sozialtheoretische Annahmen über die wirklichkeitskonstituierende (Macht-)Wirkung von Diskursen zu Grunde gelegt werden und der berufspolitische Diskurs als Aushandlungsebene der zentrale Untersuchungsgegenstand der Arbeit ist. Mit Bezug auf Michel Foucault, der den Diskursbegriff, auf den ich in dieser Studie zurückgreife, entscheidend mitgeprägt hat, gehe ich davon aus, dass Diskurse als Aussagepraxen zu verstehen sind, „die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen" (Foucault 1988: 74). Dies bedeutet, dass die normativen Handlungsorientierungen, Strukturen und Deutungsmuster, also die Regeln, die anleiten, was als legitime ärztliche Praxis gelten kann bzw. welche Handlungsweisen und Praxen über diese normativen Grenzen hinaus gehen, als Bestandteil einer institutionellen Wissensordnung verstanden werden können, deren Gültigkeit in diskursiven Deutungskämpfen zur Aushandlung steht. Gegenstand der Untersuchung sind folglich die im Diskurs stattfindenden Prozesse der sozialen Konstruktion der normativen Ordnung der Profession sowie die inhärenten Deutungsmuster ärztlicher Professionalität und die Legitimations- und Rechtfertigungsstrategien der zentralen Akteure (in dieser Studie vor allem niedergelassene Ärzte), die eine Balance zwischen ökonomischer Orientierung und Berufsethik finden müssen, um ihre professionelle Integrität aufrecht zu erhalten. Anhand einer diskursanalytisch informierten Analyse der „symbolischen Kämpfe“ in der standespolitischen Diskussion, werde ich in dieser Arbeit die Verschiebung und Durchsetzung konkurrierender Deutungen der (normativen) Grenzen des ärztlichen Handelns in den Blick nehmen und systematisch rekonstruieren.
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Dass Konflikte und Dissens nicht nur desintegrierende Wirkung, sondern auch eine integrierende Funktion haben, darauf hatte prinzipiell bereits Simmel (1992) hingewiesen.
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Im Folgenden werde ich die theoretischen und methodologischen Grundlagen der Studie erschließen. Dazu erörtere ich das Verhältnis von WDA, GTM und Situationsanalyse in der Forschungspraxis und stelle das Forschungsdesign, das heißt den Datenzugang sowie die Erhebungs- und Auswertungsmethoden dar. Die Methodendiskussion wird durch die Darstellung der Mapping-Strategien der Situationsanalyse und der Kartographierung des Forschungsdesigns abgeschlossen.
3 Methodologie und Forschungsdesign der Studie
3.1 Z UM V ERHÄLTNIS
VON
WDA UND GTM
Ebenso wie die WDA eine Weiterentwicklung der sozial-konstruktivistischen Wissenssoziologie darstellt (indem sie den sozialtheoretische Grundlagen um die Perspektive des Diskurses erweitert), strebt die Situationsanalyse nach Adele Clarke (2005) eine Erweiterung der Methodologie des Grounded-Theorie-Ansatzes um eine stärkere Diskursorientierung an. Während sich die WDA als Forschungsprogramm und nicht als Methode versteht, hat die Situationsanalyse den Anspruch, ein „theory-methods-package“ (ebd.) zu schnüren, welches den historischen und methodologischen Hintergrund sowie die bewährten methodischen Strategien der Grounded Theory weiterführt, und um neue, der Perspektive der Diskursforschung angemessene Elemente erweitert. Dabei stellen mapping-Strategien (Kartographierungen des Diskurses) die wichtigste Erweiterung des Kanons der klassischen Strategien der GTM dar. Anhand komplexer und sich in ihren Zielsetzungen unterscheidenden Kartographierungen des Forschungsfeldes (sowie auch des Analyseprozesses) werden die Arbeitsschritte der GTM gerade im Rahmen komplexer diskursanalytischer Forschungsprojekte, in denen zahlreiche Diskursebenen, vielfältige Akteurskonstellationen und unterschiedliche Datensorten untersucht werden, gewinnbringend erweitert (ebd.). Ich argumentiere folglich im Rahmen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse und versuche, die aufgeworfenen Fragen mit den Strategien einer diskursanalytisch erweiterten GTM, der Situationsanalyse, zu erfassen und zu bearbeiten, um als Ergebnis „gegenstandsbezogene“ theoretische Aussagen über das zu untersuchende Feld treffen zu können. Den Mehrwert dieses gewählten Ansatzes möchte ich im Folgenden darlegen.
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Das diskursanalytische Vorgehen der WDA beschreibt Keller in Anlehnung an die von Drefus/Rabinow (1987) vorgenommene Beschreibung der Vorgehensweise Foucaults als „interpretative Analytik“ und damit als eine sowohl deskriptiv-analytische Dekonstruktion von Diskursen oder diskursiven Aussageereignissen, als auch deren interpretativ-hermeneutische Rekonstruktion. Eine interpretative Analytik „zielt auf die Erstellung einer detaillierten Matrix bzw. schematisierten Erfassung der Aussage, die als Grundlage interpretierender Hypothesenbildung über die Gehalte, Funktionsweisen und Wirkungen eines Diskurses dient“ (Keller 2011: 101). Zur Analyse der inhaltlichen Strukturierung von Diskursen unterscheidet Keller unterschiedliche Konzepte, die unterschiedliche Ebenen der Analyse ermöglichen: Deutungsmuster, Klassifikationen, die Phänomenstruktur sowie die narrativen Strukturen. Diese bilden gleichsam das Interpretationsrepertoire der Diskurse. Die Deutungsmusterebene ist dabei zentral für die vorliegende Analyse: Der Begriff „Deutungsmuster“ ist ein forschungspragmatisch-heuristisches Konzept (vgl. Lüders 1991: 380), das auf bestimmte Bestandteile kollektiver Wissensvorräte verweist, die (in unterschiedlich manifestierter Gestalt) Auswirkungen auf die Handlungspraxis haben bzw. diese vorgeben. Sie „strukturieren das kollektive Alltagshandeln, indem sie Modelle von (ideal)typischen Situationen“ (Plaß/ Schetsche 2001: 523) und das Wissen über sozial erwartete Reaktionen bereitstellen. Dabei wirken Deutungsmuster kollektiv, werden also von den Angehörigen einer bestimmten sozialen Gruppe (im vorliegenden Beispiel: der Ärzteschaft) geteilt; die soziale Gültigkeit eines Deutungsmusters ist dabei sozialen Aushandlungsprozessen unterlegen. Deutungsmuster sind Bestandteile von Diskursen, die der inhaltlichen Strukturierung dienen und die als allgemeine Deutungsfiguren auf Subjektpositionen, Sachverhalte, Strategien oder Argumentationen verweisen (vgl. Keller 2008a). Durch die Fokussierung auf Klassifikationen kann die Analyse von Deutungsmustern präzisiert werden, wenn diese auch nicht unbedingt immer trennscharf von Deutungsmustern zu unterscheiden sind. Keller (2008a: 244) bezeichnet Klassifikationen als Unterscheidungs- und Typisierungsprozesse, die vor allem im Hinblick auf ihre performative Wirkung bedeutsam werden, wenn auf ihrer Grundlage z.B. Entscheidungen getroffen, Selbstund Fremdzuschreibungen vorgenommen oder Zuständigkeiten entschieden werden. Dabei können in Diskursen durchaus konkurrierende Klassifikationsangebote im Wettstreit stehen (ebd.). Mit dem Konzept der Phänomenstruktur richtet die WDA den Blick auf die komplexe Situiertheit des Diskurses, die sich durch im Diskurs zur Sprache kommende Kontextbedingungen, Ursachen, Verantwortlichkeiten, Wertebezüge, aber auch durch Subjekt- und Sprecherpositionen und Akteurskonstellationen
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ausdrückt. Die Inhalte des Diskurses, zu denen die Deutungsmuster, Klassifikationen und die Phänomenstrukturen gehören, lassen sich schließlich über Narrative, also über Erzählstrukturen erschließen (ebd.). Die Narrative, das heißt die „storyline“ oder der Plot von Diskursen, stellen eine Relationierung von Inhalten über Erzählungen dar, in denen einzelne Elemente des Diskurses, wie etwa Akteure und Ereignisse, Klassifikationen und Deutungsmuster zu kohärenten Erzählungen zusammengefasst werden. In der Erzählung verdichtet sich das Interpretationsrepertoire eines Diskurses.1 Truschkat (2013: 84) ist der Hinweis zu verdanken, dass diese unterschiedlichen Versuche der Erfassung des Interpretationsrepertoires des Diskurses im Prinzip (und im Hinblick auf die Anschlussfähigkeit zur Grounded Theory) das „Kodierparadigma“ der WDA darstellen (siehe dazu auch Kapitel 2.4). Auch Keller stellt dies zumindest in Bezug auf die Phänomenstruktur fest (Keller 2008a: 251). Die vorliegende Studie will nun die neueren Entwicklungen der pragmatistischen Grounded-Theory-Methodologie mit dem Forschungsprogramm der WDA verbinden. Im nächsten Abschnitt werde ich daher eine Einführung in den Forschungsstil der Grounded-Theory-Methodologie vornehmen. Ich werde im Zuge einer methodologischen Reflexion der GTM die Verbindung von Grounded Theory und Diskursanalyse plausibilisieren und darauf aufbauend im weiteren Verlauf das Forschungsdesign als Situationsanalyse, also eine diskursanalytisch erweiterte GTM, darstellen. Die GTM baut auf Strategien und Prozeduren auf, die heute als Standardverfahrensweisen qualitativer Forschung gelten können. Eine Forschungsarbeit im Kontext des Forschungsparadigmas der GTM zu verfassen bedeutet jedoch, über die Einordnung ins qualitative Paradigma der empirischen Sozialforschung hinaus, einen ganz bestimmten Forschungsstil anzunehmen (vgl. überblicksartig: Mey/Mruck 2011). Obwohl sich mittlerweile zahlreiche Varianten und Positionen der GTM herausgebildet haben, die sich teilweise deutlich voneinander abgrenzen und auf die ich im Folgenden auch noch ausführlicher eingehen werde, lässt sich doch eine gewisse Grundhaltung beschreiben, die als „typisch“ für den Forschungsstil der GTM gelten kann. Der Begriff der „Grounded Theory“ lässt sich wohl am ehesten als gegenstandsbezogene oder datenbasierte Theoriebildung übersetzen. Die Grounded-Theory-Methodologie (GTM) beinhaltet die
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Den Begriff des Interpretationsrepertoires übernimmt Keller (2008a) von Wetherel und Potter (Potter/Wetherell 1987; Wetherell/Potter 1988) und bezeichnet damit den typisierbaren „Kernbestand an Deutungsmustern, argumentativen Verknüpfungen und sprachlich-rhetorischen Mitteln eines Diskurses“ (Keller 2006: 134).
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Verfahrensweisen, die zur Grounded Theory (GT), also der gegenstandsbasierten Theorie als dem Produkt der Forschung führen. Die Entdeckung des Neuen steht hierbei ungleich stärker im Vordergrund als etwa eine datenbezogene Überprüfung bestehender Theorien oder Hypothesen. Das Prozedere der Theoriegenerierung verläuft dabei zyklisch, das heißt, dass die Phasen der Datenerhebung, der Auswertung und der Theoriebildung in wechselseitigem Bezug stehen (vgl. Glaser/Strauss 1967; Strauss/Corbin 1996; Strübing 1998). Traditionell werden in GTM-Analysen als Untersuchungsgegenstand (zumeist) textförmige Daten herangezogen, etwa Interview- oder Interaktionsprotokolle, aber auch andere Dokumente, die inhaltlich auf ihre Sinnstruktur untersucht werden. Die hermeneutische Interpretation der Daten ist eine Deutungsarbeit, deren Nachvollziehbarkeit anhand von Kodierverfahren, die schrittweise zur Theoriebildung führen, abgesichert wird. Anhand der datenbasierten Erkenntnisse (oder Theoriebausteine) wird im Sinne des Prinzips des theoretical samplings die Auswahl neuer Fälle bzw. Daten vorangetrieben. Dieses Prinzip der zyklischen Theoriegenerierung wird bis zur theoretischen Sättigung vorgenommen, die dann eintritt, wenn durch das Hinzuziehen neuer Daten keine neuen Erkenntnisse mehr gewonnen werden können (vgl. Mey/Mruck 2011). Strauss (2011: 74) betont drei zentrale Punkte des Vorgehens der GTM: „Erstens die Art des Kodierens. Das Kodieren ist theoretisch, dient also nicht bloß der Klassifikation oder Beschreibung der Phänomene. Es werden theoretische Konzepte gebildet, die einen Erklärungswert für die untersuchten Phänomene besitzen. Das Zweite ist das theoretische Sampling. […] [Es kommt darauf an] schon nach dem ersten Interview mit der Auswertung zu beginnen, Memos zu schreiben und Hypothesen zu formulieren, die dann die Auswahl der nächsten Interviews nahelegen. Das Dritte sind die Vergleiche, die zwischen den Phänomenen und Kontexten gezogen werden und aus denen erst die theoretischen Konzepte erwachsen.“ (Strauss 2011: 74; eigene Hervorhebungen, F.K)
Im Kern ging es Glaser und Strauss in der Gründungsschrift der GTM („The Discovery of Grounded Theory“, 1967) um die Legitimierung qualitativer Forschung gegenüber den dominanten quantitativen Untersuchungsmethoden, die, vergleichbar mit den Naturwissenschaften, beanspruchten, exakte Aussagen und Ergebnisse zu erreichen, und deren Anhänger die qualitativen Vorgehensweisen oft als ungenau, subjektiv und nicht valide ablehnten (vgl. Glaser/Strauss 1967; Strübing 2009; Charmaz 2009). Der Entwurf der GTM war auch ein Versuch, so verschiedene philosophisch-methodologische Positionen wie den Pragmatismus und den Positivismus zu versöhnen und in einem systematischen
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Ansatz zu integrieren. Die positivistische Tradition, die sich im naturwissenschaftlichen Sinn als exakte Wissenschaft versteht, nimmt eine unabhängig vom Beobachter existierende externe Welt und Wirklichkeit an, deren Gesetzmäßigkeiten und Strukturen empirische Phänomene erklären können, während Werte, Einstellungen oder Deutungsmuster als davon unabhängig zu betrachten sind. In der pragmatistischen Tradition hingegen wird auf eine gewisse Unbestimmtheit der Wirklichkeit hingewiesen und es werden die subjektive Deutungsebene, multiple Sichtweisen und die Werteebene stärker einbezogen (Charmaz 2009: 128). Eine der zentralen Annahmen (wenn nicht die zentrale Annahme) der klassischen GTM lautet nun, dass Theorien aus den Daten emergieren. Dass dieser induktive Schluss möglichst ohne theoretische Vorannahmen zu erreichen ist, ist ein Anspruch der GTM, der nicht nur zahlreich in Frage gestellt und kritisiert worden ist, sondern auch von Glaser und Strauss selbst teilweise revidiert und immer wieder aufs Neue diskutiert wurde. Der Umgang mit theoretischem Vorwissen hat sich im Laufe der Zeit zu einer grundlegenden (Glaubens-)Frage entwickelt, die schließlich zur Spaltung der GTM geführt hat (vgl. Reichertz 2011, Strübing 2008). Spätestens mit der Veröffentlichung von „Emergence vs. Forcing“ (Glaser 1992) hat Glaser eine – wenn auch recht einseitig geführte – Debatte entfacht, die letztlich dazu beigetragen hat, dass sich unterschiedliche Positionen innerhalb der Grounded Theory relativ deutlich voneinander abgesetzt haben und heute zwei „Traditionslinien“ (Strübing 2008: 66) koexistieren: die der Glaserschen und die der Straußschen Prägung. In Emergence wirft Glaser Strauss und dessen Mitstreiterin Juliet Corbin eine Verfälschung der von Glaser und Strauss 1967 gemeinsam erdachten Grounded Theory vor. Glaser sieht das Credo einer rein induktiven Verfahrensweise, in der Theorien ohne Einbezug jeglichen theoretischen Vorwissens aus den Daten emergieren sollen, durch das von Strauss und Corbin (1996) eingeführte Kodierparadigma unterlaufen. Das Prinzip des Kodierparadigmas ist schnell erläutert: Strauss rät, das Datenmaterial auf spezifische Fragen hin zu prüfen, mit dem Ziel einer Systematisierung der Kodiervorgangs. Dazu soll nach den Ursachen der in den Blick gerückten Phänomene, deren Kontext(-bedingungen), phänomenbezogenen Handlungen sowie Konsequenzen gefragt werden (Strauss 1991: 56; Strübing 2008: 27). Glaser argumentiert, dass dadurch die Daten in ein theoretisch vorgeprägtes „Code-Korsett“ gezwängt (forcing) würden, anstatt die Kategorien aus den Daten selbst emergieren zu lassen (emergence). Wenig überzeugend ist Glasers Kritik am Kodierparadigma insofern, als auch Glaser selbst kaum ohne vorgeprägte Denkmuster auskommt (er nennt diese „the-
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oretische Codes“; vgl. Glaser 1978). Diese seien freilich, so Glasers Argumentation, ebenfalls aus Daten emergiert und somit „substantiell“. Allerdings schließen die von Glaser vorgeschlagenen (und aus theoretischen Codes bestehenden) Kodierfamilien nicht nur die Heuristiken ein, die bei Strauss das Kodierparadigma bilden, sondern sind darüber hinaus auch noch ungleich ausführlicher und erheben sogar den Anspruch, eine vollständige Liste von „sozialen Basisprozessen“ abzubilden (Strübing 2008: 72). Das sowohl bei Glaser/Strauss (1967) und Glaser (1978) als auch bei Strauss/Corbin (1996) herangezogene Konzept der „basic social processes" (BSP) beruht auf der positivistisch geprägten Vorstellung, das jedem zu untersuchenden Phänomen ein zentraler sozialer Prozess zugrunde liegt, der aus den Daten extrahiert werden kann und in der Untersuchung als Kernkategorie herangezogen wird. Insbesondere aber in Glasers Variante der Grounded Theory wird den BSP ein besonderer Stellenwert als Kernkategorien zugewiesen: „[Die BSP] sind „immer schon“ Kernkategorien, ganz unabhängig vom aktuellen empirischem Phänomen und werden dann nur noch im Sinne einer erklärenden Variabel den im offenen Kodieren entwickelten Kategorien appliziert. Das ist in letzter Konsequenz die Deckungsart einer strukturfunktionalistischen Variablensoziologie.“ (Strübing 2008: 72)
Glasers positivistische Grundhaltung geht soweit, dass er eine Überprüfung einer Grounded Theory (als dem Produkt der Forschung) für unnötig erachtet, da die „richtige“ Anwendung der Methodik automatisch zu „wahren“ Ergebnissen führen würde (ebd.). Die von Glaser in Emergence vorgenommene Präsentation seiner Lesart der GTM als „heiliger Gral“, die Abgrenzung gegenüber anderen Varianten „Qualititativer Datenanalyse“ sowie seine Versuche zur Bewahrung der einen, „wahren“ Lehre der (klassischen) GTM, scheint dem in der so genannten zweiten Generation von Grounded-Theory-Theoretikern ansonsten gepflegten Verständnis der Offenheit gegenüber neuen Einflüssen und dem kreativen Umgang mit der GTM im Forschungsprozess, diametral gegenüber zu stehen. Darüber hinaus erscheint mir die „objektivistische“ Variante der GTM in vielerlei Hinsicht, zumindest aber doch in Bezug auf die hier verfolgte Forschungsperspektive und Fragestellung als weitgehend ungeeignet und in ihrer radikalen Ablehnung bzw. Forderung der Eliminierung jeglichen Vorwissen mit diskurstheoretischen Prämissen nicht vereinbar. Ich bevorzuge daher eine (sozial-)konstruktivistische Variante der GTM und plädiere aus dieser Position bewusst für den Einbezug spezifischen Vorwissens, obschon dieses Vorwissen kritisch hinterfragt und gegebenenfalls sogar methodisch reflektiert werden muss. Adele Clarke dazu:
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„Designing a narrative discourse project starts from your own extant knowledge of the situation. The grounded theory/situational analysis approach does not assume that the researcher is a tabula rasa, but rather that you are already quite knowledgeable about the substantive area you have decided to pursue” (Clarke 2005: 184)
Die neuere, stärker konstruktivistisch argumentierende GTM (Charmaz 2000; Clarke 2005) schließt denn auch weitestgehend an Strauss an: „Wo Glaser allerdings in seiner methodologischen Argumentation in Emergenz-Metaphern verfällt, entwickelt Strauss ein dialektisches Verhältnis von Theorie und Empirie und kann damit die Existenz und den notwendigen Gebrauch von theoretischem Vorwissen schlüssig in sein Verfahren integrieren, statt es – wie Glaser – in der Praxis durch die Hintertür theoretischer Kodes an die Daten herantragen zu müssen.“ (Strübing 2011: 274)
Es können jedoch auch an der Strausschen Variante bestimmte objektivistische Tendenzen kritisiert werden, wenn etwa die aus dem Kodierprozess hervorgegangenen Daten als vom Forscher unabhängige Fakten interpretiert werden. Auf diese Kritik kann sowohl mit neueren (konstruktivistischen) Varianten der GTM, als auch im Rahmen der interpretativen Analytik der WDA, reagiert werden: Truschkat (2012) merkt bezüglich der Vereinbarkeit von interpretativer Analytik und GTM an, dass zwischen der Analyseperspektive und der Analysetätigkeit unterschieden werden muss. Sie stellt fest, dass in der interpretativen Analytik in der Analyseperspektive nicht die Deutungsarbeit der Akteure zum Gegenstand gemacht wird, wie etwa in der GTM. In der Analysetätigkeit hingegen würde der Forscher als Interpret und „situierter Akteur“ (ebd.: 2012) wieder hineingeholt. In der (klassischen) GTM wiederum richtet sich die Untersuchung selbst, also die Analyseperspektive auf die Deutungen der Akteure, während der Forscher sich als „unbiased observer“ (Charmaz 2009: 139), zurückzieht und als „tabula rasa“ oder als nicht situierter Akteur in Erscheinung tritt. Interessant wird dieser Zusammenhang vor allem im Hinblick auf die Veränderungen und Entwicklungen in der methodologischen Architektur der GTM, die im Folgenden noch weiter ausgeführt werden sollen. Die Variante „Strauss/Corbin“ und die daran anschließenden Weiterentwicklungen, die zum einen die Situiertheit des Forschers wieder stärker hervorheben, und sich gleichzeitig der Verschränkung von individueller Deutung und kollektiven Deutungen („universe of discourse“) öffnen, sind für die Diskursforschung im Sinne einer Situtionsanalyse besonders anschlussfähig.
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3.2 V ON
DER
GTM ZUR S ITUATIONSANALYSE
Richard Münch beschrieb die GTM einmal als eine „Richtung der qualitativen Sozialforschung […], mit der sich die Merkmale sozialer Ordnungen sowie ihre Entstehungsweise in bestimmten Kollektiven nachvollziehen und abbilden lassen“ (Münch 2003: 309). Folgt man dieser Definition, stellt die GTM für die hier verfolgte Fragestellung eine zweckdienliche Forschungsperspektive dar. Durch die Verknüpfung der GTM und der Diskursforschung, werden diese besondere Eignung zur Untersuchung sozialer Ordnungen und ihrer Entstehungsweisen nochmals pointiert. Besonders deutlich wird dies in dem von Adele Clarke formulierten Forschungsprogramm der Situationsanalyse (Clarke 2005)2. Clarke, eine Schülerin und Nachfolgerin auf dem Lehrstuhl von Anselm Strauss, greift auf die pragmatistische Variante der GTM zurück und entwickelte diese in ihrem Forschungsansatz weiter, mit dem Ziel, die GTM gegenüber der sozialwissenschaftlichen Diskursforschung zu öffnen. Das Forschungsprogramm der Situationsanalyse verfolgt einen mit dem Forschungsprogramm der WDA vergleichbaren Ansatz. Auch Clarke greift auf die soziologische Tradition des symbolischen Interaktionismus und die methodischen Überlegungen der Grounded Theory zurück und verbindet diese mit der Logik einer Diskursforschung, die an Michel Foucault anknüpft. Dort wo Keller allerdings dezidiert an die sozialkonstruktivistische Wissenssoziologie nach Berger/Luckmann und die deutsche Tradition der hermeneutischen Wissenssoziologie anschließt, ist die Situationsanalyse in der Tradition der pragmatistischen Sozialforschung der Chicago School verwurzelt. John Dewey und George Herbert Mead haben die Grundlagen dieses philosophischen Pragmatismus dargelegt (Mead 1938/1967; Dewey 1931). Auf diesen Arbeiten gründen schließlich auch die soziologischen Ausarbeitungen des Pragmatismus bei William Thomas und Robert E. Park sowie deren Weiterentwicklung zum Symbolischen Interationismus durch Herbert Blumer und andere.3 Die pragmatistisch-interaktionistische Wissenssoziologie basiert im Grunde auf einem handlungsbasierten Verständnis von Wissen und interessiert sich für die Prozesse der Wissensgenese. Wissen wird im Handeln ständig modifiziert und aktualisiert und besteht daher nicht als vom Akteur getrennte Realität (vgl. Strübing 2007). Der Pragmatismus setzt sich kritisch mit der Annahme einer Dualität
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Das Buch liegt unter dem Titel „Situationsanalyse“ mittlerweile in deutscher Überset-
3
Vgl. überblicksartig: Keller 2012b.
zung vor, siehe: Clarke 2012.
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von Realität und Wissen auseinander, indem auf die Prozesshaftigkeit von Erfahrungen verwiesen wird. Wissensgenese ist auf Problemlösungsprozesse zurückzuführen, das heißt dass erst die Störung von routinierten Handlungsabfolgen das Bedürfnis, Eindeutigkeit (bzw. Handlungsfähigkeit) herzustellen, erzeugt (ebd.: 132). Vor allem Strauss’ Arbeiten zu Aushandlungsordnungen in sozialen Arenen, die sich auf die pragmatistischen Positionen beziehen, stellen die theoretische Grundlage der diskursanalytischen Öffnung der Grounded Theory dar, wie Clarke sie mit der Situationsanalyse vornimmt. Die Vorstellung von sozialen Welten geht auf Meads Konzeption der Diskursuniversen (Mead 1967: 518) zurück, eine Metapher, die darauf verweist, dass Gesellschaft aus fluiden, auf Kommunikation basierenden Agregaten besteht, die man auch als Sinnwelten bezeichnen könnte. Strauss greift dies auf und erweitert die um die Kommunikation aufgebauten Diskursuniversen um weitere Faktoren wie Praktiken, Mitgliedschaften, Technologien, Insitutionen und Organisationen (vgl. Strauss 1991: 235). So entsteht die Vorstellung von Gesellschaft als einer fluiden Ansammlung ganz unterschiedlicher sozialer Welten, die sich teilweise überschneiden und sich in Bezug auf ihre Stabilität, Größe und Beschaffenheit grundlegend unterscheiden können. Medizin, Politik und Recht sind ebenso als soziale Welten zu verstehen, wie Wissenschaft im Allgemeinen, Fußballfans, Homosexuelle oder Briefmarkensammler. Einige soziale Welten weisen eine hohe Durchlässigkeit auf, während andere sozial geschlossen sind. Einige zeichnen sich durch einen hohen Grad an Institutionalisierung aus, während andere spontan durch bestimmte Aktivitäten entstehen können, um sich ebenso schnell wieder aufzulösen (ebd.). In den klassischen Studien der Chicago-School spiegelt sich die Vorstellung sozialer Welten wider, wenn die Lebens- oder Sinnwelten etwa von Taxifahrern, jungen Ärzten oder Marihuana-Konsumenten in den Blick genommen werden. Clarke beruft sich in ihrer Konzeption der Situationsanalyse also auf die Tradition der Chicago-School und der GTM nach Anselm Strauss. Zentrale Erweiterungen der GTM in der Situationsanalyse ergeben sich erstens aus der Distanzierung des Programms der GTM von ihren positivistischen Wurzeln, zweitens aus der gleichzeitigen Stärkung der schon traditionell vorhandenen „postmodernen Eigenschaften“, drittens aus der Erweiterung der Perspektive, die sich bislang auf soziales Handeln/soziale Interaktionsprozesse konzentrierte, um eine umweltbezogene Leitmetapher, die soziale Welten/Arenen sowie die Aushandlungs- und Diskursebenen mit einbeziehen und so Situationsanalysen auf der Meso-Ebene ermöglichen (vgl. Clarke 2005). Viertens ergibt sich durch die Strategie der Kartographierung der meist sehr komplexen Forschungssituation eine Erweiterung der Analyseperspektive, die in der klassischen Grounded Theory zentral auf einen
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sozialen Basisprozess (basic social process) oder eine Kernkategorie fokussiert war. Anhand der Gestaltung flexibler Forschungsdesigns, dem Einbezug von Multisite-Forschung und der Verwendung unterschiedlichster diskursiver Materialien, soll in einer Situationsanalyse die Komplexität „postmoderner“ Untersuchungsgegenstände bearbeitbar gemacht werden (Clarke 2005: xxxiii). Das Entwerfen sensibilisierender Konzepte und die gegenstandsbasierte Theorieentwicklung sind dabei als fortlaufende prozesshafte Vorgänge zu verstehen, welche einer traditionellen Zielsetzung, wie der Entwicklung formaler Theorie, gegenübergestellt werden. Beeinflusst wurde das Programm der Situationsanalyse außerdem von Donnah Harraways (1988) im Rahmen ihrer Feminismus-Studien entworfenen Konzepts des „situated knowledge“, dem situierten Wissen. In diesem Konzept setzt sich Harraway mit dem Objektivitätsanspruch der Wissenschaften auseinander und identifiziert Wissenschaft als situativ gebundenes Wissen, das als Erzählung stark vom diskursiven Kontext und den spezifischen Machtbedingungen abhängt, in die das Wissen eingeflochten ist. Wissen ist daher immer Ausdruck von körperlichen, diskursiven, orts-, und zeitgebundenen Praxen, die grundsätzlich eine kontextuelle Betrachtungsweise erfordern. Clarke bezieht sich in ihrer Weiterentwicklung der GTM stark auf die theoretischen Arbeiten Anselm Strauss’ und grenzt sich so mit ihrer Argumentation dezidiert von der „positivistischen“ Variante der GTM sensu Glaser ab. Die pragmatistische Tradition, in der Strauss steht, ist im Kern eine antideterministische Soziologie, die Strukturen als durch Handlungen konstituiert betrachtet. Bei Glaser besteht diesbezüglich und prinzipiell gegenüber pragmatistisch-interaktionistischen Positionen in Anschluss an Strauss bzw. Strauss/Corbin, ein zentrales Missverständnis. So kritisiert Glaser die Konzentration dieser Ansätze auf „konstruierte Daten“. Glaser dazu: „Die GTM nutzt alles als Daten, entsprechend sind Symbolische Interaktion und konstruierte Daten nur eine Datensorte, es gibt viele andere“ (Glaser 2011: 143). Er übersieht dabei freilich die sozialkonstruktivistische Argumentation, dass jede Art von Daten „konstruierte Daten“ sind, da sie im Forschungsprozess und durch die Deutungs- und Interpretationsarbeit der Forschenden in ihrer Bedeutung zumindest mit erzeugt werden und dadurch erst zu Daten werden. Die Frage, ob es sich um „objektive“ oder „konstruierte“ Daten handelt, stellt sich nicht. Es wird vielmehr davon ausgegangen, dass „Sichtweisen immer interpretiert sind, weil die Dinge ausgewählt, einbezogen und Daten gerahmt werden“ (Charmaz 2011: 99). Truschkat (2012: 74) weist darauf hin, dass sich die Glasersche Variante der GTM demnach auch als strukturalistische Position verstehen lässt. Die in Glasers Ausarbeitung der GTM prominent gestellten „basic social processes“ etwa, können (Glasers Position folgend) als strukturelle
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Elemente der sozialen Wirklichkeit verstanden werden, die mehr oder weniger unabhängig von der Deutungsarbeit des Forschenden existieren. Gleichzeitig wird von Glaser ein möglichst vollständiges Verschwinden des Forschers als sozialisiertes, mit Vorwissen ausgestattetes Wesen gefordert. Strauss hingegen interpretiert Handeln als das fortwährende Prozessieren des Sozialen. Strukturen stellen die Bedingungen des Handelns dar und Handeln ist „der aktive Part von Struktur, also Strukturierung“ (Strübing 2007: 54). Strauss erweitert die im Kern interaktionistische Perspektive, indem er den strukturellen Kontext bzw. die Prozesse der Strukturierung stärker mit einbezieht. Strukturen, Handlungskontext und situative Bedingungen nehmen ebenso Einfluss auf die Interaktion, wie die Interaktionsprozesse umgekehrt strukturierend wirken (vgl. Strauss 1993: 248). Clarke greift diese Position auf und stellt fest: „For interactionists, structures are the enduring temporal conditions of situations. They may be taken for granted by the actors and/or hidden from them […], but structures are obdurate and intrusive and must be studied and ‘taken into account’ in the pragmatist analysis of situations, along with social processes.” (1991: 129, Hervorhebung im Original)
Die hier formulierte Perspektive, die auf Anselm Strauss zurückzuführen ist, stellt die Grundlage der Situationsanalyse dar. Ihr methodologischer Ansatz beruht im Kern auf dem von Strauss ausgearbeiteten „social worlds/arenas“ Ansatz. Dabei stehen, wie gesagt, nicht nur die Handlungen und Interaktionssituationen im Mittelpunkt, sondern die Bedingungen des Handelns und die Situiertheit des zu untersuchenden Phänomens, das heißt ihre „soziale Umwelt“ (vgl. Clarke 2005: 37). Damit können auch Aushandlungsprozesse auf höherer Ebene, etwa auf der Ebene kollektiver Akteure, der strukturelle Kontext und die materiell-technischen Voraussetzungen (das „Dispositiv“ der Aushandlungsprozesse) in den Blick genommen werden. Clarkes Standpunkt lautet zwar: „there is no such thing as context” (Clarke 2005: 71). Damit ist jedoch Folgendes gemeint: Nicht die Kontextbedingungen an sich werden negiert, sondern ihre Extrapositionalität in Bezug auf den Forschungsgegenstand. Das, was gemeinhin als ein den Forschungsgegenstand bedingendes Element gesehen wird, ist Bestandteil der Situation, ist demnach Bestandteil des Untersuchungsfeldes. Clarke bezieht sich damit auf den Umgang mit den strukturellen Bedingungen in der späten Grounded Theory nach Strauss und Corbin (Strauss/Corbin 1996), die verstärkt auf den Einbezug und die Visualisierung eines spezifischen Handlungs- oder Interaktionsvollzuges im Zusammenhang mit seiner strukturellen Bedingung, den „Kontextbedingungen“, Wert gelegt haben. Die von Strauss und Corbin (1996) entworfene Bedingungsmatrix
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etwa, hat zum Ziel, die strukturellen Bedingungen einer Situation auf Mikro-, Meso-, und Makroebene zu visualisieren. Clarke (2005: 71) hält diese Form der Visualisierung für unzureichend und zu schematisch, nimmt diese jedoch zum Ausgangspunkt für ihren Vorschlag der Kartographierung von „sozialen Arenen“ (ebd.: 38). Diese können mithin als diskursive Felder verstanden werden, die aus unterschiedlichen sozialen Welten zusammengesetzt sind und in denen in ständigen Aushandlungsprozessen versucht wird, soziale Ordnung herzustellen. Im Kern ist der social worlds/arenas Ansatz eine Konflikttheorie, da diese Prozesse als Intra- und Intergruppenkonflike betrachtet werden (Clarke 1991: 129). Unterschiedliche soziale Gruppen (bzw. „social worlds“) stehen in Aushandlungskämpfen miteinander. Die Gesamtheit dieser Auseinandersetzungen, Deutungskämpfe und Wahrheitsspiele bildet unterschiedliche Diskursarenen oder „universes of discourse“ (vgl. Mead 1967: 518). Strauss versteht unter „sozialen Welten“ Gruppen, die gemeinsame Wertvorstellungen und Ideologien teilen und die gemeinsame Zielsetzungen verfolgen und dadurch zu kollektiven Akteuren werden (Clarke 1991: 131). Die Strukturen von sozialen Welten sind fluide. Einzelne soziale Welten können sich aus Subwelten zusammensetzen oder sich mit anderen sozialen Welten verbinden. Derartige Formen sozialen Wandelns sind das Ergebnis von konflikthaften Auseinandersetzungen bzw. Prozessen der Aushandlung innerhalb und zwischen sozialen Welten. Verschiedene soziale Welten, die sich auf denselben Gegenstand, dasselbe soziale Problem oder denselben Phänomenbereich beziehen, bilden „Interessensarenen“ (vgl. Clarke 1991: 133) oder Diskursarenen. Um den Problemkontext der Kommerzialisierung und Ökonomisierung der Medizin etwa bilden sich öffentliche Diskursarenen, die aus verschiedenen kollektiven Akteuren zusammengesetzt sind. Dort „verhandeln“ eben nicht nur Mediziner, sondern ebenso Ethiker und auf anderer Ebene auch Sozial- und Geisteswissenschaftler, Politiker, Betroffene und andere moralische Unternehmer – sogar nicht aktiv partizipierende Gruppen können Teil der Diskursarena sein. Diese diskursiven Aushandlungsprozesse können auch als Legitimations- und Grenzziehungsprozesse verstanden werden: „Activities within all social worlds and arenas include establishing and maintaining boundaries between worlds and gaining social legitimation for the world itself.“ (Ebd.; vgl. auch Strauss 1978a).
Der Begriff der sozialen Welten ist tief in der Tradition der Chicagoer Schule der Soziologie verankert. Vor allem bei Shibutani (1955) kommt der Begriff im Zu-
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sammenhang mit dem kulturellen und kommunikativen Grenzen von Bezugsgruppen („reference groups“) vor, die die Mitgliedschaft zu diesen Gruppen regeln. Das Konzept basiert zum Teil auf der Meadschen Vorstellung von Diskursuniversen („universes of discourse“), die den kommunikativen Horizont sozialer Gruppen beschreiben: „A universe of discourse is simply a system of common or social meanings“ (Mead 1967: 89 f.). Eine stringente und theoretische Ausarbeitung einer Diskursperspektive bleibt trotz des Bezugs auf Diskursuniversen bei Strauss unterentwickelt. Vielmehr befürchtet Strauss (1991), durch Bezugnahme auf den Diskurs (als symbolische Bezugsebene soziokultureller Schemata) die Handlungsebene, die Prozesse in den sozialen Welten aus dem Blick zu verlieren (vgl. auch Strübing 2007: 82 f.). Strauss setze, so Strübing, „seine Auffassung von sozialen Welten deutlich von jedem Anklang rein diskursiver Unternehmungen ab“ (Strübing 2007: 83). Erst bei Adele Clarke und ihrer spezifischen Weiterentwicklung des social worlds aproach wird die diskursive Ebene wieder stärker betont. Dass Clarke den Grounded-Theory-Ansatz durch die Rückbesinnung auf den social worlds/arenas Ansatz wiederum gegenüber einer diskurstheoretischen Perspektive öffnet, ist auch ein Zugewinn für die Wissenssoziologische Diskursanalyse, die ihrerseits in der Tradition qualitativer Sozialforschung verankert ist und stets darauf verwiesen hat, dass die Vorgehensweise der Grounded Theory für diskursanalytische Arbeiten nützlich sein kann. Foucaults Arbeit wurde von Dreyfus und Rabinow (1987) als „interpretative Analytik“ beschrieben. Damit ist gemeint, dass die Schlussfolgerungen der Analysen der meist historischen Daten und Quellen auch bei Foucault interpretativ gesteuert sind und eben nicht rein deskriptiv verlaufen.4 Bei Diaz-Bone (2006) findet sich der Versuch, die interpretative Analytik bei und im Anschluss an Foucault, als eine spezifische methodologische Position herauszuarbeiten. Die von Diaz-Bone herausgestellten Merkmale, durch die empirisch-diskursanalytische Projekte in ihrem Aufbau und Vorgehensweise angeleitet werden sollen, sind jedoch nicht unmittelbar bei Foucault angelegt und unterscheiden sich denn auch kaum von „gängigen“ Strategien der Praxis qualitativer Sozialforschung. Problematisch erscheint die Gegenüberstellung der interpretativen Analytik im Anschluss an Foucault und der GTM zunächst deswegen, weil versucht wird, ein in der Praxis langjährig erprobtes sozialwissenschaftliches Forschungsprogramm (GTM), samt breit aufgestellter Methodologie und einem eigenständigen, vielschichtigen Methodenzugang, einer methodologischen Perspektivierung ge-
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Vgl. hierzu ausführlich: Keller 2005.
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genüberzustellen, deren Anspruch ursprünglich nie der eines Programms empirischer Sozialforschung war. Dennoch bleibt es eine berechtigte Frage, inwieweit eine (zu weiten Teilen) in der hermeneutischen Tradition des symbolischen Interaktionismus verankerte Perspektive wie die GTM als Theorie-Methoden-Paket in eine sozialwissenschaftliche Diskursanalyse integriert werden kann, deren Tradition ungleich stärker strukturalistisch vorgeprägt ist. Dazu ist an erster Stelle anzumerken, dass die Bezeichnung interpretative Analytik bereits die Überwindung einer rein strukturalistischen Perspektive thematisiert. Im Forschungsprogramm der WDA wird dieses Element konsequent weitergedacht. Im Ansatz der WDA wird der Gegensatz zwischen einer strukturalistisch angeleiteten Diskursanalyse und einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik transzendiert und explizit zum Ausgangspunkt der Perspektive gemacht. Die WDA will damit das Verhältnis von Handlung und Struktur zum Thema machen. Die Frage nach „der Tragfähig einer von der GTM geleiteten Diskursanalyse“ (Truschkat 2012: 73) wird somit weitgehend hinfällig - zumindest in Bezug auf die Frage der Vereinbarkeit struktureller Diskursanalyse und interpretativer Forschung, die dann gegeben ist, wenn diese explizit zum Thema der theoretischmethodologischen Reflexion gemacht wird und darüber hinaus die Vereinbarkeit gerade der Foucaultschen Perspektive mit der hermeneutisch-wissenssoziologischen Tradition so plausibel dargelegt wird, wie etwa bei Keller (2008a). Damit ist jedoch nicht evident, dass die GTM die geeigneten methodischen Strategien und methodologischen Hintergrundfolien anbietet, um diskursanalytische Projekte durchzuführen. In der Tat ist ja der Großteil der in der Tradition der GTM stehenden Forschungsarbeiten auf Interaktionsordnungen fokussiert. Es gibt jedoch Vorschläge zur Erweiterung der GTM, die gerade für eine Wissenssoziologische Diskursanalyse plausibel erscheinen und die methodologisch fundiert sind, anstatt lediglich das „Standardrepertoire“ qualitative Datenanalyse der WDA „überzustülpen“. So sind mit der Wissenssoziologischen Diskursanalyse und der Situationsanalyse etwa zeitgleich zwei Forschungsprogramme vorgelegt worden, die in ihrer Zielsetzung ein ähnliches Anliegen verfolgen. Beide streben die Integration einer interpretativ-pragmatistischen Wissenssoziologie und der Diskursanalyse in Anschluss an Foucault an. Beide Ansätze entstammen interessanterweise auch ähnlichen Beschäftigungsfeldern. Clarke hat in den USA vor allem im Bereich der „Science-, Technology- and Medical Studies“ geforscht (Clarke 2012: 17), während Keller sich in Deutschland mit Problemen der Umwelt-, Technik-, Medizin- und Risikosoziologie beschäftigt. Auch bezüglich des
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Versuches einer gesellschaftstheoretischen Einordnung des jeweiligen Forschungsprogramms gibt es bemerkenswerte Parallelen. So geht Clarke von einem „post-modern turn“ aus: „Während die Moderne Universalität, Verallgemeinerung, Vereinfachung, Dauerhaftigkeit, Stabilität, Ganzheit, Rationalität, die Regelmäßigkeit, die Einheitlichkeit und Angemessenheit betonte, verschieben sich die Schwerpunkte in der Postmoderne hin zu Partikularismus, Positionalitäten, Komplikationen, Substanzlosigkeit, Instabilitäten, Unregelmäßigkeiten, Widersprüchen, Heterogenitäten, Situiertheit und Fragmentierung – kurz: Komplexität.“ (Clarke 2012: 26)
Kellers eigene Forschung und seine Ausarbeitung der WDA hingegen sind im Forschungs- und Arbeitszusammenhang der Theorie reflexiver Modernisierung (vgl. Beck/Bonß 2001; Beck/Lau 2004; Lau/Keller 2001; Keller 2012a) entstanden. Diese strebt zwar an, sich konstruktiv von postmodernen Theorien abzugrenzen, verfolgt aber faktisch eine Perspektive, die zumindest mit der Auslegung der Postmoderne wie Clarke sie vornimmt, große Übereinstimmungen zeigt. Wie gesagt, versteht sich die Situationsanalyse in ihrer engen Anbindung an die GTM stärker als „theory-methods-package“ und kann daher gerade durch ihre ausgeprägte Anwendungsorientierung das Forschungsprogramm der WDA ideal ergänzen, da im Rahmen der Diskussion der WDA an verschiedener Stelle (Keller 2008a, 2011, 2013; Truschkat 2013) immer wieder auf die Anschlussfähigkeit zur GTM hingewiesen wird. Keller dazu: „Für die Einzelanalyse sind Vorschläge aus dem Forschungsprogramm der Grounded Theory (Strauss/Corbin 1996) hilfreich. Dazu zählen neben dem bereits erwähnten theoretical sampling die Konzepte des Kodierens, der Kommentare und der Memos.“ (Keller 2011: 98)
Die generelle Vereinbarkeit der Vorschläge der Grounded Theory und der Diskursforschung hält Keller für „unproblematisch“ (ebd.). Der Vorschlag zur Anwendung der Strategien der GTM in der WDA ist nicht überraschend: Erstens handelt es sich bei der GTM um ein dominierendes Paradigma in der qualitativen Sozialforschung, dessen methodische Strategien sich auch dort als Standard etabliert haben, wo im strengen Sinne die methodologischen Hintergrundannahmen der GTM gar nicht berücksichtigt werden. Zweitens ist gerade die WDA geeignet sich in ihrer Forschungslogik an die GTM anzunähern, da dies bereits in der Verschränkung der hermeneutischen Wissenssoziologie mit diskursanalytischen
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Verfahren angelegt ist, deren Methodologie mit der GTM einen wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund teilt. Drittens ist der GTM und der hermeneutischen Diskurstheorie gemeinsam, Texte als den zentralen Gegenstand ihrer Arbeit anzusehen. Dass sich die GTM dabei im klassischen Verständnis eher auf Interview- oder Interaktionsprotokolle und damit stärker auf die Mikro-Ebene konzentriert, während die Diskursanalyse stäker die Meso-Ebene des Diskurses und kollektive Wissensbestände fokussiert, ist insofern (zunächst) unerheblich, als das Kernelement in beiden Ansätzen die intpretative Kodierung von Texten ist, deren Verfahren zu großen Teilen der GTM entstammen. Mittlerweile greift auch Keller die GTM-Variante der Situationsanalyse auf und erörtert diese als eine Möglichkeit der Vorgehensweise einer wissenssoziologischen Diskursanalyse (Keller 2013). Anders als Truschkat (2013: 83) es andeutet, erscheint es mir nicht plausibel, dass die WDA aufgrund ihrer Fokussierung auf kollektive Wissenspraktiken von der Situationsanalyse dezidiert abzugrenzen ist. Wie oben dargelegt, versucht die Situationsanalyse genau dieses Moment der Meso- oder Diskursebene in die Untersuchung der Situation einzubeziehen, die Situation also um die Diskursebene zu erweitern, indem sie in den Maps sowohl individuelle als auch kollektive Akteure, als auch deren Positionierungen und Claims abbilden will. Diese Inhalte der Maps sind aus den Daten extrapoliert. Wenn diese Daten bereits als das Ergebnis kollektiver Wissenspraktiken entstanden sind, als Datensorte also diskursiv produzierte Aussagen herangezogen werden, besteht keine notwendige Abgrenzung zwischen einer WDA und der Diskursanalyse. Im Gegenteil kann die Perspektive der Situationsanalyse der richtige Weg sein, um die GTM in der wissenssoziologischen Diskursforschung sinnvoll zu verankern. Diaz-Bone (2013) hingegen kritisiert Clarkes Ansatz der Situationsanalyse als „Diskursanalyse light“. Im Konzept der Situationsanalyse seien vor allem die für eine Diskursanalyse spezifische Methodologie und die Diskurstheorie selber unterwickelt, so Diaz-Bone. Der Vorwurf einer Diskurs-Analyse „light“ wird also letztlich dadurch provoziert, dass der Diskurstheorie nach Foucault bei Clarke wenig Platz eingeräumt wird. Bemerkenswerterweise handelt es sich bei der Situationsanalyse weitestgehend um eine Diskursanalyse ohne Foucault. Obwohl Clarke den Bezug zu Foucault dezidiert herstellt, spielt er in ihrer weiteren theoretischen und methodologischen Konzeption – anders als bei Keller – eine nur geringe Rolle. Der Diskursbegriff auf den Clarke zurückgreift entstammt der sozialwissenschaftlichen Diskursforschung in Anschluss an Foucault, die ein wissenssoziologisches Selbstverständnis hat, und die den Beitrag der Foucaultschen Diskursanalyse weniger in ihrer machttheoretischen oder poststrukturalistischen Architektur sieht, als in der Perspektivenerweiterung der Untersuchungsebene
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auf die kollektive Verhandlung von Wissen und damit die Situiertheit der Diskursproduktion. Daraus folgt dann die gewisse analytische Unbestimmtheit bezüglich des Verhältnisses von Diskurs und Situation: Der Diskurs kann die Situation sein, kann aber auch selber als situiert verstanden werden und ist gleichsam das zentrale Datum, um die Situation in ihrer Gesamtheit (inklusive aller nicht-diskursiver Elemente) zu erschließen. Im Rahmen einer forschungsorientierten wissenssoziologischen Diskursanalyse der WDA-Variante regt die Situationsanalyse dazu an, den Diskursbegriff als einen zentralen Begriff der Wissensforschung zu verstehen, der auf eine ausgedehnte theoretische Reflexion des Stellenwertes poststrukturalistischer Diskurstheorie für den Forschungsprozess nicht unbedingt angewiesen ist. Ungleich wichtiger ist Clarke die Rückbesinnung auf die pragmatistische Tradition und die Ausarbeitung der dort bereits angeklungenen Diskursuniversen und die Bedeutung der Situation, die sowohl in der Chicago-School als auch in den Science- and Technology Studies eine große Bedeutung haben. Clarke geht es also erstens vor allem darum, einen Weg zu finden die Grounded-Theory stärker wissenssoziologisch auszurichten, und zweitens, Vorschläge zu machen, wie diese Wissensforschung im Geiste der Grounded Theory empirisch umgesetzt werden kann. Clarkes Position ist demnach als der Versuch zu verstehen, die Perspektive des Pragmatismus um eine Dimension zu erweitern, gleichwohl aber weitestgehend im Rahmen der eigenen pragmatistischen Theorieposition zu bleiben. In diesem Sinne ist die Situationsanalyse eben auch kein eigener diskursanalytischer Ansatz, sondern unmissverständlich eine Neupositionierung bzw. Erweiterung der GTM, die der diskursiven Konstitution sozialer Arenen Rechnung trägt. Welche Bedeutung lässt sich daraus für eine im Forschungsprogramm der WDA verortete Forschungsarbeit ableiten? Zunächst bietet die Situationsanalyse mit der Kartographierungstechnik ein interessantes Tool zur diskursanalytischen Arbeit, das komplexe Situationen angemessen abbilden und die Positionierung von Akteuren und Aussagen erleichtern kann. Damit wird von der Situationsanalyse ein praktischer Vorschlag zur Integration von GTM und Diskursforschung gemacht, indem der Umgang, die Interpretation und die Darstellung von Daten (und Analyse-Ergebnissen) einerseits auf der GTM basieren, und sich andererseits der Diskursforschung anschlussfähig machen. Schließlich lässt sich das diskurstheoretische Defizit, das Diaz-Bone (2013) anspricht, durch die Verortung im theoretisch ungleich stärker fundierten Forschungsprogramm der WDA kompensieren. Eine sich auf das Programm der WDA berufende Forschung hingegen
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profitiert von einer „kanonischen“ Öffnung der GTM gegenüber der sozialwissenschaftlichen Diskursforschung und der dadurch angeregten methodologischen Debatte.
3.3 E RHEBUNGSDESIGN
UND
D ATENAUSWAHL
Die Wissenssoziologische Diskursanalyse (WDA) als spezifischer Zuschnitt einer hermeneutischen Wissenssoziologie stellt das Forschungsprogramm und mithin die theoretische Perspektive dar, durch die der Untersuchungsgegenstand in dieser Arbeit betrachtet, problematisiert und „operationalisiert“ wird. Die Situationsanalyse/GTM dient als methodologischer Standpunkt, auf dessen Grundlage die Datenauswahl, der Umgang mit den Daten, der Forschungsverlauf und die Analyse der Daten begründet wird. Clarke ist mit ihrem Ansatz der Situationsanalyse nicht nur in theoretischer Hinsicht, sondern vor allem auch methodisch einer bestimmten „Schule“ – der GTM – verpflichtet. So versteht sie ihr Forschungsprogramm auch stärker als Beitrag zur Weiterentwicklung der Strategien zum Umgang mit Daten. Ich löse mich nun also von der theoretisierenden Ebene und stelle den methodischen Aufbau der Studie vor. Die vorliegende Studie ist in ihrer forschungspraktischen Ausrichtung im Paradigma der GTM verankert, da sie von dieser zentrale Prämissen übernimmt: Angefangen bei den Strategien des theoretischen Samplings, über die zirkuläre Datenerschließung, das Prinzip der Daten-Kontrastierung bis hin zu den im Folgenden noch genauer darzustellenden Auswertungsstrategien, die sich in einem ersten Schritt an den Kodierverfahren nach Strauss/Corbin (1996) und zweitens an den Mapping-Strategien nach Clarke (2005) orientieren. Im Paradigma der GTM ist das theoretische Sampling der zentrale Vorgang in einem derart iterativen Forschungsprozess: „Theoretisches Sampling meint den auf die Generierung von Theorie zielenden Prozess der Datenerhebung, währenddessen der Forscher seine Daten parallel erhebt, kodiert und analysiert sowie darüber entscheidet, welche Daten als nächste erhoben werden sollen und wo sie zu finden sind. Dieser Prozess der Datenerhebung wird durch die im Entstehen begriffene – materiale oder formale – Theorie kontrolliert.“ (Glaser/Strauss 1998: 53)
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Abbildung 1: Der iterative Forschungsprozess
In der oben stehenden Abbildung (Abb. 1) wird das theoretische Sampling im iterativen Forschungsprozess veranschaulicht. Dabei ist zunächst das eigene Vorwissen angeführt, das sich aus dem Alltagswissen, öffentlichen Diskursen und wissenschaftlichen Spezialdiskursen sowie unter Umständen aus eigenen Vorarbeiten speist. Auf der Basis dieses Vorwissens kommt es zur Problemdeutung, zur Bildung von Heuristiken und eventuell zu ersten Hypothesen. Die darauf aufbauende erste (zumeist eher unsystematische) Sichtung von Daten verläuft daher in gewisser Weise bereits theoriegeleitet. Die dadurch erfolgende Einarbeitung in das Forschungsfeld führt zur Bildung oder Präzisierung erster Arbeitshypothesen, durch die das theoretische Sampling weiter vorangetrieben wird. Im Rahmen der nun folgenden systematischen Analyse kommt es zu den verschiedenen Phasen des Kodierens der Daten, die auf die Theoriebildung hinführen. Wenn es zu einer theoretischen Sättigung kommt, werden keine weiteren Daten mehr erhoben. Die Theorie wird dabei in der Feinanalyse einiger besonders prägnanter Daten vergleichend präzisiert. Eine Wissenssoziologische Diskursanalyse im Stile einer Situationsanalyse durchzuführen, ermöglicht eine kontrolliert und theoretisch begründete Durch-
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führung einer Triangulation unterschiedlicher Datenerhebungsmethoden, wie Interviews und Dokumentenanalysen. In der Situationsanalyse verändert sich allerdings der Stellenwert des Interviews als dem „Königsweg“ der qualitativen Sozialforschung (vor allem im klassischen Grounded-Theory-Kontext). Die Forschungsanstrengungen in der Situationsanalyse sollen, so Clarke (2012: 183), „Diskurse aller Art“ umfassen und sich über Interviewtranskripte hinaus mit verschiedensten visuellen, narrativen oder historischen diskursiven Materialien befassen. Der öffentliche Diskurs zur Kommerzialisierung in der Medizin kann zu großen Teilen über natürliche Daten erschlossen werden. Die in Kapitel 5 vorgenommene Analyse beruht hauptsächlich auf einer Untersuchung von öffentlichen Dokumenten, die thematisch im weitesten Sinne dem Bereich der ärztlichen Berufspolitik oder der allgemeinen Gesundheitspolitik zuzuordnen sind, und die auf verschiedene Aspekte Bezug nehmen, die mit der Problematik der Kommerzialisierung ärztlicher Praxis in Zusammenhang stehen. In der Auswahl waren Dokumente wie Pressemitteilungen und andere Statements der Organe ärztlicher Interessensvertretungen, ebenso von Interesse, wie stärker journalistische Erzeugnisse, wie Artikel des Deutschen Ärzteblattes oder anderer medizinischer Fachzeitschriften. Wichtig erschien mir bei der Auswahl vor allem, dass es sich bei den Dokumenten um Träger von Aussagen handelt, die dem professionellen Diskurs zuzurechnen sind. Erzeugnisse der so genannten Tages- und Publikumspresse wurden daher nur in geringem Umfang in die Untersuchung einbezogen. Die Auswahl der Dokumente und die damit einhergehende Eingrenzung des Samples wurden über eine Stichwortsuche in Datenbanken, Archiven und den Internetauftritten der einschlägigen berufspolitischen Verbände und Fachzeitschriften vorgenommen. Quantitativ besteht der Großteil des Datenkorpus aus Veröffentlichungen im Deutschen Ärzteblatt sowie einiger anderer regionaler Ärzteblätter. In ihrer Bedeutung für die Rekonstruktion der Debatte sind jedoch auch diverse „verstreute“ Dokumente und Stellungnahmen der berufspolitischen Verbände von großer Wichtigkeit. Die untersuchten Dokumente liegen also textförmig als Äußerungen in medizinischen Fachblättern oder als Stellungnahmen individueller oder kollektiver (berufspolitischer) Akteure vor. Diese Äußerungen sind Konstruktionen der lebensweltlichen Realität der Akteure, die mehr oder weniger zielgerichtet vorgenommen werden, und deren inhaltliche Struktur sich diskursanalytisch erschließen lässt. Als primäre Analysequelle und als Ausgangspunkt der Untersuchung wurde das Deutsche Ärzteblatt ausgewählt. Das Deutsche Ärzteblatt ist eine gemeinsame Publikation der Bundesärztekammer und der Kassenärztlichen Bundesver-
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einigung (KBV) und gilt als das zentrale Organ für standespolitische Informationen und Debatten. Die erste Untersuchungsphase beschränkte sich auf einen nach theoretischen Kriterien selektierten Textkorpus ab dem Jahr 1998. Die Einführung und Kodifizierung individueller Gesundheitsleistungen durch die KBV in diesem Jahr bildete als zentrales Schlüsselereignis das Kriterium für die zeitliche Einschränkung des Untersuchungssamples. Auf diese Weise wurde in einem ersten Schritt ein großer Datenkorpus diskursiver Materialen zusammengestellt, von dem etwa 100 Artikel und Dokumente in die Feinanalyse und den systematischen Kodierprozess einbezogen wurden. In einem zweiten Schritt und mit zunehmender Verdichtung der Problemstruktur des Diskurses wurden mehr und mehr Dokumente anderer Publikationsarten gezielt gesucht und zur Vertiefung in die Untersuchung einbezogen. Ergänzend zu dem öffentlichen Professionsdiskurs in Form natürlicher Daten wurden 10 qualitative, leitfadengestützte Interviews mit Ärzten unterschiedlicher Fachrichtungen und Tätigkeitsfelder durchgeführt. Dazu gehörten niedergelassene Ärzte mit und ohne Kassenzulassung sowie Ärzte mit der Spezialisierung auf ästhetische Chirurgie sowie Vertreter verschiedener Institutionen der ärztlichen Selbstverwaltung und Interessensvertretungen (vgl. Abbildung 2 auf der folgenden Seite). Während die Dokumentenanalyse dem Zweck diente, die Debatte im professionellen Diskurs zu erfassen, um damit einen möglichst allgemeinen Einblick in die Auseinandersetzung und die virulenten Deutungsmuster zu erhalten, wird durch die Interviews ein fokussierter Zugang zur Debatte gewährt.
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Abbildung 2: Übersicht der Interviewpartner Name (CodeBezeichnung) Int1 Int2 Int3 Int4 Int5 Int6
Int7 Int8 Int9 Int10
Interviewpartner
Fachbereich / Leistungen
Arzt in Niederlassung, Stuttgart Arzt in Niederlassung, München Arzt in Niederlassung, München Ärztin in Niederlassung, Berlin Ärztin in Niederlassung, [Ort anonymisiert] Arzt in Anstellung, Chefarzt eines Klinikums, Berlin Ärztin in Niederlassung, München Arzt in Niederlassung (Privatklinik), [Ort anonymisiert] Mitarbeiterin der KBV, Ärztin Arzt in Niederlassung und Standespolitiker
Dermatologie / GKV, PKV und Selbstzahlerleistungen Personalisierte Medizin, Reisemedizin / PKV und Selbstzahlerleistungen Orthopädie / GKV, PKV und Selbstzahlerleistungen HNO / GKV, PKV und Selbstzahlerleistungen Orthopädie und Unfallchirurgie / GKV, PKV und Selbstzahlerleistungen Allgemeine Chirurgie / Unfallchirurgie GKV (Schwerpunkt) Plastische und Ästhetische Chirurgie / Selbstzahlerleistungen (Schwerpunkt) Plastische und Ästhetische Chirurgie / Selbstzahlerleistungen (Schwerpunkt) Tätig in der Kassenärztlichen Bundesvereinigung Berlin Ärztlicher Kreisverband [Ort anonymisiert]
Die Interview-Situation als face-to-face Interaktion liefert zwar „konstruierte“ Daten, aber auch einen intimeren Blick auf die Ausgestaltung (bzw. Darstellung) der Rolle des Arztes, die aus Text-Daten nicht in dem Maße vermittelt werden kann, wie in der Interaktionssituation im Feld. Mit Berger/Luckmann (2003: 79 ff.) gehe ich davon aus, das Rollen Gesellschaftsordnungen repräsentieren und dass die Rolle einen Verhaltenskomplex darstellt, der auf die Institution verweist und diese erfahrbar macht. Die Rolle des Arztes, seine Präsentation, „verwirklicht“ den Berufsstand der Ärzteschaft bzw. verweist auf latente Skripte und Verhaltensmuster, die diesem zu Grunde liegen. Diese Rollensubstanz wird dem Forscher erst in der Interaktion vermittelt. Die Gespräche wurden auf Tonband festgehalten. Erst jedoch die Gesamtheit der Interaktionssituation, das Auftreten des Gesprächspartners, die örtliche und situative Rahmung und schließlich auch die non-verbale Symbolik, geben zusätzlich zum Gesagten Aufschluss über die Rolle „Arzt“. Diese Eindrücke können ebenso zum Gegenstand von Deutungen und Interpretationen werden, wie andere „Äußerungsformen“. Die geführten Interviews wurden als themenzentrierte Experteninterviews angelegt. Die thematische
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Strukturierung anhand des durch die Dokumentenanalyse angeeigneten Kontextwissens diente dabei dem Zweck, bestimmte Aspekte gezielt und vertieft zu erkunden. Die in der Interaktionssituation generierten Daten unterscheiden sich von den natürlichen Daten insofern, als dass die Rahmung des Gesprächs vorgegeben und der Gesprächsverlauf durch gezieltes Nachfragen beeinflusst und gesteuert wurde. Dem Prinzip des theoretischen Samplings folgend, wurde die Auswahl der Gesprächspartner durch die ersten Arbeitshypothesen angeleitet, die auf der Erhebung der Dokumentenanalyse basierten. Die neuen Daten wiederum haben eine Vertiefung bestimmter weiterer Aspekte im Diskurs herausgefordert, so dass die Datenerhebung und der Analyseprozess weitgehend verschränkt wurden (vgl. zum iterativen Forschungsprozess nochmals Abbildung 1). Die Audio-Aufzeichnungen der Interviews mussten zunächst verschriftlicht werden. Die erhobenen Text-Dokumente wurden inhaltlich und chronologisch sortiert. Daraufhin wurden die Dokumente in eine gängige Software zur qualitativen Datenanalyse geladen, in der ein Großteil der Analyse, nämlich der Kodierprozess umgesetzt wurde. Die QDA-Software ist ein nützliches Werkzeug, um große Textmengen in einem übersichtlichen Projekt handhabbar zu machen und bietet einige technische Hilfestellung für die Kodierverfahren die im Zentrum jeder GTM-basierten Analyse stehen. Ich orientiere mich in meiner Vorgehensweise zuvorderst an Vorschlägen zur Datenbearbeitung, die im Kontext der „klassischen“ Grounded Theory (Glaser/Strauss 1967) entwickelt worden sind. Dazu gehören die grundlegenden methodischen Strategien des Kodierens, der Kategorienbildung, des Verfassen von Memos etc., aber auch bestimmte methodologische Reflektionen, die sich zwangsläufig auf die methodische Vorgehensweise auswirken. Anhand der Kodierverfahren werden die Daten aufgebrochen, das heißt bestimmte Textabschnitte oder Aussageeinheiten werden Kategorien zugeordnet (vgl. Kuckartz 2005: 73). Strauss/Corbin folgend wende ich ein mehrstufiges Kodierverfahren an, das sich formalisert in die Phasen des (1) offenen Kodierens, des (2) axialen Kodierens und des (3) selektiven Kodierens unterscheiden lässt. Diese verschiedenen Vorgehensweisen des Kodierens sollten dabei nicht „als klar voneinander trennbare Vorgehensweisen noch als zeitlich eindeutig getrennte Phasen des Prozesses (miss-)verstanden werden. Sie stellen vielmehr verschiedene Umgangsweisen mit textuellem Material dar, zwischen denen der Forscher bei Bedarf hin- und herspringt und die er miteinander kombiniert. Jedoch beginnt der Prozess mit offenem Kodieren, während gegen Ende des gesamten Analyseprozesses das selektive Kodieren in den Vordergrund rückt.“ (Flick 1995: 1997)
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1) Das oben als Aufbrechen des Textes bezeichnete offene Kodieren besteht aus dem Vorgang der interpretativen Strukturierung des Textmaterials, durch die Etikettierung bestimmter Textstellen oder Abschnitte durch Codes, die auf den Sinngehalt der jeweiligen Aussage verweisen sollen. Die Textstellen können „invivo“ kodiert werden, das heißt dass der Code wörtlich im Text vorzufinden ist oder deutend konstruiert ist. Auch der Einbezug soziologischer Konstrukte („Individualisierung“ etc.) ist hierbei möglich. Ziel ist es, dadurch eine systematische Analyse der Untersuchungseinheit und gleichzeitig eine inhaltliche Reduktion vorzunehmen. Sinnvoll sind beim offenen Kodieren zum einen der Versuch einer Dimensionalisierung von Codes und Sub-Codes sowie zum anderen das begleitende Verfassen von Memos, in denen die Inhalte paraphrasiert werden und in denen festgehalten werden sollte, warum ein bestimmter Code zugewiesen wurde. 2) Beim axialen Kodieren sollte man sich nun zunehmend vom Datenmaterial lösen und stärker heuristisch arbeiten. Die Daten werden auf bestimmte Inhalte befragt. Hierzu wird in der klassischen GTM (bei Strauss 1991) das Kodierparadigma herangezogen. Mit dem Kodierparadigma wird versucht, den Daten einen Rahmen zu geben, indem die Kontextbedingungen (die Situiertheit der Daten) betont werden und festzuhalten, wie das untersuchende Phänomen kontextuell eingebettet ist. Dahinter verbirgt sich unter anderem die Strategie, die Inhalte mit den W-Fragen (Wer? Was? Wann? Wie? Warum?) zu konfrontieren. Hierbei können bereits Kategorien von Codes zueinander in Beziehung gesetzt werden. 3) Der Prozess des selektiven Kodieren (oder „theoriebezogenen Kodierens“, Berg/Milmeister 2008) dient der Integration der Kodierarbeit in ein theoretisches Konzept, indem Kernkategorien und ihre Beziehungen zueinander derart systematisiert werden, dass eine „story line“ oder die „Phänomenstruktur“ (vgl. Keller 2011) erkennbar werden. Dieses datenbasierte „Erzählen der eigenen Geschichte“ (Berg/Milmeister 2008) führt zu der eigentlichen Generierung der Grounded Theory, der gegenstandsbasierten Theorie. Die Situationsanalyse ist, wie oben dargelegt, eine Ergänzung zu den Verfahren der Grounded Theory Methodologie. Sie greift die Kodierprozesse und das Kodierparadigma der GTM auf und richtet sich gezielt auf diskursive Daten als Untersuchungsgegenstand. Sie eröffnet damit ein fundiertes Theorie-Methoden-Paket, das die wissenssoziologische Diskursforschung gerade auch im Hinblick auf methodische Anregungen ergänzen kann: Denn ein zentrales Element der Situa-
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tionsanalyse, durch das die gängigen Kodierverfahren ergänzt und erweitert werden, stellt das mapping von Daten dar. Die Kartographierungen beziehen sich zumeist auf bereits kodierte Daten, können aber auch in früheren Stadien der Datenerhebung und Datensortierung bzw. im Prozess des theoretischen Samplings zur Anwendung kommen. So kann es sinnvoll sein, die Kartographierungen analog zu den Memotechniken der GTM während des gesamten Forschungsverlaufes anzufertigen und die Unterschiede in der Gestaltung bewusst zu problematisieren bzw. systematisch zu reflektieren.
3.4 M APPINGSTRATEGIEN Letztendlich ist es das Ziel einer Grounded-Theory-Studie eine gegenstandsbezogene Theorie zu produzieren, deren Inhalte im breiteren Kontext gesellschaftstheoretischer Fragestellungen diskutiert werden soll. Im Forschungsprozess ist davon auszugehen, dass sich bestimmte Vorannahmen einerseits aus den eigenen empirischen Vorarbeiten und andererseits aus der bewussten und unbewussten Rezeption öffentlicher und wissenschaftlicher Diskurse speisen. Auf der Grundlage dieser Vorannahmen werden erste Arbeitshypothesen gebildet, die wiederum die Auswahl der ersten Diskursfragmente bzw. Texte anleiten. Dieser Arbeitsschritt kann als „Sondierungsphase“ (Diaz-Bone 2006: 258) bezeichnet werden. Durch die Rezeption und Interpretation der ersten Texte und durch die ersten methodisch kontrollierten Arbeitsschritte (offenes Kodieren) werden die vorformulierten Hypothesen geschärft oder überworfen. In der Phase der „Oberflächenanalyse“ (ebd.) erschließt sich der Diskurs mit seinen unterschiedlichen Strängen, Deutungsmustern, Argumentationslinien und Akteurspositionen. Hier werden erste theoretische Annahmen über den Gegenstand formuliert, die wiederum den Prozess der folgenden Datenauswahl maßgeblich beeinflussen. Selbst Daten, die zu Anfang bereits gesichtet und bearbeitet wurden, müssen unter Umständen erneut gesichtet werden. Es hat sich darüber hinaus als hilfreich erwiesen, die unterschiedliche Kodierung und Interpretation der Daten, die im Verlauf des Forschungsprozesses entstehen, zu problematisieren und zu fragen: Welche (Vor-) Annahmen haben dazu geführt, die Sachlage X oder die Aussage Y derart zu kategorisieren, zu kodieren und zu deuten, welche neuen Erkenntnisse haben eine Neudeutung oder andere Lesart inspiriert? Denn, so formulieren Strauss und Corbin: „Zunächst muss sich der Forscher [die Forscherin] Gedanken machen – vorzugsweise sollte er [sie] in die Daten eingetaucht sein und viel über das untersuchte Gebiet wissen.
60 | MEDIZIN ZW ISCHEN M ARKT UND M ORAL Gleichzeitig muss er [sie] über einige Besonderheiten der Daten oder über ihre Interpretation verwirrt sein, so dass Fragen aufgeworfen und Antworten gesucht werden. Besonders muss der Forscher [die Forscherin] (...) den charakteristischen Eigenschaften seiner [ihrer] Arbeit entfliehen, die sonst die neue Sichtweise blockieren könnte.“ (Strauss/Corbin 1996: 13)
Indem der eigene Erkenntnisprozess methodisch hinterfragt wird, lässt sich schließlich auch der Zustand der empirischen „Sättigung“ feststellen, wenn bei der weitergehender Beschäftigung mit den Daten keine neuen Lesarten oder Erkenntnisse hinzukommen. Die eigentliche Theoriebildung sollte dann als Produkt der Feinanalyse hervorgehen – es gilt also in vieler Hinsicht: „In many ways doing the research is (re)doing the design“ (Clarke 2005: 186). Es ist das Ziel einer Situationsanalyse, die Forschungsstrategien der GTM an die stetig wachsende Heterogenität von Lebenswirklichkeiten in postmodernen Gesellschaften anzupassen. Die diskurstheoretische Öffnung soll im Zusammenhang mit den Kartographierungs- oder Mapping-Techniken helfen, die vielfältigen Verknüpfungen und Bezüge, die sich im Feld ergeben, in den Griff zu bekommen. Dabei dient die Strategie der Kartographierung zunächst der Visualisierung und damit einer Verbesserung des Verständnisses komplexer Situationen des Forschungsfeldes quasi "auf den ersten Blick". Dies hat gegenüber der reinen Nacherzählung der Forschungsergebnisse den Vorteil, dass zahlreiche Querverbindungen und Interdependenzen intuitiv ersichtlich werden. Dabei sind die Karten, die im Forschungsprozess erstellt werden, sowohl als Heuristiken zu verstehen, die im Forschungsprozess entstehen und ihn gleichsam anleiten, als auch als Dokumentierungen des Forschungsverlaufs sowie als Darstellung der Ergebnisse. Clarke (2005: 83ff.) unterscheidet also vier unterschiedliche Strategien der Kartographierung: 1) Situational maps (im Folgenden: „Situationsmaps“) Situationsmaps stellen den situativen Gesamtzusammenhang des zu untersuchenden Phänomens dar. Die Situationsmaps visualisieren die zentralen menschlichen, nicht-menschlichen und diskursiven Elemente der Situation, um die Beziehungen, die zwischen ihnen bestehen, zusammenzufassen und zu analysieren. In einem ersten Schritt wird eine abstrakte Arbeitsfassung erstellt, die alle Elemente enthält, die der Forscher als Teil des Untersuchungsfeldes sieht, oder die von den Akteuren im Diskurs artikuliert werden. Im Folgenden ein Beispiel für eine abstrahierte, ungeordnete Situationsmap:
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Abbildung 3: Abstrahierte ungeordnete Situationsmap (adaptiert nach Clarke 2005)
So eine ungeordnete Situationsmap kann nun selber als Datum verwendet werden, indem sie in eine geordnete Version überführt wird, in der den Elementen Kategorien zugewiesen werden. Die Kategorienfindung kann dabei analog zum Kodierprozess verlaufen. Die gezeigte Situations-Map soll dabei nicht alle Elemente, die in der Situation vorzufinden sind, exakt abbilden. Vielmehr sollten immer wieder verschiedene Arbeitsfassungen im Verlauf des Projekts angefertigt werden, die sich durchaus fortlaufend verändern können – diesen Veränderungsprozess gilt es systematisch nachzuvollziehen (etwa über Memos). In einem zweiten Schritt wird – analog zum Prozess der Kodierung und Kategorienbildung – versucht, die Elemente typisierend zu ordnen und sie bestimmten Sinneinheiten zuzuführen:
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Abbildung 4: Abstrahierte geordnete Situations-Map (adaptiert nach Clarke 2005)
Im Prozess der Überführung in die geordnete Version können durchaus Elemente wieder hinzugefügt, die zuvor entweder übersehen, als nicht-relevant eingestuft oder auch weggelassen wurden, wenn diese im Ordnungsprozess als redundant erschienen (vgl. Abbildung 4). Auch hier gilt: Die Strategie der Kartographierung ist eine Technik, den eigenen Denk- und Deutungsprozess sichtbar und nachvollziehbar zu machen; zunächst für sich selbst und später, wenn es um die Ergebnisdarstellung geht, auch für andere. Dabei zeigt sich im Prozess der Analyse auch, ob die Auswertung bereits einen bestimmten Grad der Sättigung erreicht hat. In der geordneten Situationsmap sind die Kategorien im Vergleich zur ungeordneten Fassung durch die fortschreitende Datensichtung bereits angereichert. Es werden mehr Akteure, Arenen oder Diskurse aufgeführt, die eine Rolle in der Situation spielen. Mit der fortschreitenden Analyse werden diese Zusammenstellungen von relevanten Elementen zunehmend komplexer, bis eine theoretische Sättigung einsetzt und weder neue Kategorien noch Elemente hinzukommen.
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2) Social worlds/arenas maps (im Folgenden: „Maps von Sozialen Welten/ Arenen“) Maps von Sozialen Welten/Arenen dienen der Kartographierung kollektiver Akteure, Beziehungen, Verbindlichkeiten und Handlungsfeldern bzw. der diskursiven Arenen, in denen diese in Aushandlungsprozesse treten. Abbildung 5: Maps von Sozialen Welten/Arenen (adaptiert nach: Clarke 2005).
Die Maps von Sozialen Welten/Arenen beschreiben Orte sozialen Handelns auf der Meso-Ebene: „Dies ist keine aggregierte Ebene von Individuen, sondern der Ort, wo Individuen wieder und wieder zu sozialen Wesen werden – durch Akte der Verpflichtung („commitment“) gegenüber sozialen Welten sowie ihre Teilnahme an Aktivitäten dieser Welten, indem sie Diskurse produzieren und zugleich durch Diskurse konstituiert werden.“ (Clarke 2012: 148)
Die Unterscheidung von sozialen Welten und sozialen Arenen liegen nicht nur im Umfang, sondern auch im Grad der Konsistenz. Es gibt viele soziale Welten, wie etwa die der Ärzte, der Krankenschwestern, oder, mit anderem Fokus, die des Krankhauspersonals, oder die Pharmaindustrie, die Versicherungen usw. Diese Kollektive nehmen gemeinsam an einem Diskurs im Rahmen einer (oder verschiedener) sozialer Arenen statt. Das Gesundheitswesen ist so eine (Diskurs-) Arena, die durch Teilhabe einer Vielzahl sozialer Welten hergestellt wird. Die
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Erstellung einer Map, die einen derart weiten Fokus einnimmt, beschreibt Clarke folgendermaßen: „One enters into the situation of interest and tries to make collective sociological sense out of it, starting with the questions: What are patterns of collective commitment and what are the salient social worlds operating here? The analyst needs to elucidate which social worlds and subworlds or segments come together in a particular arena and why. What are their perspectives and what do they hope to achieve through their collective action? What older and newer/emergent nonhuman technologies and other nonhuman actants are characteristic of each world? What are their properties? What constraints, opportunities, and resources do they provide in that world.” (Clarke 2005: 110)
Zur Anfertigung solcher Maps muss festgestellt werden, welche Subwelten Bestandteil welcher Arenen sind, welche Agenda ihre Mitglieder (als Repräsentanten) verfolgen, und welche Orte für die Analyse besonders wichtig erscheinen. 3) Positional maps (im Folgenden: „Positions-Maps“) Positions-Maps dienen der Dimensionalisierung unterschiedlicher Positionen im Diskurs in Bezug auf bestimmte Fragestellungen oder thematische Ereignisse. Dabei wird zunächst versucht, unterschiedliche Positionen auf zwei Achsen zueinander in Beziehung zu setzen. Dabei entstehen auch Visualisierungen von fehlenden Positionen, die gesondert zum Gegenstand der Überlegungen gemacht werden können. Clarke folgend (Clarke 2005: 135 ff.) sollten zu allen wichtigen Daten und Zusammenhängen Positions-Maps angefertigt werden, bis eine theoretische Sättigung eintritt, das heißt bis keine neuen Erkenntnisse oder Aussagen mehr produziert werden können. Auch hier gilt wieder, dass im Forschungsprozess viel mehr Positions-Maps erstellt werden, als hinterher tatsächlich in das finale Ergebnis der Studie einfließen. Wiederum ist die Kartographierung als Denk- und Analyseprozess zu verstehen, dessen Ergebnisse später gezielt visualisiert oder verschriftlicht werden können.
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Abbildung 6: Positions-Map (eigene Darstellung, vgl. Kapitel 5.4.2)
4) Projekt-Maps Als vierte kartographische Darstellungsform, und als Ergänzung zu den bereits besprochenen drei Arten von maps, die als analytische Werkzeuge dienen, schlägt Clarke (2005: 136 ff.) die Anfertigung von Projekt-Maps vor, die der Projektdarstellung dienen. Sie können ebenso für die Ergebnisdarstellung, für die Darstellung bestimmter Teilaspekte, oder wie in unten stehendem Beispiel für die Visualisierung des Forschungsdesigns und damit zur Präzisierung des Argumentationsganges herangezogen werden. Wie in Abbildung 7 veranschaulicht habe ich die Studie zur besseren Übersicht in zwei zentrale Teilaspekte gegliedert, den Bedingungskontext und den Aushandlungskontext, die separat dargestellt werden sollen. Auf der linken Seite der Darstellung in Abbildung 7 auf der folgenden Seite finden sich die historischen und strukturellen Bedingungen abgebildet, durch die der Diskurs situiert ist. Diese werden in Kapitel 4 ausgeführt. Auf der rechten Seite ist die diskursive Sphäre abgebildet, die in Kapitel 5 zur Darstellung kommt.
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Abbildung 7: Projekt-Map
3.5 B EDINGUNGSKONTEXT Die oben vorgenommene Unterscheidung zwischen strukturellem Kontext (Bedingungskontext) und Aushandlungskontext ist eine analytische Unterscheidung, die vor allem der Gliederung der Arbeit bzw. der „Zergliederung“ des Untersuchungsgegenstandes dient, um diesen darstellbar zu machen. Es handelt sich dabei nicht um eine empirische Unterscheidung. Tatsächlich sind die strukturellen Bedingungen nicht vom Aushandlungskontext zu trennen, sondern eng mit diesen verknüpft. In Rahmen der Situationsanalyse soll eine neue Herangehensweise an eine GTM-basierte Fallstudie ermöglicht werden. Dabei wird der Fallstudien-Charakter („Case-Study“) im Sinne der Herangehensweise einer „dichten Beschreibung“ (Geertz 2003) verstanden. In einer Situationsanalyse ist die Wechselwirkung bzw. das Ineinandergreifen von Diskurs und Faktizität von besonderer Relevanz. Wir erinnern uns: Clarke legt der Situationsanalyse folgendes Motto zu Grunde: „there is no such thing as context” (Clarke 2005: 71). Sie will die Kontextbedingungen mit der zu untersuchenden Situation als untrennbar verknüpft verstanden
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wissen, und ermutigt dazu, den Untersuchungsgegenstand entsprechend zu erweitern. Dennoch glaube ich, dass es schon aus forschungspragmatischen und analytischen Gründen sinnvoll sein kann, wenn man den Prozess der Verhandlung eines sozialen Problems von seinen konkreten Bedingungen und Auswirkungen trennt – wenn es auch nur der systematischen Erzählung einer kohärenten Geschichte dient. Das eigenartige Verhältnis von Diskurs und Faktizität besteht denn auch darin, dass Diskurse eine Verhandlungsebene darstellen, die wiederum andere soziale Tatsachen hervorbringt, etwa die einer normativen Infrastruktur, durch die soziale Praxen und Prozesse der Institutionalisierung ihrerseits angeleitet werden. Die als Dispositiv bezeichnete Ebene ist dabei als eine intermediäre Ebene zwischen Diskurs und sozialer Praxis zu verstehen und beschreibt den „institutionelle[n] Unterbau, das Gesamt der materiellen, handlungspraktischen, personellen, kognitiven und normativen Infrastruktur der Produktion des Diskurses“ (Keller 2008a: 258). Wie bilden sich also die hier beschriebenen Diskurse in Faktizität ab, welche gegebenen Zusammenhänge bestehen zwischen Diskurs und Faktizität? Keller etwa schlägt vor, „sozialen Wandel als soziokulturellen Transformationsprozess zu begreifen, der durch Diskurse vermittelt wird.“ (Ebd.: 279). Folgender Zusammenhang kann als Beispiel dienen: technische Innovationen und die damit verzahnte Bedürfnis-Kosten-Spirale rufen konkrete Ressourcenprobleme hervor, die in der „normativen Kraft des Faktischen“ (Jellinek) die diskursive Aushandlung einer normativen Ordnung erst bedingen. In den sozialen Praxisfeldern werden demnach die Diskursanlässe geschaffen, wenn es beispielsweise zu einer Kollision von bestehenden (mehr oder weniger verbindlichen) Normen und der alltäglichen Praxis kommt. Diskurse und ihre Bedingungen bringen sich demnach wechselseitig hervor. Die Situationsanalyse strebt eine Darstellung der Verschränkung oder Interdependenz von Aushandlungskontext und strukturellem Kontext (bzw. in der Theoriesprache der GTM: der Bedingungsmatrix) an. Im Sinne einer Situationsanalyse verdichten sich diese in der zu analysierenden Situation. Das heißt konkret, dass über die Analyse der erhobenen Daten, zunächst eine Vielzahl der in der Situation vorkommenden Elemente, eruiert werden. Dann können beispielsweise über Interviews einzelne Aspekte vertiefend untersucht werden (in diesem Fall in Experteninterviews mit Ärzten), um in einem dritten Schritt herauszuarbeiten, wie in den Daten auf welche strukturellen Faktoren und Bedingungen verwiesen wird. Diese Interdependenz von strukturellem Kontext und Aushandlungskontext
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spiegelt die zentrale (theoretische) Differenzierung des Sozialen in seine Strukturierungsebene und seine Prozesshaftigkeit wieder. Dabei stellt die Diskursebene bereits eine intermediäre Vermittlungsebene dar, deren Inhalte – wie könnte es anders sein – in einem historischen und strukturellen Bedingungskontext stehen. Ein weiteres Beispiel: was wir empirisch und theoretisch als Medikalisierungsdynamiken beschreiben können, ist Bestandteil der zu untersuchenden „Situation“ der Kommerzialisierung medizinischer Handlungsfelder. Die Ausweitung medizinischer Angebote, ist gleichsam Voraussetzung der Verhandlung der normativen Ordnung der Medizin. Das professionelle Wissen, die professionelle Ethik, ärztliche Rollenbilder, aber auch die technisch-materiale Infrastruktur und die standesrechtlichen Normen sind Bestandteil der Aushandlungsprozesse. Es sind die Ressourcen, die den Diskurs hervorbringen und dabei selber durch den Diskurs als Aushandlungsebene hervorgebracht, erhalten und abgeändert werden. Es ist ein Ziel einer Diskursanalyse, diese empirisch vollständig miteinander verwobenen Ebenen der strukturellen Bedingungen und der Aushandlungsprozesse als Strukturierungsprozesse („doing structure“) zu begreifen. Deswegen ist das Credo „doing the research is doing the design“ als Anspruch durchaus ernst zu nehmen. Die Analyse der erhobenen „natürlichen“ diskursiven Daten sowie der erhobenen Interviews ist demnach nur ein Teil der Analyse, die Aufarbeitung und Darstellung des strukturellen Kontextes bzw. der Bedingungsmatrix, auf den im Diskurs ständig verwiesen wird, der andere Teil. Als Bedingungskontext bezeichne ich also die kontextuellen Bedingungen des Problemfeldes und der Aushandlungsprozesse, die zwar Teil der Situation sind, aber eine andere Untersuchungsebene derselben darstellen. Daher stelle ich Kapitel 4 zum besseren Verständnis zunächst die historischen Bedingungen der Professionalisierung und Entwicklung der modernen Medizin sowie die Struktur und den Wandel des Gesundheitswesens dar und verorte diese Entwicklungen in einem medikalisierungstheoretischen Rahmen. Dazu zeichne ich die Medikalisierung der Gesellschaft anhand eines analytischen Dreischritts nach: Etablierung-Expansion-Entgrenzung. Vor dem Hintergrund einer wissenssoziologischen Perspektive dient diese Gliederung einer theoretischen Zusammenführung unterschiedlicher koexistierender Ansätze der Medikalisierungsforschung. Im Anschluss gilt es, die strukturellen Bedingungen des Gesundheitswesens nachzuzeichnen, auf die Bedeutung der Arzt-Patient-Beziehung einzugehen und auf die zentralen Reformen und Krisen jüngerer Zeit hinzuweisen, die als Kontextbedingungen des normativen Umbaus des Arztberufes angeführt werden. Mit dem Aushandlungskontext (Kapitel 5) sind schließlich die diskursiven Aus-
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einandersetzungen in den berufspolitischen Arenen gemeint. Daher erfolgt in Kapitel 5 eine systematische Analyse des intraprofessionellen berufspolitischen Diskurses, in dessen Arena die Selbstthematisierung des ärztlichen Berufsstandes stattfindet. Die Darstellung in Kapitel 5 basiert auf einer Analyse der erhobenen Dokumente durch eine Bearbeitung offenen Kodierens. In einem zweiten Schritt wurde das Forschungsdesign durch Kartographierungstechniken präzisiert und es wurden zentrale Elemente identifiziert, die wiederum die weitere Auswahl von Dokumenten sowie die Auswahl von Interviewpartnern angeleitet haben. Zur Feinanalyse wurden gezielt solche Texte, Textpassagen und Aussagen herangezogen, die als besonders typisch für den Diskurs oder eine bestimmte Position gelten konnten. Die derart kodierten Daten wurden wiederum in Situations- und Positions-Maps überführt. Die durch diesen Prozess generierten Erkenntnisse wurden jeweils in Memos festgehalten und abschließend zur Erstellung der Phänomenstruktur des Diskurses und der Ergebnisniederschrift herangezogen. Die Inhalte der Diskurse wurden in der Darstellung um zahlreiche Kontextinformationen (historische Abläufe, Studien, Stellungnahmen, rechtliche Dimensionen) ergänzt, um die Inhalte in einen kohärenten Rahmen zu bringen.
4
Vergesellschaftung der Medizin – Medikalisierung der Gesellschaft
Im Folgenden werde ich einige zentrale historische, theoretische und strukturelle Kontextbedingungen des Kommerzialisierungsdiskurses ausarbeiten. Dazu stelle ich die historischen Bedingungen der Professionalisierung und Entwicklung der modernen Medizin sowie die Struktur und den Wandel des Gesundheitswesens dar und verorte diese Entwicklungen in einem medikalisierungstheoretischen Rahmen. Ziel des Kapitels ist die Darstellung der gesellschaftlichen Bedeutung der Medizin im Allgemeinen und des modernen Gesundheitswesens im Speziellen. Zunächst werden die sozial-historischen Aspekte der Medizin kursorisch dargestellt. Dabei werde ich zuerst einige Entwicklungen auf dem Weg zur modernen Medizin schildern, die auf die Bedeutsamkeit der Unterscheidung von Krankheit und Gesundheit hinführen (4.1). Daraufhin werde ich im Kapitel „Medizin als Profession“ (4.2) verschiedene konstitutive Elemente des Arztberufes zusammenzufassen. Dazu werden zunächst professionstheoretische Modelle der Soziologie diskutiert (4.2.1) und im Weiteren kurz die Bedeutung der ärztlichen Berufsethik (4.2.2) und die verschiedenen Formen der Arzt-Patient-Beziehung erörtert (4.2.3). Daraufhin stelle ich die Frage, ob die zunehmende Klientenautonomie die Profession vor neue Probleme stellt. Im Anschluss werde ich theoretische Modelle der Medikalisierung der Gesellschaft diskutieren. Ich unterscheide dazu historisch in die drei Phasen der Etablierung, der Expansion und der Entgrenzung der Medizin (4.3). Abschließend werde ich unter dem Aspekt „Von der Grundversorgung zur Service-Medizin“ (4.4).auf die spezifische Form des deutschen Gesundheitswesens eingehen und die Bedeutung und neuere Dimensionen der Selbstzahlermedizin skizzieren, die den faktischen Kontext des Diskurses bilden, der in Kapitel 5 analysiert wird.
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4.1 V ORMODERNE MEDIZIN
ALS
W EGBEREITER
Zwischen Gesundheit und Krankheit haben nie eindeutige Grenzen bestanden, vielmehr müssen Gesundheit und Krankheit als „relationale Begriffe im soziokulturellen Gefüge“ (Lanzerath 2008: 206) verstanden werden. Medizin und Gesellschaft stehen in einem sich gegenseitig bestimmenden Wechselverhältnis und die Begriffe Gesundheit/Krankheit sind abhängig von historisch-kulturellen und sozialen Veränderungen. Versuche der Unterscheidung von Krankheit und Gesundheit waren entsprechend Gegenstand zahlreicher theoretischer Erörterungen.1 Schließlich beruht jegliche medizinische Betätigung auf teilweise latenten, teilweise manifesten Konzepten, die auf diese Begriffe Bezug nehmen, um den legitimen Gegenstand medizinischer Praxis zu bestimmen. Möchte man verstehen, welchen Stellenwert die Medizin in der modernen westlichen Gesellschaft hat und welche Bedeutung dabei der Unterscheidung krank/gesund in der moderne Medizin beigemessen wird, ist es wertvoll, den Blick zunächst zurückzuwenden und der Diskussion um die gegenwärtige medizinische Landschaft eine kurze Entwicklungsgeschichte der Medizin voranzustellen. In der Rückschau wird deutlich, dass sich die Medizin stets an der „Nahtstelle zwischen den Naturund Gesellschaftswissenschaften“ (Regus 1975: 30) bewegt hat, denn sowohl soziale, als auch natürliche (biologische) Faktoren beeinflussen das Spannungsfeld von Gesundheit und Krankheit. So ist die Ausübung des Heilerberufes zu jeder Zeit mit der kulturellen Umgebung verwoben. Die verschiedensten Rituale magisch-religiöser Zuschnitts oder die Verwendung von bestimmten Therapeutika sind gesellschaftsspezifisch in den jeweiligen kulturellen Kontext eingebunden. Basaglia (1985: 163) beschreibt für die frühe Heilkunde die häufig vorgenommene Gleichsetzung von Medizin und Religion, die vor allem in der Verflechtung der Rollen von Priester und Arzt in Erscheinung tritt. Durch das Ausüben der für die Menschen verständlichen Rituale und Praktiken erscheint es möglich, das Schicksal Krankheit zu beeinflussen. Religiös-ethische Richtlinien sind neben Effekten der gesellschaftlichen Integration oft auch im Sinne der Hygiene funktional. Die Religion übt somit als erste medizinische Instanz auch eine prophylaktische Funktion aus (ebd.: 164), wobei die individuelle Sorge um den Leib in einem spirituell ausgerichteten Sinnzusammenhang verbleibt. Kennzeichnend für solche Medizin-Konzepte ist die Bewertung von Krankheit als übernatürliche Strafe für Regelverletzungen des Erkrankten im sozialen oder religiösen Bereich (Eckart 1998: 10).
1
Siehe u.a.: Paul (2006); Franke (2006); Schäfer et al. (2008); Hucklenbroich (2011)
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Die Medizin früher Hochkulturen lässt dann erste Überschneidungen empirischrationaler und magisch-religiöser Krankheitsbegründungen erkennen (Steinebrunner 1987: 170). Der Wandel vom Mythos zum Logos, vom Mythischen zum Rationalen, fußt auf Grundlagen, die in der griechischen Antike geschaffen werden. Auch dort bestehen zwar magisch-religiöse Elemente zunächst weiter: Die Epoche der Theurgischen Medizin ist von der Annahme geprägt, dass Gesundheit und Krankheit göttlichem, oder zumindest übernatürlichem Einfluss unterliegen. Doch die medizinischen Praktiken werden von Priesterärzten durchgeführt, deren Therapiemaßnahmen sich an einer systematisierten Empirie orientieren, wobei der Bezugsrahmen im Religiösen verbleibt (Eckart 1998: 50). In der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts v. Chr. entsteht vor dem Hintergrund von Naturstofflehre und Naturphilosophie die Medizinschule des Hippokrates. Hippokrates ist kein Priester, sondern Wanderarzt, Philosoph und Gelehrter, der die Kunst des Heilens aus dem religiös-mythischen Paradigma zumindest teilweise herauslöst und naturphilosophischen Kategorien zuordnet (Steinebrunner 1987: 196). Erst die hippokratische Heilmethode legt großen Wert auf die Beobachtung und Beschreibung der Krankheit. Sie geht aber auch davon aus, dass die Natur von sich aus heile und der Arzt nur unterstützend eingreifen sollte, ohne der Natur „ins Handwerk zu pfuschen“ (Freidson 1979: 14 ff.). Die bis in die Neuzeit angewandte Lehre der Humoralpathologie, die Lehre der Körpersäfte (Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle), steht im Zentrum des hippokratischen Lehrbildes und nimmt an, dass Persönlichkeit, Verhalten und auch Krankheit auf unterschiedliche Mischungen dieser vier Säfte zurückzuführen sind. Ich hole hier auch deswegen so weit aus, weil die Humoralpathologie ebenso wie auch andere Ansätze der zentralen Schlüsselfiguren der Medizingeschichte (wie etwa Hippokrates und später Aristoteles und Galen) die Medizin bis ins christlich geprägte Zeitalter der Renaissance dominieren. Die seit dem frühen Mittelalter auch in der Medizin vorherrschende christliche Lehre interpretiert Krankheit als eine Folge sündhaften Verhaltens, während Gesundheit eher als ein Nebenprodukt des frommen Lebens erscheint (vgl. Labisch 1992: 42). Auf das „Gottesgeschenk“ der Gesundheit wird von außen von Ärzten eingewirkt, deren Handwerk bald auch an den Universitäten gelehrt wird. Die scholastischen Lehrmethoden sind für die weitere Entwicklung der Medizin jedoch kaum förderlich. Es gilt vornehmlich die alten Schriften antiker Autoritäten der dogmatischen christlichen Lehre gemäß zu interpretieren, wobei der Zweck der starr ausgeübten Lehre häufig nur der Verifikation grundlegender Werke und nicht dem Erkenntnisgewinn dient, wie dies in einer naturwissenschaftlich ausgerichteten Medizin der Fall wäre (Eckart 1998: 110). Erst in der Renaissance beginnen die starren
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klerikalen Strukturen in der europäischen Gesellschaft aufzubrechen und die naturwissenschaftliche Dimension der Medizin tritt immer stärker in den Vordergrund. Paracelsus etwa beginnt im 16. Jahrhundert Medizin als Wissenschaft und innerhalb eines neuartigen Bezugssystems zu deuten: Heilen wird von ihm, trotz esoterisch-religiöser Weltanschauung als ein naturwissenschaftlich angeleiteter Eingriff zur Wiederherstellung von Gesundheit betrachtet (vgl. Regus 1975: 31ff; Labisch 1992: 47), wobei die Gesundheit des Individuums nicht mehr nur in einem mystischen Zusammenhang steht, sondern insofern von außen beeinflusst werden kann, als gesundheitsgerechte Verhältnisse herrschen müssen. Auch greift Paracelsus die bis dahin gelehrte Medizin an, indem er stärker die gesundheitsbezogenen Interventionen der individuellen Patienten anstatt den Willen Gottes in den Mittelpunkt seiner Lehre stellt. Damit wird auch ein neuer Anspruch von Selbstverantwortlichkeit an den Patienten herangetragen. Individuelle gesundheitsgerechte Lebensweise und auch „Medizin, Arzt und Arznei“ (Labisch 1992: 47) liegen nun im Spektrum der einsetzbaren Mittel des Laien zum Zwecke des Gesundheitserhaltung. Paracelsus Heillehre kennzeichnet damit einen Übergang zwischen der scholastischen Medizin des Mittelalters und der empirisch ergründenden Medizin der Neuzeit (ebd.: 46). Seine Einführung spezifischer Heilmittel aus verschiedenen Mineralien und die damit einhergehende chemische Krankheitstheorie sind als Bausteine auf dem Weg zu einer zunehmenden Verwissenschaftlichung der Medizin zu verstehen. Die Herauslösung der Medizin aus der Sphäre religiöser Bezugsysteme ist Bestandteil des Konflikts zwischen Wissenschaften und Dogmatismus der Kirche und auch Teil eines gesamtgesellschaftlichen Umbruchs, in dem der Aufstieg des Bürgertums die alten feudalen Strukturen aufzubrechen beginnt (Regus 1975: 37). Ein zunehmend rationales Naturverständnis fördert ein Klima, in dem die Medizin ihr Selbstverständnis als Naturwissenschaft neu ausformuliert. Die zunehmende inhaltliche Distanzierung philosophischer Welt- und Menschenbilder vom scholastischen Denksystem hin zu einem mechanisch-deterministischen Weltbild ist für diesen Prozess von großer Bedeutung. Der mechanische Determinismus entspricht dem methodologischen Grundanliegen jeder wissenschaftlichen Erkenntnis, da er sich der Erforschung objektiver Kausalzusammenhänge widmet und übernatürliche oder nicht-materielle Ursachen ablehnt. Es gilt nun zunehmend: „die Natur kennenlernen, um sie zu beherrschen“ (Descartes) und „to know a thing means: what we can do with it“ (Hobbes). 2 Die Medizin übernimmt diese mechanistische Auffassung in Methode und Theorie, eine Auffassung, die das Menschenbild der (westlichen) Medizin bis heute entscheidend
2
Zitiert nach: Spaemann/Löw 1991: 353.
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prägt. Den Prozess von Entmystifizierung und Mechanisierung beschreibt treffend eine Aussage des französischen Arztes und Philosophen Julien Offray La Mettrie von 1775: „Ich täusche mich sicher nicht, der menschliche Körper ist eine Uhr […]“ (La Mettrie 1775/1969: 33). Die Zahl der akademisch gebildeten Ärzte nimmt in der frühen Neuzeit rapide zu und konkurrierende Heilkundige werden in gleichem Maße verdrängt (vgl. Stolberg 1998: 75). Im angehenden 19. Jahrhundert fördern viele neue wissenschaftliche Techniken und Erkenntnisse diese Entwicklung. Die Physiologie wird zusehends zum Fundament der modernen Medizin. Die Entdeckung der Zelle durch Schleiden im Jahr 1838 und die darauf folgende Anwendung der Zellenlehre auf die Anatomie beschert der Medizin schließlich eine weitere entscheidende empirische Grundlage, materielle Ursachen für Krankheiten annehmen zu können (Regus 1975: 39). Der Nachweis spezifischer mikrobiologischer Krankheitserreger durch Pasteur und Koch (um 1860), bringt einen weiteren Durchbruch für die akademische Medizin, da in der Folge viele Krankheiten bezwungen werden können (Freidson 1979: 16). Die bald folgende Ausdifferenzierung von medizinischen Fachdisziplinen, die zunehmende Trennung von medizinischem Forscher und behandelndem Arzt und die Entstehung von internationalen Fachgesellschaften ebnen den Weg zur Ärzteschaft als professionelle Berufsgruppe (Siegrist 1995: 208ff.). Dabei waren auch sozialpolitische Interessen für diesen Prozess von großer Bedeutung. Seit der Ausbreitung der Seuchen im späten Mittelalter sind sozialmedizinische Maßnahmen in der politischen Praxis unerlässlich geworden. Die notwendigen und immer präziser umgesetzten Hygiene- und Quarantänemaßnahmen verändern das Gesundheitssystem vor allem dahingehend, dass Gesundheit und Krankheit fortan nicht mehr nur Privatsache, sondern eine Angelegenheit des öffentlichen Lebens werden (Jütte 1991: 30). Auch stützen neue Erkenntnisse in der Bakteriologie die Praxis von Hygiene- und Reinlichkeitsnormen auf einer wissenschaftlichen Basis und damit auch nachhaltig deren moralische Dimension: Reinlichkeit fördert folglich „Sittenreinheit, Scham und Ehrgefühl – kurzum: die Fähigkeit, all seinen Pflichten als […] Bürger nachzukommen“ (Oesterlen 1851)3. Stete und allgemeine Gesundheit wird zu einem Wert, der immer mehr Bedeutung erlangt und sich spätestens mit dem Beginn und der Ausbreitung der
3
Zitiert nach: Labisch/Spree 1989: 22.
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der Industrialisierung4 zum sozialen Gut der Leistungsfähigkeit wandelt. Nicht mehr die Abwehr massenhafter Krankheit, sondern das Aufrechterhalten der allgemeinen Gesundheit, gewinnt aufgrund der zunehmenden industriellen Produktion an Bedeutung, weil diese auf möglichst gesunde Arbeitskräfte angewiesen ist (Labisch 1992: 143): „Gesundheit erweist sich damit […] als die angemessene Sinnwelt und Normologie individueller und kollektiver Körper in der Industriegesellschaft“ (Labisch/Spree 1989: 26). In der Medizin ist es die Physiologie, die eine nötige Beschreibung des „normalen“ Körpers liefert. Messbarkeit und wissenschaftlich angeleitete Diagnostik werden zur Grundvoraussetzung für das Entstehen der modernen Klinik (vgl. Foucault 2005). Waren Krankenhäuser bisher hauptsächlich Einrichtungen für eine Minderheit häuslich unversorgter Kranker oder Verletzter, also Orte der Caritas, entwickeln sie sich zu einer dominierenden Institution der Gesundheitspflege (Stolberg 1998: 75). In den Kliniken setzt sich eine stete Rationalisierung von Krankheit und Körper durch. Die Veränderung des ärztlichen Blicks beruht auch auf seiner Legitimierung durch das universitäre Studium und der Institutionalisierung der medizinischen Praxis in Form der Klinik. Der Mediziner ist nicht mehr nur Beobachter, sondern auch, wie Foucault schreibt, „Botaniker auf dem Felde des Pathologischen“ (ebd.: 103). Seine Möglichkeiten einzugreifen nehmen zu, während sein Forschungsfeld institutionell und räumlich im Rahmen der Klinik zunehmend eingegrenzt wird. Der Arzt „kann und muss die Farben, die Variationen, die kleinsten Anomalien erfassen, indem er ständig Abweichungen auflauert“ (ebd.). Standardisierungs- und Normierungsprozesse prägen das dichotome Verständnis von Krankheit und Gesundheit, welches in der ersten Moderne eine entscheidende Orientierungsfunktion übernimmt. Auch für die Genese und Durchsetzung der Sozial- und Krankenversicherungen im späten 19. Jahrhundert wird eine möglichst eindeutige Zuweisung der Zustände Krankheit und Gesundheit zunehmend an Bedeutung gewinnen. Die Grenzziehung von Krankheit und Gesundheit als trennscharfe Entweder/Oder-Unterscheidung, dient der Legitimation der medizinischen Diagnose und der Glaubwürdigkeit des Arztes ebenso wie auch der als rechtliche Grundlage und Orientierungspunkt für Finanzierungsfragen.
4
Diese Erläuterungen beziehen sich auf den allgemeinen sozialen Wandel den Europas heutige Industriestaaten durchlaufen haben, ohne auf länderspezifische historische Details einzugehen. Die beschriebenen Tendenzen gelten in vergleichbarem Maße für verschiedene Länder, auch wenn in Deutschland die Industrialisierung etwas später einsetzte als etwa in Großbritannien.
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Mit der Entstehung und Verbreitung der Krankenhäuser, der Verwissenschaftlichung der Medizin, ihrem sich herausbildenden Professionsstatus und der Allianz von Medizin und staatlichen Gesundheitssystemen im 19. Jahrhundert etabliert sich ein Monopol der Medizin in Fragen von Gesundheit und Krankheit. Die damit einhergehende medizinische Definitionshoheit hat zur professionellen Autonomie und dem hohen sozialen Status der Ärzteschaft beigetragen. Mit diesem in der Moderne einsetzenden Prozess der weitreichenden Medikalisierung der Gesellschaft, verändert sich auch die Arzt-Patient-Beziehung. Akademisch ausgebildete Ärzte waren lange in ökonomischer Hinsicht, das heißt in ihren Einkommensverhältnissen, von ihren Patienten, die in der Regel der Oberschicht angehörten, abhängig (Huerkamp 1985: 26). Potenziert wurde diese Abhängigkeit durch die recht überschaubaren Erfolge der medizinischen Wissenschaft, die sich kaum von konkurrierenden Angeboten anderer Heilkundiger abhoben. Gerade in therapeutischer Hinsicht hatten die Ärzte lange Zeit wenig mehr anzubieten als andere Gesundheitsdienstleister. Erst nach einigen wissenschaftlichen Durchbrüchen und einer Allianz oder „mesalliance“ (kritisch: Heim 1992: 5) von Staat und Medizin, durch die sich der Bereich medizinischer Deutungs- und Zugriffsmacht ausweitet und festigt, gelingt es der Medizin, die Konkurrenz der anderen Heilberufe erfolgreich zu verdrängen. Die zunehmende Verdrängung alternativer Heilangebote durch approbierte Mediziner im 19. Jahrhundert, aber auch die Binnendifferenzierung der Medizin und die zunehmende Verwissenschaftlichung ärztlicher und chirurgischer Praxis sind die Rahmenbedingungen eines prägnanten Wandels in der medizinischen Versorgungslandschaft der Neuzeit. Vor dem 19. Jahrhundert gab es daher weder einen ausgedehnten Markt für spezifische Dienstleistungen approbierter Mediziner, noch waren die Ärzte in der Lage, ihre berufliche Tätigkeit allein an professionellen Maßstäben auszurichten und autonom zu verwalten. Die wichtigsten Etappen auf dem Weg der Ärzteschaft zur etablierten Profession waren: 1) Das Kurierverbot für nicht approbierte Heiler 1851, wodurch die soziale Schließung des Marktes für Heiler vorangetrieben wurde und nicht-akademische Heiler ausgeschlossen wurden (Fangerau: 2007: 23). 2) Die Medikalisierung der Geburtshilfe und die „Zuweisung der Oberaufsicht über Hebammen an Ärzte“ (ebd.) im Jahr 1852. 3) Die Förderung professioneller Selbstkontrolle durch die Vereinheitlichung der ärztlichen Ausbildung und der Einführung des Physikums im Jahr 1861 (ebd.).
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4) Die Einführung der Gewerbeordnung im Jahr 1869, die einerseits die Berufsbezeichnung „Arzt“ rechtlich schützte, und anderseits die fachliche Selbstkontrolle der Ärzte initiierte. 5) Die Einführung eines allgemeinen Versicherungsgesetzes im Jahr 1883, durch das den akademischen Ärzten ein neuer, exklusiver Markt eröffnet wurde. Insbesondere die Verbreitung des Versicherungsprinzips hat die Nachfrage nach akademischen Ärzten enorm ausgedehnt. Ab 1883 gehörten etwa 10 Prozent der Bevölkerung den Versicherungen an, Anfang des 20. Jahrhunderts war es bereits fast die Hälfte der Bevölkerung (ebd.). Diese Entwicklung veränderte die soziale Zusammensetzung der durchschnittlichen Klientel eines Arztes grundlegend, womit sich auch die strukturelle Asymmetrie im Arzt-Patient-Verhältnis umkehrte. Die meisten Patienten waren nicht mehr wohlhabende Gönner des Arztes, sondern einfache Arbeiter, die sich den Anordnungen des Arztes zu fügen hatten. Die ärztliche Autorität war dabei durch strenge Sanktionsandrohungen der Krankenkassen abgesichert. Hinzu kamen der Status des Arztes als Angehöriger der Oberschicht sowie die durch die zunehmende Verwissenschaftlichung der Medizin immer größer werdende Wissenskluft zwischen Arzt und Patient. So institutionalisierte sich schrittweise ein paternalistisch geordnetes, asymmetrisches Arzt-Patient-Verhältnis. Das Verhältnis von Arzt und Patient ändert sich demnach grundlegend im Verlauf des 19. Jahrhundert. Es setzt eine zunehmende Hierarchisierung des Verhältnisses ein. Der sich in dieser Zeit entwickelnde autoritäre Paternalismus bestimmt bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die Figurationen im Gesundheitswesen. Im 19. Jahrhundert setzt ergänzend auch eine Verrechtlichung der Arzt-Patient-Beziehung ein. Dabei geht es vor allem um den ärztlichen Eingriff als (legitimierte) Körperverletzung und die Einwilligung bzw. das Widerstandsrecht des Patienten (Noack/Fangerau 2006: 83). Dabei war es anscheinend so, dass Eingriffe teilweise auch gegen den Willen des Patienten durchgeführt wurden (ebd.). Prinzipiell hat die Verrechtlichung aber zu einer Stärkung der Patientenautonomie geführt, das heißt, dass der Wille des Patienten zunehmend zum bestimmenden Prinzip in der Versorgung wurde, während zuvor die möglichst erfolgreiche Behandlung der Krankheit oder Verletzung höchste Priorität hatte. Nach den auch für die medizinische Profession einschneidenden Erlebnissen in der Zeit des Nationalsozialismus wurden in der neu gegründeten Bundesrepublik die Aufklärungspflicht der Ärzte und das Einwilligungsprinzip deutlich ausgeweitet und die „informierte Einwilligung“ (informed consent) wurde zum bestimmenden Prinzip in der Arzt-Patient-Beziehung.
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In den nun folgenden Abschnitten werden verschiedene Aspekte der Medizin als Profession dargestellt. Dazu gehören theoretische Dimensionen, ethische Ansprüche und schließlich verschiedene Modelle der Arzt-Patient-Beziehung, die aus den Bedingungen der Professionalität hervorgegangen sind.
4.2 MEDIZIN
ALS
P ROFESSION
Der oben beschriebene Weg der Ärzteschaft zur professionellen Berufsgruppe zeigt, wie bedeutsam die Interdependenz sozialpolitischer Erfordernisse, wissenschaftlicher Erkenntnisse und den Bestrebungen der Ärzteschaft gewesen ist, die zu einer strukturellen Etablierung einer wissenschaftlich fundierten und weitgehend selbst verwalteten Medizin geführt haben. Der medizinische Berufsstand wird nun weniger in seiner Selbstbeschreibung als aus soziologischer Perspektive zu den Professionen gezählt. Die Kategorisierung als Profession hat zunächst analytischen Charakter. Vor allem im englischen Sprachraum, in dem auch Professionstheorien einen höheren Stellenwert haben, ist etwa „medical professionalism“ zu einem schillernden Aspekt der gesellschaftlichen Selbstverortung der Berufsgruppe geworden. Auch in der deutschsprachigen (sozialwissenschaftlichen) Diskussion hat sich die Bezeichnung Profession etabliert, um eine bestimmte Sonderstellung hervorzuheben und Merkmale zu identifizieren, durch die sich die Ärzteschaft von anderen Berufen unterscheidet. 4.2.1 Professionstheoretische Aspekte Der Begriff „Profession“ leitet sich ursprünglich vom Wortstamm „profiteor“ ab. Der lateinische Begriff „profiteor“ verweist jedoch nicht auf den Profit (Wortstamm „profectus“), sondern – ganz im Gegenteil – auf das öffentliche Bekenntnis, das Gelübde, dem Allgemeinwohl zu dienen, welches die professionellen Berufsformen kennzeichnet. Die Ähnlichkeit der Begriffe „profiteor“ und „Profit“ ist eine sprachgeschichtlich bemerkenswerte Anekdote, bezeichnen beide Begriffe doch gerade die Pole des Spannungsverhältnisses in dem sich der Arztberuf stets zu befinden scheint, dessen Selbstverständnis ja gerade auf der Abgrenzung von „profanem“ gewinnorientiertem, unternehmerischem Handeln und wertorientiertem, professionellem Handeln beruht. Die medizinische Profession betont ungleich stärker als andere professionelle Berufe die Exklusion des Profitstrebens aus ihrem Handlungsbereich (vgl. Parsons 1951: 435), denn der Arztberuf gilt als ein Beruf, an den ganz besondere Handlungserwartungen geknüpft sind. Der tief in der Geschichte der ärztlichen
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Kunst verwurzelte Konflikt zwischen den normativen Rollenerwartungen, die an den Arzt gestellt werden, und dem individuellen Gewinnstreben, hat durch die Institutionalisierung der professionellen Berufsform in der Moderne nochmals eine Verschärfung erfahren. Parallel zur Entstehung der kapitalistischen Industriegesellschaft hat sich mit dem „professionellen Komplex“ (Parsons 1968b) eine berufliche Organisationsform herausgebildet, die sich – zumindest in ihrer Inszenierungspraxis – von rein kommerziellen Zielsetzungen abgrenzt. Die Professionen stellen ein spezifisch modernes Arrangement dar, das der dauerhaften Integration der freien wertorientierten Berufsformen dient, indem es den Angehörigen der Professionen weitläufige Privilegien zusichert und dafür ethisch-moralische Verhaltensregeln abverlangt. Aus professionssoziologischer Perspektive erscheint die Medizin (bzw. der ärztliche Berufsstand) als eine besondere, mit typischen Merkmalen ausgestattete Berufsgruppe. Als relevante Merkmale von Professionen gelten „das berufsbezogene, mithin ‚professionelle‘ – teilweise als ‚theoretisches‘ spezifizierte – Wissen, die eindeutige, meist formalrechtliche Definition des Tätigkeitsfeldes im Verbund mit einer Monopolisierung dieses Tätigkeitsfeldes auf Basis dieses Wissens, oftmals in seiner institutionalisierten Form (Bildungstitel), sowie die Herausbildung von Berufsverbänden zur Selbstverwaltung der Profession, ihrer typischen Wissensbestände und Praktiken der Berufsausübung und/oder eine (teils altruistisch verstandene) Gemeinwohlorientierung.“ (Pfadenhauer/Sander 2010: 362)
Jenseits der „trait theories“, die sich auf bestimmte Attribute konzentrieren, durch die Professionen sich von anderen Berufsgruppen abgrenzen lassen, stehen sich strukturtheoretische, machttheoretische und interaktionistische Ansätze in der Beschreibung von Professionen gegenüber. Die unterschiedlichen Positionen werde ich im Folgenden diskutieren. Eine Besonderheit der Professionen, auf die im Kontext der vorliegenden Arbeit in besonderem Maße hingewiesen wird, ist die wertorientierte Abkehr der professionellen Berufsgruppen vom kommerziell-unternehmerischen Handeln, zugunsten der Kollektivorientierung. Das hat Parsons bereits in einer frühen Diskussion der Medizin als einem Prototyp einer Profession festgestellt (Parsons 1939). Zunächst werde ich mich also der Diskussion der Professionen bei Parsons und im Strukturfunktionalismus widmen. Daraufhin werde ich die machttheoretische Perspektive, vor allem in der Position Eliott Freidsons beleuchten, die in kritischer Auseinandersetzung mit Parsons entstanden ist. Freidson Position weist deutliche Parallelen zu interaktionistischen Standpunkten auf, die sich vor allem
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auf die Betrachtung professionellen Handelns und die Aushandlung der professionellen Identität konzentrieren, welche zuletzt dargestellt werden. Schließlich werde ich mich der Position einer sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie annähern, aus deren Perspektive Professionalität als Inszenierungspraxis und kollektive Wissensordnung erscheint. Meiner Ansicht nach ist eine derartige wissenssoziologische Position innerhalb der Professionssoziologie bislang nur ungenügend ausgearbeitet. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die aus der interaktionistischen Perspektive entwickelte inszenierungstheoretische Perspektive, die davon ausgeht, dass professionelles Handeln im Kern auf „Kompetenzdarstellungskompetenz“ (vgl. Pfadenhauer 2003) beruht. Diesen Ansatz möchte ich erweitern, in dem ich ihn um wissenssoziologische und einige erste diskurstheoretische Überlegungen ergänze. Die diskursiven Inszenierungspraktiken der Profession können aus dieser Perspektive als Formen der kollektiven Selbstvergewisserung interpretiert werden. Die soziologische Auseinandersetzung mit Professionen als einer Sonderform der Berufe ist erst im Rahmen des strukturfunktionalistischen Theorieansatzes bei Talcott Parsons zu größerer Aufmerksamkeit gekommen. Als Ergebnis einer zunehmenden Ausdifferenzierung aus funktional diffuseren Handlungssystemen wie etwa Verwandtschaftsbeziehungen, ist die funktionale Spezifizität ein zentrales Element professioneller Orientierungsmuster und ein wesentliches institutionelles Merkmal moderner arbeitsteiliger Gesellschaften. Die strukturfunktionalistische Modernisierungstheorie sieht gesellschaftliche Modernisierungsprozesse durch die Dynamik der Rationalitätssteigerung gekennzeichnet. Die Entstehung der „modernen Wirtschaftsgesellschaft“ (Daheim 1992: 22) und der sich immer deutlicher abzeichnende Kontrast von Gewinnstreben auf tradionellen Gütermärkten einerseits und den eher gemeinwirtschaftlich orientierten „qualifizierten Dienstleistungen“ (ebd.) stellen den Kontext dar, in den die strukturfunktionalistische Untersuchung von Professionen eingebettet ist. Die Herausbildung von Professionen ist demnach als Bestandteil eines umfassenden Rationalisierungsprozesses zu verstehen, da die Professionen systematische Erkenntnisse über die Welt produzieren und in Anwendung bringen. Parsons merkt dazu an: „Es scheint keiner besonderen Betonung zu bedürfen, dass viele der wichtigsten Züge unserer Gesellschaft weitgehend von einem reibungslosen Funktionieren der akademischen Berufe [„professions“, Anmerkung FK] abhängig sind. Sowohl die Entwicklung, als auch
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Die Herausbildung des Professionalismus als direkte Folge moderner Rationalitätslogik macht die Professionalisierung bestimmter Berufe zu einer Grundvoraussetzung gesellschaftlicher Modernisierung: „Modernisierte Gesellschaften sind immer auch professionalisierte Gesellschaften“ (May/Holzinger 2003: 28). In strukturfunktionalistischer Perspektive gelten Professionen darüber hinaus als Treuhänder gesellschaftlicher Wertesysteme (Pfadenhauer 2003: 39) und leisten die integrative Funktion der Kontrolle abweichenden Verhaltens. Insbesondere Theologie, Recht und Medizin gelten als solche Instanzen der Normenkontrolle. Die Professionen stellen sich also zunächst als positiv funktionale Mechanismen dar. Parsons identifiziert die „Uneigennützigkeit“ als einen zentralen Aspekt professioneller Tätigkeiten, der (zumindest auf den ersten Blick) dem gewinnorientierten System der Wettbewerbswirtschaft diametral gegenüber steht. Die Rationalität der Professionen bestehe eben gerade nicht darin, der Förderung des Eigeninteresses zu dienen, sondern dem gesellschaftlichen Ganzen zu nützen (Parsons 1968b: 165). Professionen gelten mithin als gesellschaftliche Instanzen, deren Tätigkeit für zentrale Werte wie Gesundheit oder Gerechtigkeit eine besondere Bedeutung einnimmt. Ihre Aufgabe besteht weiterhin darin, adäquate Problemlösungskompetenzen bereitzustellen. Neben dem „esoterischen“ (Freidson 1975: XIV), akademischen Expertenwissen gilt die berufliche Autonomie als weiteres integrales Merkmal von Professionen. Schon aufgrund ihres hohen spezifischen Fachwissens können sie weder vom Staat noch vom Markt und schon gar nicht von der Klientel angemessen kontrolliert werden (vgl. Huerkamp 1985, Mieg 2005). Erst die berufliche Selbstkontrolle, etwa in Form von Berufsverbänden, funktioniert als begrenzender und regulierender Mechanismus. Die „kollegiale Binnenkontrolle“ (Pfadenhauer 2003: 40) und die aufs Engste damit verbundene Berufsethik stellen sicher, dass trotz des privilegierten Status der Professionen, diese ihre gesellschaftliche Position nicht zu ihrem Vorteil ausnutzen. Ganz im Gegenteil tragen die Professionen zur Stabilität sozialer Ordnung bei. Wie weiter oben bereits angesprochen, beinhaltet medizinische Praxis ein Set ein institutionalisierten Rollen – sowohl
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Die Formulierung „akademische Berufe“ ist auf die deutsche Übersetzung zurückzuführen. Parsons spricht im Original von „professions“. Die Übersetzung wird der Bedeutung des englischen Begriffes „profession“ allerdings nicht gerecht. Mittlerweile hat sich auch im deutschsprachigen Raum für freie akademische Berufe die Bezeichnung „Profession“ etabliert.
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auf Seiten des medizinischen Professionellen, als auch auf Seiten der Erkrankten. Die Professionalität des Arztes zeichnet sich neben der funktionalen Spezifität durch ihre Wertorientierung, Universalismus, affektive Neutralität und insbesondere die schon benannte Kollektivorientierung aus (Parsons 1951: 434). Das Besondere dieser Sozialbeziehung zwischen Arzt und Patient ist ihr Zuschnitt auf eine spezifische Problembearbeitung. An dieser Stelle setzt das strukturtheoretische Modell von Oevermann (1996) an. Nach Oevermann ist die zentrale Funktion von professioneller Tätigkeit die Krisenbewältigung. Krisenbewältigung bedeutet hier, dass Professionelle die Probleme ihrer Klienten stellvertretend bearbeiten. Oevermann identifiziert drei Felder professioneller Problembearbeitung: Die Aufrechterhaltung somato-psycho-sozialen Integrität („Therapie“ z.B. durch Ärzte), die Aufrechterhaltung von Recht und Gerechtigkeit (z.B. durch Juristen) und die Prüfung der Geltung von Normen- und Wissensfragen (durch Wissenschaft u.a.) (Mieg 2005: 345). Einen anderen Blick entwickelt das in kritischer Auseinandersetzung mit den funktionalistisch argumentierenden Professionstheorien formulierte machttheoretische Modell, das Professionalisierung als einen Prozess historischer Interessensauseinandersetzungen beschreibt, in dessen Verlauf sich die Professionen (erfolgreich) ihre berufliche Autonomie und die weitgehende Monopolstellung in ihrem jeweiligen Anwendungsfeld gesichert haben (Freidson 1979; Larson 1977). Die machttheoretische Perspektive betont, dass institutionalisierte Professionalität auch der dauerhaften Absicherung der erkämpften Monopol- und Statusansprüche dient. Darüber hinaus findet sich etwa bei Eliot Freidson (1979), dem prominentesten Vertreter des „power-approach“, der wichtige Hinweis darauf, dass mit der Monopolisierung und der professionellen Autonomie auch das Definitionsmonopol über den jeweiligen Problemgegenstand in den Händen der Professionen liegt. So befindet sich etwa die Definitionsmacht über Krankheit und Gesundheit (bis auf wenige Ausnahmen) im Bereich der akademischen Medizin. Dieses gesellschaftliche Mandat wird den Professionen aufgrund ihres Fachwissens zuerkannt und weist über die bloße formale Lizenz, das heißt die formale Berechtigung, die an eine langjährige Fachausbildung gekoppelt ist, hinaus (vgl. Pfadenhauer 2003). Der machttheoretische Ansatz setzt sich mit der historischen Bedingtheit der Legitimierung professioneller Machtgefüge auseinander und bestreitet gegenüber den funktionalistischen Ansätzen, dass Professionalismus in der Logik moderner Gesellschaften derart verankert ist, dass er als zwangsläufiges Produkt des Modernisierungsprozesses hervorgeht. Vielmehr werden die Rolle der sozialen Konstruktions- und Aushandlungsprozesse (etwa in Form berufspolitischer Strategien) und das Prozessieren von Professionalität betont (Pfadenhauer 2003: 52). Die Sonderstellung der Professionen, so Freidson
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liege darin, dass sie neben der Logik des Marktes und der Logik der Bürokratie/Verwaltung eine dritte Eigenlogik entwickelt haben. Die Logik der Professionen sei bislang nicht genügend berücksichtigt. Selbstorganisation und relative Autonomie gegenüber dem Markt und gegenüber staatlicher Steuerung bilden den Kern dieser dritten Logik: „The defining elements of the ideal type [of the third logic], the theoretical constants, a re, first, a body of knowledge and skill which is officially recognized as one based on abstract concepts and theories and requiring the exercise of considerable discretion; second, an occupationally controlled division of labor; third, an occupationally controlled labor market requiring training credentials for entry and career mobility; fourth, an occupationally controlled training program which produces those credentials, schooling that is associated with ‘higher learning’, segregated from the ordinary labor market, and provides opportunity for the development of new knowledge; and fifth, an ideology serving some transcendent value and asserting greater devotion to doing good work than to economic reward.” (Freidson 2001: 180)
Es lässt sich also erkennen, dass der machtheoretische Ansatz durchaus bestimmte „traits“ oder Merkmale einer Profession zur Definition zulässt und auch die Herausbildung einer Wertorientierung beschreibt – diese aber stärker historisch denn funktionalistisch versteht. Ferner besteht eine wissenschaftstheoretische wie inhaltliche Verwandtschaft des Macht-Ansatzes zu interaktionistischen Theoriepositionen, die in Bezug auf die Bedeutung von Professionalität ebenfalls die Aushandlungs- und Definitionsprozesse der beteiligten Akteure betonen. Die interaktionistische Analyse von Professionen nimmt ebenfalls konflikthafte Auseinandersetzung innerhalb der Profession in den Blick und entlarvt damit die unterschwellige Homogenitäts-Annahme funktionalistischer Professionstheorien. Die Kritik der interaktionistischen Perspektive bezieht sich auf die Blickrichtung des Funktionalismus, aus dessen Perspektive Professionen als homogene Gemeinschaften erscheinen, „deren Mitglieder eine gemeinsame Berufsidentität, gleiche Werte, Rollenvorstellungen und Interessen haben.“ (Bucher 1972: 182). Die interaktionistische Position interessiert sich für die hinter der scheinbaren Homogenität liegende Vielzahl von verschiedenen Interessen und Werten, die sich zu ganz neuen Strukturen zusammensetzen können und die von Vertretern der Profession oft sogar offen vertreten werden (ebd.). Zwar existieren durchaus übergeordnete „Orientierungsparadigma“ (Schütze 1992: 147), doch diese erweisen sich unter dem Einfluss sozialer und kultureller Wandlungsprozesse nicht unbedingt als dauerhaft stabil. Aus interaktionistischer Perspektive wird ebenso auf die Kontingenz der kollektiven Wertemuster der Profession verwiesen, wie auf
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deren Ausgestaltung durch soziale Akteure. So wird der bereits angesprochene Zentralwert der Gemeinwohlorientierung aus inszenierungstheoretischer Perspektive (vgl. Pfadenhauer 2004; Meuser 2004) als semantische Strategie der öffentlichen und professionsinternen Selbstdarstellung interpretiert. Die Gemeinwohlrethorik, wie auch andere auf die Wertorientierung der Profession bezogene Topoi, sind demnach sowohl Inszenierung nach außen, als auch Bestandteil der professionellen Binnenkontrolle, da sie Wertemuster reaktivieren und diese als symbolische Ressourcen im Diskurs aufrechterhalten. Aus der Perspektive einer pragmatistisch-interaktionistischen Wissenssoziologie kann Professionalität als eine performative Darstellung (und Inszenierung) kollektiv geteilten Wissens über Professionen und Erwartungen an Professionen verstanden werden, die symbolisch kommuniziert werden und die bestimmte Machtwirkungen haben, in dem sie etwa strategisch zur Legitimierung oder Durchsetzung bestimmter Interessen eingesetzt werden können. Professionalismus ist dann eine symbolische Ordnung, auf deren Wissensbestände zurückgegriffen werden kann. Die Prozessierung von professionellem Wissen bedeutet eben mehr als nur den Zugriff auf Expertenwissen und dessen praktische Anwendung. „Doing medicine“ bedeutet auf symbolisch vermittelte Wissensbestände Bezug zu nehmen, aus einem kollektiven Wissensvorrat zu schöpfen, der die zentrale Ressource im medizinischen Handeln ausmacht. Das „standing“ von Ärzten in der Gesellschaft, ihr Status, die Gesamtheit der Entstehungs- und Wirkzusammenhänge der Profession, allgemein: die Bedeutung der Medizin und der Ärzte sowohl extern als auch innerhalb der eigenen Profession, sind aus dieser Sichtweise zunächst Wissensbestände, auf die zurückgegriffen wird und die in der Handlung unterschiedlich prozessiert werden. Professionalität als symbolische Ressource zu verstehen, plausibilisiert auch den diskurstheoretischen Zuschnitt dieser Untersuchung. Dabei orientieren sich die kursierenden Vorstellungen von Professionalität freilich auch am „Dispositiv“ des Professionalitätsdiskurses, also an seiner „materiellen und ideellen Infrastruktur“ (Keller 2008a: 258), wie etwa berufsrechtlich bindenden Vorschriften. Gerade aber die weniger stark institutionalisierten Formen berufsethischer Maßstäbe, die als kollektiv geteilte Deutungsmuster Gestalt annehmen und nur vorübergehende Stabilität besitzen, werden von den beteiligten Akteuren als Positionen im Diskurs artikuliert und verbreitet. Ähnliches gilt dann auch für den Topos der Gemeinwohlorientierung, der sich aus medizinischen Moralvorstellungen und einem gesellschaftlichen Ärzteideal zusammensetzt.
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4.2.2 Ärztliche Moral und Berufsethik Ein anekdotischer Blick zurück: Im frühen 20. Jahrhundert beschreibt der französische Dichter Jules Romains in seinem satirischen Stück „Knock – oder der Triumph der Medizin“ (Romains 1922) einen Arzt, der an erster Stelle daran interessiert ist, seinen Reichtum zu mehren. Sein Grundsatz lautet: „Gesunde sind Menschen, die noch nicht wissen, dass sie krank sind“. Der umtriebige Dr. Knock nutzt die Autorität der Arztrolle und seinen scheinbaren Wissensvorsprung, um die ahnungslosen Bewohner eines französischen Dorfes in ein Heer von Kranken zu verwandeln und offensichtlich gut daran zu verdienen. Romains hat mit dieser Satire einen Argwohn gegenüber der Medizin formuliert, der auf das Spannungsverhältnis zwischen den von einem Arzt zu erwartenden Eigenschaften wie Gemeinwohlorientierung und Altruismus auf der einen Seite und seinen finanziellen Eigeninteressen auf der anderen Seite zielt – und damit auch auf die Professionalität des Mediziners. Bei genauerer Betrachtung muss der berüchtigte Dr. Knock jedoch eher als Prototyp eines Quacksalbers verstanden werden denn als der eines approbierten Mediziners: so deutet bei Romains doch alles darauf hin, dass Knock sich die akademischen Würden erschlichen hat und somit kein ordentlicher Vertreter seines Berufsstandes ist. Die Geschichte des Dr. Knock beschreibt damit in all seiner Deutlichkeit eine Abweichung von der zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits weitgehend zur Regel gewordenen institutionalisierten Professionalität akademischer Ärzte und der Norm, dass das Wohl des Patienten durch Profitinteressen in Gefahr ist. Der Arzt gilt dann als seriös, wenn er vertrauenswürdig ist und ein stabiles Berufsethos repräsentiert. Um derartige Verhaltenskodizes verbindlich zu machen, hat die moderne Medizin in langer Tradition eine komplexe Berufsethik herausgebildet, die sich schließlich auch in einigen zentralen Elementen in der Berufsordnung niedergeschlagen hat. Im klassischen Professionsverständnis verdichten sich verschiedene (zum Teil normativ übersteigerte) Vorstellungen und Erwartungen über die Ziele und Grenzen des Arztberufes. Zum einen werden in der Gesellschaft kursierende Normen und Handlungserwartungen an die Ärzte herangetragen, zum anderen bestehen innerhalb des Kollektivs der Ärzteschaft bestimmte, zum Teil institutionalisierte, zum Teil latente Verhaltensnormen und Grenzziehungen, die den Handlungsspielraum eines Arztes abstecken. Als allgemeine Ziele der Medizin gelten die Therapie und Prävention von Verletzung und Krankheit sowie die Förderung und Erhaltung der Gesundheit, die Linderung von durch Krankheit verursachte Schmerzen und Leiden und schließlich die Pflege und Heilung von Kranken und die Pflege von denen, die nicht mehr geheilt werden können. Ärzte müssen aber ihr Handeln nicht nur gegenüber der in der Profession vorherrschenden Normen
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rechtfertigen, sondern auch vor sich selbst und vor den betroffenen Patienten. Dabei bezieht sich ärztliche Ethik immer auf das Verhältnis von Handlungszielen, technischer Machbarkeit, Patientenwillen und moralischen Maßstäben. Die Charta zur ärztlichen Berufsethik, im Original „Medical Professionalism in the new Millenium: A Physician Charter“, die 2002 von mehreren amerikanischen und europäischen medizinischen Gesellschaften aufgesetzt wurde, stellt die moderne Fassung des hippokratischen Eides dar. Sie stellt dar, dass die ärztliche Professionalität die Basis für den Vertrag zwischen Medizin und Gesellschaft darstellt. Bereits in der Präambel wird darauf abgestellt, „dass die Interessen des Patienten über die des Arztes zu stellen sind“6. Als grundlegende Prinzipien ärztlichen Handelns wird 1.) das Primat des Patientenwohls genannt: „Dieses Prinzip basiert auf der grundsätzlichen Verpflichtung, den Interessen des Patienten zu dienen. Altruismus trägt zu dem Vertrauen bei, das im Mittelpunkt des Arzt-PatientenVerhältnisses steht. Ökonomische Interessen, gesellschaftlicher Druck und administrative Anforderungen dürfen dieses Prinzip nicht unterlaufen.“ (Ebd.)
2.) Außerdem wird auf das Selbstbestimmungsrecht des Patienten abgestellt: „Ärzte haben das Selbstbestimmungsrecht des Patienten grundsätzlich zu respektieren. Sie müssen ihren Patienten gegenüber aufrichtig sein und diese darin unterstützen, sich zu informieren und sachgerechte Entscheidungen über ihre Behandlungen zu fällen. Die Entscheidungen des Patienten über ihre Behandlungen sind oberstes Gebot, solange sie mit ethischen Prinzipien vereinbar und nicht mit unangemessenen Ansprüchen verbunden sind.“ (Ebd.)
3.) Wird das Prinzip sozialer Gerechtigkeit postuliert: „Die Ärzteschaft ist aufgerufen, Gerechtigkeit im Gesundheitswesen zu fördern. Dies schließt die faire Verteilung der zur Verfügung stehenden Mittel ein. Ärzte sollen sich aktiv daran beteiligen, Diskriminierungen im Gesundheitswesen auszumerzen. Dies bezieht sich auf die ethnische Herkunft, das Geschlecht, den Sozialstatus, die Religion oder auf jede andere gesellschaftliche Kategorie.“ (Ebd.)
6
Medical Professionalism Project. Medical Professionalism in the New Millennium: A Physician Charter. Ann Intern Med. 2002; 136: 243–246. Deutsche Fassung und Kommentierung: Charta zur ärztlichen Berufsethik. ZaeFQ 2003, 97: S. 76–79.
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Diese genuin ethischen Ansprüche an den Heilerberuf sind als weitgehend ahistorisch zu bezeichnen – zumindest wird an sie der Anspruch gestellt, dass sie allgemeingültige Prinzipien darstellen. Die von Beauchamp und Childress (1977/2008) formulierten und weitläufig gebräuchlichen medizinethischen Prinzipien des Nichtschadens-Prinzips, der Fürsorge, der Autonomie des Patienten und der Gleichheit, die sich auch der aktuellen Charta zur ärztlichen Berufsethik niedergeschlagen haben, sind zwar kulturhistorisch gewachsene ethische Prinzipien, die aber ihren Gültigkeitsanspruch unabhängig von ihrer sozialen Situiertheit stellen. Die moralischen Ansprüche hingegen, die sich im Diskurs ausdrücken, sind stärker situiert und können als soziale Übereinkünfte (unterschiedlichen Verbindlichkeitsgrades) verstanden werden, die sich durchaus an normativen „Moden“ ausrichten. Der medizinethische Anspruch des Nichtschadens-Prinzips ist zwar allgemeingültig, aber unter Bezug auf diesen Anspruch kann etwa ein Eingriff der ästhetisch-plastischen Chirurgie als unmoralisch bewertet werden oder aber als legitime soziale Praxis. Warum und in welchem Maße dies jeweils geschieht, hängt dann stark von der situativen (historischen und konkreten) Einbettung des zu bewertenden medizinischen Eingriffs ab. Dabei wird dann abgefragt, wer hat wann und unter welchen Voraussetzungen welche Maßnahme nachgefragt? So lassen sich Eingriffe, die anscheinend einem Prinzip der medizinischen Ethik widersprechen, durchaus moralisch rechtfertigen. Die moralischen Deutungskämpfe entstehen aber vor allem dort, wo die medizinethischen Grenzüberschreitungen erklärungs- und rechtfertigungsbedürftig werden. Dies ist unter anderem dann der Fall, wenn keine eindeutige medizinische Indikation vorliegt. Ohne die Legitimation durch die medizinische Notwendigkeit müssten beispielweise chirurgische Operationen als Eingriffe in die körperliche Integrität oder als Körperverletzung gewertet werden. Zweierlei wird also vorausgesetzt: die Einverständniserklärung eines nach Möglichkeit souveränen Patienten und/oder die medizinische Notwendigkeit. Das Fürsorge-Prinzip wiegt dann stärker als das Nichtschadens-Prinzip. Welche Bedeutung aber der Patientenwunsch hat, wenn er über die Krankheitsbehandlung hinaus geht und eine Risiko-Nutzen-Abwägung (aus medizinischer Sicht) nicht mehr unmittelbar evident ist, wird im professionellen Diskurs kontrovers diskutiert, denn mit zunehmender Orientierung am Willen des Patienten droht ein Abbau ärztlicher Autonomie. Ärztliches Handeln befindet sich daher stets in einem Spannungsverhältnis zwischen den Prinzipien des salus aegroti (dem Heil des Patienten) und des voluntas aegroti (dem Willen des Patienten). Üblicherweise ist damit gemeint, dass, obgleich das Wohl des Patienten das oberste Gesetz medizinischen Handelns zu
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sein hat, auch Erkrankte weiterhin autonome und souveräne Willensentscheidungen treffen dürfen und dass sich der Arzt nach diesen Willensentscheidungen zu richten hat. In der Unterscheidung dieser medizinethischen Prämissen, spiegelt sich in gewissem Sinne auch ein Paradigmenwechsel in der Medizin wieder, in dessen Verlauf die Patientenautonomie gegenüber dem ärztlichen Paternalismus an Bedeutung gewonnen hat. Es ist nicht mehr ausschließlich das medizinisch Vernünftige maßgebend für den Verlauf einer Therapie, sondern auch das, was der (im Idealfall) aufgeklärte, entscheidungsfähige Patient für sich wünscht – mag es auch objektiv unvernünftig erscheinen. Dies gilt jedoch vor allem dann, wenn es darum geht, einen Eingriff abzulehnen oder zwischen Therapieoptionen zu wählen, die medizinisch indiziert sind. Andersherum reicht der Wunsch des Patienten nicht aus, um einen kontraindizierten Eingriff zu rechtfertigen. Das Prinzip, dem Patienten nicht zu schaden, bleibt die oberste Maxime des ärztlichen Handelns und ein kontraindizierter Eingriff ist auch dann eine strafbare Handlung, wenn der Patient sich diese wünscht (vgl. Piza-Katzer/Kummer 2007). Es gilt im ärztlichen Handeln verschieden ethische Prinzipien, wie die Berücksichtigung der Patientenautonomie und des Patientenwillens, sowie das Nichtschadens-Prinzip („nonmaleficence“, Beauchamp/Childress 2008) und das Fürsorgeprinzip („beneficence“, ebd.) zu berücksichtigen. An diese medizinethische Abwägung ist auch die Bewertung der Ausweitung medizinischer Handlungsspielräume in den Bereich kommerzieller Dienstleistung geknüpft. 4.2.3
Die Arzt-Patient-Beziehung und die Klientenautonomie
Aus dem Spannungsverhältnis eines tradierten paternalistischen Bezugssystems und den Bestrebungen nach mehr Transparenz und Egalität im Versorgungsystem haben sich in der Praxis verschiedene Varianten der Arzt-Patient-Beziehung herauskristallisiert, die in der Medizintheorie modellhaft und in idealtypischer Verkürzung analytisch voneinander unterschieden werden. Die gängige Typisierung unterscheidet drei Modelle der Arzt-Patient-Beziehung: 1.) das paternalistische Modell, 2.) das partnerschaftlich-deliberative Modell und 3.) das Vertragsmodell (vgl. Krones/Richter 2006). Diese drei Modelle des Arzt-Patient-Verhältnisses unterscheiden sich in Bezug auf den Grad der Selbstbestimmungsmöglichkeiten der Patienten, implizieren aber auch unterschiedliche Vorstellungen von Krankheit, Gesundheit und einer möglichst optimalen Versorgungssituation. Das paternalistische Handlungsmodell ist idealtypisch durch ein hierarchisches Macht-Wissens-Gefälle gekennzeichnet, in dem der Arzt als Experte die
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therapeutische Situation weitgehend eigenhändig (auf der Basis fachlicher Kriterien) bestimmt. Sofern der Patient gesundheitlich dazu in der Lage ist, gilt hierbei das Prinzip der informierten Zustimmung (ebd.: 98f.). Im partnerschaftlich-deliberativen Modell steht die partizipative Entscheidungsfindung im Vordergrund und der Patient wird idealiter zum informierten Partner im therapeutischen Entscheidungsprozess. Im Vertragsmodell, das auch als Autonomie-, Informations- oder Kundenmodell bezeichnet werden kann, wird von einem mündigen und informierten Patienten ausgegangen, der auf der Basis der vom Arzt dargebotenen oder selbst recherchierten Informationen in Eigenverantwortung die Entscheidung über den Behandlungsverlauf bestimmt. In diesem, auch als „Informed-Choice-Modell“ zu bezeichnenden, Konzept bieten Ärzte die Informationen als evidenzbasierte Entscheidungshilfen dar. Der Patient tritt gleichsam als Konsument oder Kunde auf, welcher Gesundheitsleistungen auf dem freien Markt im Rahmen eines Vertragsverhältnisses wahrnimmt (ebd.). In den idealtypischen Modellen bildet sich das Spannungsverhältnis zwischen einer liberalen „Beliebigkeitsmedizin“ (Synofzik 2009: 174) und der Bevormundung der paternalistischen Ärztemedizin ab. Im Realfall sind diese holzschnittartigen Unterscheidungen nicht nur in verschiedenen historischen Epochen unterschiedlich dominant, sondern vor allem in Bezug auf die konkrete Handlungssituation bzw. die „Problemstellung“ zu verstehen. Bei nicht entscheidungsfähigen oder nicht einwilligungsfähigen Patienten kann eine im Voraus formulierte Patientenverfügung zum Tragen kommen oder der Arzt handelt paternalistisch im „besten Interesse“ des Patienten (Krones/Richter 2006: 106ff.). Solange der Patient entscheiden kann, ist sein Wille allerdings maßgeblich. Neben der allgemeinen Tendenz zur Stärkung der Patientensouveränität in der Arzt-Patient-Beziehung haben auch weitere Prozesse in der Entwicklung des Gesundheitswesens die Autonomie und Partizipationsmöglichkeiten der Patienten gefördert. So hat der Staat die Strukturen für eine stärkere Bürgerbeteiligung gefördert, indem die Mitwirkungsrechte der Betroffenen in der Rehabilitation gesetzlich geregelt und Selbsthilfegruppen zunehmend finanziell entlastet wurden, so dass sich eine „Institutionenlandschaft von Selbsthilfegruppen und Selbsthilfeorganisationen“ (Borgetto/Kälble 2007: 192) hat herausbilden konnte. In diesem Zusammenhang ist im gesundheitlichen Diskurs ein neuartiger Fokus entstanden, der die aktive Teilhabe und Mitarbeit des Patienten einfordert. Anders als es die klassische Rollenverpflichtung des Patienten in der Konzeption bei Parsons (1951) vorsieht, geht es dabei aber um deutlich mehr als um Compliance im Sinne des Folgeleistens der ärztlichen Anweisung zur Genesung. Vielmehr findet durch die dauer-
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hafte aktive Gesundheitsförderung gewissermaßen eine Ausweitung der Compliance-Forderung auf die gesamte Lebensführung statt (Borgetto/Kälble 2007: 152). Soziale Sinnwelten werden immer stärker durch medizinische Deutungsmuster geprägt. Die Identifikation mit Krankheitsbildern und Symptomatiken sowie die zunehmende Selbstverortung in medizinisch-gesundheitlichen Deutungszusammenhängen auch von gesunden Menschen korreliert mit einer nie da gewesenen Zugänglichkeit zu medizinischem Wissen. Zunehmend entstehen daher neue Formen von Wissensnetzwerken, die primär dazu dienen, dass Patienten sich austauschen, um ihr fragmentarisches Wissen über den Erfahrungsaustausch zu kontextualisieren. Unklar ist bislang, wie genau sich die Arzt-Patient-Beziehung durch die zunehmende „Informiertheit“ und die biosoziale Vernetzung des Patienten verändert und ob die selbstgesteuerte Wissensaneignung tatsächlich ein Schritt zum aufgeklärten und mündigen Patienten ist und nicht nur eine weitere Form der Medikalisierung „von unten“.7 Die Diagnose von mündigen und informierten Patienten zielt im Kern immer auch auf das Verhältnis zwischen Ärzten und Patienten, die Kommunikation und die Entscheidungsfindung in der Arzt-Patient-Interaktion sowie die Annahme einer Verschiebung in der Macht-Wissen-Balance zwischen den Akteuren ab. Die gängige Vermutung lautet, dass die sozialen Figurationen im Gesundheitswesen seit einiger Zeit einem Wandel unterliegen. Das Arzt-Patient-Verhältnis war demnach lange von der Vorstellung einer asymmetrischen Beziehung geprägt, in der der Arzt dem Patienten gegenüber autoritär und paternalistisch auftritt. Dieses Verhältnis beruhte zum Großteil auf der ungleichen Wissensbalance in der ArztPatient-Beziehung als einer Experten-Laien-Beziehung. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist es verstärkt zu einer Kritik an der Dominanz medizinischer Expertensysteme und zu Forderungen nach einer Stärkung der Patientenautonomie gekommen. Die „normative Umkodierung“ (Friesacher 2010) des Patienten zu einem mündigen, informierten und damit möglichst gleichberechtigtem Partner in der Arzt-Patient-Beziehung, hat sich spätestens seit den 1980er Jahren mit dem Prinzip der gemeinsamen Entscheidungsfindung in der Arztpraxis („shared descision making“) weitgehend durchgesetzt. 8 Wie Schmöller (2008) zeigen kann, unterscheiden sich die Bedeutungsdimensionen der Vorstellungen von mündigen Patienten erheblich und verhalten sich
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Vergleiche zur Kritik am Modell des selbstbestimmten Patienten auch: Feuer-
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Vergleiche hierzu auch: Klemperer 2006.
stein/Kuhlmann 1999.
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oft reziprok zum Rollenverständnis der Ärzte. So versteht etwa ein „paternalistischer Leistungserbringer“ den mündigen Patienten als einen Patiententypus, der sich den Entscheidungen des Arztes beugt und der seine Mündigkeit durch das Einhalten der verordneten Therapien beweist (Schmöller 2008: 45). Die AOK definiert Patientenautonomie als „die Befähigung des Patienten möglichst rationale Entscheidungen über seine Gesundheit, alternative Behandlungsangebote und Gesundheitsgüter aber auch die Anbieter, selbst oder intersubjektiv, das heißt im Dialog und Gespräch zu treffen.“ (AOK 2006). Als Grundvoraussetzung für selbstbestimmtes Handeln in Bezug auf Gesundheit und Krankheit gilt die „Verfügbarkeit und angemessene Vermittlung verständlicher und verlässlicher Gesundheitsinformationen“ (Dierks et al. 2001) und die Fähigkeit, diese Informationen zu verstehen. Die „Überwindung ärztlicher Bevormundung“ (Kickbusch/Trojan 1981) liegt in der bewussten Stärkung der Patientenautonomie, der Patientenrechte und der Handlungskompetenzen der Patienten begründet. Damit verbunden ist auch eine Aktivierung der Handlungspotentiale der Patienten, die sich nicht zuletzt in der Herausbildung und Verbreitung von biosozialen Selbsthilfegruppen und Informationsnetzwerken niederschlägt, durch die eine Verschiebung der Macht-WissensBalance zwischen Ärzten und Patienten eingetreten ist. Diese Art der selbstgesteuerten Aneignung medizinischen Wissens in Laien-Interaktionen weist darauf hin, dass Patienten nicht mehr alleine auf den Arzt als Experten und Wissensvermittler angewiesen sind, sondern in größerem Maße selbstgesteuert im Gesundheitssystem „navigieren“. Im Selbstverständnis der Patienten stellen Gellner/Wilhelm (2005) einen fundamentalen Wandel vom klassischen Patienten zum „Entrepreneur“ fest, der sich eigennutzorientierter Akteur im Gesundheitswesen versteht und der bereit ist, mehr Verantwortung für die eigene Gesundheit zu übernehmen. Der Glaube und die Erwartungen an die Medizin scheinen zumindest ungebrochen – und bringen den neuen souveränen Patiententypus erst hervor. Die Bedeutung des Arztes, sein Status als Halbgott in Weiß, fällt gleichsam einer Säkularisierung zum Opfer. In vielen Feldern der Medizin und gerade dort, wo es sich nicht um Notfälle oder akut dringliche Leistungen handelt, beschränkt sich die Rolle von Ärzten zunehmend auf die Gatekeeper-Funktion. In einem sozial derart geschlossenen Feld wie dem der Medizin, in dem der legale Zugang zu zahlreichen Medikamenten ebenso wie viele in die Integrität des Körpers eingreifende Maßnahmen nur Ärzten zugänglich und legal ermöglicht werden, werden Ärzte als Torwächter benötigt, um Zugänge zu gewähren. Dies gilt vor allem dann, wenn Patienten als souveräne und gut informierte Klienten auftreten, die klare
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Vorstellung vom Therapieverlauf und (in einigen Fällen) sogar konkrete Erwartungen an die Diagnostik haben. Dies kann zum einen bei chronischen Erkrankungen der Fall sein. Der Zwang zur dauerhaften Beschäftigung mit der Krankheit macht betroffene Klienten häufig zu außerordentlich „kompetenten Laien“ (Schulz 2001). Der Typus des wohlinformierten Kranken scheint bei Menschen mit chronischen Beeinträchtigungen besonders deutlich ausgeprägt. Ähnlich ist dies auch bei Krankheiten der Fall, deren Gültigkeit umstritten ist. Dazu zählen etwa bestimmte psychiatrische Beeinträchtigungen an den Grenzen zu soziomedizinischen Krankheitsbeschreibungen wie etwa Schüchternheit, bestimmte Formen der Depression oder Aufmerksamkeitsstörungen. Da Diagnosestellung und Therapieverlauf hier höchst individuell verlaufen und die Betroffenen in digitalen Gemeinschaften und Selbsthilfegruppen vielfach sehr gut vernetzt und entsprechend informiert sind, dient der Arztbesuch oft entweder der gesellschaftlichen Legitimation der Krankenrolle oder dem legalen Zugang zur medikamentösen Behandlung (vgl. Karsch 2011a). Der Bedeutungsverlust des hierarchischen Rollengefüges zwischen Arzt und Patient liegt in diesen Fällen in der neu gewonnenen Autonomie des Patienten, bedingt durch die zumindest partielle Erosion der Wissenskluft zwischen Laien und Gesundheitsexperten. Da der Arzt den chronisch erkrankten Patienten nicht zu heilen vermag, wird seine Position auf die eines Gatekeepers reduziert, der den Zugang zur gewünschten medizinischen Therapie-Option gewährleistet, während der Erkrankte eigenständig individuelle und biographieabhängige Entscheidungen treffen muss und folglich zunehmend mit individuellen Selbststeuerungsprozessen konfrontiert ist. Schulz (2001) schlägt zur Beschreibung derartiger Prozesse der Selbststeuerung im Gesundheitssystem den Begriff der Selbstkontextualisierung vor: „Selbstkontextualisierung bezeichnet im gesellschaftlichen Handlungs- und Deutungsfeld von Krankheit und Gesundheit einen selbstgesteuerten Prozeß der Verortung der Subjekte in auf Heilung oder Linderung von körperlichen und/oder psychischen Leiden ausgerichtete Behandlungssysteme. Dabei reflektiert Selbstkontextualisierung das Bedingungsgefüge von Selbststeuerung im Kontext sozialer Wissensproduktion, gesellschaftlichem Wandel und biographischen Orientierungen.“ (Schulz 2001: 14)
Aus professionstheoretischer Perspektive könnte man auch von einer Tendenz zur De-Professionalisierung sprechen. Zumindest diagnostizieren einige neuere Vertreter der Professionssoziologie die Erosion eines expertokratischen Praxis-
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verständnisses der Professionellen (Daheim 1992: 32). Dazu beizutragen scheinen eine prinzipielle Abnahme von Experten- und Wissenschaftsgläubigkeit, eine weitläufige Erhöhung des Bildungsstandes sowie Individualisierungstendenzen und die damit verbundene Auflösung tradierter Rollenvorstellungen und Herrschaftsgefüge. Freilich betrifft die wachsende Skepsis gegenüber wissenschaftlichen Erkenntnissen und ihrem allgemeinen Gültigkeitsanspruch auch Ärzte. Gerade als professionell Tätige mussten diese sich stets mit dem schwierigen Verhältnis von (vermeintlichen) wissenschaftlichen Fakten auf der einen Seite und Erfahrungswissen auf der anderen Seite auseinandersetzen und sich in Bezug auf die „richtige“ Diagnose und die „richtige“ Therapie immer auch mit großen Unsicherheiten konfrontiert sehen. Baer (1986) beschreibt die Einführung von „professionellen Standards“ als Antwort auf diese Unsicherheitsverhältnisse in der medizinischen Praxis. Diese treten konkret als Versprechen einer „Evidence-based-medicine“ und anderer „best practice“ Methoden auf und schlagen sich in Leit- und Richtlinien wieder. In besonders prekären Bereichen können auch ethische Kodizes formuliert werden, die ebenfalls die Funktion professioneller Standards einnehmen. Die Standards sollen Verhaltenssicherheit sowohl innerhalb der Profession, als auch gegenüber der Patienten herstellen und den „Eindruck rationaler Problembearbeitung erwecken“ (Daheim 1992: 32). Daheim (ebd.: 33) stellt darauf ab, dass derartige professionelle Standards den Laien Kontrollchancen eröffnen und damit das Experten-Laien-Verhältnis zunehmend demokratisieren.
4.3 T HEORIEN GESELLSCHAFTLICHER MEDIKALISIERUNG Der Terminus „Medikalisierung“ ist, wie ich im Folgenden zeigen werde, umfassend durch die Vorstellung eines medizinischen Imperialismus geprägt. Dieses normative Axiom kann einen neutral-analytischen Blick auf Medikalisierungsprozesse erschweren, vor allem da „Medikalisierung“ in seinen unterschiedlichen begrifflichen Auslegungen weniger als streng definierter sozialwissenschaftlicher Terminus, denn als Passepartout-Begriff erscheint. So bezeichnet Nikolas Rose das Konzept der Medikalisierung sogar als „cliché of critical social analysis“ (Rose 2007: 700), das für sich genommen weder zur Erklärung noch zur Beschreibung ausreiche:
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„The term [medicalisation] itself should not be taken as a description or an explanation, let alone a critique. Not an explanation for there is no dynamic of medicalisation, no implacable logic of medical entrepreneurship, no single motive of medical interests, that lies behind these various boundary renegotiations; not a description, for there are many important distinctions to be made here.” (Rose 2007: 701)
Im Kern zielt diese Kritik darauf ab, dass die Komplexität der sozialen Realität durch die Verwendung des kritischen Medikalisierungskonzeptes unangemessen reduziert würde. Auch der Feststellung, dass die Bezeichnung „Medikalisierung“ nur den Ausgangspunkt und nicht das Ergebnis einer Analyse darstellen könne – so Rose später im Text – ist unbedingt zuzustimmen. Allein: auf die wenigsten Studien lassen sich diese Kritikpunkte auch anwenden. Zumeist stellt die Diagnose der Medikalisierung eines bestimmten gesellschaftlichen Feldes oder Phänomens tatsächlich nur den Ausgangspunkt und nicht das Ergebnis der Analyse dar. Rose übersieht in seiner Kritik, dass sich die vielfältigen Begriffsauslegungen des Terminus „Medikalisierung“ derart unterscheiden, dass es bei seiner Verwendung gar nicht darum gehen kann, ein einzelnes Motiv oder eine bestimmte Logik medizinischer Interessen zu bestimmen. Gleichwohl ist die heterogene Verwendung des Begriffes freilich problematisch, da sie, zumindest auf den ersten Blick, den Eindruck von Beliebigkeit vermittelt. Es stellt sich folglich die Frage, welche Phänomene die unterschiedlichen Ansätze der Medikalisierungsforschung beschreiben, auf welche (theoretischen) Prämissen dabei zurückgegriffen wird und welche Gemeinsamkeiten die Analysen in ihrer Anlage und in den Ergebnissen vorweisen können. Deshalb stelle ich darauf ab, das Spektrum der Untersuchungen der Medikalisierungsforschung von historischen Analysen der Sozialmedizin (vgl. von Ferber 1989; Huerkamp 1985), medizinkritischen und machttheoretischen Ansätzen (vgl. Illich 1975; Nye 2003), mikro-soziologischen Fallstudien, die sich zumeist im interaktionistischen Paradigma verorten lassen (vgl. Conrad/Schneider 1980; Conrad 2007), und schließlich den aktuellen Ansätzen, die sich den „shifting engines“ widmen, in einem theoretischen Konzept der Medikalisierung zu verdichten. Dieses Konzept erfasst die sozio-kulturelle Bedeutung und den weitreichenden gesellschaftlichen Einfluss der Medizin analytisch/heuristisch in ihrer prozesshaften Ausbreitung, um verschiedene Dimensionen gesellschaftlich-medizinischer Interdependenzen in den Blick zu bekommen, auch wenn deren Beziehung untereinander oft (noch) unklar ist. Dazu unterscheide ich im Prozess der Medikalisierung der Gesellschaft analytisch drei Phasen: Etablierung, Expansion und Entgrenzung. Mit dem Begriff Medikalisierung ist dann also ein Prozess ge-
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meint, der die Etablierung medizinischer Institutionen, die Vergrößerung medizinischer Einflussbereiche und die Bedeutungszunahme medizinischer Denkweisen ebenso umfasst, wie die durch die Medikalisierung ausgelösten Nebenfolgen und Entgrenzungen eingespielter Logiken. Ich löse mich damit von einer Lesart des Medikalisierungsprozesses, welche Medikalisierung lediglich als Pathologisierung von nicht-medizinischen Zuständen verstanden wissen will. Vielmehr plädiere ich mit dem Verweis auf die oben skizzierten Prozesse der Modernisierung des Gesundheitswesens, die zu einer Etablierung und Bedeutungszunahme der Medizin in der Gesellschaft geführt haben, für ein stärker gesellschaftstheoretisch orientiertes Verständnis von Medikalisierung. Dies beinhaltet vor allem den Einbezug der Professionalisierung, Verwissenschaftlichung und Bürokratisierung der Medizin, ihre zunehmende (und anhaltende) strukturelle Dominanz und die damit einhergehenden soziokulturellen Auswirkungen und Machteffekte. Die Dynamik der Medikalisierung ist ein Basisprozess der Modernisierung und grundlegend für das Verständnis der Wechselwirkung von Medizin und Gesellschaft. Als Grundvoraussetzung für Medikalisierungstendenzen gilt, dass die akademische Medizin das faktische Deutungs- und Behandlungsmonopol in Fragen von Gesundheit und Krankheit innehat. Die Gegenwartsgesellschaft der Bundesrepublik Deutschland mit ihrem spezifischen Gesundheitssystem kann beispielsweise als eine hochmedikalisierte Gesellschaft verstanden werden. Darüber hinaus lässt sich im Zuge der Medikalisierung eine weitreichende soziokulturelle und lebensweltliche Verbreitung von medizinischem und gesundheitsbezogenem Wissen in den verschiedensten Lebensbereichen feststellen. Der Prozess der Medikalisierung, so verstanden als ein Prozess der Etablierung der zunehmenden Dominanz und Ausdehnung eines spezifischen Wissens über Gesundheit und Krankheit, verbunden mit der Institutionalisierung und Professionalisierung der Medizin, hat dazu geführt, dass die Logik der Medizin in immer mehr gesellschaftlichen Bereichen zur gültigen und vorherrschenden Wissensform geworden ist. Wissenssoziologisch betrachtet bezeichnet Medikalisierung also einen Trend der institutionellen Verankerung und stetigen Bedeutungszunahme medizinischer „Wissensregime“ in der modernen Gesellschaft, also des „medizinischen Wissens und der medizinischen Technik“ (Goubert 1982: 89). Denn gemeinsam ist den unterschiedlichen Ansätzen und Beschreibungen der Medikalisierungsforschung, dass der Prozess der Medikalisierung ein Prozess der Bedeutungszunahme medizinischer Denkweisen zu sein scheint, die in unterschiedlicher Weise normativ und institutionell verankert sind. Daran anknüpfend nehme ich an, dass es sich bei Medikalisierungsphänomenen im Kern um die Effekte der Etablierung eines spezifischen Wissensregimes handelt. Der aus der
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jüngeren Wissenssoziologie bzw. Wissensforschung stammende Begriff des Wissensregimes bezeichnet den „stabilisierten Zusammenhang von Praktiken, Regeln, Prinzipien und Normen“, die den Umgang mit Wissen und unterschiedlichen Wissensformen strukturieren, „zumeist bezogen auf einen bestimmten Handlungs- und Problembereich“ (Wehling 2007: 704). Derartige Wissensregime sind als Produkt historischer Auseinandersetzungen zu verstehen und selten dauerhaft stabil. Allerdings verfestigen sich in Wissensregimen Wissensordnungen, wie etwa das Verhältnis unterschiedlicher und teilweise konkurrierender Wissensformen (z.B. wissenschaftliches Wissen, Handlungswissen, etc.). Bestandteil der Wissensregime sind auch die materiellen Umsetzungen, das heißt die materielle Wissensproduktion und -verteilung im Rahmen ökonomischer, technischer oder rechtlicher Faktoren (ebd.). Der Begriff des „Regimes“ stellt auf die Dominanz der jeweiligen Wissensordnung und ihrer institutionellen und kulturellen Etablierung in spezifischen Feldern ab. Bestandteile von Wissensregimen können „Verfahrensregeln, kognitive Bewertungsregeln, allgemeine Normen“ (ebd.: 705) sein. Insofern sind Wissensregime als soziale Institutionen zu verstehen, die Deutungsmuster für typische soziale Probleme und Handlungsbereiche bereitstellen. Die Unterscheidung zwischen Wissensregimen, Wissensordnungen und Deutungsmustern (sowie Diskursen) ist nicht immer trennscharf, vielmehr sind sie nicht nur begrifflich sondern auch inhaltlich aufs Engste miteinander verbunden. Wenn Keller Diskurse definiert als Versuche, „Bedeutungszuschreibungen und Sinn-Ordnungen zumindest auf Zeit zu stabilisieren und dadurch eine kollektiv verbindliche Wissensordnung in einem sozialen Ensemble zu institutionalisieren“ (Keller 2011: 8), wird deutlich, wie nah die Begrifflichkeiten beieinander stehen. Der Begriff des Wissensregimes lenkt den Blick auf historische Zusammenhänge von „Macht/Wissens-Komplexen“ (Foucault), das heißt die Auseinandersetzungen und Wahrheitskämpfe um Wissensansprüche und deren institutionelle Etablierung. Wissensordnungen sind als Bestandteile unterschiedlicher Wissensregime zu verstehen, die diskursiv hervorgebracht und stabilisiert werden, aber durch Diskurse auch transformiert werden können (vgl. Keller 2010). Deutungsmuster strukturieren einerseits die Diskurse und werden andererseits durch spezifische Wissensregime und die inhärenten Wissensordnungen erst geformt und „ermöglicht“. Mit dem Begriff Medikalisierung ist also ein Prozess gemeint, der die Etablierung medizinischer Institutionen, die Vergrößerung medizinischer Einflussbereiche durch die Bedeutungszunahme medizinischer Denkweisen in der Gesellschaft umfasst. Dieser Prozess verläuft expansiv, ist aber in seiner Richtung un-
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bestimmt: es handelt sich nicht nur um einen genuin medizinischen Imperialismus, sondern um eine kulturelle Verbreitung gesundheitsbezogener Denk- und Handlungsweisen, die einerseits sicherlich durch die medizinische Profession vorangetrieben und durch staatliche Interessen gefördert wurde, andererseits aber auch durch gesellschaftliche Bedürfnisse, Ansprüche und Forderungen bedingt ist. 4.3.1 Die Etablierung der modernen Medizin Die Professionalisierung der Medizin kann auch als ein Prozess der Vergesellschaftung der Medizin verstanden werden und ist als solcher aufs Engste mit dem Prozess der Medikalisierung der Gesellschaft verwoben, der gleichsam die Effekte der Integration und Institutionalisierung der Medizin beschreibt. Der Prozess der Medikalisierung kann in einem ersten Schritt als historischer Trend verstanden werden, in dem die Medizin die Monopolstellung über die Behandlung von Krankheit und die Erhaltung und Wiederherstellung von Gesundheit erlangt hat: ein Prozess, der eng mit der erfolgreichen Professionalisierung der Medizin in Beziehung steht (vgl. Loetz 1993). Medikalisierung gilt hier also als Prozess der Etablierung der Medizin: Ursprünglich aus der Statistik stammend, beschreibt der Begriff Medikalisierung in der Geschichtswissenschaft, die Etablierung der Medizin als das (steigende) zahlenmäßige Verhältnis von Ärzten und Anwohnern in einer Region, also eine „Verärztlichung“ (ebd.: 45) oder auch steigende strukturelle Dominanz der Ärzteschaft. Dieser historische Prozess ist ein Prozess der sozialen Schließung, in der die Medizin die Monopolstellung in Fragen von Krankheit und Gesundheit erhält. Huerkamp (1985) subsumiert unter dem Begriff Medikalisierung ebenfalls die statistische Erfassung von Morbiditäts- und Mortalitätsentwicklungen, Säuglingssterblichkeit und Geburtenkontrolle, sowie den generellen Ausbau der medizinischen Infrastruktur (ebd.: 11 f.). Als Kernelemente des Medikalisierungsprozesses gelten in diesem Sinne die Durchdringung traditionellen Gesundheitsverhaltens durch die Prinzipien naturwissenschaftlicher Rationalisierung sowie die Interdependenz staatlicher Interessen und der Interessen der medizinischen Profession. Huerkamp argumentiert in erster Linie als Historikerin. Und so zeichnet sie das Bild einer paternalistischen Medizin, das heute nur noch bedingt gültig ist, wenn sie definiert: „Medikalisierung meint die Ausdehnung des Marktes für medizinische Dienstleistungen derart, dass es für den ‚Alltagsmenschen‘ zunehmend selbstverständlich wird, im Krank-
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heitsfall den kranken Körper ärztlicher Kontrolle zu unterstellen und sich nach den Anweisungen des Experten ‚Arzt‘ zur Wiederherstellung der Gesundheit zu richten.“ (Huerkamp 1985: 12)
Interessant ist darüber hinaus die Fokussierung auf die „Ausdehnung des Marktes“, der die singulären Interessen der Profession gegenüber etwa staatlichen oder Patienteninteressen hervorhebt (vgl. dazu auch Viehöver 2011: 165). Medikalisierung wird hier also eng an ein machttheoretisches Modell der Professionalisierung geknüpft. An diese virulenten Vorstellung einer zunehmenden medizinischen „Kontrolle“ einerseits und einer zunehmenden „Marktausdehnung“ andererseits anknüpfend, findet der Terminus Medikalisierung in der gesellschaftwissenschaftlichen Debatte denn auch zumeist in kritischer Auseinandersetzung mit der „Ausweitung medizinischer Autorität auf immer mehr Bereiche des menschlichen Lebens“ (Liebsch 2010: 12) Verwendung. Medikalisierung ist demnach ein expansiver Prozess. Analog zum Prozess der Professionalisierung der Medizin kann Medikalisierung als ein zielgerichtetes Projekt der Ausweitung professioneller Machtbereiche gedeutet werden (vgl. Freidson 1977). Die Medikalisierungsdebatte als Anstoß für die aufkommende Kritik an medizinischen Disziplinarregimen in der Moderne lässt sich auf zwei unterschiedliche Traditionen zurückführen. Zum einen gelten die Analysen Michel Foucaults als wegweisend, zum anderen lässt sich die genuin soziologische Etablierung des Begriffs der Medikalisierung auf die Studien Peter Conrad (1971; 1980; 2007) zurückführen, der sich in der amerikanischen Forschungstradition des interpretativ-konstruktivistischen Paradigmas verorten lässt. Foucault beschreibt in einer sozialhistorischen Perspektive die Herausbildung von Institutionen, Praktiken und Wissensformen zur Regulierung und Disziplinierung individueller Körper im Rahmen der „Geburt der Bio-Politik“ (2003), also der hygiene- bzw. gesundheitspolitischen Maßnahmen, den Maßnahmen zur Regulierung und Erfassung der Fortpflanzungsraten, der Lebensdauer und der allgemeinen Gesundheit, sprich: des „Gesellschaftskörpers“. Die Foucaultsche Prägung des Medikalisierungskonzeptes (im Sinne eines Ineinandergreifens biopolitischer und medizinischer Interessen) beeinflusst bis heute sowohl die sozialhistorische als auch die medizinkritische Forschung. Dies ist schon deshalb bemerkenswert, da Foucault sein Interesse an der Ausbreitung medizinischer Denkweisen und Machtansprüche in keinem kohärenten Konzept ausgearbeitet hat. Die „Geburt der Klinik“ (1961/2005) ist die einzige Monographie Foucaults, die sich ausführlich (und ausschließlich) mit der Medizin befasst. In zahlreichen Aufsätzen, Vorlesungen und Interviews kommt Foucault vor allem im Kontext seiner Arbeiten zur historischen Entstehung der Biopolitik, gleichwohl immer wieder
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argumentativ auf sein Verständnis von Medikalisierungsdynamiken zu sprechen (vgl. Foucault 2003, 2005)9. Im Kern lassen sich seine Analysen auf folgende Ergebnisse zusammenfassen: Die Medizin als biopolitisches Instrument macht im Verlauf des 18. Jahrhunderts den individuellen Körper zum Ansatzpunkt von hygienischen Praktiken. Den Ärzten kommt dabei eine Schlüsselrolle zu. Sie haben „den Individuen die Grundregeln der Hygiene beizubringen (…), die sie um ihrer eigenen und die Gesundheit der anderen Willen beachten müssen: Hygiene der Ernährung und des Wohnens, die Ermahnung sich im Krankheitsfall behandeln zu lassen.“ (Foucault 2003: 31).
Im 19. Jahrhundert schließlich wird der Arzt sowohl ökonomisch, als auch gesellschaftlich eine außerordentlich privilegierte Position einnehmen, die weit über die Funktion als Hygieniker hinausgeht: Die ärztliche Macht tritt ins Zentrum der „Normierungsgesellschaft“ (ebd.: 101). Foucault beschreibt die weitläufige Disziplinierung und Standardisierung von Körpern über die ‚Denkweise‘ der Medizin (bzw. der Humanwissenschaften): „Die Aufmerksamkeit galt dem Körper, den man manipuliert, formiert und dressiert […]. So formiert sich eine Politik der Zwänge, die am Körper arbeiten, seine Elemente, seine Gesten, seine Verhaltensweisen kalkulieren und manipulieren.“ (Foucault 1977: 177 ff.)
Dies geschieht im Kontext eines neuen Machttypus, den Foucault (in unscharfer Trennung zur Biopolitik) als Biomacht bezeichnet. Foucault beschreibt Biomacht als eine neue Machtform des 19. Jahrhunderts, die sich, unterschieden von der Souveränitätsmacht, durch das Recht auszeichnet, „leben zu machen und sterben zu lassen“ (Foucault 1999: 278). Die auf das Leben der Menschen gerichtete Machttechnik ist, anders als die rein disziplinierende Körper-Technik, eine Form der Biopolitik, die auf den ‚Gesellschaftskörper‘ oder die „menschliche Gattung“ (ebd.) gerichtet ist. Biomacht ist nach dem Zugriff auf den individuellen Körper die Machttechnik, die „nicht individualisierend“, „sondern massenkonstituierend“ (ebd.) ist. Diese Form der Biopolitik befasst sich mit Geburten- und Sterberaten, mit Fragen der Reproduktion der Bevölkerung. Die biopolitischen Mechanismen, die nun also einerseits Körper disziplinieren und andererseits die Bevölkerung regulieren, sind aufs Engste miteinander verknüpft. Die Medizin ist für
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Siehe zu Foucaults Analysen moderner Gesundheitskulturen ausführlicher: Brunnett 2007.
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Foucault der wichtigste Schnittpunkt zwischen individueller Körperlichkeit und Bevölkerung: „Die Medizin ist ein Macht-Wissen, das sich zugleich auf die Körper wie die Bevölkerung, auf den Organismus wie die biologischen Prozesse erstreckt und also disziplinierende und regulierende Wirkungen hat“ . ( (bd.: 292)
Der Übergang zu Biomacht und Biopolitik, den Foucault von der zuvor dominanten Souveränitätsmacht abgrenzt, markiert auch das Erreichen einer „biologischen Modernitätsschwelle“ (ebd. 170). Dazu gehört die erfolgreiche Durchsetzung eines spezifischen Wissenskomplexes ebenso, wie die erfolgreiche Aushandlung der biopolitischen Interessen des Staates, den Interessen der medizinischen Profession und den Interessen der Nutzer medizinscher Angebote (vgl. Foucault 2003a; Lupton 1997; Huerkamp 1985). Dieser Aspekt gesellschaftlicher Medikalisierung steht in engem Zusammenhang mit der bereits beschriebenen Professionalisierung der Medizin. In den von Foucault inspirierten geschichtswissenschaftlichen Untersuchungen zur historischen Genese der Sozialmedizin im 19. Jahrhundert (vgl. Huerkamp 1985; von Ferber 1989; Stolberg 1998) wird der Prozess der Medikalisierung dann auch ganz allgemein als weitläufiger Trend der Etablierung der medizinischen Profession im Kontext der Entstehung eines umfassenden Gesundheitssystems und damit als ein „wesentliches Element der Modernisierung neuzeitlicher Gesellschaften“ (von Ferber 1989: 635) verstanden. Medikalisierung beschreibt demnach den Institutionalisierungsprozess der naturwissenschaftlich-akademischen Medizin, das heißt die Entstehung und Konventionalisierung der tendenziellen Monopolstellung der Medizin in Fragen der Behandlung von Krankheit und Gesundheit. Die zunehmende Ausweitung medizinischer Zugriffsbereiche und die Beschäftigung der Medizin mit dem, „was sie nicht betrifft“ (Foucault 2003b: 67), ist ein weiterer Aspekt der Medikalisierung der Gesellschaft, der mit der weitläufigen Etablierung medizinischer Wissensregime einhergeht. So meint Medikalisierung auch die Interpretation (z.B. sozialer) Phänomene anhand medizinischer Deutungsangebote, die zuvor nicht in medizinischen oder naturwissenschaftlichen Denkkategorien wahrgenommen wurden. Überhaupt sind ab einem bestimmten Punkt im Prozess der Medikalisierung nicht mehr nur Krankheiten anleitend für die Medizin. Foucault spricht von „Zuständen“, die „ohne pathologisch und Träger von Morbidität zu sein“ (Foucault 2007: 403), gleichwohl als anormal gelten und so in den Gegenstandsbereich der Medizin geraten. Vor allem die Psychiatrisierung der Kindheit und kindlicher Handlungsweisen habe, so
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Foucault, dazu beigetragen, dass die psychiatrische Medizin zu einer „Generalinstanz für die Analyse von Verhaltensweisen“ (ebd.: 404) werden konnte. Dabei musste die Medizin ihren erweiterten Gegenstandsbereich als Krankheit betrachten, um ihren Zugriff auf diese Sphäre zu legitimieren. Sie agiert dabei sinngemäß nach dem Motto: „Sei du Krankheit für ein Wissen, das mich ermächtigen soll, als medizinische Macht zu fungieren“ (ebd.: 406). 4.3.2 Expansion medizinischer Deutungsansprüche Die medizinisch angeleitete Interpretation von sozialen Phänomenen, die zuvor nicht in medizinisch-naturwissenschaftlichen Denkkategorien wahrgenommen wurden, ist einer der zentralen Aspekte der Medikalisierung der Gesellschaft und der Ausgangspunkt der zahlreichen medizinkritischen Untersuchungen. Vor allem die Medikalisierung sozial abweichender Verhaltensweisen sowie die inflationäre Verwendung von Medikamenten zur Beeinflussung von Gemütszuständen werden in diesen Studien entschieden kritisch beurteilt. Diese Expansion medizinischer Macht- und Herrschaftsbereiche wurde auch von der amerikanischen Soziologie thematisiert. Im Kontext seiner Theorie der Krankenrolle hat bereits Talcott Parsons (1979) Krankheit als soziale Abweichung und die Medizin als entsprechende Kontrollinstanz konzeptionalisiert. Im Rahmen des interaktionistischen Paradigmas in der Soziologie sind, teilweise in direkter Auseinandersetzung mit Parsons (vgl. Freidson 1970), Arbeiten entstanden, die Krankheit zudem als sozial konstruiert verstehen (vgl. Zola 1972; Conrad 1976a/b; Conrad/Schneider 1980). Eine derartige Kritik an der expansiven Tendenz der modernen Medizin ist der Grundgedanke vor allem der frühen Arbeiten der sozialwissenschaftlichen Medikalisierungsforschung, in denen die Medizin als ein Instrument sozialer Kontrolle beschrieben wird. In den 1960er und 1970er Jahren haben u.a. die Arbeiten von Thomas Szasz (1961), Irving Goffman (1961) und Irving Zola (1972) in den USA den theoretischen Hintergrund für die Annahme geliefert, dass die Grenzen zwischen dem, was in einer Gesellschaft als normal und dem, was als pathologisch gilt, von sozialen Konstruktionsprozessen durch medizinische Expertendiskurse abhängig ist (Nye 2003: 116). Die Zuschreibung des stigmatisierenden Etiketts der Geisteskrankheit etwa gerät in diesem Kontext zusehends in den Fokus der sozialwissenschaftlichen Gesellschaftskritik. „The Myth of Mental Illness“ von Thomas Szasz (1960) ist ein grundlegender Text für die neue Psychiatriekritik. Der Autor versucht, psychische Krankheit als einen Mythos zu entlarven und den „medizinischen Deckmantel“ von jenen Dingen abzustreifen, welche im Gewand von
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Krankheit auftreten, tatsächlich aber keine körperlich-organischen, sondern lediglich Abweichungen von psycho-sozialen, rechtlichen oder ethischen Normen aufweisen (vgl. Szasz 1960: 115). Auch Zola (1972) steht in dieser medizinkritischen Tradition und beschreibt Medizin als eine Institution sozialer Kontrolle, deren Machtbereich sich stetig ausbreitet und traditionelle Kontrollinstanzen wie Religion oder Recht verdrängt (Zola 1972: 487). Zola argumentiert, dass technischer Fortschritt und Bürokratie dafür verantwortlich seien, dass die Gesellschaft zunehmend abhängig von Experten wird. Es bestehe darüber hinaus ein Interdependenzgeflecht aus menschlichen Sehnsüchten nach Heilung und Verbesserung und der Profession, die diese exklusive Dienstleistung anbietet. Die Macht der Medizin liege speziell darin begründet, dass sie das Monopol an dem Recht besitzt, Medikamente zu verschreiben und medizinische Eingriffe durchzuführen (ebd.). Obwohl Ivan Illich (1975) etwas später in seiner Kritik „Medikalisierung des Lebens“ keinen direkten Bezug auf die amerikanische Medizinkritik nimmt, bezeichnet er dennoch die Medizin – ähnlich wie bereits Zola – als ein moralisches Unternehmen, das die Bedeutungen der Worte ‚gut‘ und ‚schlecht‘ bestimmen könne. Es sei die Medizin, die „genau wie Gesetz und Religion“ (ebd.: 35) vorschreibe, was gesellschaftlich als normal und wünschenswert zu gelten habe. Etwa zur gleichen Zeit entwickelt der amerikanische Soziologe Peter Conrad (1971; 2007) eine genuin soziologische Medikalisierungstheorie, in der Medikalisierungstendenzen noch deutlicher als eine Folge der ungebremsten Ausweitung moderner Rationalisierungslogik interpretiert werden, die als Bedingung angeführt wird, dass Abweichungen (auch im sozialen Bereich) durch medizinische Beobachtung verstehbar und bearbeitbar gemacht werden. In der amerikanischen Tradition des symbolischen Interaktionismus stehend, spricht Conrad dann von Medikalisierung, wenn die Medizin die Deutungsmacht über bestimmte Bereiche erhält, die zuvor nicht medizinischen Kategorien wahrgenommen wurden, oder die zumindest nicht ausschließlich in den Zugriffsbereich der Schulmedizin fielen (vgl. Conrad 2007). Die Neudefinition von Verhaltensdefiziten als Krankheiten ermöglicht in der Folge eine medizinische Intervention zur Wiederherstellung konformen Verhaltens. Conrad verfolgt dabei einen im weitesten Sinne sozialkonstruktivistischen Ansatz, wenn er Medikalisierungsdynamiken als Etikettierungsprozesse betrachtet, die auf Formen der sozialen Kontrolle hinauslaufen. Conrads Untersuchungen beziehen sich vor allem auf den Anstieg der Medikalisierung von Verhaltensproblemen bzw. deren Rückführung auf biomedizinische oder organische Schäden. Aus der Studie „Identifying Hyperactive Children“ (1976b) über den Prozess der Medikalisierung der ADHS leitet Conrad den Rahmen für eine Theorie der Medikalisierung ab (vgl. Conrad 1976b: 94 ff.):
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Verhalten müsse demnach bereits vor der medizinischen Deutung als abweichend definiert werden und ein soziales Problem darstellen, an dessen Bearbeitung gesellschaftliches Interesse besteht; Vorhergehende oder traditionelle Formen sozialer Kontrolle sind entweder nicht mehr effizient oder nicht mehr akzeptiert; Medizinische Formen sozialer Kontrolle sind verfügbar. Die Datenlage über die Ursache des Problems ist dabei uneindeutig; Die medizinische Profession akzeptiert die Einordnung des abweichenden Verhaltens innerhalb ihres Zuständigkeitsbereiches. Der Erfolg der Medikalisierung hinge dabei von zwei weiteren Fragen ab: Inwieweit profitieren etablierte Institutionen von der Medikalisierung? Und inwieweit ist die angebotenen medizinische Deutung in signifikanten Bereichen der Gesellschaft akzeptiert? Die Veröffentlichung neuer medizinischer Erkenntnisse allein sichere allerdings nicht deren Akzeptanz in Fachwelt und Öffentlichkeit. Medikalisierung, so Conrad, bedürfe verschiedener moralischer Unternehmer, die sowohl dem Problem selbst, als auch den angebotenen Lösungsstrategien zu öffentlicher Aufmerksamkeit verhelfen. Der Begriff des moralischen Unternehmers („moral entrepreneur“) stammt aus Howard Beckers Studie „Outsiders“ (Becker 1963) und beschreibt Akteure, die basierend auf unterschiedlichsten Interessen versuchen, in der Öffentlichkeit ein bestimmtes Deutungsmuster durchzusetzen. In diesen „claims-making activities“ (ebd.) sind sowohl medizinische, als auch nicht-medizinische Interessen vertreten. Zu den nicht-medizinischen Unternehmern gehören gewinnorientierte Gesellschaften (z.B. Pharmakonzerne), Laien-Organisationen, staatliche Körperschaften und Selbsthilfe-Gruppen. Mit der Durchsetzung von medizinischen Deutungsmustern verändert sich schließlich die Interpretation des abweichenden Verhaltens derart, dass moralische Deutungskonzepte von medizinisch-pathogenetischen Deutungsangeboten abgelöst werden. Dieser Wandel lässt sich treffend mit der Formel „From Badness to Sickness“ (Conrad/Schneider 1980) beschreiben. Die Neudefinition von Verhaltensdefiziten als Krankheiten ermöglicht in der Folge eine medizinische Intervention zur Wiederherstellung konformen Verhaltens. Dabei muss die Medizin ihren erweiterten Gegenstandsbereich als Krankheit betrachten, um ihren Zugriff auf diese Sphäre zu legitimieren. Anknüpfend an die Überlegungen zur Patientenrolle bei Parsons tritt hier nun eine weitere Dimension der Medikalisierung auf den Plan: Die medizinische Deutung der Devianz kann nämlich durchaus funktional für den Abweichler sein, da der angenommene Normbruch über ein medizinisches Deutungsmuster zumindest teilweise legitimiert werden kann. Gängige Praxis ist dies beispielsweise in Gerichtsverfahren, in denen sich ein ärztliches Gutachten strafmindernd auswirken kann.
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Bereits Zola hatte angedeutet, dass es sich bei der Medikalisierung der Gesellschaft nicht um eine Einbahnstraße handeln kann: „Medicalization is as much a result of medicine’s potential as it is of society’s wish to use that potential“ (Zola 1972: 500). Die bei Foucault, Conrad und anderen in den 1960er und 1970er Jahren unterschiedlich formulierte, aber gleichermaßen kritische Feststellung eines disziplinarischen Fremdzwangs durch Medikalisierungsprozesse stehen daher aktuell auch nicht mehr im Fokus der Medikalisierungsforschung. Zunehmend wurde die passive Rolle der Patienten angezweifelt: „Patients have by no means been so passive as the various ‘medicalization’ theories might lead us to believe“ (Porter/Porter 1989: 15).10 Dies lässt sich auch dadurch begründen, dass sich verstärkt eine Logik der Selbstmedikalisierung beobachten lässt, die mit dem Abbau paternalistischer Handlungszusammenhänge und der daraus resultierenden Patientenautonomie korrespondiert. Zum anderen treten neben das medizinische Deutungsmonopol weitere zentrale Akteure, wie etwa die Pharmaindustrie oder Selbsthilfeverbände, die eigene Medikalisierungsinteressen vertreten (darauf hatte Conrad ja in Ansätzen bereits hingewiesen) (vgl. auch Karsch 2011a). Diese „shifting engines of medicalization“ (Conrad 2007: 133) führen zu neuartigen institutionellen Figurationen im medizinischen Bereich, in denen der aktiven Rolle des Patienten eine zentrale Bedeutung zukommt. Dazu gehören Selbstdiagnose, -behandlung und -medikation ebenso wie die kollektive Wissensförderung (bspw. durch das zunehmende Informationsangebot im Internet) und die gemeinsame Bewältigung von Problemen der alltäglichen Lebensführung im Kontext biosozialer Gemeinschaften, wie zum Beispiel Selbsthilfegruppen. So entsteht ein Autonomiegewinn gegenüber der professionellen medizinischen Versorgungslandschaft, und die Dynamik der Medikalisierung verschiebt sich tendenziell von der Fremdbestimmtheit zur Selbststeuerung. Die Emanzipation von paternalistischen Medikalisierungsformen zeigt sich besonders deutlich anhand des sich verändernden Arzt-Patient-Verhältnisses. Vermehrt treten Patienten als aktive Konsumenten und Kunden auf (Rogler 2009). Die Medizin spielt freilich auch bei derartigen Prozessen der Selbstmedikalisierung eine zentrale
10 Vgl. dazu auch Lock/Kaufert (1998) sowie Beck (2007), die darauf hinweisen, dass der Widerstand der „kontrollierten“ Subjekte in den klassischen Medikalisierungsstudien kaum thematisiert wurde. Unterdessen geht es aber nicht mehr nur um die Vernachlässigung des Widerstandes, sondern auch um die Thematisierung aktiver Partizipation an Medikalisierungsprozessen.
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Rolle. Zum einen, da körper- und gesundheitsbezogene Praktiken durch medizinische Deutungsmuster erst angeleitet werden, und zum anderen, da Ärzte als Gatekeeper das weitgehende Monopol zur Angebotsstellung besitzen und deshalb nicht nur auf Patientenbedürfnisse reagieren, sondern auch Kundenwünsche generieren. Clarke et al. (2003) argumentieren außerdem, dass die wissenschaftstechnische Entwicklung zu einer Ausweitung der medizinischen Grenzen derart geführt habe, dass wir es nunmehr mit einer neuen Form der „Biomedikalisierung“ zu tun haben, die zu einer vielschichtigen Transformation medizinischen Wissen, menschlicher Körper und zu verstärkten Entscheidungszwängen führt. Eine andere Einschätzung aktueller Tendenzen der Biomedikalisierung nimmt hingegen Rose (2007) vor, wenn er in Anschluss an Rabinow (2004) auf die positiven Effekte der Herausbildung von „biosocial communities“ hinweist. Die Gleichzeitigkeit der Entstehung biosozialer Kollektive und der Zunahme individueller Selbststeuerungsstrategien weisen auf eine zunehmende Individualisierung im Gesundheitswesen durch die Emanzipation von paternalistischen Medikalisierungsformen hin. Folglich ändert sich hierdurch auch der Modus der Medizin selber: Da der Arzt lediglich den Zugang zu möglichen Therapie-Optionen verschaffen kann, wird er verstärkt als Gesundheitsdienstleister wahrgenommen. Die Dynamik der Medikalisierung verschiebt sich von der Fremdbestimmung zur Selbststeuerung, der Austausch von Erfahrungswissen ersetzt (zumindest teilweise) das professionelle Wissen des Arztes. Biosoziale Gemeinschaften wirken identitätsstiftend und bieten die Möglichkeit der kollektiven Neudeutung individueller Biographien unter medizinischen Gesichtspunkten. So formieren sich relativ autonome Wissensnetzwerke und handlungsfähige Kollektive, die zumindest zu wichtigen Einflussgrößen im medizinischen Feld werden. 4.3.3 Entgrenzung der Medizin: Von der Heilung zur Verbesserung? Zur Beschreibung der im Diskurs verhandelten Formen des Wandels medizinischer Praxis werde ich zunächst die idealtypische Unterscheidung von hippokratischer und post-hippokratischer Praxis ausbuchstabieren, die in ihrer Begrifflichkeit bei Viehöver (2011: 291) entlehnt ist. Durch das analytische Hilfsmittel dieser schematisierten Abgrenzung möchte ich die hier zur Diskussion stehenden Faktoren des sich verändernden ärztlichen Handlungsfeldes veranschaulichen und typisierend zusammenfassen. Diese Unterscheidung ist gleichsam die Wiedergabe der zwei „Meistererzählungen“ über das gesellschaftliche Feld der Medizin und seinen Wandel. Der Begriff der Meistererzählung ist ursprünglich der
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Belletristik entlehnt, wurde später in der Geschichtswissenschaft (vgl. Jarausch/Sabrow 2002) herangezogen und bezeichnet „Großdeutungen“, die bestimmte Erzählperspektiven anleiten und sich auch in der öffentlichen Wahrnehmung und in Identifikationsmustern niederschlagen. Die Meistererzählung dient der Etablierung einer spezifischen „Storyline“ als der herrschenden Meinung, die dann entsprechend wirkmächtig wird. In diesem Sinne ist die hippokratische Praxis die traditionelle Meistererzählung über das Ethos der Medizin. Damit ist ein Typus der Medizin beschrieben, in dem sich klassische, tradierte, und teilweise normativ übersteigerte Vorstellung über Ziele und Grenzen der professionalisierten, kurativen Medizin des 20. Jahrhunderts verdichten. Zum einen werden in der Gesellschaft kursierende Normen und Handlungserwartungen an die Ärzte herangetragen, zum anderen bestehen innerhalb des Kollektivs der Ärzteschaft bestimmte zum Teil institutionalisierte, zum Teil latente Verhaltensnormen und Grenzziehungen, die den Handlungsspielraum der Ärzte abstecken. Diese beziehen sich auf ein historisch tradiertes Ethos, das seinen Ursprung im Referenzpunkt des Eides des Hippokrates nimmt. Legitimer Gegenstand der Medizin ist in dieser Deutung der erkrankte menschliche Körper. Die medizinische Praxis dient der Vorbeugung und Heilung von Krankheit, der Linderung von Schmerz und krankheitsbedingten Leidens sowie der Vermeidung eines vorzeitigen Todes. Die wichtigste Begrenzung des ärztlichen Handelns ist das Gebot, dem Patienten bei therapeutischen Eingriffen keinen (vermeidbaren) Schaden zuzufügen. Darüber hinaus gilt das Prinzip des Universalismus als für Ärzte handlungsanleitend, das heißt, dass ihre Leistungen in gleichem Maße für alle Patienten gelten sollten, unabhängig von persönlichen Gefühlen, Herkunft, finanziellen Verhältnissen oder sozialem Status. Dabei wird eine prinzipielle Gemeinwohlorientierung erwartet, die sich über die finanziellen Eigeninteressen des Arztes erhebt. Viele dieser Referenzpunkte finden sich auch in den Parsonschen „pattern variables“ und in seiner Beschreibung der Arztrolle wieder. Die Erzählung erstreckt sich aber auch auf die Erwartungen an das Gesundheitswesen und die spezifische Marktordnung. Der Gesundheitsmarkt gilt im Deutungsmuster der hippokratischen Praxis nicht als „echter“ Markt (des freien Austausches von Gütern), sondern als ein Hybrid aus Staat, Ökonomie und Versicherungswesen, der in Deutschland konkret auf einem Solidarprinzip fußt und dadurch die Abgrenzung von der Sphäre des gewinnorientierten Marktes auch institutionell vollzieht. Die post-hippokratische Praxis hingegen stellt ein idealtypisches Modell der Überwindung oder Auflösung dieser „klassischen“ Medizin des 20. Jahrhunderts dar. Der Arzt wird in diesem Sinne zunehmend als ein kommerzieller Dienstleister verstanden, dessen Leistungen sich am Kundenwunsch orientieren. Die auf
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einer Ausweitung medizinischer Diagnostik und einer Entgrenzung medizinischer Therapieformen zurückzuführende Medizin jenseits der Krankheitsbehandlung ist legitimer Bestandteil dieser Art von medizinischer Praxis. Der in diesem Kontext entstehende zweite Gesundheitsmarkt beruht auf Selbstzahlerleistungen, wie den Individuellen Gesundheitsleistungen (IgeL), auf die später noch ausführlicher eingegangen wird. In dieser Erzählung einer neuen Gesundheitsgesellschaft wird Gesundheit als „Megatrend“ stilisiert, der hohes wirtschaftliches Potential mit sich bringt, und diesen ökonomischen Impact mit gesundheitlich angeleiteten Lebenswelten verbindet. Die Abnehmer von gesundheitlichen Dienstleistungen gelten in der post-hippokratischen Praxis nicht mehr nur als Patienten, sondern in zunehmenden Maße als Konsumenten und sogar als Prosumenten, die aktiv in Körper und Gesundheit investieren. An diese Erzählung einer großen Transformation im Gesundheitswesen ist zumindest teilweise die Auflösung normativer Verbindlichkeit geknüpft – etwa in Bezug auf die Zielsetzungen der Medizin. In der folgenden tabellarischen Übersicht habe ich die Veränderung von der hippokratischen zur post-hippokratischen Medizin veranschaulicht und mit bestimmten Elementen des Kommerzialisierungsdiskurses, wie der medizinischen Indikation und den Finanzierungsmodi, in Beziehung gesetzt:
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Abbildung 8: Heuristik des Wandels im medizinischen Handlungsfeld Typus
„hippokratisch“ → „post-hippokratisch“
Idealtypisches Arztbild
Der Arztberuf ist kein Gewerbe. Die ärztliche Handlungspraxis orientiert sich an der Krankheitsindikation.
Der Arzt versteht sich zunehmend als kommerzieller Dienstleister, dessen Leistungen sich am Kundenwunsch orientieren.
Handlungsfeld
Kurative Medizin
Präventivmedizin
Gesundheitsförderung/ -optimierung
Grad der Indikation
Hoch (Leistung medizinisch notwendig)
Mittel (Leistung zumeist medizinisch sinnvoll)
Niedrig (Leistung Medizinisch machbar / ethisch vertretbar bis umstritten)
Modus der Finanzierung
GKV / PKV
IGeL
Dieses typisierende Modell der Tendenzen in der ärztlichen Praxis lässt sich auf ein historisches Modell der Medikalisierung der Gesellschaft übertragen, das die drei dominanten Phasen des Medikalisierungsprozesses in der Moderne veranschaulicht. Es handelt sich bei der Darstellung in Abbildung 9 auf der folgenden Seite ebenfalls um eine idealtypische Deutung von Dynamiken, die in ihrer tatsächlichen Entwicklung keinesfalls trennscharf verlaufen. Vielmehr werden in der Darstellung bestimmte Charakteristika hervorgehoben, durch die bestimmte Abschnitte der Entwicklung der Medikalisierung der Gesellschaft in besonderem Maße gekennzeichnet sind. Wie bereits ausgeführt, unterscheide ich analytisch drei Phasen der Medikalisierung: die Phase der Etablierung der modernen Medizin, die Phase der strukturellen, sozio-kulturellen und technologischen Expansion der Medizin, sowie die Phase der Entgrenzung, in der erste reflexive Wirkungen auf die institutionellen Fundamente der Medizin reagieren und diese zumindest in bestimmten Bereichen in Frage stellen. In dieser Unterscheidung lassen sich die zum Teil aus unterschiedlichen theoretischen und disziplinären Kontexten stammenden Medikalisierungstheorien zuordnen:
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Abbildung 9: Die Medikalisierung der Gesellschaft „Healthscapes“ (vgl. Clarke 2010)
Beschreibung
Biopolitische Ebene
Medizinisches Handlungsfeld
Arztbild
Arzt-PatientBeziehung
Finanzierung in Deutschland
Antriebskräfte
Etablierung “The Rise of Medicine“ (ca. 1890 – 1945) Institutionelle Etablierung der Medizin, soziale Schließung des Gesundheitsmarktes
Hygiene- und Gesundheitspolitik, Sicherung der öffentlichen Gesundheit, Einführung der Versicherungssysteme Vor allem kurative Medizin, Behandlung akuter Erkrankungen, seltener: Prävention
Expansion “Medicalization” (ca. 1940 – 1985) Technisch-materielle, strukturelle und sozio-kulturelle Ausweitung der Medizin
Sicherung der individuellen Gesundheit, Medizin als Mechanismus der sozialen Kontrolle
Entgrenzung “Biomedicalization” (ca. 1980 – Gegenwart) Aufweichung der institutionalisierten Grenzen der Medizin (Gesundheit/Krankheit, Therapie/Enhancement, erster/zweiter Gesundheitsmarkt) Individualisierte Medizin, Gesundheitsbezogene Lebenswelt, Optimierung des Körpers
Kurative Medizin, Behandlung akuter und chronischer Krankheiten, Prävention, Medikalisierung von sozialer Abweichung
Kurative Medizin, Prävention, wunscherfüllende Medizin, Medikalisierung von Risikofaktoren, Genetisierung von Krankheit
Der Arztberuf ist kein Gewerbe. Die ärztliche Handlungspraxis orientiert sich an der Krankheitsindikation.
Der Arzt versteht sich zunehmend als kommerzieller Dienstleister, dessen Leistungen sich am Kundenwunsch orientieren.
PaternalismusModell
Autonomie-Modell
Deliberationsmodell
Erster Gesundheitsmarkt (GKV) dominiert. Der Zweite Gesundheitsmarkt spielt eine untergeordnete Rolle
Die medizinische Profession, soziale Bewegungen, Interessengruppen, Organisationen
Der Zweite Gesundheitsmarkt wird immer wichtiger. Die Unterscheidung zwischen erstem und zweitem Gesundheitsmarkt löst sich teilweise auf (IGeL). Biotechnologie, Konsumenten, managed care
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Mit der Einführung der drei Phasen können die multidisziplinären und bislang divergierenden Ansätze als ein kohärenter Ansatz interpretiert werden. Die in der Medizin und Sozialgeschichte zu verortenden Ansätze beschreiben zumeist Phänomene, die ich hier der Kategorie der ersten Phase der Medikalisierung zuordne. Der in den 1960er und 1970er Jahren in der amerikanischen Soziologie entwickelte medikalisierungstheoretische Ansatz fokussierte vor allem Phänomene, die ich der zweiten Phase der Medikalisierung zuordne, während neuere Debatten aus Sozialwissenschaften und Medizinethik zumeist die aktuellen Veränderungen der „Entgrenzung“ in den Blick nehmen. Mit dem Versuch der Darstellung einer sozio-historisch konsistenten Entwicklung von Medikalisierungsphänomenen sind die oft parallel und ohne Bezug zueinander entwickelten Forschungsansätze auch integrativ als Beiträge einer interdisziplinären Medikalisierungsforschung zu verstehen. Auch Veränderungen in der Arzt-Patient-Beziehung, idealtypische Rollenbilder und der jeweilige Modus der Finanzierung in Deutschland, lassen sich in dieses umfassende Medikalisierungsmodell einfügen. Auch die jüngst vorgenommene historisch-analytische Schematisierung nach Clarke (2010: 108 ff.), in der zwischen den „Gesundheitslandschaften“ (healthscapes) der „Rise of Medicine“, „Medicalization“ und „Biomedicalization“ unterschieden wird (vgl. Abb. 9), fügen sich hier ein. Biomedikalisierung meint bei Clarke et al.: „the increasingly complex, multisited, multidirectional processes of medicalization, both extended and reconstituted through the new social forms of highly technoscientific biomedicine.” (Clarke et al. 2003: 161) Die Diagnose bezieht sich auf Medizin im Ganzen, also auf ihre sozio-kulturelle Einbettung, die ärztliche Praxis und die medizinische Forschung. Sie greift den aktuellen Konsens der Medikalisierungsforschung auf, der die Triebkräfte des Medikalisierungsprozesses als heterogen verursacht begreift und nicht monokausal auf die Ausweitung ärztlicher Machtbereiche zurückführt. Die Ärzteschaft ist demnach nicht mehr der zentrale Stakeholder der Medikalisierungsprozesse vorantreibt. Auch Patienten und Patientenvertretungen, die Industrie, Krankenkassen und andere Akteure des Gesundheitswesens haben je eigene Interessen an einer Medikalisierung bestimmter sozialer Felder. Vor allem wird mit der biomedizinischen Technologie eine ganz zentrale Antriebskraft bezeichnet, die im Rahmen der Medikalisierungsforschung bis dahin kaum Beachtung gefunden hat. Als Treiber von Innovationen und medizinischer Machbarkeit ist dieser Bereich aber entscheidend für medizinische Entwicklungen, Visionen, Hoffnungen und letztlich auch für neue Dienstleistungsbereiche mitverantwortlich. Problematisch ist am Begriff der Biomedikalisierung, dass er die Aspekte der zunehmenden Technisierung, Verwissenschaftlichung und „Molekularisierung“ (Rose 2007) durch die Biomedizin derart in den Vordergrund stellt.
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Ich bevorzuge es daher, nicht zwischen Medikalisierung und Biomedikalisierung zu unterscheiden, und in Bezug auf aktuelle Transformationen im Feld des Medizinischen von Entgrenzungsprozessen zu sprechen, die durch den Prozess der Medikalisierung vorangetrieben werden und damit als Nebenfolgen einer reflexiven Modernisierung der Medizin beschreibbar sind. Ich schließe mit der Entgrenzungssemantik an eine Formulierung an, die im Rahmen der Theoriediskussion und zahlreichen empirischen Studien zur Beschreibung der Reflexiven Modernisierung etabliert worden ist. In Anschluss an Viehöver/Wehling (2011) sowie Wehling et al. (2007) spreche ich demnach von einer Entgrenzung der Medizin, um zu diskutieren inwieweit sich die institutionelle Logik der Medizin in jüngerer Zeit verändert und welche Krisen dadurch entstehen. In den Sozialwissenschaften zeigt sich in den letzten Jahren ein verstärktes Interesse an der Analyse von Transformationsprozessen im medizinischen Feld. Zahlreiche aktuelle Publikationen (vgl. etwa Dickel et al. 2011; Liebsch/Manz 2011; Viehöver/Wehling 2011; Clarke et. al 2008; Kettner 2009; Conrad 2007; Kickbusch 2006) widmen sich unterschiedlichen Problembereichen und Figurationen in und um den Bereich gesellschaftlicher Wechselwirkungen mit den so genannten Lebenswissenschaften und insbesondere der Medizin. In einigen Vorarbeiten zu der vorliegenden Studie habe ich mich mit derartigen Entgrenzungsprozessen in der Medizin beschäftigt (vgl. Karsch 2010; 2011a; 2011b, 2011c; 2011d). Anleitend waren dabei die in der Theorie reflexiver Modernisierung (vgl. Beck/Bonß 2001; Beck/Lau 2004) verankerten Überlegungen von Wehling et al. (2007), in denen auf einen mehrdimensionalen Entgrenzungsprozess hingewiesen wurde, der in Zusammenhang mit gesellschaftlichen Medikalisierungsprozessen steht. Die analysierten Tendenzen der Medizin wurden von Wehling et al. (ebd.) anhand von vier biopolitischen Dynamiken identifiziert: der „Ausweitung medizinischer Diagnostik“, der „Entgrenzung medizinischer Therapie“, der „Entzeitlichung von Krankheit“ sowie der „Perfektionierung der menschlichen Natur“ (so genannte Enhancement-Medizin). Im Kern zielte diese analytische Typisierung von Handlungsorten der Transformation des medizinischen Feldes darauf ab, die zunehmende Fragilität eingespielter Grenzziehungen der für das medizinische Handlungsfeld konstitutiven Unterscheidung zwischen „Krankheit“ und „Gesundheit“ sowie der Unterscheidung der Zielsetzungen „Heilung“ und „Optimierung“ beispielhaft anhand verschiedener Fallstudien nachzuzeichnen. In diesen Untersuchungen wurde analysiert, wie die „Ausfransungen“ des medizinischen Feldes bzw. der Zielsetzungen der Medizin, von den Patienten oder den Nutzern bestimmter medizinischer Angebote wahrgenommen wird, wie diese mit medizinische Optionen, die über klassische therapeutische Zwecke hinausgehen, umgehen und wie diese als Nutzer der Angebote Entgrenzungsprozesse in der Medizin
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sogar mit vorantreiben. Darüber hinaus war auch von Interesse, ob (und welche) neuen Unsicherheiten entstehen, wenn etwa der Status eines Krankheitsbildes und die Legitimität einer Therapie umstritten sind (wie etwa im Falle der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, vgl. Karsch 2011a/c), eine Diagnose nur statistische Wahrscheinlichkeiten produziert in Zukunft an bestimmten Krankheiten zu leiden (wie im Falle der Gendiagnostik), wenn bereits die Evidenz der Wirksamkeit von präventivmedizinischen Therapien fragwürdig ist (wie dies häufig bei Anti-Aging-Maßnahmen der Fall ist), oder dass Medizin sich vollständig von der Zielsetzung der Krankheitsbehandlung abkoppelt und dann in einem rein kommerziellen Marktraum agiert (wie etwa die ästhetische Chirurgie, vgl. Karsch 2011d; Viehöver 2011). Hitzler/Pfadenhauer (1998) beschreiben am Beispiel der Humangenetik wie neue Diagnosemöglichkeiten die Grenzen der kurativen Medizin überschreiten und eine beiläufige Auflösung des Dualismus Krankheit/Gesundheit herbeiführten. Sie verweisen in diesem Zusammenhang auf die Notwendigkeit der Herausbildung eines neuen Typus professioneller Kompetenz im Hinblick auf neue Unsicherheit und Folgen ärztlichen Handelns. Kollek/Lemke (2007) verweisen auf verschiedene Szenarien zur Nutzung prädiktiver Gendiagnostik. Das Angebot genetischer Tests könnte einerseits durch Arztbindung und Indikationsgebundenheit begrenzt und einer Qualitätskontrolle unterliegen oder auf dem freien Markt verfügbar gemacht werden. Neben kommerziellen Labors könnten in Zukunft auch vermehrt dienstleistungsorientierte Arztpraxen prädiktive genetische Tests auch ohne Krankheitsindikation als Selbstzahlerleistung anbieten. Dies würde allerdings eine Liberalisierung der professionellen Selbstkontrolle durch die Rahmenbedingungen der Bundesärztekammer bedeuten. Die prädiktive Diagnostik veranschaulicht auf ganz eigene Weise, wie die Codierung von „krank/gesund“ in bestimmten Handlungsfeldern an Bedeutung verlieren kann. „Entgrenzungen“ wurden also in mehrerer Hinsicht beobachtet: zum einen verliert die ohnehin schon kaum eindeutig trennscharf vorzunehmende Unterscheidung von Krankheit und Gesundheit in einigen Feldern zunehmend an Relevanz. Zum anderen spaltet sich die ursprünglich vor allem therapeutische Zielsetzung der Medizin in solche Leistungen, die der Heilung im Krankheitsfalle dienen und solche, die eher auf eine Optimierung des Status Quo abzielen. Eine eindeutige Zuordnung zu den zwei Dimensionen ist dabei keineswegs eindeutig zu treffen: In den meisten Fällen spielen sich die Handlungsvollzüge in Grauzonen ab. Üblicherweise ist es der Krankheitswert, der bestimmt, wann ein Problem in den medizinischen Zugriffsbereich fällt. In der soziologischen Systemtheorie der Luhmannschen Prägung etwa wird die Medizin als ein operativ geschlossenes, funktionales Teilsystem betrachtet, deren Leitdifferenz die Unterscheidung
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gesund/krank darstellt (vgl. Luhmann 1990; Bauch 1996). Fragt man mit Luhmann (1990: 179), „Wonach richten sich die Ärzte?“, so scheint die Antwort evident: „nur Krankheiten sind für Ärzte instruktiv“ (ebd.). Anhand dieser Kodierung wird die systeminterne Kommunikation gewährleistet, indem etwa der Kommunikationsbereich von Arzt und Patient definiert wird (Luhmann 1990: 179). Im Medizinsystem gilt Krankheit als der positive, das heißt als kommunikativ anschlussfähiger Wert, während Gesundheit lediglich als Reflexionswert dient (ebd.: 187). Krankheiten sind für den Arzt instruktiv, der Krankheitswert bestimmt, wann ein Problem in den medizinischen Zugriffs-bereich fällt. Dies bedeutet, dass zur Krankenbehandlung eben bestimmte Vorstellungen von Gesundheit existieren müssen, ebenso wie etwa die Rechtssprechung Vorstellungen von Unrecht haben muss. Allgemein formuliert kann Krankheit als legitimatorische Kategorie verstanden werden, aus der die Notwendigkeit und Zulässigkeit medizinischer Eingriffe bestimmt wird (Paul 2006: 132). Gesundheit hingegen gilt als teleologische Kategorie und die Behandlung von Krankheit mit dem Ziel der Wiederherstellung von Gesundheit entsprechend als ein zentrales Ziel der Medizin. Dennoch: Gesundheit ist mehr als nur die bloße Abwesenheit von Krankheit. Der vollkommene Gesundheitszustand ist eine offene Projektionsfläche, deren Bedeutung immer auf den Krankheitswert reflektiert und damit medizinische Handlungsfelder mitbestimmt. Nicht zuletzt die für Medikalisierungsprozesse maßgebliche (und häufig kritisierte) Definition der WHO (1948), in der Gesundheit als ein Zustand vollständigen geistigen, physischen und sozialen Wohlbefindens definiert wird, hat mit ihrem utopischen Ansatz den Weg für eine weitreichende Expansion der Medizin mitgestaltet. Die mit dieser Definition vorgenommene diskursive Erweiterung eines somatischen Gesundheitsbegriffes um die Dimension universalen Wohlbefindens hat sich in den letzten Jahren auch in der Praxis immer drastischer an Bedeutung gewonnen (vgl. Jütte 2008). Die dadurch entstehende Grauzone an den Rändern der Bedeutungshorizonte von Krankheit und Gesundheit scheint mit zunehmender Akzeptanz zum legitimen Handlungsfeld medizinischer Praxis zu werden. Diese Ausweitung medizinischer Zugriffsbereiche kann, wie gesagt, als zentrales Element des Medikalisierungsprozesses verstanden werden. Dieses klassische Verständnis der Medikalisierung im Sinne einer Ausweitung medizinischer Zugriffsbereiche, findet seine Entsprechung bei Luhmann (2005:179), wenn er feststellt: „Die Krankheitsterminologien wachsen mit der Medizin, und der Begriff der Gesundheit wird zugleich problematisch und inhaltsleer. Gesunde sind, medizinisch gesehen, noch
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nicht, oder nicht mehr krank oder sie leiden an noch unentdeckten Krankheiten.“ (Luhmann 2005:179)
An anderer Stelle diskutiert Luhmann das Funktionssystem der Medizin (bzw. der Krankheitsbehandlung) und spricht von einer Hypostatisierung der Systemfunktionen, die zu einer „Projektion universeller Relevanz des eigenen Systems unter Inklusion der Gesamtbevölkerung“ (Luhmann 1983: 32) führten. Die darin zum Ausdruck kommende Medikalisierungstendenz führt Luhmann auf die semantische Umkehr der Zielsetzungen des medizinischen Systems zurück, wenn nicht mehr das Heilen von Krankheit, sondern die Wiederherstellung von Gesundheit, medizinisches Handeln teleologisch bestimmt. Diese Semantik nämlich, die sich auch in der Gesundheitsdefinition der WHO ausdrücke, verspreche ein vollständiges körperliches, geistiges und soziales Wohlbefinden und stellt damit auch eine weitreichende Behandlungsbedürftigkeit her. Das System der Krankheitsbehandlung weitet sich damit immer mehr auf Gesundheitsleistungen aus. Diese Medikalisierung jenseits von Krankheit stellt eine Dynamik dar, die als „dritte Gesundheitsrevolution“ (Kickbusch 2007) bezeichnet werden kann. Nach dem der gesundheitspolitische Fortschritt im 19. Jahrhundert für die Sicherung der öffentlichen Gesundheit gesorgt hat, die Etablierung der Versicherungssysteme und medizinischen Versorgungssysteme im 20. Jahrhundert die individuelle Gesundheitsabsicherung gewährleistete, beobachten wir im 21. Jahrhundert immer stärker individualisierte, gesundheitsbezogene Lebenswelten und Lebensstile, die mit einer neuartigen Angebots-Nachfrage-Figuration in Bezug auf medizinische Dienstleistungen einhergeht (ebd.). Innerhalb dieser neuartigen Transformation des Medizinwesens kommt es auch zur Etablierung des so genannten zweiten Gesundheitsmarktes, der im Kontext des Kommerzialisierungsdiskurses eine wichtige Rolle spielt. Dazu zählt unter anderem die Einführung der Individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL) durch die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), die ich in den anschließenden Kapiteln ausführlich diskutieren werde. Durch die im Rahmen der Institutionalisierung von IGeL stattfindende Kodifizierung und Ausdifferenzierung der Präferenzmedizin, wurde der Markt für medizinische Dienstleistungen stark erweitert. Darüber hinaus spezialisieren sich auch immer mehr Mediziner ohne Kassenzulassung in neuen Praxisformen wie Gesundheitszentren und Privatkliniken auf Angebote der Wellness- und Lifestyle-Medizin. Infolgedessen drückt sich die Tendenz einer Entgrenzung der Medizin auch darin aus, dass sich die ärztliche Praxis (zumindest teilweise) auf dem Wege der Umgestaltung zu einer „wunscherfüllenden Medizin“ (Kettner 2006) befindet. Welche Bedeutung das
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Kriterium des Patientenwunsches tatsächlich hat, wird ebenfalls noch zu diskutieren sein. Von Relevanz ist in diesem Zusammenhang auch die Debatte um medical enhancement, also die medizinisch-technische Optimierung des Menschen, die seit einigen Jahren zu einem Dauerbrenner der Medizin- und Bioethik geworden ist. Der Begriff des „Enhancements“ bezeichnet in der bio- und medizinethischen Diskussion die gezielte Veränderung oder „Verbesserung“ kognitiv-emotionaler und körperlich-leiblicher Eigenschaften jenseits kurativer Zielsetzungen (Parens 1998; Schöne-Seifert/Talbot 2009)11. Bei Fukuyama (2002) war diesbezüglich vor einigen Jahren in dezidiert kritischer Absicht vom „Ende des Menschen“ zu lesen: die drohende biotechnologische Revolution, die sich in den Bereichen der künstlichen Verlängerung des Lebens, der genetischen Manipulation, der übersteigerten Bedeutungszunahme der Neuro-Wissenschaften und in der Neuropharmakologie, die eine Manipulation von Emotionen und Verhalten möglich mache, äußere, werde das Selbstverhältnis des Menschen radikal verändern, so Fukuyama (ebd.: 33). Derzeit wird in den Massenmedien und im wissenschaftlichen Diskurs vor allem die Verwendung von Psychopharmaka ohne therapeutischen Zweck – oft als „Hirndoping“ bezeichnet – kontrovers diskutiert. Dabei mehren sich jüngst auch Stimmen, die eindeutig liberale Positionen einnehmen. So sorgte vor einigen Jahren eine in der Zeitschrift Nature publizierte Stellungnahme für Aufsehen, in der mehrere renommierte Naturwissenschaftler und Bioethiker für einen aufgeklärten, selbstbestimmten und offenen Umgang mit so genanntem Neuro-Enhancement plädierten (Greely et al. 2008). Auch die Autoren eines in Deutschland publizierten Memorandums (Galert et al. 2009) treten für einen „offenen und liberalen, aber keineswegs unkritischen oder sorglosen Umgang mit pharmazeutischem Neuro-Enhancement“ (ebd.: 11) ein, in der Hoffnung, dass Neuro-Enhancement-Präparate in der Zukunft „als gezielte Leistungsund Kreativitätsverstärker eingesetzt werden könnten (ebd.: 12). Es bleibt also vorerst ungeklärt, ob medizinisches Enhancement nun eher als „individuelle Chance oder suggestive soziale Norm“ (Wehling 2008) zu verstehen ist. Auch die wichtige Frage nach dem Entstehungszusammenhang der Wünsche nach medizinischer Optimierung bleibt bislang weitgehend unbeantwortet. Die Entgegnung auf diese Frage ist schon deshalb schwierig, da im EnhancementDiskurs oftmals lediglich potentielle Problemfelder, zukünftige Entwicklungen und mögliche Nutzungsmotive thematisiert werden. Wie aber ist die gegenwärtige Sachlage zu beurteilen?
11 Siehe zur Geschichte der „Verbesserung des Menschen“ ausführlich: Wiesing 2006.
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Ob Anti-Depressiva, Methylphenidat oder Modafinil, die meisten Substanzen und Präparate, die als potenzielle Neuro-Enhancer gelten, werden größtenteils zur Behandlung von (mehr oder weniger) eindeutig definierten Krankheitsbildern eingesetzt. Dort, wo sich also medizinische Bereiche abzeichnen, in denen von Enhancement gesprochen werden könnte, ist die Nutzung der Mittel in der Regel medizinisch indiziert, auch wenn die jeweilige Indikation teilweise durchaus umstritten sein kann. Gleichwohl scheint es eine Zunahme an „sozio-medizinischen Störungen“ (vgl. Dunmit 2002) zu geben, die sich durch relativ weiche Diagnosekriterien auszeichnen und bei denen die Verbesserung emotionaler Zustände, kognitiver Leistungsfähigkeit oder sozialer Verhaltensweisen im Mittelpunkt der Therapie steht. Schon Zola stellte fest: “The greatest increase in drug use […] has not been in the realm of treating any organic disease but in treating a large number of psycho-social states. Thus we have drugs for every mood.“ (Zola 1972: 495). Traurigkeit und Erschöpfung, Aufmerksamkeitsdefizite und Schüchternheit sind die Symptome von neuen Krankheitsbildern, die sich in einer definitorischen Grauzone befinden, in der eine Unterscheidung von Krankheit und Gesundheit zunehmend uneindeutig wird (vgl. Karsch 2011a; Karsch 2011b). Viele der Praktiken, die heute oft als Neuro-Enhancement gelten, finden faktisch in einem geschlossenen medikalisierten Feld statt, das heißt im Rahmen medizinisch legitimierter Krankheitsbehandlungen. Eine Ausnahme bildet hier freilich der Medikamentenmissbrauch, also der gezielte Einsatz der entsprechenden Mittel ohne Verschreibung durch einen Arzt, worauf einige Studien verweisen. Dass aber der Konsum leistungssteigernder Mittel ohne medizinische Indikation rechtlich als Missbrauch einzustufen ist, zeigt eindrücklich, in welch hohem Grad es sich um ein sozial geschlossenes Feld handelt. Die ästhetische Chirurgie hingegen ist als ein Paradebeispiel einer „wunscherfüllenden Medizin“ (vgl. Kettner 2009) zu werten. Sie als explizites Enhancement einzuordnen und nahezu vollständig von medizinischen (das heißt präziser: krankheitsbezogenen) Indikationen abgekoppelt. Anstelle der Krankheiten, die üblicherweise den medizinischen Zugriff rechtfertigen, treten der Kundenwunsch bzw. der subjektive Leidensdruck der Patienten. Es findet im Kontext der Kommerzialisierung ärztlicher Leistungen also auch eine Entgrenzung des ärztlichen Heilauftrags statt (vgl. Wehling/Viehöver 2011). Dies wird am Einsatz medizinischer Möglichkeiten zur gezielten Verbesserung körperlicher und geistiger Eigenschaften besonders deutlich. Die Angebote der ästhetischen Chirurgie, die sich stetig steigender Beliebtheit erfreuen, veranschaulichen, wie sich medizinische Leistungen auch jenseits therapeutisch-kurativer Zielsetzungen etablieren konnten. Insgesamt scheint so eine neue Art von Wunschmedizin neben die traditionelle Indikationsmedizin zu treten und tradierte Selbstdeutungsstrategien des
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ärztlichen Kollektivs herauszufordern. Es findet mithin eine Entgrenzung von medizinischen Therapie-Techniken statt, wenn diese ohne medizinische Indikation angewendet werden. So ist im Bereich der Schönheitschirurgie keine Pathologisierung von Zuständen im eigentlichen Sinne festzustellen, die den medizinischen Einsatz legitimieren könnten indem mehr oder weniger klar umrissene Krankheitsbilder definiert würden. Dennoch erscheinen Abweichungen von Normvarianten oder Alterserscheinung zunehmend als behandlungs- bzw. optimierungsbedürftig und geraten dadurch in den Zugriffsbereich der Medizin. Im Bereich des Neuro-Enhancements findet durch die Pathologisierung von Zuständen eine Ausweitung medizinischer Handlungsbereiche statt, in deren Kontext dann implizite EnhancementPraktiken vollzogen werden, beispielsweise, wenn das Neuro-Stimulans Methylphenidat zur kognitiven Leistungssteigerung im Rahmen einer ADHS-Therapie eingenommen wird (Karsch 2011a). Was derzeit also unter medizinisches Enhancement fällt sind deshalb vor allem eindrückliche Beispiele für Medikalisierungsprozesse, also für gesellschaftliche Dynamiken, die sich durch medizinische Kontrolle und Steuerung auszeichnen. Medikalisierung verweist dabei ebenso auf eine Ausweitung medizinischer Deutungs- und Handlungsmacht wie auch auf Prozesse der sozialen Schließung: Allein Ärzte entscheiden als gatekeeper über den legitimen und legalen Zugang zu Enhancement-Möglichkeiten. Das gesamte Spektrum der privat zu finanzierenden Service- oder Wunschmedizin ist auf Bedürfnisse ausgerichtet, die vom Leistungskatalog der GKV nicht abgedeckt werden können. Welche Auswirkungen hat dies auf das Selbstverständnis der Medizin? Kettner (2006: 82) identifiziert drei Entwicklungen, „die das vertraute medizinische Grundverständnis“ erschüttern und die einen Gestaltwandel der Medizin auslösen könnten. Dies sei erstens die Medizin zur Vitaloptimierung und Lebensplanung. Hierzu zählt Kettner verschiedene Formen der Lifestyle-, Anti-Agingund Fortpflanzungsmedizin. Zweitens habe das Begehren nach medizinischen Utopien Auswirkungen auf das medizinische Grundverständnis. Kettner fasst diese unter dem Begriff des medizinischen Enhancements zusammen (vgl. dazu auch Dickel 2011; Dickel et al. 2011; Karsch 2011b). Drittens sieht Kettner die zunehmende Nachfrage nach alternativer Medizin als ein Phänomen, durch das Professionsgrenzen, aber auch die Grenzen zwischen Gesunden und Kranken zunehmend verschwimmen. Kettner sieht die so genannte „wunscherfüllende Medizin“ als das zentrale Paradigma dieser neuartigen medizinischen Handlungsbereiche. Gemeinsam ist den von Kettner identifizierten Gesundheitsleistungen, dass sie zumeist nicht medizinisch indiziert und somit individualvertraglich als Zusatzleistung angeboten werden müssen. Folglich werden die Patienten in den
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verschiedenen Spielarten der Wunschmedizin – anders als in der rein kurativen Medizin – tendenziell als Kunden behandelt. Die kommerzielle, auf Konsumenten ausgerichtete Medizin, führe dazu, dass sich das ärztliche Ethos und die professionelle Autonomie zurückbilden. Die Triebkraft dieser Entwicklung scheint die weitreichende Ökonomisierung des Gesundheitswesens zu sein, die von der Ärzteschaft „eine neue Ethik im Rahmen geänderter Grundbedingungen“ (Unschuld 2006: 95) einfordert. Der Medizinethiker Giovanni Maio (2007) hat auf die Problematiken verwiesen, die im Kontext dieser Entwicklung entstehen können. Er stellt drei markante Veränderungslinien der modernen Medizin fest: Erstens die Entgrenzung der Ansprüche an die Medizin im Kontext gesellschaftlicher Individualisierung und Wohlstandsentfaltung, die eine Konstellation aus Selbstverantwortung und einer Ideologie des mangellosen Lebens hervorgebracht hat. Zweitens den Umbruch der Medizin von der normativen Ausrichtung ärztlicher Hilfe zur Dienstleistung auf Wunsch, die statt Leidenslinderung ein an der Kundenpräferenz orientiertes spezialisiertes Wissen- und Technikspektrum anbietet. Und drittens die Implementierung ökonomischer Wertemuster in die Medizin, durch die das „Diktat der Gewinnmaximierung zunehmend zum Identitätsstiftenden Moment wird“ (ebd.: 239). Maio kritisiert die Tendenz des Wandels der Arzt-Patient-Beziehung zu einer „reinen Marktbeziehung“ (ebd.). Die moderne Medizin mache im Zuge der Marktorientierung den Patienten zu einem Kunden, der nur noch als Konsument „und in seiner Kaufkraft“ wahrgenommen würde; sie benötige – so Maio – eine marktunabhängige Vision, da sie dem Ökonomisierungsdruck keine eigene Identität mehr entgegenzusetzen vermag. Diese warnende Einschätzung des Ethikers Maio verweist zumindest deutlich auf eines der Grundprobleme der kommerziellen Präferenzmedizin: Wie kann eine Profession ihre autonome und ursprünglich auf Marktunabhängigkeit beruhende Position erhalten, wenn Sie sich gleichzeitig als „Gesundheitsladen“ (Jachertz 2002) präsentiert? Kettner (2006), der den Begriff der „wunscherfüllenden Medizin“ in die Diskussion eingeführt hat, argumentiert, dass Kommerzialisierungstendenzen das normative Grundverständnis der kurativen Medizin in Frage stellen und die Ärzteschaft in „Verächter und Verfechter“ (ebd.: 82) entzweien. Unschuld (2006) sieht das Image der Ärzte in der Öffentlichkeit bereits als beschädigt. Wird der Arzt zu einem Gewerbetreiber in der Gesundheitsindustrie, ist nicht mehr eindeutig zu entscheiden, ob es wirtschaftliche oder humanitäre Motive sind, die eine Behandlungsstrategie bestimmen. Die Diagnose einer Entgrenzung zeigt zunächst vor allem auf, dass sich die medizinische Praxis ständig neuen (auch ethischen) Fragen stellen muss, die teilweise durch die Dynamik der Medikalisierung erst hervorgebracht werden. Erst
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die Phänomene der Entgrenzung bzw. deren kritische Verhandlung zeigen auf, dass so etwas wie eine Leitkodierung, die die sinnhaften Grenzen des Systems, der medizinischen Logik und des medizinischen Handlungsfeldes mitbestimmt, überhaupt von Relevanz ist. Wie in den folgenden Ausführungen immer wieder aufscheinen wird, ist es die Unterscheidung von krank/gesund, die weiterhin die Grenzen des ärztlichen Handlungsfeldes (in ethischer, rechtlicher und ökonomischer Hinsicht) absteckt und daher auch Fragen der Ressourcenallokation zentral mitbestimmt. Der Gesundheitsboom, der weitläufige Imperativ einer gesundheitsorientierten Lebensführung und die grundsätzlich gestiegenen Anforderungen der Konsumenten von Gesundheitsdienstleistungen können als Medikalisierungseffekte verstanden werden, die (vor allem niedergelassenen) Ärzten ein neues Feld an Marktchancen eröffnet haben. Diese Problematik wird im folgenden Kapitel vertiefend diskutiert.
4.4 V ON
DER G RUNDVERSORGUNG ZUR S ERVICE -M EDIZIN
4.4.1 Das deutsche Gesundheitswesen Die zuvor skizzierten Entwicklungen haben sich in Figuration von Institutionen und Akteuren niedergeschlagen, die in ihrer Gesamtheit das Gesundheitswesen bilden. Im Folgenden möchte ich den Blick also auf die Kontextbedingungen des Kommerzialisierungsdiskurses richten. Für das Verständnis der Problematisierung der Entgrenzung von „Markt und Moral“ ist es wichtig zu verstehen, was die faktischen Bedingungen sind, die den Diskurs erst hervorgebracht haben. Ich führe dazu kurz in das „Wesen“ des Gesundheitssystems ein, indem ich auf die Grundlagen seines Finanzierungsmodells eingehe. In einem zweiten Schritt beschreibe ich davon ausgehend, wie es zur Stärkung des zweiten Gesundheitsmarktes in Form der Institutionalisierung individueller Gesundheitsleistungen gekommen ist und zeige anhand zahlreicher Studien aus der Versorgungs-forschung, Tendenzen und Probleme dieses „neuen“ Marktes in der Medizin auf. Als Gesundheitswesen kann die „Gesamtheit der Normen, Institutionen und Personen, die sich mit der Versorgung der Bevölkerung mit Gesundheitsleistungen befassen“ (Schulenburg/Greiner 2007: 52), bezeichnet werden. Das zentrale Ziel dieser Figurationen ist es, eine stabile Gesundheitsversorgung zu leisten. Im
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Kern handelt es sich bei dem Gesundheitssystem, neben vielfältigen anderen Nebenfunktionen, um ein „System zur Sicherung im Krankheitsfall“ (Simon 2008: 15). In der Beschreibung der Akteure und Institutionen im Gesundheitswesen kann zwischen Makro-, Meso- und Mikro-Ebene unterschieden werden. Die Makroebene bilden die staatlichen Akteure, dazu gehören Bundes- und Landesministerien für Gesundheit, die das Ziel verfolgen, die übrigen Akteure und Institutionen zu regulieren, indem sie Gesetze und Verordnungen verabschieden sowie deren Einhaltung überwachen. Die Mesoebene besteht aus den Organisationen und Institutionen der Selbstverwaltung in der gesetzlichen Krankenversicherung sowie aus so genannten „freien“ Organisationen und Institutionen. Dazu zählen unter anderem die Bundesärztekammer, die Kassenärztliche Bundesvereinigung, der Bund der Krankenkassen und der Gemeinsame Bundesauschuss der Ärzte. Die Mikroebene schließlich besteht aus den Individualakteuren wie Ärztinnen und Ärzten, Versicherten, Patientinnen und Patienten, Krankenhäusern etc. Sie bieten Gesundheitsgüter an oder fragen sie nach und unterliegen gesetzlichen und normativen Rahmenbedingungen. Gegenwärtig besteht in fast allen modernen, westlichen Industriestaaten eine staatliche gestützte Gesundheitsversorgung, die auf einem Krankenversicherungsprinzip beruht. Auch in den USA, die häufig als Gegenbeispiel angeführt werden, besteht eine derartige Versorgungssituation (vgl. Schulenburg/Greiner 2007: 6). Bereits in den 1960er Jahren, lange vor den Bestrebungen zu einer Reform der Gesundheitsversorgung durch die Obama-Regierung, wurden die sozialstaatlichen Versicherungssysteme Medicare und Medicaid für ältere, behinderte und Bürger mit geringem Einkommen eingeführt (ebd.). Im Detail unterscheiden sich die verschiedenen Systeme der westlichen Industriestaaten in ihren jeweiligen Organisations- und Finanzierungsmodi. Eine häufig vorgenommene Differenzierung unterscheidet zwischen dem so genannten Beverigde-Modell und dem Bismarck-Modell (vgl. Rothgang 2009). Otto von Bismarck hat im 19. Jahrhundert mit der Einführung einer gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland den Weg für ein modernes Sozialversicherungssystem geebnet. Die von Bismarck erdachte Krankenkasse zielte vor allem auf Erwerbstätige ab, wobei sich die Finanzierung nach Einkommen staffelte. Der Brite William Beveridge setzte in den 1940er Jahren stärker auf eine Grundversorgung für alle Bürger, die durch Eigenleistungen ergänzt werden konnte. Die Finanzierung erfolgt in diesem Modell über Steuergelder. In Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg hat sich wiederum ein Modell in der Tradition Bismarcks durchgesetzt, obwohl das Gesundheitssystem am Rande eines tiefgreifenden Kontinuitätsbruchs stand, und die Pläne der Alliierten sich stärker am Beveridge-Modell
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orientierten. Die Entscheidung wurde schließlich dem deutschen Bundestag überlassen, der sich einigte, die Grundlagen des traditionellen deutschen Sozialversicherungssystems wieder herzustellen (vgl. Oschmiansky/Kühl 2010). In nachstehender Tabelle werden die Modelle anhand der Kriterien der Finanzierung, der Leistungsanbieter und der Reguliermechanismen unterschieden und mit dem Privatversicherungsmodell kontrastiert: Abbildung 10: Typologie von Gesundheitssystemen (nach Rothgang 2009) Gesundheitssystemtyp
Finanzierung
Leistungserbringung
Regulierung
Nationaler Gesundheitsdienst (Beveridge)
Öffentlich (durch Steuern)
Öffentliche Anbieter
Staatliche Hierarchie
Öffentlich (durch Beiträge)
Öffentliche und private Anbieter
Kollektivverhandlungen gesellschaftlicher Akteure
Privat (risikoabhängige Prämien)
Private Anbieter
Wettbewerb privater Marktteilnehmer
Sozialversicherung (Bismark) Privatversicherungssystem
Diese klassische Differenzierung der Wohlfahrtstaats- und Versorgungsforschung ist heute nach wie vor aufschlussreich. Zum einen, da sie den historischen Hintergrund der verschiedenen europäischen Versorgungssysteme nachzeichnet und zum anderen, weil anhand der Dimensionen Finanzierung, Leistungserbringung und Regulierung auch aktuelle Typen von Gesundheitssystemen beschrieben werden können (vgl. Wendt/Rothgang 2007). Für die hier vorgenommene Diskussion von Kommerzialisierungstendenzen ist vor allem die Beschreibung des Finanzierungsmodus relevant, ob Leistungen also öffentlich, das heißt über Sozialversicherungsbeiträge oder Steuern bzw. privat finanziert werden. Private Finanzierungen lassen sich nochmals in private Versicherungen und so genannte „Out-of-pocket“ Zahlungen unterscheiden, zu denen auch die zunehmend kontrovers diskutierten Individuellen Gesundheitsleistungen zählen, die im Folgenden noch ausführlich diskutiert werden. Ergänzend zur Finanzierungsdimension ziehen Wendt/Rothgang (2007) die Leistungsdimension zur weiteren Differenzierung heran. Dazu unterscheiden sie zwischen staatlichen (nicht-gewinnorientierten) sowie privaten (nicht-gewinnorientierten sowie gewinnorientierten) Leistungsanbietern in der Krankenhausversorgung und im ambulanten Bereich. Anhand dieser Unterscheidungsdimensionen lassen sich verschiedene Typen von Gesundheitssystemen typologisch be-
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schreiben, wodurch eine Zuordnung und Präzisierung des deutschen Gesundheitswesens erfolgen kann (vgl. Abbildung 11). Ein rein markwirtschaftliches (gewinnorientiertes) Gesundheitssystem wäre demnach über private „Out-of-pocket“-Zahlungen finanziert, ein rein staatliches System nur über Steuern, ein Sozialversicherungssystem über Beiträge und ein Mischsystem über eine aus den verschiedenen Systemen zusammengesetzte Finanzierung. Abbildung 11: Modi der Finanzierung (nach Rothgang 2009) Das deutsche Gesundheitswesen
Finanzierung
Leistungserbringung
staatlich
Öffentlich: durch Steuern
Nicht-gewinnorientiert
Öffentlich: durch Sozialversicherungsbeiträge privat
Privat: (Privatversicherungs-) Prämien Privat: Out-of-Pocket Zahlungen, Zuzahlungen und private Leistungen. OTC-Arzneimittel und IGeL)
Teilweise gewinnorientiert
Das deutsche Gesundheitssystem ist ein derartiges gemischtes System, das sich wie folgt zusammensetzt: Im Kern wird das Gesundheitswesen über Sozialversicherungsbeiträge getragen, über die sowohl der Großteil der medizinischen Grundversorgung der Gesetzlichen Krankenversicherungen sowie auch die Renten und Unfallversicherung getragen werden. Staatliche Elemente, die über Steuern finanziert werden, finden sich unter anderem in Investitionen in Kliniken sowie Universitätskrankenhäusern mit Lehr- und Forschungsabteilungen. Auch Beihilfe und soziale Subventionen werden über Steuermittel finanziert. Schließlich existiert ein (wachsender) privater Sektor, zu dem die Selbstbeteiligung an Kassenleistungen ebenso zählt, wie die private Krankenversicherung, individuelle Gesundheitsleistungen und sonstige private Gesundheitsausgaben wie Sehhilfen und nicht verschreibungspflichtige Gesundheitsprodukte (ebd.).
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4.4.2 Der zweite Gesundheitsmarkt In einem „gemischten“ Gesundheitswesen ist ein privater Sektor, wie gezeigt, nicht ungewöhnlich. Selbstzahlermedizin als solche ist demnach auch kein gänzlich neues Phänomen. Vor allem im Bereich der Prävention, der Vorsorge, der Reisemedizin und im weiteren Lifestylebereich sind Selbstzahlerleistungen etablierte und weitgehend unumstrittene Dienstleitungen, die nach SGB V kein Bestandteil der GKV-Leistungen sein können. Als unproblematisches Randphänomen der ärztlichen Praxis, bestand daher lange kein Bedarf, Selbstzahlerleistungen zu problematisieren. Was hat sich nun geändert? Mittlerweile hat das Angebot an privat zu liquidierenden medizinischen Angeboten derart zugenommen, dass bereits von einem „zweiten Gesundheitsmarkt“ (Krimmel 2005) die Rede ist, der der hybriden Marktordnung des bisherigen („ersten“) Gesundheitswesens gegenübergestellt wird. Der in seiner Bedeutung und in seinem Umfang wachsende private Sektor ist die Sphäre des Gesundheitswesens, die im Kern kommerziell orientiert und organisiert ist. Im Zentrum der Untersuchung von Profitorientierung in der ärztlichen Praxis steht daher die Analyse dieses expandierenden „zweiten Gesundheitsmarktes“. Dieser ist definiert als: „[…] gesamter Wirtschaftsbereich von Gesundheitsleistungen und -gütern im weiteren Sinn, die nicht durch die Gesetzliche (GKV) oder Private (PKV) Krankenversicherung abgedeckt sind, sondern privat in Anspruch genommen werden. Dieser reicht von Wellnessangeboten bis zu Nahrungsergänzungsmitteln oder Sportartikeln. Auch individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) werden als Teil des zweiten Gesundheitsmarkts verstanden.“ (Schnell-Inderst 2011: XVIII).
Mit dem zweiten Gesundheitsmarkt werden alle gesundheitsrelevanten, privat finanzierten Produkte und Dienstleistungen bezeichnet. Dies beinhaltet u.a. frei verkäufliche Arzneimittel, Wellnessangebote, den Gesundheitstourismus sowie auch individuelle Gesundheitsleistungen in der Arztpraxis (siehe Abbildung 1). Von den insgesamt 103,2 Mrd. Euro der jährlichen gesundheitsbezogenen Konsumausgaben in Deutschland entfällt etwa die Hälfte (54,6 Mrd. Euro) auf solche Ausgaben, die dem zweiten Gesundheitsmarkt zuzurechnen sind (BMWi 2009: 24). Individuelle Gesundheitsleistungen sind also Bestandteil des so genannten „Zweiten Gesundheitsmarktes“ (Henke 2009) und letztlich ist die Ausdehnung des Marktes nicht zuletzt auf die Einführung des Konzepts der so genannten Individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL) zurückzuführen.
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Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) hat das Konzept der Individuellen Gesundheitsleistungen 1998 der Öffentlichkeit vorgestellt. Die Konzeption der IGeL war das Ergebnis einer langjährigen (aber letztlich weitgehend erfolglosen) Debatte der KBV mit den Spitzenverbänden der Krankenkassen, in der, nach Einführung von Honorarbudgets versucht wurde, die Aufnahme neuer medizinsicher Leistungen in den Katalog der vertragsärztlichen Leistungen durchzusetzen (vgl. Schiller/Steinhilper 2007). Um sinkende Einnahmen zu kompensieren, wurde das Konzept der individuellen Gesundheitsleistungen entworfen, dass den Vertragsärzten das Angebot von Nicht-Krankenkassenleistungen erleichtern sollte. Laut Darstellung der KBV sollte damit sichergestellt werden, „dass bei Leistungen außerhalb des GKV-Katalogs vertragsärztliche und berufsrechtliche Grenzen ärztlicher Berufsausübung beachtet werden.“ (ebd.) Dennoch treten gerade die wirtschaftlichen Motive deutlich in den Vordergrund, befindet sich doch hinter den als IGeL subsumierten Leistungen weder ein inhaltlich definiertes Konzept, noch eine genuin medizinische Motivation. Individuelle Gesundheitsleistungen sind indes als ärztliche Leistungen definiert, „die nicht zum Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung gehören, die dennoch von Patienten nachgefragt werden und die ärztlich empfehlenswert oder – je nach Intensität des Patientenwunsches – zumindest ärztlich vertretbar sind“ (Hess/KlakowFranck 2005: 5).
Die Liste der Leistungen, die als IGeL kodiert worden ist, ist dementsprechend unverbindlich. Dies bedeutet in der Praxis, dass Ärzte jegliche Leistungen, die keine Regelleistungen sind, als IGeL vermarkten können (aber nicht müssen). So firmieren etwa die Leistungen der ästhetischen Chirurgie zumeist nicht unter dem Label „IGeL“, sondern finden in einem gesonderten Praxisfeld statt, obwohl diese durchaus auch in Arztpraxen als IGeL vermarktet werden könnten. Ähnliches gilt für Leistungen der Anti-Aging-Medizin, die zwar teilweise auch in IGeL-Listen aufgenommen sind, daneben aber einen eigenständigen Markt konstituieren, der eher selten mit dem IGeL-Konzept in Verbindung gebracht wird. Entsprechend groß ist daher die Bandbreite an Leistungen, die angeboten werden: Das Spektrum reicht von medizinisch sinnvollen (aber nicht krankheitsinduzierten) Vorsorgeuntersuchungen, über fortpflanzungsmedizinische Angebote (etwa Schwangerschaftstests oder assistierte Reproduktion), Lifestyle-Medizin, bis hin zu spezifischen Anti-Aging-Leistungen und kosmetisch-ästhetischen Eingriffen. Aufgrund der großen Heterogenität existierten lange nur informelle Qualitäts- und Bewertungsmaßstäbe (vgl. Windeler 2006). Erst im Jahr 2012 hat der Medizinische
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Dienst des Spitzenverbandes der Krankenkassen (MDS) den so genannten IGeLMonitor eingeführt, ein Internet-Portal, das sich sowohl an Ärzte als auch Patienten richtet und das – so der Eigenanspruch – neutrale, wissenschaftliche und unabhängige Bewertungen der verschiedensten IGeL vornimmt und Vor- und Nachteile der Leistungen darstellt und übersichtlich aufbereitet. Wie in unten stehender Abbildung veranschaulicht, ist das gemeinsame Merkmal der breiten Angebotspalette an Selbstzahlerleistungen, dass sie nicht Bestandteil des Leistungskatalogs der Gesetzlichen Krankversicherung (GKV) sind. Welche Leistungen von GKV abgedeckt werden, beschließt laut SGB-V der Gemeinsame Bundesauschuss (G-BA) als höchstes Gremium der gemeinsamen Selbstverwaltung der deutschen Ärzte, Krankenkassen und Krankenhäuser. Grundlegend für die Versorgung im Rahmen der GKV ist das Sachleistungsprinzip, welches vorsieht, dass Patienten Leistungen gegen Vorlage der Versichertenkarte erhalten, ohne dabei selber zahlen zu müssen. Die Leistungserbringer schließen dafür Verträge mit den Krankenkassen, die von den Patienten Versicherungsbeiträge erhalten. Die Leistungen der GKV bilden in Deutschland den Rahmen rechtmäßiger und notwendiger medizinischer Versorgung. Sie lassen sich unterteilen in Leistungen zur Krankenbehandlung und Rehabilitation, Leistungen zur Früherkennung und Verhütung von Krankheiten sowie Leistungen zur Empfängnisverhütung und bei Schwangerschaft (vgl. SGB V). Nach dem Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 Abs. 1 SGB V müssen die Leistungen „ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich“ sein. Nicht notwendige oder unwirtschaftliche Leistungen dürfen Versicherte nicht beanspruchen, Leistungserbringer nicht bewirken und Krankenkassen nicht bewilligen (ebd.). Der Markt für medizinische Selbstzahlerleistungen konstituiert sich demnach aus Leistungen, die diesen grundsätzlichen Anforderungen nicht entsprechen, aber (im Idealfall) dennoch nützlich sind, oder eben zumindest dem Wunsch des Patienten entsprechen. Im Jahr 2005 stellt das wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) einen Anstieg des Marktvolumens von privat angebotenen Zusatzleistungen in Arztpraxen um 44 Prozent auf 1 Mrd. Euro fest (WIdO 2005). Mittlerweile bieten über 64 Prozent aller Ärzte Zusatzleistungen an und das Marktvolumen ist bei gesetzlich Versicherten seit dem Jahr 2005 auf etwa 1,5 Milliarden Euro angestiegen (WIdO 2010). Inzwischen wird mehr als 28 Prozent der Versicherten eine medizinische Leistung angeboten, die privat zu bezahlen ist (WIdO 2010). Daraus kann errechnet werden, dass den GKV-Versicherten im Jahr 2010 20,9 Millionen private Zusatzleistungen angeboten bzw. von diesen nachgefragt wurden (WIdO 2010: 4). Bei rund 75,7 Prozent tatsächlich durchgeführter Leistungen wurden 2010 schätzungsweise 15,8 Millionen IGeL-Leistungen verkauft. Damit wäre der IGeL-Markt seit 2005 um rund 50 Prozent angewachsen (vgl.
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WIdO 2005, 201). Mit über 71,2 Prozent des Gesamtumsatzes bleiben die GKVEinnahmen dennoch die wichtigste finanzielle Säule der niedergelassen Ärztinnen und Ärzte in Deutschland (vgl. Abbildung 12). Selbstzahlerleistungen (IGeL) hingegen machen mit 6,1 Prozent nur einen sehr begrenzten Anteil des Umsatzes aus. Tatsächlich ist der Anteil des Selbstzahlerumsatzes im Jahr 2010 gegenüber dem Vorjahr (6,8 Prozent, vgl. Obermann 2009: 7) sogar leicht zurückgegangen, was unter Umständen auf die konjunkturelle Gesamtlage zurückzuführen ist. Abbildung 12: Praxisumsatz (Quelle: Obermann 2010: 9)
Eine repräsentative Studie aus dem Jahr 2005 zeigt, dass etwa drei Viertel der befragten Ärztinnen und Ärzte IGeL anbieten und weitere 8 Prozent planen, dies zu tun. Dabei geben 49 Prozent an, „dass ihre Praxis ohne diese Zusatzleistungen auf Dauer nicht wirtschaftlich zu betreiben sei“ (GfK 2005: 18). Eine Studie der Ärztezeitung und der Privatärztlichen Verrechnungsstellen (PVS)12 von 2009 weist darauf hin, dass sich die Bedeutung von IGeL weiterhin vergrößert und dass die befragten Ärztinnen und Ärzte in Zukunft eine deutliche Umsatzsteigerung durch IGeL-Angebote erwarten. Die PVS-Studie liefert allerdings auch Ergebnisse auf die Frage, ob Ärzte Gesundheitsleistungen auch anbieten würden, wenn ihre Arbeit als Kassenarzt angemessener bezahlt wäre. 64,8
12 http://igel-umfrage.de/fileadmin/user_upload/PDF/Auswertung-2009.pdf (letzter Zugriff: 24.8.2011).
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Prozent bejahen die Frage, vom Patienten-Nutzen der IGeL-Angebote überzeugt zu sein. In einer Umfrage des „Gesundheitsmonitors“ der CompuGroup Medical von 2011 gaben 24 Prozent der befragten Ärzte, die bislang keine IGeL im Angebot haben, an, dass sie IGeL anbieten würden, wenn sie in ihrer Praxis mehr Zeit zur Verfügung hätten 13. Anhand dieser Erhebungen zeigt sich der Trend, dass immer mehr Ärzte individuelle Gesundheitsleistungen als tragenden Bestandteil in ihre Praxis integrieren, dennoch gibt es nach wie vor viele Ärzte, die IGeL ablehnen: etwa 26 Prozent der Befragten steht den IGeL kritisch gegenüber (PVS 2009). Eine häufig geäußerte Kritik lautet, dass der kommerzielle Ansatz des IGeL-Konzepts nicht mit dem beruflichen Ethos der Ärzteschaft vereinbar sei (Deutsches Ärzteblatt 2010). Darüber hinaus sehen sich Ärzte heute stärker im Wettbewerb mit anderen Kollegen. Dieser Wettbewerb finde vor allem im Verhalten gegenüber den Patienten, den Öffnungszeiten und den Selbstzahlerangeboten statt (GfK 2006: 19). Diese Wettbewerbssituation verschärfe den Druck auf niedergelassene Ärzte, sich dem ökonomischen Handeln zu öffnen. Das vertrauensvolle Arzt-PatientenVerhältnis sei dann gefährdet, wenn nicht mehr eindeutig auszumachen ist, ob sich ein Angebot in der Arztpraxis am medizinischen Nutzen oder an finanziellen Interessen des Angebotsstellers orientiere. So bejaht ein Drittel aller GKV-Versicherten, dass IGeL-Angebote Auswirkungen auf das Arzt-Patienten-Verhältnis haben (WIdO 2010: 7). Beinahe jeder zweite Patient, der bereits Erfahrungen mit IGeL gemacht hat, sieht dadurch das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient beeinflusst. Dabei gehen 76,9 Prozent dieser Patienten von einer Verschlechterung und nur 17,9 Prozent von einer Verbesserung der Beziehung aus (ebd.). Trotz der weitgehenden Etablierung von IGeL zeigt sich also deutlich ein bestehendes Misstrauen auf Seiten der Versicherten. Dazu ist auch festzustellen, dass deutlich weniger Leistungen aus eigener Initiative direkt von den Patienten nachgefragt werden (vgl. WIdO 2005). Es zeichnet sich demnach ab, dass hier von Anbieterseite Nachfrage generiert wird. Dabei spielen neben dem Arzt die Arzthelferinnen die wichtigste Rolle: 35, 8 Prozent der Befragten (ebd.) geben an, von einer Arzthelferin auf die IGeL-Leistung aufmerksam gemacht worden zu sein. Das Praxispersonal spielt eine Schlüsselrolle in der Angebotsstellung von Individuellen Gesundheitsleistungen. 7,1 Prozent der von der WIdO (2005) befragten Patienten wurden bereits bei der Anmeldung vom Praxispersonal darauf
13 http://www.cg-gesundheitsmonitor.de/ (letzter Zugriff: 24.8.2011).
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aufmerksam gemacht, sich vor der Behandlung für oder gegen eine Selbstzahlerleistung entscheiden zu müssen (WIdO 2005: 54). Dies wurde von den Patienten negativ als „Entscheidungsdruck“ wahrgenommen (ebd.). Dieser Trend hat freilich deutliche Auswirkungen auf die Wahrnehmung von Ärzten. Heier/Marstedt (2012) beschreiben anhand einer aktuellen quantitativen, repräsentativen Befragung von 1772 Personen im Alter von 9-79 Jahren das Ärzteimage in Deutschland. Die Befragten bemängeln lange Wartezeiten und führen diese auf eine zunehmende Zwei-Klassen-Medizin zurück. Auch in der Qualität der eigentlichen Behandlungen werden diese Unterschiede wahrgenommen. Weit mehr als die Hälfte der GKV-Versicherten, aber nur ein Drittel der PKV-Versicherten glauben, dass Ärzte ihre eigenen Verdienstinteressen über das Wohl der Patienten stellen. Insbesondere IGeL-Angebote werden kritisch bewertet. Die Hälfte aller Befragten (aller Versicherungsarten) betont, dass es den Ärzten bei IGeL „ums Geld, und nicht um Gesundheit gehe und dass dadurch das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient belastet werde“ (ebd.). Als wichtigste Einflussvariable zeigen sich dabei persönliche Versorgungserfahrungen. Im Rahmen einer multivariaten Analyse der Befragungsergebnisse wurden verschiedene Variablen mit negativen Aspekten des Ärzteimages in Zusammenhang gestellt. Relevant für die in der vorliegenden Arbeit geführte Diskussion sind die Items „Ärzte handeln heute häufig vorrangig zugunsten eigener finanzieller Interessen“ und „Finanzielle Aspekte sind Ärzten wichtiger als ihre Patienten“. Bei der Korrelation mit verschiedenen Einflussvariablen zeigte sich, dass vor allem Befragte aus der sozioökonomischen „Unterschicht“ (ebd.: 70) diesen Negativimages zustimmen. Besonders signifikant zeigte sich die Korrelation mit der Variable „erlebte Achtung und Respekt beim letzten Arztkontakt: gering“ sowie „persönliche Erfahrungen mit Benachteiligung“. Diese Befragten hatten in Bezug auf die ökonomische Handlungsorientierung der Ärzte eine besonders negative Meinung. Diejenigen Patienten, denen bereits IGeL angeboten wurden, kritisieren deutlich häufiger, dass Ärzte ihre Verdienstinteressen über das Patientenwohl stellen, als eine Kontrollgruppe, die noch nie IGeL angeboten bekommen hat. Das Negativimage ist dort allerdings nicht so signifikant ausgeprägt wie bei den zuvor genannten. Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die Meinungen der Befragten zu IGeL im Allgemeinen, die nicht konsistent sind und die Unsicherheit der Patienten deutlich widerspiegeln: „Einerseits glauben fast neun von zehn Befragten, dass Igel-Angebote von den Krankenkassen nicht bezahlt werden, weil diese Geld sparen wollten. Über 80 Prozent stimmten der These zu, IGeL-Leistungen seien gut, aber zu teuer. Andererseits denken 44 Prozent,
130 | MEDIZIN ZW ISCHEN M ARKT UND M ORAL GKV- und PKV-Versicherte gleichermaßen, dass diese Leistungen größtenteils überflüssig sind. Und eine ähnlich große Gruppe meint, dass es den Ärzten um Geld und nicht um Gesundheit gehe und dass aufgrund von IGel-Angeboten das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient belastet werde.“ (ebd.: 62).
Unter Vorgriff auf das folgende Kapitel kann diese Bilanz durchaus als paradigmatisch für den IGeL-Diskurs gelten. Im oben angeführten Zitat werden verschiedene Aspekte und Folgeprobleme des IGeL-Marktes benannt, die immer wieder auch im professionellen Diskurs aufscheinen. Erstens wird hier die je nach Argumentation ganz unterschiedliche Zuweisung der Positionen Held/Anti-Held vorgenommen: mal scheinen es die Kassen zu sein, die auf Grund des Sparzwanges notwendige Leistungen verweigern, mal sind es die Ärzte, die überflüssige Leistungen anbieten. Zweitens wird hier der Vorwurf geäußert, dass Ärzte im Rahmen der IGeL-Angebote primär monetäre Motive hätten und drittens wird als Konsequenz die Erosion des Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patient postuliert. Wie zu sehen sein wird, sind dies tragende Elemente, an denen sich die Debatte um die Kommerzialisierung der ärztlichen Praxis aufreibt. Den in diesem Kapitel veranschaulichten Prozess der Etablierung von IGeL in den Arztpraxen interpretiere ich – trotz zahlreicher Widerstände auch innerhalb der Profession – als einen Motor für die Transformation von „Medizin als Dienstleistungsbereich“ (Maio 2006: 340) und als treibende Kraft hinter der Ausdifferenzierung des Gesundheitsmarktes. Dies spiegelt sich einerseits deutlich in den zitierten Studien zur Expansion des zweiten Gesundheitsmarktes wider, wie auch andererseits in der zunehmenden diskursiven Thematisierung innerhalb der Ärzteschaft, in der die IGeL-Medizin ein intensiv umkämpftes Feld darstellt. In der Zusammenschau lässt sich feststellen, dass die Bedeutung eines kundenorientierten kommerziellen Gesundheitsmarktes immer größer wird. Die IGeL-Leistungen haben im zweiten Gesundheitsmarkt eine Schlüsselrolle inne. Die stetig wachsende Akzeptanz unter Ärzten und die zunehmende Angebotsstellung von IGeL treffen auf eine Situation, in der der Umfang von GKV-Leistungen zusehends schrumpft. Dennoch: Der Anteil der IGeL am gesamten Praxisumsatz bleibt derzeit noch überraschend gering. Daraus kann man schließen, dass der Markt für IGeL zwar ein großes (ökonomisches) Potential besitzt, dieses jedoch nicht in vollem Maße ausschöpft. Warum ist das so? Zum erfolgreichen „IGeLn“ gehören anscheinend Verkaufsstrategien, die (derzeit) sowohl auf (steuer-)rechtliche wie auch vor allem auf ethisch-normative Grenzen stoßen. Wenn Patienten den Eindruck haben, statt einer Arztpraxis einen „Gesundheitsladen“ (Jachertz 2002) zu betreten, ist die Befürchtung eines Imageproblems nicht unbegründet. Dies zeigen die oben referierten Studien mit großer Deutlichkeit. Es kann daher
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keineswegs eine einheitliche Orientierung in Richtung Ökonomisierung/Kommerzialisierung festgestellt werden. Vielleicht sind sogar die Ärzte selbst (und ihr ausgeprägtes Berufsethos) als eine wirksame Barriere der Entgrenzung in Richtung einer „rationalisierten medizinischen Marktwirtschaft“ (Unschuld 2009: 65) zu verstehen. So ist zwar in der Institutionalisierung von Individuellen Gesundheitsleistungen ein Patientenverständnis angelegt, dass diese als selbstgesteuerte Konsumenten und damit als Kunden der Arztpraxis typisiert. Dennoch ist dies eine Darstellungsweise, die gerade auch innerhalb der Ärzteschaft umstritten ist. Dies ist der zentrale Gegenstand der Untersuchung im folgenden Kapitel.
5 Die Kommerzialisierung medizinischer Handlungsfelder im Diskurs
Eingangs ist eine Präzisierung des Forschungsinteresses vornehmen. Dazu werde ich zunächst klären was mit Kommerzialisierung – auch im Kontrast zum schillernden Begriff der Ökonomisierung – überhaupt gemeint sein kann. Kommerzialisierung verstehe ich als einen Prozess, in dem ein bisher nichtwarenförmiges Gut wie Gesundheit zu einem handelbaren Gut gemacht wird. Dieser Prozess ist als ein Spezifikum oder Teilaspekt eines extensiven Ökonomisierungstrends zu verstehen. Die Kommerzialisierung der ärztlichen Tätigkeit und der (mutmaßliche) Umbau des Arzt-Patienten-Verhältnisses zu einer Kunden-Dienstleister-Beziehung sind demnach Bestandteil der Ökonomisierung gesellschaftlicher Teilbereiche, die auch die Ökonomisierung des Gesundheitssystems umfasst (vgl. Schimank/Volkmann 2008). Ökonomisierung erscheint als eine Art Megatrend, durch den „Strukturen, Prozesse, Orientierungen und Effekte, die man gemeinhin mit der kapitalistischen Wirtschaft verbindet, gesellschaftlich wirkmächtiger werden“ (Schimank/Volkmann 2008: 3). Ökonomisierung kann dabei aber nicht einfach mit einer Tendenz zur Vermarktlichung gleichgesetzt werden. Darauf weist u.a. Kettner (2011) hin. Diese durchaus häufig vorgenommene Gleichsetzung, unterläuft die notwendige Unterscheidung von Ökonomisierung und Kommerzialisierung, die auf jeweils unterschiedliche Weise Tendenzen der Vermarktlichung aufweisen. Im Prozess der Kommerzialisierung werden dort neue Märkte geschaffen, wo vorher nicht-kommerzielles Handeln dominierte, indem nicht-kommerzielle Güter in Waren umgewandelt werden (Kommodifizierung). Im Prozess der Ökonomisierung werden Strategien der Effizienzsteigerung aus ökonomischen Umfeldern in Institutionen umgesetzt, bei denen die ökonomische Handlungslogik zuvor nicht bestimmend war (dies freilich auch mit dem Ziel der Verlustminimierung durch Kostensenkung und schließlich der Gewinnsteigerung). Derartige Ökonomisierungsprozesse erscheinen zunächst durchaus vernünftig, wenn die Rationalisierung von
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Handlungsabläufen eine erhöhte Effektivität zum Ziel hat, die sich in einer Verbesserung der Versorgung niederschlägt. Zu häufig beschränken sich Ökonomisierungsprozesse aber auf die zeitliche Verknappung der Interaktion zwischen Patienten und Pflegepersonal und Ärzten und damit auf elementare Bedingungen gelingender medizinischer Sorge, weshalb Ökonomisierungsprozesse Gegenstand ethischer Debatten werden (vgl. u.a. Kettner/Koslowski 2011, Manzeschke 2011; 2013). Anders aber als bei der Ökonomisierung der stationären Versorgung, bei der für die Professionellen ein „Interessenskonflikt zwischen dem Wohl der Patienten und den ökonomischen Interessen ihrer Institutionen“ (Manzeschke 2013: 234) entsteht, ist dieser Konflikt im ambulanten Bereich ein Konflikt zwischen den Eigeninteressen des Professionellen und dem Patienteninteresse. In beiden Fällen jedoch ist die Konsequenz eine zunehmende Unglaubwürdigkeit des professionellen Versprechens (ebd.), dass das Patientenwohl stets vorrangig zu sein hat. Der Trend zur Ökonomisierung im Gesundheitswesen manifestiert sich „als nicht oder nicht mehr hinreichend zur Verfügung stehende personelle, technische und organisatorische Infrastruktur, also in Investitionsentscheidungen, die dem ärztlichen Handeln vorgelagert sind […]“. Jedoch: „Beim ärztlichen Handeln selbst […] bleibt die teilsystemische Logik von Knappheitsfragen relativ unberührt“ (Schimank 2008: 223). Die Debatte zur Ökonomisierung der Medizin hat deshalb zumeist die Ökonomisierung der Strukturen in Krankenhäusern und damit den Umgang mit der Verknappung von finanziellen und personellen Ressourcen und die damit verbundenen Probleme, wie etwa die Einführung von Fallpauschalen und die Rationierung bzw. Priorisierung von Leistungen zum Gegenstand (vgl. Maio 2008). Diese strukturelle Ökonomisierung des Gesundheitswesens spielt in der vorliegenden Untersuchung nur am Rande und rein phänomenologisch als Kontextbedingung eine Rolle, weil die durch Ökonomisierungsprozesse vorangetriebene Effizienzsteigerung in Krankenhäusern zwar auf eine Optimierung der Gewinnerzielung hinführt, im Kern bleiben jedoch die traditionellen medizinischen Zielsetzungen der Krankheitsbehandlung und der akuten (stationären oder ambulanten) Versorgung in den Krankenhäusern die bestimmende Form ärztlichen Handelns. Diese Versorgungssituation ist daher trotz Ökonomisierungstendenzen nicht kommerziell (das heißt, nicht waren- und gewerbeförmig) organisiert und weiterhin aufs Engste mit dem Krankenversicherungssystem gekoppelt. Die Finanzierungsgrundlage ist entweder „monistisch“, das heißt über die Krankenkassen geregelt, oder es greift die so genannte duale Finanzierung, in der bestimmte Investitionen vom Bundesland getragen werden. Die Krankenhausstatistik zeigt, dass
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die Deutschen Krankenhäuser im Jahr 2013, 61,7 Milliarden Euro von den von den Gesetzlichen Krankenkassen erhielten 1, die den Großteil der Finanzierung tragen – Selbstzahler spielen dabei kaum eine Rolle. Der Trend der Ökonomisierung führt so unter Umständen zu einem rationalisierten Umgang mit der Ressource Patient, macht den Patienten (als akut Erkranktem) jedoch nicht direkt zu einem Kunden auf einem Gesundheitsmarkt. Niedergelassene Ärzte hingegen befinden sich in freier Praxis und müssen – anders als die Honorarärzte an Krankenhäusern – ihren eigenen Betrieb führen. Dabei ist der unternehmerische Aspekt nicht, wie etwa im Handlungsfeld der Klinik, strukturell ausgelagert, so dass Administration und Wirtschaftsführung von der Sphäre der Krankenbehandlung getrennt sind. Ärzte in Niederlassung müssen ihre Patienten immer auch unmittelbar als Klienten oder Kunden der eigenen Praxis wahrnehmen, deren Handlungs- und Entscheidungsspielräume in den meisten Fällen zudem weitaus stärker selbstbestimmt sind, als die von Patienten in Krankenhäusern. Die im Kontext der Kommerzialisierungsdebatte im Fokus stehenden Selbstzahlerleistungen spielen im niedergelassenen Bereich daher eine ungleich größere Rolle als dies in der klinischen Versorgung der Fall ist. Damit rückt das Phänomen der Kommerzialisierung bei Ärzten in (sowohl privat- als auch kassenärztlicher) Niederlassung stärker in den Mittelpunkt. Kettner (2011: 10) definiert „Kommerzialisierungsprozesse [als] solche kulturellen Veränderungsprozesse, in deren Verlauf bisher nicht marktförmige Bereiche des sozialen Lebens in Märkte umgewandelt werden“, und begreift diese Kommerzialisierungsprozesse weiter als „charakteristische Umstellungen in den kulturellen Grundlagen der Normalität einer sozialen Praxis“ (ebd.). In Bezug auf die im vorhergehenden Kapitel skizzierten Tendenzen der Verschiebung der medizinischen Versorgung in Richtung Selbstzahlermedizin, deutet sich eines der zentralen Probleme der kommerziellen Medizin an: Wie kann eine Profession ihre autonome und ursprünglich auf Marktunabhängigkeit beruhende Position erhalten, wenn sie gleichzeitig immer offensiver als kommerzielle Dienstleistung auftritt? Um eine Antwort darauf zu finden, nehme ich also in der folgenden Analyse die Kommerzialisierungstendenzen im Bereich der ambulanten Versorgung, dem Tätigkeitsfeld von niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten, und die daraus resultierenden „Umstellungen“ in den kulturellen Grundlagen der Normalität der ärztlichen Praxis in den Blick, die den zentralen Gegenstand der berufspolitischen
1
Vgl.: vdek-Basisdaten des Gesundheitswesens für die Jahre 2013 und 2014, Online unter: http://www.vdek.com/presse/daten.html (letzter Zugriff: 08/2013)
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bzw. professionellen Verhandlung darstellen. Im Diskurs werden dabei unter anderem Motive artikuliert, die begründen sollen, warum bestimmte Praxis legitim sind und andere nicht. Es scheint mir notwendig, dazu an Mills (1940) zu erinnern, der argumentiert, dass Motive nicht intrinsisch und individuell, sondern externalisiert in der Situation ihren Ursprung nehmen. Spezifische Situationen, so Mills, stellen ein je spezifisches Motivvokabular zur Verfügung. Gleiches gilt auch institutionell – so haben Medizin, Recht, Sport, etc. eigene Motivvokabularien, die Handeln legitimieren. Scott/Lymann (1968) führen daran anschließend den Begriff der accounts ein (man könnte dies mit Berichten oder Beschreibungen übersetzen). Die accounts – bestehend aus Rechtfertigungen bzw. Entschuldigungen – bilden einen Teilaspekt der Trias Abweichung/Nachfrage/Account (vgl. Müller 2001: 1204), durch die „die gemeinsame Wirklichkeit rekonstituiert und von den erkannten Brüchen geheilt“ (ebd.) wird. Die Anklage der Normabweichung dient der Aktualisierung bestehender Normen und macht Legitimationen notwendig. Accounts sind die Mittel, die sprachlich eingesetzt werden, um gemeinsamen Sinn zu konstituieren. Dazu gehören Sprachfloskeln, Rechtfertigungen, Metaphern, Gesten und viele mehr. Scott/Lymann beziehen sich vor allem auf accounts als sprachliche Formen, die dazu dienen, Rechenschaft über unpassendes Verhalten abzulegen. Dazu unterscheiden sie justifications (Rechtfertigungen) und excuses (Entschuldigungen). In den Rechtfertigungen wird die Verantwortung für die umstrittene Handlung akzeptiert, jedoch die negativen Aspekte abgestritten. In den Entschuldigungen wird hingegen akzeptiert, dass das Verhalten aus guten Gründen als normwidrig gilt, allerdings wird die persönliche Verantwortung aufgrund externer Faktoren und Bedingungen relativiert. Dies beschreibt die grundlegende Struktur, die auch im hier untersuchten Diskurs aufzufinden ist und die im Folgenden anhand der Situations- und Diskursanalyse rekonstruiert wird.
5.1 AKTEURE
UND INHALTE
Ronald Hitzler hat sein Forschungsinteresse einst mit einer interessanten Metapher beschrieben: „Als soziologischem Theoretiker erscheint mir das Phänomen 'Politik' mithin sozusagen als öffentliches Drama. Wenn ich nun aber die Dramaturgie dieser Inszenierung erfassen und erhellen will, dann muß ich vor allem versuchen, die 'Drehbücher', die explizit en und möglichst auch die impliziten Regeln, Regelmäßigkeiten, Schemata, Typen, Muster und
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Strukturen politikdarstellerischen Handelns, also sozusagen ‚the rules of the game‘ (Price/Bell 1970), zu rekonstruieren.“ (Hitzler 1991: 297)
Auch in Diskursen spielen sich letztlich „Dramen“ ab, die mit einem spezifischen Ensemble besetzt sind. Die „Drehbücher“ der öffentlichen Problemdarstellung sind dabei oft genug voraussehbar, und dennoch weisen die Inszenierungen hier und da überraschende Wendungen auf. Im Kern aber werfen die in der Öffentlichkeit aufgeführten Bühnenstücke Licht auf die (oft verborgenen) Regeln und Mechanismen der Wirklichkeit, die sie inszenieren. Bleibt man bei dieser Metapher, so kommen in der vorliegenden Studie die zentralen Protagonisten des “Dramas“ medizinischer Berufspolitik zu Wort: die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte, die eine Balance zwischen ökonomischer Orientierung und Berufsethik finden müssen, um ihre professionelle Integrität auch im Kontext der Entgrenzung von Markt und Medizin aufrecht zu erhalten. Die zumeist kritisch hervorgebrachte Anklage der Kommerzialisierung ist ein moralisierendes Deutungsmuster, das den Wandel der ärztlich-professionellen Praxis als Folge dieser Entgrenzung kritisch zum Thema macht. In der Analyse kommen die in zuvor vorgestellten Techniken der Situationsanalyse zum Tragen, durch die das komplexe Untersuchungsfeld systematisiert und analysiert worden ist und die im Folgenden auch zur Darstellung angewandt werden. In diesem Kapitel (5.1) werde ich das Feld in seinen Grundzügen typologisch rekonstruieren, um zu beantworten, was die zentralen Themen des Diskurses sind, wie diese verhandelt werden, und welche Akteure, Aussagen, diskursive Konstruktionen, Kontextbedingungen und externe Faktoren angeführt werden. In Kapitel 5.2 werden die Ärzte in kassenärztlicher Niederlassung sowie die Thematisierung der Rolle, die der (Kassen-)Patienten fokussiert. In Kapitel 5.3 greife ich diese Überlegungen auf und vertiefe sie am Fallbeispiel der Ästhetischen Chirurgie, in der das Kriterium der medizinischen Indikation ein wichtiges diskursives Element zur Legitimation der ärztlichen Praxis darstellt. Ziel dieser Analyse ist eine Darstellung der Diskursinhalte anhand einer Rekonstruktion der Phänomenstruktur des Diskurses (5.4). Ein besonderer Schwerpunkt dieser Betrachtung liegt auf der Identifikation des Grenzziehungskriteriums der medizinischen Indikation. Ich beende das Kapitel mit einer kurzen Zusammenfassung und Bewertung der Ergebnisse (5.5). Eine theoretische Auseinandersetzung mit den Ergebnissen wird dann in Kapitel 6 und 7 vorgenommen.
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5.1.1 Mapping des Diskurses Die ersten Dokumente die für die Situations- und Diskursanalyse gesichtet wurden, habe ich im Rahmen einer Oberflächenanalyse zunächst mit einigen allgemeinen Leitfragen konfrontiert, um ein Gespür dafür zu bekommen, worum es in der Selbstthematisierung der Medizin überhaupt gehen kann. Die wichtigsten dieser Leitfragen lauteten: x x x
x x x x x
Was sind aus der Perspektive der Ärzteschaft die legitimen Handlungsfelder und legitimen Zwecke der ärztlichen Profession? Was sind die Kriterien, die den verbindlichen Rahmen bzw. die Grenzen des Einsatzes von Medizin abstecken? Welche spezifischen Subjektpositionen werden im Diskurs in welchen Zusammenhängen erzeugt und welche Rollenbilder kommen darin zum Ausdruck? Auf welche tradierten Vorstellungen von ärztlicher Professionalität wird Bezug genommen? Welche neuen Konzeptionen medizinischer Professionalität werden formuliert? Wer sind – außer den Ärzten – die wichtigsten Akteure im Feld, welche Positionen beziehen diese? Welche Praxisfelder gelten als umstritten? Welche Begründungsstrategien, Moralisierungen und Legitimationsstrategien kommen zur Sprache?
Als erstes Ergebnis zeigte sich, dass die Thematisierung einer Entgrenzung medizinischer Praxisfelder im Diskurs stark über das Deutungsmuster „Kommerzialisierung“ verläuft. Es handelt sich dabei vor allem um eine normativ-moralische Thematisierung einer zunehmenden Gewinnorientierung in der Medizin, die zum zentralen Problem der Debatte gemacht wird. Folglich habe ich das Thema der Kommerzialisierung zum zentralen Thema der Analyse gemacht und die Datenauswahl vor allem in diese Richtung weiter vorangetrieben. Im Verlauf der ersten Textanalysen und nachdem eine größere Datenmenge gesichtet wurde, werden erste Situationsmaps erstellt, um die Situation, die sich im Diskurs darstellt, und in die der Diskurs eingebettet ist, analytisch zu zergliedern. Dies geschieht zumeist mit Schere und Papier. Diese Arbeitsfassung der Situationsmap (siehe Abbildung 13), in der die Elemente ungeordnet aufgeführt werden, veranschaulicht
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den ersten Arbeitsschritt, die Situation in ihrer Gesamtheit möglichst präanalytisch abzubilden, um in einem nächsten Schritt Kategorien zu bilden und herauszufinden, welche Rolle sie in der Kontroverse spielen. Abbildung 13: Situationsmap des Diskurses (Arbeitsfassung)
Dabei stehen in einer Arbeitsfassung der Situationsmap zunächst viele Elemente unvollständig nebeneinander: Akteure (z.B. Ärzte), Institutionen (z.B. KBV/BÄK), diskursive Konstruktionen („Der Arztberuf ist kein Gewerbe“), neben diskursiven Orten (Arenen) und anderen Elementen. Zum einen werden hier also Orte des Diskurses visualisiert, zum anderen Sprecher, Aussagen, aber auch Topoi und Deutungsmuster, die den Diskurs strukturieren. Die Vielfalt der Elemente der Situation wird in einem zweiten Schritt in eine geordnete Fassung überführt (siehe Abbildung 14):
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Abbildung 14: Geordnete Situationsmap Akteure
Kollektive Akteure
Marginalisierte Akteure
Normative Elemente
Ärzte in Niederlassung
Berufsverbände
Pharmaindustrie
Sozialgesetzbuch
Health-CareBeratung
Tradierte Normen und Werte (hier auch: Berufsethos, Vertrauen, Ansehen)
Privatärzte
Ärzte in Anstellung Medizinische Fachangestellte Patienten, Klienten, Kunden
Bundesärztekammer (BÄK)
Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV)
Rollenbilder
Krankenkassen
Medizinethik
Verbraucherschutz / Patientenvertretungen
Grenzziehungen
Diskursarenen
Politische Elemente
Sonstiges
rechtlich verbindliche GZ
Standesmedien (Ärzteblätter, Journals, Publikationen der Fachgesellschaften)
Gesundheitspolitische Regulierungen und Reformen
Therapie- und Diagnosetechniken / umstrittene Leistungen
Berufsethos
Internetportale
IGeL
wissenschaftliche Kriterien (Evidence-based Medicine)
Diskursive Konstruktionen (Deutungsmuster)
Massenmedien
Es zeigt sich nun, dass im Diskurs sowohl individuelle als auch kollektive Akteure zur Sprache kommen. Hierzu gehören in erster Linie natürliche die Berufsgruppe der Ärzte, die in ihren eigenen Standesmedien naturgemäß am stärksten vertreten sind. Hier ist nochmals zwischen (Kassen-)Ärzten in Niederlassung, Privatärzten und Ärzten in Anstellung zu unterscheiden. Eine sekundäre Rolle spielen Fachangestellte, also etwa Arzthelfer und Arzthelferinnen, die kommerzielle Angebote an die Patienten kommunizieren, und schließlich auch die Patienten, bzw. Kunden, die im Diskurs als Leistungsabnehmer erscheinen.
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Auf der Ebene der kollektiven Akteure sind vor allem die Institutionen der ärztlichen Selbstverwaltung und Interessenvertretung zu nennen, die den Berufsstand nicht nur auf politischer Ebene vertreten, sondern auch für die Öffentlichkeitsarbeit und Kommunikation zuständig sind, die Stabilisierung ethisch-normativer Richtlinien sowie die Sanktionierung von Verstößen gegen die Berufsordnung zu verantworten haben. Auf der anderen Seite sind hier auch die (vor allem gesetzlichen) Krankenkassen sowie der Verbraucherschutz und Patientenvertretungen zu nennen. Während die Krankenkassen häufig als Antipoden der ärztlichen Interessensvertretungen erscheinen, positionieren sich letztere über eigene Stellungnahmen und Broschüren. Interessanterweise kommen einige Akteure im Diskurs kaum zur Sprache. Vor allem die Pharmaindustrie hat weder eine Sprecherrolle im Diskurs, noch liefert sie eigene externe Diskursbeiträge zum Thema Kommerzialisierung. Ein anderes Beispiel sind so genannte Health-Care-Beratungen, die zwar eine nicht zu vernachlässigende Rolle in der Konzeption von kommerziellen Angeboten und der Kommunikation spielen, über die aber zumindest im öffentlichen Diskurs (d.h. in den Debatten in standespolitischen Medien) nicht gesprochen wird. In der Situationsmap finden sich außerdem unterschiedliche normative Elemente und Grenzziehungsmechanismen, politische Elemente oder diskursive Konstruktionen, die im Folgenden noch genauer betrachtet werden. Unterschiedliche Diskursstränge, Verweise auf gesundheitspolitische Maßnahmen, Wertebezüge, diskursive Konstruktionen und nicht zuletzt die Sichtung diskursiver Arenen als den „Schauplätzen“ des Diskurses können nun differenziert werden und leiten die weitere Analyse an. Es setzt durch die Erstellung von Situationsmaps eine Phase des Analyseprozesses ein, der auch immer noch der Präzisierung der Forschungsfragen und der Systematisierung des Feldes dient. So sind etwa sozialwissenschaftliche Debatten und medizinethische Reflexionen zwar Bestandteil der zu untersuchenden Situation, da sie in vielfältiger Weise in das Feld einwirken, aber sie sind nicht im Zentrum der Untersuchung zu verorten, da das Forschungsinteresse auf der genuin professionsinternen Verhandlung der Entgrenzung der Medizin in Richtung Markt verortet wurde. Medizinethische Begrifflichkeiten tauchen aber im Diskurs durchaus immer wieder auf und bieten argumentative Ankerpunkte. Teilweise sind die in der Situationsmap aufgeführten Elemente bereits das Ergebnis des offenen Kodierens der gesichteten Daten. Die Überführung in die geordnete Fassung ist dann dem Prozess der Kategorienbildung nachgeschaltet und ergänzt diesen. Es werden also beispielsweise bestimmte diskursive Konstruktionen bzw. Deutungsmuster identifiziert und etwa als Grenzziehungsargu-
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mente kategorisiert und dann in die Situationsmap eingeordnet. Die Situationsmap zeigt übersichtsartig, welche individuellen und kollektiven Akteure im Diskurs eine Stimme erhalten (sowohl in Selbst- als auch in Fremddarstellungen), auf welche politischen, rechtlichen und technologischen Elemente verwiesen wird, welche (Sub-)Diskurse unterscheidbar sind und wo diese stattfinden. In einem weiteren Schritt habe ich dann Anhand der vorgenommenen Analyse der Dokumente bestimmte Schwerpunkte identifiziert, die als besonders bedeutsam erscheinen und die zueinander in Beziehung stehen (vgl. Abbildung 15). Ich habe dazu in der folgenden Darstellung zwischen (individuellen und kollektiven) Akteuren, bestimmten Deutungsmustern, Grenzziehungskriterien und Kontextbedingungen unterschieden. Abbildung 15: Situationsmap der Diskursarena
Im Zentrum der oben dargestellten fortgeschrittenen Situationsmap steht die medizinische Diskursarena als zentralem Untersuchungsfeld. Die Kontextbedingungen, die ich zum Teil bereits in Kapitel 4 aufgeführt habe, sind unter anderem die strukturellen, ökonomischen und rechtlichen Bedingungen des Gesundheitswesens, die kulturellen Bedingungen einer medikalisierten Gesellschaft sowie soziostrukturelle Faktoren wie etwa der demographische Wandel. Freilich können
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diese kontextuellen Bedingungen teilweise als faktische Begrenzungsmechanismen auftreten, so etwa in Form von rechtlichen oder anderen Begrenzungen mit hoher Verbindlichkeit. Doch treten eben auch Kriterien wie das der medizinischen Indikation auf, deren Bedeutung und Gültigkeit diskursiv verhandelt und durch die Thematisierung stabilisiert wird. Auf der Ebene der Deutungsmuster können bestimmte Leiterzählungen unterschieden werden, die den Diskurs und seine Geschichte zentral bestimmen. Unter anderem zählen dazu bestimmte Deutungsmuster über medizinische Professionalität (etwa solche, die als hippokratische und posthippokratische Medizin kategorisiert werden können) oder über tradierte und aktuelle Gesundheitskulturen. Von großer Bedeutung sind schließlich die Akteure, die vor allem über Sprecherpositionen im Diskurs eine Stimme erhalten. Die Arena, in der der Diskurs zur Kommerzialisierung der Medizin und seine Sub- und Nebendiskurse stattfinden, ist konstituiert durch verschiedene intervenierende Elemente oder soziale Welten, die für den Diskurs von unterschiedlich starker Relevanz sind. So werden Tendenzen der Kommerzialisierung freilich nicht nur im berufspolitischen (teilöffentlichen) Diskurs zur Sprache gebracht, sondern auch in den Massenmedien, also Print- und Broadcastmedien, die sich nicht an ein Spezialpublikum richten. Die Wochenzeitung DIE ZEIT schreibt zum Thema Kommerzialisierung in der Medizin: „Ultraschall, Akupunktur, Glaukom-Vorsorge: Für individuellen Gesundheitsleistungen (Igel) kassiert der Arzt extra. Doch viele dieser teuren Angebote sind schädlich“ (Jahberg 2012, ZEIT ONLINE2). Dies kann nun als Indiz gewertet werden, dass der Diskurs in die öffentliche Debatte diffundiert. Andersherum kann eine solche kritische Thematisierung und Problemwahrnehmung in der öffentlichen Sphäre unter Umständen erst dazu führen, dass innerprofessionelle Verhandlungen bestimmter Art in Gang gesetzt werden oder besondere Relevanz bekommen. Indes werden massenmediale Thematisierungen wiederum durch Diskursproduzenten aus der sozialwissenschaftlichen oder medizinethischen Forschung beeinflusst. Des Weiteren lassen bestimmte Sprecherpositionen in der medizinischen Diskursarena erkennen, dass ärztliche Berufsverbände, die Gesundheitspolitik oder Verbraucherschutzverbände, die je eigene Diskursfelder darstellen, sich mit dem berufspolitischen Diskurs (der medizinischen Arena) überlappen und in diesem Sprecherpositionen erhalten. Von besonderem Interesse sind nun die Akteure und Sprecherpositionen, die im hier untersuchten Diskursfeld eine besondere Rolle spielen. Wie in der unten stehenden Abbildung 16 veranschaulicht, sind dies vor
2
http://www.zeit.de/wirtschaft/2012-08/igel-zusatzleistungen-krankenkassen-verbraucherschutz (letzter Zugriff 08/2013).
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allem die Ärzte sowie deren Vertretungsorgane. Diese finden sich auf der Versorgungsebene (Leistungserbringer) bzw. deren Interessensvertretungen. Namentlich sind dies die Kassenärztlichen Vereinigungen (auf Landes- und Bundesebene), die Landesärztekammern, die Bundesärztekammer, sowie der „Gemeinsame Bundesausschuss“ (G-BA) als das oberste Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung der Ärzte, Psychotherapeuten, Krankenhäuser und Krankenkassen in Deutschland. Auf der Ebene der Krankenkassen treten die Leistungsträger, also die Gesetzlichen und die Privaten Krankenversicherungen auf. Schließlich sind auf Abnehmerseite die Patienten/ Kunden bzw. die Verbraucherschutzverbände als deren Vertreter zu finden. Abbildung 16: Zentrale Akteure und Sprecherpositionen
Mit „Sprecherpositionen“ sind legitime Stellungen im Diskurs bezeichnet, also Positionen „in institutionellen bzw. organisatorischen diskursiven Settings und daran geknüpfte Rollenkomplexe“ (Keller 2013: 37). Im hier vorliegenden Fall handelt es sich zum Teil um Positionen, die aufgrund einer institutionellen Hierarchisierung legitimiert sind und die eine besonders dominante Position im Diskurs einnehmen. Dies ist etwa der Fall, wenn der Präsident der Bundesärztekammer (bis 2011: Jörg-Dietrich Hoppe; ab 2011: Frank Montgomery) als Sprecher auftritt. Obwohl das Subjekt in der Sprecherposition des Präsidenten vor der
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Rolle zurücktritt, sind hier deutliche individuelle Ausgestaltungen feststellbar. Von diesen individuellen Verschiebungen der Diskursinhalte auf Äußerungsebene abgesehen, bleiben Sprecherpositionen allgemein über ihren institutionellen Status bestimmt. Der Präsident der Bundesärztekammer tritt dabei als komplexer Interessenvertreter auf, der sowohl sinnstiftend seine Aussagen an die Ärzteschaft richtet und gleichsam die Interessen der Abnehmer im Gesundheitswesen zu schützen sucht. Zum Teil handelt es sich im Diskurs aber auch um Sprecherpositionen, die weit weniger hierarchisch strukturiert sind, wenn etwa Ärzte als Journalisten in den Ärzteblättern publizieren oder Leserbriefe veröffentlichen. Bestimmte Bezüge zu den intervenierenden sozialen Welten, die in dieser Diskursarena eine Rolle spielen, oder bestimmte Grade der Institutionalisierung (etwa im Falle der Verbraucherverbände) sind notwendig, um die Sprecherposition in dieser spezifischen Arena zu legitimieren. Da es sich hier in gewissem Sinne um einen innerprofessionellen Spezialdiskurs handelt, kommen Abnehmer (Patienten) selber nur selten zu Wort. Sie werden zum Objekt des Diskurses und kommen vor allem in Fremdbeschreibungen vor. Die Abnehmer stellen einen kognitiven Referenzpunkt der Debatte dar und werden vor allem in Fremdpositionierungen als „Akteure“ im Diskurs tätig. Ihnen werden dabei bestimmte und auch diffuse Subjektpositionen zugewiesen. So treten sie mal als mündige, souveräne oder informierte Patienten, oder auch als Kunden und damit gleichsam als Treiber von Medikalisierungs- oder Kommerzialisierungsprozessen auf. Oder aber sie erscheinen als verunsicherte „Leidende“ und als Opfer vermeintlich unethischer Versorgungspraxis. Ärzte selber treten als zentrale Sprecher sowohl in Selbst- als auch in Fremdpositionierungen auf und sprechen als Vertreter der Berufsgruppe. Das ärztliche Verhalten in der Praxis ist das zentrale Thema im Diskurs. Dabei kommt es zu Anklagen einerseits und Rechtfertigungssemantiken andererseits – ich werde im Verlauf der Analyse noch darauf zu sprechen kommen. Elemente der Aussagen sind auch hier spezifische und unspezifische Subjektpositionen, wie etwa: „Ärzte als Heiler“ oder „Ärzte als Lifestyle-Dienstleister“. Auf institutioneller Ebene nehmen die Interessensvertretungen zentrale Positionen im Diskurs ein. Dabei setzen sich die Kassenärztlichen Vereinigungen, als Schnittstellen und Mittler zwischen den Vertragsärzten und den Kassen, für die Interessen der Kassenärzte ein. Die Ärztekammern vertreten als Körperschaften des öffentlichen Rechts die Interessen aller Ärzte und dienen der Regelung der ärztlichen Berufsausübung sowie der Organisation des ärztlichen Berufsstandes. Dabei regelt vor allem die Bundesärztekammer als Arbeitsgemeinschaft der deutschen Ärztekammern und höchste Organisation der ärztlichen Selbstverwaltung
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auch ethische und berufsrechtliche Pflichten der Ärzte untereinander und gegenüber den Patienten. Die Krankenkassen treten schließlich auf institutioneller Ebene auch als scharfe Kritiker von Selbstzahlerleistungen und als Advokaten der Patienten auf. Von Seiten der Kassen wird auch versucht, in den „freien“ Markt medizinischer Zusatzleistungen über Zusatztarife einzugreifen, die nach dem Kostenerstattungsprinzip anstatt nach dem (üblichen) Sachleistungsprinzip funktionieren. Damit stehen sie in direkter Konkurrenz zum Selbstzahlermarkt. Es muss ferner zwischen den verschiedenen Orten unterschieden werden, an denen der Diskurs stattfindet und an denen Diskursfragmente in unterschiedlichen Textgattungen produziert werden, die jeweils unterschiedliche Adressaten haben und unterschiedliche Ziele verfolgen. Die in den standespolitischen Publikationen artikulierten Aussagen gehören zur Verhandlung der Situation innerhalb der Profession und adressieren daher vor allem Ärzte. Innerhalb dieses Hauptdiskursstranges kommen etwa die Institutionen und Sprecherpositionen, die nicht unmittelbar zur Ärzteschaft gehören, sowie etwa die Kassen oder Patientenverbände, nur als kontextuelle Umwelt oder in Fremdpositionierungen zur Sprache. 5.1.2 Umstrittene Leistungen Welche medizinischen Leistungen stehen in Diskurs und Praxis zur Disposition? Einige Definitionsversuche habe ich bereits vorgenommen, einige andere Aspekte sind im Verlauf der bisherigen Analyse bereits aufgeschienen. Allerdings gehen darin nicht alle erdenklichen Leistungen auf, die innerhalb des Diskurses thematisiert werden und die aus je unterschiedlich Gründen als problematisch gedeutet werden. Folgende Leistungen können also systematisch unterschieden werden: 1. Medizinisch unnötige Leistungen, die auf Anraten des Arztes durchgeführt werden Hierzu gehören therapeutische und diagnostische Leistungen, die zwar (vordergründig) der Krankheitsbehandlung dienen sollen, die jedoch aus medizinischen Gesichtspunkten in bestimmten Fällen nicht notwendig sind, aber dennoch vom Arzt angeboten/durchgeführt werden. Als Beispiel werden hier oft Hüft- und Knie-Operationen genannt. Es handelt sich also um Leistungen, die im Rahmen des GKV-Leistungskatalogs abgerechnet werden – und damit nicht um Selbstzahlerleistungen. Da bei unnötigen Leistungen aber der Profit und nicht das Patientenwohl im Vordergrund stehen, werden sie in dieser Typologie mit aufgeführt.
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Es handelt sich bei unnötigen medizinischen Leistungen, je nach Schwere des Eingriffs, auch um rechtliche und/oder medizinethische Verstöße. Dies trifft insbesondere auf invasive Eingriffe zu. Derartige medizinisch nicht indizierte Leistungen, die auf Anraten des Arztes durchgeführt werden, sind im Normalfall Bestandteil des Ökonomisierungsdiskurses im Bereich stationärer und ambulanter Versorgung, und werden dort als Folgen der zunehmenden Profitorientierung der Organisation oder einzelner Ärzte, und diese als Folge des Kostendrucks im Gesundheitswesens gerahmt. 2. Medizinisch nicht notwendige Leistungen, die auf Wunsch des Patienten in Anwendung kommen Hierzu zählen: das Feld der ästhetischen und kosmetischen Leistungen, Wellnessund Anti-Aging-Leistungen, präventive Gesundheitschecks oder die Inanspruchnahme diagnostischer Maßnahmen, die ausdrücklich auf Wunsch des Patienten durchgeführt werden. Dies gilt auch, wenn die Nachfrage durch ärztliche Angebotsstellung induziert wurde. Derartige Leistungen sind zumindest teilweise rechtlich und medizinethisch umstritten. Die Debatte um derartige Wunschleistungen ist zum Großteil eine Kontroverse medizinethischer und in jüngerer Zeit auch medizinsoziologischer Debatten. Im Ökonomisierungsdiskurs spielen diese kaum eine Rolle, da dieser vor allem die stationäre Versorgung zum Thema hat. Für den Kommerzialisierungsdiskurs, also die Verhandlung der Grenzen der ärztlichen Praxis in Richtung Markt, sind diese freilich von größerer Relevanz. Interessanterweise werden medizinisch nicht indizierte Wunschleistungen – anders als in der medizinethischen Debatte – im professionellen Diskurs nicht aufgrund der dadurch entstehenden Entgrenzungen zwischen Heilung und Optimierung, sondern lediglich als spezifischer Marktsektor wahrgenommen, der (je nach Art und Weise der Angebotsstellung) als problematischer Bestandteil kommerzieller Medizin aufgefasst wird. 3. Ärztliche Leistungen, die medizinisch indiziert sind und deren Nutzen eindeutig oder weitgehend belegt ist, die aber aus anderen Gründen nicht Bestandteil des Leistungskatalogs der GKV sind Hierzu können Leistungen gezählt werden, die sich noch im Prozess der Aufnahme in den Leistungskatalog befinden, oder die, etwa auf-grund des Wirtschaftlichkeitsgebotes, aus dem Leistungskatalog ausgeschlossen wurden. Diese Leistungen sind aufgrund ihrer Notwendigkeit und der zumeist in der Praxis be-
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reits erprobten Wirksamkeit kaum umstritten. Dennoch können in Bezug auf derartige Leistungen, vor allem, wenn es sich um neue oder verbesserte Medikamente oder neue diagnostische Techniken handelt, Effekte sozialer Ungleichheit auftreten, wenn der Zugang zu diesen Möglichkeiten der medizinischen Spitzenversorgung, von ungleich verteilten finanziellen Möglichkeiten abhängt und die Leistungsalternative des GKV-Leistungskatalogs nicht gleichwertig ist. Nicht alle sinnvollen Leistungen werden aufgrund von Kostenbeschränkungen überhaupt in den Leistungskatalog aufgenommen. Da medizinethisch weitgehend unumstritten, werden derartige Leistungen im Kommerzialisierungsdiskurs oft als Beispiele für die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit individueller Gesundheitsleistungen insgesamt angeführt, da, so das Argument, Patienten die bestmögliche Versorgung erst durch solche Leistungen ermöglicht werde, für die eine ressourcenschwache Grundversorgung nicht aufkommen könne. 4. Medizinische Leistungen, die der Krankheitsbehandlung oder Diagnose dienen, bei denen die ärztliche Tätigkeit durch den Behandlungsanlass indiziert ist, deren konkrete Wirksamkeit allerdings unklar oder (noch) nicht belegt ist Hierzu zählen Angebote aus dem Bereich der Individuellen Gesundheitsleistungen, wie etwa die Augeninnendruckmessung, die Magnet-Resonanz-Therapie, Eigenbluttherapie, Kunst- und Lichttherapie oder Biofeedbacktherapie. Die Bewertung dieser Maßnahmen hängt stark von den Kriterien einer evidenzbasierten Medizin ab. Zumeist handelt es sich um Leistungen, die zwar keinen eindeutigen Beleg einer Wirksamkeit aufweisen können, die aber im Umkehrschluss auch kaum Nebenwirkungen oder andere Risiken darstellen. Im professionellen Diskurs sind derartige Leistungen unter dem Aspekt der Berücksichtigung eines partnerschaftlich-deliberativen Modells der Arzt-Patient-Beziehung und dem damit verknüpften Idealbild eines informierten Patienten umstritten. Dabei gelten diese Angebote im Diskurs als Paradebeispiele für Individuelle Gesundheitsleistungen, also für Leistungen, die medizinisch vertretbar sind, deren Anwendung über die Zweckbestimmung der Krankheitsbehandlung indiziert ist, die „out-of-pocket“ finanziert werden müssen, da es keinen eindeutigen Wirksamkeitsbeleg gibt. 5. Medizinische Leistungen aus dem Bereich der Alternativmedizin, für deren Wirksamkeit keine eindeutige Evidenz vorliegt, die jedoch vom Patienten nachgefragt, oder vom Arzt aktiv angeboten werden Hierzu zählen Leistungen wie Homöopathie, Akupunktur, Bachblütentherapie und viele mehr, deren Nutzen nicht nur wissenschaftlich umstritten bzw. nicht
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belegbar ist, sondern die darüber hinaus ihre Wirksamkeit im Rahmen eines zumeist esoterischen, jedoch zumindest nicht wissenschaftlichen Denksystems begründen. Es handelt sich um Leistungen die teilweise (und dann nur beschränkt) im Rahmen des Leistungskatalogs der GKV abgedeckt sind. Zum Großteil sind alter-nativmedizinische Leistungen als Selbstzahlerleistungen mit mangeln-der Evidenz zu kategorisieren. Daran sind die entsprechenden medizinethischen Konsequenzen geknüpft, die zu großen Teilen denen der nicht-evidenzbasierten Leistungen aus dem Bereich der „Schulmedizin“ entsprechen. Im professionellen Diskurs im Allgemeinen und im Spezialdiskurs der Kommerzialisierung im Speziellen, wird diese Thematik kaum verhandelt. Trotz eines weitreichenden Booms etwa von Homöopathie und Akupunktur auch unter approbierten Ärzten werden alternativmedizinische Leistungen zumeist nicht mal dem Spektrum individueller Gesundheitsleistungen (IGeL) zugerechnet. Diese Differenzierung von Leistungen veranschaulicht, wie verschiedenartig die Angebote sein können, die sich entlang einer gedachten Grenze zwischen gewinn- und patientenorientierter Medizin positionieren lassen. Die Typologie zeigt auch, dass im breiten Spektrum von Gesundheitsleistungen häufig Grauzonen bestehen: zwischen den gesetzlich festgelegten Kassenleistungen, die das medizinisch Notwendige abdecken und die das Mindestmaß an medizinischer Grundversorgung darstellen, den medizinisch indizierten Zusatzleistungen, und reinen Wunschleistungen ohne eindeutige Indikation. So existieren Zusatzleistungen, die der Therapie, Diagnostik oder Prävention dienen und die teilweise ausdrücklich ärztlich empfohlen sind, aber auch Wunschleistungen, die über therapeutisch-präventive Zusammenhänge weit hinausgehen und deren Stellenwert und Legitimität innerhalb der Ärzteschaft völlig disparat bewertet werden. Der Problemzusammenhang der Kommerzialisierung soll im Folgenden zunächst anhand zweier Felder diskutiert werden, in denen kommerzielle Praxen zur Diskussion stehen. Dies ist erstens das Feld der ambulanten Versorgung, genauer das, der Ärzte in kassenärztlicher Vertragspraxis, und zweitens das Feld der ästhetischen Chirurgie. Anders als im Bereich der kassenärztlichen Niederlassung geht es im Feld der ästhetischen Chirurgie zum Großteil um Leistungen in einem rein privatmedizinischen Sektor. Zwar kommen auch in der kassenärztlichen Niederlassung zum Teil IGeL aus dem Bereich der kosmetischen Medizin vor, das Phänomen eines ausgedehnten Marktes für kosmetische/ästhetische Leistungen findet jedoch außerhalb der kassenärztlichen Praxen statt.
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5.2 ÄRZTE
IN KASSENÄRZTLICHER
N IEDERLASSUNG
Befragt zu der Situation niedergelassener Ärzte, nimmt ein Arzt und Standespolitiker, den ich für diese Studie interviewt habe, folgende Differenzierung vor: „Der heutige Arzt der seinen Beruf mit Idealen verfolgt, der sitzt zwangsläufig immer zwischen zwei Stühlen. Der eine Stuhl, auf dem sitzt der Samariter, auf dem anderen Stuhl sitzt der Unternehmer. Jede Praxis ist ein kleines Unternehmen. Es müssen Gelder bezahlt werden, der höchste Kostenpunkt ist das Personal, neben den Gerätschaften. Da ist es ganz schwierig, wenn ich nur Kassenpatienten hätte, könnte meine Praxis nicht in diesem guten, technisch hoch ausgestattetem Niveau betreiben. Unmöglich. Und über dieses Thema wird mir eigentlich zu wenig geredet.“ (Int1)
Besonders hervorzuheben ist hier, dass bezüglich der anscheinend in Konflikt stehenden Zielorientierung des Arztes keine Entweder-Oder-Abgrenzung vorgenommen wird. Vielmehr wird die im niedergelassenen Bereich hervortretende Janusköpfigkeit betont. Der Arzt kann hier zwar immer noch glaubwürdig „samaritäre“ Handlungsmotive vertreten, muss aber angesichts der Strukturbedingungen immer auch unternehmerisch handeln, zumindest wenn es um die Aufrechterhaltung der Infrastruktur der Praxis geht. Diese müsse, so lautet eine gängige Aussage im Diskurs, immer öfter über Privatleistungen quer finanziert werden. Eher implizit werden hier externe Bedingungen in die Verantwortung genommen („Über dieses Thema wird mir eigentlich zu wenig geredet“). Auch der Verweis auf den „heutigen Arzt“ bekräftigt hier die Kontextbedingungen, durch die die „Janusköpfigkeit“ erst hervorgebracht wird oder zumindest deutlicher hervortritt. Eine weitere Einschränkung wird vorgenommen: nur der Arzt, der „seinen Beruf mit Idealen verfolgt“ gerät überhaupt erst in einen Zielkonflikt. Dies bedeutet auch, dass die Berufsmoral als Hemmnis eines unbegrenzten Unternehmertums in Stellung gebracht wird. Wie wir an anderer Stelle sehen können, sind Privatleistungen selbst nicht per se umstritten. Der Vizepräsident der Landesärztekammer Nordrhein schließt diesbezüglich: „auf das ‚Wie‘ kommt es an“ (Rheinisches Ärzteblatt 6/2001). IGeL müssten „sinnvoll“ sein. Der Patient müsse außerdem frei und ohne Druck entscheiden können, welche Leistungen er in Anspruch nehmen möchte. Allerdings dürfe das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient nicht gefährdet werden, indem der Patient zu einem Kunden gemacht wird. Dass finanzielle Erwägungen stets hinter patientenorientierten Motiven zurückstehen müssten, sei eine ärztliche „Kardinaltugend“ (ebd.). Dies wirft eine andere Frage auf: „Dürfen
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Ärztinnen und Ärzte geeignete Kassenpatienten über individuelle Gesundheitsleistungen (IGEL) informieren?“ (ebd.) Die in diesem Diskursfragment gewählte Formulierung der „geeigneten Kassenpatienten“, impliziert, dass davon ausgegangen wird, dass nicht jeder Kassenpatient vom Arzt über IGeL angesprochen werden sollte. In den verschiedenen Positionen gegenüber IGeL offenbart sich eine gewisse Unschärfe darüber, was eigentlich der Idealfall des IGeL-Patientengesprächs wäre. Oft wird argumentiert, der Patient müsste selber aktiv werden und den Arzt auf eine gewünschte Leistung ansprechen. So würde verhindert, dass der behandelnde Arzt die Notwendigkeit der Leistung suggeriere. Denn diese ist ja in dieser Deutung nicht gegeben, da es sich ansonsten um eine GKV-Regelleistung handeln müsste. Eine andere Position argumentiert, dass nur solche IGeL seriös angeboten werden können, die der Krankheitsbehandlung dienen und im Idealfall medizinisch notwendig und evidenzbasiert sind. Solche Leistungen kann der Patient aufgrund seines Laienstatus gar nicht aktiv nachfragen. Diese Position erkennt an, dass es im weiten Spektrum von Selbstzahlerleistungen durchaus Leistungen geben kann, die medizinisch empfehlenswert sind. Die Unterscheidung von „richtigem“ und „falschem“ IGeLn wird so vor allem über das „Wie“ entschieden: „Dürfen Ärztinnen und Ärzte geeignete Kassenpatienten über individuelle Gesundheitsleistungen (IGEL) informieren? Ja – aber sie müssen es richtig machen, damit das vertrauensvolle Patient-Arzt-Verhältnis nicht gestört wird und der Patient sich nicht als Kunde behandelt fühlt.“ (Rheinisches Ärzteblatt 6/2001: 3) [Hervorhebung im Original, F.K.]
Das Verhältnis zum Patienten darf in seiner Vertrauensbasis nicht gestört werden – dies ist eines der zentralen Argumentationsmuster im gesamten Diskurs zur Kommerzialisierung. Das Arzt-Patient-Verhältnis scheint in seiner Bedeutung sogar über der ebenfalls bedeutsamen Autonomie von Ärzten zu stehen. Dass der Patient sich nicht als Kunde behandelt fühlen sollte, impliziert die Vorannahme, dass sich die Subjektposition des Patienten, von der eines Kunden grundlegend unterscheidet. Weiterhin impliziert die in oben stehendem Diskursfragment gewählte Formulierung, dass es auch um die Art und Weise geht, wie dem Patienten diese Subjektposition vermittelt wird. Dass ein Patient sich nicht als Kunde „fühlen“ sollte, bedeutet ja noch nicht, dass er es faktisch durchaus sein kann. Nach welchen Kriterien dies allerdings objektiv entschieden werden könnte, muss wohl eine offene Frage bleiben und ist auch gar nicht von allzu großer Relevanz. Eventuell ist es sogar ganz und gar abhängig von der subjektiven Deutung der Situation. Oft ist der Klient schließlich beides: aus ökonomischen Gesichtspunkten ein Kunde und in der Selbstdeutung ein Patient.
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5.2.1 Kassenpatienten: souverän und informiert? Arnold Schüller, der Vizepräsident der Ärztekammer Nordrhein und Leonhard Hansen, Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein thematisieren Leistungen jenseits der Kassenmedizin folgendermaßen: „Die moderne Medizin umfasst nun einmal mehr als die Kassenmedizin. Deren Möglichkeiten sind begrenzt durch das Wirtschaftlichkeitsgebot des Sozialgesetzbuches. Unbestritten gibt es Leistungen, die darüber hinausgehen und aus ärztlicher Sicht sinnvoll sind. Solche Leistungen kann der Patient nur privat in Anspruch nehmen, er muss sie also aus eigener Tasche bezahlen. Wie sollen wir Ärztinnen und Ärzte mit dieser Situation umgehen? Sollen wir unseren Patienten die medizinischen Möglichkeiten verschweigen, nur weil sie nicht in die Schablone der Kassenmedizin passen? Das erscheint im Zeitalter des aufgeklärten Patienten nicht angemessen; der Patient soll sich frei entscheiden können.“ (Rheinisches Ärzteblatt 6/2001: 3)
Der Problemzusammenhang der Kommerzialisierung wird häufig derart externalisiert, dass er von Ärzten als eine Situation gedeutet wird, die weder durch sie bedingt ist, noch durch ihre eigenen Handlungen steuerbar erscheint. Darauf verweisen auch die bereits dargestellten Legitimationsmuster mit Verweis auf externe Bedingungsfaktoren. Hier beinhaltet die „Situation“ auch die moralische Problematisierung im Kontext einer systemischen Verengung von Handlungsoptionen. Dabei wird unter dem Verweis „aufgeklärter Patient“ auf die Möglichkeiten verwiesen, die dem Patienten durch die (normative) Einschränkung vorenthalten würden. Bislang sind Patienten nur als Reflexionswert zur Sprache gekommen. Dabei werden Sie als Abnehmer von Selbstzahlerleistungen freilich auch mit diskursiven Mitteln und jenseits des Arzt-Patient-Gesprächs direkt angesprochen. Die direkte Ansprache der Patienten kann auf unterschiedlichen Ebenen passieren. Patienten werden eben nicht nur als schützenswerte Individuen thematisiert, sondern teilweise ganz bewusst als Konsumenten zum Thema gemacht. Auf den Internetseiten der medizinischen Wochenzeitung „Medical Tribune“ etwa wurde unter der Rubrik „Fürs Praxisteam“ ein Artikel mit dem Titel „Den IGeL zum richtigen Patienten bringen“3 veröffentlicht. Darin heißt unter anderem:
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http://www.medical-tribune.de/home/fuers-praxisteam/artikeldetail/den-igel-zumrichtigen-patienten-bringen.html (Letzter Zugriff 08/2013).
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„Hemmschwellen zwischen Patient und IGeL gibt es viele. Überwinden Sie sie - zum Nutzen des Patienten! […] Überlegen Sie sich IGeL-Indikationen! Um eine Linie in das IGeLAngebot der Praxis zu bringen, überlegen Sie mal im Team, welche Merkmale eines Patienten ihn an welchem Ihrer IGeL Interesse haben lässt: Alter? Übergewicht? Raucherfinger? Gestresstes Aussehen? Berufsgruppe? Risikogruppe? Diagnosen? Die Affinität zu alternativen Heilmethoden? Oder „nur“ ein großes Gesundheitsbewusstsein? Welche dieser Aspekte können schon am Tresen von der MFA [der medizinischen Fachangestellten, F.K.] abgefragt werden, um solche Merkmale herauszufinden? Überlegen Sie sich entsprechende Zeichen, die auf der Patientenakte vermerkt werden, sobald sich im Aufnahme- oder Arztgespräch Anhaltspunkte für eine solche „Indikation“ ergeben“ (ebd.).
Dies ist ein prägnantes Beispiel für eine gezielte kommerzielle Auslegung der Unternehmensführung in der Arztpraxis, die den Patienten zielgerichtet in seiner Funktion als Kunde zum Gegenstand macht. In dem Aufruf „Überlegen Sie sich IGeL-Indikationen“ verdichtet sich die Abkehr vom klassischen medizinischen Paradigma in Richtung einer primär profitorientierten Dienstleistung, die ihren Handlungsanlass selber schafft und nicht mehr aus einer medizinischen Notwendig resultieren lässt. Dazu gehören dann auch Empfehlungen für die „IGeL-Praxis“, die Ärzte dazu aufrufen, in der Verkäuferrolle aktiv zu werden und IGeL anhand von zielgerichteten Verkaufsstrategien zu vermarkten: „Der Praxistipp: IGeL-Ablehnungen – wie man ihnen begegnet 1. „Ich überleg mir das“ oder „Ich spreche mit meiner Frau/meinem Mann drüber.“ Lassen Sie diesem Patienten Zeit. Sagen Sie ihm: „Ja, machen Sie das. Soll ich Sie in drei Tagen noch mal anrufen? Dann geht es nicht vergessen.“ Und: Bei Unentschlossenen erst gar keine Alternativen nennen! 2. „Ich weiß nicht“ und die Frage nach Details, das Greifen des Formulars, Vorbeugen oder Wiederholen der positiven Aspekte. Jetzt geht es darum, die Situation richtig zu deuten – reichen Sie dem Patienten den Stift bzw. machen Sie einen Termin aus! 3. „Überall muss man bezahlen!“ Zeigen Sie Verständnis – schließlich hat der Patient Recht. Aber erklären Sie ihm gleichzeitig, dass ihm dieses Lamento auch nicht weiterhilft, wenn er seiner Gesundheit etwas Gutes tun will. 4. „So etwas interessiert mich nicht.“ Eine Antwort hierauf ist nicht leicht. Wichtig wäre es, die Relation klar zu machen – schließlich geht es nicht um ein neues Auto, sondern um die Gesundheit. Versuchen Sie es mit: „Ich erkläre Ihnen noch mal, warum es gerade für Sie sinnvoll ist.“ Ausnahme: Sie haben die Wahrnehmung, dass der Patient wirklich nichts davon wissen will.
154 | MEDIZIN ZW ISCHEN M ARKT UND M ORAL 5. „Ja, aber …“ Welches Argument auch immer folgt: Gehen Sie darauf ein und erklären Sie, warum es nicht ausschlaggebend ist. Aber: Müssen Sie feststellen, dass der Patient recht hat, dann ist der IGeL tatsächlich nicht der richtige für ihn!“ 4
Diskursfragmente, die derart pointiert den Vermarktungsaspekt von medizinischen Leistungen zum Thema machen sind selten, und häufig Gegenstand scharfer Kritik innerhalb des berufspolitischen Diskurses. Die direkte Ansprache oder Aufforderung Selbstzahlerleistungen in Anspruch zu nehmen wird häufig als unangemessenes Verhalten betrachtet. Ein Patient hingegen, der selber Leistungen aktiv einfordert, ist leichter in das ärztliche Dienstleistungsethos integrierbar. Auch in Patientenratgebern werden Patienten dazu aufgefordert, sich aktiv und kompetent gegenüber dem IGeL-Marketing zu verhalten. Doch bereits die Aufforderung zur selbstgesteuerten Entscheidung darüber, „ob eine IGeL die Richtige für mich ist“ (KBV: IGeL-Checkliste5), setzt dabei bereits ein gewisses Maß an Mündigkeit und Gesundheitskompetenz beim Patienten voraus. Mündigkeit ist zumeist positiv konnotiert und wird hier oft mit einem deliberativ-partnerschaftlichen Arzt-Patient-Verhältnis in Zusammenhang gestellt. Doch kann auch die Erosion des Arzt-Patient-Verhältnisses durch den Vertrauensverlust in den Arzt und den Verlust des antizipatorischen Systemvertrauens, einen sich zwangsläufig autonomisierenden Patienten zur Folge haben. Folgendes Diskursfragment zeigt, wie Patienten in Ratgebern der KBV zu Souveränität und Selbststeuerung angehalten werden: „Die Entscheidung für oder gegen eine IGeL treffen allein die Patientinnen und Patienten. Deshalb sollten sie sich aus verschiedenen unabhängigen Quellen informieren und prüfen, ob die Leistungen, die ihr Arzt oder ihre Ärztin vorschlägt, für sie von Nutzen sind.“ (KBV 2012: 7)
Die in Bezug auf medizinisches Wissen hoch komplexe Aufgabe der Beschaffung und Selektion von Informationen über medizinische Leistungen wird mündigen Patienten offenbar mühelos zugetraut. Damit wird von Patienten eine Art der Kundensouveränität erwartet, die auch in weniger komplexen und folgeschweren Konsumbereichen als der Medizin, in der Praxis kaum je erreicht oder erwartet wird.
4
Quelle: http://www.medical-tribune.de/home/fuers-praxisteam/artikeldetail/den-igel-
5
www.kbv.de/patienteninformationen/23745.html (Letzter Zugriff 08/2013), siehe
zum-richtigen-patienten-bringen.html (letzter Zugriff 08/2013). auch KBV (2012).
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Der Typus des „informierten Patienten“ wird in den Diskursen zur Selbstzahlermedizin in vielerlei Hinsicht beschworen. Die Subjektpositionen des „aktiven Kunden“ und die des „kritischen Konsumenten“ werden von unterschiedlicher Seite in Stellung gebracht, fordern aber gleichermaßen eine selbstgesteuerte Informationsaneignung ein, die ein hohes Maß an Gesundheitskompetenz voraussetzt. 5.2.2 Der Igel – Nützling oder Schädling? „Schrott vom Arzt“ – so titelte der SPIEGEL 1998 in der damals aktuell geführten Debatte um die Einführung der Individuellen Gesundheitsleistungen: „Mit dem Igel, von den Krankenkassen einhellig als Versuch zur Bereicherung befehdet, bohren die niedergelassenen Mediziner frische Geldquellen an, abseits von Budgetierung, Deckelung und den mehr als 40 Milliarden Mark aus dem Kassentopf, die sich allein in diesem Jahr über sie ergießen. Mit strategischer Finesse will die KBV den Irrglauben im Volk festigen, daß Patienten für mehr Geld auch mehr Gesundheit bekommen.“ 6
Der öffentliche Diskurs greift hier Argumentationsmuster auf, die typisch für die Positionierungen im Spezialdiskurs sind. IGeL-Angebote dienten vor allem der Bereicherung der Kassenärzte, so lautet ein Argument insbesondere von Seiten der Krankenkassen. Darüber hinaus suggerierten IGeL eine „Luxusmedizin“ jenseits der gesetzlichen Versicherungsleistungen. So würde der Angst vor einer Zweiklassen-Medizin weiter Vorschub geleistet. Dieses Argument wird mit oft mit dem Verweis auf Studien gestützt, die darauf hinweisen, dass tatsächlich ein deutlicher Zusammenhang zwischen der Angebotsstellung von Zusatzleistungen und dem Einkommen und der Bildung von Patienten zu beobachten ist. Mit zunehmenden Haushaltsnettoeinkommen steigen sowohl Angebotsstellung als auch Inanspruchnahme von IGeL-Leistungen an (WIdO 2005: 41, siehe auch Kapitel 4.4). Dies habe einerseits zur Folge, so die Kritiker, dass der Patient vermehrt als Kunde und in seiner Kaufkraft wahrgenommen wird. Andererseits befürchteten Patienten dass sie sich die Zusatzversorgung mit IGeL nicht leisten können (vgl. auch Krimmel 2005: 192). Problematisch sei in der Folge, dass von Patientenseite Unverständnis darüber entstehe, warum bestimmte Leistungen nicht Bestandteil der GKV seien, wenn diese doch vorgeblich medizinisch sinnvoll sind, wie dies von Seiten der KBV und der Kassenärzte betont wird. Die Kassen wiederum beklagen, dass es durch diese Rethorik zu einer Abwertung und Diskreditierung der
6
Der Spiegel, Ausgabe 13, 1998.
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GKV-Leistungen bzw. des gesamten solidarischen Kassenprinzips komme, die zu einer weiteren Verunsicherung der Patienten beitrage. Tatsächlich werden im Diskurs – vor allem seitens liberaler Positionen – Unterscheidungsdimensionen eröffnet, die an die Differenzierung von freier Marktwirtschaft einerseits und sozialer Planwirtschaft andererseits mahnen. So wird die GKV von Seiten der „Systemkritiker“ als „Zuteilungsmedizin“ oder „BudgetMedizin“ diskreditiert und gleichsam die Selbstzahlermedizin als „Luxus-“ „Komfort-“ oder „Service-Medizin“ hervorgehoben. Das Optimum medizinischer Versorgung könne damit nur auf dem freien Markt ermöglicht werden. Erinnern wir uns an folgendes Diskursfragment: „Die moderne Medizin umfasst nun einmal mehr als die Kassenmedizin. Deren Möglichkeiten sind begrenzt durch das Wirtschaftlichkeitsgebot des Sozialgesetzbuches. Unbestritten gibt es Leistungen, die darüber hinausgehen und aus ärztlicher Sicht sinnvoll sind. Solche Leistungen kann der Patient nur privat in Anspruch nehmen, er muss sie also aus eigener Tasche bezahlen.“ (Rheinisches Ärzteblatt 6/2001: 3)
Der Hinweis auf „moderne Medizin“ (vor allem als Abgrenzungsbegriff zur Kassenmedizin!) lässt hier anklingen, dass es neuere Errungenschaften (Innovationen) in der Medizin gibt, die (noch) nicht zum Leistungskatalog der GKV gehören. Das Möglichkeitsspektrum der modernen Medizin, werde durch das Wirtschaftlichkeitsgebot des SGB V eingeschränkt. Bereits zur Einführung des IGeL-Konzepts sah sich die KBV starken Vorwürfen ausgesetzt und unter massivem Rechtfertigungsdruck. Mit der Einführung des Katalogs von zunächst etwa siebzig IGeL-Leistungen wurde dies Argumentativ stark über externen Bedingungen und Zwänge begründet. „Das System einer solidarischen Krankenversicherung ist bereits an seinen Grenzen angelangt, wenn es darum geht, die demographischen Herausforderungen zu bewältigen und den medizinischen Fortschritt an alle Versicherten weiterzugeben.“ (Vorsitzender der KBV, Winfried Schorre 1998) 7
Aufgrund dieser Bedingungen sei eine neue Ordnung des Marktes nötig geworden, um zu vereindeutigen, welche Leistungen dem „ersten“ Gesundheitsmarkt
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Statement des KBV-Vorsitzenden Dr. Winfried Schorre auf der Pressekonferenz der KBV am 18.03.1998 in Bonn. http://www.kbv.de/publikationen/1523.htm (letzter Zugriff 08/2013).
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angehörten, und welche Leistungen dem „zweiten“ Selbstzahler-Gesundheitsmarkt zuzuordnen seien. „Wir wollen zur Transparenz im Gesundheitswesen beitragen, indem wir diejenigen Leistungen benennen, die nicht in die Zuständigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung fallen.“ (Ebd.)
Weiterhin wurde argumentiert, dass durch die Einführung von IGeL, Ressourcen geschont würden, indem der Wille der Patienten, Eigenverantwortung zu übernehmen, unterstützt werde. Erst durch mehr Privatleistungen würde die Solidargemeinschaft entlastet. „Das Konzept der individuellen Gesundheitsleistungen [ist] eindeutig darauf gerichtet, die Eigenverantwortung des Versicherten für individuelle Zusatzwünsche zu bekräftigen und auf diese Weise das System der gesetzlichen Krankenversicherung von Ausgaben zu befreien, die eine Solidargemeinschaft von Versicherten nicht belasten dürfen. “ (Ebd.)
Dabei wird der Patient von Seiten der KBV nicht nur in der Rolle des mündigen Patienten positioniert, sondern dezidiert auch in der Rolle eines souveränen, informierten Bürgers, der gezielt mit „Versorgungswünschen“ (ebd.) an den Arzt herantritt und der verantwortungsbewusste Konsumentenentscheidungen treffen kann: „Gerade im Bereich zusätzlicher Versorgungswünsche gibt es auch das, was für den Zuständigkeitsbereich der gesetzlichen Krankenversicherung ansonsten kaum angenommen werden kann: die sogenannte Konsumentensouveränität. Wenn beispielsweise vor einer Reise in tropische Gegenden eine kompetente reisemedizinische Beratung in Anspruch genommen wird oder wenn kosmetische Eingriffe etwa im Sinne des Face-Lifting oder der Entfernung von Tätowierungen gewünscht werden, so ist dies jeweils eine Entscheidung, die von den Bürgerinnen und Bürgern außerhalb des Versicherungsschutzes einer Krankenkasse in eigener Verantwortung getroffen werden kann und muß. […] Auch die Berechtigung anderer Versorgungswünsche wie etwa im Bereich der kosmetischen Medizin kann nicht ernsthaft bestritten werden, wenn diese Wünsche als individuelle Gesundheitsleistungen von mündigen Bürgerinnen und Bürgern aufgrund souveräner Konsumentenentscheidungen in Anspruch genommen werden.“ (Ebd.)
Es geht in der Rechtfertigung des IGeL-Konzepts also anscheinend nicht nur um die Grenzziehung zweier Marktsphären, sondern ebenso um die Legitimation von Leistungen, die nicht mehr der Krankheitsbehandlungen dienen und die teilweise
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als umstritten gelten. Dass derartige Lifestyle-Leistungen jedoch nicht nur aufgrund der prekären Finanzlage der Kassen problematisch sind (da sie die Ressourcen unnötig belasten), sondern auch aufgrund spezifischer normativer Zielvorstellungen des Arztberufes, macht die Debatte deutlich. So bleibt zunächst festzuhalten, dass zu Beginn der Einführung der IGeL die KBV und die Krankenkassen als Antipoden im Diskurs aufgetreten sind und die Debatte auch innerhalb der Ärzteschaft angefeuert haben. Während sich das Konzept der Vereindeutigung der Trennung von Selbstzahlerleistungen und Kassenleistungen in der Praxis schnell und flächendeckend verbreitete und sich dadurch de facto ein neuer zweiter Gesundheitsmarkt in den Arztpraxen etablieren konnte, wurden innerhalb der Ärzteschaft auf diskursiver Ebene normative Appelle laut, die vermehrt auf mögliche ethische Probleme der IGeL-Praxis hinwiesen. Dabei etablierte sich ein Deutungsmuster, das die IGeL für den Einzug der Kommerzialisierung in die Arztpraxis verantwortlich macht und die damit in Zusammenhang stehende Entgrenzung therapeutischer Zielsetzungen anmahnt. „Was ist also zu beanstanden, wenn den Patienten Maßnahmen angeboten werden, die sich am Rande oder außerhalb der wissenschaftlich begründeten Medizin bewegen? Im Prinzip gar nichts, wenn diese Maßnahmen garantiert unschädlich für den Patienten sind, ihn finanziell nicht über ein vertretbares Maß hinaus belasten und, vor allem, zusätzlich zu einer rationalen, vernünftigen medizinischen Versorgung erfolgen! Wenn jedoch der IGEL-Katalog an die Stelle medizinischer Lehrbücher tritt, obskure Leistungen in der Arztpraxis angeboten werden wie Gemüse auf dem Wochenmarkt und wenn den Patienten sichtlich das Fell über die Ohren gezogen wird, dann hat die Medizin und das Arztsein verloren.“ (Hessisches Ärzteblatt 1/2001: 2)8
Das Fragment lässt einen Widerspruch zwischen dem Anspruch an eine „rationale, vernünftige medizinische Versorgung“ und den Maßnahmen jenseits der „wissenschaftlich begründeten Medizin“ erkennen. Im Kern der Aussage geht es allerdings darum, ein Maß zu bewahren, durch den das Wesen des „Arztseins“ bestimmt wird. Dabei wird der Patient als Opfer der hier buchstäblich angemahnten „Vermarktlichung“ dargestellt.
8
http://www.laekh.de/upload/Hess._Aerzteblatt/2001/2001_01/2001_01_01.pdf (letzter Zugriff: 08/2013).
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5.2.3 Der Sonderfall der „Alternativmedizin“ Einen aufschlussreichen Sonderfall stellen in diesem Zusammenhang in vielerlei Hinsicht der alternativmedizinische Bereich, und dort insbesondere die Homöopathie dar. Homöopathische Behandlungen sind neben der Akupunktur die am weitesten verbreitete alternativmedizinische Therapieform. Etwa 7.000 Ärzte haben mittlerweile in Deutschland eine homöopathische Zusatzausbildung. Der Nutzen der Homöopathie ist umstritten. Gemessen an den Kriterien, die üblicherweise an Wirkstoffe, Medikamente und ärztliche Leistungen angelegt werden, ist ihre Wirksamkeit nicht zu belegen. Daher gehören homöopathische Leistungen auch nicht zu den Regelleistungen der GKV. Dennoch bezahlen mittlerweile mehr als 70 Prozent der Krankenkassen die homöopathische Behandlung (Dtsch. Ärztebl. 2013)9. Dies wurde über Sonderverträge der Kassenärztlichen Vereinigungen mit den Krankenkassen außerhalb der morbiditätsorientierten Gesamtvergütung möglich gemacht. Die homöopathischen Medikamente müssen die Patienten weiterhin selber bezahlen, die homöopathische Anamnese und Diagnosestellung werden von teilnehmende Ärzten und Kassen geleistet. Die Nachfrage nach homöopathischen Behandlungen ist groß. Ärzte haben natürlich die Möglichkeit, diese Nachfrage zu ignorieren. Ansonsten bleibt ihnen die Möglichkeit, eine Zusatzausbildung durchzuführen um einen Sondervertrag mit der KV abzuschließen, oder aber homöopathische Leistungen als IGeL anzubieten. Beides ist durchaus lukrativ, da so ein zusätzliches Budget ermöglicht wird, das der Vergütungshöhe einer Versichertenpauschale entspricht, aber aufgrund des Sondervertrages zusätzlich zu dieser eingenommen wird. Hierbei handelt es sich, wie gesagt, in mehrerer Hinsicht um einen Sonderfall innerhalb der individuellen oder präferenzmedizinischen Leistungen, denn die Diskussion um Homöopathika findet im Diskurs um die Kommerzialisierung, IGeL und Lifestylemedizin nicht statt. Sie stellt einen blinden Fleck im Diskurs dar. Dies liegt meines Erachtens an unterschiedlichen Faktoren: Homöopathie ist krankheitsorientiert, wird also nicht zur reinen Wellness- und Lifestyle-Medizin gerechnet. Ihre Wirksamkeit ist nicht belegbar, sie weist allerdings auch keine Nebenwirkungen auf (abgesehen von der Vernachlässigung anderer notwendiger Therapien zugunsten der Homöopathie). Sie ist weitgehend institutionalisiert, zumindest seit Kassen zunehmend die Behandlungen vergüten. Sie ist, anders als viele andere IGeL/Sonderleistungen, sehr stark nachfragegetrieben, der Vorwurf einer angebotsinduzierten Nachfrage stellt sich daher selten. Homöopathie wird
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http://www.aerzteblatt.de/nachrichten/54343/Mehrheit-der-Krankenkassen-bezahltHomopathie (letzter Zugriff: 08/2013).
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aufgrund ihres nur im Deutungsrahmen der Alternativmedizin plausiblen Wirkprinzips und ihrer eigenständigen Bedeutung und Kulturgeschichte, als eigenständiges, nicht-medizinisches Phänomen betrachtet. Daher werden andere Maßstäbe zur Bewertung angesetzt. Die Verbreitung der Praxis der Homöopathie steht demnach sinnbildlich für die Aufweichung einer Grenze zwischen wissenschaftlicher Medizin und alternativer Heilmethoden – einer Grenze, die im Medikalisierungsprozess historisch von Seiten der Medizin aus Gründen der sozialen Schließung vorangetrieben wurde. Dennoch oder gerade weil dieses Phänomen im Diskurs kaum stattfindet, sollte es in die Debatte eingeordnet werden, da der besondere Umgang mit der Homöopathie im Hinblick auf die Diskussion um Ressourcenschonung und ärztliche Professionalität von pointierter Relevanz ist. Denn in gewissem Sinne handelt es sich bei diesem Arrangement um eine Institutionalisierung ärztlicher Dienstleistungen auf dem Rücken der Solidargemeinschaft, deren kommerzieller Charakter durch die Integration ins Versicherungssystem umverteilt wurde. Die Übernahme der Leistungen dient Arztpraxen und Krankenkassen als ein Marketinginstrument, das (auf Kassenseite) neue Kunden anzieht, die dann in der Praxis Leistungen in Anspruch nehmen, wovon der Arzt profitiert. Eine scheinbare WinWin-Situation für Ärzte, Kassen und Patienten (zumindest für solche mit Interesse an homöopathischen Behandlungen). Das Problem dabei ist aber nicht nur der nach SGB nicht gerechtfertigte Umgang mit Ressourcen trotz fehlender empirischer Evidenz – dies ist sicher auch bei einigen gängigen (aber umstrittenen) medizinischen Eingriffen der Fall – sondern auch die Frage, was dies für das Arztbild und das professionelle Selbstverständnis der Arztes bedeutet. Der Grenzfall einer individuellen Gesundheitsleistung, die trotz ihres umstrittenen Charakters zur Kassenleistung wird, wirft die Frage auf, ob es in diesem Fall ethisch positiver zu bewerten wäre, wenn die Leistung weiterhin nur Selbstzahlern zugänglich wäre, anstatt die Solidargemeinschaft zu belasten. Doch gilt dies dann nicht auch in gleichem Maße für andere Selbstzahlerleistungen? Anhand dieses Aspekts wird deutlich, dass es bei der Ausweitung des Selbstzahlermarktes nicht unbedingt zu einer Vergrößerung sozialer Ungleichheit und einer Verschärfung der Problematik der Zwei-Klassen-Medizin kommt – sondern unter Umständen auch zu einer gesundheitsökonomischen Entlastung durch die eindeutige Separierung nicht notwendiger Leistungen. Dies gilt freilich nur begrenzt –auch die Krankenkassen finanzieren mittlerweile verstärkt „Gesundheitsleistungen“, die nur teilweise dem alternativmedizinischen Bereich zuzuordnen sind.
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5.3 H EILST DU NOCH ODER OPTIMIERST DU SCHON ? D AS B EISPIEL DER ÄSTHETISCHEN C HIRURGIE Auch die ästhetische Chirurgie muss als ein Sonderfall von Individuellen Gesundheitsleistungen beschrieben werden, bei dem sich andeutet, dass nicht nur der Modus der Grenzziehung zwischen Markt und Medizin in Veränderung begriffen ist, sondern dass sich die gesamte Zielsetzung des ärztlich-therapeutischen Handlungszusammenhanges verändert (vgl. Viehöver/Wehling 2011; Karsch 2011a; Kettner 2006). Als medizinische Leistungen jenseits kurativer Zielsetzungen müssen Leistungen aus dem Bereich der ästhetischen Chirurgie entsprechend als Selbstzahlerleistungen angeboten werden. Die Problematik der Kommerzialisierung medizinischer Leistungen ist damit nicht auf die vertragsärztliche Praxis (die so genannte „Kassenpraxis“) beschränkt. Viele Mediziner spezialisieren sich in Privatpraxen und -kliniken oder in Gesundheitszentren auf Selbstzahlerleistungen, vor allem im Bereich der Wellness- und Lifestyle-Medizin sowie der ästhetisch-plastischen Chirurgie. Obwohl auch Leistungen aus dem Bereich der ästhetischen Medizin als IGeL in Vertragspraxen vermarktet werden können, ist der Markt und mithin der berufspolitische Diskurs zum Bereich der „Schönheitschirurgie“ als eigenständiger Schwerpunkt zu thematisieren. Die ästhetisch-plastische Chirurgie ist ein intern hoch professionalisierter Fachbereich der Medizin, der die reine ästhetische Chirurgie („Schönheitschirurgie“) ebenso umfasst wie die rekonstruktive plastische Chirurgie. Im Rahmen der ästhetischen Chirurgie werden Eingriffe am Körper vorgenommen, die, anders als rekonstruktive plastisch-chirurgische Verfahren (die zumeist auch eine ästhetische Komponente besitzen), ohne medizinische Indikation und primär mit dem Ziel einer ästhetischen Optimierung durchgeführt werden. Brustvergrößerungen, Nasenkorrekturen und Fettabsaugungen stellen die am häufigsten nachgefragten Prozeduren dar. Üblicherweise werden auch minimal-invasive Eingriffe aus dem kosmetischen Bereich, wie etwa Faltenunterspritzungen, Lippeninjektionen und chemische Peelings zur so genannten Schönheitschirurgie gezählt (Meili 2008: 128). Mit der stetigen Verbesserung der technischen und handwerklichen Möglichkeiten der Schönheitschirurgie ist auch eine zunehmende Nachfrage nach ästhetischen Eingriffen festzustellen. Als medizinisch korrekturbedürftig gelten körperliche Eigenschaften und Merkmale, die als Abweichungen von der Norm oder als „zu durchschnittlich“ wahrgenommen werden, sowie auch altersbedingte Veränderungen des Körpers. Diese Medikalisierung ästhetischer Normen wirft Fragen nach den legitimen Zielsetzungen der ärztlichen Profession auf. Gehört die risikoreiche Verschöne-
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rung von Körperformen zum legitimen Handlungsbereich der Medizin? Inwieweit ist die damit in Verbindung stehende Kommerzialisierung des Arztberufes problematisch? Im November 2011 starb eine Patientin nach einer Operation in einer Hamburger Privatklinik für ästhetische und plastische Chirurgie.10 Die Erotikdarstellerin wollte bereits zum fünften Mal ihre Brust vergrößern lassen. Gegen die beteiligten Ärzte läuft derzeit ein Ermittlungsverfahren wegen fahrlässiger Tötung. Nicht nur wurden, wie es scheint, während der Operation Fehler gemacht, auch die Tatsache, dass hier auf Patientenwunsch eine äußerst risikoreiche Operation durchgeführt wurde, die medizinisch eindeutig nicht notwendig war, ist vor allem aus berufsethischer Sicht äußerst umstritten. Wie darf oder soll sich ein Arzt gegenüber einem Patientenwunsch verhalten? Ist das medizinethisch bedeutsame Nichtschadens-Prinzip bereits ausreichend, um die Ablehnung des Patientenwunsches zu legitimieren, obwohl die meisten medizinischen Eingriffe ein Risiko für den Patienten bedeuten und deshalb dessen Einwilligung benötigen? Der Problemkonnex der ästhetischen Chirurgie als eine Sonderform individueller Gesundheitsleistungen zeigt damit Dimensionen des Diskurses auf, die von großer Wichtigkeit für das Verständnis der Problematisierung des Kommerzialisierungsdiskurses sind. Wie sich im professionellen Diskurs zeigt, stehen die traditionellen ethischen Selbstbeschränkungen des Arztberufes in einem Widerspruch zu den liberalen Auslegungen der kommerziell orientierten Schönheitschirurgie einerseits und den Ansprüchen der Abnehmer andererseits, von denen vermutet wird, dass sie die Medizin verstärkt als „Wunscherfüllungsgehilfin“ verstehen. Es muss also diskutiert werden, wie die ästhetische Chirurgie als Sonderfall von individuellen Gesundheitsleistungen mit virulenten Vorstellungen von medizinischer Professionalität in Konflikt steht und wie sie im Diskurs legitimatorisch mit diesen Werten in Einklang gebracht wird. 5.3.1 Das Spektrum ästhetisch-chirurgischer Leistungen In nachfolgender Tabelle habe ich basierend auf den von mir durchgeführten Gesprächen und Dokumentenanalysen eine Übersicht über das Spektrum der plastisch-ästhetischen Chirurgie erstellt, die veranschaulicht, dass der Akzeptanzgrad bzw. der Grad der moralischen Umstrittenheit der Leistungen stark vom Kriterium einer medizinischen Notwendigkeit oder einer Nutzen-Risiko-Abwägung
10 http://www.aerzteblatt.de/nachrichten/44373/Plastische-Chirurgen-Auch-bei-Schoenheits-OP-immer-ein-Restrisiko (letzter Zugriff: 08/2013).
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bestimmt ist. Zunächst habe ich dazu verschiedene Dimensionen von Leistungen unterschieden, die in der plastisch-ästhetischen Chirurgie durchgeführt werden: Abbildung 17: Plastisch-ästhetische Chirurgie anhand des IndikationsKriteriums (eigene Darstellung) rekonstruktiv
funktional
normalisierend
[…]
optimierend
transformierend
z.B. Eingriffe nach entstellenden Unfällen
Brustreduktion z.B. aufgrund von Rückenschmerzen; Rhinoplastik aufgrund von Atembeschwerden
Operative Veränderung (angeborener) „entstellender“ Merkmale; z.B. abstehende Ohren, Brustasymetrie, Gynäkomastie
Eingriffe im Spektrum von normalisierend bis optimierend; z.B. Rhinoplastik
Eingriffe die klar optimierende Zielsetzungen haben und dabei über das „normale“ hinaus gehen können; z.B. Brust-vergrößerungen
extreme Körpertransformationen;
ethisch meist akzeptiert/ „ästhetisch“ indiziert
definitorische Grauzone
moralisch umkämpft
Eingriff notwendig/ medizinisch indiziert
z.B. Veränderungen von Rassenmerkmalen
ethisch meist nicht akzeptiert (kulturell divergierend)
abnehmender Toleranzgrad Æ
1. Rekonstruktive Eingriffe werden nach Unfällen oder Traumata vorgenommen. Der ästhetische Eingriff ist eine wiederherstellende Maßnahme und gilt deshalb als medizinisch notwendig. Derartige Eingriffe sind aufgrund des therapeutischen Ziels hochgradig legitimiert. 2. Als funktionale Eingriffe sind ästhetische Eingriffe zu bezeichnen, die aufgrund von körperlich-anatomisch bedingten Leiden durchgeführt werden, wie etwa die Brustreduktion aufgrund von Rückenschmerzen. Hierbei können funktionale und rein ästhetische Komponenten vermischt werden, welche aber aufgrund der (therapeutischen) Notwendigkeit des Eingriffs als legitim gelten.
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3. Normalisierende Eingriffe haben zum Ziel, subjektiv oder kollektiv als entstellend oder „hässlich“ empfundene Merkmale an ein als normal empfundenes Maß anzupassen. Derartige Eingriffe, etwa die Korrektur abstehender Ohren oder die Reduktion der „Männerbrust“ (Gynäkomastie) gelten in vielen Fällen als ethisch unumstritten und können in Einzelfällen sogar als Kassenleistung gelten. Hier kommt nun stärker der subjektiv empfundene Leidensdruck ins Spiel, der im professionellen Diskurs teilweise als „ästhetische Indikation“ seinen Ausdruck findet. 4. Daraufhin ist eine definitorische Grauzone markiert (vgl. Tabelle 13), die einen Bereich kennzeichnet, in dem von Einzelfall zu Einzelfall die Begründungsstrategien zwischen stärker „normalisierend“ argumentierenden und stärker „optimierend“ argumentierenden Deutungsmustern chargieren. Dies hängt dann beispielsweise davon ab, ob eine Nasenkorrektur als die Anpassung einer subjektiv als abweichend empfundenen Nasengröße vorgenommen wird, oder gezielt zur Perfektionierung des Äußeren, etwa um Chancen auf dem Liebes- oder Arbeitsmarkt zu erhöhen. Derartige Leistungen gelten trotz der großen (und steigenden) Nachfrage als umstritten. 5. Von optimierenden Leistungen ist dann zu sprechen, wenn entweder Normalisierungsziele nicht mehr greifen, da der „Normfall“ überschritten wird (was häufig bei Brustvergrößerungen der Fall ist) oder dann, wenn die Leistungen gezielt der Verjüngung oder Optimierung des Körpers gelten. Wie weiter oben bereits angeführt, sind derartige Leistungen sowohl öffentlich als auch professionell und moralisch umkämpft. 6. Schließlich spreche ich von „verändernden“ Leistungen dann, wenn die Eingriffe nicht mehr die Normalisierung oder Verbesserung des Status Quo zum Ziel haben, sondern eine radikale Transformation von spezifischen äußeren Merkmalen. Dies ist etwa bei geschlechtsangleichenden Maßnahmen, bei Veränderungen ethnischer Merkmale oder dem Bereich der „extreme-bodymodifications“ der Fall. Interessanterweise greift auch hier das Verhältnis von medizinischer Indikation und gesellschaftlicher Akzeptanz: die Veränderung des Geschlechts ist beim Vorliegen von Transsexualität, die als Form der Geschlechtsidentitätsstörung im ICD-10 kodiert ist, medizinisch indiziert und kaum (noch) umstritten. Hier hat der erfolgreiche Medikalisierungsprozess die Anerkennung und damit den Zugang zu medizinischen Maßnahmen erst ermöglicht. Andere „veränderende“ Maßnahmen wie etwa die Transformation ethnischer Merkmale oder andere extreme Veränderungen des Körpers,
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sind zumindest in westlichen Kulturkreisen kaum akzeptiert und medizinethisch höchst umstritten. Obwohl einige wenige Chirurgen derartige Eingriffe durchführen und die Bewertungsmaßstäbe kulturell stark differenzieren, gelten solche Maßnahmen (vor allem auch in Deutschland) als ethisch nicht vertretbar. Anhand dieser analytischen Zergliederung des Spektrums an ästhetischen Leistungen kann veranschaulicht werden, dass dem Kriterium der Indikation auch (und gerade) im Bereich der ästhetisch-plastischen Chirurgie eine entscheidende Bedeutung sowohl für ethische und soziale als auch für ökonomische Bewertungen zukommt. Besonders interessant ist jedoch, dass auch von Seiten der ästhetischen Chirurgen an der medizinischen Indikation als Grenzziehungskriterium festgehalten wird. Es nimmt damit die Bedeutung einer symbolischen Ressource ein, die als legitimatorische Grundlage eines ganzen Berufsstandes erscheint. Dies hat sich deutlich in den Interviews gezeigt, die für diese Analyse durchgeführt wurden. Im Folgenden werden einige diese Aspekte beispielhaft geschildert. 5.3.2 „Schwarze Schafe“ in weißen Kitteln Die Grenzen zwischen den oben differenzierten Praxisbereichen der ästhetischplastischen Chirurgie sind fließend und, dies zeigte die Diskursanalyse, vor allem von den Deutungsleistungen der involvierten Akteure abhängig. Ähnliches gilt auch für die normative Bewertung der Leistungen und ihre Legitimation. Eine von mir im Rahmen dieser Studie befragte Ärztin aus dem Bereich der ästhetischplastischen Chirurgie antwortete auf die Frage, ob es Leistungen gäbe, die sie für unseriös halte, folgendermaßen: „Ja. Die Veränderung des äußeren Erscheinungsbildes ohne eine Abnormalität, ohne einen Defekt, ohne ein abnormales Substrat, ohne einen Defekt.“ (Int7)
Weiterhin argumentiert sie indes: „Lippenaufspritzung kann völlig in Ordnung sein, wenn die Lippe wirklich hypoplastisch ist, sehr klein, sehr schmal, in Relation zum Beispiel zur Unterlippe oder zum restlichen Gesicht. Dann kann es wie ein Mangel aussehen.“ (Int7) „Die rein ästhetische Chirurgie, was man so als reine Schönheitschirurgie bezeichnet, gibt es in dem Sinn nur als unseriöses Gebiet, weil da ja nichts repariert wird. Der Rekonstruk-
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Diese Zitate demonstrieren, wie bestimmte Merkmale – eine schmale Oberlippe oder altersbedingte Veränderungen – als behandelbare „Defekte“ oder „Abnormalitäten“ umgedeutet werden können und argumentativ in den Bereich der Rekonstruktion gerückt werden. Die Diskrepanz, die sich in dieser Argumentation auftut, ist evident: wenn schmale Lippen als „Abnormalitäten“ und damit als Handlungsanlass für einen plastisch-chirurgischen Eingriff gedeutet werden und das Kriterium der Rekonstruktion bereits für die Normangleichung angewandt wird, so löst sich die Praxis von gemeinhin geteilten Vorstellung darüber, was eine medizinische Indikation sein kann. Ähnliches gilt für die Semantik der Rekonstruktion selbst. Rekonstruktion, so wie der Begriff eta in der rekonstruktiven Chirurgie Verwendung findet, verweist auf die Wiederherstellung von Gesundheit oder „Normalität“ und ist gleichsam als Legitimationsmuster zu verstehen, dass auf eine seriöse (weil notwendige) medizinische Praxis hinweist. Die rein ästhetische Chirurgie verfolgt das Ziel, eine ästhetische Norm zur Erfüllung zu bringen. Sie argumentativ mit einer Rekonstruktion gleichzusetzen, heißt, die „natürliche“ Abweichung von einer keinesfalls eindeutigen Norm, mit der objektiven Entstellung durch eine Krankheit oder ein physisches Trauma gleichzusetzen. Ähnliches gilt für die Medikalisierung von Alterungsprozessen. Obwohl der Behandlung von altersbedingten Veränderungen tatsächlich ein rekonstruktives Element innewohnt, wird die Notwendigkeit eines Eingriffs auf den subjektiv empfundenen Leidensdruck zurückgeführt: „[Operationen bei Veränderungen im Alter]: für mich eine nachvollziehbare, seriöse Sache. Dazu gehört aber natürlich eine Auseinandersetzung mit dem Patienten. Und auch die Tatsache, dass der Patient drunter leidet. Zum Beispiel, nicht jeder der aus'm Leim geht im Alter, den müssen wir jetzt ansprechen und sagen: Sie müssen jetzt aber unbedingt operiert werden, weil das ist ja eine wirkliche Rekonstruktion bei Ihnen erforderlich. Nein, es gehört natürlich schon der Leidensdruck des Patienten dazu.“ (Int7)
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Im Rahmen dieser rein „ästhetischen Indikation“ wird als zentrales Legitimationsmuster der Leidensdruck der Patienten ins Feld geführt. Es ist ein häufig wiederkehrendes Deutungsmuster, dass der Leidensdruck im Rahmen der ästhetischen Chirurgie zu einer eigenständigen Krankheitskategorie umgedeutet wird. Die Interviewpartnerin führt diesen Zusammenhang detailliert aus: Interviewer: „Wird da der Leidensdruck wie ein, ich sage mal, Krankheitssymptom behandelt?“ Int1: „Richtig, wie ein nach der WHO 'Sich-nicht-Wohlfühlen'. Also die Absenz des Wohlfühlens ist nach der WHO schon eine Definition der mangelnden Gesundheit. Und die mangelnde Gesundheit ist dann wieder Krankheit. Wobei diese Begriffe natürlich nie klar zu trennen sein werden, denn es gibt Leute, die leiden unter Hackennase und fliehendem Kinn und andere betrachten das als vollkommen ok.“ (Int7)
Die World Health Organization (WHO) bietet 1946 in der Präambel ihrer Gründungsschrift eine grundlegende Definition von Gesundheit an: „Health is a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease and infirmity“ (WHO: Preamble to the Constitution of the World Health Organization, 1946). Wie aber lässt sich dann Krankheit definieren? Das Bundesarbeitsgericht stellt fest, dass „Krankheit ein regelwidriger Körper- und Geisteszustand [ist]“ der „einer Heilbehandlung bedarf“ (BAG (Bundesarbeitsgericht), Urteil v. 26.7.1989, 5 AZR 301/88.). „Sich-nicht-Wohlfühlen“ als Indikation für einen medizinischen Eingriff zu verstehen, eröffnet freilich einen weites Spektrum an Patienten und Leidenswegen, deren Behandlung zwar als rekursiv als medizinisch „notwendig“ gedeutet wird, aber nicht von der Kassen finanziert werden kann, da diese die Notwendigkeit eines ästhetischen Eingriffs in den meisten Fällen nicht anerkennen. Auf diese Finanzierungsaspekte angesprochen erklärt Int7: Interviewer: „Wie ist das bei ihnen in der Praxis mit der Finanzierung der Leistungen?“ Int7: „Über die Gebührenordnung der Ärzte. Das sind Kassenpatienten die entweder eine Kassengenehmigung haben, für gewisse Dinge, die eben von der Kasse als medizinisch indiziert anerkannt werden. Es gibt auch medizinisch indizierte Dinge, die von der Kasse nicht anerkannt werden“
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Ausnahmslos alle ärztlichen Leistungen, jenseits des Vertragsärztlichen Bereichs (GKV), also alle Privatleistungen und IGeL (und damit auch Leistungen ästhetischer Chirurgen) müssen über die Gebührenordnung der Ärzte abgerechnet werden. Ob und warum die Kassen die Leistungen nicht tragen, ist damit noch nicht beantwortet, auch nicht mit dem Hinweis, dass medizinisch indizierte Leistungen teilweise nicht übernommen würden. Das Kriterium der medizinischen Indikation bleibt amorph – wer darüber entscheidet bleibt ungeklärt. Haben die Professionellen selbst hier die Deutungshoheit? Oder entscheiden doch die Kassen als Leistungsträger darüber, was als medizinisch indiziert und damit als legitime ärztliche Praxis zu gelten hat? Wie in der Typologie zu Anfang des Kapitels veranschaulicht wurde, gibt es im Handlungsfeld der ästhetisch-plastischen Chirurgie einen Bereich, in dem tatsächlich offen über die Anerkennung bestimmter Krankheitswerte gestritten wird. Eingriffe, die normalisierende Zielsetzungen haben, etwa die Korrektur abstehender Ohren oder die Reduktion der „Männerbrust“ (Gynäkomastie) können in Einzelfällen als Kassenleistung gelten. Doch auch hier gilt, dass funktionale Eingriffe, die in Zusammenhang mit objektivierbaren Zuständen stehen – etwa die Brustverkleinerung aufgrund von schweren Rückenschmerzen – als indiziert anerkannt werden. In Bezug auf genuin ästhetische Leistungen spielt die Anerkennung durch die Leistungsträger kaum eine Rolle. Und so bleibt es Definitionssache, welche Leistungen denn „ästhetisch“ und welche „rekonstruktiv“ zu nennen sind. Das folgende Gesprächsprotokoll gibt eine Einsicht die die Deutungsarbeit: Interviewer: „Gibt es im ästhetischen Bereich Leistungen, die von der Kasse bezahlt werden?“ Int7: „Den rein ästhetischen Bereich bediene ich nicht. Oder bedienen wir in der Regel eher nicht.“ Interviewer: „Das ist jetzt eine Begriffsschwierigkeit, die…“ Int7: „...ja, das ist eine Begriffsschwierigkeit. Verstehen Sie, wenn Sie mit mir darüber diskutieren, ich bin da militant. Mich kriegt man auf die rein ästhetische Schiene nicht, denn wenn eine Frau mit 80 zu mir kommt und sagt, sie will ein Facelift haben, und ich bin überzeugt von dem Leidensdruck den Sie mir schildert, dann betrachte ich [den Fall] nicht als rein ästhetisch. Aber natürlich ist es eine Operation die nicht von ihrer Kasse bezahlt wird.“
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Interviewer: „Also spielt sich alles an dieser Grenze ab, zwischen rekonstruktiv-wiederherstellend, also in der Nähe des Heilens und...“ Int7: ...wir befinden uns immer beim Krankheitsheilen! Als plastischer Chirurg verstehen Sie sich immer im Heilen von Krankheiten. Interviewer: „Eine zu große Nase ist aber doch keine Krankheit?“ Int7: „So ist es. Aber der Patient fühlt sich entstellt. Das ist eben die Schwierigkeit, was ist krank, was ist nicht krank. Die WHO hat das ganz nett definiert, aber es ist schwierig.“
Das Interviewprotokoll zeigt, wie komplex die Grenzziehungskonstruktion der medizinischen Notwendigkeit in der Praxis verhandelt werden kann. Dies veranschaulicht auch, dass es sich dabei weniger um eine konkrete Grenzziehungspraxis handelt. Die Vagheit der Auslegung des Leidensdrucks, der auf Schilderungen der Patienten und auf Interpretationen der Ärzte beruht, zeigt wie fragil die Versuche einer Objektivierung von Krankheit und Gesundheit sein können. Ähnlich deutete sich auch in einem anderen Gespräch an, in dem ein anderer niedergelassener (ästhetischer) Chirurg den Dienstleistungsaspekt erläuterte: „Eine Dienstleistung ist das schon. Ich sag bisschen spaßhaft immer: aus dem Kunden mach ich in dem Moment wo ich schneide 'nen Patienten, denn dann blutet er und das ist dann ein Patient (*lacht). Also ich kann das nicht trennen. Natürlich ist die Leistung, die ich verkaufe – in Anführungsstrichen "verkaufe" – eine Dienstleistung, aber es ist Medizin, vielfach könnte man auch eine medizinische Indikation daraus holen, weil ich den Leuten ja wirklich helfe, also ich verbessere deren Lebensqualität und, und, und. Und das ist entscheidend.“ (Int8)
Welchen Stellenwert eine medizinische Dienstleistung mit unklarer Indikation hat, bleibt auch hier unklar. Auch an dieser Stelle ist die Unbestimmtheit der Schilderung bemerkenswert: als Kriterien werden das „Helfen“ und die „Verbesserung der Lebensqualität“ genannt, also Kriterien, die mühelos den Zielsetzungen der Medizin zugeschrieben werden können. Dennoch kreist die Auslegung der Situation darum, ob die Kunden eigentlich als Patienten zu verstehen sind, und ob der Wunsch der Patienten ein ausreichendes Legitimationskriterium darstellt. Auf diskursiver Ebene kann das Indikationskriterium sowohl von Befürwortern als auch von Kritikern der Selbstzahlermedizin ins Feld geführt werden –
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entweder um Legitimation zu generieren oder um diese abzuerkennen. Abgesehen von normativen Fragen bleibt das Kriterium der medizinischen Indikation faktisch vor allem für Finanzierungsfragen bedeutsam. Es wird also auf systemischer Ebene als gesundheitsökonomisches Kriterium relevant. Ob ein Arzt in privater Niederlassung eine Umsatzsteuer abzuführen hat, hängt ganz entscheidend davon ab, ob seine Leistungen therapeutische Zielsetzungen verfolgen. Das Umsatzsteuerkriterium ist mithin ein Hinweis auf eine Grenzziehung, die auf die medizinische Notwendigkeit rekurriert und die versucht, die Grenze zur gewerblichen Medizin auch rechtlich zu vereindeutigen. Auf die professionelle Selbstwahrnehmung hat dies jedoch nicht zwangsläufig einen Einfluss. Ein niedergelassener Hautarzt, der ebenfalls im Rahmen dieser Studie interviewt wurde, hat dazu eine eindeutige Position, obwohl er ebenfalls Selbstzahlerleistungen anbietet: „Also diesen Paradigmenwechsel muss man einfach ansprechen, der ist aus meiner Sicht in vielen Fällen schon da. Dem muss man einfach total entgegentreten, das ist krass. Im Grunde, wenn ich das schon so lese, also es gibt ja manche, die Schönheitsmedizin betreiben, das sind ja alles Dinge, die in den Bereich der Umsatzsteuer fallen, also sind es auch keine ärztlichen Tätigkeiten mehr. Der Arzt hört da auf, wo sich jemand Gesundheit als Ware kaufen möchte. Natürlich sind wir oft gezwungen, solche Wege auch zu beschreiten“ (Int3). Dieser Zwang sei aber eher ein „Druck der Umstände, als dass Patienten sagen, das möcht ich vom Arzt haben“ (Int3).
Die hier vorgenommen Verkettung von a) medizinischer Notwendigkeit, b) Umsatzsteuer c) Kommerzialisierung und d) der Substanz der ärztlichen Tätigkeit erschient mir elementar. Ganz im Gegenteil zu den vorher dargestellten Aussagen, die das Wesen der Medizin in einem Zirkelschluss aus sich selbst heraus erklären, wird hier ein externes Kriterium zur Bestimmung des Arztseins herangezogen. In einem weiteren Interview wurde das Kriterium der Umsatzsteuer als direktes Indiz zur Bewertung von Selbstzahlerleistungen herangezogen: „Das was medizinisch notwendig ist, also medizinische notwendige Leistungen, sind ärztlich, freiberuflich, umsatzsteuerfrei. Dinge die Wunschbehandlungen sind, die nicht medizinisch sind, sind kritisch zu sehen. Da sind wir im Bereich der IGeL-Leistungen, das ist so 'ne Grauzone. Aber ganz klar sind jetzt zum Beispiel Schönheits-OPs, oder Wunsch-
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massagen, oder kosmetische Behandlungen keine medizinisch indizierten, sondern Leistungen die mit medizinischen Know-How durchgeführt und begleitet werden. Und sie sind natürlich umsatzsteuerpflichtig.“ (Int1)
Diese Aussage ist einem bestimmten Deutungsmuster zuzuordnen, dass das Wesen des Ärztlichen stark von dem Charakter seiner Freiberuflichkeit abhängig macht - und die Freiberuflichkeit findet ihre systemische Antwort in der Umsatzsteuerbefreiung. Im Umkehrschluss gelten hier dann Leistungen, die keiner Heilbehandlung dienen und die deswegen umsatzsteuerpflichtig werden, als „nichtmedizinisch“. Mit dieser Deutung ist dann auch die Frage verknüpft, was denn das ärztliche Handeln motiviert, wenn es nicht medizinische Notwendigkeiten sind. Im Feld der ästhetischen Chirurgie kann der Vorwurf der Gewinnorientierung als zentrales Movens kaum Überaschen. Gilt dieser Bereich der Medizin doch weitläufig als Prototyp kommerzieller medizinischer Praxis. Ein Unfallchirurg kritisiert die Praxis der rein ästhetischen Chirurgie so: „[Schönheitschirurgen], ja, das sind auf der einen Seite Ärzte, weil sie ja ärztlich handeln, auf der anderen Seite sind das Geschäftsleute. Und es macht keiner plastische Medizin im ästhetischen Bereich, aus altruistischen, humanitären Gründen, sondern da geht es nur um Kohle, das ist die einzige Motivation, weil sonst würden die alle nach Afrika gehen und Kinder mit Mund-Kiefer-Gaumenspalte operieren. Der Geldaspekt ist ein ganz, ganz vordergründiger Motivationsaspekt.“ (Int6)
Der Gegensatz von Selbstorientierung („Geldaspekt“) und Patientenorientierung („altruistische humanitären Gründe“) wird hier zum Definitionskriterium, das den Arztberuf von dem des Unternehmers unterscheidet. Andererseits aber erscheint ein Arzt als Arzt, wenn er „ärztlich handelt“, also seine Dienstleistung einem Hilfesuchenden anbietet. 5.3.3 Zwischenfazit Das medizinische Heilsversprechen bedeutet im Kontext der Schönheitschirurgie nicht mehr eine Wiederherstellung, restitutio ad integrum, wie im Kontext klassischer kurativer Medizin, sondern vielmehr ein „Ganzwerden“ im Sinne einer Steigerung oder Perfektionierung eines mangelhaften – oder als mangelhaft wahrgenommenen – Körpers. Der Eingriffs in die körperliche Integrität des „Patienten“ ist aber eben keine unabhängige, im luftleeren Raum getroffene Entscheidung, sondern durch und durch soziokulturell mitbestimmt. Weder besteht dabei
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ein Zwang durch Ärzte, noch handelt es sich um eine „Selbstgefährdung“ des autonomen Individuums. Vielmehr finden wir hier ein Bedürfnis uneindeutigen Ursprungs vor, dass in der Arzt-Patient-Interaktion zur Verhandlung gestellt wird. Zumindest argumentativ machen das Unbehagen am eigenen Körper und der daraus resultierende Leidensdruck die Kunden des Schönheitschirurgen zu Patienten (nämlich zu „Leidenden“). Auf das subjektiv empfundene Leid am eigenen Körper wird mit medizinischen Behandlungsoptionen reagiert, nicht unähnlich einer Logik, die auf die Wiederherstellung von krankheitsbedingten Beeinträchtigungen abzielt. Das Beispiel der Schönheitschirurgie zeigt eindrücklich, dass die Medizin als kulturelles Produkt keiner Eigengesetzlichkeit, sondern stets auch den Bedürfnissen der Patienten folgt. Diese Bedürfnisse und Wünsche sind jedoch ihrerseits bestimmten Moden unterworfen und werden nicht zuletzt durch die medizinische Machbarkeit als Möglichkeitsraum beeinflusst. Die Schönheitschirurgie ist deshalb nicht nur „wunscherfüllende Medizin“ (Kettner 2009), sondern muss ebenso in ihrer Funktion als wunschgenerierender Medizin betrachtet werden. Anderes als bei nicht-medizinischen Techniken der Körpergestaltung ist die „Verschönerung“ oder „Optimierung“ mit medizinischen Mitteln auch deswegen problematisch, da bei gesunden Personen schmerzhafte und riskante chirurgische Eingriffe vorgenommen werden, deren einzige Indikation (nämlich der an ästhetischen Normen orientierte Patientenwunsch), zu einem großen Teil auf medizinische Denkweisen oder Normsetzungen zurückzuführen ist, die auch von Schönheitschirurgen selbst verbreitet werden. Denn auch die Akzeptanz und Professionalisierung der ästhetischen Chirurgie schöpft aus der weitreichenden diskursiven Verbreitung und Etablierung medizinischer Gesundheits- und Körperideale sowie den Heilsversprechen der Anbieter. Hier folgt die ästhetische Chirurgie also auf den ersten Blick einer eindeutigen Marktlogik. Trotzdem bezieht auch dieser Handlungsbereich der Medizin seine Legitimation aus dem Deutungsmuster „Medizin als Dienst am Menschen“.
5.4 D AS INTERPRETATIONSREPERTOIRE D ISKURSES
DES
In den vorhergehenden Kapiteln wurde ein Spektrum an Selbstzahlerleistungen dargestellt. Die Felder in denen eine Kommerzialisierung ärztlicher Dienstleistungen stattfindet sind damit weitgehend skizziert. In den folgenden Kapiteln werde ich anhand von Beispielen die Strukturierung des Diskurses rekonstruieren und darstellen. Dazu wird erstens die Phänomenstruktur des Diskurses dargestellt
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(5.4.1) und zweitens, vertiefend auf Positionen in der Diskursarena eingegangen werden (5.4.2). 5.4.1 Phänomenstruktur Ich konzentriere mich nun auf die Beschreibung des Hauptdiskursstranges des innerhalb der Ärzteblätter und Fachzeitschriften geführten berufspolitischen Diskurses. Die verschiedenen Dimensionen des Diskurses fasse ich im Folgenden in Anschluss an Keller (2011) als Phänomenstruktur des Diskurses überblicksartig zusammen. Die Phänomenstruktur ist als eine analytische Darstellung zu verstehen, die sich aus der Kodierarbeit heraus erstellen lässt und deren Kategoriensystem als „Kodierparadigma“ (Strauss/Corbin 1996) der Diskursanalyse zu verstehen ist. Dazu wird die Benennung von Ursachen, Verantwortlichkeiten, Klassifikationen, Positionierungen und Problemlösungen vorgenommen (vgl. Abbildung 18):
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Abbildung 18: Phänomenstruktur des Diskurses Ursachen Externe Faktoren
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„Wirtschaftliche Zwänge“ /Budgetierung Ressourcenverknappung im Gesundheitswesen Sinkende Erträge aus GKV-Leistungen Verwaltungsausgaben/Bürokratisierung Steigende Ansprüche / Steigende Nachfrage Ökonomisierung /Transformation der Gesellschaft Konkurrenzdruck
Binnenfaktoren
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Veränderung des Berufsverständnisses Zunehmende Gewinnorientierung Erosion der Berufsethos / „Sittenverfall“
Verantwortlichkeiten
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Gesundheitspolitische Fehlsteuerung Krankenkassen als Mitverantwortliche G-BA trifft Entscheidungen über Finanzierung von Leistungen „Schwarze Schafe“ verantwortlich für Negativwahrnehmung
• Klassifikationen „Gute Selbstzahlerleistungen“
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Hier werden Selbstzahlerleistungen benannt, die aktiv nachgefragt werden, die ethisch unumstritten sind und eine empirische Evidenz der Wirksamkeit aufweisen (oder zumindest unbedenklich sind)
„Schlechte Selbstzahlerleistungen“
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Hier werden solche Selbstzahlerleistungen benannt, die den oben genannten Mindestanforderung aus verschiedenen Gründen nicht gerecht werden
Wertebezüge
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(Wert-) Konservative Positionierungen Liberale Positionierungen Intermediäre Positionen Allgemeine Bezüge auf ethische Prinzipien
Fremdzuschreibungen
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Die Fremdzuschreibungen beinhalten Moralisierungen, Anklagen oder scapegoating-Taktiken
Selbstzuschreibungen
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Subjektpositionen
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In den Selbstzuschreibungen wird zumeist die eigene Position oder Praxis beschrieben, begründet und gerechtfertigt. Berufsverständnis: Heiler, Gewerbetreiber, Dienstleister, Freiberufler Reziprok dazu: Patientenbilder („mündige Patienten“, Hilfsbedürftige etc.) Etablierung von Maßnahmen zur Qualitätssicherung Appellieren an das Einhalten professioneller und ethischer Standards, Kodifizierung professioneller Standards Kosteneinsparung auf Seiten der Kassen Erstellung von Positivlisten als Orientierungshilfe IGeL als Grenzziehungsinstrument
Positionierungen
• Problemlösungen
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Bezüglich der im Diskurs benannten Ursachen ist zwischen „externen Faktoren“ und „Binnenfaktoren“ zu unterscheiden. Die externen Faktoren begründen die Zunahme an Selbstzahlerangeboten in der Arztpraxis mit einem Druck zur Umweltadaption, der durch Faktoren ausgelöst wird, die nicht im Verantwortungsbereich der Ärzte selber liegen. Dies sind zumeist wirtschaftliche Zwänge, die durch den steigenden Kostendruck und die Ressourcenverknappung im Gesundheitswesen ausgelöst werden und sich in sinkenden Erträgen aus GKV-Leistungen niederschlagen. Inhaltlich damit verbunden wird der erhöhte Zeitaufwand für Verwaltungspflichten. Angeklagt wird auch eine Rationierung von medizinisch sinnvollen Leistungen durch die Krankenkassen, die sich darin abbilden kann, dass der Arzt dem Patienten nicht die für seine Behandlung optimale Leistung andienen kann, da diese von der GKV nicht übernommen wird. Derartige Leistungen werden zwar oft von privaten Kassen übernommen, müssen aber ansonsten vom Patienten selbst gezahlt werden. Als Verantwortlicher wird in diesem Fall zumeist der GBA, der über den Leistungskatalog und Rationierungsmaßnahmen entscheidet, herangezogen. Ärzten stehe schließlich nur ein bestimmtes Behandlungsbudget von den Krankenkassen zur Verfügung. Es gilt das „WANZ“-Prinzip: Leistungen müssen wirtschaftlich, ausreichend, notwendig und zweckmäßig sein. Von heimlicher Rationierung wird im Diskurs gesprochen, wenn dem Patienten die beste mögliche medizinische Versorgung zugunsten des WANZ-Prinzips nicht zugänglich ist.11 Zumeist handelt es sich hierbei aber nicht direkt um ärztliche Leistungen, sondern um die Verschreibung spezifischer Medikamente. Wenn Patienten die Kosten für das optimale Medikament selber tragen müssen, ist dies der Effekt einer Ökonomisierung im Sinne einer Leistungsrationierung und Kosteneingrenzung auf systemischer Ebene, von dem Ärzte selber nicht profitieren. Mit der Einführung von IGeL hat sich die heimliche Rationierung zunehmend zu einer offenen Rationierung und einer aktiven Angebotsstellung in der Praxis, vor allem im Bereich der Diagnostik. Damit wurde in einem systemisch und organisational ökonomisierten Umfeld eine Tendenz zur direkten kommerziellen Ausrichtung der ärztlichen Tätigkeit gefördert. Denn im Ökonomisierungsparadigma, ob in der ambulanten oder der klinischen Versorgung, sind die Nutznießer der Kosteneffizienz meist nicht die behandelnden Ärzte, sondern die Organisationen, Kliniken oder Kassen.
11 Vgl. ergänzend zu den verschiedenen Formen der Rationierung im Gesundheitswesen: Nagel/Fuchs 1998; Fuchs/Nagel/Raspe 2009.
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Von der Ausweitung privatärztlicher Leistungen profitieren Ärzte jedoch unmittelbar. Damit einher geht dann auch die zunehmende Verunsicherung auf Patientenseite darüber, ob die angebotene (kassenfinanzierte) Versorgung die optimal mögliche Versorgung ist und ob die eigenfinanzierte Sonderleistung wirklich der Gesundheit dient. Die Krankenkassen klagen an, dass der Leistungskatalog durch die Einführung der IGeL als „nicht ausreichend“ diskreditiert würde. Außerdem entstehe mit der Institutionalisierung von IGeL-Leistungen mehr und mehr eine Situation, in der es für Ärzte deutliche (finanzielle) Vorteile haben könnte, wenn Leistungen aus der GKV ausgeschlossen bzw. nicht in den Leistungskatalog aufgenommen werden. So könnten dann gängige und medizinisch sinnvolle Leistungen direkt privat abgerechnet werden. Für Ärzte sinkt damit auch das Regressrisiko.12 Im Diskurs werden vor diesem Hintergrund verschiedene Positionen mit verschiedenen Argumentationen artikuliert, in denen die Inhalte oft vermengt werden: Eine dem Samariter-Rollenbild folgende professionelle Inszenierung, nach der ein Arzt sich in erster Linie aufgrund „systemischer Bedingungen“ gezwungen sieht, bestimmte Leistungen als Selbstzahlerleistungen anzubieten, steht neben der Argumentation, dass die Budgetierung von Leistungen den Arzt nötige, sich andere Einkommensquellen zu suchen. Als Folge der Gesamtentwicklung wurde auf dem Deutschen Ärztetag ein Beschluss zum Umgang mit IGeL-Leistungen erlassen, der u.a. Folgendes besagt: „Es kann Ärztinnen und Ärzten nicht grundsätzlich verwehrt werden, diesem Verlangen nach einer aus Sicht der Patienten wünschenswerten Behandlung Rechnung zu tragen. Das gilt auch dann, wenn Leistungen ohne Zusammenhang mit einer Heilbehandlung nachgefragt und erbracht werden. In einem zunehmend von der Ökonomie geprägten Gesundheitssystem muß es Ärztinnen und Ärzten erlaubt sein, auf eine solche Nachfrage zu reagieren und insoweit auch ökonomisch zu handeln, um ihre freiberufliche Tätigkeit und Existenz zu sichern.“ (Dtsch Ärztebl 2006; 103(22))
12 Dies bedeutet, kurz gesagt, dass der behandelnde Arzt haftet, wenn eine ärztliche Leistung als nicht wirtschaftlich und nicht ausreichend begründet angesehen wird und der Patient nicht selber zahlt. Zumeist greift die Regresspflicht dann, wenn ein Arzt das ihm berechnete Behandlungsbudget signifikant überschreitet. Der Arzt hat dann unter Umständen einen Ersatzanspruch zu tragen.
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Neben den bereits genannten externen Faktoren wird hier also noch der Aspekt der Patientenwünsche angeführt. Ein weiterer zentraler externer Faktor sind demnach die sich verändernden Ansprüche an die Medizin, die sich in erhöhter Nachfrage nach Leistungen jenseits des Leistungskatalogs der GKV äußerten. Dass die Medizin als Urheber und Treiber dieser Ansprüche in Frage kommt, wird dabei bemerkenswert selten thematisiert. Eher werden gesamtgesellschaftliche Veränderungen diagnostiziert, unter deren Bedingungen es zu einer neuen Gesundheitskultur komme, die sich stärker nach ökonomischen Kriterien auszurichten habe. Dem stehen die im Diskurs benannten Binnenfaktoren gegenüber, die ursächlich stärker auf die Veränderung im professionellen Bereich abstellen. Ganz allgemein wird häufig eine umfassende Veränderung des Berufsverständnisses diagnostiziert, die weniger in ihrer Bedeutung als Folge von externen Faktoren, sondern vielmehr als primäre Ursache von Kommerzialisierungsdynamiken gerahmt wird. Dabei wird vor allem auf die Erosion der Berufsethik, als einem „Sittenverfall“ verwiesen, der sich anhand der zunehmend dominanten Gewinnorientierung zeige: „Im Zuge der zunehmenden Vermarktung unseres Gesundheitswesens hat sich das ärztliche Berufsbild mehr und mehr vom Heilkundigen zum Gesundheitsunternehmer und Gesundheitsmanager gewandelt. Die Folge ist ein zunehmender Verfall der guten Sitten.“ (Schriewer 1998, in: Dtsch Ärztebl 1998; 95(43)) „Meiner Meinung nach sind wir bereits zu weit gegangen und müssen das durch „Abzockerei“ geschwundene Ansehen des Arztberufs wiedergewinnen. Mir sind einige Fälle durch Patienten bekannt, wo ich beginne, mich für meine Kollegen zu schämen, und ich bin auch wütend über unseren Sittenverfall.“ (Breitenbürger 2005, Leserbrief in: Dtsch Ärztebl 2005; 102(15))
In Bezug auf die benannten Verantwortlichkeiten wird vor allem auf die Ebene der Politik verwiesen, die auf Grund einer Fehlsteuerung des Gesundheitswesens durch eine lange Reihe von Reformen die Ressourcenproblematik ursächlich zu verantworten habe. Die Verantwortung für den „Sittenverfall“ wird damit gleichsam externalisiert. In einer anderen Variante werden „schwarze Schafe“ innerhalb der Ärzteschaft angeklagt. Der Verweis auf schwarze Schafe innerhalb der Kollegenschaft ist eine im Diskurs auffallend häufig verwendete Metapher. Sie ist vor allem deswegen so aufschlussreich, weil mit dieser Redensart ein Mitglied einer Gruppe
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oder eines Kollektivs bezeichnet wird, das den geltenden Regeln in seinen Eigenschaften oder Verhaltensweisen nicht gerecht wird. Dabei werfen die schwarzen Schafe ein schlechtes Licht auf die gesamte Gruppe. Die Bewertung erfolgt durch andere Gruppenmitglieder, die sich dadurch als „ordentliches“ Mitglied der Gruppe positionieren und gleichsam integrativ wirken und eine positive Gruppenidentität herstellen. In der Ärzteschaft geht es bei der Verwendung dieser Metapher darum, bestimmte Mitglieder des Berufsstandes zu identifizieren, die sich nicht „standesgemäß“ verhalten, die also etwa gegenüber Patienten oder Öffentlichkeit ein Arztbild präsentieren, das negative Auswirkung auf das Ansehen von Ärzten insgesamt hat. In einem Fach-Journal für plastische Chirurgie wird der Vorwurf an die Berufsgruppe, gewinnorientiert zu handeln, mit dem Verweise auf schwarze Schafe abgewiesen: „[Der] Vorwurf, dass für die plastisch-ästhetischen Chirurgen allein die Kaufkraft des Klienten, die Gewinnoptimierung sowie nur „das Verkaufen und nicht das Heilen – also keine ärztliche Tätigkeit“ im Vordergrund stehen, muss kategorisch abgelehnt werden. Ohne die wenigen schwarzen Schafe zu entschuldigen, muss die Frage erlaubt sein, ob deren Handeln unter dem Strich die Abqualifizierung einer ganzen Berufsgruppe rechtfertigt.“ (Markowicz/Pallua 2007: 372)
Eine für diese Studie interviewte ästhetische Chirurgin sieht das Fehlverhalten der schwarzen Schafe beispielhaft in anpreisender Werbung, die berufsrechtlich verboten sei: „Die Problematik ist, im Grunde muss die Ärztekammer aufmerksam gemacht werden und da wären wir schwer beschäftigt, die immer gegen die schwarzen Schafe aufmerksam zu machen. Hier gegenüber sitzt eine reizende Fachärztin für Chirurgie, die hat ein Schild wie eine Eisreklame, also mir kommt das vor wie ein Eisschild, da steht: ‚Oberlidstraffung, Unterlidstraffung, Fettabsaugung, Schießmichtot, Faltenunterspritzung‘. Das steht da wie ‚Vanille-Eis, Erdbeer-Eis‘. Dürfte sie überhaupt nicht. Darf sie nicht. Ist völlig verboten, das da hin zu schreiben.“ (Int. 1)
Die zitierte Interviewpartnerin bietet die genannten Leistungen auch in ihrer Praxis an. Das Fehlverhalten wird hier vor allem in der Praxis der „Anpreisung“ gesehen, also in einer das professionelle Ethos betreffenden Verfehlung. Gleichsam legitimiert sie mit dem Verweis auf schwarze Schafe die prinzipielle Praxis der ästhetischen Chirurgie, da das Werbeverbot für alle ärztlichen Leistungen, also
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auch für Kassenleistungen, die der Krankheitsbehandlung dienen, in gleichem Maße gilt. Klassifikationen werden vor allem vorgenommen, um normativ-moralische Bewertungen von spezifischen Leistungen und Handlungspraxen vorzunehmen. Dabei gelten GKV-Regelleistungen gemeinhin als unverdächtig. Teilweise wird in diesem Bereich allerdings eine Über-Therapeutisierung beklagt, das heißt, es wird die Angebotsstellung von Regelleistungen kritisiert, die medizinisch unnötig sind, aber die dennoch auf Anraten des Arztes durchgeführt werden. Solche Leistungen spielen im Kommerzialisierungsdiskurs nur am Rande eine Rolle. Zumeist werden Selbstzahlerleistungen thematisiert. Als „gute IGeL“ gelten solche Leistungen, die aktiv vom Patienten nachgefragt werden, die ethisch unumstritten sind und eine empirische Evidenz der Wirksamkeit aufweisen (oder zumindest unbedenklich sind) und die im Idealfall an ein therapeutisches Ziel geknüpft sind. Als „schlechte IGeL“ hingegen werden Leistungen kategorisiert, die diese Merkmale nicht aufweisen. Von besonderer Bedeutung ist dabei das Kriterium der medizinischen (bzw. therapeutischen) Indikation, aber auch das eines wissenschaftlichen Wirksamkeitsnachweises (empirische Evidenz). Der Kommerzialisierungsdiskurs hat damit zwei zu unterscheidende große Themen: Erstens, „das Geschäft mit der Angst“ (Zimmermann 2009, DIE WELT13). Hier werden Selbstzahlerleistungen als „Abzocke“ von hilfsbedürftigen Laien dargestellt, die aufgrund ihres antizipatorischen Systemvertrauens an die Notwendigkeit der von dem Arzt angebotenen Leistungen glauben – auch wenn diese nicht von der GKV finanziert werden. Hierbei handelt es sich um krankheitsorientierte, aber mutmaßlich unnötige Leistungen. Zweitens, werden unter dem Aspekt der „Entgrenzung von Therapie“ solche IGeL als Dienstleistungen angeboten, die sich an den Patientenbedürfnissen (etwa im Lifestyle-Bereich) orientieren. Auch hier wird das primär finanzielle Interesse der Ärzte kritisch bewertet, allerdings im Kontext einer allgemeinen kritischen Bewertung der Medikalisierung des Alltags und/oder spezifischer Risiken (etwa bei ästhetischen Operationen). Positionierungen werden im Hinblick auf diese Bewertungen eingenommen. Daran zeigt sich noch deutlicher, dass der Diskurs keineswegs auf eine einheitliche Orientierung der Medizin in Richtung Kommerzialisierung hinweist. Im Gegenteil sind vor allem Spannungen und Konflikte repräsentiert, die einerseits auf eine gewisse Stabilität tradierter Werte der medizinischen Profession hinweisen
13 http://www.welt.de/welt_print/article3509353/Das-Geschaeft-mit-der-Angst-der-Patienten.html (letzter Zugriff 08/2013).
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und andererseits das Bild eines umkämpften Feldes zeichnen, in dem verschiedene Interessen artikuliert und verschiedene Deutungen der Situation konkurrieren. Das normative Grundverständnis der Medizin wird derart in Frage gestellt, dass sich die Ärzteschaft in „Verächter und Verfechter“ (Kettner 2006: 82) der Selbstzahlermedizin entzweit. Die teils befürchtete und kritisierte, teilweise aber auch herbeigesehnte oder erwünschte Angleichung der Medizin an andere nachfragegesteuerte Gewerbeformen wird im Diskurs in ein Spannungsverhältnis zu zentralen professionsethischen Selbstbeschränkungen und Wertemustern gebracht. Grob lassen sich drei Argumentationslinien differenzieren: (Wert-)konservative Positionen betonen tradierte Wertemuster wie Altruismus, Gemeinwohlorientierung, Patientenorientierung und den ärztlichen Heilauftrag. Sie sehen das Ansehen des Berufsstandes und das Patientenvertrauen durch die zunehmende Kommerzialisierung gefährdet. Der Patient gilt als schützenswertes Individuum. Der Arzt als Dienstleister wird nachfrageorientiert im Krankheitsfall tätig. Liberale Positionen betonen den unternehmerischen Charakter des Arztberufes. Der ökonomische Druck, der durch fehlgeleitete Gesundheitspolitik und die mangelnde Finanzierung der Krankenkassen sowie durch die steigenden Ansprüche der Abnehmer entstehe, erfordere eine Neuorientierung ärztlicher Dienstleistungsangebote. Der Patient wird dabei als mündiger Kunde gerahmt. Die Nachfrage kann auch angebotsinduziert erfolgen. Vermittelnde Positionen betonen die Versuche einer Aufrechterhaltung und NeuIntegration professioneller Standards in die Selbstzahlermedizin. Die in der konservativen Position betonten professionellen Verhaltensmuster werden implizit oder explizit bestätigt und z.B. auf die IGeL-Praxis oder ästhetische Chirurgie übertragen. Es wird versucht, professionsethische Standards für die neuen Praxisbereiche zu definieren. Dadurch kommt es zu einer Anerkennung der Entgrenzung unter dem Vorbehalt normativer (Neu-)Begrenzungen. In diesen Positionierungen werden auch Wertbezüge in Form von ethischen Prinzipien, etwa bezüglich der Patientenautonomie artikuliert. Diese verdichtet sich schließlich in bestimmten Subjektpositionen. So werden in den Positionen bestimmte musterhafte Berufsverständnisse gezeichnet, in denen Ärzte mal als Heiler, mal als Gewerbetreiber, Dienstleister oder in ihrem Status als Freiberufler positioniert werden. Reziprok dazu werden Patientenbilder artikuliert, wie das des mündigen Patienten oder des Hilfsbedürftigen.
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Während der ehemalige Präsident der Bundesärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe, seine Aufgabe stärker in der ethischen Reflexion und der moralischen Anmahnung ärztlichen Fehlverhaltens sah und stetig den Diskurs zur Kommerzialisierung in (bezogen auf die Ärzteschaft) selbstkritischer Absicht aufrechterhielt, positioniert sich der neue Präsident der Bundesärztekammer, Charles Montgomery deutlich pragmatischer. Mit ihm hält eine, zumindest für die Positionierung der Ärztekammer neue Rhetorik Einzug, durch die auch die Subjektposition des autonomen Patienten in den Vordergrund rückt, die Patienten rhetorisch näher an die Figur eines souveränen Kunden rückt. Montgomery zitiert in einem Vortrag aus einem Sondergutachten des Sachverständigenrates zur Entwicklung im Gesundheitswesen: „Patienten gelten nicht mehr nur als passive Leistungsempfänger oder als „Laien“, sondern als Akteure und aktive Mit-Produzenten von Gesundheit, die sich eigenverantwortlich für den Erhalt ihrer Gesundheit engagieren um kompetent als Nutzer im Versorgungssystem agieren zu können.“ (Montgomery 2013: 14)
Wie sehr in dieser Position auf eine Selbststeuerung auch im Sinne eines informierten Patienten gesetzt wird, zeigt die weitere Ausführung: „Nutzen-Schadenabwägung ist immer eine persönliche Werte-Entscheidung. Die Ärzteschaft unterstützt diese Entscheidung mit frei zugänglichen Informationen auf der Grundlage der besten verfügbaren Evidenz.“ (Ebd.)
Die Aussage steht exemplarisch für eine liberale Positionierung, in der die Abwägung von Nutzen und Risiko (Schaden), auf das Subjekt verschoben wird. Der passive Laienstatus hat keine Gültigkeit mehr, die liberale Position fordert eine aktive Gestaltung der eigenen Gesundheit ebenso wie eine aktive Wissensaneignung. Der professionelle Experte ist auf die Beraterposition reduziert. Patienten werden als Akteure und Nutzer im Gesundheitswesen in die Pflicht genommen. Das Motto, das Montgomery vorgibt, lautet: „Selbst Zahlen heißt Verantwortung übernehmen“ (ebd.). Diese Subjektpositionen sind gleichsam mit normativen Anrufungen an bestimmte Verhaltensmuster verbunden. Positionierungen lassen sich unterscheiden in Fremdzuschreibungen und Selbstzuschreibungen. Die Fremdzuschreibungen beinhalten Moralisierungen, Anklagen oder die bereits beschriebenen Scapegoating-Taktiken („schwarze Schafe“). In den Selbstzuschreibungen wird die eigene Position oder Praxis beschrieben, begründet und gerechtfertigt. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch die Anordnung von diskursiven
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Aussagen, wie sie zumindest typisch für Debatten in den Ärzteblättern ist: eine Kontroverse im Rahmen des Deutungsmusters „Kommerzialisierung“ wird zunächst durch einen Leitartikel, einen längeren Kommentar oder eine Glosse angestoßen, dies ist eine Aussageform, in der die eigene Position dargestellt und Fremdpositionierungen vorgenommen werden. Daraufhin werden Repliken in Form von Lesereinreichungen veröffentlicht. Dabei handelt es sich Rechtfertigungen und/oder Bekräftigung der Anklagepunkte. Schließlich werden in den diskursiven Äußerungen auch Problemlösungen zur Sprache gebracht, in denen je nach Positionierung, etwa die Etablierung von Maßnahmen zur Qualitätssicherung, also staatliche und/oder innerprofessionelle Regulierungen eingefordert werden, oder an das Einhalten professioneller und ethischer Standards appelliert wird. Werden externe Faktoren als Ursachen herangezogen, richten sich die Problemlösungen an die Verbesserungen der ökonomischen Bedingungen im Gesundheitswesen. Seltener werden auch die IGeL, die ansonsten eher als Problemverursacher identifiziert werden, wie in folgender Äußerung, als Lösungsweg dargestellt: „Angesichts der enormen Dynamik des medizinischen Fortschritts sowie der gleichzeitig wachsenden gesundheitlichen Bedürfnisse ist es erforderlich, die ärztlichen Leistungsangebote jenseits der GKV Zuständigkeit zu ordnen und aus der "leistungsrechtlichen Grauzone" herauszuholen. Auf diese Weise wird es dem mündigen Bürger und Patienten besser als zuvor möglich sein, gezielte Wahlentscheidungen zur Realisierung individueller Gesundheitsbedürfnisse zu treffen.“ (Krimmel 1998, Dtsch Ärztebl 1998; 95(11))
Unter dem Motto „Mit dem IGeL aus der Grauzone“ wird also die Einführung von IGeL als Grenzziehungsinstrument dargestellt, das zur Herstellung von Eindeutigkeit in einem immer schon hybriden Markt aus Regel- und Selbstzahlerleistungen dient. 5.4.2 Positionsmaps Die Rekonstruktion der Phänomenstruktur hat veranschaulicht, wie sich der Diskurs formiert. Die Kommerzialisierung der ärztlichen Praxis ist das zentrale Thema, in dessen Zusammenhang die Grenzen der Medizin verhandelt und über das „richtige“ Verhalten der Ärzte moralisch kommuniziert wird. Dabei kommt es 1.) zu Formulierungen von Deutungsmustern über die legitimen Handlungsfelder und legitimen Zwecke der ärztlichen Profession sowie über „richtiges“ und „falsches“ Verhalten; 2.) werden in diesen Deutungsmustern Subjektpositionen artikuliert, die legitimierende und/oder steuernde Funktionen haben können; 3.)
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werden Verantwortlichkeiten und Problemlösungen artikuliert; 4.) kommt es zu einer diskursiven Grenzziehungsarbeit, indem normative Grenzen unterschiedlicher Verbindlichkeitsgerade durch die Thematisierung aktualisiert werden; und 5.) kommt es zur Etablierung neuer oder zur Verhandlung bestehender Grenzziehungen. Die folgenden Positionsmaps zielen darauf ab, das Verständnis von unterschiedlichen, in den Debatten stattfindenden Argumentationen, Positionierungen und Wertebezüge, in verdichtender Darstellung und durch eine Dimensionalisierung der Positionen erhöhen. Es geht dabei nicht darum, einzelne Positionen exemplarisch darzustellen, sondern analytisch konstruierte Typen zusammenzufassen. So werden konkurrierende Deutungsmuster, Subjektpositionen oder Wertebezüge zueinander in Beziehung gesetzt und das Interpretationsrepertoire des Diskurses auf verschiedenen Positionsmaps anschaulich gemacht. 1) Das Verhältnis von Freiberuflichkeit und Marktorientierung Betrachten wir zunächst beispielhaft folgendes Diskursfragment: „Die Ärzte haben sich wegen der genannten rechtlichen und ökonomischen Bindungen in ihrem klassischen Betätigungsfeld und verbesserter technischer Methoden und Instrumente neue Tätigkeitsfelder ohne Beschränkungen durch Vergütungsregelungen der öffentlichrechtlichen Versorgungssysteme gesucht. Diese ändern das Berufsbild des Arztes erheblich. […]. Der Arzt wird zum reinen Dienstleister und Unternehmer. Seine Vergütungsprobleme mit den Krankenkassen entfallen, denn hier kann er den Preis für seine Leistung mit dem Patienten frei vereinbaren. Nachfrage und Angebot bestimmen den Marktpreis. Die bei der klassischen Arzttätigkeit beklagten zahlreichen Beschränkungen und Regeln entfallen auf diesem Sektor völlig, denn die öffentlichen Kassen betreuen nur Krankheitsfälle. Hier wird der ärztliche Beruf wieder tatsächlich frei, ein neuer Markt ist entstanden.“ (Rheinisches Ärzteblatt 07/2010: 14)
Zunächst sehen wir hier ein eindrückliches Beispiel für die diskursive Strategie einer Externalisierung von Verantwortung. Vor allem aber werden daran anknüpfend Vorstellungen von Freiberuflichkeit konstruiert, die direkt auf externe Faktoren („Bindungen“, „Vergütungsprobleme“, „Beschränkungen“) bezogen sind. Das im Folgenden abgebildete Spannungsfeld von Freiberuflichkeit und Marktorientierung zeigt, dass die Deutung dieses Verhältnisses durchaus unterschiedlich und widersprüchlich sein kann.
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Abbildung 19: Verhältnis von Freiberuflichkeit und Marktorientierung
Während die erste Position (Pos. A) davon ausgeht, dass der Status „freier Beruf“ sich erst über die Abgrenzung vom Markt, bzw. von gewerblichen Berufsformen definiert, wird in liberalen Auslegungen (Pos. B) darauf hingewiesen, dass gesundheitspolitische und systemische Restriktionen den Arztberuf, bzw. die freie Berufsausübung der Professionellen so stark einengten, dass der Arztberuf längst nicht mehr als freier Beruf gelten könne. Erst eine zunehmende Öffnung gegenüber dem freien Markt, so die Argumentation, könne dieses Problem langfristig lösen. 2) Das Verhältnis von Wert- und Marktorientierung In der folgenden Abbildung (Abb. 20) sind marktliberale und moralisierende Positionen gegenübergestellt.
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Abbildung 20: Verhältnis von Wert- und Marktorientierung
Tendenziell (wert-)konservative Positionen thematisieren die Ausweitung des Selbstzahlermarktes unter dem Aspekt der Gefährdung des Solidarprinzips und befürchten die Verschärfung des Problems der Zwei-Klassen-Medizin (Pos. A). Dabei kann es auch zu deutlichen Moralisierungen kommen, die mit normativen Anrufungen an das Berufsbild des Arztes und den Zielsetzungen der Medizin insgesamt verbunden sind (Pos. B). Letztere betonen den humanitären „Heilauftrag“ des ärztlichen Berufsstandes. Marktliberale Positionen hingegen argumentieren gegensätzlich und interpretieren den Arztberuf primär als Dienstleistungsberuf. Eine Öffnung gegenüber dem Markt wird teilweise historisch begründet („dies war schon immer so“) oder unter Bezug auf externe Faktoren als notwendig erachtet. 3) Notwendigkeit vs. Kundenwunsch Die Positionierungen zwischen Markt und Moral können nun noch mal auf andere Weise, nämlich im Verhältnis von medizinischer Notwendigkeit und Kundenwunsch zum Thema gemacht werden (vgl. Abb. 21). Im Kern der Kommerzialisierungsdebatten geht es um die Rechtfertigung ärztlichen Handelns anhand
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seiner Handlungsanlässe. Dabei kann kontrastierend zwischen der Orientierung am Patientenwillen und der Orientierung an einer objektiven medizinischen Indikation (dem Notwendigkeitskriterium) unterschieden werden. Anhand dieser Differenzierung werden auch systemische Fragen (etwa die Finanzierung von Leistungen) abgeleitet. Schließlich ist diese Begründung auch für die Entgrenzung der Medizin jenseits der Krankheitsbehandlung relevant. Folgendes Diskursfragment stellt dies pointiert dar: „Im neuen Betätigungsfeld des medizinischen Enhancements geht der Arzt nicht von der objektiven Indikation einer Krankheit für einen Eingriff aus, sondern lässt sich vom Wunsch der Menschen nach Erhöhung ihrer Lebensqualität leiten. Vor ihm steht nicht der kranke Patient, sondern ein Kunde, dessen Wille die Behandlung veranlasst und über den Eingriff entscheidet.“ (Rheinisches Ärzteblatt 07/2010: 14)
Abbildung 21: Zwischen Kundenwusch und Notwendigkeit
Die (wert-)konservative Auslegung, die dem tradierten ärztlichen Ethos besondere Bedeutung beimisst, ist entsprechend auch mit konservativen Positionen in Bezug auf die berufliche Praxis verbunden. Ob eine medizinische Maßnahme überhaupt notwendig ist, hängt vom Grad der Indikation der Maßnahme ab. Maßnahmen sind vor allem durch möglichst objektive Zustandsbeschreibungen wie Krankheit, Unfälle und andere Traumata oder physische Beeinträchtigungen in-
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diziert (hier als „Krankheitsindikation“ abgekürzt; Pos. A). In Bezug auf (tendenziell) kommerzielle Dienstleistungen bedeutet dies, analog zu Pos. C in Abbildung 9, dass bei Durchführung von Leistungen jenseits der GKV, die Bedeutung von professionellen, bzw. ethischen Standards besonders betont wird (hier Pos. B). Der Leidensdruck von Patienten kann z.B. als Indikator für die Notwendigkeit einer Maßnahme ausgelegt werden (vgl. den Abschnitt über die ästhetische Chirurgie). In der intermediären Position werden also auch Dienstleistungen jenseits der GKV-Standardleistungen unter Berücksichtigung normativer Grenzen akzeptiert. Schließlich zeigen die extremeren liberalen Positionierungen erneut den sich andeutenden Bedeutungswandel der Medizin in Richtung einer Dienstleistungsund Kundenorientierung, die den Kundenwunsch zum primären Maßstab macht. 4) Arztbild und Bewertung kommerzieller Leistungen In Bezug auf die Bewertung der Selbstzahlermedizin werden, wie gesagt, auch spezifische Subjektpositionen formuliert, die mit moralisierenden Anrufungen verbunden sind (Pos. A). In einigen konservativen Positionen wird der Arzt als Heiler und Samariter stilisiert und der Rollenwandel des Arztes „zum Kaufmann“ kritisiert (Pos. B). In den intermediären Positionen, die Leistungen jenseits der GKV positiv anerkennen, kann die Situation in Bezug auf die ärztliche Professionalität unterschiedlich ausgelegt werden. Einerseits kann die Selbstzahlermedizin als Stärkung der ärztlichen Therapiefreiheit und ein Schritt zur Professionsautonomie gegenüber den Kassen interpretiert werden. Teilweise wird der Ausbau der Selbstzahlermedizin auch positiv bewertet, da diese die Qualität der medizinischen Versorgung insgesamt verbessern würden. Dabei wird auf die Professionalität von Ärzten vertraut, die für die Qualität der Versorgung eo ipso garantieren (Pos. C). Andererseits kann die Selbstzahlermedizin auch aus eher fatalistischen Gründen akzeptiert werden, wobei dann für eine Rollentrennung von (heilendem) Arzt und Gesundheitsdienstleister plädiert wird (Pos. D).
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Abbildung 22: Arztbild und Akzeptanz kommerzieller Leistungen
Wie die Darstellung einiger unterschiedlicher Positionierungen im Diskurs zeigt, lassen sich unterschiedliche Grade der Bewertung einer medizinischen Leistung vornehmen: von medizinisch notwendigen Leistungen (dem Kernbereich ärztlicher Versorgung), über ärztlich empfehlenswerte Leistungen und ärztlich vertretbare Leistungen, bis hin zu Leistungen, die zwar medizinisch machbar, jedoch in ihrem Verhältnis von Patientennutzen und Patientengefährdung umstritten sind. Das Maß zur Bestimmung dieser Bewertung und zur Legitimation bestimmter Leistungen ist das Kriterium der medizinischen Indikation, das im Diskurs einen zentralen Stellenwert einnimmt. 5.4.3 Die medizinische Indikation als Kernkriterium Im Diskurs geht es immer wieder um ein bestimmtes Unterscheidungskriterium, das bereits als ein zentrales Legitimationsargument dargestellt wurde: das Verhältnis von individuellem Behandlungswunsch und medizinischer Indikation. In einer Diskussion des Informed-Consent-Prinzips weist Damm (2009) auf die Interdependenz der Normkonzepte von Information und Indikation hin. Demnach gilt sogar, dass mit zunehmender Dringlichkeit des Eingriffs (das heißt mit absolut eindeutiger Indikation) die Aufklärungspflicht des Arztes abnimmt. Dies gilt
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freilich vor allem dann, wenn etwa das Überleben des Patienten von zeitlich begrenzten Entscheidungen abhängt. Andersherum verlangen Eingriffe, die kaum medizinisch indiziert sind oder bei denen es gleichwertige Behandlungsalternativen gibt, nach einer ausführlichen Information des Patienten im Sinne des Prinzips des Informed Consent (Damm 2009: 187). Das oben ausgeführte Spektrum von medizinischen Leistungen, kann anhand des Verhältnisses von medizinischer Indikation einerseits und individuellem Behandlungswunsch andererseits bewertet werden. Diese Differenzierung von Leistungen anhand des Indikationskriteriums wird in untenstehender Tabelle (Abbildung 23) veranschaulicht: Abbildung 23: Differenzierung von Leistungen anhand des Indikationskriteriums Art der Leistung medizinische Indikation GKV
medizinisch notwendig
Individuelle Gesundheitsleistungen
ärztlich empfehlenswert
ärztlich vertretbar Ästhetische Chirurgie medizinisch machbar
individueller Behandlungswunsch
Die Dringlichkeit der Behandlung bestimmt ihre Notwendigkeit, also ihre Legitimationskraft und auch den Modus der Finanzierung, der wiederum in der Thematisierung des Deutungsmusters „Kommerzialisierung“ eine zentrale Rolle spielt. Akute Notfälle sowie andere Behandlungen von Verletzung oder Krankheit sind stets medizinisch indiziert, und gelten deshalb als notwendige Maßnahmen und können problemlos im Rahmen des Regelkatalogs der GKV finanziert werden. Gleiches gilt für einige Präventionsleistungen, die sich langfristig als wirtschaftlich erwiesen haben. Als ärztlich empfehlenswert bis ärztlich vertretbar kann das Gros der Individuellen Gesundheitsleistungen eingestuft werden, die in entsprechenden Katalogen – auch hinsichtlich einer Orientierung an der Gebührenordnung – kodifiziert werden (vgl. Krimmel/Kleinken 2007). Schließlich befinden sich am unteren Spektrum der Tabelle derartige Leistungen, die weitgehend ohne medizinische Empfehlungen auf Patientenwunsch durchgeführt werden. Letztere kennzeichnet, dass sie zumeist gezielt auf die Lifestyle-Bedürfnisse
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der Kunden zugeschnitten sind: Es handelt sich um medizinische Eingriffe, die keinen oder nur noch einen eingeschränkten Krankheitsbezug aufweisen und deren Indikation auf dem individuellen Behandlungswunsch beruht. Dabei bleibt es vorerst eine offene Frage, inwieweit es sich um eine angebotsinduzierte Nachfrage handelt. Ganz unten sind schließlich solche Leistungen aufgeführt, die sich an der Grenze zwischen dem medizinisch Vertretbaren und dem medizinisch Machbaren positionieren lassen. Dazu zählen insbesondere Leistungen aus dem Bereich der ästhetischen Chirurgie. Die medizinische Indikation dient auf der Diskursebene vor allem als normatives Kriterium, das zur Legitimation von Leistungen herangezogen wird. Die hohe normative Kraft des Kriteriums der medizinischen Indikation zeigt sich wie gesagt auch auf der Systemebene. So ist es als steuerrechtliches Kriterium ebenso relevant wie als gesundheitsökonomisches Kriterium, indem es die Grenzen der freiberuflichen ärztlichen Praxis (der Heilbehandlung) mitbestimmt und entscheidend für die Aufnahme von Leistungen in den GKV-Katalog ist. Ästhetisch-chirurgische Eingriffe, aber auch die in der kassenärztlichen Praxis angebotenen Leistungen, die nicht unmittelbar der Krankheitsbehandlung dienen, werden daher von „Verfechtern“ (bzw. Anbietern) im Diskurs argumentativ in den Bereich traditionell und moralisch akzeptierter Formen der Medizin gerückt. Die Bedeutung der medizinischen Indikation als Grenzziehungskriterium und als symbolische Ressource, werde ich im Folgenden weiter ausführen. Die medizinische Indikation ist das gewichtigste Grenzziehungskriterium im Diskurs, da von ihr aus alle Bezüge und Legitimationen im medizinischen Feld ausgehen. Nun ergibt sich aus der Anwendung des Begriffs nicht nolens volens eine tatsächliche oder allgemeingültige Indikation, vielmehr kann und wird der Indikationsbegriff vielfältig ausgelegt. Alt-Epping und Nauck (2012) beschreiben die Komplexität des Indikationsbegriffs. Dieser umfasse: „[…] eine „empirische Begründung“, verstanden als zugrunde liegende Diagnose mit rechtfertigendem Handlungsdruck, eine „finale Begründung“ im Sinne eines erkennbaren Therapieziels, eine „kausale Begründung“ als (evidenzbasierte) Einschätzung, dass die angestrebte Therapiemaßnahme tatsächlich zum Erreichen des angestrebten Therapieziels beiträgt, und nicht zuletzt eine ärztliche Bewertung des individuellen Kontextes (wodurch sich die „medizinische Indikationsstellung“ von einer „ärztlichen Indikationsstellung“ unterscheidet).“ (Alt-Epping/Nauck 2012: 20)
Der Indikationsbegriff ist also das Kernkriterium, von dem sich alle anderen Bewertungen von Leistungen sowie deren ethische, handlungspraktische und rechtliche Bedeutung ableiten lassen.
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In Abbildung 24 auf dieser Seite ist veranschaulicht, wie die medizinische Indikation auf Diskursebene als normativ-legitimatorisches Kriterium wirkmächtig wird, während sie auf Systemebene unter anderem als gesundheitsökonomisches Kriterium herangezogen wird, etwa wenn es um die rechtliche Festlegung des Finanzierungsspektrums der GKV geht, oder als steuerrechtliches Kriterium, wenn es aufgrund des Status des Arztes als Freiberufler (in Abgrenzung zum Gewerbetreibenden) um die Feststellung der Umsatzsteuerbefreiung geht. Abbildung 24: Medizinische Indikation zwischen Diskurs- und Systemebene
Steuerrechtlich betrachtet ist das Kriterium der medizinischen Indikation also von recht großer Relevanz. Es gilt dabei die Kleinunternehmergrenze, die besagt, dass bei umsatzsteuerpflichtigen Leistungen bis 17.500 Euro keine Steuer abgeführt werden muss. Diese Regelung, die gewissermaßen festlegt, wann eine Praxis die Grenze zur Gewerblichkeit überschreitet, betrifft daher vor allem Praxen, die sich auf Privat- und Selbstzahlerleistungen spezialisiert haben (etwa im Bereich ästhetische Chirurgie) und seltener diejenigen, die nebenbei IGeL-Leistungen anbieten, da viele IGeL gar nicht steuerpflichtig sind. Medizinisch indizierte Leistungen, also Leistungen, die der SGB Definition folgend der Krankheitsbehandlung dienen und dem Anspruch genügen „ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich“ (SGB V) zu sein, sind von der Umsatzsteuer befreit. Auch einige Individuelle Gesundheitsleistungen, sofern sie ein therapeutisches Ziel verfolgen, können ebenfalls von der Umsatzsteuer befreit werden. Selbstzahlerleistungen, die von therapeutischen Zielen abgekoppelt sind, wie etwa die ästhetische Chirurgie, genügen diesen Ansprüchen nicht und rücken
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dadurch auch steuerrechtlich in den Bereich der Gewerblichkeit. Wann Leistungen aber tatsächlich und jenseits von systemischen Verfahrensfragen als nicht mehr „medizinisch vertretbar“ gelten, ist eine normative Frage, über die weitläufig große Unklarheit herrscht.
5.5 Z USAMMENFASSUNG : P ROFESSIONELLES H ANDELN ALS P OLITIKUM Bevor ich im folgenden Kapitel (6) eine Diskussion der Ergebnisse vornehme, zunächst eine knappe Rückschau und Zusammenfassung: In Kapitel 4 habe ich die Wechselwirkung der Medikalisierung der Gesellschaft und der Vergesellschaftung der Medizin unter verschiedenen Aspekten diskutiert. Dabei habe ich sowohl historische als auch theoretische und strukturelle Dimensionen der medizinischen Profession und des Gesundheitswesens erörtert. Von besonderer Bedeutung war in dieser Darstellung die Bedeutung der Medizin als Profession. Dazu habe ich nachgezeichnet, was die wichtigsten Aspekte dieser besonderen Berufsform sind und habe dabei solche Gesichtspunkte, wie die Abgrenzung vom freien Markt, die besondere Ausprägung des Berufsethos, die sich (auch in ihrem Wandel) daraus ableitende Arzt-Patient-Beziehung und schließlich den aktuellen Aspekt der zunehmenden Klientenautonomie diskutiert. In der weiteren Diskussion sind die Auswirkungen der strukturellen Expansion der medizinischen Profession als Prozess der Medikalisierung der Gesellschaft thematisiert worden. Dabei habe ich den Medikalisierungsprozess anhand der Dynamiken Etablierung, Expansion und Entgrenzung nachgezeichnet und argumentiert, dass Medikalisierung einen Prozess beschreibt, der die Etablierung medizinischer Institutionen, die Vergrößerung medizinischer Einflussbereiche und die Bedeutungszunahme medizinischer Denkweisen ebenso umfasst, wie die durch die Medikalisierung ausgelösten Nebenfolgen und Entgrenzungen eingespielter institutioneller Logiken. Zur verständnisorientierten Annäherung an die Problematik der Entgrenzung der Medizin habe ich heuristisch die Dynamik des Übergangs von der hippokratischen zu einer posthippokratischen medizinischen Praxis typologisch skizziert, auch um unterschiedliche Entgrenzungstendenzen, etwa bezogen auf die Zielsetzungen der Medizin (Heilung/Verbesserung) analytisch mit der Entgrenzung zwischen Medizin und Markt in Beziehung zu setzen. Abschließend wurde das Gesundheitswesen unter dem Aspekt der Entwicklung von der „Grundversorgung zur Service-Medizin“ in den Blick genommen
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und nachgezeichnet, wie sich die Situation in der die Kommerzialisierungsdiskurse stattfinden im Detail zusammensetzt. Dazu habe ich vor allem die aktuelle Verbreitung der Selbstzahlerleistungen dargestellt und zentrale Studien zusammengefasst, in denen Selbstzahlerleistungen zum Thema gemacht wurden. Es konnte festgestellt werden, dass die Bedeutung eines kundenorientierten kommerziellen Gesundheitsmarktes immer größer wird und IGeL-Leistungen im zweiten Gesundheitsmarkt eine Schlüsselrolle inne haben – aber auch, dass diese durchaus umstritten sind. In Kapitel 5 wurden daraufhin die zentralen Ergebnisse der Situations- und Diskursanalyse dargestellt. Dazu wurde in einem ersten Schritt den Begriff der Kommerzialisierung präzisiert und von dem der Ökonomisierung abgegrenzt. Im ersten Teil der Situationsanalyse wurde dargestellt, welche individuellen und kollektiven Akteure im Diskurs eine Stimme erhalten (sowohl in Selbst- als auch in Fremddarstellungen), auf welche politischen, rechtlichen und technologischen Elemente verwiesen wird, welche (Sub-)Diskurse unterscheidbar sind und welche diskursive Konstruktionen bzw. Deutungsmuster eine Rolle spielen. Den Problemzusammenhang der Kommerzialisierung habe ich anhand zweier Felder diskutiert, in denen kommerzielle Praxen zur Diskussion stehen. Dies war erstens das Feld der kassenärztlichen Niederlassung und zweitens das Feld der ästhetischen Chirurgie. In beiden Fällen konnte gezeigt werden, wie stark begründungspflichtig Leistungen im Selbstzahlerbereich sind, und dass diese Begründungsplicht mit dem Abnehmen einer eindeutigen medizinischen Indikation ansteigt. Gleichwohl erscheint nicht die Praxis „der ärztlichen Behandlungen ohne Krankheitsbezug“ (Zentrale Ethikkommission 2012: A 2000) an sich umstritten, sondern der sich ausweitende Verlust des Ansehens und des Vertrauens, der durch die Entwicklung vom Patienten zum Kunden und vom Arzt zum Dienstleister immer deutlicher hervortritt. Dabei habe ich in der Darstellung präziser zwischen (individuellen und kollektiven) Akteuren, bestimmten Deutungsmustern, Grenzziehungskriterien und Kontextbedingungen unterschieden. Anhand der Phänomenstruktur des Diskurses wurde die Benennung von Ursachen, Verantwortlichkeiten, Klassifikationen, Positionierungen, und Problemlösungen vorgenommen und unter anderem gezeigt, dass sich sowohl (wert-)konservative, als auch liberale und intermediäre Positionierungen im Diskurs wiederfinden. Die Präzisierung von Positionierungen wurde beispielhaft anhand von vier Varianten von Positionsmaps veranschaulicht, in denen verschiedene Aspekte der normativen Ordnung (professionelle Rolle, Ethos, Berufsbild etc.) zu Entwicklungen im Selbstzahlermarkt in Beziehung gesetzt wurden, um typische Argumentationsmuster zu verdeutlichen. Dabei ist deutlich geworden, dass dem Element der medizinischen Indikation,
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durch die sich die Notwendigkeit einer medizinischen Leistung beschreiben lässt, eine besonders zentrale Bedeutung zukommt. In weiterer Ausführung habe ich dargelegt, dass die medizinische Indikation zum einen auf der Diskursebene als normatives Kriterium dient, das zur Legitimation von Leistungen herangezogen wird. Zum anderen zeigt sich die normative Kraft des Kriteriums der medizinischen Indikation auch auf der Systemebene, wenn es als steuerrechtliches Kriterium ebenso relevant wird, wie als gesundheitsökonomisches Kriterium, indem es die Grenzen der freiberuflichen ärztlichen Praxis (der Heilbehandlung) mitbestimmt und entscheidend für die Aufnahme von Leistungen in den GKV-Katalog ist. Anhand des oft umstrittenen Status der medizinischen Indikation hat sich andeutet, dass nicht nur der Modus der Grenzziehung zwischen Markt und Medizin in Veränderung begriffen ist, sondern dass sich die gesamte Zielsetzung des ärztlich-therapeutischen Handlungszusammenhanges verändert. Der Patient tritt mit seinen Bedürfnissen an einen Dienstleister heran, der selber kaum eindeutig entscheiden kann, welche Kriterien das „Maß des Notwendigen“ und die „Grenzen des Medizinischen“ abstecken. Tatsächlich haben wir es weniger mit einer Erosion einer normativen Ordnung (im Sinne des viel zitierten „Sittenverfalls“) zu tun, sondern vielmehr mit einer Aktualisierung der normativen Ordnung. Die Kommerzialisierung der Medizin wird im Diskurs als kritische Selbstreflektion zum Thema, und die ärztliche Professionalität wird gegen völlige Beliebigkeit und Grenzauflösung zwischen Markt und Medizin in Stellung gebracht wird. Im Kern der Debatte steht die klassische Frage nach der Patientenorientierung vs. der Eigenorientierung der praktizierenden Ärzte. Das Ideal der Patientenorientierung muss gegenüber der als unmoralisch dargestellten Eigenorientierung über professionelle Standards realisiert werden. Die Ergebnisse können in der Gesamtschau folgendermaßen zusammengefasst werden: x
Für die Medizin bzw. für das ärztliche Berufsbild ist die Abgrenzung von rein marktlichem (das heißt kommerziellem) Handeln konstitutiv.
x
Die ärztliche Professionalität sieht normativ vor, dass die Patientenorientierung die zentrale Handlungsmotivation ist. Dem gegenübergestellt wird die Eigenorientierung, die im Hinblick auf den Profit Patienteninteressen vernachlässigt.
x
Verantwortlich gemacht für die Situation werden im Diskurs vor allem gesundheitspolitische Fehlsteuerungen, die als externe Faktoren den Kommerzialisierungsdruck ursächlich bedingen.
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x
Die Tendenz einer zunehmenden Kommerzialisierung der Arztpraxis wird daher im professionellen Diskurs als ein soziales Problem gerahmt.
x
Kommerzialisierung als soziales Problem beschreibt eine Abweichung von für die soziale Gruppe der medizinischen Profession konstitutiven Normen, deren Auswirkungen, 1.) zu einer Erosion des Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patient führen, 2.) zu einem Ansehensverlust des Arztberufes in der Öffentlichkeit, und 3.) zu einem potentiellen „Dammbruch“ bezüglich normativer Selbstbindungen und damit zu einer dauerhaften und weitreichenden Transformation des Ärztestandes.
x
Damit einhergehend findet eine Thematisierung der Erweiterung des Angebotsspektrums der Medizin über rein therapeutische Zielsetzungen hinaus statt.
x
Da die Medizin vor allem auch in Bezug auf systemische Verfahrensweisen die medizinische Indikation von Leistungen heranzieht, um das Maß des Notwendigen zu bestimmen, fallen alle Leistungen, die darüber hinausgehen, potentiell in den Bereich kommerzieller Medizin. Dabei wird dann in der Handlungspraxis nochmals differenziert zwischen solchen Leistungen, die krankheitsorientiert sind, und solchen, die auf Bedürfnisse gesunder „Patienten“ abzielen.
x
Während es im Bereich der ästhetischen Chirurgie aufgrund der risikobehafteten invasiven Eingriffe zu einer stärken Rechtfertigung des Handlungsanlasses (Patientenwunsch/Leidensdruck) kommt, ist es im Bereich der Selbstzahlerleistungen in der Arztpraxis eher ein Problem, dass Patienten häufig gar nicht mehr zwischen notwendigen, sinnvollen oder unnötigen Zusatzleistungen unterscheiden können.
Wie ich glaube, anhand der vorliegenden Ergebnisse zeigen zu können, sind es die im Kern typischen Prinzipien der Medizin, die bereits bei der Entstehung und Etablierung der modernen Medizin angelegt waren, die in ihrer fortlaufenden Radikalisierung dazu führen, ihre eigene Logik zu unterlaufen. Was würde es denn aber bedeuten, wenn dies zu einer „Entmedizinisierung“ der Medizin führte bzw. was sind die Kriterien, die das Medizinische überhaupt bestimmen? Ist eine Leistung bereits dann eine ärztlich-medizinische Leistung, wenn sie von einem Arzt angeboten wird? Handelt ein Arzt nicht mehr medizinisch, wenn er Leistungen
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anbietet und durchführt, die nicht „eindeutig“ zum Bereich therapeutischer Zielsetzungen gezählt werden können? Kann und darf moderne Medizin überhaupt Marktförmig stattfinden, wie etwa im proto-medizinischen Handlungsfeld der Neuzeit und Frühmoderne? Vieles weist daraufhin, dass das Wesen des Medizinischen sich vor allen anderen Dingen in einer professionellen Arzt-Patient-Beziehung wiederfinden lässt, deren Interaktionsanlass auf die Bedürfnisse der Abnehmer von Gesundheitsleistungen zurückzuführen ist. Dabei gilt, dass die Inszenierung des Medizinischen auch dann (oder gerade dann) wichtig wird, wenn es sich nicht um therapeutische Ziele im traditionellen Sinne handelt. Dass es für solche Leistungen einen wachsenden Markt gibt, führt eben nicht zu einer „Entmedizinisierung“, sondern ganz im Gegenteil zu einer zunehmenden Medikalisierung der Lebensführung. Die Distanzierung vom freien Marktgeschehen erfüllt eine Funktion für die ärztliche Handlungspraxis und ist zumindest in Deutschland strukturell und normativ relativ stark abgesichert. So bleiben Entgrenzungen in Richtung Markt nach wie vor erklärungsbedürftig. Dabei gibt es nur zwei zu differenzierende anerkannte Begründungsmöglichkeiten für die Ausweitung des Leistungsspektrums: eine Begründung verweist auf den Zwang durch externe gesundheitsökonomische und -politische Bedingungen, eine andere Begründung verweist auf den Dienstleistungscharakter des Arztberufes, der auf die veränderten Bedürfnisse und die Nachfrage der Patienten zu reagieren habe. Dabei steht letztere der zunehmenden Kundenorientierung offener gegenüber. Solche Begründungen, die auf einen externen Druck zur Kommerzialisierung verweisen, argumentieren defensiv und stärken dadurch implizit die Norm. Dezidiert kritische Stimmen gegenüber der Marktöffnung haben ein größeres Repertoire an möglichen Argumentationen. Dabei geht es nicht nur um die Diskussion des ärztlichen Status Quo und einer prinzipiellen Einschränkung von Selbstzahlerleistungen, sondern um Moralisierungen, Klassifikationen und Scapegoating-Taktiken. Das Scapegoating drückt sich darin aus, dass es zumeist die (häufig generalisierten) Anderen sind, die im Diskurs als „schwarze Schafe“ herausgehoben werden: ein Arzt wirft schlechtes Licht auf einen anderen, ästhetische Chirurgen werfen ein schlechtes Licht auf den Berufsstand der Ärzte, bestimmte ästhetische Chirurgen, die unseriös arbeiten, werfen ein schlechtes Licht auf die anderen ästhetischen Chirurgen, die wiederum für sich selbst in Anspruch nehmen, stets im Dienste des Patienten zu agieren, usw. Diese Strategie dient freilich der Stärkung der jeweils eigenen Position und des gesamten Kollektivs. Unklar erscheint daran anschließend die Frage, ob die Problematisierung von kommerzieller Medizin im Diskurs denn eigentlich eine Form der kollektiven Selbstvergewisserung über den moralischen Zustand des Berufsstandes ist, ein
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Austragungsort von Zielkonflikten, oder tatsächlich der Ort, an dem bestehende normative Grenzen und Ziele der Medizin (bzw. der ärztlichen Praxis) zur Aktualisierung kommen. Ich habe die Kommerzialisierung der ärztlichen Praxis in der vorliegenden Untersuchung vornehmlich als ein soziales Problem interpretiert, das Bestandteil einer innerprofessionellen Aushandlung einer normativen Ordnung ist, die quasi als eine kognitive Hintergrundfolie wirksam wird. Die Selbstreflexion über die Ziele und Grenzen des Arztberufes erhält zunächst unmittelbar bestimmte normative Deutungsmuster aufrecht. Zwar greifen konkreter sozialer Wandel, der ursächlich durch zahlreiche (auch diskursive) Faktoren angetrieben wird, und die diskursive Thematisierung bzw. Verhandlung der Problemkontexte eng ineinander und sind im besten Sinne als interdependent zu begreifen, doch folgen daraus unter Umständen auch konkrete Konsequenzen, durch die in die soziale Praxis teilweise massiv eingegriffen wird. Verbindliche rechtliche Regelungen wären dabei das eindrücklichste Beispiel. Diskurs und Praxis der Kommerzialisierung der ambulanten ärztlichen Versorgung sind interessanterweise über mehr als zehn Jahre weitestgehend unverändert geblieben. Trotz einer dauerhaften Präsenz des Themas ist es weder zu wesentlichen Regulierungen, noch zu wesentlichen Liberalisierungen gekommen. Die Thematisierung in den allgemeinen standespolitischen Foren – den regionalen und überregionalen Ärzteblättern – hat sich allenfalls in den wenigen Statements der Bundesärztekammer sowie in den in einigen Abständen aktualisierten Patientenratgebern zum Thema IGeL niedergeschlagen. Erst die jüngst vom medizinischen Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e.V. (MDS) finanzierte Internetplattform „www.igel-monitor.de“ ist als eine konkrete Reaktion auf die Ambivalenzen in der Praxis und als Versuch der „Reinigungsarbeit“ zu verstehen: Im Prinzip geht es dem IGeL-Monitor darum, IGeL-Leistungen nach wissenschaftlichen Kriterien zu bewerten und so „gute“ von „schlechten“ IGeL zu trennen. In einer Selbstdarstellung heißt es: „Der IGeLMonitor wird von einem Team erstellt, das der evidenzbasierten Medizin verpflichtet ist.“14 Hier wird also versucht, anhand wissenschaftlicher Standards Ordnung in ein unübersichtliches medizinisches Feld zu bringen, obwohl diese nach dem Selbstverständnis der modernen Medizin dort im Grunde bereits schon immer schon an erster Stelle stehen sollten – hat sich doch die evidenzbasierte Fundierung der ärztlichen Praxis weitläufig als Richtschnur durchgesetzt. Ein weiterer interessanter Fall ist der Beitrag der Ärztekammer Baden-Württemberg, die einen „IGeL-Kodex“ als Aushängeschild konzipiert haben, mit dem
14 http://www.igel-monitor.de/ (letzter Zugriff 10/2013).
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Praxisinhaber bei ihren Patienten um Vertrauen für Selbstzahlermedizin werben sollen – bislang mit unbekannten Erfolg. Das Missverhältnis, das aus der aktiven diskursiven Thematisierung und der weitgehend passiven Berufspolitik entsteht, erschwert eine Prognose der zukünftigen Entwicklung des Arztberufes. In der Zusammenschau ergibt sich so das Bild einer Profession unter Rechtfertigungs- und Selbstthematisierungsdruck, die Mühe hat, ob der Komplexität der Situation eindeutige Selbstbegrenzungen und normative Orientierungsmuster zu definieren und zu kodifizieren.
6 Diskussion
Ein Ausgangspunkt dieser Studie lag in der Beobachtung, dass die Perspektive der Ärzte in der sozialwissenschaftlichen Diskussion um die Entgrenzung der Medizin bislang weitgehend unterbelichtet geblieben ist. Dies ist insofern interessant und bemerkenswert, als dass Konfliktfelder im Kontext von Gesundheit und Krankheit relativ geschlossene soziale Felder darstellen, in denen Ärzte als die zentralen Gatekeeper in Forschung und Praxis Schlüsselpositionen einnehmen. Es wurden professionsbezogene Konflikte in den Blick genommen, die für den Arztberuf in Zusammenhang mit medizinischen Leistungen jenseits der Krankheitsbehandlung entstehen, denn um dieses Phänomen geht es im Kern der Debatte um eine Entgrenzung der Medizin. Dabei hat sich angedeutet, dass, anderes als in medizinethischen und medizinsoziologischen Debatten, im berufspolitischen Diskurs der medizinischen Profession, der zentrale Konflikt nicht etwa in der Kontrastierung einer Verbesserungsmedizin im Gegensatz zur einer kurativen Medizin zu finden ist, sondern dass vor allen Dingen die Kommerzialisierung der Medizin ein hitzig diskutierter berufspolitischer Aspekt ist, die ihrerseits aber in einem direktem Zusammenhang mit der Expansion ärztlicher Zielsetzungen und Dienstleistungen steht, die in den Debatten zur Entgrenzung der Medizin diskutiert werden. Viele der Fragestellungen die im medizinsoziologischen Diskurs im Rahmen der Medikalisierungsforschung problematisiert werden, wie etwa die angesprochene Diagnose einer Entgrenzung der Medizin, die Diskussion um „wunscherfüllenden Medizin“ (Kettner 2006), Anthropotechniken (Nationaler Ethikrat 2004) und medizinisches Enhancement (Schöne-Seifert/Talbot 2009), finden sich innerhalb des medizinischen Diskurses im Rahmen eines Wertekonflikts wieder, der den Widerspruch von „Ethik und Monetik“ zum Thema hat – also der Kommerzialisierungsdebatte zuzuordnen ist. Der besondere Fokus der vorliegenden Untersuchung lag deswegen auf der diskursiven Verhandlung der normativen
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Grenzen medizinischer Praxis im Kontext der Entgrenzung von Medizin (als einer in ihrem Selbstverständnis humanitären, moralischen Sphäre) und dem Markt (als einer primär profitorientierten Sphäre). Die Mesalliance dieser zwei Wertsphären drückt sich im Prozess der Kommerzialisierung der ärztlichen Praxis aus, die im berufspolitischen Diskurs selbstreflexiv und kontrovers verhandelt wird. Die Erkenntnis, dass das Thema eines Wandels professioneller Selbstbilder angesichts medizinischer Entgrenzungstendenzen derart über die Debatte über Kommerzialisierung medizinischer Dienstleistungen bestimmt ist, war eine Einsicht, die erst im Verlauf der empirischen Erkundungen zunehmend Form angenommen hat. Auffallend ist dabei, dass einige Themen die in der sozialwissenschaftlichen bzw. medizinsoziologischen Thematisierung als besonders brisant gelten, im intra-professionellen Diskurs kaum Erwähnung finden. Ob dies auf blinde Flecken, unterschiedliche Relevanzbeurteilung oder etwa Tabuisierung zurückzuführen ist, kann an dieser Stelle nicht abschließend beantwortet werden. Ein Beispiel: Das im Rahmen der Medikalisierungstheorie plausibel zu beschreibende Phänomen einer Expansion medizinischer Handlungsfelder (das heißt Ausweitung ärztlicher Tätigkeit auf „Behandlungen ohne Krankheitsbezug“), die mit einer Entgrenzung medizinischer Diagnose- und Therapiemöglichkeiten zusammenhängt, hat es im Zusammenhang mit dem zumeist kritisch geführten Diskurs um „medical enhancement“ (der medizinischen Optimierung körperlicher und geistiger Leistungsfähigkeit) in den letzten Jahren zu einiger öffentlicher Aufmerksamkeit geschafft. Im intraprofessionellen Diskurs werden jedoch weniger die expansiven Tendenzen des medizinischen Feldes selbst problematisiert, oder etwa die Frage, ob derartige Leistungen überhaupt von Ärzten angeboten werden dürfen, sondern vielmehr das „Warum“ (welche externen Faktoren bedingen die Expansion) und das „Wie“ (werden professionelle Standards berücksichtigt?). Das heißt also, dass die intrinsischen Motive des Handelns und ihre praktische Umsetzung thematisiert werden. So wird erwartet, dass medizinisches Handeln stets professionellen Legitimationsmustern entspricht, die mindestens vorschreiben, dass hinter angebotenen Dienstleistungen in erster Linie das Wohl des Patienten steht. Erst wenn Entwicklungen im medizinischen Feld auf diese Weise in Frage gestellt werden, so scheint es, werden Medikalisierungsphänomene für den medizinischen Diskurs anschlussfähig. Gesellschaftlich und/oder medizinisch umstrittene Handlungsfelder werden also dann zum Problem, wenn sie die professionelle Moral oder tradierte Wertvorstellungen in Frage stellen. Das heißt, dass die Grenzen ärztlicher Handlungsfelder durch normative Faktoren (mit-)bestimmt werden. Diese Normen prägen das Arztbild und die legitimen Zielsetzungen der ärztlichen Praxis.
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Die folgende Darstellung (Abbildung 25) greift die Heuristik aus Kapitel 4.3.3 auf und zeigt unterschiedliche Typen medizinischer Praxis und die hybride Praxis durch die der Realtypus gekennzeichnet ist. Der Arzt erscheint hier als ein Gesundheitsdienstleister, dessen Leistungen sich an einem breiten Spektrum von Patientenbedürfnissen orientieren. Abbildung 25: Typen medizinischer Praxis (Ideal-) Typus
„hippokratisch“ → → „post-hippokratisch“
Realtypus: Hybride Praxis
Arztbild
Der Arztberuf ist kein Gewerbe. Die ärztliche Handlungspraxis orientiert sich an der Krankheitsindikation.
Der Arzt versteht sich zunehmend als kommerzieller Dienstleister, dessen Leistungen sich am Kundenwunsch orientieren.
Der Arzt ist Gesundheitsdienstleister. Leistungsspektrum ist Bedürfnis orientiert.
Handlungsfeld
Kurative Medizin
Präventivmedizin
Gesundheitsförderung; Wunschmedizin
Bedürfnisorientierte Medizin: Krankheitsorientierte Medizin, antizipatorische Medizin und konsumentenorientierte Medizin finden nebeneinander in der ambulanten Versorgung statt.
Grad der Indikation
Hoch (Leistung medizinisch notwendig)
Mittel (Leistung zumeist medizinisch sinnvoll)
Niedrig (Leistung medizinisch machbar / ethisch vertretbar bis umstritten)
Patientenwille und medizinische Evidenz bestimmen im Idealfall die Indikation. Kommerzielles Handeln bedroht das professionelle Vertrauensverhältnis
Modus der Finanzierung
GKV / PKV
IGeL
Mischfinanzierung
In der Heuristik wurde zunächst von einer Entgrenzung der medizinischen Praxis ausgegangen, die ich in Anlehnung an Viehöver (2011; siehe auch Kapitel 4.3.3 diese Studie) als den Übergang von der „hippokratischen“ zur „post-hippokratischen“ Medizin gekennzeichnet habe. Diese Annahme eines Bruchs in der Logik medizinischer Zielsetzungen ist idealtypisch konstruiert. Weber beschreibt den Idealtypus als: „einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluß einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankenbilde.“ (Weber 1973: 181)
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Insofern ist es evident, dass sich ein absoluter Bruch in der Logik medizinischer Praxis empirisch kaum zeigen lässt. Die realtypischen Formierungen der Medizin zeigen jedenfalls eine deutliche Tendenz zur Dienstleistungsmedizin. Diese Beobachtung impliziert weitere Folgerungen: Zunächst ist davon auszugehen, dass die ärztliche Leistungsangebote vormals weniger stark als Dienstleistung organisiert waren. Dazu ist weiterhin anzunehmen, dass eine Dienstleistung durch einen relativ hohen Grad an Kundenorientierung geprägt ist, und dass eine Medizin, die ihre Klienten als Patienten versteht, durch ein Abhängigkeitsverhältnis geprägt ist. Die diskursive Auseinandersetzung zeigt, dass sich die Akteure im medizinischen Feld mindestens auf drei daran anknüpfende Imperative berufen: 1. 2. 3.
Patienten dürfen nicht zu Kunden werden! Medizinische Leistungen müssen „notwendig“ sein! Das Vertrauen der Patienten darf nicht missbraucht werden!
Beschreibt man die aktuellen Transformationen im medizinischen Feld demnach als solche einer zunehmenden Dienstleistungsmentalität, wird der Konflikt zum ersten Imperativ deutlich. Es lässt sich folgendes beobachten: Selbst im Bereich unstrittig notwendiger GKV-Leistungen kommt es zu einer „Aufwertung“ des Patienten zu einem „Quasi-Kunden“. Weiterhin öffnet sich der GKV-Leistungskatalog derart, dass auch hier das Kriterium der „Notwendigkeit“ nicht in allen Fällen eindeutig erfüllt wird. Schließlich ist der dritte Imperativ der Entscheidende. Denn in der Praxis geht es entscheidend darum, dass ärztliche Professionalität sich an einem möglichst stabilen Vertrauensverhältnis messen muss, selbst wenn die Imperative 1 und 2 faktisch unterlaufen werden. Mit zunehmender Patientensouveränität geht es also immer mehr um eine bedürfnisorientierte Medizin, die sowohl „klassische“ krankheitsorientierte Leistungen, als auch antizipatorische Leistungen (Prävention), und konsumentenorientierte Medizin (z.B. ästhetische Leistungen) nebeneinander anbietet. Mit abnehmender Plausibilität der Notwendigkeit der Leistungen, steigt die Notwendigkeit eines professionellen Vertrauensverhältnisses – vor allem dann, wenn Ärzte diese Leistungen aktiv anbieten. Kommerzielles Handeln in der Medizin wird eben dann zum Problem, wenn im Rahmen dieser hybriden Praxis nicht eindeutig auszumachen ist, ob der Patientenwille oder eine medizinische Notwendigkeit die „Indikation“ stellen.
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6.1 ZWISCHEN G ESUNDHEIT UND K RANKHEIT : P ATIENTENBEDÜRFNISSE ALS H ANDLUNGSANLASS ? Anders als die medizinische Praxis, ist das Gesundheitswesen bereits in seiner Anlage ein nach spezifischen ökonomischen Kriterien funktionierendes System – wenn es auch nicht nach der Logik des freien Marktes geordnet ist. Dies wird besonders deutlich anhand des Wirtschaftlichkeitsgebotes, das im Sozialgesetzbuch V festgelegt ist und das hier noch einmal vollständig zitiert werden soll: „Die Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen.“ (SGB V)
Der Blick in das Sozialgesetzbuch zeigt, dass das Gesundheitswesen in seinem Versorgungsaspekt zentral nach ökonomischen Kriterien reguliert wird. Es ist also weniger der Faktor des Zwangs zur Wirtschaftlichkeit, der dem Kommerzialisierungsdiskurs zu Grunde liegt, denn dieser ist quasi ein grundlegendes Element der Versorgung im Gesundheitssystem. Es geht in der Debatte um eine zunehmende Kommerzialisierung um die Frage, wie die das Marketing von Selbstzahlerleistungen in Arztpraxen oder die Angebotsstellung ästhetischer Leistungen vorgenommen werden, ohne das es zu einer Erosion des Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patient kommt. Folglich steht also im Kommerzialisierungsdiskurs weniger die Frage im Mittelpunkt, ob die Medizin nur der Krankheitsbehandlung oder auch einer darüber hinaus gehenden Bedürfnisbefriedigung dienen darf. Vielmehr wird jene Praxis kritisiert, die eine Notwendigkeit suggeriert, um Profite zu generieren. Das Beispiel der Ästhetischen Chirurgie ist schon deshalb instruktiv, das es sich hier um ein medizinisches Feld handelt, dass einen Balanceakt vollführt. Obwohl die Leistungen nach objektiven medizinischen Maßstäben häufig als „nicht-notwendig“ einzustufen sind, werden der Leidensdruck oder eine „ästhetische Indikation“ als Notwendigkeitskriterien herangezogen. Trotzdem bleibt der Patientenwille, bzw. der Kundenwunsch zumindest vordergründig entscheidend, so dass eine Distanz zur angebotenen Leistung hergestellt wird. Dass die Patienten/Kunden nicht im eigentlichen Sinne krank oder im weiteren Sinne hilfsbedürftig sind ist dabei augenscheinlich. Wie ich oben bereits an verschiedenen Stellen angeführt habe, erscheint die Unterscheidung Gesundheit/Krankheit trotzdem in mehrfacher Hinsicht als essentiell für das Funktionieren des Medizinsystems, zumindest für institutionelle Entscheidungsprozesse. Eine eindeutig positive Festlegung der Begriffe kann es
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jedoch deshalb nicht geben, da das Wissen um und das Verständnis von Krankheit und Gesundheit, kulturell bedingt ist und sich beharrlich wandelt. Die Etablierung einer naturwissenschaftlichen Beschreibung des Körpers und seiner Gebrechen, die Ausweitung der pathologischen Beschreibung auf psychische Zustände und schließlich auf abweichende soziale Verhaltensweisen, ist daher als eine prozesshafte Etablierung von Wissen zu verstehen. Damit entsteht das erste Problem der Annahme einer medizinischen Leitkodierung (gesund/krank), deren anschlussfähiger Wert faktisch nie absolut bestimmt werden kann, sondern immer historisch, kontingent und – in zunehmenden Maße – ambivalent erscheint. Bereits in frühmodernen Formen der Diätetik, Makrobiotik und Prävention waren Formen der „Entzeitlichung“ (Wehling et al. 2007) von Krankheit angelegt, durch die im Prinzip Gesunde zu „Patienten“ wurden. Gehen wir aber davon aus, dass die soziale Struktur eines Feldes (Bourdieu) oder eines Systems (Luhmann) über sozialen Sinn bestimmt ist (vgl. Nassehi 2004) und sich dieser Sinn in der Medizin in der „Meistererzählung“ des wohltätigen Aktes der Krankheitsbehandlung verdichtet, so wird anschaulich, warum die Versuche der positiven (möglichst eindeutigen) Beschreibung von Krankheit notwendig, wenn auch kontrafaktisch, ist. Anders als die Unterscheidung Gesundheit/Krankheit oder auch die einst von Bauch (1996) im Versuch der Expansion der Leitkodierung vorgeschlagene Kodierung „lebensförderlich/lebenshinderlich“, die jeweils eine prinzipielle und von außen vornehmbare binäre Zuweisung und objektive Entscheidbarkeit suggerieren, möchte ich angesichts der hybriden Praxis der Medizin vorschlagen, von einer bedürfnisorientierten Medizin zu sprechen. Im Konnex der Bedürfnisse, die dazu motivieren, einen Arzt aufzusuchen, steht an erster Stelle der bedürftige Patient, dessen Zustand eine medizinische Konsultation dringend notwendig macht.1 Darüber hinaus ist es ja keineswegs so, dass alle Ressourcen der Kassen für klassische Krankheitsbehandlung bereitgestellt werden. Gesundheitsförderung, Prävention, Reisemedizin, Check-Ups, bildgebende Verfahren und viele andere Leistungen zielen auf die Befriedigung von Patientenbedürfnissen jenseits akuter Bedürftigkeit – trotzdem werden diese (wenn auch mit Einschränkungen) erstattet. Wie anhand der vorgenommenen Situationsanalyse zu erkennen ist, funktioniert das Sachleistungsprinzip der medizinischen Versorgung ganz zentral über den Begriff der medizinischen Indikation, der gleichsam eine erste subjektive Relativierung eines vermeintlich positiven Krankheitsbegriffs ins Feld trägt. Dem
1
Vgl. zum Konnex von Bedürfnis und Bedürftigkeit auch Manzeschke (2013).
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Kriterium der medizinischen Indikation wird besondere Bedeutung beigemessen: Auf Systemebene bestimmt es das „Maß des Notwendigen“, ist damit also ein gesundheitsökonomisches Kriterium und auf Diskursebene dient es als normatives Kriterium. Dennoch bleibt die Bestimmung des Kriteriums amorph. Denn wir können beobachten, dass objektivierende Kategorien wie die Unterscheidung Gesundheit/Krankheit das Kriterium der medizinischen Indikation nur unzureichend bestimmen. Während die Kodierung Gesundheit/Krankheit im besten Sinne eine moderne Differenzkategorie ist, mit der auch ein Anspruch verbunden ist, das Subjektive zu verdrängen und die Sinngrenzen zu objektivieren, indem etwa angenommen wird, Medizin könne Krankheit erkennen, kategorisieren und schließlich in den Zustand der Gesundheit überführen, ist die Verortung im Konnex von Bedürfnis und Bedürftigkeit dagegen subjektiv bestimmt. Wie wir gesehen haben, ist die medizinische Praxis (jedenfalls deutlich stärker als das Vergütungssystem) anschlussfähig sowohl für Krankheit, als auch für Gesundheit. Salutogenese, Gesundheitsförderung, Lifestyle-Medizin und Prävention sind einige Beispiele, die hier genannt wurden. Gerade in diesen Fällen zeigt sich die lebensweltliche Vermengung der Dimensionen Bedürfnis und Bedürftigkeit derart, dass man besser von einem Bedürfniskontinuum sprechen sollte. In diesem Kontinuum der ärztlichen Handlungspraxis gilt eine medizinische Leistung je nach Bedürftigkeit des Patienten eher als medizinisch indiziert und notwendig, während mit abnehmender Bedürftigkeit die Bedürfnisse als Behandlungsmotiv deutlicher hervortreten. Dazu gehört natürlich primär ein grundlegendes Bedürfnis nach Gesundheit, aber eben auch Bedürfnisse nach Sicherheit und Risikominimierung, Leistungsfähigkeit im Alter oder ästhetische Bedürfnisse. Sowohl Bedürftigkeit im Krankheitsfalle und noch stärker die Bedürfnisse, die darüber hinausgehen, sind subjektiv bestimmt und stellen den Arzt in den Dienst des Patienten. Entwickelt man dieses Gedankenspiel weiter, so lässt sich durch diesen Perspektivwechsel auch eine abnehmende Deutungshoheit der Professionellen erkennen, die mit den bereits diskutierten „shifting engines of medicalization“ (Conrad 2005) korrespondiert. Bedürfnisse können durchaus als bedeutende Treiber von Medikalisierungsprozessen verstanden werden. Bedürfnisse, wie die nach unbeschwertem Leben, nach schmerzfreien Therapien und Operationen, nach Sicherheit und möglichst krankheitsfreiem Alterungsprozess, sind Katalysatoren, durch die medizinische Forschung ebenso wie soziokulturelle und soziostrukturelle Medikalisierung angetrieben und beschleunigt werden. Die Bedürfnisse sind demnach auch Treiber von Innovationen, von medizintechnischen Entwicklungen sowie der Herausbildung medizinischer Institutionen. In dem sich in der Moderne herausgebildeten
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professionalisierten medizinischen Feld treten freilich neben den Patientenbedürfnissen unterschiedliche Akteure auf den Plan, die jeweils eigene Interessen verfolgen und die das Feld mit strukturieren und aus eigenen Interessen Medikalisierungsprozesse vorantreiben. Die Interessen des Berufsstandes und die einzelner Ärzte, die Interessen einzelner Patienten, der Krankenkassen und der Industrie, ebenso wie kollektive Erwartungen und Anforderungen an eine moderne Medizin bilden eine Gemengelage, die eine bestimmte normative Ordnung benötigt. Bei Parsons verdichtet sich diese Ordnung in den komplementären Rollen von Arzt und Patient. Die ganz besondere Natur des Arzt-Patient-Verhältnisses ist dabei gleichsam als Fundament des gesamten Komplexes institutionalisierter Heilbehandlung zu verstehen. Denn hier tritt das akut hilfsbedürftige Subjekt auf den Plan. Die Dyade aus bedürftigem Laien und dem professionellem Experten, der helfend im Dienste des Bedürftigen steht, bedarf eines speziellen Vertrauensverhältnisses. Dieses schlägt sich in normativen Anforderungen an das professionelle Verhalten von Ärzten nieder. Es verbleibt die Tatsache, dass der Konnex der Patientenbedürfnisse aus systemischer Perspektive kaum handhabbar ist. Das Versorgungssystem ist, wie gezeigt wurde, auf relativ eindeutige Festlegungen angewiesen (letztlich um im Code „Leistung erstatten/ Leistung nicht erstatten“ reagieren zu können). Die Einführung einer subjektiv bestimmten Sinngrenze, die aber erst in ihrer soziokulturellen und gesellschaftlichen Intersubjektivität zum Thema gemacht werden kann, mahnt daher an die Einführung des Konzepts der Lebenswelt bei Habermas (1987), die nicht zuletzt einer Kritik an der Theorie der Gesellschaft systemtheoretischer Provenienz geschuldet war. Die hybride Praxis zwischen Bedürfnis und Bedürftigkeit ist entsprechend lebensweltlich verankert. Allerdings bleibt auch hier immer eine Frage weiterhin offen: Inwieweit kann und muss die soziale Genese von Bedürfnissen oder Wünschen nach medizinischen Leistungen in den Blick genommen werden? Dabei ist zunächst zu betonen, dass es sich hier um eine soziologische Beschreibung von Bedürfnissen handelt, die sich von einer psychologischen Beschreibung abgrenzt und vor allem die Frage nach den sozialen Entstehungszusammenhängen stellt, ähnlich wie dies Mills (1940) in Bezug auf Motive geleistet hat, die er in ihrer sozialen Situiertheit beschreibt. Letztlich kann darauf zumindest ansatzweise mit dem Theorem der Medikalisierung geantwortet werden. In dem von mir skizzierten Verständnis der Medikalisierung wird die Verzahnung von top-down und bottom-up Prozessen herausgestellt und damit das Feld der Medizin als eine Figuration verstanden, in der weder Ärzte/Ärzteschaft noch Patienten oder andere Akteure als singuläre Triebkräfte gelten können, sondern erst
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in der Verschränkung ihrer Interessen hervortreten. Wer sind also die „Bedürfnistreiber“? Handelt es sich bei der Nachfrage von Leistungen, die nicht ausschließlich der Krankheitsbehandlung dienen, um eine angebotsinduzierte Nachfrage? Eine Antwort darauf könnte lauten: Nicht die Medizin bringt den Individualitätstypus des Kunden hervor, sondern der Markt. Medizin findet stets bedürfnisorientiert statt – aber wie viel Markt in der Arztpraxis stattfindet, liegt im Ermessenspielraum des verantwortlichen Arztes und seinem persönlichen Berufsverständnis. Eine klassische Marktordnung würde etwa dann vorliegen, wenn der „Patient“ direkt zum Kauf einer Gesundheitsleistung aufgefordert wird und/oder selbstgesteuert mit dem Ziel des Konsums in die Arztpraxis kommt, weil er weiß, dass er dort spezifische Gesundheitsgüter und -leistungen erwerben kann. Da sich Patienten (im Sinne einer Bedürfnisorientierung) als Hilfesuchende an einen Professionellen wenden, ist es aus Patientenperspektive zunächst kaum von Relevanz, ob er präziser als Patient oder als Kunde zu beschreiben ist. Patienten haben lediglich ein bestimmtes Motiv im Spektrum von Bedürfnis und Bedürftigkeit, das sie zur Inanspruchnahme der Dienste eines Professionellen anleitet. „Gesundsein“ oder kein gesundheitsbezogenes Bedürfnis zu haben, motiviert nicht zum „Gesundheitshandeln“. Ein Zwischenfazit: Nicht die Grenze zwischen rein heilender Medizin und darüber hinausgehenden medizinischen Dienstleistungen steht zur Disposition, sondern die Auslegung ärztlicher Professionalität, durch die eine Grenze von Medizin und kommerzieller Tätigkeit immer wieder aufs Neue festgelegt werden muss.
6.2 PROFESSIONALITÄT ALS G RUNDBEDINGUNG MEDIZINISCHEN H ANDELNS Wie dargestellt wurde, ist professionelles Handeln idealtypisch in erster Linie nicht an individuellen Profitinteressen, sondern am Interesse des Gemeinwohls ausgerichtet. Die Kollektivitätsorientierung des Arztes findet ihren Ausdruck in der Abgrenzung von der Logik des Marktes (vgl. Freidson 2001; Rychner 2006). Erst die im Vollzug des Medikalisierungsprozesses sukzessiv erarbeitete Sonderstellung der Medizin als dominante Profession im Gesundheitsbereich hat diese Abgrenzung ermöglicht. Kommerzialisierung wird innerhalb des berufspolitischen Diskurses problematisiert, da die Sphären von Markt und Medizin bzw. von gewinnorientiertem Handeln und professionellem Handeln, zwei sich voneinander abgrenzende „Wertesphären“ (Weber) darstellen. Die moralische Kom-
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munikation über das Verhältnis von Selbst- und Fremdorientierung dient der Aufrechterhaltung medizinischer Berufsethik, indem kommerzielle Medizin von legitimer ärztlicher Praxis diskursiv abgegrenzt wird. Die beobachtbaren Wandlungsprozesse in der ärztlichen Praxis und in der Arzt-Patient-Beziehung wurden durch zahlreiche Reformen im Gesundheitswesen begleitet und teilweise mit gestaltet. Auf solche externen Bedingungen wird auch im Diskurs fortdauernd hingewiesen. Wie bereits erläutert, habe ich in der Analyse zunächst zwischen Ökonomisierung und Kommerzialisierung unterschieden, die jeweils unterschiedliche Dynamiken der Entgrenzung darstellen. Die im Zusammenhang mit Veränderungen im Gesundheitswesen häufig beklagte Ökonomisierung bedeutet dabei nicht unbedingt auch mehr Markt. Denn die sich durch die Einführung von Budgetierungen und Fallpauschalen ausdrückende Ökonomisierung kann auch als eine zunehmende Steuerung im Gesundheitswesen verstanden werden, die gleichsam die Wirtschaftlichkeit erhöht, ohne aber mehr Markt zuzulassen. Im Gegenteil führt die Effizienzsteigerung durch Regulierung dazu, dass die ärztliche Handlungsfreiheit zunehmend eingeschränkt wird. Eine solche Rationalisierung ist aber nicht nur in ökonomischer Hinsicht festzustellen. Auch in Bezug auf das ärztliche Wissen und seine Anwendung in der Praxis kommt es durch evidenzbasierte Medizin, Leitlinien und Disease-Management-Programme zu einer Standardisierung ärztlicher Entscheidungshoheit und Handlungsfreiheit (Borgetto 2006: 231). Ist also von Ökonomisierung im Gesundheitswesen die Rede, muss genau gefragt werden: Ökonomisierung wovon? Denn die Ökonomisierung im Gesundheitswesen bezieht sich in erster Linie auf das Wirtschaftlichkeitsprinzip zur Schonung der Ressourcen. Dabei geht es also darum, den ersten Gesundheitsmarkt durch Ökonomisierung zu stärken (bzw. zu entlasten) und die zukünftige Finanzierung von Leistungen zu gewährleisten. Ökonomisierung meint hier also Steigerung der Wirtschaftlichkeit durch den rationalen Umgang mit knappen Ressourcen. Freilich treten als Nebeneffekt dieser ökonomisch angeleiteten Steuerungsmechanismen dann ethische Konflikte auf, wenn Patienten durch die Rationierung von Leistungen oder der Einschränkung ärztlicher Handlungsfreiheit durch Budgeteinschränkungen eine schlechtere medizinische Versorgung zukommt oder wenn es zu einer gewinnorientierten Ausnutzung von Fallpauschalen kommt, indem etwa bestimmte Krankheitsbilder, Diagnosetechniken und Therapien aufgrund des Abrechnungsschlüssels als profitabler als andere erscheinen, und deshalb gezielt diagnostiziert werden oder zur Anwendung kommen. Bei einer derartigen profitorientierten Pervertierung der (zunehmend ökonomischen) Steuerungsmechanismen, handelt es sich dennoch um keine Öffnung gegenüber dem Markt. Anders verhält es sich mit Indi-
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viduellen Gesundheitsleistungen sowie dem gesamten zweiten Gesundheitsmarkt. Hierbei handelt es sich in der Tat um eine Entgrenzung zwischen Medizin (Gesundheitswesen) und einem „echten“ Markt, der zum Bestandteil des Gesundheitswesens gemacht wird. Die Konstituierung eines solchen gesundheitsbezogenen Selbstzahlermarktes in der Arztpraxis habe ich als Prozess der Kommerzialisierung bezeichnet. Ihr Ziel ist die Profitgenerierung über neue Marktchancen jenseits des für das Gesundheitssystem konstitutiven ersten Gesundheitsmarktes. Die Grenzen zwischen „erstem“ und „zweitem“ Gesundheitsmarkt werden dabei unscharf: Dadurch, dass in der Arztpraxis a) Kassenleistungen und Selbstzahlerleistungen nebeneinander angeboten werden, dass b) die Begründung für eine Privatabrechnung höchst unterschiedlich sein kann, und c) dass auch Privatleistungen, die dem Gefüge legitimierter medizinischer Leistungen (Krankheitsbehandlung) nicht eindeutig zu zuordnen sind und durch bestimmte diskursive Strategien als medizinisch indiziert gerahmt werden, kommt es faktisch zu einer hybriden Praxis, in der kommerzielle Medizin trotz verschiedener Grenzziehungsmechanismen nicht immer eindeutig von der Grundversorgung abgegrenzt werden kann. Problematisch erscheint aus normativer Perspektive vor allem die aktive Vermarktung von Gesundheitsleistungen. Das „Marketing“ ist daher der dem Diskurs zugrunde liegende Sozialprozess und damit der wichtigste Diskursanlass. In der klassischen GTM und auch in späteren Ausarbeitungen von Strauss und Strauss/Corbin (1996) wird ein basic social process („grundlegender Sozialprozess“, Clarke/Keller 2011: 119) angenommen, der Handlungssituationen zentral bestimmt. Die GTM will in der Analyse diese grundlegenden Sozialprozesse identifizieren, die am besten zur Erklärung zu untersuchenden Phänomens herangezogen werden können. In der englischen Sprache wird die Prozesshaftigkeit dieser Kernkategorien durch die Bildung des Gerundiums ausgedrückt. In einer Hilfskonstruktion und unter Zuhilfenahme eines hier passenden Anglizismus könnte man den der hier untersuchten Situation zu Grunde liegenden Sozialprozess als „Marketing“ beschreiben. Die Praxis des „Marketings“ in der Arztpraxis ist dann der Basisprozess der Handlungssituation und der eigentliche „Streitwert“, auf den der Diskurs Bezug nimmt. Die Ebene des Diskurses stellt zur Handlungssituation (dem Marketing in der Arztpraxis, an dem Arzt und Patient beteiligt sind) eine Metaebene der Reflexion dar. Auf Diskursebene kommt es zur Aushandlung der Gültigkeit und Plausibilität der im Diskurs dargelegten Handlungsmotive. Daran wird auch deutlich, wie die GTM im Rahmen einer Diskursanalyse auf eine höhere Ebene der Untersuchung, der Reflexion von Basisprozessen, verlagert wird. Die auf der Ebene der Praxis stattfindenden sozialen Prozesse bieten die Diskursanlässe, die auf der Ebene des Diskurses verhandelten
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Inhalte produzieren gleichsam die normative Infrastruktur, die für die Praxis relevant wird. Im Diskurs werden so etwa Grenzziehungskriterien verhandelt, die ganz unterschiedliche Verbindlichkeitsgrade aufweisen. Rechtliche Objektivierungen standespolitischer Ansprüche an die relative Marktdistanz der medizinischen Profession regulieren die Praxis stärker als normativ-moralische Kriterien, die sich zwar in Richtlinien niederschlagen können, zumeist aber eher in Form nicht immer bewusster Deutungsmuster der (Selbst-)Wahrnehmung der Professionellen eine Rahmung geben und sich damit eher implizit auf die Praxis auswirken. Nahezu der gesamte Bereich von Leistungen, die als Selbstzahlermedizin im wahrsten Sinne des Wortes „auf den Markt gebracht“ werden, kann und wird schon durch die Tatsache begründungspflichtig, nicht zum Umfang der Grundversorgung durch die GKV zu zählen. Daran zeigt sich, was für ein wirkmächtiges Instrument der GKV-Leistungskatalog (trotz aller Kritik) immer noch ist, steht er doch für eine relativ lückenlose Grundversorgung, in der das medizinische Notwendige und Ausreichende geleistet wird – und vieles, was über eine Grundversorgung im strengen Sinne hinaus geht. Daher ist die wissenschaftliche Beurteilung des G-BA, der beschließt, welche Therapie oder Diagnoseformen der Krankheitsbehandlungen dienen und welche davon auf der Basis einer evidenzbasierten Medizin in den Leistungskatalog der GKV aufgenommen werden, ein weiteres entscheidendes Grenzziehungskriterium. Der G-BA ist eine Grenzziehungsinstitution, die ihre Entscheidung auf der Basis einer Verhandlung durch vielfältige Interessensvertreter trifft. Die Ergebnisse dieser Verhandlungen werden im medizinischen Diskurs oft als eine Einschränkung der ärztlichen Therapiefreiheit dargestellt, treffen hier doch medizinische und ökonomische Kriterien direkt aufeinander. Die ärztliche Therapiefreiheit, also die Entscheidung darüber, welche Diagnose und/oder Therapieform zur Anwendung kommt hat für die ärztliche Praxis eine zentrale Bedeutung. Im Topos der Therapiefreiheit bildet sich zum einen der Anspruch an professionelle Autonomie ab. Zum anderen kann die Therapiefreiheit, wenn sie etwa als Begründung für die Integration von IGeL in die Praxis herangezogen wird, auch von wirtschaftlichen Motiven angeleitet werden. Ärzte sind als Leistungserbringer von den Kassen abhängig, das Angebot von Leistungen jenseits der GKV verspricht einen Autonomiegewinn in fachlicher und finanzieller Hinsicht. Dabei werden die Grenzen des Leistungsspektrums auf der Basis unterschiedlicher Begründungen gezogen – es gibt keine unisono vertretenen Interessen und Positionen. Die Freiheit in der Ausübung des Berufes sehen Ärzte insofern eingeschränkt, da ihnen der Umfang der Leistungen nicht direkt obliegt, sondern durch den G-BA, als höchstem Selbstverwaltungsgremium, bestimmt
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und aushandelt wird. Weiterhin wird die Therapiefreiheit durch das professionelle und durch das gesetzliche Berufsrecht eingeschränkt, das unter anderem in der Berufsordnung festgelegt ist. Als ein wichtiges Steuerungsinstrument, das die Therapiefreiheit ebenfalls einschränkt, gelten dabei Leitlinien, also systematisierte, nicht-verbindliche Orientierungshilfen im ärztlichen Entscheidungsprozess. Leitlinien können darüber hinaus auch als Treiber sowohl von Medikalisierungsprozessen als auch des zweiten Gesundheitsmarktes verstanden werden, wenn diese bestimmte medizinische Maßnahmen, wie zum Beispiel PSA-Screenings im Rahmen der Prostatakrebsdiagnose, nahelegen, obwohl diese Diagnostik fachlich umstritten ist und überdies als Selbstzahlerleistung abgerechnet werden muss. Wie ich gezeigt habe, geht es an der Basis des Kommerzialisierungsdiskurses aber immer auch um die Zielsetzung medizinischer Eingriffe. Je deutlicher der Krankheitsbezug einer medizinischen Leistung und je besser die Wirksamkeit der Leistung belegt ist, desto größer die Legitimation der ärztlichen Tätigkeit. Dies gilt umso mehr dann, wenn die medizinische Leistung mit Risiken für den Patienten verbunden ist. Dabei gibt es jedoch große Unterschiede im Spektrum der Selbstzahlermedizin. Das Kontinuum von unumstrittenen krankheitsbezogenen Leistungen, über Wellness- und Präventionsleistungen, bis hin zu risikoreichen Wunschleistungen wie der ästhetischen Chirurgie, ist breit gefächert. Die Problematisierung der Entgrenzung des Arztberufes in Richtung eines Dienstleisterberufes generalisiert jedoch zumeist diese Unterscheidungskriterien und fokussiert vor allem die Tatsache, dass mit Leistungen, die über das Notwendige hinausgehen, zusätzliches Geld verdient wird. Diese Problemwahrnehmung steht freilich nicht im luftleeren Raum, sondern lässt sich an zwei ganz bestimmten Grundbedingungen des ärztlichen Berufes festmachen, die durch die Entwicklungen als gefährdet angesehen wird: die ärztliche Freiberuflichkeit einerseits und die Arzt-Patient-Beziehung andererseits. Den ersten Faktor habe ich bereits angesprochen. Der Status des Arztberufes als freier Beruf ist Bestandteil der professionellen Selbstwahrnehmung, die sich in den Ansprüchen der Therapiefreiheit oder der ärztlichen Selbstverwaltung niederschlägt. Zum anderen hat der Status des freien Berufes auch rechtliche Konsequenzen. Die eingangs zitierte Passage der Musterberufsordnung deutscher Ärzte sieht in Paragraph 1 vor: „Der ärztliche Beruf ist kein Gewerbe; er ist seiner Natur nach ein freier Beruf“ (§ 1 Abs. 2 BÄO). Dies hat, wie oben gezeigt, auch unmittelbare Konsequenzen auf die steuerrechtliche Praxis. In freiberuflicher Tätigkeit sind die Einnahmen der Arztpraxis umsatzsteuerfrei, werden zu viele Einnahmen über Selbstzahlerleistungen generiert, geht dieser Status verloren und die ärztliche Tätigkeit gilt dann als gewerblich. Es deutet alles darauf hin, dass dies
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wiederum Rückwirkungen auf die professionelle Selbstwahrnehmung hat. Die Abgrenzung vom freien Markt ist dadurch also auch institutionalisiert. Der zweite Faktor, den ich angesprochen habe, die Arzt-Patient-Beziehung, ist ein weiteres entscheidendes Element. Erst in der Interaktion von Arzt und Patient realisiert sich die ärztliche Tätigkeit, weshalb dem Topos „Arzt-Patient-Beziehung“ im Diskurs ein zentraler Stellenwert zukommt. Die oben diskutierten Grenzkriterien ärztlicher Tätigkeit lassen sich immer auch im Kontext der ArztPatient-Beziehung interpretieren. Es tun sich nun diesbezüglich zwei Spannungsfelder auf: 1.) das Spannungsfeld zwischen Patientenwünschen und ärztlicher Professionalität sowie 2.) das Spannungsfeld zwischen Patientenorientierung und Profitorientierung. Ad 1): Das erste Spannungsfeld zwischen Patientenwünschen und ärztlicher Professionalität entsteht aufgrund von (vordergründig) unterschiedlichen Zielsetzungen zwischen Arzt und Patient bzw. aufgrund der Divergenz normativer Begründungen ärztlicher Professionalität und der sozialen Realität, in der ärztliches Handeln stärker als Dienstleistung zu verstehen ist. In einem Gesundheitswesen, in dem immer mehr Leistungen, die zumindest nicht unmittelbar der Krankheitsbehandlung dienen – hier ist das Spektrum wie gezeigt recht groß – nachgefragt werden, müssen Ärzte sich zunehmend als Gesundheitsdienstleister positionieren. Die ärztliche Professionalität sieht dabei (in Berücksichtigung medizinethischer Prinzipien) vor, dass den Wünschen des Patienten nur dann entsprochen werden sollte, wenn die Grenzen und Ziele der Medizin angemessen berücksichtigt und nicht überschritten werden. Dabei ist allerdings zum einen danach zu fragen, wo bestimmte Wünsche nach medizinischen Leistungen beim Patienten ihren Ursprung nehmen, und zum anderen festzustellen, dass es bis auf wenige Ausnahmen gar keine klar definierten Grenzen und Ziele gibt, und das diese viel mehr in den meisten Fällen individuell ausgelegt werden können. Ad 2): Das zweite Spannungsfeld zwischen Patientenorientierung und Profitorientierung beschreibt den daraus resultierenden intraprofessionellen Konflikt, der dann entsteht, wenn Gewinnorientierung als Handlungsmotiv so weit in den Vordergrund rückt, dass das Vertrauensverhältnis zwischen dem Arzt als Professionellem und dem Patienten als Klienten gestört wird. Die verschwimmenden Grenzen zwischen Krankheitsheilung, Prävention, Gesundheitsförderung, Wellness und kommerzieller Gesundheitsdienstleistung, zwischen Kassenleistung, Privatfinanzierung, Kundenorientierung und profitorientierter „Scharlatanerie“ führen zu einer
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Verunsicherung, durch die Ärzte und Patienten desgleichen betroffen zu sein scheinen. Um Ordnung in das Feld zu bringen, wird zum einen versucht, an das ärztliche Ethos zu appellieren und zu mahnen, dass bei der Frage, wie Selbstzahlerleistungen an den Patienten gebracht werden, strenge professionelle Verhaltensstandards eingehalten werden (IGeL sollten demnach nur auf Nachfrage des Patienten zum Angebot kommen, niemals aufgedrängt oder zur Bedingung der Behandlung gemacht werden, weiterhin sollte immer ein schriftlicher Vertrag aufgesetzt werden und dem Patienten Bedenkzeit eingeräumt werden), zum anderen wird versucht, eine Positiv- und Negativliste von IGeL zu erstellen und damit zu regulieren, dass das, was angeboten wird, medizinisch vertretbar und im besten Fall empfehlenswert ist. Innerhalb der beiden Spannungsfelder wird implizit auf ein Grundproblem der Professionalität hingewiesen: sie ist dem ärztlichen Handeln nicht inhärent und folgt auch nicht der einfachen Formel, nach der jede ärztliche Tätigkeit professionell ist, eben weil sie von einem Arzt durchgeführt wird. Professionalität ist vielmehr eine komplexe Inszenierung, die, um es mit Bourdieu zu sagen, ebenso auf institutionalisiertem wie auf inkorporiertem kulturellem Kapital beruht, die sich in einem bestimmten Habitus ausdrückt, an die aber auch vielfältige normative und moralische Erwartungen geknüpft sind. In der diskursiven Verhandlung der Kommerzialisierungsproblematik gerät Professionalität gerade auch als symbolische Ressource in den Blick. Denn es geht bei der Debatte immer auch um das Ansehen, das Prestige des Kollektivs. Die Professionalität ist in ihrer Gesamtheit die zentrale Ressource, durch die sich das Sein und das Tun des Arztes ausdrücken. Professionalität findet zumeist unmittelbar im Handeln bzw. in der Intention des Handelns statt. Das zentrale Distinktionsmerkmal sind nicht etwa Bildungszertifikate (wenn diese auch eine Grundbedingung darstellen) oder die professionellen Insignia, sondern die sich in der Interaktion von Professionellem und Klienten verwirklichende Problembearbeitung, die dann professionell vollzogen wird, wenn der Arzt sich als Anwalt des Klienten versteht und der Klient dem Professionellem bzgl. seiner Motive, Intentionen und fachlichen Fähigkeiten vertraut. Auf abstrakter (diskursiver) Ebene aber, der Ebene der Selbstthematisierung, wird Professionalität einerseits zur Legitimation eingesetzt, andererseits gleichermaßen zur normativen Begrenzung der ärztlichen Praxis herangezogen, deren Grenzen ja durchaus kontingent sind. In der Debatte um die Kommerzialisierung der Medizin wird die ärztliche Professionalität als eigentlicher Streitwert und als die zentrale Substanz des ärztlichen Handelns zum Thema macht. Als Dreh- und Angelpunkt scheint im Diskurs auf, dass professionelles ärztliches
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Handeln immer eine therapeutische Indikationsstellung notwendig macht. Die therapeutische Indikationsstellung bildet anscheinend die legitimatorische Grundbedingung für jeden medizinischen Eingriff bzw. für jede medizinische Leistung. Die Bedeutung der Indikation lässt sich auch daran erkennen, dass das Gesundheitswesen und die ärztliche Berufsordnung in ihrer innersten Struktur auf der therapeutischen Notwendigkeit beruhen und Leistungen nur für diesen Zweck bereitstellen. Die heilungsorientierte Teleologie des Arztberufes prägt das Selbstverständnis der Professionellen zutiefst. Dies mag zunächst kaum überraschen, wird doch der Arzt gemeinhin als Heiler von Krankheiten verstanden. Angesichts der zahlreichen Dienstleistungen, die heute in ärztlichen Praxen nachgefragt und angeboten werden, ist es dennoch aufschlussreich, wie äußerst stabil die Rahmung „Arzt-Patient-therapeutische Indikation“ nach wie vor ist. Dabei geht es interessanterweise nicht einmal in erster Linie um Finanzierungsfragen. Denn der Arzt handelt schließlich im Sinne des Patienten (und nicht etwa aus Eigeninteresse), wenn er eine therapeutische Notwendigkeit zum Beispiel gegenüber der Krankenkasse herausstellt und begründen kann. Dabei sehen die Erwartungen an die Professionalität vor, dass der Arzt sich sowohl gegenüber dem Patienten als auch gegenüber den Kassen nach besten Wissen und Gewissen verhält. Dies ist vor allem in solchen Grenzfällen relevant, bei denen auf der Basis der ärztlichen Begutachtung Leistungen über die Krankenkassen abgerechnet werden können, die bei anderen Patienten als Selbstzahlerleistungen zu gelten haben. Darüber hinaus wurde in der Analyse jedoch deutlich, dass gerade eindeutige Privatleistungen auch diskursiv, also in der intraprofessionellen Verhandlung, zumeist als medizinisch notwendig plausibilisiert werden. Dazu werden dann Faktoren wie der kulturell oder psychologisch begründete Leidensdruck, diffuse Präferenzen und Bedürfnisse (etwa Vorstellungen einer vollkommenen Gesundheit oder einer Risikominimierung durch Prävention), das Leitbild eines mündigen Patienten und damit auch das prinzipielle Recht auf Selbstbestimmung und Information über den eigenen Körper und Gesundheitszustand argumentativ zur Sprache gebracht und rücken an die Stellen der klassischen krankheitsorientierten Indikation. Meine Analyse hat ferner aufgezeigt, dass es im Kern auch nicht (nur) um die Frage geht, ob und mit welchen Dienstleistungen Ärzte ihr Geld verdienen dürfen, sondern auch darum, wie sie dies tun. Das professionelles Handeln mit anderen Erwartungen und Handlungsbegrenzungen verknüpft ist als andere Berufsformen, liegt eben darin begründet, dass Professionelle sich als Advokaten der Problembehandlung anderer annehmen, die insbesondere wenn es um intime Ver-
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handlungszonen wie Gesundheit, Krankheit, Körperlichkeit usw. geht, eine ungleich stabilere Vertrauensbasis benötigt als andere Dienstleistungen. Die Erwartungen, Hoffnungen und Risiken, die mit einer ärztlichen Behandlung stets einhergehen, setzen ein hohes Maß an Professionalität voraus. Ob ganz andere Dienstleister (etwa Klempner oder Automechaniker), die im Diskurs gerne als Vergleichs- oder Kontrastgruppen herangezogen werden, ebenfalls mit ihren Leistungen Geld verdienen wollen, ist deshalb für die medizinischen Dienstleistungen weitgehend irrelevant. Denn diese kennzeichnet sich eben in erster Linie durch ihre professionellen Standards aus. Auch ob die Wünsche der Patienten nach mehr Gesundheit, Schönheit und Leistungsfähigkeit nicht nur durch Ärzte, sondern auch durch andere soziokulturelle Bedingungen induziert sind, spielt daher eine eher geringe Rolle, wird doch der normative Anspruch auf ärztliche Professionalität dadurch nicht tangiert. Der Arzt bleibt professioneller Dienstleister, dessen Leistungen normativ stärker beschränkt sind als die anderer Dienstleister. Dabei scheint im Rahmen der Debatte um die Kommerzialisierung auf, dass professionelles und patientenorientiertes Verhalten auch in den Bereichen ärztlicher Dienstleistungen, die nicht mehr unmittelbar der Krankheitsbehandlung dienen, die unentbehrliche Bedingung bleibt. In Zukunft wird es also verstärkt darum gehen müssen, dass Leistungen, die von der Solidargemeinschaft nicht mitgetragen werden können und sollen, einen Platz im privatmedizinischen Sektor erhalten, so dass z.B. alternativmedizinischen Leistungen, oder kosmetischen, ästhetischen und sonstigen Leistungen, die auf individuelle Bedürfnisse und Präferenzen abzielen, ein professionelles Behandlungsumfeld erhalten bleibt. Dabei wird, so meine Prognose, in verstärktem Maße darauf geachtet werden müssen, dass sich neue Standards einer Professionalität im zweiten Gesundheitsmarkt weitläufig etablieren. Dazu gehört zuvorderst, dass Ärzte soweit wie es eben möglich ist, nur auf Nachfrage tätig werden, die Leistungen also nicht aktiv bewerben oder gar aufdrängen. Weiterhin gilt es, die wissenschaftliche Evidenz der Wirksamkeit einer diagnostischen oder therapeutischen Maßnahme nach bestem Wissen und Gewissen transparent zu kommunizieren – auch und gerade wenn diese mangelhaft ist. Ergänzend ist die Anerkennung der Tatsache, dass medizinische Leistungen heute mehr als nur der Krankheitsbehandlung dienen, dringend notwendig. Eine bloße Wiederherstellungs- oder Heilrethorik, wie sie etwa häufig im Bereich der Schönheitschirurgie angewandt wird, erscheint gerade angesichts der stets eingeforderten Anerkennung mündiger Patienten und eines differenzierten Gesundheitsmarktes beinahe anachronistisch.
7 Reflexive Modernisierung der Medizin
Die Erkenntnisse der Diskussion werden nun abermals in einen theoretischen Zusammenhang gebracht. Dazu interpretiere ich die Ergebnisse als Entwicklungen einer reflexiven Modernisierung der Medizin, indem ich den Prozess der Medikalisierung im Folgenden als den Prozess der Modernisierung der Medizin in den Fokus rücke und argumentiere, dass demographischer Wandel und medizintechnischer Fortschritt zwei durch den Prozess der Medikalisierung vorangetriebene Entwicklungen sind, die zu Entgrenzungen im Gesundheitswesen beigetragen haben. Wenn Medikaliserungsphänomene als Modernisierungsphänomene interpretiert werden, muss auch gefragt werden, ob die Erkenntnisse über den Rahmen des spezifischen Kontextes des deutschen Gesundheitswesens hinaus Geltung beanspruchen können. Dies ist nur mit Einschränkungen zu bejahen. Die moderne Basisinstitution, ist die in je länderspezifischen Ausprägungen als Gesundheitssystem arrangierte medizinische Versorgung. Diese Versorgungssysteme unterliegen Transformationsprozessen – nicht nur in Deutschland. Die Folgen oder Nebenfolgen der Modernisierung der Medizin haben ganz spezifische (im weitesten Sinne „messbare“) Wirkungen die dann auch in spezifischen Arrangements – wie dem deutschen Gesundheitswesen – sichtbar sind. Insofern beansprucht die vorliegende Studie nur Aussagen zu diesem besonderen empirischen Fall machen zu können – gleichwohl kann dieser Fall exemplarisch für moderne Phänomene der Transformation von Basisinstitutionen herangezogen werden.
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7.1 K URSORISCHER ÜBERBLICK DER T HEORIE REFLEXIVER M ODERNISIERUNG Institutionen sind Ordnungssysteme, die Komplexität reduzieren. Institutionen sind auch Antworten auf Verfahrensprobleme, die ganz unterschiedliche Bereiche bündeln, die je ihre eigenen Grenzziehungen benötigen. Normativ-moralische, rechtliche, kognitive, aber auch physisch-materielle Grenzanforderungen werden über Institutionen integriert. Dabei benötigen die Institutionen die Grenzziehungen (etwa: Sinn) zur Aufrechterhaltung ihrer „Funktionslogik“. Tatsächlich könnte man mit Parsons davon sprechen, dass Grenzziehungen eine Funktion zur Erhaltung der Strukturen, also der Institutionen, erfüllen. Die Trennung von Medizin und Markt ist eine Grenzziehung, die auf bestimmte Wertvorstellungen zurückzuführen ist und die letztlich der Stabilität der Arzt-Patient-Beziehung dient. Damit ist sie Grundpfeiler einer gelingenden Gesundheitsversorgung insgesamt. Die Diagnose einer reflexiven Modernisierung1 beschreibt analytisch und empirisch einen Übergang von der ersten zur zweiten (reflexiven) Moderne, anhand der Beobachtung zahlreicher institutioneller Krisen, die sich etwa am Beispiel der Auflösung oder Verschiebung tradierter Funktionslogiken bzw. der Notwendigkeit von Neubegrenzungen angesichts zunehmend heterogener Praxen veranschaulichen lassen. So haben sich seit etwa der Mitte des 20. Jahrhunderts gesellschaftliche Wandlungsprozesse, die zuvor als typisch für den Modernisierungsprozess galten, derart radikalisiert, dass vermehrt Nebenfolgen der Modernisierung auftreten, die mit den klassischen Modernisierungstheorien nicht mehr adäquat zu beschreiben sind (vgl. zu diesem Modell: Beck/Bonß/Lau 2004). Die Theorie der reflexiven Modernisierung nimmt an, dass diese Veränderungen auf Entwicklungen zurückzuführen sind, die als eine „Modernisierung der Moderne“ (Beck/Bonß 2001) beschrieben werden können: Die Institutionen der klassischen Moderne unterliegen selbst dem Modernisierungsdruck, wodurch die institutionellen Ordnungssysteme zunehmend instabil werden und Handlungsunsicherhei-
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Zunächst von Ulrich Beck in der Risikogesellschaft (1986) und später in einer gemeinsamen Publikation mit Scott Lash und Anthony Giddens (Beck/Giddens/Lash 1996) formuliert, wurden mit der Zeit zahlreiche theoretische Anpassungen, Umarbeitungen und Justierungen der Theorie reflexiver Modernisierung durch viele verschiedene Autoren vorgenommen. Im Detail können die verschiedenen theoretischen Aspekte hier nicht dargestellt werden. Einige wichtige Ausarbeitungen diesbezüglich finden sich bei: Beck/Lau 2004, 2005 und Böschen et al. 2006.
REFLEXIVE M ODERNISIERUNG DER MEDIZIN
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ten hervorrufen. Die Inszenierung der modernen Gesellschaft, die auf einer ständiger Reinigungsarbeit (Latour) beruht, in der Mischformen, Hybride und Uneindeutigkeiten kognitiv, diskursiv und institutionell verbannt, ignoriert, normalisiert oder übersetzend prozessiert wurden, ist nicht mehr dauerhaft stabil aufrecht zu erhalten, auch da in zunehmende Maße Hybride produziert werden, die neue Legitimationen notwendig machen (vgl. Beck/Lau 2005). Die Konstitution der ersten Moderne beruht demnach auf der Herausbildung von stabilen Basisprinzipien der Ordnungsproduktion, wie der Nationalstaatlichkeit, der wissenschaftlichen Methode als rationalem Instrument der Wahrheitsfindung oder der Annahme einer prinzipiellen Unterscheidbarkeit von Gesellschaft als dem Ort sozialer Praxen und Institutionen, und der Natur als der „Umwelt“ der Gesellschaft. Solche Basisprinzipien übernehmen gesellschaftliche Orientierungsfunktionen durch die Zuweisung von Zugehörigkeit und Verantwortung. Während die Nationalstaatlichkeit beispielsweise durch die Staatsbürgerschaft gesellschaftliche Zugehörigkeit absteckt, übernimmt die grenzhafte Trennung von Natur und Gesellschaft die Unterscheidung zweier Sphären und Verantwortungsbereiche, nämlich die Trennung „des bloß Gegebenen und instrumentell Manipulierbaren einerseits, des sozial und normativ zu verantwortenden Handels andererseits“ (Wehling et al. 2005: 137). Die Basisprinzipien sind gleichsam normative Ordnungsmuster, die eher allgemeingültig zu verstehen sind und die auf einer diskursiven Ebene die grundlegende Struktur von Modernität darstellen. Basisinstitutionen hingegen sind als „historisch-konkrete“ Manifestationen und Variationen der Legitimations- und Funktionsprinzipien einer modernen Gesellschaft“ (Böschen/Kratzer/May 2006: 202) zu verstehen. In der Theorie reflexiver Modernisierung wird nun also sozialer Wandel in (spät-)modernen Gesellschaften in einem historisch-soziogenetischen Modell als eine Diskontinuität moderner Basisinstitutionen einerseits, bei einer relativ stabilen Kontinuität moderner Basisprinzipien andererseits interpretiert. Das bedeutet, dass sich auf diskursiv-normativer Ebene ebenso wie auf der Ebene der sozialer Praxen Entgrenzungsprozesse ergeben, Prozesse also, in denen bestimmte voneinander abgrenzbare sozial eingespielte Ordnungssysteme (Institutionen) keine ausreichende Orientierungsfunktion mehr liefern. Die Verunsicherungen, Störungen oder Hybride liefern wiederum Diskursanlässe, um grundlegende normative Prinzipien (Basisprinzipien) zu verhandeln. Dabei können freilich auch die Basisprinzipien Änderungen oder Aktualisierungen erfahren, die dann neue Institutionen schaffen und sich auf soziale Praxen auswirken.
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7.2 R EFLEXIVE MEDIKALISIERUNG Ich habe die vorliegende Studie auf eine Ausgangsthese aufgebaut, die besagt, dass es sich bei der diskursiven Verhandlung der Kommerzialisierung der ärztlichen Praxis im Kern um die Verhandlung einer normativen Ordnung handelt. Die normative Ordnung kann in dieser Perspektive als das Basisprinzip der modernen Medizin verstanden werden, welches auf der Ausgewogenheit des Verhältnisses von Eigenorientierung und Fremd- bzw. Patientenorientierung beruht. Das Verhältnis von Eigen- und Fremdorientierung hat sich wiederum in der ärztlichen Professionalität institutionalisiert. Darüber hinaus ist die Medizin in einen institutionellen Zusammenhang eingebettet. Medizin, gerade in der Moderne, ist ja als Forschungsfeld aufs Engste mit der modernen Wissenschaft verbunden, so dass hier die Basisprinzipien der Wissenschaftlichkeit gleichermaßen Anwendung finden. In dieser „Konstruktion sich verschränkender Institutionen“ (Böschen/Kratzer/May 2006: 202) sind aber bestimmte eindeutige Abgrenzungen – wie etwa die Abgrenzung der professionellen Sphäre vom freien Markt – dringend notwendig zur Erhaltung der Identität und damit der Stabilität der Institution. Auf der Ebene der Medizin als Forschung beispielsweise, sieht sich das (wissenschaftliche) Basisprinzip der unabhängigen, nur an methodischen Gütekriterien orientierten Forschung durch das Eindringen (Entgrenzung) einer ökonomischen Logik bedroht. Im Bereich der medizinischen Praxis ist es präziser die Abgrenzung zum Markt, die sich auf der Ebene des ärztlichen Handelns vollzieht und sich über die Ausbalancierung von Eigeninteresse und Patientenorientierung realisiert. Medizinische Praxis findet daher innerhalb eines professionalisierten Feldes statt – in einem sozial geschlossenem Feld, dessen Akteure entweder professionelle Anbieter sind, die diesen Status erst erwerben mussten, oder eben Abnehmer, die ihrerseits Zugang zu medizinischen Dienstleistungen nur dann erhalten, wenn sie sich an einen approbierten Arzt wenden. Moderne Medizin funktioniert dementsprechend zuvorderst nach den Prinzipien der Wissenschaftlichkeit und der Professionalität. Diese Basisprinzipien sind in ihrer normativ anleitenden Funktion zu verstehen. Wie dies bei normativen Richtwerten der Fall ist, bestätigen in der Praxis freilich die Ausnahmen die Regel. Institutionen gewährleisten dabei eine gewisse dauerhafte Stabilisierung der normativen Orientierungsmuster. So lässt sich die „Architektur“ des medizinischen Gesundheitswesens in seinem Kern auf die normative Ordnung der Medizin zurückführen. Wie ich in der Diskussion um den Zusammenhang von Professionalität und Medikalisierung allerdings bereits zeigen konnte, scheinen Modernisierungsprin-
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zipien auf Expansion zu drängen und „Kollonialisierungsbestrebungen“ zu zeigen. Man könnte sagen, dass die Professionalisierung als sozialer Schließungsprozess im Zusammenspiel mit dem Prinzip der Wissenschaftlichkeit und der modernen Rationalisierungslogik die Dynamik der Medikalisierung hervorgebracht hat. Der sich ausdehnende Heilanspruch der Medizin hat – in Zusammenhang mit der weitreichenden Etablierung von Gesundheitswissen und Gesundheitskompetenz, zahlreichen technischen und pharmazeutischen (also wissenschaftlichen) Errungenschaften sowie der flächendeckenden medizinischen Versorgung – zu einer Eindämmung von Infektionskrankheiten, zur Verlängerung der Lebensspanne, aber auch zum Anstieg chronischer Krankheiten, Alterserkrankungen und prinzipiell zum demographischen Wandel beigetragen. Die Medizin hat also die steigenden Ansprüche und andere zur Verknappung der Ressourcen beitragende Faktoren – und damit die Bedingungen der Kommerzialisierung – selbst (mit-)produziert! Mit Blick auf die im Diskurs verhandelten externen Faktoren lassen sich vier Dynamiken identifizieren, die sich unmittelbar aus dem Prozess gesellschaftlicher Medikalisierung ableiten lassen und die vor allem für den Problemkonnex aus Mittelknappheit und Anspruchsspirale stehen (vgl. hierzu Herder-Dorneich/Schuller 1983; die Anspruchsspirale ist demnach Ergebnis aus einer zunehmenden Verwissenschaftlichung und Technisierung des Gesundheitswesen, das auf eine systembedingte Anspruchsmentalität trifft). Knapp formuliert handelt es sich um: x
demographischen Wandel, der nicht zuletzt auf der Etablierung einer umfassenden, wissenschaftsbasierten medizinischen Versorgung beruht,
x
gesundheitspolitische Forderungen und Ansprüchen an eine Grundversorgung auf höchstem Niveau,
x
medizinischen Fortschritt und medizinische Machbarkeit, die zudem immer technologieabhängiger und kostenintensiver wird, sowie
x
den daraus resultierenden, steigenden Ansprüchen an die Medizin von Abnehmerseite.
Mit diesen Faktoren ist der Bedingungskontext benannt, in dem die Entgrenzung der Medizin in Richtung Markt stattfindet und der durch Medikalisierungsprozesse erst hervorgebracht wurde.
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Unter Rückgriff auf die Ergebnisse der Analyse kann die untersuchte Situation folgendermaßen zusammengefasst werden: Die Ausweitung des Marktes für Gesundheitsleistungen (das „Marketing“) wird als Kommerzialisierung wahrgenommen, diese Expansion befördert Medikalisierung, da ein großer Bereich an medizinischen Leistungen aus dem Bereich Prävention und Lifestyle aktiv vermarktet wird. Die Effekte der Medikalisierung sind unter anderem die steigenden Erwartungen und Ansprüche an die Medizin. Weitere Medikalisierungseffekte sind außerdem der demographische Wandel sowie wissenschaftlicher Fortschritt und Innovationen und der daraus resultierende steigende Kostendruck. Kommerzialisierung wird oft als Reaktion auf diese strukturellen Bedingungen oder auf erhöhte Ansprüche auf Patientenseite zurückgeführt. Die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen auch jenseits der GKV würde dann das Angebot hervorrufen. Gleichsam ist aber auch deutlich geworden, dass das Marketing von Gesundheitsleistungen, also die Angebotsstellung, auch die Nachfrage induziert und Patientenwünsche erst hervorbringt. Dieser Zusammenhang ist in der folgenden Darstellung (Abbildung 26) veranschaulicht:
Abbildung 26: Prozesse der Kommerzialisierung in der Medizin
Es scheint ein zentrales Merkmal aktueller Transformationsprozesse in der Medizin zu sein, ob bezogen auf die Zielsetzungen der Medizin zwischen Heilung und Optimierung oder die normativen Grenzen zwischen Medizin und Markt, dass diese Grenzen erst durch Entwicklungen unterlaufen oder in Frage gestellt werden, die durch den Medikalisierungsprozess selbst vorangetrieben wurden. Diese Dynamik könnte als Prozess reflexiver Medikalisierung oder reflexiver
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Modernisierung der Medizin bezeichnet werden, nämlich als ein typisch moderner Prozess (Medikalisierung), der seine eigenen Grundlagen instabil werden lässt. Demographischer Wandel und medizintechnischer Fortschritt sind zwei durch den Prozess der Medikalisierung vorangetriebene Entwicklungen, die zu Entgrenzungen im Gesundheitswesen beigetragen haben. Ebenso können die sich verändernden Ansprüche an die Medizin und die Gesundheitsversorgung als Medikalisierungseffekte verstanden werden. Dies bedeutet letztlich auch, dass nicht die Geltungskraft der Medizin an sich unterlaufen wird, sondern vielmehr, dass sie aufgrund eines überhöhten Geltungsanspruchs (zumindest teilweise) in eine Krise gerät. Dies zwingt die Institution in der Folge zu einer Reflektion ihrer kognitiv-normativen Infrastruktur. Mit dieser „reflexiven Medikalisierung“ kommt es zu Ambivalenzen im Zusammenhang mit der Kommerzialisierung der Medizin, die erwähnenswert erscheinen: Dies ist erstens die potentielle Legitimationskrise, in die die Medizin gerät, zweitens die Möglichkeit zur De-Professionalisierung und drittens, die sich teilweise verstärkenden und teilweise gegeneinander wirkenden Dynamiken der Medikalisierung, Ökonomisierung und Kommerzialisierung. Legitimationsprobleme Mit der Ausweitung der ärztlichen Angebote ohne Krankheitsbezug und der damit in Zusammenhang stehenden Ausweitung der kommerziellen Finanzierung von Leistungen gerät die medizinische Praxis in eine Legitimationskrise, durch die ärztliche Tätigkeiten zunehmend begründungspflichtig werden. Auch wenn sich die Legitimationskrise zunächst vor allem in einem eher diffusen Unbehagen sowohl auf Seiten der Patienten als auch auf Seiten der Ärzteschaft artikuliert, deuten einige Entwicklungen darauf hin, dass es insgesamt zu einer Professionalisierung des zweiten Gesundheitsmarktes kommt, der zunehmenden „Wildwuchs“ innerhalb der ärztlichen Tätigkeiten durch Einführung von Leitlinien, Verhaltensstandards und Qualitätssicherungsmaßnahmen einzudämmen versucht. Legitimationskrisen zeigen sich aber auch darin, dass alternative Heilangebote vermehrt auf den Markt drängen und der Medizin ihr Behandlungsmonopol strittig machen. Als Reaktion darauf versucht die moderne Medizin etwa die Angebote der „Komplementärmedizin“ einzugemeinden, was nach einer Auslegung den genannten Wildwuchs befördert, dem es ja gerade zu begegnen gilt, nach anderer Auslegung, zu einer Professionalisierung medizinischer Grauzonen führt.
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De-Professionalisierung – Re-Professionalisierung Den Versuchen der Professionalisierungs- und Ordnungsbestrebungen gegenläufig sind Faktoren, die eher auf eine Tendenz zur De-Professionalisierung hinführen. Denn mit der Etablierung eines zweiten Gesundheitsmarktes kommt es im kommerziellen Sektor zu einer Herabsetzung der Arztrolle auf die eines Gesundheitsdienstleisters. Sollten die teils aus legitimatorischen Gründen, teils aus gewinnorientierten Aspekten herbeigesehnten souveränen Patienten tatsächlich vermehrt als mündige und informierte Kunden auftreten, wird der Arzt auf die Rolle eines Gatekeepers reduziert, der ein staatlich reguliertes Gut verwaltet, indem er den Zugang zu medizinischen Leistungen und Mitteln in einem sozial geschlossenen Feld gewährt. Mittelfristig wird sich diese neue Kunden-DienstleisterMentalität vom zweiten Gesundheitsmarkt auf den ersten Gesundheitsmarkt übertragen. In Ansätzen ist dies bereits zu beobachten. Auch die zunehmende staatliche Regulierung kann zu einem Verlust professioneller Autonomie führen. Doch die Dispersionserscheinungen an den „Rändern“ ärztlicher Praxis, können auch zu Re-Professionalsierungsbestrebungen führen. Dies deutet sich durch die Einführung neuer Ethik-Kodizes an. Medikalisierung – Ökonomisierung – Kommerzialisierung Wie verhält sich der Trend der Medikalisierung zu den Prozessen der Ökonomisierung und der Kommerzialisierung, die hier als unterschiedliche Phänomene im medizinischen Feld begriffen werden? Zunächst hat die Analyse aufgezeigt, dass das Projekt der Medikalisierung, als einer flächendeckende Errichtung einer medizinischen Versorgung und „Kulturlandschaft“, seine institutionelle und auch ökonomische Realisierung im Gesundheitswesen erfahren hat. Die Prozesse der Ökonomisierung und der Medikalisierung sind insofern strukturverwandt, als sie beide Prozesse einer „Kolonialisierung“ jeweils anderer Gesellschaftsbereiche beschreiben, deren Eigenlogiken, Phänomene und Strukturen zunehmend durch Termini, Deutungsmuster und Verfahren der Medizin (Medikalisierung) oder der Ökonomie (Ökonomisierung) beschrieben werden und durch diese in ihrer Funktionslogik bestimmt werden. Wenn nun ein bereits erfolgreich von der medizinischen Logik bestimmtes Feld, wie das der gesundheitlichen Versorgung, durch ökonomische Gesetzmäßigkeiten gleichsam überschrieben wird, dann lässt sich mit einiger Sicherheit behaupten, dass die Ökonomisierung zu einer Einhegung des expansiven Trends der Medikalisierung führt, also zu dieser gegenläufig ist. Freilich kann der Ökonomisierungsprozess Nebenfolgen haben, die durchaus als Effekte einer Medikalisierung gedeutet werden könnten. Dazu gehört etwa die
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häufig im Zusammenhang mit Ökonomisierungsdebatten beklagte Übertherapeutisierung, die sich an ökonomisch motivierten, aber medizinisch unnötigen Operationen zeigt. Ob diese aufgrund des ökonomischen Drucks vorgenommene quantitative Erhöhung der Fallzahlen (so der Vorwurf), aber tatsächlich als Medikalisierungseffekt zu begreifen ist, halte ich zumindest für fraglich. Ganz anders liegt der Fall der Kommerzialisierung. Die Kommerzialisierung ist eine Tendenz, die der expansiven Logik der Medikalisierung folgt und diese auch gegen das Hemmnis der Ressourcenknappheit vorantreibt, indem sie einen zweiten Gesundheitsmarkt erschließt, der eine Medikalisierung jenseits der gesundheitssystemischen und ökonomischen Beschränkungen ermöglicht. Ob dadurch eine „Entmedizinierung der Medizin“ (Bauch 1996: 116) einsetzt, weil medizinische Fragestellung sich nunmehr einem „gesellschaftlich-ethischmoralisch-ökonomischen“ Diskurs stellen müssen (ebd.), bleibt aber fraglich. Bauch (1996: 116) argumentiert, dass die Ärzte das Monopol über den Gesundheitsdiskurs verloren hätten und damit (langfristig) auch die „professionellen Isignien“ (ebd.) der korporatistischen Selbstkontrolle verlieren würden. Die „Leit-Kodierung gesund/krank“ würde in verstärktem Maße durch ökonomische Überlegungen flankiert, ebenso wie die rasante technische Entwicklung immer neue ethische Fragestellungen auch in genuin medizinische Entscheidungsprozesse einspeist. Ich halte diese Diagnose nur für begrenzt tragfähig. Damit soll nicht abgestritten werden, dass es so etwas wie eine Leitkodierung, die die Grenzen des Systems, der medizinischen Logik und des medizinischen Handlungsfeldes mitbestimmt, überhaupt gibt. Ganz im Gegenteil weisen auch die Ergebnisse dieser Studie darauf hin, dass die Unterscheidung von krank/gesund weiterhin bestimmte Grenzen des ärztlichen Handlungsfeldes absteckt und auch Fragen der Ressourcenallokation zentral mitbestimmt. Zumindest kann der Versuch einer Unterscheidung von Krankheit und Gesundheit in der davon abgeleiteten Variante der medizinischen Indikation als eine Ressource der Legitimation verstanden werden. Dennoch ist die rein systemische Beobachtung auch in Form einer weiter gefassten Kodierung wie „lebensförderlich/lebenshinderlich“ (so Bauch 1998), beengt, da sie die relevanten Prozesse der diskursiven Aushandlung der Sinngrenzen nur schwer in den Blick bekommen kann. Schließlich ist der Prozess der Medikalisierung der Gesellschaft immer schon nur im Zusammenspiel mit „gesellschaftlich-ethisch-moralisch-ökonomischen“
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Diskursen und Praxen zu verstehen und durch diese angetrieben. Gerade die moderne Medizin ist – ganz anders als die traditionell rückwärtsgewandte2 vormoderne Medizin – eine innovativ-dynamische Unternehmung, die mit dem Anspruch an wissenschaftlichen Fortschritt und soziale Expansion angetreten ist. Dadurch waren ökonomische, soziale, ethische und rechtliche Fragen stets in den Medikalisierungsprozess eingebunden. Auch eine systeminterne Kommunikation über die Zustände Gesundheit und Krankheit kann nie als von derartigen Diskursen abgekoppelt betrachtet werden. Anders formuliert ist die Bestimmung der Bedeutung der Dimensionen Krankheit/Gesundheit immer kulturell bestimmt.
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Bis zur einsetzenden Verwissenschaftlichung der Medizin in der Neuzeit galten antike Lehren lange als Maßstab für die Medizin. Siehe auch Kapitel 4.1 dieser Studie.
8 Fazit: Das Ende der „klassischen Medizin“? Mere money making is more likely to be a vice than a virtue. We all know men in the practice of our noble profession who will do almost anything for the almighty dollar. (JOURNAL OF THE NATIONAL MEDICAL ASSOCIATION, 1920)
Angesichts der vielfältigen Debatten und Analysen in den Sozial- und Geisteswissenschaften der letzten Jahre (vgl. Viehöver/Karsch 2012), in denen die zunehmende Bedeutung von Gesundheit, Krankheit und Körperlichkeit im Allgemeinen sowie die aktuellen Entwicklungen in medizinischen Handlungsfeldern im Speziellen aus unterschiedlichen disziplinären, theoretischen und methodischen Perspektiven zum Thema gemacht wurden, erscheint es evident, dass den Themen „Medizin“ und „Gesundheit“ derzeit eine große Beachtung zukommt. Gesundheit als die Domäne der Medizin, hat gleich in mehrfacher Hinsicht Konjunktur: Als öffentliches Gut, als ein Zentralwert zur Anleitung der Lebensführung und als wichtige ökonomische Ressource. Damit sind einige Faktoren benannt, die mit daraufhin wirken, dass die allgemeine Verbesserung von Gesundheit, Leistungsfähigkeit und Lebensgefühl zunehmend zum Bestandteil des medizinischen Leistungsangebots wird. Zum „Ende der klassischen Medizin“ (Unschuld 2009) ist es trotzdem noch nicht gekommen. Die wichtigste Zielsetzung der Medizin bleibt es, die Wiederherstellung von Gesundheit im Krankheitsfall bzw. eine Krankheitsprävention zu leisten und damit auf eine umfassende individuelle und kollektive Gesundheit hinzuarbeiten. Dies bleibt auch unter den Vorzeichen der Ökonomisierung und Kommerzialisierung das Kerngebiet der ärztlichen Versorgung. Die Medizin
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bleibt also trotz gewisser „Säkularisierungstendenzen“ den Status der Ärzte als „Halbgötter in Weiß“ betreffend, eine zentrale (und tragende) Institution moderner Gesellschaften und die Ärzteschaft eine Profession, deren Mitglieder weiterhin ein hohes Ansehen genießen. Doch dieses Ansehen gerät dann in Gefahr, wenn die notwendige Balance von Wirtschaftlichkeit und Patientenorientierung zugunsten des Profits verloren geht. Wie gezeigt werden konnte, spiegelt der Diskurs eine Verunsicherung im professionellen Selbstverständnis der auf dem neuen Markt (mehr oder weniger aktiv) agierenden Mediziner wider, der mit dem Trend einer Entgrenzung medizinischer Praxisfelder korrespondiert. Diese Entgrenzung wird vornehmlich über das Deutungsmuster „Kommerzialisierung“ problematisiert. Dabei handelt es sich im Kern um einen Wertekonflikt, der die für die medizinische Profession immer schon zentrale Bedeutung des Verhältnisses von „Selbstorientierung vs. Patientenorientierung“ umfasst. Dieses Grundmuster hatte Parsons ganz offensichtlich bei der Formulierung der idealtypischen „Pattern Variables“ auch im Hinblick auf die Arztrolle anvisiert. Die Erwartungen, die an den Rollenträger herangetragen werden, machen in ihrer normativen Kraft überhaupt nur deshalb Sinn, weil es in der Praxis zu einem möglichen Auseinanderfallen der Handlungsalternativen in Mischtypen oder sich widersprechenden Formen von Praxis und Legitimation kommt. So wie ein Realtypus vom Idealtypus abweicht, weicht auch die konkrete (ärztliche) Praxis von den Orientierungsmustern ab, die in der normativen Ordnung als kollektive Wissensformen vorliegen. Insofern ist ein Auseinanderfallen der im Diskurs formulierten Ansprüche an die professionsinternen moralischen Standards und die tatsächliche Praxis zu erwarten und nicht notwendig als eine Art Doppelmoral der praktizierenden Ärzte zu werten. Aus empirischer Sicht wiederum ist freilich gar nicht überprüfbar, inwieweit diskursive Thematisierungen mit der tatsächlichen Praxis kollidieren. Auffällig bleibt jedenfalls, dass der Diskurs durch moralisierende Aussagen geprägt ist, die ja auf die Abweichungen in der Praxis Bezug nehmen. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass der Diskurs immer eine Reflexionsebene bleibt, in der normative Bewertungen und Differenzierungen vorgenommen werden, die dann als spezifische Wissensformen erst in die Praxis durchsickern müssen. Die Struktur des Diskurses, die ich in Kapitel 5 beschrieben habe, zeigt, dass sich die Debatte in der Form von Anklage und Rechtfertigung bewegt. Die tatsächliche Normabweichung ist dabei kaum bestimmbar, zumal es sich – wie gezeigt – um zumeist unverbindliche Normen handelt oder aber um neue Praxisformen, für die entsprechende Normsysteme erst noch etabliert werden müssen. Die diskursive Thematisierung der Abweichungen von berufsethischen Normen in der ärztlichen Berufspraxis kann – so glaube ich, gezeigt zu haben –
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durchaus als Merkmal ihrer relativen Beständigkeit und Gültigkeit verstanden werden. Die Medizin ist in ihrem Kern als ein soziales Handlungsfeld zu verstehen, dessen Zielsetzungen stets umkämpft und deren normativ-ethisches Gerüst fragil ist. Die im Rahmen der kommerziellen Medizin aktuell zu Tage tretenden ethischen Konflikte zeigen, dass es dabei nicht in besonderem Maße darum geht, was die Medizin für Leistungen anbietet, sondern wie sie dies tut. Von großer Bedeutung scheint mir daher die Aufrechterhaltung eines stabilen Berufsethos zu sein, das für bedürftige Patienten ebenso gültig ist, wie für gesundheitsorientierte Konsumenten mit spezifischen Bedürfnissen. Betrachten wir rückblickend noch einmal den Fall der hier zur Untersuchung stand: Die vorliegende Studie hat einerseits nach dem gesellschaftlichen Stellenwert der Medizin gefragt und danach, welche Bedeutung ärztliche Dienstleistungen – auch über therapeutische Zielsetzungen hinaus – heute haben. Sie hat andererseits danach gefragt, wie eine Profession die Transformation ihrer eigenen Handlungsfelder prozessiert und reguliert, wie sie ihre normative Ordnung aufrechterhält. Dazu wurde die diskursive Verhandlung des Problems der Kommerzialisierung als die Verhandlung der normativen Ordnung analysiert. Die Verhandlung der Kommerzialisierung medizinischer Praxisfelder, die auf diskursiver Ebene stattfindet, ist die Verhandlung der Bedeutung und Relevanz bestehender ethischer, rechtlicher und institutioneller Übereinkünfte. Stehen Ethik und Unternehmenserfolg in der Medizin also in einem Widerspruch zueinander? Eindeutig ist die Frage nicht zu beantworten. Denn zunächst muss präziser gefragt werden, welcher Aspekt des gewinnorientierten Handelns mit welchem Aspekt medizinischer Ethik zu kollidieren droht, und woran Unternehmenserfolg überhaupt gemessen wird. Zu einer Verschärfung der Problematik der so genannten Zwei-Klassen-Medizin scheint es jedenfalls nicht zu kommen. Denn dass es im Kontext der Kommerzialisierung tatsächlich eine qualitativ bessere Versorgung gegen Aufpreis gibt, wird im Prozess der Vermarktung von Selbstzahlerleistungen zwar häufig suggeriert, jedoch kaum eingelöst. Die brennenden Fragen lauten vielmehr: Welche Motive leiten den Prozess der Entscheidungsfindung in der Arzt-Patient-Beziehung an? Welche medizinischen Leistungen sind überhaupt notwendig? Und schließlich: Wer bestimmt das Maß des Notwendigen? Angesichts der Einblicke in die Aushandlung der Kommerzialisierungsthematik zeigt sich die innerprofessionelle Unsicherheit über Kategorien wie „das medizinisch Notwendige“ gerade auch in ihrer soziokulturellen Bedingtheit und Abhängigkeit von anderen Faktoren, wie der Wirtschaftlichkeit und des Patientenwillens. Hierzu wurde argumentiert, dass Kriterien, die Eindeutigkeit sugge-
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rieren, zwar systemisch relevant sind, aber kaum mit der lebensweltlichen Realität korrespondieren. Ein subjektorientierter Ansatz, der von einer bedürfnisorientierten Medizin ausgeht, wird die Frage nach der Notwendigkeit einer medizinischen Leistung nur im Rahmen eines Konnex aus Expertenwissen und Patientenwille stellen können. Die „Währung“, die für den Behandlungserfolg ebenso wie für den Unternehmenserfolg entscheidend sein kann, ist das Vertrauen in die professionelle Integrität des Arztes. Ein Vertrauensverlust hingegen führt nicht nur zur Erosion des Arzt-Patient-Verhältnisses, sondern kann über die Grenzen des eigenen Unternehmens hinaus Wirkung zeigen und den gesamten Berufsstand treffen. Das eigentliche Problem der kommerziellen Medizin scheint mir daher das direkte Marketing der privaten Gesundheitsleistungen zu sein, durch das suggeriert wird, dass eine optimale medizinische Versorgung nur durch den Zukauf von IGeL möglich sei. Ein weiteres Problem, das sich im Kontext der steigenden Ansprüche an die medizinische Versorgung auch jenseits der Krankheitsbehandlung stellt, ist, dass das derzeitige System einer solidarisch finanzierten Versorgung quasi eine Enthaltsamkeit von Gesundheitsleistungen notwendig macht. Erst die Nicht-Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen bei gleichzeitiger Ableistung von Kassenbeiträgen ist förderlich für die Solidargemeinschaft. Das Solidarsystem stützt sich eben darauf, dass junge und gesunde Menschen, auch wenn sie nicht erkrankt sind, für andere Beiträge leisten – im Vertrauen darauf, bei Bedarf selber auch Leistungen zu erhalten, die aus demselben solidarisch gefüllten Topf finanziert werden. Das Gesundheitssystem lebt also von einer „Unterinanspruchnahme“ (Raspe 2007: 36), die Zurückhaltung in der Inanspruchnahme von Leistungen erfordert. Die doppelte Askese des Gesundheitsbürgers besteht darin, sich in der individuellen Lebensführung gesundheitserhaltend und sogar gesundheitsförderlich zu verhalten und gleichzeitig Gesundheitsbeiträge an die Kassen zu leisten, die im Idealfall gar nicht (oder nur begrenzt) in Anspruch genommen werden. Selbstzahlerleistungen sind im Kern hingegen nicht solidarisch, deswegen ist die Bezeichnung individuelle Gesundheitsleistungen durchaus Programm. Sie adressieren jedoch diffuse Bedürfnisse nach Wohlbefinden, Schönheit, Leistungsfähigkeit ebenso, wie Bedürfnisse nach Sicherheit, Risikominimierung, oder auch utopische Vorstellungen und Hoffnungen an zukünftige Möglichkeiten der Medizin. Zu guter Letzt erfüllen sie auch ein Bedürfnis nach dem Konsum von Gesundheit, also der Vorstellung, dass mehr finanzielle Aufwendungen mit mehr Gesundheit korrelieren. Die meisten dieser Bedürfnisse kann die Grundversorgung freilich nicht befriedigen. Das Geld, das für Gesundheitsleistungen im zweiten Gesundheitsmarkt aufgewendet wird, fließt ja nicht etwa in einen solidari-
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schen Fond, sondern direkt in die Kassen der Anbieter von Gesundheitsleistungen. Dennoch: Zumeist sind individuelle Gesundheitsleistungen an Kassenpatienten gerichtet. An solche Abnehmer also, die jenseits ihrer potentiellen Inanspruchnahme von Privatleistungen sowieso Kassenbeiträge zahlen. Insofern lautet eine in Teilen durchaus plausible Argumentation, dass IGeL sogar die Ressourcen im Gesundheitswesen schonen. Wenn bestimmte Zusatzleistungen konkret oder implizit eine positive Auswirkung auf den Gesundheitszustand haben sollten, hätte dies kurzfristig (aufgrund der Nicht-Inanspruchnahme von GKVLeistungen) und langfristig (durch Prävention) positive Auswirkung auf den Gesundheitszustand und auf die Ressourcen. Des Weiteren profitieren (im Idealfall) auch die Kassenpatienten von einer florierenden „Privatwirtschaft“ in den Arztpraxen, wenn durch den Zuverdienst im Privatsektor etwa in die Ausstattung der Praxis reinvestiert werden kann. Bedenklich sind Zusatzleistungen überhaupt erst dann, wenn der umgekehrte Effekt eintritt und sie keine messbaren, oder sogar negative Auswirkungen auf die Gesundheit haben. Maßnahmen ohne Nutzen führen zum bereits angesprochenen Vertrauensverlust. Negative gesundheitliche Auswirkungen können vorliegen, wenn etwa notwendige Leistungen zugunsten von nicht-wirksamen Selbstzahlerleistungen abgelehnt werden (zum Beispiel im Bereich der Alternativ-Medizin), oder wenn im Rahmen von Lifestyle-induzierten Maßnahmen (ästhetischen Operationen, Hormontherapien, etc.) Behandlungsschäden auftreten, die von der Solidargemeinschaft getragen werden müssen. Aus der Sicht der Ressourcenknappheit im Gesundheitswesen ist das Angebot von individuellen Gesundheitsleistungen also vor allem dann problematisch, wenn a) ein Vertrauensverlust beim Patienten eintritt, b) negative Auswirkungen auf die Gesundheit zu beobachten sind, oder c) sekundäre Folgewirkungen für die Solidargemeinschaft entstehen. Der Großteil der Individuellen Gesundheitsleistungen gehört folgerichtig nicht zu den Kassenleistungen, da sie die Solidargemeinschaft unnötig belasten würden. Diese kann und soll individuelle Lifestyle-Leistungen ebenso wenig tragen, wie Leistungen, deren Wirksamkeit keine Evidenz aufweisen. Was ist also das Kriterium, an dem sich ärztliche Tätigkeit messen muss? Ist es, dem „WANZ“-Prinzip folgend, der schonende Umgang mit Ressourcen, das heißt, nach SGB V „wirtschaftliche, ausreichende, notwendige, und zweckmäßige“ Leistungen anzubieten? Oder ist es das prinzipielle Orientierungsmuster, bevorzugt Leistungen mit eindeutiger therapeutischer Indikation anzubieten? Die Antwort einer bedürfnisorientierten Medizin lautet: weder noch! Vieles deutet darauf hin, dass nur das Einhalten professioneller Standards – auch im Bereich der Selbstzahlermedizin – ein zentrales Leitprinzip der Medizin sein kann. Denn
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obwohl das Feld der kommerziellen Medizin umstritten bleibt, deutet sich Konsens darüber an, dass im Rahmen einer umfassenden und transparenten Patientenaufklärung sowie der Einhaltung ethischer Prinzipien auch Platz für bestimmte Zusatzleistungen bleiben kann, die weder eindeutig der Behandlung von Krankheit dienen, noch im strengen Sinne dem WANZ-Prinzip entsprechen. Dies gilt für „Grenzleistungen“ aus dem GKV-Katalog (wie etwa Gesundheits-CheckUps) ebenso wie für kommerzielle Leistungen. In der Zusammenschau ist es derzeit noch nicht endgültig abzusehen, ob der zu verzeichnende Trend innerhalb der Medizin zu einer weiteren Ausdifferenzierung des Arztberufes führen wird und ob sich die Profession partiell als stärker marktorientiertes Gewerbe neu definiert. Es deutet sich allerdings tendenziell an, dass es zu einer Vereinheitlichung und einer zunehmenden Regulierung des zweiten Gesundheitsmarktes durch professionelle Standards, wie etwa die Kodifizierung von Leitlinien, kommt – dies zumindest im Rahmen von vertragsärztlichen Niederlassungen. Ausnahmen bestätigen hier die Regel: Gerade Ärzte in privater Niederlassung treten oft mit einer viel offensiveren Kundenorientierung auf und vermarkten insbesondere Leistungen jenseits der Krankheitsbehandlung mit besonderem Engagement. Vermutlich werden sich daher solche Leistungen, die in der Medizinethik der viel diskutierten Wunsch- oder Verbesserungsmedizin zuzurechnen sind, weiterhin nur über die „Hintertür“ bestimmter Legitimationsmuster („ästhetische Indikation“, „Leidensdruck“ etc.) „einschleichen“ können, um ärztliches Handeln auch in einer post-hippokratischen Praxis weiterhin legitimieren zu können In Bezug auf die Ausweitung des ärztlichen Angebotsspektrums prognostiziert der Jurist Wolfram Eberbach, der sich mit rechtlichen Aspekten einer wunscherfüllenden Medizin auseinandergesetzt hat, folgendes: „Indem sich die medizinischen Möglichkeiten – außerhalb des Bereichs des Heilens und Helfens – mit dem Markt vermählt haben, wird auch ohne besondere prophetische Gaben deutlicher als je zuvor: Die Medizin wird sich zunehmend aufspalten in die klassische heilende, lindernde, Leiden begleitende Medizin und die moderne wunscherfüllende, verbessernde, selbststilisierende Medizin: Die eine wird kurierend sein, die andere konsumierend. Die eine wird ethisch fundiert sein, die andere im weiten Sinne ästhetisch. Die eine wird der Humanität verpflichtet sein, die andere der Egozentrik. Die Medizin wird damit in den nächsten Jahren ihr Gesicht grundlegend verändern.“ (Eberbach 2008:336)
Eine derartige Entweder-oder-Prognose erscheint mir angesichts der Erkenntnisse der vorliegenden Studie nicht wahrscheinlich. Zwar ist es faktisch bereits
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heute so, dass sich Bereiche wie die ästhetische Chirurgie teilweise von therapeutischen Feldern wie der plastisch-rekonstruktiven Chirurgie abgespalten haben und gezielt eine Nachfrage im Lifestyle-Bereich bedienen. Doch auch hier lässt sich, wie ich gezeigt habe, eine Legitimationsrhetorik feststellen, die auch diesen Bereich als „heilende Medizin“ legitimiert sehen will. Die Aufspaltung in eine klassische heilende Medizin einerseits, und eine verbessernde wunscherfüllende Medizin andererseits, scheint nicht mit bestehenden normativen Legitimationsmustern vereinbar. Vielmehr zeigen sich eben auch in anderen Praxisbereichen Auflösungen von Grenzen und Verwischungen von Zielsetzungen. Die Sowohl-als-auch Logik zwischen Heilung, Prävention und Lifestyle-Medizin, zeigt auch, dass eben nicht mehr nur danach gefragt wird, ob eine Leistung tatsächlich therapeutische Zielsetzungen verfolgt, sondern danach, ob die Praxis der Angebotsstellung im Kontext eines Systems, das zunehmend auf Privatfinanzierung angewiesen ist, noch als seriös und vertrauenswürdig, als „ethisch fundiert“, gelten kann. Es bilden sich dabei neue Handlungsnormen heraus, die im Geiste der Entwicklung in Richtung eines Informed-Consent-Modells, vor allem auf transparente und gemeinsam getroffene Entscheidungswege setzen. In einer hochmedikalisierten Gesellschaft, in der sämtliche Bereiche der Lebensführung und alle Lebensphasen von gesundheitlichen und/oder medizinischen Abwägungen begleitet werden, ist eine totale Sphärentrennung zwischen kurativer und gesundheitsverbessernder Medizin kaum noch sinnvoll. Es ist eine paradox anmutende Situation: Die zunehmende Medikalisierung führt zu einer Entgrenzung von Medizin und Markt, aber allein die medizinische Professionalität, als einem der Medikalisierung zugrunde liegendem Strukturelement, wirkt hier als Regulativ. Damit sind die Ärzte selbst das „letzte Hemmnis einer rationalisierten medizinischen Marktwirtschaft“ (Unschuld 2009: 65). Diese Erkenntnis hat durchaus appellativen Charakter. In einem Klima, in dem die ärztliche Praxis zunehmend begründungspflichtig wird, in dem einerseits eine Einschränkung des Leistungsumfangs der GKV und andererseits eine Übertherapeutisierung beklagt wird, trägt die Konstituierung eines kommerziellen zweiten Gesundheitsmarktes, der mit der Zunahme vom Leistungen jenseits einer evidenzbasierten Krankheitsbehandlung korrespondiert, zu einem Glaubwürdigkeitsproblem bei. Eine stabile professionelle Ethik ist daher gerade im Kontext einer bedürfnisorientierten Medizin wesentlich und unabdingbar.
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