Materielle Spuren des nationalsozialistischen Terrors: Zu einer Archäologie der Zeitgeschichte 9783839439678

There are only few contemporary witnesses left who can provide information about the conditions in the former camps of N

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German Pages 520 Year 2017

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Table of contents :
Inhalt
1. Einleitung
2. Zur Dinglichkeit von Texten, Bildern und Gegenständen
3. ZeitzeugInnen und Zeitzeugnisse
4. Evokation und Narration
5. Komparatistik: Notwendigkeit einer Unmöglichkeit
6. Gegenwärtige Vergangenheiten
7. Epilog
Zur Entstehung dieses Buches
Bibliographie
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
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Materielle Spuren des nationalsozialistischen Terrors: Zu einer Archäologie der Zeitgeschichte
 9783839439678

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Reinhard Bernbeck Materielle Spuren des nationalsozialistischen Terrors

Histoire | Band 115

Reinhard Bernbeck ist Professor für Vorderasiatische Archäologie an der Freien Universität Berlin und Professor Emeritus der Binghamton University, NY, U.S.A. Er forscht zu ideologischen Aspekten der Archäologie und hat neben Ausgrabungen an Orten des 20. Jahrhunderts in Deutschland u.a. Grabungsprojekte zur Vorgeschichte in der Türkei und Turkmenistan geleitet.

Reinhard Bernbeck

Materielle Spuren des nationalsozialistischen Terrors Zu einer Archäologie der Zeitgeschichte

Das vorliegende Buch entstand durch die großzügige Unterstützung des William C. and Ida Friday Fellowship des National Humanities Center, North Carolina, U.S.A.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Beschriftetes Faserzementplattenfragment aus einer Planierschicht des Weserflug-Lagers am Columbia-Damm, Berlin-Tempelhof; Foto: Jessica Meyer/Landesdenkmalamt Berlin Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3967-4 PDF-ISBN 978-3-8394-3967-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

1. Einleitung | 7

Die Welt der Dinge und ihre Verweismodi | 8 Opfer und Täter, Kategorien und Realitäten | 18 Darstellungsformen und Standpunktprobleme | 21 Das Tempelhofer Flugfeld in Berlin: Eine Chronik | 26 Zu den Ausgrabungen in Tempelhof | 35 2. Zur Dinglichkeit von Texten, Bildern und Gegenständen | 43

Archivmaterial und Materialität des Archivs | 44 Fotografien: Zwischen Transparenz und Materialität | 58 Das KZ Columbia und SS-Fotografien | 67 Fotografie und Archäologie | 81 Worauf Dinge verweisen | 92 Gegenstände als historische Quellen | 97 3. ZeitzeugInnen und Zeitzeugnisse | 109

Zeitzeugenschaft und Historiographie | 111 Zeitdifferenz und die (Un-)Möglichkeit des Bezeugens | 121 Archäologisches Bezeugen | 129 Zeigen heißt Verschweigen | 140 Anonymität und Dinglichkeit | 146 Gebrochene Temporalitäten und materielle Welt | 155 Der Fall Berlin-Dahlem und die New Forensis | 160 4. Evokation und Narration | 175 Nacherleben und Evokationsszenarien | 177 Über Zeithöfe | 186 Die Auflösung der dinglichen Beiläufigkeit | 189 Grenzen der Evokation | 199 Metaphorik und Evokation | 208 Von Evokationsgegenständen zur historischen Erzählung | 217 Ortsgenealogie als Erzählform | 223 Normale Wissenschaft als wissenschaftliche Normalisierung | 226 Unterbrochenes Leben, zerbrochener Diskurs | 233 Materialität als Subjektivierungsrahmen | 241

5. Komparatistik: Notwendigkeit einer Unmöglichkeit | 251 Singularität, Vergleich und historische Systematisierung | 252 Archäologie und der Vergleich politischer Systeme | 254 Raumtypologische und biopolitische Vergleichslogiken | 260 Antagonismus als Vergleichsbasis | 273 Leiden, Handlungspotenzial und Archäologie | 287 Struktur und „Agency“, Gesellschaft und Subjekt | 288 Ausdrucksgrenzen der Wissenschaft und künstlerisches Potenzial | 301 Die niemals abgeschlossene Vergangenheit | 313 6. Gegenwärtige Vergangenheiten | 323

Zeitliche Schichtungen | 325 Zwischen doppeltem Gedenken und Erinnerung als Ware | 333 Unerwartbares Erinnern: der archäologische Beitrag | 346 Räumliche Erinnerungshegemonien | 351 Archäologie und „Incorporated Memory“ | 359 Positionalität und das „Unbehagen“ an der Erinnerung | 367 Sprache und historische Genauigkeit | 378 Ausgrabendes Erinnern | 385 Medialisierung der Erinnerung im Film | 400 Vergangenheit und Erinnerung im elektronischen Zeitalter | 409 7. Epilog | 415

Zukünftige Praxis | 415 Geschichtliche Materialität, Minoritäten und Migration | 421 Zu den Grenzen moralischer Gemeinschaften | 429 Zur Entstehung dieses Buches | 437 Bibliographie | 441

Archivalien | 507 Abbildungsverzeichnis | 509 Tabellenverzeichnis | 517

1. Einleitung Der Ausdruck des Geschichtlichen an Dingen ist nichts anderes als der vergangener Qual. (ADORNO 1980, 55)

Weizen- und Rapsfelder, schattige Wälder, Blumen in den alten Dorfbrunnen und nostalgische Verzierungen in den Kneipen, Kleinstädte mit schmucken Fachwerkhäusern und mittelalterlichen Kirchen – wehe, wenn wir uns die Bilderbuchgegenden Deutschlands näher ansehen. Dann stellt sich heraus, dass die Wälder seit dem Zweiten Weltkrieg munitionsverseucht sind, dass in den Mittelgebirgen Tunnel in ein Nichts führen, wo früher ZwangsarbeiterInnen gequält wurden, dass der Tennisverein in der Kleinstadt die ehemalige Baracke eines KZ-Außenlagers benutzt. „Dieses Wohngebäude diente von 1877 bis 1937 der jüdischen Gemeinde Nidda als Synagoge“, steht unschuldig an einem zweistöckigen Haus in Nidda in Hessen. Dort wurde der jüdische Gemeindevorsteher Emanuel Eckstein von Schulkindern 1939 durch das Dorf getrieben bis er tot zusammenbrach. Müsste es nicht wenigstens heißen: „Diese Synagoge enteigneten Nationalsozialisten, seitdem ist sie in ein Wohnhaus“? Eine andere Region, ähnliche Ergebnisse: Wer sich für den Ort des ehemaligen Arbeitserziehungslagers mit seinen KZ-ähnlichen Bedingungen in Fehrbellin in Brandenburg interessiert, findet bei Google Earth leicht heraus, dass hier bis zum Jahr 2000 eine unberührte Grünfläche mit Barackenresten war, die danach eingeebnet wurde und heute als Silage für einen Bauernhof dient (s.a. Pagenstecher 2004, 106–110). Nichts mehr erinnert an die sadistischen Ausfälle der Aufseherinnen, nichts auch an die Todesopfer, die dort zu beklagen waren. Solche Beispiele ließen sich endlos fortsetzen. Es ist die Aufgabe der Archäologie, durch Ausgrabungen und oder Fernerkundungsmethoden diese verschütteten Orte der Verbrechen aufzudecken, über die wir auf Schritt und Tritt hinweglaufen. Deutschland ist, wie Martin Pollack (2014) formuliert, eine „kontaminierte Landschaft.“ Um in diesem Bild zu bleiben: eine Dekontaminierung kann es nicht geben. Verbrechen gegen die

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Menschheit verjähren nicht. Eine Archäologie der Nazi-Zeit kann die vergessen geglaubten Verhältnisse von Ausgrenzung und Mord wieder sichtbar machen und zur Reflexion über historische Verantwortung und ihre politischen Konsequenzen beitragen. Mit „Erbschuld“ hat dies nichts zu tun. Es geht vielmehr um ein genaues Hinsehen, auch um ein Hören auf die Schreie der Opfer, die an den Orten vergangener Verbrechen nicht verhallen wollen. Lange war Verdecken und Verschleiern auch aus persönlicher Angst vor Verfolgung und Gerichtsprozessen gängige Praxis. Heute ist diese Angst aus biographischen Gründen fast gänzlich verschwunden, und doch schwelen vage Verdachtsvorstellungen transgenerationell weiter. Wenn – meist unerwartet – aus Mutmaßungen Wissen wird, ob im individuellen Leben wie bei Günter Grass, Robert Jauß und anderen, oder im institutionellen Bereich, wie bei Rohrverlegungen an der Zentralbibliothek meiner Universität im Jahre 2014 (s.S. 160–174), flammen Dispute wieder auf, die manche gerne endgültig verstummt sähen. Eine Archäologie der Nazi-Zeit behindert ein solches allmählich sich ausbreitendes Schweigen. Ich habe öfter den Vorwurf gehört, diese Tätigkeit des Ausgrabens, die die Zehntausende von Lagern und anderen Orte der nationalsozialistischen Verbrechen als Ziel nimmt, überfordere aufgrund der schieren Menge an potenziellen Grabungsstellen die Menschen. Überfordern? Das ist wohl keine angemessene Aussicht für ein Land, das sich angeschickt hatte, die gesamte Welt mit seiner rassistisch-mörderischen Ideologie umzukrempeln, daran aber in Stalingrad und danach durch ein radikales sowjetkommunistisches Heer samt den West-Alliierten gehindert worden war. Der Wunsch nach einer „Historisierung“, nach einem hermetischen Verschluss der Vergangenheit im Kühlschrank der rationalen Wissenschaft wird immer wieder geäußert. Doch die damit einhergehende komplette Objektivierung der Entrechtung von Minderheiten, der Folter und des Massenmords kann gar nicht deutlich genug zurückgewiesen werden. Die „präzedenzlose Katastrophe“, der „Gattungsbruch“ (Zimmermann 2005, 32–43) schließt nicht nur historisch vergleichslose Verbrechen ein, sondern lässt die traditionelle Art, Geschichte in Erzählungen wiederzugeben, selbst problematisch werden. Kurzum: es darf und kann keinen Abschluss geben.

D IE W ELT

DER

D INGE

UND IHRE

V ERWEISMODI

Mir geht es in diesem Buch nicht darum, ein spezifisch archäologisches oder rein auf Materialität gegründetes Bild von Ausgrenzung, Erniedrigung und Terror der Nazi-Zeit zu zeichnen, welches in einer von anderen Quellen gänzlich

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unabhängigen Weise erstellt werden könnte. Dies kann die Archäologie aufgrund der Besonderheiten des von ihr untersuchen Materialbestands nicht leisten. Im Zentrum meines Bemühens steht vielmehr allein der Erkenntnisgewinn, welcher sich durch die Integration archäologisch-materieller Evidenz in die allgemeine Beschäftigung mit dieser Epoche ergibt. Den Maßstab für den Sinn archäologischer Bemühungen gibt allerdings ebenso wenig diese Integrationsfähigkeit materieller Reste in einen schon bekannten geschichtlichen Rahmen ab. Vielmehr zeigt sich bei der Auseinandersetzung mit den im Boden verbliebenen Objekten, dass gleichzeitig zu historischen auch ethische Aspekte des Bezeugens eine Rolle spielen, ebenso wie die Beschäftigung mit der Ausstrahlung, die von archäologischen Funden ausgeht. Für eine solche Herangehensweise, die unterschiedliche interpretative Dimensionen der gegenständlichen Welt einbezieht, sind Vorkenntnisse notwendig. Im Falle der Jahre 1933 bis 1945 über Strukturen und Institutionen, aber auch über lokal zuständige Nazi-Offizielle und deren Handlanger, über Mitglieder der willig folgenden „Volksgemeinschaft“ und natürlich die Ausgeschlossenen, Verfolgten und Ermordeten. Hier müssen weiträumig Erkenntnisse und Positionen außerhalb der „Disziplin“ Archäologie einfließen. Disziplinäre Mauern sind jedoch, wie ich im akademischen Bereich allzu häufig erfahren darf, eine der größten Behinderungen, welche eine ernsthafte und gleichzeitig freie Auseinandersetzung mit den dunkelsten Zeiten Mitteleuropas und der gesamten Weltgeschichte verunmöglichen können. Wie stark die ungeprüften Vorurteile gegenüber jeder ungewohnten Ausweitung eines Faches wie der Archäologie sein können, sei hier mit einem Zitat des Archäologen Bernd Herrmann (2006, 55) belegt: „Neuerdings beginnt sich die Archäologie in die Gegenwart vorzugraben. Die so genannte zeitgeschichtliche Archäologie ist eine junge Disziplin. […] Wir wissen genug über die jeweilige Zeit, ihre Einrichtungen, Bräuche; eine Grabung bringt keinen wirklichen Erkenntnisgewinn. Dass die zeitgenössische Archäologie dennoch an Bedeutung gewinnt, hat mit der Suche nach Wurzeln zu tun, mit dem Glauben, man könne Dinge erst dann wirklich ‚begreifen‘, wenn man sie ausgrabe und in der Hand halte. Mit Wissenschaft hat das wenig zu tun.“

Ich hoffe, diesem naiven, von Unkenntnis der historischen Diskussionen geprägten Vorurteil einen Riegel vorzuschieben, wozu mir Reflexionen zu Materialität, Zeitzeugnissen, Geschichte, Archäologie, Darstellungsstrategien, zur historischen Verantwortung und Erinnerung dienen (s.a. Olivier 2008, 98–99). Diese Wissenschaftsfelder haben allerdings deutlich unterschiedliche, historisch situ-

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ierte Anliegen. So dominiert in der Archäologie nach wie vor der Glaube an „Objektivität“ als Wahrheit, eine naive Haltung, die problematisiert werden sollte. In den Geschichtswissenschaften hingegen hat sich durch den Einfluss der mediatisierten Erinnerungsdiskurse der Wahrheitsanspruch längst als brüchig erwiesen. Gerade aus einer transdisziplinären Position heraus ist es in jeder Hinsicht beschämend, dass die Archäologie als eine Wissenschaft, die sich vor allem mit materiellen Hinterlassenschaften auseinandersetzt, die Nazi-Zeit bis vor 20 Jahren weitgehend beschwiegen hat. Diese blamable Situation gereicht dem Fach auch noch zum Vorteil, denn nunmehr können wir auf über 70 Jahre historische Diskurse, auf Tausende von Berichten von ZeitzeugInnen, auf Bewertungs- und Begrifflichkeitsdispute sowie auf eine intensive Auseinandersetzung mit der Selektivität und den Unschärfen des kollektiven Gedächtnisses in anderen Disziplinen zurückblicken. Das bedeutet aber auch die nachhaltige Beschäftigung mit den philosophischen, historischen und anderen Diskursen, die in eine Archäologie der Nazi-Zeit hineinspielen müssen. Von den vielfältigen Fragen, die sich in einem solchen Kontext ergeben, kann dieses Buch nur einige wenige aufgreifen, die ich als zentral ansehe. Zudem, und hier sind wir im spezifisch Archäologischen, sollte die materielle Kultur der Neuzeit nicht als eindimensionaler „Quellenbestand“ betrachtet werden. Auch wenn, wie oben vermerkt, die Dinge gar nicht einmal im Mittelpunkt unseres Diskurses stehen müssen, können sie doch unter verschiedenen Perspektiven jeweils spezifische Anhaltspunkte für die rezente Vergangenheit enthalten. Paola Filipucci beschreibt für Objekte einer Archäologie des Ersten Weltkriegs zwei Herangehensweisen. In Anlehnung an Pierre Nora gesteht sie Dingen eine geschichts- und eine gedächtnisorientierte Dimension zu. Sie verweist darauf, dass das Verständnis von „Zeugen“ sowohl den Kontext der harten Fakten betrifft als auch im empathischen Sinne von „Zeugnis ablegen für andere“ verstanden wird (Filipucci 2012). Diese tentativ formulierte Zweisprachigkeit der Objekte erweitere ich in Kapitel 2 und bezeichne mögliche Interpretationspotenziale der Dinge als ihre Verweismodi. Ich erläutere drei solcher Modi, die Quelle, den Zeugnis bzw. Bürgschaftscharakter und das Evokationspotenzial. Diese Mehrdimensionalität des Materiellen lässt eine traditionelle Quellenkritik als nicht mehr ausreichend erscheinen. Nehmen wir Dinge als Quellen für die Vergangenheit, so können wir bei gut erhaltenen archäologischen Kontexten ausführliche Auskünfte über Ablagerungsprozesse und potenzielle Nutzungen der Gegenstände rekonstruieren. Caroline Sturdy Colls (2015) hat dies gerade in einer fast lehrbuchartigen Abhandlung demonstriert, die spezifisch auf Orte des Holocaust zugeschnitten ist. Claudia Theune (2014) lieferte rezent eine Übersicht der archäologischen Erfor-

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schung von Orten des 20. Jahrhunderts, die sich ebenfalls hauptsächlich mit der Nazi-Zeit beschäftigt. Diese Ansätze sind wichtig und fördern zweifellos eine Auseinandersetzung mit der Materialität der Ausgrenzung und des Massenmords im Nationalsozialismus. Dennoch stehe ich der bisherigen Archäologie, die sich mit der Nazi-Zeit beschäftigt, kritisch gegenüber. Denn deren Vorgehen ist weithin objektivistisch, empirisch und eng datenbezogen. Diese Archäologie nimmt denselben Ausgangspunkt wie vor vielen Jahren Raul Hilberg (1961) in seiner historischen Bestandsaufnahme des Holocaust: Sie beginnt mit dem Sichten der Daten, in diesem Falle der archäologischen. Eine solche Herangehensweise führt allerdings bislang nur zu einer Affirmation von gegenständlichen Präsenzen des Vergangenen, sie ist eine Archäologie des Materiellen rein als historische Quelle. Sie führt uns zu Details von Baracken, Luftschutzkellern oder Vernichtungsanlagen, Kleidungsstücken, Spielzeugresten und Armaturen aus Bombercockpits. Doch eine schlichte Identifizierung der Dinge reicht nicht aus, schon gar nicht für eine geschichtliche Epoche wie die Nazi-Zeit. Wie ich in Kapitel 2 anhand eines einzelnen Dokuments zu zeigen versuche, kann der archäologische Blick auf Schriftquellen auch zu ganz anderen weitreichenden Einsichten führen. Zudem führe ich aus, dass man mit einer archäologisch-materiellen Inspektion von Photographien auch dem überkommenen Bildbestand manchmal erstaunliche Informationen entreißen kann. Gegenstände sind jedoch nicht nur Quellen. Sie werden ebenso zu Bürgen von Vergehen und Verbrechen, deren Täter nicht nur die meist brutalen Mitglieder von Nazi-Organisationen wie der SS und SA waren. Vielmehr kann es sich um eine organisierte Verkettung von Menschen, anderen Lebewesen und Dingen handeln: ArchitektInnen als Designer von Zwangsarbeitslagern, Handlampen und die sie benutzenden Wachmannschaften, scharfe Hunde, Gärtnereien, die Tarnpflanzungen anlegten, Vorhängeschlösser, Wasserleitungen und Stacheldraht können sich zu einem Repressionsensemble fügen. Archäologie verfehlt ihr Ziel, wenn sie solche Assemblagen ausschließlich beschreibt, statt sie im Sinne einer New Forensis zu analysieren. Ich übernehme diese Begrifflichkeit und ihre Implikationen von Eyal Weizman (2014), der unter New Forensis Bemühungen zusammenfasst, die in der Geschichte tief verankerten Ungerechtigkeiten aufzuklären. Dinge werden – ähnlich wie die ZeitzeugInnen – dabei zu Bürgen für Willkür und Verbrechen. Ich leite diese Dimension des Dinglichen in Kapitel 3 aus den Diskussionen um die Entwicklung der Zeitzeugenschaft der NS-Opfer in der Nachkriegszeit ab. Auf dieser Ebene hat die gegenständliche Welt einen Bürgschaftscharakter, der insofern partikular ist, weil das Archäologische fragmentarisch bleibt, der Vergessenheit des Bodens entzogen werden muss, und weil diese gegenständliche Welt von einem beunruhigenden Schwei-

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gen der Anonymität durchzogen ist. Der Umgang mit den materiellen Resten muss den Modus der historischen Quelle überwinden, wollen wir nicht in einer kalt verdinglichenden Vergangenheitskonstruktion enden. Dabei sei angemerkt, dass die Auseinandersetzung mit Opfern historischer Verbrechen, ja mit Subjekten überhaupt der Archäologie in ihrer traditionellen verwissenschaftlichten Form nach wie vor weitgehend fremd ist. In den letzten Jahren ist sogar ein zunehmendes Abrücken vom Interesse an menschlichen Subjekten festzustellen, was am immer stärkeren Einbeziehen der Naturwissenschaften, vor allem aber am generellen intellektuellen Umfeld liegt. Wo Gegenwarten als Systeme, Assemblagen oder Rhizome gedacht werden, wo Dinge als handlungsbegabt mit Menschen gleichgestellt oder als hybride Mensch-DingEinheiten handlungsfähig werden (Latour 2007), rücken auch Leiden und Unterdrückung, Ungerechtigkeit und Ausgrenzung aus dem Gesichtsfeld (Pollock 2016). Stellvertretend hierfür stehen in der Archäologie der „materiality turn“, die zunehmende Stützung auf Netzwerkanalysen (Brughmans 2013; Knappett 2013) und Arbeiten, die sich auf objektorientierte Ontologien berufen (Webmoor und Witmore 2008; Olsen 2010). Hannah Arendt (2002, 222) bemerkt zur Frage der Handlungsmacht: „Handeln, das in der Anonymität verbleibt, eine Tat, für die kein Täter namhaft gemacht werden kann, ist sinnlos und verfällt der Vergessenheit; es ist niemand da, von dem man die Geschichte erzählen könnte.“ Weiter geführt: wo vergessen wird, dass die präexistierende Welt der Dinge ein Produkt der Menschen selbst ist, wo den Gegenständlichkeiten soviel Handlungspotenzial unterlegt wird, dass der menschliche Wille zu verschwinden droht, dort verwandelt sich die Vergangenheit insgesamt in eine Serie von achselzuckend hinzunehmenden Naturkatastrophen, denen wir gegenüberstehen wie dem Ausbruch des Krakatau. Eine solche wissenschaftliche Welt kennt keine Theodizee-Problematik, sie kennt auch keine Responsibilität für historische Geschehnisse. Vielmehr nehmen letztere den Charakter von Naturereignissen an. Hannah Arendts Interesse an Handlungen ist dagegen getrieben von deren politischer Dimension, die abhängt von der spezifischen Position tätiger Menschen bzw. derjenigen, die von den Tätigkeiten anderer betroffen sind. Im Hintergrund dieses Denkens steht die Idee historischer Verantwortung. Archäologische Reste sind nun aber größtenteils anonym. Individuelle Schicksale sind kaum je auszumachen, selbst da, wo uns ein Objekt als einer Person zugehörig entgegentritt. Das paradoxe Unterfangen einer Betrachtung der Dinge als Bürgen besteht darin, aus der anonymen Dingwelt so viel Aufschluss zu ziehen, dass menschliche Schicksale – von Opfern und Tätern – auch ohne endgültige Namhaftmachung aus dem Nebel des Vergessens zurückkehren. Knöpfe, Marken, Geschirr verweisen auf Menschen, deren Individualität uns allerdings fast immer

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entgeht. Doch wo heute im wissenschaftlichen Diskurs „Aktanten“ handelnde Personen samt ihrer Verantwortung verschwinden lassen, ist Hannah Arendt meines Erachtens in ihrer Ablehnung alles Anonymen allzu fixiert auf direkt und gegenwärtig beobachtbare Relationen zwischen konkreten Individuen. Die archäologische Anstrengung einer – tatsächlich fast regelhaft erfolglosen – Entanonymisierung verhindert zumindest das von Arendt befürchtete Vergessen. Eine Archäologie, die ihre Funde und Befunde im Sinne einer Bürgschaft begreift, stellt die Frage nach historischer Verantwortung, unerschütterlich und unbeirrbar von aller Erfolglosigkeit bei der Suche nach untergegangener Individualität. Ein dritter Verweismodus der Dinge ist deren Evokationspotenzial. Nochmals zurück zu Dingen als historische Quelle: Deskriptives Nicht-Interpretieren ist immer selbst schon ein Interpretieren. Im Falle der Nazi-Zeit riskiert die Deutungsenthaltsamkeit gar, Menschheitsverbrechen herunterzuspielen und zu verharmlosen, um der wissenschaftlichen Objektivität und des Sich-Abgrenzens gegenüber dem vermeintlich „Spekulativen“ willen. Wenn das Nicht-Beweisbare ungesagt bleiben muss, wir aber doch um die Ubiquität von Gewalt und Grausamkeit der rassistischen „Volksgemeinschaft“ wissen, begeben wir uns nicht in einen fatalen Zirkel des organisierten Verschweigens? Warum sollten wir dieses allgemeine Wissen aus der Interpretation der materiellen Evidenz ausgrenzen, nur um Menschen, die möglicherweise Täter waren, im Nachhinein kein Unrecht zu tun? Irrten wir uns aber mit einer solchen Ökonomie der Interpretation, bedeutete dies, den Opfern post factum Unrecht zu tun – zweifelsohne eine ethisch bedenklichere Einstellung als das Beharren auf reinem Beschreiben (Bernbeck 2015). In diesem argumentativen Minenfeld gibt es keine einfach begründbare und prinzipienfeste Position. Ich halte es dennoch für angemessen, als dritten Verweismodus der Dinge (neben den schon genannten Aspekten Quelle und Bürgschaft) ihr Evokationspotenzial einzubeziehen. Mit den intellektuellen Hintergründen für diese Art der Lesung von Dingen im Sinne eines „Nacherlebens“ setze ich mich in Kapitel 4 unter Rückgriff auf Schriften von Dilthey, Husserl und Heidegger genauer auseinander. Dabei geht es um einen Zeitsprung unter spezifischen Bedingungen, die ich im Einzelnen erläutere. Dinge beschwören Vorstellungen über vergangene Welten herauf und erzeugen Bilder anderer Verhältnisse. Diese evokative Kraft, bei Walter Benjamin auch als „Aura“ beschrieben, wird oft erwähnt jedoch selten präzisiert. Ich frage nach: was ist der Inhalt des Evokativen? Kann er in explizite Darstellungen umgesetzt werden, und wenn ja, in welcher Form? In Kapitel 4 zeige ich anhand konkreter archäologischer Fundgegenstände unterschiedliche Arten von Evokationsprozessen und -szenarien auf.

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Oberflächlich mag die Integration der Imagination, erst recht aber die Darlegung dieses Potenzials in vorgestellten Szenarien als prätentiös und unwissenschaftlich erscheinen. Doch ohne diese historische Imagination produzieren wir nichts als verharmlosende, ereignislose dingliche Reste einer im grauen Nebel der Zeit schon halbwegs entschwundenen Vergangenheit. Wir sollten Zeitzeugnisse und andere Hinweise produktiv in einer Form der Historiographie zusammenführen, die sich nicht scheut, die Imagination in kontrollierter, ethisch verantwortungsvoller Weise einzubeziehen (s.a. Gilead 2015). Ich meine zudem, dass dies nicht nur für eine Archäologie des 20. Jahrhunderts und der Nazi-Zeit gelten sollte, sondern als Herangehensweise auf die materiellen Reste der gesamten Menschheitsgeschichte auszudehnen ist. Die Auseinandersetzung mit einem Randgebiet, nämlich der Archäologie des 20. Jahrhunderts, kann und sollte durchaus Konsequenzen für Archäologie im Allgemeinen haben. Dinglich fokussierte Geschichte ist einerseits abgeschlossen, weil sie auf unhintergehbaren, rahmensetzenden Materialresten basiert, andererseits aber offen aufgrund der vielen im Material enthaltenen Unwägbarkeiten der flüchtigen Momente eines entschwundenen Alltags, dem Hauptarbeitsfeld einer solchen Archäologie. Wenn ich für einen an Elementen der Alltagsgeschichte angelehnten Ansatz für die Auseinandersetzung mit der Dinglichkeit der NS-Zeit plädiere, kann dieser also weder routiniert-empirisch ausfallen noch darf er von Empathie vollkommen dominiert sein. Das Verarbeiten von Dingen und Texten zu historischer Bedeutung ist keine systematische, sachliche Tätigkeit, bei der einzelne Komplexe der Objektwelt auf das, was ich als Verweismodi bezeichne, mechanisch-methodisch „abgeklopft“ werden können. Ich beschäftige mich in den folgenden Kapiteln auch mit der Kritik an solchen Herangehensweisen und erwähne hier nur einen Aspekt: Gefahren einer auf Empathie basierenden Interpretation zeigt ein traditionell-linear erzählender Historiker wie Christopher Browning auf, wenn er im Detail anhand von Täterzeugen den unermesslich brutalen Mord an über 1500 Juden in Józefów im heutigen Ost-Polen im Juli 1942 beschreibt und resümiert: „Historians of the Holocaust, in short, know nothing – in an experiential sense – about their subject“ (Browning 1992b, 24). Es gibt keinerlei hermeneutischen Zugang zu dieser Geschichte, weder auf Opfer- noch auf Täterseite. Auch wenn das grundsätzliche Vermögen des Menschen zum Nacherleben der Taten und Leiden anderer wohl nicht abzustreiten ist, kann diese Fähigkeit auf derart grausame Extremsituationen nicht mehr übertragen werden. Es gibt Grenzen der Imagination, die nicht überschreitbar sind, es gibt Schranken für das Evokationspotenzial der materiellen Welt. Ist es nicht schon eine Anmaßung, zu meinen, man könne sich in die Lage von ZwangsarbeiterInnen einfühlen? „Der Satte versteht den Hungri-

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gen nicht“, behauptet ein Sprichwort. Die hieraus folgende These einer weitgehenden – für den Holocaust einer grundsätzlichen – Nichterzählbarkeit solcher Geschichte fußt auf der Überzeugung, dass das Leiden (aber auch die Handlungen der Täter) sich jedem Nacherleben sowie einer verstehenden Nacherzählung verweigern. Es gab schließlich nichts zu verstehen für die Opfer der NaziPolitik, weswegen es aus dieser Perspektive auch heute nichts daran zu verstehen gibt. Das ist letztlich der Grund für das bekannte Adorno-Diktum, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben sei barbarisch, und die Basis für Claude Lanzmanns Ansicht, die Geschichte der Shoah sei allein durch Erinnerungen der Betroffenen, nicht aber traditionelle historische Zeugnisse aus Archiven vermittelbar (Lanzmann 2000, 103–104). Ich folge dieser Auffassung weitgehend, die schon Theodor Lessing (1921) vor seiner Ermordung durch die Nazis geäußert hatte: die historischen Wissenschaften seien ein Sinnstiftungsverfahren dort, wo es eigentlich keinen Sinn geben kann. Das lässt sich insbesondere anhand der Vorgänge im „Dritten Reich“ verdeutlichen. Denn die Verfolgten und Ausgegrenzten konnten, wie gesagt, ihr Leiden nicht als begründet verstehen. Noch nicht einmal rationale Versuche dieser Opfer, das eigene Leiden zu lindern durch den Versuch eines Hineinversetzens in die Logik ihrer Mörder hatte irgendeinen Effekt; Dan Diner (1988) diagnostizierte dies treffend als den „Zivilisationsbruch“ der Nazis. Was bedeutet diese komplizierte Ausgangslage dann für eine Archäologie, die sich mit der Nazi-Zeit auseinandersetzt? Vielleicht ist das einfache Beschreiben der dinglichen Reste doch angemessener als das Imaginieren des so offensichtlich Unvorstellbaren? Beschränken wir uns auf das typisch Archäologische, Trümmer und Fragmente, lichten es ab und reproduzieren es, so ließen sich damit drastisch die gebrochenen Leben, aber auch all die Lücken der sinnlosen Zerstörung deutlich machen. Archäologie würde zur Metapher der Geschichte auf dem Niveau des historisch unwiderruflich Geborstenen, aber auch auf dem Niveau des bruchstückhaften Wissens selbst. Das Verfolgen eines solchen Ansatzes bedürfte allerdings einer strengen und andauernden Erinnerung daran, dass eine derartige Deskriptivität ein Akt der Verzweiflung und nicht der geistigen Trägheit ist. Ich meine, dass sich eine solche historiographische Einstellung nicht durchhalten lässt. Diese Lösung ist ungangbar. Um als kritische Wissenschaft zu gelten, muss die Archäologie der Nazi-Zeit eine dialektische werden: sich mit dem Nicht-Gefundenen beschäftigen statt allein Datenbanken der Objekte zu erstellen; die Namenlosigkeit des Erschlossenen thematisieren statt sich nur im narrativen Bereich auf archivarisch bekannte Personen zu verlassen; die fundamentale Mehrdeutigkeit des Wissens problematisieren statt sich auf kleine Inseln epistemischer Gewissheit zurückzuziehen; sich den Strategien des Ver-

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drängens von Gewalttaten und Traumata widmen, statt schlicht auf die Wiedererinnerung des „Da–war–ein–Lager“ hinzuarbeiten. Solch eine kritische, dialektische Archäologie negiert keinesfalls die Möglichkeiten, auf der Basis von Ausgrabungen Geschichte zu schreiben, nur kann deren Form nicht in einer traditionellen, linearen Erzählung verbleiben. Allein die historischen Wissenschaften reichen nicht aus, um die Frage nach Methoden einer Archäologie des Nationalsozialismus zu beantworten. Ohne TraumaPsychologie oder die Bild- und Literaturwissenschaften, die sich mit Repräsentationen sowie Grenzen und Unbeständigkeiten beschäftigen, kommen wir nicht aus. In diesen Feldern zeigt sich, dass Generalisierungen über das historisch Partikulare hinaus fast immer in ethischen Problemen münden, für die der sog. Historikerstreit paradigmatisch ist: Vergleiche anderer historischer Ereignisse mit dem Holocaust führen in eine politische Bewertung mit relativierendem Effekt. Eine Archäologie solcher Zeiten kann komparatistische Methoden – wenn man es recht bedenkt, eines der am häufigsten angewandten Interpretationsverfahren zumindest der archäologischen Disziplin – nur nach genauer Reflexion über kontextspezifische Einwände und die Rezeption der Diskussion in anderen Wissenschaften einsetzen. Der wissenschaftliche Vergleich nimmt notwendig eine Stellung der Äußerlichkeit den verglichenen Einheiten gegenüber an. Er kommt daher nicht über die Schwelle des Umrahmens einer Situation hinaus (Pollock und Bernbeck 2016, 27–30), die charakterisiert ist durch eine (im negativen wie positiven Sinne) objektivierende Distanz. Ich komme in Kapitel 5 auf diese Problematik zurück, in dem ich die Vielfalt historischer Vergleichsdimensionen erörtere und eine spezifische Art, die ich als „antagonistischen Vergleich“ bezeichne, für die hier propagierte Archäologie in Betracht ziehe. Ich stütze mich zur Illustration dieser Problematik weitgehend auf eigene Augrabungen in Berlin, insbesondere ein größeres Projekt der Jahre 2012 bis 2014 in ehemaligen Zwangsarbeitslagern und dem KZ Columbia auf dem Tempelhofer Flugfeld. Berlin-Tempelhof wird in dieser Weise eine herausgehobene Fallstudie für archäologische Herangehensweisen an Trauma und Leiden in den Lagern der Nazi-Zeit. Damit vermeide ich zwar den vergleichenden Zugang, doch wie in Kapitel 5 ebenfalls klar werden wird, widerspreche ich mir trotzdem selbst, da durch diese Vorgehensweise der Einzelfall zum pars pro toto zu werden droht, wobei die Funde gar als Ausweis „exemplarischer Schicksale“ gelesen werden könnten. Das Leiden in einem Lager, das Trauma eines Individuums kann jedoch niemals für andere stehen. Nicht nur an diesem Punkt enden meine Überlegungen in einer Aporie: Das Freilegen des Sachbestands an Orten der Nazi-Gewalt führt immer wieder ins Ausweglose. Auch Überlebende haben dies oft

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thematisiert. So meint Elie Wiesel in einem Gespräch mit Jorge Semprun zu den Zuständen in den Lagern, „Schweigen ist verboten, sprechen ist unmöglich“ (Semprun und Wiesel 2012, 18). Wir sollten der Versuchung widerstehen, Aporien dieser Art in geradlinig-rationaler Weise auflösen zu wollen. So ist dieses Buch auch nicht als ein irgendwie gearteter „Leitfaden“ für eine Archäologie der Nazi-Zeit zu verstehen. Den kann es nicht geben. Trotz einer Fokussierung auf die Ausgrabungen auf dem Tempelhofer Feld beschäftige ich mich mit einer großen Bandbreite des Nazi-Terrors, von Konzentrationslagern bis zur Zwangsarbeit. Das hat zur Folge, dass ich die öfter zu bemerkende – und in anderen Zusammenhängen berechtigte – historiographische Einhegung und Fokussierung auf den Holocaust, wie sie in Schriften Raul Hilbergs (2009) oder Saul Friedländers (2007a), und in der Archäologie bei Sturdy Colls (2012, 2015) zum Ausdruck kommt, nicht berücksichtige. Das riesige Lagersystem, welches das NS-Regime zur Ausgrenzung und de facto-Einsperrung großer Bevölkerungsteile in seinem Machtbereich organisiert hatte, hatte eine ebenso große Spannbreite unterschiedlichster Unterdrückungs- und Erniedrigungsgrade bis hin zum Massenmord. Wenn die Nazis bürokratische Unterschiede zwischen Arbeitserziehungslagern und Sterbelagern für Zwangsarbeitende auf der einen und KZ-Außenlagern auf der anderen Seite machten, bedeutet dies nicht, dass erstere grundsätzlich weniger brutal geführt wurden. Eine große Rolle spielt für mich eher die von Saul Friedländer geäußerte Ansicht, man müsse bei allem Streben nach einem historischen Erfassen des Holocaust „dieses anfängliche Gefühl der Fassungslosigkeit“ bewahren (Friedländer 2007a, 26). Trifft dies nicht auf die Geschichte der Zwangsarbeit in NaziDeutschland ebenso zu? Das laufende Projekt des United States Holocaust Memorial Museum, alle Lager der Nazis in einer Enzyklopädie abzuhandeln, ist der Ansatz, der auch meinen Ausführungen zugrunde liegt. Einerseits sind „Endlösung“ und industrialisierte Massenvernichtung von Menschen zweifelsohne nicht vergleichbar mit Zwangsarbeit, Kriegsgefangenenlagern und anderen repressiven Einrichtungen der Nazis. Andererseits haben Konzentrationslager, Arbeitserziehungslager und andere derartige Einrichtungen dennoch miteinander gemeinsam, ganze gesellschaftliche Gruppen streng räumlich und organisatorisch von der sogenannten „Volksgemeinschaft“ abzugrenzen, um sie für eine schmarotzerische und militarisierte Gesellschaft auszubeuten (s. Aly 2005b, 181–190). Lager waren mithin Mittel der nationalsozialistischen „Transformationspolitik, die Gesellschaft in Volksgemeinschaft verwandeln will“ (Buggeln und Wildt 2013, 201). Die Herausgebenden der o.g. Enzyklopädie der Lager und Ghettos schreiben zum selben Thema:

18 | M ATERIELLE S PUREN DES NATIONALSOZIALISTISCHEN T ERRORS „Here was a central pillar of the system of perpetration: the willingness and ability to incarcerate, enslave, torture, and kill in the name of assumed racial, cultural, and social superiority. The universe of camps and ghettos epitomized the exercise of raw power against a society’s supposed enemies, the manifestation of unadulterated hatred, fear, and cruelty, which many embraced wholeheartedly and many more witnessed and tolerated.“ (Shapiro, Rosenfeld, und Bloomfield 2009, XXX)

Ganz Deutschland samt der besetzten Gebiete war damals eine Topographie des Terrors. Die Geschwindigkeit, mit der sich innerhalb von weniger als zehn Jahren ab 1933 ein massenmörderisches, radikales Ausgrenzungssystem etablieren konnte, sollte uns skandalisieren und mit der Frage zurücklassen, ob es und wo Grenzen zwischen physischer Ausrottung und ihren Ursprüngen gab. Genau diese Fragen führen dazu, die Kontinuitäten in einem rassistisch und biologistisch klassifizierenden System ausfindig zu machen, nicht aber die Lagerkategorien der Nazis als Grundlage der eigenen Analyse zu nehmen.

O PFER

UND

T ÄTER , K ATEGORIEN

UND

R EALITÄTEN

Heutzutage wird oft kritisiert, die im Rückblick vorgenommene Aufteilung Nazi-Deutschlands in Täter und Opfer, vielleicht noch unter Hinzufügung von „Mitläufern“ oder Bystanders sei zu pauschal, und es sei zudem an der Zeit, die Position der Täter zu verstehen, nicht nur die der Opfer (z.B. Brockhaus 2012, 114–115). Denn wer die Handlungen und Gedankengänge der Täter nicht verstünde, könne heute eventuell wieder aufkommende Tendenzen in dieser Richtung nicht verhindern. Nun kann es aber gar keinen Zweifel daran geben, dass das Verstehen der Sicht der Opfer das ethisch Primäre ist und bleibt. Dies haben wir aber noch nicht erreicht, weder im gesellschaftlichen Diskurs noch in den Wissenschaften, schon gar nicht in der Archäologie. Typisch für geschichtliche Arbeiten ist wohl die wissenschaftliche Aufarbeitung der in Konzentrationslagern und anderswo von den Nazis durchgeführten „medizinischen“ Experimente. Viele anspruchsvolle Arbeiten zu dieser Pervertierung der Wissenschaft wurden verfasst, doch man musste fast 70 Jahre warten, bis ein Werk erschien, das sich den abscheulichen Versuchen der Nazi-WissenschaftlerInnen1 aus der

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WissenschaftlerInnen, die dem Rassismus den Anstrich der Seriosität gaben, waren besonders zynische Täter. Personen mit akademischen Kenntnissen und genozidalen Gesamtansichten, die sich in einen professionellen Werdegang im Bereich der For-

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Sicht der Opfer näherte (Weindling 2014). Ich sehe eine zentrale Aufgabe einer Beschäftigung mit den materiellen Hinterlassenschaften der Nazi-Zeit darin, einen bisher wenig begangenen Weg zur Annäherung an die Opfer des Systems aufzuzeigen – wobei wir wiederum auf das Paradox treffen, dass Archäologie uns auf anonyme Opfer verweist, die aber in ihrer Anonymität konkret sind: wir finden ihre Spuren, die „Erscheinung einer Nähe, so fern das sein mag, was sie hinterließ“ (Benjamin 1982, 560). Erst sekundär von Interesse ist das System der Ausgrenzung und Einkerkerung, des Mords und der Gewalt. Denn dieses System zeigt sich am Klarsten eben nicht im distanzierten Überblick oder der Beschreibung großer Subsysteme in ihrer funktionalen Vernetzung, sondern in der Grausamkeit am spezifischen Ort des Leidens, ob im KZ Columbia mitten in Berlin oder in einem Fabrikstollen für Zwangsarbeit in einem einsamen Tal des Lausitzer Gebirges in Nordtschechien. Auch im historischen Diskurs ist das Ganze das Unwahre. Man mag fragen, ob es denn zwischen den Extremen von Opfern und Tätern kein Dazwischen gab. Auch wenn mir viele Positionen, die Harald Welzer rezent einnimmt, hochproblematisch erscheinen (s. Kap. 6), ist ihm in einem Punkt recht zu geben: dass eine radikale Ausgrenzungsideologie und die damit einhergehende Praxis seitens der Nazi-„Volksgemeinschaft“ für einen Graubereich zwischen Opfern und Tätern kaum Platz ließ (Welzer 2011; s. dagegen Knoch 2011). Natürlich gab es Unterschiede innerhalb der Gruppen von Tätern und Opfern – allein schon aufgrund der großen Vielfalt regionaler, sozialer, religiöser oder politischer Herkunft. Die traditionelle, auf der Entnazifizierung beruhende Dreiteilung, die zwischen Täter und Opfer das Mitläufertum schob, ist jedoch problematisch. Denn alle MitläuferInnen sind, da sie um die Zustände der Enteignung und Ausgrenzung auf jeden Fall wussten, zumindest im Sinne einer Verantwortungsethik auch Mit-TäterInnen gewesen. Welzer fasst dies bündig für die Zuschauenden bei Erschießungsaktionen zusammen: „Es ist ein Schauspiel. Ich muss noch einmal darauf hinweisen, dass Zuschauer nicht passiv sind: Ihre Anwesenheit und ihr offenbares Interesse bilden einen Rahmen der sozialen Bestätigung um die Erschießungsaktionen herum“, um dies dann generell auf die alltägliche „Schaulust am Unglück anderer“ auszudehnen (Welzer und Christ 2005, 205). Die radikale Zweiteilung der nationalsozialistischen Gesellschaft in eine „Volksgemeinschaft“ und die aus ihr Ausgestoßenen vernichtet eine in Deutschland bis heute beliebte Differenzierung: Die durch ihre passive Präsenz angeblich unschuldig Danebenstehenden lassen sich nicht so leicht von den aktiv

schung einfügen, zeigen nur, dass die traditionelle wissenschaftliche Zielsetzung der Wahrheitsfindung den Massenmord nicht ausschließt.

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an Gewalt und Unrecht Beteiligten trennen (Sternberger 1987). Unbeteiligt sein bedeutete (und bedeutet) Stellung zu beziehen, nämlich für den Status quo, auch wenn Selbstschutz und der Schutz von Angehörigen subjektiv in solch abwartenden Haltungen eine Rolle gespielt haben dürften. Erst recht halte ich Casellas universal gemeinten Vorschlag für fatal, bei der archäologischen Untersuchung etwa von Haftanstalten und anderen Lager-ähnlichen Verhältnissen die Trennung in Häftlinge und Kerkerbedienstete aufzulösen, um die „productive contestation between different groups of institutional subjects“ zu verfolgen (Casella 2009, 26). Eben diese Beweglichkeiten gab es in NS-Lagern fast gar nicht (Später 1999, 24). Die Frage nach Tätern und Opfern führt zur allgemeinen Problematik sprachlicher Kategorisierungen, ohne die auch Archäologie nicht auskommt. Hierauf gehe ich im Zusammenhang mit Diskursen der Erinnerung an die NaziZeit in Kapitel 6 näher ein. Eingedenk der Kritik an fest definierten Begriffen gerade als Konsequenz des Holocaust, die Adorno in der Negativen Dialektik (1970) äußert, vermeide ich für übergreifende Termini strikte Definitionen. Das betrifft auch die Wörter „Holocaust“ und „Shoah.“ Eine typisch deutsche, in der Archäologie besonders scharf ausgeprägte Art wissenschaftlichen Denkens besteht darin, Begriffe eindeutig definieren zu wollen, um unmissverständliche Kommunizierbarkeit sicherzustellen. Für „Holocaust“ mag man dies mit dem ethischen Gebot begründen, dass sich keine Falschen in den Massenmord der Nazis als Opfer einschleichen dürfen. Doch jeder Blick in die bekannten Ereignisse muss solche Neigungen zum Kategorischen auflösen. Sind die Toten der Ghettos, die Homosexuellen, die Behinderten in Worten wie „Holocaust“ inbegriffen oder nicht? Muss man für jede einzelne Opfergruppe einen eigenen Vernichtungsterminus kreieren? Wenn mich diese Frage interessiert, dann aufgrund der erbarmungslosen Einteilungen des NS-Regimes selbst, die kein Ausweichen, keine Grautöne in der mörderischen Realität der Verfolgung zuließen. Dem steht allerdings das ebenso reale Leiden der Subjekte in den Lagern unerbittlich gegenüber, und dieses kennt keine scharfen, nach Identität bestimmbaren Grenzen. Letztere Wirklichkeit hat immer Vorrang vor der Reinheit eines imaginierten Verhältnisses von Begriff und Realität, sie hat auch Vorrang vor einer Geschichtskonzeption, wie sie sich in den identifikatorisch wirkenden Denkmalen in Berlin-Mitte für die einzelnen Opfergruppen wie Juden, Homosexuelle, Roma und Sinti oder Behinderte äußert. Und doch kann ich Überlegungen zur Begrifflichkeit nicht gänzlich aus dem Wege gehen. Wie soll mit den in der Nazi-Zeit als Propaganda-Instrument verwandten Worten wie der „Volksgemeinschaft“ umgegangen werden? Lange Zeit vermied man den Begriff in historischen Abhandlungen, um die in unterschied-

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lichsten Bevölkerungsgruppen noch vorhandenen positiven Assoziationen mit dem Wort zu vermeiden (s. Thießen 2009). Doch hatte dieser Terminus historisch reale Ausgrenzung zur Folge: Die aus der „Volksgemeinschaft“ Ausgeschlossenen waren mit zunehmender Dauer des Regimes immer rechtloser. Die rhetorische und juristische Dichotomisierung in Zugehörige und Ausgegrenzte hatte nicht nur Konsequenzen seitens der staatlichen Behörden, sondern wirkte sich in der Alltagspraxis überall aus. Daher ist es angemessen, den Begriff der „Volksgemeinschaft“ zumindest in Anführungsstrichen zu verwenden. Anders verhält es sich mit Nazi-Abkürzungen wie „KL“ für Konzentrationslager, da es hier die Alternative „KZ“ gibt. Aber auch mit dem Buchstabenpaar KZ muss vorsichtig umgegangen werden, da es in der Öffentlichkeit mit „Holocaust“ gleichgesetzt wird, was für ein Gefängnis wie das KZ Columbia auf dem Tempelhofer Feld, von dem in diesem Buch öfter die Rede sein soll, unangemessene Assoziationen mit Gaskammern und Krematorien hervorrufen kann. Hier ist eine genauere Bezeichnung „frühes KZ“ notwendig, um deutlich zu machen, dass es sich um Haftstätten des Übergangs von einem unsystematischen Terror zum systematischen handelt (Benz und Distel 2002). Ein weiteres Sprachproblem ist die Bezeichnung des Nazi/NS-Systems samt der Menschen selbst. Auffällig ist, dass in den meisten deutschsprachigen historischen Publikationen der Begriff „Nazi“ weder für Personen („Nazis“) noch für Institutionen oder andere Einheiten des Regimes verwendet wird. Man redet lieber von „NS-Zwangsarbeit“, von „NS-Behörden“ usw., oder schreibt das Adjektiv ganz aus, z.B. als „nationalsozialistische Herrschaft.“ Im Englischen hingegen regiert der Begriff „Nazi“, selbst in Übersetzungen deutscher Texte wie Götz Alys Hitlers Volksstaat (Aly 2005a). Da Neutralität selbst gegenüber einem solch monströsen historischen Phänomen problematisch ist, verwende ich selbst unterschiedliche Begrifflichkeiten.

D ARSTELLUNGSFORMEN

UND

S TANDPUNKTPROBLEME

Die Ungeheuerlichkeit des Nazi-Regimes verbietet auch eine traditionell angelegte Geschichtserzählung, ein Problem, mit dem ich mich immer wieder in den folgenden Kapiteln beschäftige.2 Das Eingehen auf vergangene Subjekte, auf die

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Ein Verlagslektor, mit dem ich über dieses Buch kommunizierte, befand, dass gerade solche Überlegungen unhistorisch seien. Was aber, wenn Geschichte selbst nicht in das disziplinäre Korsett passen will? Das lässt sich nicht nur für den Nationalsozialis-

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Ausgegrenzten, Verschleppten, Ermordeten sowie deren (potenzielle) Erfahrungen erfordert grundsätzlich ein Verlassen der Ebene wissenschaftlicher Objektivität, schon gar der Komparatistik. Es ist die Spezifik einer örtlichen Geschichte, die damit fast unbemerkt in den Vordergrund rückt. Doch auch dies reicht nicht. Ich stelle in Kapitel 5 hierzu theoretische Überlegungen an, die sich aus Diskussionen in den Geschichts- und Kulturwissenschaften speisen. Insbesondere geht es mir um handlungstheoretische Konstrukte und deren ausgeblendetes Anderes, das Leiden. Um die Lakunen der seit einiger Zeit diskutierten „Agency“- und Praxistheorien aufzuzeigen, beziehe ich mich hauptsächlich auf Theodor W. Adornos soziologische und philosophische Schriften. Dessen Insistenz auf der Zerbrechlichkeit und Zerbrochenheit jeder gesellschaftlichen Realität, alle bekannten (vor)geschichtlichen Epochen inklusive, hat ihren Ursprung in der Auseinandersetzung mit Walter Benjamins geschichtsphilosophischen Thesen. Benjamin selbst hatte diese wohl abgefasst, um die Grundgedanken für sein unfertiges Opus Magnum, das „Passagenwerk“ (Benjamin 1982), auf der Flucht vor den Nazis und schon im Zustand der Lebensgefahr an eine Posterität zu übermitteln (Niethammer 1989, 116–120). Die historische Disziplin, die sich mit der Nazi-Zeit beschäftigt, scheint allerdings mit wenigen Ausnahmen über die Einwände Benjamins gegen eine traditionelle Wiedergabe historischer Kontinuität in Form einer geschlossenen Narration hinweggegangen zu sein. Bekanntermaßen beschrieb Hannah Arendt Benjamins Vorstellungen zu einem neuen Zugang zur Geschichte als „dem Perlentaucher gleich, der sich auf den Grund des Meeres begibt, nicht um den Meeresboden auszuschlachten und ans Tageslicht zu fördern, sondern um in der Tiefe das Reiche und Seltsame, Perlen und Korallen, herauszubrechen und als Fragmente an die Oberfläche des Tages zu retten“ (Arendt 1989, 242). Diese Perlen aber – und hier ist Arendts Metapher etwas schief – sind bei Benjamin kaum je Objekte, und sie haben auch nicht den Handelswert von Perlen. Benjamin verstand sich vielmehr als Lumpensammler, der achtlos zurückgelassene Textbruchstücke aufliest, da er meint, „Geschichte schreiben heißt also Geschichte zitieren. Im Begriff des Zitierens liegt aber, dass der jeweilige historische Gegenstand aus seinem Zusammenhang gerissen wird“ (Benjamin 1982, 595). Gleichzeitig betont Benjamin in seinen Thesen zur Geschichte, dass es keinen Unterschied zwischen großen und kleinen Ereignissen gibt, geschweige denn zwischen solchen, die für die Geschichte relevant sind und anderen. „Nichts, was sich jemals ereignet hat, [ist] für die Geschichte verloren zu geben“

mus behaupten, sondern ebenso für bestimmte Konfigurationen einer postkolonial ausgerichteten Kolonialismus-Historie (Chakrabarty 2000).

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(Benjamin 1992, 142). Diese Überzeugungen lassen sich durchaus, wie ich in Kapitel 5 zu zeigen versuche, auf den Umgang mit materieller Vergangenheit übertragen, erheischen jedoch eine gebrochene Erzähl- und Darstellungsform. Ich halte mithin jeden Versuch eines traditionell-narrativ angelegten historischen Diskurses über die Zeit des Nationalsozialismus oder auch nur über einen Aspekt der zwölf Jahre des Dritten Reiches für verfehlt, und gehe trotzdem einer historisch angelegten Untersuchung nach. Auch dieses Paradox ist nicht auflösbar. Es entsteht aus dem Problem, dass die Wissenschaft durch eingefahrene Methoden ihre Gegenstände überhaupt erst handhabbar macht. Die Historie tut dies in ihren synthetischen Kompendien oft, indem sie Epochen und deren Einzelheiten als abgeschlossene Entitäten objektiviert. „Das Kaiserreich“ findet sein konzeptuelles Ende 1918, „die DDR“ im Jahre 1989 und so weiter. Dieses „case closed“-Verhältnis zur Vergangenheit erlaubt einen Überblick, eine analytische Behandlung der Quellen und die Entwicklung von Narrativen, in die unterschiedliche Tropen eingebaut sind (White 1991). Genau diese Art der abschließenden, kategorisierenden Historisierung kann aus ethischen Gründen aber für die Nazi-Zeit nicht zugelassen werden. Wer eine Epoche als abgeschlossene konzipiert, will sie sich unterwerfen. Historische Verantwortung als ein kritischer Umgang mit der Vergangenheit, der die vielfältigen Wurzeln heutiger sozialer und politischer Praktiken in der Vergangenheit anerkennt und als Maßstab zur Beurteilung gegenwärtigen Handelns nimmt, wird einer solchen traditionellen Form nicht folgen. Zu vermeiden wäre schon die formale Harmonie und Kohärenz eines „abgerundeten“ Werkes. Denn erst die radikale Öffnung zur Vergangenheit hin, das (wahrscheinlich vergebliche) Bestreben, eine Relation der diachronen Anerkennung herzustellen, ist die Voraussetzung für historische Verantwortung. Diese gibt sich nicht mit einem Wissen zufrieden, welches die Opfer der Nazi-Verbrechen zu reinen Tatsachen im Heute macht. Vielmehr ist die Vorbedingung für einen materialistischen Versuch, ein diachrones Anerkennungsverhältnis herzustellen, das Eingehen auf die/den Anderen als wesensgleich und doch fremd (im Sinne Benjamins und Levinas’), akzeptiert und doch nicht eins, auf jeden Fall aber: mit gleichen Ansprüchen auf Gerechtigkeit. Um dies im Detail zu erfassen, berufe ich mich vor allem auf eine anerkennungstheoretische Studie Axel Honneths (2014), die die Gefahren eines unbemerkten Übergangs von Objektivierung zu kompletter Verdinglichung heutiger, aber auch historischer Subjekte erläutert. Wissenschaft insgesamt, Archäologie eingeschlossen, verfällt dieser Tendenz allzu oft. Sie lässt ein existenzielles Einfühlungsvermögen vermissen, da dieses als unsachlich und damit unwissenschaftlich gilt. Ein adäquater Zugang zu einer Vergangenheit des Leidens ist deshalb grundsätzlich anders zu konzipieren als über objektivie-

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rende Verfahrensweisen (Pollock 2016). Oder, wie Tillmanns (2012, 261) formuliert: „Indifferenz gegenüber dem konkreten historischen Leiden negiert historische Verantwortung.“ Nun kann die spezifische Form einer vor allem aus materiellen Objekten erschlossenen Vergangenheitskonstruktion aufgrund ihres fragmentarischem Charakters sowieso nicht zu einer glatten Synthese führen. „Ortsgenealogien“, wie ich sie in Kapitel 4 als eine den materiellen Resten angemessene Form vorschlage, sind vielmehr unterdeterminiert und diskontinuierlich. Sie passen sich ein in Benjamins Idee von Geschichte als einem uneinheitlichen Gefüge, einer Collage: „Die erste Etappe dieses Weges wird sein, das Prinzip der Montage in die Geschichte zu übernehmen. Also die großen Konstruktionen aus kleinsten, scharf und schneidend konfektionierten Baugliedern zu errichten. Ja in der Analyse des kleinen Einzelmoments den Kristall des Totalgeschehens zu entdecken. Also mit dem historischen Vulgärnaturalismus zu brechen.“ (Benjamin 1982, 575)

Die Überlegungen Benjamins mögen zunächst konträr zu den Interessen der Archäologie erscheinen, da letztere einen großen Wert auf die genaue Beobachtung des Kontextes legt, um die Bedeutung von Dingen zu erschließen. Jedoch sind die dinglichen Reste gerade da stumm und empirisch nicht zu erschließen, wo wir sie nach ihrem Sinn für Subjekte im Damals befragen. Sie werden erst dann zu „Perlen“ im Arendt’schen Sinne, wenn wir ihr Evokationspotenzial nutzen und die Ergebnisse zu einem umfangreicheren Pastiche montieren. In den folgenden Kapiteln zeige ich an einzelnen Beispielen, wie ich mir dieses Verfahren vorstelle, ohne es hier in Gänze umzusetzen. Denn dafür bedarf es eines separaten Werkes. Allerdings versuche ich in meinen programmatisch zu verstehenden Reflexionen, Form und Inhalt in ein spannungsreiches Verhältnis miteinander treten zu lassen, um auch hier die grundsätzliche Aufgerissenheit und Unabschließbarkeit der Geschichte einzubeziehen. Ob es mir gelingt, diesen Eindruck hervorzurufen, ohne dass die Lesbarkeit untergeht, sei dem Urteil der LeserInnen anheimgestellt. Zudem versuchen meine Überlegungen Distanz zu halten von einem entorteten, internationalisierten und sakralisierten Holocaust einerseits und der „cold storage of history“ andererseits (Hartman 1996, 138), die so typisch für viele deutsche Beiträge zur Geschichte des „Dritten Reichs“ ist. Wie notwendig das Aufzeigen von Kontinuitäten zwischen Nazi-Zeit und Bundesrepublik ist, zeigen das Schicksal der Wehrmachtsausstellung, die Reaktionen auf die Rede Martin Walsers in Frankfurt 1998 und Phänomene wie Pegida oder gar die Neonazis:

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das Ungeheuer dieser Unmenschlichkeit ist seit 1945 nie ganz verschwunden, es lauert in uns, oder zumindest in vielen von uns (Kansteiner 1994, 157). Eine Überhöhung der Shoah als vollständig unbegreifbar produziert die Illusion eines unüberbrückbaren Abgrunds, der es der heutigen Bevölkerung Deutschlands leicht macht, sich hiervon abzusetzen. Historische Interpretationen, die von einer bestialischen, mörderischen Elite ausgehen, die mit dem Alltag im Nationalsozialismus letztlich nichts zu tun hatte, bestätigen solche Tendenzen.3 Ebenso inakzeptabel ist die objektivistische Wissenschaft, die im Anschluss an phänomenologische Überlegungen den Erfahrungsbegriff ausschließen will, die einen empathischen Ansatz suspekt findet und eine vermeintliche Sachlichkeit für den Königsweg zu historischem Wissen hält. Die Auseinandersetzung Saul Friedländers mit Martin Broszat (Friedländer 2007b) sowie daraus folgende Reflexionen haben diese Ansicht zwar teilweise in Misskredit gebracht, jedoch sucht man Reflexionen zur Positionalität als historiographischem Element in den meisten Schriften zur Nazi-Zeit bislang vergeblich. LaCapra (2004, 60–61) formuliert dieses Problem zunächst sehr konkret, um dann zu verallgemeinern, wenn er bezüglich einer Geschichte des Holocaust fragt: „Does it matter, for example, if the historian of the Holocaust is a survivor, a child of survivors, a child of a perpetrator, an Israeli, a Palestinian, a Gentile, and so forth? [...] How does one relate one’s own experience to the experience of those one studies?“ Ich habe in diesem Buch versucht, dem in kulturanthropologischen Debatten um dieses Problem oft anklingenden Selbstmitleid und Narzissmus aus dem Wege zu gehen, ohne meine Positionen zu verstecken. An unterschiedlichen Stellen habe ich daher kleine oder größere Versatzstücke eingefügt, die aus eigenen Erfahrungen oder Sekundärerfahrungen bestehen. KritikerInnen, die den Text vor Publikation gelesen haben, warnten mich vor Einseitigkeit und der damit einhergehenden Gefahr der Selektivität. Dagegen ist einzuwenden, dass der Versuch standpunktlosen Schreibens gezwungenermaßen ebenfalls eine sprachinterne Positionalität produziert, die zudem die immer vorhandene Selektivität versteckt. Am schärfsten treten diese Probleme dort hervor, wo es um den historischen Vergleich ganzer politischer Systeme der Neuzeit geht. Meine kritische Einstellung zum Komparatismus, in Kapitel 5 näher erläutert, ist notwendig ebenso „politisiert“ wie jede dieses Vorgehen befürwortende Einstellung. In einem kurzen Epilog gehe ich auf die Zukunftsaussichten der Erinnerung an die Nazi-Zeit ein. Materielle Kultur dürfte auf Dauer in diesem Feld eine zu-

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So auch der Tenor in Focke und Reimers Alltag unterm Hakenkreuz. Wie die Nazis das Leben der Deutschen veränderten (1982): Schon der Untertitel suggeriert, dass „die Deutschen“ und „die Nazis“ zwei getrennte Gruppen waren.

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nehmend gewichtige Rolle spielen. Einem kollektiven Gedenkdiskurs aber wirken Globalisierung, Migration und heutzutage Flucht durch die wachsende kulturelle Vielfalt der Gesellschaft entgegen. Das enthebt uns nicht der Frage, was denn eine angemessene Annäherung an das Extrem historischen Unrechts sei. Ein Dialog über Zeitsprünge hinweg ist unmöglich, bleibt jedoch, wie ich unter Berufung auf Hans-Georg Gadamer und Axel Honneth am Schluss zu zeigen versuche, eine essentielle Zielsetzung.

D AS T EMPELHOFER F LUGFELD

IN

B ERLIN : E INE C HRONIK

Im Folgenden gebe ich einen kurzen Überblick über wichtige Aspekte der Vergangenheit des Tempelhofer Feldes, da mir dieses in den weiteren Überlegungen als Anker für viele Reflexionen dient. Dabei verschränken sich Ort und Geschichte eng miteinander, was in den Geschichtswissenschaften eher ungewöhnlich ist, da Fragestellungen zur Ortsunabhängigkeit tendieren. Man erkundigt sich nach der Rolle der Wirtschaft in einem bestimmten Zeitabschnitt, nach bekannten oder unbekannten Personen, Sozialstrukturen, politischen Ereignissen, Genderverhältnissen, kulturellen Verwerfungen und vielem mehr. Orte und Regionen kommen dabei notwendig zur Sprache, weil sich alle Geschichte in Räumen abspielt. Dieses Faktum ist bis heute in den Geschichtswissenschaften jedoch weitgehend Selbstverständlichkeit geblieben. In einer zutiefst dem Rationalismus verschriebenen Disziplin haben der Ort und die Region die Funktion eines „Behälters“ historischer Prozesse (Löw 2000, 18; Mejstrik 2005, 66–71). Nur in manchen Mikrogeschichten sind Orte und Kleinregionen erkennbar selbst historische Produkte (Ginzburg 1979; Le Roy Ladurie 2000). Immerhin ist seit der Jahrtausendwende im Zuge des „spatial turn“ (Bachmann-Medick 2009, 284–328) eine beginnende Umorientierung zu beobachten, von Geppert et al. (2005, 16–20) gar als Übergang von einer „Raumvergessenheit“ zu einer „Raumversessenheit“ apostrophiert. Von Bedeutung für örtlich verankerte Geschichte sind im deutschsprachigen Bereich vor allem die Arbeiten Karl Schlögels (2003) samt ihrer Insistenz auf der genauen Auseinandersetzung mit den je spezifischen Plätzen, an denen sich Ereignisse abspielten. Die steigende Beliebtheit der zeitgeschichtlichen Archäologie mag Teil einer solchen ortsfixierten Ausrichtung der Geschichte sein.

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Abbildung 1.1: Lage des Flughafens im städtischen Umfeld Berlins

Das Tempelhofer Feld, heutzutage mitten in der Stadt Berlin gelegen (Abb. 1.1), ist ein vielschichtiger Ort mit kontroversen gedenkpolitischen Aspekten, wie ein Blick in die Medien zeigt. Vor nicht allzu langer Zeit wurde das Flugfeld von der Stadt Berlin beworben als „Tempelhofer Freiheit“, wobei man sich wohl auf die Luftbrücke der Jahre 1948–49 und den frühen Kalten Krieg bezog, eine Zeit der Alliierten-Herrschaft in Berlin, die auch Stadtführungen meist sehr naiv idealisieren.4 Doch dass Tempelhof sehr viel länger und konkreter ein „Ort der Unfreiheit“ (Berliner Geschichtswerkstatt 2012), der Erniedrigung und des Mordens im KZ Columbia und der Ausbeutung von ZwangsarbeiterInnen durch Rüstungsfirmen war, ging im öffentlichen Diskurs bislang eher unter (Heisig 2003; Assatzk 2011). Daneben ist Tempelhof heute ein Park, Ort des Ausruhens in der städtischen Hektik, gleichzeitig aber auch des Profits mit Mode- und Jobmessen, im Werbedeutsch: eine „der spektakulärsten und historisch bedeutendsten event locations.“5 Oft beschrieben als hip und cool, versteigen sich manche

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Gerne vergessen wird, dass dies die McCarthy-Ära war, die in den U.S.A. geprägt war von der Hetze gegen Intellektuelle und der Ausgrenzung alles politisch „Linken.“

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http://www.thf-berlin.de/angebote/eventlocation/ (zuletzt geöffnet am 13.3.2017); s.a. Kapitel 4.

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Texte ins Poetische: „Es ist Berlins großer Garten der Lüste im Stadtgrundriss“ (Lautenschläger 2014, 31). Die sehr unterschiedlichen Wünsche und Begehrlichkeiten, die im Disput um das Feld immer wieder aufkommen, betreffen neben der Vergangenheit auch die heutige soziale und wirtschaftliche Nutzung des Areals (s. Abb. 1.1). Das zeigte sich insbesondere im Jahr 2014, als die Berliner Bevölkerung eine Volksabstimmung über die potenzielle Bebauung des riesigen Tempelhofer Feldes ertrotzte, die dann gegen die Pläne der Machthaber (Bürgermeister und politischer Senat) und für die Nichtbebauung ausfiel. Das Kollektiv der EinwohnerInnen setzte damit den Bauplänen bis auf weiteres ein Ende, so dass die Stadtregierung nunmehr einen komplexen Aushandlungsprozess für jede Entscheidung benötigt und die direkte Verfügungsgewalt nur noch über den großen Flughafenbau aus der Nazi-Zeit hat. Im Sinne einer einfachen Chronik sei hier nur auf drei wichtige Elemente verwiesen, die sich wie ein roter Faden durch die Vergangenheit dieses Ortes ziehen und komplex miteinander verwoben sind: Militarismus, Freizeitkultur und Arbeitergeschichte.6 Die militärische und paramilitärische Nutzung hat die längste Geschichte auf dem Tempelhofer Feld. Zunächst zeigt sich eher eine militaristische als militärische Dimension. Denn das Feld wurde für das Zurschaustellen militärischer Macht in Paraden und Übungen genutzt. Schon unter Friedrich Wilhelm I in den 1720er Jahren fanden in Tempelhof große Militärparaden statt, unter anderem eine gemeinsam mit August dem Starken, damals König von Polen. Im 19. Jh. wurden hier Manöver durchgeführt. Das Tempelhofer Feld war zudem Ausgangspunkt der 1871 abgehaltenen pompösen Siegesparade nach dem deutsch-französischen Krieg (Tenfelde 1982; Borutta 2001, 251), die auch von damaligen Künstlern als Anlass für chauvinistische Werke genommen wurde, unter anderem Richard Wagners „Kaisermarsch“ (WWV 104), Johannes Brahms’ „Triumphlied“ (Opus 55) und Max Bruchs „Lied vom deutschen Kaiser“ (Opus 37, s. insgesamt Kulhoff 1990, 24–35). Der offensichtlich erfolgreiche Militarismus setzte sich fort durch die danach regelmäßig in Tempelhof abgehaltenen sog. „Frühjahrsparaden.“ Deren vorerst letzte fiel in das Jahr 1914 (Thiele 2008a, 11–13). In die Kaiserzeit, nämlich in die Jahre 1894 bis 1896, fällt auch der Bau der Kaserne des „Garde-Kürassier-Regiments“, heute Polizeidirektion 5, und des auf der Südseite des Columbia-Damms liegenden Militärgefängnisses (Abb. 1.2), welches später in das KZ Columbia umgewandelt wurde (Schilde und Tuchel

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Eine streng chronologisch angeordnete Liste von Ereignissen findet sich bei Thiele (2008c) und auf der Website der stadteigenen Tempelhof Projekt GmbH (Tempelhof Projekt o.J.).

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1990, 14–21). Das Flugfeld hatte jedoch auch einen Ausflugscharakter. Schon früh interessierte sich der von der Berliner Arbeiterklasse faszinierte Maler Hans Baluschek hierfür und stellte ganze Familien beim Sonntagsausflug in Tempelhof dar. Auch Sport war damals Teil der Freizeitbetätigungen, wie Fotos von Cricket-Spielern aus den 1890er Jahren zeigen (Jedelsky 2008, Abbildung 2–5). Ein großes Publikum fanden auch die schon im 19. Jh. stattfindenden ersten Ansätze der Fliegerei in Tempelhof. Zu Orville Wrights Flugversuchen oder dem Erscheinen des Zeppelin im Jahr 1909 kamen Hundertausende Schaulustige auf das Feld. Die Begeisterung für neue Technologien war damals noch nicht so gebrochen wie heute, nach zwei Weltkriegen, dem ersten Atombombenabwurf und Fukushima. Abbildung 1.2: Foto des Militärgefängnisses und späteren KZ Columbia, Zustand 1897

Für das Militär bedeutsam war der direkt nordöstlich des Alten Flughafens eingerichtete „Neue Garnisonfriedhof“, heute Friedhof Columbiadamm, der den Militärangehörigen zur Verfügung stand. Neben Familiengräbern der Offiziere und Gefallenengräbern der Kriege 1866, 1870/71 sowie des Ersten Weltkriegs ist dies seit 1866 auch der Hauptfriedhof für die islamische Bevölkerung Berlins (Schütze 1986). Den Militarismus der Kaiserzeit unterstreichen dort einige bis

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heute stehende Kriegerdenkmäler. Revanchismus atmen zwei Denkmäler für die Soldaten des Ersten Weltkriegs: das von Franz Dorrenbach 1925 geschaffene Kriegerdenkmal für das Königin Augusta Garde-Grenadier-Regiment einer aufgebahrten, von einem Leichentuch bedeckten Gestalt mit darauf liegendem Stahlhelm, die eine geballte Faust unter dem Tuch drohend hervorstreckt (Abb. 1.3), sowie dasjenige für die Erste Westpreußische Fußartillerie von Herrmann Hosaeus von 1920.

Abbildung 1.3: Kriegerdenkmal auf dem Columbia-Friedhof (Berlin-Tempelhof) von Franz Dorrenbach

Besonders ersteres mit seiner auf die Idee der „Familie“ anspielenden Inschrift „1914–1918. Dem Königin Augusta Garde-Grenadier-Regiment No. 4 und seinen Söhnen“ fügt sich in die damalige Tendenz, solche Heldendenkmäler immer weniger für die Elite – Monarch, Generäle – zu erstellen, als vielmehr für die gemeinen Soldaten. Eine der Folgen war eine „Glorifizierung des Todes“ (Wulff 2009, 346) nicht nur der siegreichen Kämpfer, sondern des generalisierten „Opfers“ für ein imaginiertes Kollektiv Nation (Wippermann 2012). Im und nach dem Ersten Weltkrieg legte sich die Begeisterung für Militärparaden. Das am

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Rande Tempelhofs stationierte Garde-Kürassier-Regiment selbst war in die Stellungskriege des Ersten Weltkriegs einbezogen und wurde 1918 zunächst demobilisiert, seine Reste dann aber im Berliner Spartakusaufstand 1919 erneut zur gewaltsamen Niederschlagung der Revolte eingesetzt (Hannover und HannoverDrück 1989). Schon in den 1920er Jahren gab es dann einen Streit um die Weiterentwicklung des Feldes, der die Konflikte der letzten Jahre im Ansatz vorwegnahm. AnwohnerInnen forderten damals ein Parkgelände, Technokraten setzten letztlich aber einen Flughafenbau durch (Heisig 2014a). Als 1923 ein Vertrag für den Bau eines Flughafens geschlossen wurde, schien es zunächst, als ob das Tempelhofer Feld entmilitarisiert und der zivilen Nutzung für den Flugverkehr zugeführt würde (Aschenbrenner 1998). Ein Jahr später baute man bereits die ersten großen Flugzeughallen und zwei Funktürme. Seit 1926, dem Jahr der Gründung der Fluggesellschaft Luft Hansa, entstand unter den Architekten Paul und Klaus Engler ein großes, modernes Hauptgebäude am Nordende des Feldes, nahe des Columbia-Damms und des Friedhofs. In diesem heute komplett zerstörten, unter Bäumen kaum noch erahnbaren Bau (Abb. 1.4) etablierten sich weitläufige Restaurants, in denen sich die Schicht der Wohlhabenden auf einer Dachterrasse und im Bereich direkt am Rande des Flugfelds amüsierte. Auch die Flugschauen wurden in der Weimarer Republik fortgesetzt, mit KunstfliegerInnen wie Elly Beinhorn oder den beiden Jagdfliegern des Ersten Weltkriegs, Ernst Udet und Gerhard Fieseler (s. Zegenhagen 2007, 122; Thiele 2008b). Das Tempelhofer Feld hatte schon in den 1920er Jahren wieder Personal, das verdeckt militärisch tätig werden sollte, u.a. einige wenige Experten der „Hansa Luftbild GmbH“, einer Tochterfirma der Lufthansa, die dann in den 1930er Jahren verstärkt Luftspionage in Form von Luftfotografien von potenziellen Zielen im Ausland betrieb (Assatzk 2012, 13–14; Dittrich 2013, 39–47).7 Ein weiterer, diesmal paramilitärischer Akzent wurde auf dem Feld gesetzt, als die neu an die Macht gekommene Hitler-Regierung mit Joseph Goebbels als Initiator 1933 beschloss, am 1. Mai einen „Tag der nationalen Arbeit“ zu feiern. Das Flugfeld wurde an diesem Tag zu einem Aufmarsch von mehr als einer Million Anhängern des Nationalsozialismus genutzt, visuell und auditiv gestaltet von Albert Speer mit einem riesigen Aufwand an inszenatorischen Mitteln und der landesweiten Synchronisierung der Feiern durch Ausrichtung an der Radioübertragung von Hitlers Rede (Heuel 1990; Durth 2010; Favre 2012, 100–101). Diese Schau

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Wie so oft, wird auch auf der Website des noch heute existierenden Unternehmens über die Tätigkeiten für das Reichsluftfahrtministerium kein Wort verloren (Hansa Luftbild o.J.).

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hatte deutlich militärischen Charakter, was auch Speers eigene Beschreibung wiedergibt: „Während früher im Ablauf großer nationaler Festlichkeiten die Machtmittel des Staates paradierten, umsäumt von den Mauern einer neugierigen, unbeteiligten Menge, marschieren heute die Millionenmassen des erwachten Volkes auf“ (Speer 1933). Dieses Ereignis als erster staatlich-offizieller „Tag der Arbeit“ war eine Karikatur der Arbeiterbewegung und ein Affront für die Gewerkschaften. Der große Zulauf durch Betriebsmitglieder verdankt sich wohl großenteils dem „Maigeld“, etwa einem halben Tageslohn, der aber erst nach Erreichen des Tempelhofer Feldes ausgezahlt wurde (Milert und Tschirbs 2013, 69–71). Am 2. Mai besetzten SA und SS dann alle Gewerkschaftshäuser in Deutschland, das Ende jeder seriösen ArbeiterInnenvertretung bis 1945. Noch 1933 wurde die „Deutsche Arbeitsfront“ gegründet, eine Parodie auf Arbeitnehmervertretungen in Nazi-Gewand (Hachtmann und Kreutzmüller 2013, 115– 117).

Abbildung 1.4: Alter Flughafen aus den 1920er Jahren, von Süden fotografiert

Ebenfalls schon 1933 wurde das erwähnte Militärgefängnis am Nordrand des Tempelhofer Flugfelds in eine Gestapo-Haft- und Folterstelle verwandelt, die 1934 als Konzentrationslager „Columbia“ von der SS übernommen wurde. Ich beschreibe die Baulichkeiten, das Schicksal einzelner Gefangener sowie besonders grausamer Kommandierender in diesem KZ in Kapitel 2 näher. Schon 1936 wurde das Konzentrationslager Columbia geschlossen und das Gebäude abgerissen. Dabei wurden die verbliebenen Häftlinge in das neu errichtete KZ Orani-

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enburg am Nordrand Berlins verlegt. Der Abriss hing an den Plänen für einen neuen Flughafenbau im Zusammenhang mit der nie verwirklichten Konzeption Speers für die radikale Umwandlung von Berlin in eine megalomane Hauptstadt „Germania.“ Mit dem Bau des für damalige Verhältnisse riesigen SagebielFlughafens in den Jahren ab 1936 veränderte sich die Natur des Flughafengeländes grundsätzlich. Vom Columbia-Friedhof wurde eine große Zahl an Gräbern umgebettet damit das Flugfeld nach Hitlers Vorstellungen in ein Oval im Sinne eines „Luftstadions“ verwandelt werden konnte. An der nordwestlichen Schmalseite dieses Ovals zieht sich der gut erhaltene, klotzige Flughafenbau mit seinen nach außen vorspringenden turmartigen Treppenaufgängen über mehr als einen Kilometer Länge hin. Wie in Kapitel 4 näher erläutert, wurde das Tempelhofer Flugfeld gleich zu Anfang des Zweiten Weltkriegs in einen nur dem Militär dienlichen Fliegerhorst verwandelt, so dass die Lufthansa als Zivilgesellschaft zunächst den Ort verlassen musste, bis sie sich weit genug militarisiert hatte und wieder an den Stammsitz zurückkehrte. Zu dieser Zeit wurden am Nordrand des Tempelhofer Feldes auch die ersten Holzbaracken für Zwangsarbeitslager der Firmen Weser Flugzeugbau GmbH8 und Lufthansa aufgestellt, die sich in den Jahren bis 1944 zu ausgedehnten „Barackenstädten“ (NaziJargon) entwickelten. Die Firma Weserflug war beauftragt, im Lizenzbau den Sturzkampfbomber JU 87 zusammenzusetzen, wofür ein Großteil der Hangars im neuen Flughafen benutzt wurde (Wenz 2006, 54–79), während die Lufthansa sich mit der Reparatur beschädigter und abgeschossener Kriegsflugzeuge (Budraß 2016, 383–387). Mit seinen ausgedehnten Zwangsarbeitslagern und als Rüstungszentrum, in dem Fremde den deutschen Angriffs- und Eroberungskrieg gegen Europa unterstützen mussten, spielte Tempelhof also auch im Zweiten Weltkrieg eine unrühmliche Rolle in der Arbeitergeschichte (Heisig 2001). War der im typischen NS-Stil erbaute neue Flughafen mithin bis Kriegsende eine Rüstungsfabrik, so wurde der alte, aus den 1920er Jahren stammende bis zu seiner Zerbombung in seiner ursprünglichen Funktion weiter verwendet. Über das Leben in den Zwangsarbeitslagern weiß man bislang nur sehr wenig, vor allem, weil fast keine ZeitzeugInnen bekannt sind. Archäologische Forschungen, von denen in den folgenden Kapiteln immer wieder die Rede sein wird, können unsere Einsichten in diesem Falle aber deutlich erweitern. In den letzten zwei Kriegsjahren wurden auch große Teile der Lagerbaracken bei Bombenabwürfen zerstört, und die Produktion der Sturzkampfbomber und anderer Kriegsflugzeuge teilweise aus dem Stadtinneren ausgelagert.

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In den folgenden Kapiteln der Einfachheit halber meist als „Weserflug“ abgekürzt.

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Die sowjetische Armee hatte am 25.4.1945 unter General Tschuikow während der blutigen „Schlacht um Berlin“ das Tempelhofer Feld eingenommen (Schilde 1987, 305–308), was den Nazi-Größen den letzten Luftweg aus Berlin über Tempelhof abschnitt. Tempelhof blieb jedoch nur bis Anfang Juli 1945 unter sowjetischer Verantwortung und wurde dann vom U.S.-amerikanischen Militär übernommen. Doch friedliche Zustände hielten nur bis 1948 an, dem Jahr der Berlin-Blockade. Von Juni 1948 bis Mai 1949 wurde Tempelhof zu einem der drei zentralen Orte, über die jeden Tag Tonnen an Lebensmitteln, Kohle und anderen Grundnotwendigkeiten des Alltags nach West-Berlin eingeflogen wurden, nachdem die Westmächte beschlossen hatten, ihre Teile Berlins nicht kampflos aufzugeben (Heisig 2014b, 42–55). Die Stadt geriet hierdurch wieder in den Fokus der Weltaufmerksamkeit. Wichtiger war, dass diese Aktion die West-Berliner (und westdeutsche) Bevölkerung fester an die Alliierten band als zuvor. Die bleibenden Ost-West-Spannungen samt Mauerbau 1961 sorgten dafür, dass den Militäreinrichtungen der Westalliierten in Berlin bis zur Wiedervereinigung 1989 kontinuierlich große Beachtung zuteil wurde. Der zivile Flugverkehr begann ebenfalls schon in den 1950er Jahren wieder in Tempelhof und hielt bis 2008 an, allerdings hauptsächlich mit Linien der Alliierten. Erst nach dem Mauerfall konnte auch die Lufthansa den Flugverkehr nach Tempelhof wieder aufnehmen. Im Jahre 1993 zogen die U.S.-Streitkräfte endgültig vom Flughafen ab, was auch das vorläufige Ende der militärisch aktiven Geschichte dieses Ortes bedeutet; die Bundeswehr unterhält allerdings am Ostende des Nazibaus immer noch einen Standort. Da die Berliner Innenstadt-Flughäfen Tempelhof und Tegel lästigen Verkehrslärm verursachen und für die heutigen Großflugzeuge gänzlich ungeeignet sind, hat der Senat von Berlin zusammen mit dem Land Brandenburg einen großen Flughafen im Südosten der Stadt bei Schönefeld geplant, der zumindest während der Abfassung dieses Buchs nur als Skandalbauprojekt bekannt ist und einer in unbestimmter Zukunft liegenden Eröffnung entgegenschlummert. Das Tempelhofer Gelände bleibt bis heute ein Zankapfel der Stadtentwicklung, mit Besetzungsversuchen, Plebisziten und Einflussnahme seitens Unternehmensverbänden wie der Industrie- und Handelskammer. Auf Gruppen und Institutionen, die sich mit der Geschichte des Feldes beschäftigen, gehe ich in Kapitel 6 näher ein. Nostalgie gegenüber dem heute klein erscheinenden Tempelhofer Flughafen kam schon auf, als noch Flugverkehr bestand. Eine Bürgerabstimmung im Jahre 2008 gegen die geplante Schließung des Flughafens scheiterte jedoch aufgrund des Nichterreichens des gesetzlich vorgeschriebenen Quorums. Die Öffnung des Feldes für die Bevölkerung sollte im Jahre 2009 von der Initiative Squat Tempelhof erzwungen werden, um die Stadt Berlin von Bebau-

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ungsplänen abzubringen. Dies führte zunächst hauptsächlich zu einer Konfrontation zwischen Polizei und AktivistInnen mit vielen Festnahmen, doch kehrte der Freizeitwert des Tempelhofer Feldes mit seiner Öffnung für die Bevölkerung im Jahre 2010 zurück. Heute stehen Sport, Gartenbau und Konzerte, Mode, Fahrradrennen und Zirkus im Zentrum des Interesses um die Zukunft des Flugfeldes (s. Lautenschläger 2014). Die Initiative „Tempelhof 100“ konnte in einem weiteren Plebiszit im Mai 2014 durchsetzen, dass das 400 Hektar große Flugfeld komplett unbebaut bleibt, nachdem der Berliner Senat bis zum Jahr 2014 Randbebauungspläne hegte, wozu neben Wohnungsbau auch eine große Bibliothek gehören sollte. Die Komplexität dieser Verschränkung unterschiedlichster, zeitliche Schichten überdauernder Bedeutungen des einstigen Flughafengeländes kann zumindest zum Teil auch durch die Archäologie sicht- und erfahrbar gemacht werden. Die bislang letzte Wendung nahm die Verwendung des Flughafengebäudes, als während der in großen Zahlen in Berlin ankommenden Flüchtlinge im Sommer 2015 dringend nach Aufenthaltsorten gesucht wurde und die Hangars des klotzigen Betonbaus Ernst Sagebiels intern mit Stellwänden aufgeteilt wurden – wie zu Zeiten der Produktion von Sturzkampfflugzeugen. Allerdings diesmal, um einen Notaufenthalt für Flüchtlinge zu schaffen. Das Militär (die Bundeswehr) machte sich diesmal unterstützend bei der Einrichtung von Zelten und festeren Unterkünften bemerkbar (Keilani und Kögel 2015). Der große überdachte Raum wurde damit zu einer der zentralen „Erstaufnahmeeinrichtungen“ für Flüchtlinge. Das tut den Planungen für eine touristische Zukunft keinen Abbruch. Nach 2019 soll eine „Geschichtsmeile“ für den Tourismus erstellt werden. Ebenfalls in naher Zukunft will das „Alliiertenmuseum“ seinen vorgesehenen Umzug in den Nazi-Bau vollziehen. In welcher Weise eine Erinnerung an die Gewaltgeschichte samt der materiellen Reste des Ortes einbezogen werden soll, steht offen. KritikerInnen befürchten beim derzeitigen Stand der Planung, dass Tempelhof in einem „Geschichtspark der Widersprüche“ (Lackmann 2012) enden könnte, bei dem sich das Publikum im Konsum-Modus das aussucht, was ihm gerade unter den historischen Schichten am Anziehendsten erscheint.

Zu den Ausgrabungen in Tempelhof

Eine Chronik dieser Art schließt den Ausgrabungsvorgang selbst ein. Ich fasse diesen kurz zusammen, unter Berücksichtigung einiger im Stadtbereich spezifischer technischer und kommunikativer Aspekte. Zudem gehe ich auf die erinnerungspolitische Dimension des Ausgrabens selbst kursorisch ein; dies wird in

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Kapitel 6 noch näher ausgeführt. Der Anlass für die Grabungen war die Absicht, die Internationale Gartenschau des Jahres 2017 auf dem Tempelhofer Feld abzuhalten, was zu größeren Bodeneingriffen wegen der Bepflanzung mit Bäumen und der Anlage von Wegen geführt hätte, die sich im Bereich des Alten Flughafens und ehemaliger Zwangsarbeitslager befunden hätten; unmittelbar vor Anfang der Grabungen wurde diese Schau allerdings per Beschluss nach MarzahnHellersdorf verlegt.

Abbildung 1.5: Splitterschutzgraben im Lufthansa-Lager mit bei Planierung des Geländes nach dem Krieg zerdrückten Oberkanten der Fertigbauteile

Archäologische Spuren der weiträumigen Unterbringung von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern auf dem Tempelhofer Feld wurden an drei Stellen untersucht. Im Jahre 2012 legten wir Schnitte im Lager der Lufthansa an, direkt nordöstlich des Flughafengebäudes aus den 1920er Jahren und östlich der einstmaligen Lilienthalstraße. Im Sommer 2013 wurde ein Teil des „RichthofenGemeinschaftslagers“ von Weserflug und Lufthansa auf großer Fläche sondiert; berührt wurden hierbei nur Lagerzonen, die der Weserflug unterstanden. Im Herbst 2013 sowie Frühjahr 2014 sondierten wir eine ebenfalls zur Weserflug gehörende, am Südwest-Ende des Feldes gelegene sog. „Barackenstadt.“ Diese drei Lager enthielten Befunde aus vier funktional klar trennbaren Bereichen:

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Splitterschutzgräben, Feuerlöschteiche, Baracken und infrastrukturelle Elemente (Zäune, Heizung, Wege). Die Ergebnisse seien hier nur kurz angerissen. In jedem der drei Zwangsarbeitslager wurden Reste von Luftschutzgräben erfasst, die aus vorgefertigten Betonteilen im Baukastenprinzip erstellt worden waren. Die Gräben waren in allen Fällen schon auf Luftbildern der Royal Air Force aus dem Zweiten Weltkrieg deutlich zu sehen. Bei einem Graben für sowjetische Zwangsarbeiterinnen der Firma Weserflug fehlten allerdings alle Anzeichen für Betonwände. Nur der Plattenboden war erhalten, und zwar sehr gut. Dagegen hatten die Splitterschutzgräben im Lufthansa-Lager und in der Weserflug-„Barackenstadt“ nahe der S-Bahn ursprünglich senkrecht aufgestellte Betonplatten als Wände. Diese konnten gegen umherfliegende Splitter schützen, ein Einschlag in der Nähe aber zerdrückte die dünnen Wände (Spoerer 2001, 143). Der Graben im Lufthansa-Lager war stark durch Kriegseinwirkungen in Mitleidenschaft gezogen, die anderen durch Bulldozer-Arbeiten nach dem Zweiten Weltkrieg (Abb. 1.5). Der Splitterschutzgraben für Frauen im sog. „Richthofen-Gemeinschaftslager“, dessen bauliche Reste allein aus einer Sohle aus Betonplatten bestanden, enthielt viele auf Einzelpersonen verweisende Funde, etliche davon neben bzw. unter den Platten. Darunter waren neben Aluminium-Plaketten mit dreistelligen Zahlen eine ganze Reihe kleiner Schmuckobjekte (Bernbeck und Pollock 2015). Ich gehe auf das Interpretationspotenzial solcher Funde besonders in den Kapiteln 3 und 4 näher ein. Von den aus der Nazi-Zeit stammenden Feuerlöschteichen auf dem Tempelhofer Feld existiert einer bis heute. Diese Strukturen waren mit Beton ausgekleidet, ca. 4 m tief und mit Schrägwänden versehen. Die Grabungen beschäftigten sich mit zwei dieser Installationen. Ein Löschteich direkt südlich des LufthansaLagers wurde in den Jahren unmittelbar nach Kriegsende von den U.S. Besatzungstruppen als „trash point“ benutzt und enthält eine extrem dichte Ansammlung an Müll. Hier sind Funde aus der Nazi-Zeit mit denen aus den frühen Nachkriegsjahren vermischt, wobei zumindest letztere über die Anfänge der U.S.Besatzungszeit wertvolle Auskünfte geben können. Ein zweiter Feuerlöschteich wurde in der „Barackenstadt“ am Tempelhofer Damm untersucht. Schon aus Dokumenten im Flughafen-Archiv war bekannt, dass diese Installation nach dem Zweiten Weltkrieg als Schwimmbad benutzt worden war, was sich durch die Grabungen bestätigen ließ. Barackenreste wurden in allen Lagern ergraben. Unter den von uns sondierten Bauten können Wohnbaracken von einer Küchenbaracke mit T-förmigem Grundriss nahe des Lufthansa-Lagers unterschieden werden. Letztere wurde in ihrer Kantinenfunktion bis in die Nachkriegszeit weiter genutzt. Im LufthansaLager legten wir die Reste von zwei Wohnbaracken frei, im Weserflug-Lager

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am Columbia-Damm Spuren von fünf derartigen Bauten und am Tempelhofer Damm eine. Etliche weitere Holzbaracken können auf Luftbildern der Royal Air Force identifiziert werden. Grundsätzlich bestätigen unsere Grabungen zudem eine interne Zweiteilung aller dieser Bauten in einen langen, auf Holzpfählen gesetzten, gedielten Wohnbereich und einen kleinen, an einem Ende gelegenen Sanitärbereich mit Betonboden. Aufgrund der Pfostenbauweise konnten wir die Raumeinteilung im Wohnbereich der Baracken nicht archäologisch erforschen. Jedoch lassen Großbaracken-Schemata aus der Nazi-Zeit darauf schließen, dass die Tempelhofer Langbauten innen durch einen Flur in zwei Stubenfluchten aufgeteilt waren, wobei diese Stuben von uneinheitlicher Größe sein konnten (s.a. Kapitel 5). Aus den Befunden am Columbia-Damm – stark verbrannte Erde, verkohlte Pfosten und geschmolzenes Glas – wird deutlich, dass etliche Baracken des Richthofen-Lagers durch einen Bombenabwurf verwüstet worden waren (s. S. 105–107; Abb. 2.14; Bernbeck und Pollock in Druck). Der plötzlichen Zerstörung entsprechend trafen wir in diesem Bereich recht viele Funde an, die beim unvermittelten Verlassen der Baracken am Ort verblieben waren und danach nicht mehr aufgesucht werden konnten. Die baulichen Reste im Bereich der Barackenstadt am heutigen Tempelhofer Damm waren dagegen vergleichsweise schlecht erhalten und bestehen einzig aus verlagerten Fundamentresten aus Beton. Die erwähnte Küchenbaracke war sehr viel massiver als die anderen Baracken gebaut, wobei ein Nord-Süd-ausgerichteter, kürzerer Teil nach vorhandenen Unterlagen des Flughafen-Archivs als Küche, der Querteil als Speiseraum diente. Den nördlichen Teil der Baracke hatte man unterkellert, und zudem zu einem unbekannten Zeitpunkt mit einer massiven Betondecke versehen, die offensichtlich aus dem Kellergeschoss einen sicheren Unterstand bei Luftangriffen machen sollte. Nördlich davon befand sich unter anderem eine Abfallgrube, die eine klare Schichtung hatte: ein unterer, in den Zweiten Weltkrieg datierender Abfallkontext ist durch ein dünnes Band aus Sand und Schluff von einer in die direkte Nachkriegszeit datierenden Schicht getrennt (S. 346–349; Becker und Gütter in Druck). Zwangsarbeitslager waren zentral geplante, großflächige Organisationseinheiten, die neben den primitiven Wohngelegenheiten dann ein Mindestmaß an Infrastruktur aufwiesen, wenn die Zwangsarbeit für das politische System und insbesondere die Kriegsführung unabdingbar schien. Wasser- und Stromleitungen wurden in den Bereichen der Lufthansa- und Weserflug-Lager am Nordende des Tempelhofer Feldes identifiziert. Beleuchtung hatte gerade im Außenbereich Überwachungsfunktion, natürlich nur solange, wie es keinen Verdunkelungsbefehl gab. Für das Weserflug-Lager am Columbia-Damm konnten wir die Res-

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te einer Zentralheizungsanlage erschließen, für die auch Pläne aus den Resten des Flughafenarchivs bekannt sind. Die von uns gefundenen materiellen Rudimente von Einsperrung bestehen aus Stacheldraht, Drahtspannern für Zäune und einbetonierten Eisenpfosten, die aber nicht mehr in situ angetroffen wurden. Ein noch straffer, auf Unterboden-Niveau verlegter doppelter Stacheldraht gehört zu einer Spezial-Eingrenzung um zwei Baracken für Kriegsgefangene aus der Sowjetunion (s.S. 280–282; Abb. 5.6). Ausgrabungen am Backsteingebäude der Militärarrest-Anstalt, des späteren KZ Columbia, gestalteten sich äußerst schwierig. Das aus einem Ost–West– Flügel am Columbia-Damm und zwei Seitenflügeln in Nord–Süd–Richtung bestehende Gebäude war im Zuge des Flughafen-Neubaus 1938 abgerissen worden. Nur in einem einzigen Bereich der Straßenfront des Baus waren nach Aktenlage und Leitungsplänen noch eventuelle Baureste zu erwarten. Da es sich hierbei um einen schmalen Streifen direkt südlich des heutigen ColumbiaDamms handelte, mussten die Grabungswände zur Sicherheit mit Stahlverbauplatten ausgesteift werden. Tatsächlich konnten hier tief unter der heutigen Oberfläche Baureste identifiziert werden, auf die ich in Kapitel 2 näher eingehe. Eine Sondierung des in den 1920er Jahren gebauten Flughafens am Südende der damaligen Lilienthalstraße war eine Aufgabe für die Ausgrabung von 2012, da die Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz damals noch von einer Parkplanung und der Anlage befestigter Wege durch das Tempelhofer Feld ausging, die eventuelle Baureste hätten zerstören können. Das ehemalige langrechteckige Empfangsgebäude wurde daher angeschnitten. Es ergab sich, dass in diesem Hauptgebäude nur noch die Kellermauern vorhanden sind. Selbst diese waren jedoch bis weit unter die heutige Geländeoberfläche sauber per Hand abgetragen worden, was vermutlich seinen Grund darin hat, dass man die Ziegel des Baus für die Reparatur kriegsgeschädigter Mietwohnungsblöcke der Umgebung nutzte. Die Mauerreste entsprechen genau den noch vorhandenen Bauplänen und stammen von der ehemaligen Männergarderobe, dem Materiallager und dem Heizungskeller, in dem sich etliche Zylinder von Flugzeugmotoren fanden. Von den nicht unterkellerten Hangars westlich des Hauptgebäudes sind in zwei Ausgrabungsschnitten Reste von Betonestrich und von massiven Schiebetür-Schienen aus Metall erhalten. Die archäologischen Arbeiten in Tempelhof lassen sich nicht mit anderen Grabungen antiker und vorgeschichtlicher Zeiten vergleichen. Schon in der dem Berliner Senat als Finanzier vorgelegten Projektskizze hatten wir auf das durch die Stadtregierung für 2013 ausgerufene Jahr der „Zerstörten Vielfalt“ verwiesen, ein Negativ-Jubiläum, welches die 75 Jahre seit der Pogromnacht und die 80 Jahre seit der Wahl Hitlers zum Reichskanzler markieren sollte. Für die am

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Grabungsprojekt Beteiligten war die Ausgrabung an einem KZ und mehreren Zwangsarbeitslagern keine alltägliche archäologische Aktivität. Die Reaktionen auf die Auseinandersetzung mit Orten des Leides und der Unterdrückung nahmen unterschiedliche Formen an, wie ich in Kapitel 6 erläutere. Sicher spielten in manchen Situationen auch bei den Grabungen in Tempelhof Routine, Zeitdruck, oder Sachzwänge des Dokumentierens eine Rolle, die die Empathie des ersten Augenblicks abschwächen konnten. Doch ebenso dürften besondere Befunde und Funde eine Kraft der Evokation gehabt haben, die ein eher „gedenkendes Ausgraben“ beförderte. Ob und wie eine Ausgrabung die Einstellungen gegenüber der dunkelsten historischen Epoche Deutschlands und Europas beeinflussen kann, ist aber wohl erst mit einigem Abstand zu ermessen. Unabhängig davon war das Ausgraben in Tempelhof aber eine Arbeit gegen das Vergessen. Wie notwendig dies ist, wurde bei Führungen deutlich, wenn ZuhörerInnen ihre Überraschung und Nichtwissen über die Zwangsarbeitslager am Tempelhofer Feld kundgaben. Konkreter als nur das „Nicht-Vergessen“ war die Bemühung, die vergangenen Bedingungen vor Ort durch archäologische Arbeiten methodisch so zu erschließen, dass Interpretationen über die rein sachliche Auflistung materieller Überreste hinausgehen können und eine Annäherung an ehemaliges Erleben der unmenschlichen Zustände erlaubt. Erinnerungspolitische Komponenten der Ausgrabung bestanden in den wöchentlichen Führungen, die während der Ausgrabungszeit stattfanden, in Vorträgen in den Räumen der Berliner Geschichtswerkstatt und an diversen Universitäten. Weiterhin produzierte das Ausgrabungsteam dreisprachige Informationstafeln in Deutsch, Englisch und Türkisch, die an den Bauzäunen aufgehängt waren. Besonders erfreulich war im Jahr 2013 die Resonanz von außen. Zwei Studierende (Freie Journalistenschule Berlin, Adam Mickiewicz Universität Poznań) kamen zu Interviews für akademische Abschlussarbeiten, die die Grabungen als einen Teil der historischen bzw. kulturanthropologischen Forschung des Tempelhofer Feldes mit einschlossen; auch fünf Geographinnen der École Normale Supérieure in Paris suchten die Grabungen für Recherchen zum Umgang mit der Vergangenheit im urbanen Umfeld auf. Ein ganzes Seminar am Friedrich Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin lief im Frühjahr 2013 zum Thema „Zwangsarbeit in Tempelhof“ und führte zu mehreren Interviews mit Studierenden des Studiengangs Public History der Freien Universität (s. Geschichte im Web 2.0 2013). Nicht jeder Kontakt mit der Öffentlichkeit war unproblematisch. Die in Zusammenhang mit Medien-Interviews immer wieder auftretenden Schwierigkeiten erläutere ich in Kapitel 6. Um gerade diese eher ungewohnten Tätigkeitsfelder einer Kritik zu unterwerfen, untersuchte ein Team

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um Dr. Antonia Davidovic unsere Bemühungen im Sinne einer Archäoethnographie (s. Edgeworth 2006; Hamilakis und Anagnostopoulos 2009). Extra erwähnen möchte ich hier eine Veranstaltung am 14.7.2013. An diesem Tag jährte sich zum 80. Mal die Inhaftierung Kurt Hillers, der am 14.7.1933 im KZ Columbia inhaftiert wurde. Kurt Hiller war einer der ersten und bekannteren Häftlinge im Columbia-Haus, da er seine Erlebnisse im KZ bald nach Freilassung im Jahr 1935 in der Exilzeitschrift Neue Weltbühne publizierte (s. Hiller 1990). Aus diesem Anlass organisierte die Grabung eine Gedenkveranstaltung, bei der Kurt Schilde als einer der besten Kenner der Geschichte dieses Konzentrationslagers eine Ansprache hielt. Mitglieder der Ausgrabung verlasen Texte ehemaliger Inhaftierter, und eine Führung zu dem an diesem Tag noch offenen Grabungsschnitt am KZ Columbia schloss sich an. Die Ausgrabung fiel zudem zeitlich zusammen mit einer Ausstellung in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand zum KZ Columbia mit dem Titel Warum schweigt die Welt? (Georg, Schilde, und Tuchel 2013).



2. Zur Dinglichkeit von Texten, Bildern und Gegenständen

Betrachtungen der Vergangenheit stützen sich, wenn sie Wahrheitsansprüche hegen, immer auf Evidenzen. Die Auseinandersetzung mit der Nazi-Zeit macht keine Ausnahme, wobei sich aber die Arten der Evidenz, die man heranzieht, seit 1945 deutlich verändert und verschoben haben. Traditionell nennen wir die Aspekte des Vergangenen, auf die wir uns bei diesem Modus der Auseinandersetzung stützen, „Quellen.“ Ein Narrativ, eine Ausstellung, eine Bebilderung vergangener Zeiten konzentriert sich bei der Nutzung von Erlassen, Tagebüchern, Interviews, Fotos, oder Filmen meist auf deren Inhalt, seltener auf deren Form: wir erblicken in einem Foto der Tribüne des 1. Mai 1933 auf dem Tempelhofer Feld die gewagte Konstruktion Albert Speers (s. Milert and Tschirbs 2013, 70 oben). Der Winkel, aus dem die Aufnahme gemacht ist, die Körnung des Fotopapiers oder die Belichtung sind zunächst scheinbar kaum von Belang. „Die paradoxe Funktion des Mediums Fotografie ist es, seine eigene Medialität aufzuheben“ (Geimer 2009). Was für Fotografien gilt, ist erst recht bei Schriftdokumenten der Fall, die wir zu körperlosen Texten reduzieren, zu Wörtern, deren papierner, steinerner oder Flüssigkristall-Hintergrund nicht von Interesse ist. Beide Medien haben die paradoxe Funktion, zur Ignoranz ihrer Existenz zu treiben. Solche eigentlich dreidimensionalen Objekte werden zu zweidimensionalen Quellen, die den Charakter eines perfekten, nicht wahrgenommenen Fensters haben, durch das wir in die Vergangenheit sehen. Ben Kafka formulierte dazu die Mahnung, wir sollten durch Dokumente nicht nur hindurchsehen, sondern sie auch ansehen (Kafka 2009). Ein erheblicher Grund für das „Durchsehen“ ist, eine möglichst große Zahl derartiger Akten, Zeichnungen, Abbildungen oder anderer archivierter Objekte verarbeiten zu können. Dadurch aber entwickelt sich ein Eigenverhältnis zu diesen Objekten, das man als imaginierte Transparenz bezeichnen kann. Dieses besondere Verhältnis liegt an unserem instrumentellen Denken, welches Quellen nur als Mittel zum Zweck, als Weg zum Ziel der

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Vergangenheitsrekonstruktion wahrnimmt.9 Die Durchsichtigkeit steht also mit unserer praktischen Absicht einer Durchsicht in direktem Zusammenhang. Für andere materielle Objekte der Geschichte haben wir einen solch selektiven Blick nicht entwickelt. Ganz im Gegenteil, von Schrift und Abbildungen freie Dinge scheinen uns weitestgehend undurchsichtig. Der Blick prallt an ihnen geradezu ab, wir sehen sie kategorisch anders, als Körper. Diese Intransparenz führt zu einem reinen Ansehen. Wir fühlen uns daher veranlasst, Dinge zu beschreiben, zu klassifizieren, ja sie durch Fotografieren in einen transparenten Kontext zu setzen. Nur beschrifteten Gegenständen wie z.B. Emailleschildern oder Porzellantellern mit Fabrikstempel mag man noch eine gewisse Durchsichtigkeit zugestehen.10 Im Folgenden werde ich die drei für die Historiographie der Nazi-Zeit wichtigen Quellenkategorien der schriftlichen Dokumente, Fotografien und der materiellen Funde und Befunde auf die Dialektik von Ansicht und Durchsicht genauer untersuchen.

A RCHIVMATERIAL

UND

M ATERIALITÄT

DES

A RCHIVS

Im Archiv der „Berliner Flughafengesellschaft“ (BFG) befinden sich etliche Ordner mit Abrechnungen der Steinsetzerfirma Paul Gresitza, die auf dem Tempelhofer Flugfeld größere und kleinere Arbeiten durchgeführt hatte. Gresitzas Betrieb hat den Zweiten Weltkrieg gut überlebt. 11 In der Nazi-Zeit war die Stein setzerfirma häufig für die „Bauleitung der Luftwaffe“ auf dem Tempelhofer Feld tätig, wie etliche Rechnungen verdeut.lichen. So findet sich ein einfacher Zettel über aufgelistete Tageslohnarbeiten von insgesamt 25,5 Arbeitsstunden für



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Die einzige auch in Handbüchern erörterte Ausnahme ist die Prüfung der Echtheit der Quelle.

10 Eine Ausnahme stellen in Hinsicht auf das Durch- oder Ansehen nur nicht-fotografische Bilder und andere figurative Repräsentationen wie Statuen und Reliefs dar, weil sie am ehesten von der dialektischen Beziehung des Dargestellten und des Modus des Darstellens gekennzeichnet sind. Manche Objekte werden von jeweiligen Disziplinen deutlich unterschiedlich wahrgenommen. So sind etwa Keilschrifttafeln für ArchäologInnen Objekte, die allerdings fast immer ins Lager der transparenten, quasi körperlosen Texte wechseln, wenn sie in die Hände der Assyriologie gelangen. 11 Die Firma übernahm im Jahre 1991 die Innenpflasterung der von Helmut Kohl persönlich mitgestalteten „Neuen Wache“ (Gresitza 2016). Dieser Ort im Zentrum Berlins gedenkt der Täter und Opfer des Nazi-Regimes an ein- und demselben Ort.

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Abbildung 2.1: Rechnung über 25 ½ Arbeitsstunden polnischer Zwangsarbeiter für Arbeiten an der Startbahn im Bereich eines Lagers der „Weser Flugzeugbau GmbH“





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„Aufräumungsarbeiten auf der Plattenbahn, und zwar in Zusammenhang mit dem „Barackenlager Weserflug“ (Abb. 2.1). Hinter den Arbeitsstunden ist vielsagend „(Polen)“ vermerkt, mit in Rechnung gestellten 0,78 Reichsmark pro Stunde plus 42%, was wohl der Arbeitgeberanteil an der Sozialversicherung war.12 Die mit insgesamt 28,32 Reichsmark in Rechnung gestellten Arbeiten fanden am 11.3.1942 statt, die Rechnungsstellung erfolgte allerdings erst am 24. Juli desselben Jahres. Ich möchte an dieser Stelle das Dokument etwas genauer als ethnographisches Objekt untersuchen, bei dem nicht nur die semiotische, sondern die materielle Seite eine erhebliche Rolle spielt. Matthew Hull (2012) fasst Forschungen zur Materialität von Dokumenten unter drei Rubriken zusammen, von denen zwei für meine Zwecke von Relevanz sind. Eine meint eine äußere, „ästhetische“ Dimension, welche Spiegelstriche, Absätze, Einschübe, Schriftarten und -größen, aber auch Stempel, Unterschriften und Initialen untersucht. Familiarität mit einer bestimmten papiernen Ästhetik gehört zu den kulturellen, wenig beachteten Seiten der Bürokratie. Eine zweite Dimension von Akten ist ihre konjunktive Macht, die Fähigkeit, Personen, Dinge, andere Dokumente und Institutionen miteinander zu verknüpfen. Schon Max Weber schrieb, dass „die moderne Amtsführung [...] auf Schriftstücken (Akten) [beruht], welche in Urschrift oder Konzept aufbewahrt werden, und auf einem Stab von Subalternbeamten und Schreibern aller Art. Die Gesamtheit der bei einer Behörde tätigen Beamten mit dem entsprechenden Sachgüter- und Aktenapparat bildet ein ‚Büro‘“ (M. Weber 1972, 552; Hervorhebung im Orig.). In einer Latour nahestehenden Weise beschreibt Weber ein Büro als heterogene Verflechtung von Personen, Beziehungen, Repräsentationen und Materialien.13 Wenden wir uns der Dokument-Ästhetik des Beispiels zu. Es handelt sich um ein Formular, welches die Firma RNK für die „Heeresbauverwaltung der Luftwaffe“ erstellt hatte. Bestimmte Forderungen des Vordrucks („Beleg-Nr. der Baurechnung – in Rot zu schreiben“) werden nicht befolgt, hingegen sind eine durchgestrichene Belegnummer des Privatbetriebs (3403) und eine neue im Eingangsstempel der staatlichen Militärstelle rechts oben (2524) sichtbar. Das Da-

12 Die polnischen ZwangsarbeiterInnen konnten, wenn überhaupt, erst ab Mitte 2001 diesen Betrag von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) erhalten (Arning 2001, 125; Körner 2001). 13 Schofield (2009) versucht eine „Archäologie des Büros“, die merkwürdig apolitisch ausfällt und lediglich auf die affektiven Aspekte hinweist, die nach Ausräumen einer Amtsstube aufkommen.

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tum des Eingangs, der 1.8.1942, liegt also grob eine Woche nach Abfassung, mit Initialen der Verwaltung in Grün. Am 8. September wurde die auf dem Schriftstück vermerkte Arbeitsleistung von einem technischen Angestellten namens „Dahm“ oder „Daum“ als „fachtechnisch richtig und festgestellt“ gestempelt und unterschrieben, wonach das Schriftstück an einen Verwaltungsangestellten namens Zimmer weitergegeben wurde, der einen Tag später „nachgerechnet“ und den Vorgang nochmals bestätigt hat. Aus den kleinen Haken und Unterstreichungen im selben Grün wie die Unterschrift „Dahm/Daum“ ist zu erschließen, dass die Person „Zimmer“ nicht wirklich nachrechnete, sondern als Vorgesetzter die Berechnung vom Vortag bestätigte. Zu welcher Behörde oder Firma Zimmer gehörte, ist aus dem Dokument nicht abzulesen. Am 13. Oktober setzte der stellvertretende Bauleiter am Flughafen klein in blauschwarzer Tinte seine Initialen und den grünen Stempel „sachlich richtig“ darunter. Oben rechts und unten links auf dem Papier befinden sich weitere Stempel mit der Abkürzung GtV-E und darüber „Geprüft und in Ordnung“ sowie ein Stempel der „Weser Flugzeugbau Gesellschaft“ mit einer neuen Vorgangsnummer 1697 und einem Datum vom 20. Oktober. Das letzte Datum auf unserem bürokratischen Vorgang ist der 21.11.1942, als die Zahlung tatsächlich angewiesen wurde. Zur Ästhetik der Dokumente gehören Schriften. Das Formular und die meisten Stempel der Luftwaffe, also der staatlichen Stellen, nutzen die Frakturschrift, während die Stempel der Privatfirmen Gresitza und Weser Flugzeugbau Antiqua-Lettern verwenden. Dies ist kein Zufall, denn die Schriftästhetik des „Dritten Reichs“ war eine durch und durch politisierte. Im „Normalschrifterlass“ vom Januar 1941 war die Frakturschrift verboten worden. Martin Bormann hatte die gotischen Schriften in einem Rundbrief als angebliche „Schwabacher Judenlettern“ verbannt.14 Die Privatfirmen Gresitza und Weser Flugzeugbau benutzten die geforderten Antiqua-Lettern, ebenso wie der große rote Stempel „Gilt nicht als Kassenanweisung“, während die Luftwaffe großenteils „alte“ Stempel in ihren Büros behielt. Eine dritte Schriftart ist ebenfalls durchdrungen von politisierter Ästhetik. Die fetten roten Lettern „2. Ausfertigung“ und das „Nachgerechnet“ des Verwaltungsangestellten Zimmer sind in der 1933 entwickelten Schriftart „Tannenberg“ gehalten, die man ironisch als „Schaftstiefelgrotesk“ bezeichnete. Diese Ästhetik einer vereinfachten Fraktur ist nicht ohne Grund bis heute mit der Nazi-Zeit und extremem Nationalismus verbunden (Willberg 2001). Auf manchen Stempeln erscheinen Fraktur und Antiqua zusammen, wie auf der Zahlungsanweisung rechts unten oder dem „Nachgerechnet“-Stempel des Angestell-

14 Bundesarchiv Koblenz, NS 6/334.

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ten Zimmer.15 Handschriftliche Eintragungen sind Zahlen, Unterschriften, Unterstreichungen und die o.g. Häkchen. Alle Handschriften sind lateinisch, abgesehen von dem Bleistifteintrag „Weserflug“ oben links in der (ebenfalls verbotenen) Sütterlinschrift. Die kleine Unbotmäßigkeit der Nutzung einer seit dem Bormann-Erlass illegitimen Schrift bezeichnet den Bomberproduzenten „Weser Flugzeugbau“ zudem in einer inoffiziellen Abkürzung als „Weserflug“, was sich im maschinengetippten Rechnungsteil wiederfindet. Noch heutzutage zeigen Unterschriftfarben Hierarchieniveaus in staatlichen Verwaltungen an, mit Grün für die obersten, Rot für die mittleren und Blau für die unteren Ebenen. Die Vielfarbigkeit des hier erörterten Dokuments und zahlreicher weiterer des Tempelhofer Flughafenarchivs mag auf ähnliche Standards zurückzuführen sein. Jedoch scheint bei dem vorliegenden Dokument eher eine funktionale als hierarchische Gliederung der Farben vorzuliegen: technische und Bau-Verwaltungsstellen nutzten eher die grüne, Verwaltungsstellen (Bezahlung) und die Unternehmen die blaue Farbe beim Stempeln. Rot hingegen wurde verwendet, um den Status des Dokuments selbst anzuzeigen: es ist kein Aktionen veranlassendes Schriftstück, sondern schlicht ein Duplikat für ein Archiv, das nur der Luftwaffe zugeordnet werden kann. Eine genaue Untersuchung der Dokument-Ästhetik zeigt insgesamt die Position unterschiedlicher bürokratischer Stellen samt deren materiellem Apparat, die an der Herstellung dieser Akten beteiligt waren. Bemerkenswert ist, dass diese Tempelhofer Akten bis heute leicht lesbar und in vielen Einzelheiten in ihrem Entstehungsprozess nachvollziehbar sind. In einer grundlegenden ethnomethodologischen Studie zu Akten zeichnen Garfinkel und Bittner (1967) nach, dass Dokumente Teil des Prozesses selbst sind, den sie dokumentieren. Diese Selbstreferentialität ist aber nicht für alle Schriftstücke gleich ausgeprägt. Vielmehr lassen sich lückenhaft ausgefüllte Akten von vollständig und gewissenhaft ausgefüllten „actuarial records“ unterscheiden. Garfinkel und Bittner kamen auf die Idee, sich Dokumentationsverfahren genauer anzusehen, nachdem sie bei einem soziologischen Projekt sehr unvollständig erstellte Formulare vorgefunden hatten. Nach anfänglichem Ärger begannen sie, zu erforschen, warum die sie interessierenden Akten so lückenhaft waren und kamen zu dem Schluss, dass solch ein pragmatisches Ausfüllen für eine Gruppe von AdministratorInnen und KlientInnen vorteilhaft sein kann: Das Formular übernimmt dann eine Kontrakt-Funktion zwischen den Beteiligten und ist in ge-

15 Dass es sich nicht um jeweils zwei unterschiedliche Stempel mit nur einer Schrifttype handelt, lässt sich an anderen Dokumenten im Archiv mit identischen Stempelungen nachprüfen.

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genseitigem Einvernehmen erstellt, anstatt auf Dritte, potenziell Überprüfende ausgerichtet zu sein. Natürlich stellen solche Akten Außenstehende vor Probleme, weil sie einseitig und unsystematisch sind. Viel leichter auszuwerten sind Formulare, die Garfinkel und Bittner (1967, 202–203) als „actuarial records“ bezeichnen, bei denen nicht der Einzelvorgang selbst im Zentrum des bürokratischen Apparats steht, sondern die komplette Nachvollziehbarkeit desselben durch Unbeteiligte. Genau diesen Dokument-Typ und die ihn produzierenden Praktiken haben wir im Tempelhofer Aktenbestand vor uns, eine Situation, die den Interessen von HistorikerInnen, auf jeden Fall aber KontrolleurInnen der damaligen Zeit entgegenkam und -kommt. Man kann hier Klassifikationen der kontingenten Realität und deren Transformation durch Standardisierung nachvollziehen. Diese waren in vorgestanzte Entscheidungsprozesse eingebunden, welche wiederum fest in amtlichen Abteilungen (hier: des Militärs) verankert worden waren. „To convert arbitrariness into necessity“ war das Ziel (Herzfeld 1992, 162). Die Stempelei und ausgeprägte Bestätigungswut sind nicht nur Ausdruck von Genauigkeit, sondern indizieren eine Futur-Zwei-Mentalität, also eine Projektion der Gegenwart als zukünftige Vergangenheit. Monumentalisiert äußert sich diese in Albert Speers „Theorie des Ruinenwerts“, nach der Speer (1969, 69) seine Bauten so geplant haben will, dass sie nach „Tausenden von Jahren etwa den römischen Vorbildern gleichen“ sollten.16 Es ist die Vorstellung einer Zukunft, die einmal auf die gerade ablaufende Gegenwart hin zurückblickt. Sie impliziert Temporalitäten, die dem improvisierenden Alltagshandeln zuwiderlaufen, welches Bourdieu (1998) in seinen Arbeiten theoretisch einzufangen versucht hat. Die Handlungslogik der BürokratInnen hatte einen projektiven Referenzrahmen, einen Erwartungshorizont, der von einer vorgestellten Zukunft ausging, die die Langlebigkeit des politischen Systems, mithin seiner Kontrolleure, als selbstverständliche Entwicklung annahm und eine ganz andere Zukunft kategorisch ausschloss. Wir finden hier alle Elemente des vorauseilenden Gehorsams. Schon die rein formale Ebene der Dokumente offenbart uns also Unterwürfigkeit. Diese Einstellung ist jedoch nochmals zu differenzieren in eine passive Auslieferungsunterwürfigkeit einerseits und die hier vorliegende, tatkräftig mitwirkende Vollstreckungsunterwürfigkeit andererseits. Das bedingungslose Einordnen in eine Bürokratie geht einher mit dem aktiven Verordnen, welches anweist, verfügt, und damit einen Aufforderungscharakter annimmt. Ein Schreibtischtäter ist kein indifferenter Exekutor der Wünsche anderer, wie dies

16 Der Ausdruck „Ruinenwerttheorie“ ist wahrscheinlich eine post hoc-Erfindung Speers (Schönberger 1987).

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bei Michael Herzfeld (1992) durchscheint, sondern eine Person, die auf routinierte, aber letztlich für sie selbst durchaus hinterfragbare Weise das bürokratische System und seine KlientInnen – in unserem Falle: seine Opfer – mit konstituiert. „However vivid Hitler’s imagination [was], it would have accomplished little had it not been taken over, and translated into a routine process of problemsolving, by a huge and rational bureaucratic apparatus“ (Bauman 1989, 105). Wir haben bei den obigen Daten für die Bezahlung von 25 ½ Arbeitsstunden eine Bürokratie vor uns, die zur Verarbeitung im Betrieb Gresitza allein schon mehr als vier Monate benötigte, um den Vorgang zur Bezahlung einzureichen. Die folgende Bearbeitung durch die Luftwaffe und die Firma Weserflug dauerte insgesamt nochmals fast vier Monate. Dabei ging das Papier immerhin über mindestens sechs weitere Schreibtische. Die Zeit der Bearbeitung dieser Rechnungsstellung und -prüfung dürfte damit nur unwesentlich unter den 25 ½ Stunden abgerechneter Arbeitszeit liegen. Wer gründlich nachsieht, findet auf der Rechnung eine Gesamtzahl von 17 Stempeln verschiedener Arten: bei einigen lässt sich das Datum umstellen, bei anderen sind Lücken für Unterschriften gelassen, manche haben einen Rahmen, andere nicht. Nach Farben untersucht, finden wir mindestens zwölf unterschiedliche Stempelkissen. Die Materialität des Dokuments verweist also auf ein ausschweifendes Netzwerk an Büromaterialien, in welches die Verwaltungspraktiken in Tempelhof eingebunden waren. Ein inhaltlicher Hinweis ergibt sich aus dem Vermerk „lt. anerkanntem Tagelohnzettel.“ Die Rechnung konstruiert damit nicht nur die Verbindung zu einem anderen Papier, dem Tagelohnzettel, sondern auch zur dort mit Sicherheit ebenfalls anzutreffenden Mentalität des Prüfens und Bestätigens: auch dieser Zettel ist „anerkannt.“ Zur Assemblage, die die Rechnung indiziert, gehörten zudem die Bürozimmer, deren verschließbare Türen, Schreibtische, Umlaufhefter und Personen, deren Namen uns teilweise in der Rechnung genannt werden. Vernetzungen zwischen dem Papier und anderen Teilen dieser Büro-Assemblage zeigen einen internen Rhythmus des Umlaufs an. So sind Abstände von etwa Monatslänge jeweils gefolgt von sehr viel kurzfristigeren Aufenthalten der Rechnung in einem anderen Büro. Aus dem Dokument kann man nicht eindeutig herauslesen, ob es im Absender- oder Empfängerbüro für eine längere Frist lag, jedoch war es mit größter Wahrscheinlichkeit bei den Absendenden. So hatte der/die technische Angestellte Dahm (bzw. Daum) die Rechnung fast 40 Tage in seiner/ihrer Obhut, bevor sie weitergesandt wurde, während der nachfolgende Verwaltungsangestellte sie sehr schnell an die Bauleitung weiterreichte. Auffällig ist auch, dass der Betrieb Weserflug den Vorgang sehr schnell bescheinigte. Die Rolle der Firma Weserflug bleibt insgesamt in diesem Dokument unklar. Handschriftlich heißt es, die Arbeiten hätten der Startbahn gegolten. Die Weser-

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flug als Herstellerin von Bombern hatte mit Bauarbeiten an der Startbahn eigentlich nichts zu tun. „Plattenbahn“ mag sich jedoch auf den noch heute unverändert vorhandenen, mit Platten belegten Bereich beziehen, wohin im ersten Halbjahr 1942 das Zwangsarbeitslager der Weserflug signifikant ausgedehnt wurde, um für insgesamt neun neu gebaute Baracken Platz zu schaffen (s.S. 243–245 und Tabelle 4.1). Tabelle 2.1: Umlauf-Zeiten einer Rechnung der Firma Gresitza, Luftwaffe Tempelhof und Weserflug Stempel-/ Unteschriftsdatum

Dauer bis Weiterreichung (Tage)

1.8.

Amt oder Firma

Status der Person

Name oder Initialen

Luftwaffe

?

Dh (?) unleserlich)

8.9.

39

?

9.9.

1

?

13.10.

34

Luftwaffe

20.10.

7

21.11.

31

Summe

112

Techn. Angestellter Verwaltungsangestellter

Dahm/Daum Zimmer

Bauleitung

Th. (?) (unleserlich)

Weser Flugzeugbau

?

W. Hollmann

?

Verwaltungsangestellter

K

Papiere dieser Art steuern Abläufe, sie rufen Entscheidungen durch ihr Auftauchen über den „Aktenumlauf“ in bestimmten Amtsstuben hervor. Zudem erfordern sie nach den Regeln der Bürokratie den Prozess der angemessenen Weitergabe. Akten scheinen uns statisch zu sein, obwohl sie eigentlich einen Weg nehmen, der Verhältnisse zwischen den Stationen, die sie ansteuern, stabilisiert und so die bürokratischen Strukturen dauernd reproduziert. Dokumente konstruieren also im routinierten Tagesablauf die genauen Grenzen und Relationen zwischen Verwaltungseinheiten. Das ist eine ihrer wichtigsten, selten thematisierten Funktionen. Diese Fähigkeit zur Affirmation von Teilbereichen in einem Apparat konstituiert damit den gesamten Aufbau einer Verwaltung und legitimiert ein System welches letztlich weit über den einzelnen Verwaltungsapparat hinausreicht. Nicht zu vernachlässigen ist auch, dass in finalen Firmenabrechnungen etwa des Tempelhofer Archivs die „Stempelsteuer“ bezahlt wurde, dass also der Umlauf durchaus nicht nur als staatlich eingerichteter Amtsprozess verstanden wurde, sondern als eine in die Warenlogik integrierte Dienstleistung.

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Derartige Verwaltungspraktiken, die die von Garfinkel und Bittner beschriebenen „actuarial records“ produzieren, gehen einher mit einem Idealtyp der Verwaltung, den Max Weber als ihren ‚rationalen Charakter‘ beschreibt: „Regel, Zweck, Mittel, ‚sachliche‘ Unpersönlichkeit beherrschen ihr Gebaren. Ihre Entstehung und Ausbreitung hat daher überall in jenem besonderen, noch zu besprechenden Sinne ‚revolutionär‘ gewirkt, wie dies der Vormarsch des Rationalismus überhaupt auf allen Gebieten zu tun pflegt.“ (Weber 1972, 578–579, Hervorhebung im Orig.)

Die BürokratInnen, über deren Tisch die Tempelhofer Rechnung ging, verkörperten diese Sachlichkeit, bestärkt durch ihre Stempel, die ihnen die Autorität gaben, Vorgänge als „fachtechnisch richtig“, „geprüft und in Ordnung“ oder „sachlich richtig“ zu beurteilen. Das materielle Netzwerk an Dingen, vom Formular über Tinte, Stifte, Schriftarten bis zu Ordnern und Räumlichkeiten ist also erheblich beteiligt an der Produktion bürokratischer Subjekte samt ihrer je spezifischen Entscheidungsmacht, nicht nur daran, wie diese Entschlüsse sich auf letztlich Betroffene, hier die Zwangsarbeiter, auswirken. Max Weber charakterisiert die Mentalität der verwaltungsinhärenten Abstraktion und vermeintlichen Interesselosigkeit zumindest teilweise positiv als „die Herrschaft der formalistischen Unpersönlichkeit: sine ira et studio, ohne Haß und Leidenschaft, daher ohne ‚Liebe‘ und ‚Enthusiasmus‘, unter dem Druck schlichter Pflichtbegriffe; ‚ohne Ansehen der Person‘, formal gleich für ‚jedermann‘, d.h. jeden in gleicher faktischer Lage befindlichen Interessenten, waltet der ideale Beamte seines Amtes.“ (Weber 1972, 129; Hervorhebungen im Orig.)

Jeder sich in gleicher faktischer Lage Befindliche: also werden alle polnischen Zwangsarbeitenden gleich behandelt. Hatte Max Weber die Möglichkeit der inhumanen Auswirkungen nicht bedacht, die sich automatisch einstellen, wenn Gleichheit nur innerhalb scharf politisch kategorisierter Gruppen mit unterschiedlichen Rechten gilt? Wenn, wie heute bei ImmigrantInnen, große Kreise einer Gesellschaft kategorisch anders im bürokratischen Ablauf verdinglicht werden als die Mehrheit? Den Tempelhofer BürokratInnen jedenfalls fiel nicht ein, dass die rassistische Einteilung selbst potenziell geboten hätte, die Weber’sche „Unpersönlichkeit“ zu überwinden. Wer denkt beim Ausfüllen von Formularen an in diesen vorhandene strukturelle Gewalt? Die Zielgerichtetheit des Verwaltungshandelns sieht völlig von der menschlichen Seite der administrierten Subjekte ab und kann diese nicht mehr wahrnehmen, da Indifferenz ihr Programm ist: die Differenz, der Zufall, die historische Kontingenz werden

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eingeebnet, um die Realität einer „rationalen Verwaltung“ gefügig zu machen (Herzfeld 1992, 33). Wie oben gezeigt, ist schon die Ästhetik des ausgefüllten Formulars ein Ausweis des Apparat-Gehorsams, und noch stärker schlägt sich dies in der reibungslos funktionierenden Praxis der Akteneinschreibung und des Aktentransfers von Büro zu Büro nieder. Die Tempelhofer Rechnung ist ein Mikrokosmos der Mentalität des „Dritten Reiches“, einer durchorganisierten Verwaltungsmaschinerie. Bernhard Bremberger stellt treffend fest, dass „die Bürokratie [...] selbst in Kriegszeiten mit beängstigender Präzision [arbeitete]“ (Bremberger 2001d, 111). Es ist nicht neu, eine „funktionierende Bürokratie“ und das nationalsozialistische System in engem Zusammenhang zu sehen. Doch was wäre passiert, hätte eine Person angemerkt „geprüft und nicht in Ordnung, da elementare Gleichheitsgrundsätze missachtend“? Ein solches fiktives Szenario macht deutlich, wie das Nazi-System funktionierte. Was bei Weber noch positiv als unaufhaltsamer Fortschritt des Rationalismus und der Aufklärung durchscheint, kehrt sich im Angesicht des Holocaust für Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung (1988) radikal in sein Gegenteil um. Das abstrahierende Denken, verbunden mit Austauschbarkeit und dem Warencharakter der kapitalistischen Verhältnisse, führt zu einer gleichmachenden Logik und letztlich zur Verdinglichung der Menschen selbst (Honneth 2014, 179–180). Erst als Dinge, als Zahlen lassen Menschen sich behandeln, wie die Nazis es taten: der kategorische Ausschluss aus der „Volksgemeinschaft“ erlaubte es letztlich, die Exkludierten mit eintätowierten Nummern auf den Armen zu versehen und sie millionenfach möglichst „effektiv“ zu ermorden, auch unter widrigen Umständen: „In the totality of the administrative process, the destruction of the Jews presented itself as an additional task to a bureaucratic machine that was already straining to fulfill the requirements of the battlefronts. [...] Notwithstanding these priorities, no Jew was left alive for lack of transport to a killing center.“ (Hilberg 2003, 1076)

Die Bekräftigung eines kategorisierenden, gewaltsam ordnenden Staates, der sich mikrokosmisch in den Archiven des Tempelhofer Feldes angelegt findet, hat ihren grausigen Widerhall im Jahre 1961 im Jerusalemer Eichmann-Prozess: „Wenn diese Sache [die Ermordung der gesamten jüdischen Bevölkerung] einmal gemacht werden musste [...], dann war es besser, wenn Ruhe und Ordnung herrschten und alles klappte“ (Eichmann, zitiert in Arendt 1986, 296). Harald Welzer und Michaela Christ (2005, 249) schreiben hierzu, „die Ungeheuerlichkeit des nationalsozialistischen Projekts liegt in der gesellschaftlichen Umsetzung der Behauptung, dass Menschen radikal und unüberbrückbar

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ungleich seien. Diese Behauptung konnte nicht nur als politisch, sondern auch als wissenschaftlich und moralisch begründet betrachtet werden.“ Das stimmt sicherlich. Auch heute kommen die wenigsten Menschen auf die Idee, Formularstrukturen und Verwaltungsregeln auf ideologische Probleme hin zu untersuchen, zumindest zu fragen, warum ein bürokratischer Entscheidungsprozess so abläuft, wie er es tut. Königsteiner Schlüssel, Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz und Dublin II sind die Ursprünge der bürokratischen Exklusion heute. Gewöhnung und die gefühlte Unfähigkeit, sich gegen diese institutionelle Gewalt zu wehren, führen dazu, dass auch ich mich willig beim Ausfüllen oft sinnloser Rubriken in Universitäts- und anderen Formularen unterordne und, selbst wenn ich mich sträuben möchte, nach dem Prinzip des „Schnell–vom–Tisch– bekommen“ vorgehe. Die heute dominierende Digitalisierung potenziert den politischen Effekt der Alltagsunterwerfung durch den Einbau des Zwangs, das Formular gänzlich und den vorgeschriebenen Kategorien entsprechend auszufüllen – sonst kann es gar nicht abgespeichert und damit abgeliefert werden. Der intensiv-archäologische, Objekt-orientierte Blick auf Archivalien reicht allerdings nicht aus. Das Durchsehen von Akten darf nicht vor lauter Ansehen vergessen werden. Um beim Fall Gresitza zu bleiben: eine Beschränkung auf ein einzelnes Dokument kann in metonymischer Weise Zusammenhänge verdeutlichen, nicht aber Gesamtstrukturen analysieren, denn hierfür bedarf es eines Kontextes anderer Evidenzen, mithin entweder weiterer schriftlicher Quellen oder andersartiger Belege. So erfahren wir aus den im Tempelhofer Flughafenarchiv vorhandenen Akten zu Gresitza nicht nur, dass dieser Betrieb mit Sitz in Lichterfelde polnische Zwangsarbeiter hatte, und dass Arbeiten im Bereich eines Lagers der Firma Weserflug ausgeführt worden waren. Die obige Einzelrechnung, die Verbindungen zwischen Wirtschaftsunternehmen wie Gresitza und Weserflug auf der einen Seite sowie dem Staat in Form der Luftwaffe auf der anderen bescheinigt, ist auch in einer Vielzahl weiterer Akten manifest. Lässt sich das Verhältnis zwischen dem Betrieb und der Luftwaffe bei Zuhilfenahme weiterer Dokumente näher charakterisieren? Im Angesichte der oben ausführlich rekonstruierten Vorgänge, die für den Abschluss eines einzigen Abrechnungsvorgangs vonnöten waren, möchte man meinen, hier bestehe eine krasse, wirtschaftlich unsinnige Diskrepanz zwischen Dokumentationsaufwand und dokumentierter Arbeitsleistung – zunächst auch völlig unabhängig davon, ob von Zwangsarbeitenden oder Mitgliedern der „Volksgemeinschaft“ ausgeführt. Ist die Komplexität des Vorgangs ein Ausweis für Misstrauen seitens der Bauleitung der Luftwaffe der Firma Gresitza gegenüber? Das kann man ausschließen, sind doch auf einer anderen Rechnung vom 17. Juni desselben Jahres in der Zeile „Auf Grund des Vertrages – Angebotes –

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vom“ die Worte „Vertrag“ und „Angebot“ durchgestrichen und handschriftlich ersetzt durch „mündlicher Auftrag zu vereinbarten Preisen.“17 Es ist viel eher anzunehmen, dass die Steinsetzer-Firma Gresitza ein bevorzugter Auftragnehmer für die Behörden und Unternehmen auf dem Flugfeld war, möglicherweise unter anderem schlicht aufgrund der räumlichen Nähe des Firmensitzes. Jedenfalls beschäftigte der Betrieb nicht nur große Mengen polnischer Zwangsarbeiter, sondern auf seinen Rechnungen an die Bauleitung der Luftwaffe erscheinen noch häufiger „Kriegsgefangene“, für die Gresitza einen Stundenlohn von 0,55 RM berechnete. Aus diesen Rechnungen geht hervor, dass bei der Firma das Verhältnis von polnischen Zwangsarbeitern zu Kriegsgefangenen 1:5 betrug, wobei die aufgelisteten Arbeiten der Kriegsgefangenen keine Ausbildung erforderten; es waren immer einfache Erdarbeiten, das Säubern von abgebauten Ziegelsteinen usw. Wo kamen die Kriegsgefangenen her? Requirierte Paul Gresitza die französischen Kriegsgefangenen der Weserflug am Nordrand des Feldes zu solchen Arbeiten? Dies ist im Angesichte des enormen Drucks auf die Rüstungsproduktion in einer für das Nazi-Reich hochproblematischen Kriegsphase sehr unwahrscheinlich. Denn der Angriff auf die Sowjetunion band enorme Mengen deutscher Arbeitskräfte im Militäreinsatz im Osten, so dass die Kriegsgefangenen der Weserflug sicher in der Rüstungsproduktion eingesetzt waren (s.a. Wenz 2006, 134–137). Waren es also sowjetische Kriegsgefangene, wie sie bekanntermaßen seit dem Winter 1941–42 allmählich im Deutschen Reich eingesetzt wurden? Gresitza hat an anderer Stelle auch Listen von Arbeitern hinterlassen. Dort sind die Kriegsgefangenen jedoch nur als Nummern verzeichnet, mit 2118 als niedrigster und 39344 als höchster. Zudem ergibt sich aus einer ganzen Reihe an Unterlagen, dass bei den meisten Arbeitstrupps auf jeweils 10 bis 12 polnische Arbeiter oder Kriegsgefangene ein deutscher Vorarbeiter kam, der wiederum einem betrieblichen „Arbeiterführer“ namens Liebig unterstand. Die Arbeiten, die der Betrieb Gresitza ausführte, überschneiden sich inhaltlich wenig mit der Produktion von Flugzeugen und Funkgeräten, für die die ZwangsarbeiterInnen in den von der Freien Universität ausgegrabenen Bereichen in Tempelhof herangezogen worden waren. Namen und Schicksale der Betroffenen, und somit auch Zeitzeugnisse aus der Sicht der Opfer, sind bislang nur in Einzelfällen bekannt (s.S. 136–139; 153–155). Hier treffen wir auf das schon angedeutete Quellenproblem, das die Orts- und Regionalgeschichte, vor allem aber lokal fokussierte Geschichts- und Gedenkinitiativen betrifft. Denn beim Zusammenstellen historischer Quellen sind lokalhistorisch Interessierte von den Überlieferungslücken sehr viel stärker abhängig als HistorikerInnen, die

17 Ordner 706 im BFG-Archiv.

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für breit angelegte Studien mit thematischem Schwerpunkt die Archivbestände mit der jeweils größten Zeugnisdichte pars pro toto nutzen (Kasten 2001, 107). Bei den partikularistischen Lokalstudien hingegen ist es notwendig, die vielfältigen Lücken in Aktenbeständen durch Rückgriff auf Archive von Gerichten, Krankenhäusern (z.B. Bremberger 2001d), Versicherungsbüros, Rüstungsinspektionen usw. soweit wie möglich zu schließen. Eine besondere Kategorie stellen Archive der Privatbetriebe dar, da diese oftmals das Vorhandensein von Akten wegen Reparationsforderungen schlicht verneinen oder – immer noch um den „guten“ Ruf besorgt – den Zugang zu Archiven extrem erschweren (Pagenstecher 2001; Bremberger 2008a). Bei der Lufthansa hielt diese skandalöse Situation bis weit nach 2010 an, wie der Film „Fliegen heißt Siegen“ eindrucksvoll dokumentiert (C. Weber 2009). Dass auch öffentliche Stellen, namentlich Polizeiarchive, wissentlich den Alliierten und westlichen Regierungen gegenüber in der Nachkriegszeit frühere Lager verschwiegen und verheimlichten, zeigen die Zahlen: wo etwa die Düsseldorfer Polizei dem belgischen Verbindungsoffizier De Maen, Leiter einer „Enquête sur les prisons et les camps douteux“, zunächst 29 Orte angab, waren es nach anderweitiger Unterstützung 151 Lager; heute wird ihre Zahl auf über 300 geschätzt (Schröder 2001, 179–180). Wie ich hier zu zeigen versucht habe, kann dennoch die genaue Analyse eines einzigen Dokumente viele Hinweise auf den Rahmen geben, innerhalb dessen Exklusionsverhältnisse etabliert und alltäglich reproduziert wurden. Die großen Firmen Lufthansa, Weserflug, Lorenz und ein Netz kleinerer Betriebe wie Gresitza versorgten Berlin und das Nazi-Regime mit materiellen, der Rüstung dienenden Gütern. Gleichzeitig statteten sie im Verein mit der Luftwaffe den Stadtteil Tempelhof auch mit dem immateriellen Produkt Ausgrenzung aus. Eine in diesem Sinne materiell-„archäologisch“ ausgerichtete Analyse von Akten ist also für das Verständnis der Verhältnisse, unter denen ZwangsarbeiterInnen auf dem Feld lebten, durchaus von Belang. Setzt eine historiographische Studie bei einer ortsunabhängigen allgemeinen Fragestellung an, ist das Quellenproblem weniger gravierend. Ulrich Herbert (1999b, 21–22) beschreibt anschaulich, wie er in seiner groß angelegten Studie zur Zwangsarbeit die Entscheidungen der oberen staatlichen Organe durch Zugang zu Akten des Berliner Generalstaatsanwalts beim Kammergericht und des Bundesarchivs rekonstruieren konnte; und wie auf regionaler Ebene Kriegstagebücher der Rüstungsinspektoren eine Rolle spielten. Auf unterster Ebene ließ sich die Situation im Ruhrgebiet ebenfalls mittels Gerichtsakten der Nürnberger Industrieprozesse, unter anderem gegen Krupp, ergänzt durch Dokumente aus Betrieben, Ministerien und anderen staatlichen Institutionen rekonstruieren. Herberts Werk erzählt auf nationaler Ebene und nutzt die Akten von Ministerien

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und Reichssicherheitshauptamt (RSHA) als strukturierende Elemente, während eingestreut lokale Zustände durch Rückgriff auf ein Sammelsurium an Archiven illustriert werden. Meist stammen die Beispiele aus dem Ruhrgebiet, wie das extrem harsche Urteil wegen einer unerlaubten Liebschaft zwischen einem französischen Zwangsarbeiter und einer deutschen Frau (Herbert 1999b, 145) oder die Anklage eines anderen Essener Zwangsarbeiters aus Frankreich wegen Passfälschung (Herbert 1999b, 237). Historiographie, die so vorgeht, tendiert notwendig dazu, die Entscheidungen und Intentionen einer Machtelite zu betonen, während die durchaus aktiven Versuche der Exkludierten, die eigenen Verhältnisse auf unteren Ebenen zu verbessern, jeweils als erfolglos dargestellt werden. Die historiographische Lücke, die sich aus der Erzählstruktur ergibt, besteht darin, dass die aktive Reproduktion der Verhältnisse auf lokaler und Mikro-Ebene nur nebenbei thematisiert wird. Trotz Einschüben zu Denunziation oder auf Hass gründenden Aussperrungen aus Bunkern bleibt die Zivilbevölkerung wie eine Staffage, die keine wirkliche Handlungsmacht hatte (Herbert 1999b, 141–144; 339–341). Genau diese Leerstelle können allerdings Studien zu Alltagsverhältnissen ausfüllen, die mithin den Mythos der tendenziell neutralen „MitläuferInnen“ kritisch zu hinterfragen in der Lage sind. Herbert verwendet sowohl Prozessakten aus der Nachkriegszeit als auch NSDokumente für seine Rekonstruktion der Zwangsarbeit im Dritten Reich. Dies ist sicher legitim, jedoch weist der Holocaust-Historiker Raul Hilberg auf die große Differenz zwischen Schriftstücken aus der Zeit vor dem 8.5.1945 und danach hin. Für ihn sind die Archivalien aus der Zeit vor dem Ende des NaziRegimes „Dokumente“, während er vorschlägt, die nachher entstandenen Akten, Bilder usw. als „Zeugnisse“ zu bezeichnen (Hilberg 2009, 21). Diese Unterscheidung soll die plötzliche Verschiebung des Erwartungshorizonts mit dem Sieg der Alliierten markieren, die zu radikalen Änderungen für alle Beteiligten führte, ob auf Täter- oder Opferseite (Keller 2009). Auf die Probleme dieser Dokument–Zeugnis–Dichotomie gehe ich weiter unten ein (S. 112–113). Die Vielzahl der Probleme und Kontexte, in denen schriftliche Dokumente entstanden, als auch die Orte, an denen sie landen, lassen sich nicht einfach zusammenfassen. Akten, Ego-Dokumente, Verträge und anderes existieren in einem multidimensionalen Feld, in dem nicht nur Archivarten sondern auch Variabilität in Sprachen und Zielgruppen, der militärische bzw. zivile Charakter, staatliche oder wirtschaftliche Aspekte, der Ursprung bei Opfern bzw. Tätern oder der Unterschied zwischen Originalen und Abschriften eine Rolle spielen. Gerade die nicht-offiziellen schriftlichen Dokumente zeigen im Angesicht einer spezifischen Forschungsfrage, dass sie nicht in einfache Schemata passen.

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F OTOGRAFIEN : Z WISCHEN T RANSPARENZ

UND

M ATERIALITÄT

Kurz nachdem mein Vater gestorben war, sah ich mir zum ersten Mal seine alten Fotoalben gründlicher an. Wahrscheinlich hatte ich mich unterschwellig gescheut, dies früher zu tun. Denn ich wusste sehr wohl, dass er in der Sowjetunion als Soldat gewesen war. Und schon lange vor der „ersten Wehrmachtsausstellung“, die die Kriegsverbrechen deutscher Soldaten erstmals im Detail einer Öffentlichkeit zugänglich machte, ahnte ich, dass seine Verschlossenheit in Bezug auf diesen Lebensabschnitt etwas mit der Unverarbeitbarkeit seiner Taten und Erlebnisse zu tun haben dürfte. Abbildung 2.2: Russische Kriegsgefangene und abgebrannter Ortsteil von Newel, heute Weißrussland, Juli 1941

So überraschte es mich vielleicht noch nicht einmal sonderlich, in einem Fotoalbum der Kriegsjahre neben Bildern mehrerer abgebrannter Orte auch ein Foto einer toten Frau zu finden, mit der lakonischen Beischrift: „Tote russische Kommissarin.“ Man sieht auf diesem Foto eine uniformierte Frau auf dem Rücken in hohem Gras mit einzelnen Feldblumen liegen. Der Kopf befindet sich genau in der Bildmitte, der Körper reicht zum unteren rechten Rand. Die Frau trägt eine Uniform, jedoch keine Kopfbedeckung. Das Gesicht der Kommissarin

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ist nach rechts oben gedreht, als ob sie sich vom Kameraobjektiv wegdrehe um nicht fotografiert zu werden. In der rechten, zur Schulter hochgebogenen Hand hält sie ein weißes Tuch. Die linke Hand liegt am Körper an. Die Füße kann man nicht sehen. Nichts verweist auf ihren Tod. Im oberen linken Eck des Bildes ist gerade noch der Kopf eines toten Mannes zu erkennen, den rechten Arm ausgestreckt, den linken zum Körper angewinkelt. Zwischen beiden liegt eine Mütze im Gras. Wer war die Frau? Wie alt war sie, aus welcher Gegend kam sie? Was war ihr Name, welche Vergangenheit hatte sie in eine verantwortliche Position in der kommunistischen Partei geführt? Dieses Bild bringt meinen Vater potenziell mit einem der großen Kriegsverbrechen der Wehrmacht in Verbindung, dem „Kommissarbefehl“ vom 6.6.1941. Der Befehl sah vor, Parteikommissare der Sowjetarmee bei Gefangennahme „nach durchgeführter Absonderung [von anderen Kriegsgefangenen, R.B.] zu erledigen.“18 In eklatantem Bruch mit den Genfer Konventionen von 1929, auch von Deutschland ratifiziert, wurden so mehr als 3400 sowjetische Menschen ermordet (Römer 2008). Dabei hatte ein Offizier mit Hilfe zweier anderer Offiziere oder Unteroffiziere zunächst den Status der Person festzustellen. „Über die durchgeführten Erschießungen wurde Meldung an die jeweils vorgesetzte Stelle gefordert, womit auch die Möglichkeit zur Kontrolle der Durchführung eingeführt war“ (Streit 1978, 46). Das o.g. Bild ist nur ein Verdacht, denn man kann ihm nicht ansehen, wie die Frau starb. Keine Wunde, kein Blut auf der Kleidung – aber man sieht, dass die Uniformhosen an den Knien nass waren. Liegt es nicht nahe, anzunehmen, dass sie im Gras knien musste, als sie hinterrücks erschossen wurde? War mein Vater also Zeuge, wenn nicht Ausführender eines Kriegsverbrechens? Das Bild selbst hilft bei diesen quälenden Fragen nicht weiter. Statt durch das Foto wie durch eine transparente Fensterscheibe in die Vergangenheit hindurchzusehen, sind weitere Indizien über den Kontext nur durch ein genaues Ansehen seiner Materialität und seines Kontexts, des Albums und anderer Bilder zu erlangen (Lopes 2003). Wenn wir Fotos als dreidimensionale Objekte betrachten, enthüllen sie auch ihr „social life“, wobei die Rekonstruktion vom spätesten Zeitpunkt – dem Zeitpunkt, an dem ich das Bild betrachte – rückwärts bis zum Entstehen vorgeht. Mein Vater hat dieses Bild mit Sicherheit nach dem Krieg erst in das Album geklebt, nachdem er aus mehrjähriger französischer Kriegsgefangenschaft in

18 Unter http://www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_de&dokument=0088_ kbe&l=de findet sich ein Faksimile des „Kommissarbefehls“ (zuletzt geöffnet am 2.5.2017).

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Nordafrika entlassen worden war, denn die letzten Bilder dieses Albums stammen aus dem Jahr 1955. Die blaue Federhalter-Schrift neben den Bildern ist einheitlich, man kann also vermuten, dass sie zu einem einzigen Zeitpunkt eingeordnet und beschriftet wurden. Wieso hatte mein Vater aber das Bedürfnis, diesen Tod einer ihm unbekannten Frau noch fast 15 Jahre später zu dokumentieren? Es gibt in allen seinen Alben außer den zwei hier abgebildeten toten Personen, mit der Kommissarin im Fokus, kein einziges weiteres Foto von Toten. Andere Brutalitäten des Krieges sind allerdings zu finden. In komplett abgebrannten Städten wie Witebsk und Minsk ragen nur noch verrußte Wände und Schornsteine wie verdorrte Bäume in den Himmel. In den Ruinen scheinen Frauen mit weißen Kopftüchern unter Bewachung deutscher Soldaten nach Resten von Eigentum zu suchen (Abb. 2.2). Mein Vater hat ein abgeschossenes sowjetisches Flugzeug aus der Ferne geknipst. Ein anderes Bild zeigt drei lachende, in die Kamera blickende Wehrmachtssoldaten hinter drei russischen Frauen, von denen zwei sich abwenden, eine dritte angewidert in die Linse starrt. Und ansonsten Wehrmachtssoldaten mit Ziehharmonika, beim Baden, beim Biwak, beim Bau einer Pontonbrücke. Abbildung 2.3: Rückseite eines Fotos meines Vaters mit der Aufschrift „22.VII.41. Russendurchbruch bei Newel. Tote Kommissarin“

Beim Umdrehen der Schwarzweißbilder entdeckte ich, dass sie zum Teil Eintragungen in säuberlicher schülerhafter Sütterlin-Schrift aufweisen, auf denen das Datum und der Inhalt der Fotos genauer vermerkt ist. Auf manchen ist notiert,

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dass die Aufnahme von jemand anderem ist. Dies ist bei dem Foto der Kommissarin vom 22.7.1941 nicht der Fall. Vielmehr steht dort „Russendurchbruch bei Newel. Tote Kommissarin“ (Abb. 2.3). Alle anderen Fotos mit demselben Schnörkelrand, dem kaum wahrnehmbaren Aufdruck „Agfa“ auf der Rückseite und einem breiten weißen Rand tragen dieselbe Sütterlinschrift, auf keinem derselben ist mein Vater abgelichtet und keines notiert einen Fremdursprung. Ich habe also guten Grund zur Vermutung, dass dieses Bild von ihm selbst gemacht wurde. Das Foto der getöteten Kommissarin hatte keinen offiziellen Status, sondern war – man wagt es kaum, den Ausdruck in diesem Zusammenhang zu benutzen – ein „Schnappschuss.“ Verleitete meinen Vater ein grausamer Stolz, Befehle exakt auszuführen, zu diesem Bild? Was bedeutet es, dass er das Foto erst nach Ausführung des Mordes machte? Und schärfer gefragt: lässt die zeitliche Struktur der Fotografie nicht die Möglichkeit offen, dass er selbst der Kriegsverbrecher war, zumal andere lebende Personen auf dem Bild komplett fehlen? War niemand sonst dabei? Und ist nicht der Unterschied zwischen direktem Mord und dem Helfen dabei ein doch nur sehr gradueller, wie Browning (1992b, 85) dies zumindest für die Einsatzkommandos so überdeutlich zeigen kann? Letztlich offenbart ein solches Foto einerseits die Unschärfe dieser Art von Quelle, durchaus aber auch einen moralischen Abgrund: „Der Mord wird nicht als ‚Mord‘ wahrgenommen, weil er genehmigt ist, er kann als Urlaubsfoto nach Hause gehen oder neben die Familienbilder ins Portemonnaie geraten, weil er das eigene Leben im Zustand krimineller paradiesischer Freiheit zeigt, das sich dabei gefällt, die Erde von Ungeziefer zu befreien. ‚Strafe?‘ Keine zu erwarten. Wir werden gesiegt haben.“

Diese von Klaus Theweleit (zit. in Heer 2004, 57) beschriebene Einstellung spiegelt sich in dem obigen Foto durch seinen Kontext – die anderen Fotos auf derselben Seite, das gesamte Album und die sich anschließenden Alben aus Nachkriegszeiten – exakt wieder. Am verräterischsten ist die Beischrift „tote Kommissarin“, statt „von mir/uns ermordete Kommissarin.“ Ich kenne den Fotografen, doch ich weiß nicht, wen er sich zum Zeitpunkt des Klicks als BetrachterIn vorgestellt hatte: Nazis, die seine Bereinigung der Welt vom „Bolschewismus“ nach dem fest einkalkulierten „Endsieg“ als Heldentat bejubeln würden? Im öffentlichen Rahmen, oder gar in privatem? Hier zeigt sich dieselbe FuturZwei-Mentalität, die ich auch schon im Rahmen der schriftlichen Dokumente ansprach.

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Kann solch ein Foto eine historische Quelle sein? Die Nazi-Zeit zeigt, wie ich noch weiter ausführen werde, die Problematik fotografischer Quellen in überdeutlicher Weise. Cord Pagenstecher entwickelte ein dreidimensionales System, in das solche bildlichen Zeugnisse eingeordnet werden können: als Ursprung der Fotos benennt er die Möglichkeiten Täter – Opfer – neutrale Personen; als deren Ziel den privaten bzw. öffentlichen Gebrauch, und als Modus des Fotografierens die Unterscheidung in „Knipser“ und Profis (Pagenstecher 2001, 256). Pagenstechers analytischer Vorschlag ist nützlich, aber auch vereinfachend. Denn die Unterscheidung in öffentliche und private Fotos ist graduell, wie ich an Karl Otto Kochs Bildern des KZ Columbia weiter unten ausführe (s.S. 67–81). Wie bemerkt, kann man nur erahnen, für wen das Foto der Kommissarin bestimmt war: für einen öffentlichen Kreis bewundernder Nazis oder gar fürs Private einer ideologisch linientreue Familie? Zudem lässt Pagenstechers Einteilung den Kontext vermissen, innerhalb dessen insbesondere „Knipser“ wie mein Vater ihre „Schnappschüsse“ machten. Fotos konstituieren authentisch erscheinende Bildwelten, werden jedoch auch von vorgängig existierenden Bildschemata erst hervorgebracht. Eine kritische Herangehensweise an diese Art der Quellen muss vor allem in Betracht ziehen, dass der Nazi-Apparat seit Machtantritt bis ins Detail ausgefeilte offizielle Bildwelten produzierte. Harald Welzer (1997, 30–33) beschreibt eindrucksvoll, wie sehr die großen Aufmärsche weniger die Teilnehmenden beeindrucken sollten, als vielmehr auf die Produktion medialer Ereignisse ausgerichtet waren. Dies ging so weit, dass Leni Riefenstahl ganze Reichstagsreden vor leeren Stuhlreihen im Sportpalast von den NaziGrößen für die Kamera nochmals halten ließ. Die Meinungen darüber, wie die unterschiedlichen Arten von Fotos aus dieser Zeit miteinander in Bezug stehen, gehen weit auseinander. Allgemein wird der Unterschied zwischen Propaganda- und persönlichen Fotos betont. Doch beobachten Levin und Uziel (1998, 5), dass sehr viele deutsche Soldaten den Propaganda-Fotos entsprechende Bilder machten und nach Hause schickten, dass also wenig inhaltliche Differenzen auszumachen sind zwischen offiziellen und privaten Bildern. Sie beziehen sich dabei auf Daniel Goldhagens Werk, für den die Soldatenbilder ebenfalls ein wichtiges Element der Analyse sind. Er untersucht sie allerdings eher auf die dort festgehaltene soldatische Mentalität und schreibt dazu: „Photographs [...] remind us to question the prevailing views that hold these Germans to have been frightened, coerced, unwilling, disapproving, or horrified killers of people whom they considered to be innocent. Indeed, some of the photos capture men who look

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tranquil and happy, and others show them in poses of pride and joy as they undertake their dealings with their Jewish victims.“ (Goldhagen 1996, 247)

Dies bezieht sich auf den zu Anfang dieses Abschnitts erwähnten historischen Kontext der Bilder aus dem Krieg gegen die Sowjetunion. Dass andere Situationen eine deutlich andere Bildlogik produzieren, lässt Pagenstechers (2001) Analyse zu den Aufnahmen von ZwangsarbeiterInnen in den Grenzen des damaligen Deutschen Reichs erkennen. Bestimmte Szenen der Erniedrigung durch Mitglieder der sog. „Volksgemeinschaft“ seien dort gerade nicht fotografiert worden. Ein ganzer Bereich der Grausamkeit wurde ausgespart, um eine Darstellung zu produzieren, die gute Behandlung suggeriert. Auch die Propaganda-Filme versuchten, dieses Bild zu vermitteln (Bergmann 1993). Wieweit das Bereinigen nur am Ursprung der Quellen liegt, also bei einer Scheu, die eigenen Verbrechen bildlich zu dokumentieren, sei dahingestellt. Für die Wehrmacht und ihren Vernichtungskrieg gegen Osteuropa zeigt die Geschichte der beiden „Wehrmachtsaustellungen“ überdeutlich den politisierten Umgang mit und die emotionale Stärke von Bildern lange nach dem Ende des „Dritten Reichs.“ Denn die von der politischen Rechten in Deutschland so stark angefeindete und gewaltsam bekämpfte Ausstellung, konzipiert von Hannes Heer, wurde nach fünf Jahren vom verantwortlich zeichnenden Hamburger Institut für Sozialforschung zurückgezogen. Damals hieß es in der Presse, Bilder seien gefälscht. Dies war jedoch nicht der Fall: von 1433 Fotos der Ausstellung konnte bei zehn eine substanziell falsche Angabe in den Bildunterschriften nachgewiesen werden (Wiegel 2002). Man hatte diese zehn Fotos ungenügend analysiert und oberflächlich in ein historisch spezifisches Netzwerk eingehängt (s. dazu Edwards 2012). Die Macht der Bilder zeigt sich in den Konsequenzen des Disputs und der Umwandlung der Ausstellung. In der neuen Ausstellung hatte man genau die Landser-Fotos der Gemarterten, Erhängten und Erschossenen samt ihren oft freudestrahlenden Wehrmachts-Schergen entfernt und hierdurch inhaltlich sowie besonders visuell wieder der Generalität statt den vielen normalen Soldaten die Schuld an den Verbrechen gegeben. Was die Fotos als neue Quelle so deutlich gemacht hatten, dass nämlich die in Militäruniformen steckende deutsche Bevölkerung massenhaft und guten Gewissens an Kriegsverbrechen und dem Holocaust beteiligt war (der fand nicht nur in Auschwitz statt), durfte nicht mehr gezeigt werden. Dass die Soldaten ihren gesamten Handlungsspielraum in einem als straffrei wahrgenommenen Raum auslebten, dass der Begriff Sadismus für viele dieser Bilder verharmlosend scheint, wird wieder verschwiegen. Eine beeindruckende und bedrückende Bestätigung der Brutalität der Wehrmacht liefern die neu entdeckten Auswertungen von Abhörprotokollen deutscher Soldaten in

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Kriegsgefangenenlagern, fälschlich von den Bearbeitern in quasi normale Kriegshandlungen umgedeutet (Neitzel and Welzer 2011). Die geänderte – bereinigte – Wehrmachtsausstellung aber, die von der Historikerin Ulrike Jureit für das Hamburger Institut für Sozialforschung ausgerichtet worden war, hatte den Charakter eines Kotaus vor einer Öffentlichkeit, die die Nazi-Verbrechen in traditioneller Weise durch Projektion auf einige wenige Figuren der Elite entsorgt (Heer 2004, 12–45). Die Kontroverse um die erste Wehrmachtsausstellung hatte die Folge, dass Fotos als historische Quellen insgesamt plötzlich unglaubwürdig schienen. Die Kuratorin der zweiten Wehrmachtsausstellung Jureit bezeichnete Soldaten gar als „fragwürdige Augenzeugen“, um das Auslassen der Bilddokumentation von Verbrechen zu begründen und verteidigte sich mit einem ganz anders gemeinten Zitat Reinhart Kosellecks: „Zeigen heißt verschweigen“ (Jureit 2004). Sarkastisch kommentierte Hannes Heer diese Auslassung einer ganzen Kategorie von Fotos, die Beteiligung am Holocaust werde so zur „bildlosen Tat gesichtsloser Täter“ (Heer 2004, 38). Von großer Bedeutung auch für den Umgang mit archäologischen und allen anderen Quellen ist Heers weitere Diskussion zum Unterschied zwischen erster und zweiter Wehrmachtsausstellung (Heer 2004, 43–45). Der wissenschaftliche Beirat der ab 2001 gezeigten „reformierten“ Ausstellung arbeitete unter Hans Mommsens Vorsitz. Dieser Historiker verfolgte seit langem einen strukturalen, manchmal auch als „funktionalistisch“ bezeichneten Ansatz in seinen Werken zur NS-Zeit (Kershaw 1994; bes. S. 114–118; s. dazu auch Mommsen 2007; Friedländer 2007b). Er sah den Fortbestand des Nationalsozialismus als einen Effekt von Strukturen, die auf eine radikalisierende Art und Weise funktionierten, während die Handlungen einzelner Individuen, ob der Elite oder anderer Schichten, in ihrer Bedeutung minimiert wurden (Wildt 2008, 351–352). Entsprechend wurde der Angriffskrieg gegen die Sowjetunion in der zweiten Ausstellung entpersonalisiert. Man benötigte auch die emotional aufrührenden Fotos der blutrünstigen, bestialischen Handlungen einfacher Soldaten nicht mehr. Die Botschaft war nun wieder: Ein „NS-Apparat“ war schuld an Greueltaten und Holocaust. Positiv zu vermerken ist jedoch auch, dass die ganze Affäre Anstöße für eine kritischere Umgangsweise mit den fotografischen Quellen gab (Buchmann 1999). Auf internationaler Ebene hatte ein Diskurs über den Zusammenhang zwischen Bildern und Historiographie schon eine längere Tradition, auch im Bereich der Nazi-Zeit. Hier findet sich verschiedentlich ein Argument, welches von der oben angesprochenen „Transparenz“ des Mediums Foto ausgeht und in der deutschsprachigen Diskussion interessanterweise selten zur Kenntnis genommen wird: die Möglichkeit, dass wir bestimmte Fotos aus Respekt vor den darauf ab-

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gebildeten Personen aus dem Verkehr ziehen. So schreibt Susan Crane, dass die Scham der Opfer in die Endlosigkeit verlängert wird, wenn wir Fotos von derart unvorstellbaren Grausamkeiten in Ausstellungen oder gar im Internet verbreiten: „We ought to respond to an ethical injunction to find out more about [an image of atrocity] before we use it, recirculate it, or attempt [to] pass it off as ‚representative‘ of humanity or of history“ (Crane 2008, 311). Sie beruft sich dabei auf andere Bildwissenschaftlerinnen, die aufgrund unerträglich gewaltsamer Fotos denselben Standpunkt vertreten (Zelizer 1998; Struk 2008). Dass es sich bei Fotografien um eine medialisierte Abbildung von Realität handelt, und nicht um die Realität selbst, spielt dann keine Rolle, wenn das Medium diese Wirklichkeit (des Erniedrigens) zeugnishaft fortschreibt. Dieser Gedanke wurde schon von Susan Sontag (1977, 14–15) in ihrem bekannten Essay On Photography geäußert: „There is something predatory in the act of taking a picture. To photograph people is to violate them, by seeing them as they never see themselves. [...] It turns people into objects that can be symbolically possessed. Just as a camera is a sublimation of the gun, to photograph someone is a sublimated murder – a soft murder, appropriate to a sad, frightened time.“

Fotos haben also gerade dann, wenn sie Opfer ablichten und von Tätern stammen, den Effekt einer Verdopplung des Verbrechens; man denkt unwillkürlich in diesen Zusammenhängen auch an rezentere Fälle, unter denen Abu Ghraib besonders hervorsticht. Zudem verstetigen solcherlei Bilder den Zeitpunkt der Gewalt, ob Erniedrigung oder Lebensauslöschung, und zwingen die BetrachterInnen dazu, den Standpunkt der Täter einzunehmen. Beides sind hochproblematische Effekte. Wer hat die fotografierte Person gefragt, was mit ihrem Bild geschehen soll?19 Fotos mit gequälten und erniedrigten Menschen sollten, so der Tenor dieses Standpunkts, nur dann öffentlich benutzt werden, wenn die Absicht eine deutlich aufklärerische oder pädagogische ist.

19 Der Umgang mit Fotos wird auch im internationalen humanitären Recht auf besondere Art festgelegt. Die Genfer Konventionen stipulieren für Kriegsgefangene, dass sie nicht „öffentlicher Neugier“ ausgesetzt werden dürfen, worunter allgemein das Fotografieren und Publizieren solcher Fotos gemeint ist. Der Text aus der Dritten Konvention, Artikel 13 lautet: Likewise, prisoners of war must at all times be protected, particularly against acts of violence or intimidation and against insults and public curiosity (International Committee of the Red Cross 1949).

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Doch selbst dann, so mahnt die scharfe Kontroverse um eine Ausstellung, auf der vier Fotos des Auschwitz-Sonderkommandos gezeigt worden waren, besteht keine Einvernehmlichkeit. Didi-Huberman (2003, 48–55) zeigt, dass ein Ansehen der vier Fotos mit ihrer außerordentlichen Geschichte – von einem Mitglied des todgeweihten Auschwitz-Sonderkommandos nach Einschmuggeln einer Kamera ins KZ fotografiert und von einer Polin aus dem Lager geschmuggelt – die ganze Widerständigkeit des Fotografierens selbst zutage fördert. Bis 1985 waren diese Bilder nur in einer durch Cropping reduzierten Version bekannt, da man auf das Dokumentarische, nicht aber den Entstehungsprozess Wert legte. Die Konzentration auf die abgelichteten Opfer ließ die in Lebensgefahr das Foto Produzierenden außer Acht, obwohl sie ebenfalls Opfer der Nazis waren. Man sah durch die Fotos hindurch, statt sie sich genauer anzusehen.20 Georges Didi-Huberman (2003) wird im Zusammenhang der Ausstellung dieser Fotos eine ethisch unverantwortliche Sorglosigkeit vorgeworfen (Pagnoux 2001; Wajcman 2001). Wir befinden uns immer noch im Rahmen der Dialektik des Durchsehens und Ansehens. In diesem Falle dringt das „Framing“ allerdings ins Foto ein, unabhängig von seiner Materialität als entwickeltes Papierobjekt. Ein weiteres Problem von Fotografien lässt sich potenziell auch auf archäologische Funde ausweiten. Fotos werden von JournalistInnen oft metonymisch verwendet. Struk erwähnt ein Cover des Magazins Time über den Krieg in Bosnien der Jahre 1992 bis 1995, auf dem eine von ukrainischen Männern vergewaltigte Frau in Lviv (heutige Ukraine) von 1945 zu sehen sein soll. Krieg und Vergewaltigung gehören zeitlos zusammen, ist die Message der Zeitschrift. Das Ausmaß journalistischer Fahrlässigkeit im Umgang mit Fotos zeigt sich darin, dass Datum, Ortsname und Dargestelltes falsch angegeben waren (Struk 2008, 111–113).21 Die historische Spezifizität und damit auch das individuelle Leiden werden sorglos verallgemeinert und in ein generisches Leiden abstrahiert, ähnlich wie von Susan Sontag an Virginia Woolfs Three Guineas kritisiert (Sontag 2003). Die geschundene Frau wäre nach dieser Logik durch ein Foto aus Vietnam oder irgendeinem anderen Kriegsgeschehen ersetzbar. Ein ähnlicher Effekt wird oft mit Ausstellungsobjekten erzielt: ein verrostetes Stück Stacheldraht in einer Vitrine mag irgendwoher stammen, denn es symbolisiert Gefangenschaft

20 Das ist auch für die Reproduktion einiger dieser Fotos in einem ausführlichen analytischen Band zu Auschwitz noch der Fall (Gutman und Berenbaum 1994, Foto p. 354). 21 Wie Struk (2008, 111–113) ausführt, sind das Datum (1941) und der Ort („Lemberg“, wie der Ort in k.u.k.-Österreich und unter Nazi-Besetzung hieß) identifizierbar, die Identität der Opfer nicht mit völliger Sicherheit. Es dürfte sich um ein von der Wehrmacht provoziertes Pogrom an der jüdischen Bevölkerung handeln.

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generisch. Ist dies angemessen? Oder sollte Gezeigtes nicht tatsächlich genau dem Bereich angehören, den es materiell erfahrbar machen soll? Kann man nicht auch ein besser erhaltenes oder vielleicht ein eindrucksvoller aussehendes Stück aus einem anderen Kontext als „Beispiel“ verwenden? Ich komme auf diese Problematik weiter unten zurück (s.S. 138 –139; 363–364). Die merkwürdige Temporalität von Fotos ist eine weitere auch für archäologische Quellen potenziell relevante Eigenschaft. Fotos haben keine Dauer, sie fixieren einen einzigen Moment, und zeitlicher Ablauf wird in der Welt fotografischer Bilder zunehmend als eine dichte Aufeinanderfolge von Augenblicken imaginiert (Roth 2009). Ist es einmal gedruckt, täuscht das gedruckte Foto Dauer aufgrund seiner materiellen Unwandelbarkeit vor. 22 Genau dieses Merkmal macht es aber auch zum wichtigen Beweismittel vor Gericht. Im Falle der Entschädigungsanträge von ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern bei deutschen Behörden konnten Fotos zu einer positiven Entscheidung führen (Wenzel 2008). Archäologische Befunde haben eine ähnliche Temporalität, da sie ebenfalls in einem einzigen Momentzustand der Zerstörung gefunden werden, auch wenn dieser Zustand durch längerfristige Prozesse hervorgerufen wurde. Und genauso wie Fotos immer ein diachrones Verhältnis anzeigen – sie existieren in der Gegenwart, sind aber notwendig Index einer näheren oder ferneren Vergangenheit – so gilt dies auch für archäologische Funde und Befunde, nur dass dort der zeitliche Abstand in der Regel sehr viel größer als bei Fotos ist. Hat man allerdings Ausgrabungsbefunde der letzten 150 Jahre vor sich, so kann die Diachronie von Fotografie und Archäologie koinzidieren. In solchen Fällen können Fotografien auf archäologisch Relevantes hin untersucht werden. Im folgenden Abschnitt versuche ich dies etwas ausführlicher anhand eines Beispiels vom Tempelhofer Feld zu zeigen, des KZ Columbia.

Das KZ Columbia und SS-Fotografien

Bildquellen des Tempelhofer Flugfeldes aus der Zeit des Nationalsozialismus sind zahlreich vorhanden. Erst in letzter Zeit wurde ein Band über die „Hansa Luftbild“ veröffentlicht, der in aller Deutlichkeit belegt, wie sehr den Nazis nicht nur an der schriftlichen Dokumentation und Verwaltung ihres Reichs gelegen war, sondern wie stark auch moderne Bilddokumentationsverfahren zum

22 Dies trifft natürlich auf digitale Fotos und Negative nicht zu.

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Einsatz kamen und vor allem zu militärischen Zwecken vorangetrieben wurden (Dittrich 2013). Neben solchen professionellen Fotografien vom Flughafen ist ein halbprivates Fotoalbum des SS-Sturmbann- und späteren Standartenführers Karl Otto Koch auch von archäologischem Interesse. Dieses Album war im Jahre 2005 in Moskau in einem Archiv gefunden worden. Koch, der in acht Konzentrationslagern Kommandant war, oftmals für nur sehr kurze Zeit, hat in diesen verschiedenen Positionen ausgiebig fotografiert und seine Knipsereien in einem Fotoalbum zusammengestellt. Darunter befinden sich auch etliche Abbildungen des KZ Columbia auf dem Tempelhofer Feld, wo Koch von 21.4.1935 bis 1.4.1936 Kommandant war. Mangels Abdruckgenehmigung verweise ich im Folgenden auf den von Günter Morsch (2007) publizierten Katalog, wobei die einzelnen Fotos jeweils der Klarheit halber mit einem „M“ vor der Nummer versehen sind. Ich werte Kochs Fotos in zweierlei Hinsicht aus: als scheinbar faktische Quelle sowie als ideologisches Produkt. Abbildung 2.4: Skizze des Militärgefängnisses und späteren KZ Columbia; Pfeile zeigen Standpunkt und Aufnahmerichtung der Fotos von Karl Otto Koch, Nummern beziehen sich auf die Publikation (Morsch 2007)

Q = Quertrakt; W = Westflügel; O = Ostflügel; B = Beamtenwohnhaus; G = Gerichtsgebäude

Hier dienen mir diese Aufnahmen also als transparente Objekte, während ich die Materialität nur am Rande berücksichtige. Die Fotografien stechen ab von den Augenzeugenberichten des KZ Columbia: sie zeigen ein fast harmloses, friedliches Gefängnisleben, das durch das Zeugnis frei gekommener Insassen scharf

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konterkariert wird. Mit wenigen Ausnahmen fällt an Kochs Fotos auf, wie sehr er mit der Kamera eine vorbildlich ordentliche Welt vorzuspiegeln versuchte. Ein wichtiger Aspekt des gesamten Albums ist, wie oft Koch sich hat selbst fotografieren lassen, und dass er als Bildunterschrift sich selbst in der dritten Person bezeichnete (Wrocklage 2007, 29). Damit wird deutlich, dass das Album weder privat noch offiziell, sondern in einem halböffentlichen Feld anzusiedeln ist. Das Fotografieren seiner eigenen Person erforderte für Koch jemanden, der jeweils diese Bilder nach seinem Geschmack machte, was dem Ganzen den rein persönlichen Erinnerungscharakter genauso nimmt wie die abgebildete „rein berufliche“ Umgebung. Für die Auswertung von Fotografien ist nicht nur der Inhalt, sondern auch die Person hinter der Kamera von größtem Interesse. Der Kommandant Koch war nicht ein beliebiger SS-Mann, noch nicht einmal eine Standardfigur unter den KZ-Kommandanten. In einer vergleichenden Studie solcher Personen formuliert Tom Segev (1987, 142) kurz und bündig: „The worst of them all was Karl Koch.“ Er war grausam, korrupt, intrigant und absolut rücksichtslos, selbst gegen eigene Leute. Die von ihm gemachten und gesammelten Bilder würden dies nur entfernt erahnen lassen. Sollten wir sie also nur vom Standpunkt der Ideologiekritik aus betrachten? Ich meine, wir können mit gebotener Vorsicht diese Aufnahmen als Dokumente benutzen, unter der Voraussetzung, dass sie kontextualisiert bleiben. Mir geht es darum, aus den publizierten Bildern eine Rekonstruktion des KZ-Gebäudes und seiner Funktionen zu versuchen. Dadurch gewinnen wir vielleicht ein besseres Verständnis für die Berichte der von der SS dort gequälten Häftlinge, vor allem, wenn wir die vorhandenen Zeichnungen hinzuziehen, die aus Anlass des Gebäudeabrisses im Jahr 1938 angefertigt worden waren. Mithilfe beider kann sogar ein Teil der inneren Gebäudestruktur rekonstruiert werden. Von der Front des Gebäudes (Q) am Columbia-Damm gibt es bei Koch keinerlei auswertbare Aufnahmen, während Ost- und Westflügel (O/W) nach vorhandenen Aufnahmen an ihren Außenseiten keine Türen hatten (Abb. 2.4). Jedoch dürfte es einen Eingang für die Wachmannschaften an der nordöstlichen Gebäudeecke nahe des „Beamtenwohnhauses“ (B) gegeben haben. Zudem waren die restlichen Türen im Innenhof gelegen, von denen es mindestens fünf gab. Eine davon, im Quertrakt gelegen, hatte man kurz vor den von Koch gemachten Aufnahmen durch die Wand geschlagen, so dass eine Zelle in einen Zugang verwandelt wurde. Hierauf verweist die hellere Mörtelfarbe rund um den Zugang, zusätzlich aber auch die provisorische vierstufige Holztreppe (Bilder M52 und M54), die in das Gebäude hineinführte. Das abweisende Äußere korrespondierte also mit einem für Strafe, Auspeitschen, aber auch Freigang genutzten in-

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neren Hof, der an der Südseite zum Tempelhofer Feld hin durch ein Gitter abgeschlossen war. Im südlichen Teil des Hofes befanden sich schattige Kastanien,23 die dem Ganzen auf einem der Koch’schen Fotos (Bild M53) einen fast idyllischen Charakter geben; doch nur dann, wenn man die Funktion der Bäume nicht kennt. So berichtet der kommunistische Häftling Werner Peuke: „Unter der Parole ‚Auf die Bäume ihr Affen‘ mussten Bäume erklettert werden, wobei das Seitengewehr oder ein Kolben den nötigen Nachdruck gab. Manchmal handelte es sich um alte und gebrechliche Leute, die einfach zusammenbrachen und laut schrien. Sie wurden dann in eine Ecke geworfen und waren am nächsten Tage nicht mehr da. Sie haben sich selbst entlassen, hieß es lakonisch.“ (Peuke 1990, 140)

Südlich dieses Gitters wiederum befand sich eine Backsteinmauer, gekrönt von Stacheldraht, welche nach einem erfolgreichen Ausbruch (unter Mithilfe eines SS-Mannes) auf 2,90 m von den Häftlingen erhöht wurde (Bild M44).24 Man kann zudem nach zwei Fotos aus dem Koch’schen Album (Bilder M46 und M47) davon ausgehen, dass das U-förmige Gebäude intern nicht in jedem Flügel gleich strukturiert war. Während die beiden nach Süden auf das Tempelhofer Feld reichenden Flügel (O und W) einen mittigen Flur und rechts sowie links je eine Zellenreihe hatten (s. Abb. 2.6), war dies im Quertrakt Q anders, denn hier gab es nur eine Reihe zum Hof hin liegender Zellen samt einem auf den Columbia-Damm blickenden Flur. Diese Lesung der Bilder aus dem Gebäudeinneren kann durch den Vergleich mit zwei weiteren Fotos der Außenseiten bestätigt werden. Der von Koch fotografierte Innenflur von Bild M47 lag im ersten oder zweiten Stock an der dem Columbia-Damm zugewandten Seite, wie ein Vergleich der kleinen und hoch liegenden, vergitterten Fenster (Bild M53) mit den weitaus größeren an der Straßenseite verdeutlicht (Georg, Schilde, and Tuchel 2013, Bild S. 16). Um das Erdgeschoss wird es sich nicht gehandelt haben, da die Türen rechts im Bild nichts von einem Durchgangsraum zum Hof hin erahnen lassen, den es nach einem anderen Bild Kochs (Bild M54) gab. Koch hatte nicht nur einen Flur im Quertrakt dokumentiert, sondern auch eine Etage eines der beiden Flügel (Morsch 2007). Dies kann nur der westliche Trakt (W auf Abb. 2.6) sein, da man auf mittlerer Höhe rechter Hand den Eingang zum Treppenhaus gerade noch erkennen kann, welcher nach zwei anderen

23 Kastanien werden in mehreren Berichten früherer Häftlinge erwähnt (u.a. Marx 1990, 118). 24 Die exakte Mauerhöhe ergibt sich aus einem Abrissauftrag an die Firma Galasch GmbH vom 9. Sept. 1937 (BFG-Archiv, Ordner 666).

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Fotos (Bilder M51 und M53) auf der dem Hof zugewandten Seite lag. Vergleicht man die beiden Fluraufnahmen, so zeigen sich einige Parallelen, aber auch bedeutende Unterschiede zwischen Quertrakt Q (Bild M47) und dem Westflügel (Bild M46). Der Boden bestand jeweils aus diagonal geriffelten Steinzeugfliesen, wie sie um die Jahrhundertwende üblich waren. Eine Reihe dunkle Fliesen umrahmte die gegenständig gesetzten helleren. Kugelförmige Lampen und eine bis auf etwa 1,20 m Höhe reichende dunkle Wandbemalung entsprechen sich ebenfalls. Andererseits ist der Flur im Falle des Querflügels durch bogenförmige Durchgänge aus Ziegeln in drei Abschnitte unterteilt, was bei den Seitenflügeln fehlt. Auf Bild M47 ist erkennbar, dass jeweils eine dieser drei Abteilungen auf der Straßenseite zwei Fenster hatte und auf der Zellenseite vier Türen, so dass sich hieraus zwölf Zellen pro Flur ergeben. Im Erdgeschoss waren jedoch Büros untergebracht, und der erwähnte, auf den Bildern M52 und M54 sichtbare Eingang. Die Zellentüren in den Seitenflügeln sind, soweit man dies erkennen kann, mit komplexeren Schließmöglichkeiten ausgerüstet als die im Quertrakt. Bis hierher mag sich eine quasi-objektive Beschreibung der Flure des KZ aus den Koch’schen Fotos ergeben. Genauso wenig wie die Bäume auf dem Hof dürfen diese Fotos des Gebäudeinneren unkommentiert bleiben. Will man erfassen, was Bild M46 ausdrückt – mit dem stillen Flur, auf den die Morgensonne schräg durch das große, Gitterschatten werfende Fenster scheint – so halte man sich den Bericht von Willi Belz vor Augen: „Wer aber jetzt erwartete, endlich in eine Zelle eingeschlossen zu werden und auf eine Pritsche sinken zu können, der befand sich im Irrtum. Ein schriller Pfiff und Kommandos jagten die Ankömmlinge im Laufschritt durch den gesamten kasernenmäßigen Bau vom Erdgeschoß bis zum obersten Stockwerk. Am Anfang und Ende jedes der langen Korridore befanden sich Flügeltüren. Davor und dahinter, auf jedem Treppenabsatz, standen die SS-Bestien, bewaffnet mit Gummiknüppeln, Hundepeitschen, Schemelbeinen, Ochsenziemern und sonstigem auf der Lauer, schlugen mit den Rufen ‚Wollt ihr laufen, ihr Schweine‘ auf unsere Köpfe und Körperteile ein. Wer vor Erschöpfung oder als Folge der Schlagwirkung niederstürzte, wurde so lange bearbeitet, bis er wieder aufsprang und weiterlief.“ (Belz 1990, 105)

Wir sehen auch den unschuldigen Steinzeugfliesen der sauberen Flure auf den Bildern M46, M47 und M49 nicht an, wie sie sauber gehalten wurden: „Ich muss den Korridor scheuern, man tritt mich ins Schmutzwasser; ich muss ihn mittels eines defekten Besens fegen und, dreißig oder vierzig Meter lang jedes Strohpartikelchen,

72 | M ATERIELLE S PUREN DES NATIONALSOZIALISTISCHEN T ERRORS noch das mikroskopisch kleinste, mit den Fingern aus den Fliesenrillen lesen – die Frühstückslorke wird unterdes kalt. Ich muss diesen Korridor gelegentlich auch auf allen Vieren entlangkriechen.“ (Hiller 1990, 96)

Abbildung 2.5: Schwarze und weiße gerillte Steinzeugfliesen aus dem Bereich des KZ Columbia, Herstellung zwischen 1890 und 1896, „Utzschneider & Jaunez Thonwaaren-Fabrik, Saargemünd-Zahna“

Der archäologische Fund einer schwarzen und mehrerer weißer Steinzeugfliesen stammt mit aller Wahrscheinlichkeit aus diesen Fluren (Abb. 2.5). Im Sinne dessen, was unter der SS-Herrschaft im Gebäude ablief, sind die Fliesen zunächst keine ausreichende Quelle, denn wir können sie zwar als Bauteile des Gebäudes bestimmen, sie aber noch nicht einmal einem Flur zuordnen. Allerdings erfahren wir zumindest durch ihre Rückseite, dass die Flurböden mit Produkten der „Utzschneider & Ed. Jaunez Thonwaarenfabrik“ aus Zahna im heutigen SachsenAnhalt ausgelegt waren. Die Fabrik für im Trockenpress-Verfahren hergestellte Steinzeug-Fliesen war erst im Jahre 1890 gegründet worden, und aus der Biographie des Lothringers Eduard Jaunez zeigt sich dessen Nähe zum Berliner Politbetrieb. Die heute noch existierende Fliesenfabrik wurde in Zahna angesiedelt, da man sich erhebliche Aufträge durch die damals rasch wachsende Hauptstadt Berlin versprach (Zahna-Fliesen GmbH 2013).

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Auch Kochs Fotos des offenen Hofs haben nichts als niederträchtige Täuschung in sich. So zeigt Bild M50 eine Reihe von mindestens fünf Männern, alle auffallend gut frisiert, beim „Zusatzkostfassen im KLC“25 mit weißen Emailleschüsseln in der Hand. Auf dem Tisch im Hof vor dem Westflügel befinden sich Brote und andere Nahrungsmittel. Das sieht nach einem gewissen Luxus aus, nach guter Behandlung durch den Kommandanten und Knipser, wüsste man nicht von einem Häftling, Wilhelm Harnisch, dass „diese Zusatzkost an die Gefangenen mit einem Preisaufschlag von 100% verkauft wurde, was ich besonders wegen der vielen armen Gefangenen als ungerechtfertigt empfand“ (Harnisch 1990, 133). Der Boden des KZ-Innenhofs war mit Backsteinen ausgelegt (s. Bild M50, M52, M55, M56). Eine solche Pflasterung erlaubt den Abfluss des Regens und war vielleicht mit der Absicht angelegt worden, Pfützen zu verhindern. Doch bemerkt Kurt Hiller (1990: 90): „Auf dem Hofe steht, vom Gewitter der letzten Nacht, eine riesige Pfütze; vielleicht drei Meter lang, einen breit. Rautenberg (Truppenführer der SS, R.B.) lässt alle gerade verfügbaren Gefangenen längs der Pfütze antreten und ich muss im Parademarsch immer an ihnen vorüber, dreimal, viermal, immer durch die Pfütze (mit offenen Stiefeln). Er backpfeift mich vor der Front der Kameraden und kreischt: ‚Seht Euch diesen Lumpen an! Seht ihn Euch genau an! Wisst ihr, was der ist? Kriegsdienstverweigerer ist der! Kriegs– dienst–ver–wei–ge–rer!!! Merkt Euch dieses Gesicht auf ewige Zeiten! Der Schuft ist ein noch größeres Schwein als ihr, der ist von euch allen der gemeinste Verbrecher!‘ Wieder in der Zelle, bedreckt, schweißtriefend, mit angebrochenem Nasenbein, zerschlagenem Gesäß, zerschundenen Handgelenken, der Stirnwunde und nun dieser neuen Demütigung [...] werde ich von einem unzähmbaren Verlangen gepackt, auszuprobieren, ob mit den Ärmeln meines Lüsterjäckchens Selbst-Erdrosselung möglich sei.“

Heinz Hentschke hatte ein nicht minder grausames Erlebnis mit dem Hof. „Plötzlich ertönte das Kommando: ‚In einer Reihe Aufstellung nehmen! Zack! Zack!‘ Etwa 20 Häftlinge erfüllten den Befehl schnellstens. Danach ein neues Kommando: ‚Alles Hosen runter!‘ Gesagt, getan. Zwei SS-Männer pinselten unsere Kniescheiben mit Büroleim ein. Dann das Kommando: ‚Auf die Erde, niederknien! Und dabei die Hosen über die linke Schulter werfen!‘ Bald hatten wir den Befehl ausgeführt; wir knieten auf dem grobsandigen Gefängnishof. Nach einer Weile: ‚Alles aufstehen! Zack! Zack! – ohne Tritt, einrücken!‘ Wir setzten uns befehlsgemäß in Richtung Hauseingang in Bewegung. Im Vorflur neuer Befehl: ‚Zu dreien formieren! Hinknien! – Singen: ‚Großer Gott, wir loben

25 Kochs Unterschrift (s. Morsch 2007, 231).

74 | M ATERIELLE S PUREN DES NATIONALSOZIALISTISCHEN T ERRORS dich. Herr, wir preisen deine Stärke.‘ Lied, steigt! Drei, Vier! Los, die Treppe kniend rauf!‘ Ein fürchterlicher Schmerz beherrschte jeden von uns. Unser Lied ging unter, von Schmerzensschreien und Gewimmer übertönt. ‚Was, das nennt ihr singen!? Das ist ja reine Gotteslästerung! – Sofort aufhören!‘ Und schon fielen SS-Männer über uns her. Sie knüppelten uns in unsere Zellen. Dort angekommen fielen wir kraft- und willenlos zu Boden. Lange noch war Wimmern und Aufschrei zu hören.“ (Hentschke 1990, 128)



Der Kontrast zwischen den harmlos wirkenden Fotos des Gebäudes samt den zerbrochenen Fliesen auf der einen und den Häftlingsberichten auf der anderen Seite könnte nicht stärker sein. Er belegt das Problem fotografischer, hier aber auch archäologischer Quellen. Kochs Fotos sind radikal falsch, weil sie einen Überblick über den Raum zu geben scheinen, aber unfähig sind, tatsächliche Geschehnisse auch nur anzudeuten. Sie sind das Gegenteil dessen, was Roland Barthes als images justes bezeichnet, als die seltenen Bilder, welche eine Person, Situation oder Sache in ihrem Kern einzufangen in der Lage sind (Barthes 1980, 109). Kochs Fotos versuchen nicht, das Wesentliche des KZ Columbia einzufangen, sondern wollen genau dies verschweigen. Sie sind prototypische images injustes. Diese Knipsereien können dennoch auf der Ebene der Strukturen verwertet werden. Hier möchte ich einige Beobachtungen anschließen, die in Zusammenhang mit den Abrissakten des KZ Columbia stehen. Diese Abrissdokumente geben mit den Aufnahmen Kochs wichtige Hinweise auf die Gebäudestruktur und ihr Funktionieren unter Gestapo und SS. Zunächst zur Herkunft dieser Akten. Das Gefängnis sollte im Zuge des Flughafenneubaus mit Stumpf und Stiel entfernt werden: „Der Kellerfußboden einschließlich der anschließenden Fundamente ist also mit zu entfernen“, wie es im Ausschreibungstext vom 14. 8.1937 heißt, der an die vier Firmen Robert Apel, Anton und Erich Galasch, Becker & Heuer sowie Willi Krüger & Co. ausgesandt worden war (BFG-Ordner 668). Es ging um eine Tiefenenttrümmerung avant la lettre,26 ein Plan, dessen Hintergründe genauer zu untersuchen wären: Sollten die Spuren dieses frühen KZ aus rein baulichen Gründen komplett vernichtet werden, oder setzte damals schon eine unterschwellige Tendenz ein, mit dem Bau auch die Spuren der eigenen

26 Tiefenenttrümmerung ist eine aus der Zeit nach dem 2. Weltkrieg stammende Technologie, die mit zunehmenden Ansprüchen an Standsicherheit von Gebäuden, besseren Aushubgeräten (Baggern) und Abdichtungstechnologien zu tun hat; freundliche Mitteilung des Architekturhistorikers Johannes Kramer, TU Berlin, 27.10.2015.

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Schandtaten verschwinden zu lassen, wie dies in den Vernichtungslagern Treblinka, Bełżec, Sobibór und Chełmno vergeblich später versucht wurde?27 Abbildung 2.6: Grundriss-Zeichnung des Ostflügels des KZ Columbia, Erdgeschoss28

27 Zum Vernichten der Spuren in Bełżec s. Kuwalek (2008), für Sobibór s. Distel (2008) und für Treblinka Benz (2008) sowie Sturdy Colls (2015). 28 Die Nummern auf der Zeichnung stammen von der Abrissfirma und geben höchstwahrscheinlich nicht die Zellennummern der SS wieder.

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Statt der vier genannten Firmen wurde dann am 27.5.1938 dem Unternehmen M. Barth GmbH aus Hohenschönhausen der Auftrag für alle vier Abbruchlose erteilt, das diesen anscheinend während der im Auftrag geforderten Frist von 21 Tagen ausführte. Die Ausschreibung zum Abbruch enthielt Außenmaße aller Gebäude und Gebäudeteile und zusätzlich die Aufforderung, das genaue Abrissvolumen zu bestimmen.29 Hierfür wurden Abrisszeichnungen angefertigt, die für einen einzigen Stock in einem Flügel die Zellenmaße bis auf den Zentimeter genau angeben und für den zweiten Flügel eine Grundrissspiegelung anzeigen (Abb. 2.6). Aus den Außenmaßen ergibt sich, dass die beiden Seitenflügel mit jeweils 11,30 m Breite deutlich breiter als der Quertrakt mit nur 6,90 m Breite waren. Für den Quertrakt entlang des Columbia-Damms liegt, im Gegensatz zu den zwei Seitenflügeln, kein Grundriss mit interner Raumeinteilung vor. Jedoch lässt sich, wie oben gezeigt, aus den Koch’schen Fotos und Berichten der Häftlinge herauslesen, dass im Erdgeschoss mit den großen Fenstern im Quertrakt Büroräume und Aufenthaltszimmer des Wachpersonals lagen, sodass im Quertrakt nur der erste und zweite Stock Zellen enthielten. Daraus ergibt sich eine Gesamtzahl von 144 oberirdischen Zellen für den gesamten Bau. Zusätzlich berichten Wolfgang Szepansky und Johannes Lukowski, dass es auch im Keller Zellen gab, wo „die Gefangenen strenger bewacht wurden. Sie durften sich nicht setzen“ (Szepansky 2000, 93). Bei diesen Zellen handelt es sich wahrscheinlich auch um die fensterlosen Verliese, von denen ein namenloser anderer Gefangener erzählt (Schilde 1987, 61).30 Geht man von der generell angegebenen Zahl von schon beim Bau geplanten 156 Zellen aus (Architekten-Verein zu Berlin 1896, II:400; Endlich 2007, 438), und stellt die 144 oberirdischen Zellen in Rechnung, so muss es im Keller deren 12 gegeben haben. Für deren Größe fehlen uns die Angaben. In diesen Keller führten die zwei Seitentreppen am Westund Querflügel sowie mindestens eine interne Treppe am Zwickel zwischen Ostflügel und Quertrakt (Bilder M50, M52, M56). Wo genau im Keller die Zellen waren, unter ihnen ein Duschraum, „ein schmieriges, unbeleuchtetes Loch“ (Hiller 1990, 102), und ein Raum, in dem Häftlinge ausgepeitscht und gefoltert wurden, lässt sich derzeit nicht sagen.

29 BFG-Archiv, Ordner 666. 30 Der Klempner Johannes Lukowski war als Häftling 1933 beauftragt worden, Toilettenanlagen zu bauen und konnte bei einem Verfahren gegen den SS-Mann Karl Fitzner genauere Angaben zu den Folterzellen im Keller machen (Landesarchiv Berlin, B Rep.058, Nr. 11047).

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Tabelle 2.2: Zellengrößen (in m) im KZ Columbia Zellenreihen Querflügel Seitenflügel

1 2

Zellen- Zellen pro zahl pro GebäudeEtage teil 12 ca. 20

24 60 x 2

Länge ges.

Breite ges.

ZellenLänge (innen)

ZellenBreite (innen)

Zellengröße (qm)

53,19

6,90

ca. 3,44

ca. 2,20

7,6

1,872,02

6,7

30,27

11,30

3,44

(geschätzt nach Maßen und Fotos; innere Mauerdicke zwischen Zellen ca. 0,40 m)

Abbildung 2.7: (a) Ziegelmauer der Treppenwange aus dem KZ-Hof; (b) Nahaufnahme eines Ziegels mit dem Stempel „Loepten“

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Abrisszeichnungen und Fotos lassen sich zu Tabelle 2.2 mit zwei leicht unterschiedlichen Zellengrößen zusammenfassen. Das entspricht jedoch nicht den von einigen Häftlingen gemachten Größenangaben. So bemerkt Henry Marx (1990, 118), seine Zelle habe Maße von 13 x 6 ½ Fußlängen gehabt, also ein Längen- zu Breitenverhältnis von 2 : 1. Archäologische Reste des Baus waren nur in geringem Maß vorhanden. Hierzu zählt vor allem ein großes, einen Ziegel starkes Mauerfragment, das stark verkippt in einem engen Suchschnitt am Rande des Columbia-Damms im Jahr 2013 gefunden wurde (Abb. 2.7a). Dieses Mauerstück, ohne erkennbare Basis oder oberen Abschluss, war 15 Lagen und damit etwa 1m hoch erhalten und im für das KZ nach Kochs Fotos typischen Blockverband gesetzt. Etliche Ziegel trugen den Abdruck „Loepten“ und verweisen damit auf Baumaterial aus einer etwa 50 km südlich von Berlin gelegenen Ziegelei bei Groß-Köris. Eine Seite der Mauer war mit Teer bestrichen, dessen Laufnasen klar machten, dass die nördliche Seite des Mauerrests am oder nahe des Bodens war. Da Teerbestrich vor allem gegen Bodenfeuchtigkeit verwendet wird, muss diese Mauer an einer Seite unter dem Boden, an der anderen freiliegend gewesen sein. Für eine tragende Kellermauer war jedoch die Stärke von einem Ziegel zu gering. Für Lichtschächte oder ähnliches gibt es in diesem Bau keine Indizien. So bleibt nur die Annahme, dass es sich hier um eine der Treppenwangen handelt, die vom Hof aus in den Keller führten. Diese kann man, wie erwähnt, auf dreien der Koch-Bilder ausmachen (Bilder M50, M52 und M56). Deutlich wird hieran auch, dass die Gesamtentsorgung von Baumaterial nicht so gründlich war, wie die Bauleitung des Flughafens es beauftragt hatte. Die Gesamtheit der Häftlingsberichte und das Album Kochs geben weitere Hinweise darauf, wie Gestapo und SS das Gebäude benutzten. Die zwei Bilder, auf denen man den Ostflügel und Gefangene sehen kann, zeigen einmal „strenge Einzelhäftlinge“ (Bild M55), unter ihnen den Metallgewerkschafter Max Urich, und zum anderen eine große Anzahl Gefangene beim erzwungenen „Singen“ meist nazistischer Lieder (Bild M51). Ansonsten hat Koch den Ostflügel vom Gefängnishof aus nicht fotografiert. Dagegen gibt es fünf Fotos von Aktivitäten direkt am Westflügel (Bilder M50, M52–M55) und in der Ecke von Quertrakt und Westflügel. Die Thematik ist hier deutlich anders. Drei Aufnahmen zeigen tatenlose Häftlinge, eine mit stehenden (Bild M54), zwei mit sitzenden Personen (Bild M53 und M55). Auf einem weiteren Foto wird die schon erwähnte Zusatzessensausgabe abgelichtet (Bild M50) und auf einer dritten Koksschippen unter Aufsicht gleich zweier SS-Männer (Bild M52). Der Verdacht, dass der Ostflügel, vor dem Koch die „strengen Einzelhäftlinge“ ablichtete (Bild M56), tatsächlich deren Zellentrakt war, wird durch mindestens zwei Berichte politischer Gefangener bestätigt. Kurt Hiller, den Nazis verhasst als Jude, Pazifist und Homo-

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sexueller, schreibt über seine Zelle, „sie liegt im ersten Stock, bietet einen Ausblick ins Grüne (schöne windbewegte Pappel am Westzipfel des Neuköllner Volksparks!) und hat einen Schemel“ (Hiller 1990, 89). Eine solche Zelle kann es nur im Ostflügel des Gebäudes gegeben haben. Das KPD-Mitglied Guido Hartmann (1990, 113) vermerkt: „Wir wurden sofort in die Einzelzellen getrieben, ich in den ersten Stock, soviel ich glaube, im Ostflügel des, wie ich später vermutete, hufeisenförmig angelegten Gefängniskomplexes.“ Henry Marx schreibt, er sei auf der Nordostseite mit Gitterfenster zum Hof hin untergebracht gewesen (Marx 1990, 118). Die Einzelhaft im Ostflügel hatte sicher auch logistische Gründe. Am Westflügel im Erdgeschoss lag der Gang hin zum „Gerichtsgebäude“, und von hier starteten die täglichen Fahrten zum Geheimen Staatspolizeiamt (Gestapa) in der Prinz-Albrecht-Straße, wie Kochs Bild M59 zeigt. Es gab also im Erdgeschoss des Westflügels erheblichen Durchgangsverkehr von Häftlingen, so dass man wohl die Isolationshaft in den Ostflügel legte. Analysiert man die Fotos des KZ Columbia nach Kochs Standpunkten, stellt sich schnell heraus, dass sein Blick auf ganz bestimmte Gebäudepartien fokussiert war (Abb. 2.4). Einerseits sind dies Fotos, die aus der Nähe des „Beamtenwohnhauses“, der Kommandantenvilla, gemacht worden waren (Bilder M8, M13, M48 und wahrscheinlich M14). Dies lag nahe, eben weil sich Kochs Wohnhaus dort befand. Themen sind hier SS-Wache und scharfe Hunde (Bilder M8 und M14), das Füllen von Strohsäcken unter Aufsicht eines SS-Mannes (Bild M48) und Homosexuelle, die in einer Reihe über diesen Vorhof laufen (Bild M13). Zum anderen handelt es sich um die oben genannten Bilder, die die westliche Seite bzw. die nordwestliche Ecke des Gefängnishofs zum Ziel haben. Ich bin versucht zu vermuten, dass Kochs Büro in dieser Ecke lag und er, ob bewusst oder nicht, recht oft in die Ecke hinein fotografierte. Aus dem Abschnitt in Kochs Album, der das KZ Columbia betrifft, wird deutlich, wie sehr seine Fotografien gestellt sind. Zwei Fotos, auf denen Gefangene aus der Nähe und untätig abgebildet sind (Bilder M54 und M55), lassen deren Unwillen deutlich erkennen. Besonders auffällig ist das bei Bild M55, da dort die der Kamera nächste Person schützend die Hand vors Gesicht hält. Auch vier weitere Personen versuchen, das Gesicht von der Linse abzuwenden.31 Sarkastisch und verächtlich ist Kochs Unterschrift unter diesem Bild: ‚Frankforter Strichjungs‘.32 Die weiter oben gestellt Frage, ob man solche Fotos aus ethischen

31 Weitere Fotos jüdischer Häftlinge des KZ Columbia im Archiv des KZ Sachsenhausen bestätigen diese Beobachtung (freundliche Mitteilung von Karoline Georg). 32 Beckers Bemerkung hierzu (2007, 14), den „jungen Männern, die sich auf einem Lagerhof zu sonnen scheinen, [sei] der Schrecken der Denunziation und Verfolgung

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Gründen von jeder Reproduktion ausschließen sollte, stellt sich auch in diesem Falle (s.a. Lange 2011). Andere Verhältnisse herrschen in der Aufnahme einer Zelle, die ein leeres Zimmer samt säuberlich hergerichtetem Bett und Stuhl zeigt (Bild M45); die vielfachen Beschwerden über die schlechte Einrichtung der Zellen wird hier bildlich aufgeschönt. Der Standpunkt des Fotografen war zudem so gewählt, dass die Zelle größer erscheint, als sie wirklich war. Das Verhältnis zwischen komplett sichtbarer Raumbreite und Raumlänge, welches nur etwas mehr als 1 : 1,5 betrug, wird bewusst durch einen Standpunkt im Türrahmen oder leicht außerhalb verschleiert, so dass der Raum größer aussieht als er war. Schließlich sei darauf hingewiesen, was Koch verschwieg, wo und wann er nicht fotografierte. Es gibt keinerlei Aufnahmen des berüchtigten Kellers, es gibt keine Aufnahmen des Zimmers des „Vernehmungsrichters“ mit den dort aufbewahrten Folterinstrumenten (Szepansky 2000, 93–94),33 es gibt kein Foto der völlig unzureichenden Sanitär-Räume. Und nur unabsichtlich scheint Koch ein Detail aufgenommen zu haben, auf das frühere Insassen immer wieder verwiesen: da die Zellen keine Toiletten, Kübel oder Ähnliches enthielten, musste man zum Toilettengang durch von innen mögliches Aushängen eines „Fähnchens“ sein Bedürfnis anzeigen – die Wachmannschaften der SS aber machten sich einen quälerischen Spaß daraus, diese Fähnchen nicht zu beachten oder explizit gerade dann nicht die Türe zu öffnen (Schwarz in Georg, Schilde, and Tuchel 2013, 21). Koch hat auf seinem Bild M46, betitelt „Zellengang im KZ Columbia“, ein solches Fähnchen an der ersten Tür links abgelichtet. Beim Betrachten

nicht oder noch nicht anzusehen“, scheint mir bei genauer Betrachtung des Bildes unangemessen. 33 In einem nur dünn fiktionalisierten Bericht über seinen Aufenthalt im Columbia-Haus beschreibt Paul W. Massing alias „Karl Billinger“ das Gebäude in so großer Übereinstimmung mit Kurt Hillers Beobachtungen, dass man von der Wahrhaftigkeit anderer Teile ausgehen kann. Massing war ebenfalls im Columbia-Gefängnis, als es offiziell noch kein KZ war, sondern die „Polizeibereitschaft z.b.V.“ unter Leitung von Walther Wecke dort ihr Unwesen trieb (s.a. Schilde und Tuchel 1990, 22–25). Billinger – Massing schreibt, es habe ein „Büro des Untersuchungsrichters“ im obersten Stock gegeben (Billinger 1935, 28), ebenso wie eine Latrine im Gefängnishof (Billinger 1935, 22; Hiller 1990, 103), und Gefangene wurden in Lastwagen bis in den Gefängnishof gefahren (Billinger 1935, 32). Da der Hof später durch einen Zaun abgegrenzt war (s. Bild M53), vermute ich, dass das Gefängnis bis zu Kochs Eintreffen zum Teil umgestaltet worden war. Über Umbauten der Sanitäranlagen berichten Kurt Hiller (1990, 102–103) und Johannes Lukowski (s. Anm. 30, S. 76).

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fragt man sich unwillkürlich, ob Koch dem Begehren des Häftlings stattgab, nachdem er seine Aufnahme gemacht hatte. Dies führt zu einem weiteren Aspekt, der sich in keinem Foto abbilden lässt. Die „Ablichtung“ mit der Kamera ist als mechanischer Prozess so schnell, dass sie Bewegung nicht zu erfassen vermag. Nichts ist an Fotos grundsätzlich verfälschender als ihre zeitliche Dimension. Als BetrachterIn kann man beim Bild verweilen, sich auf Details konzentrieren, die im realen Leben längst durch andere kleine und große Ereignisse abgelöst worden wären. Noch problematischer wird es, wenn nicht nur Dauer, sondern Zeitrelationen dem Foto unterliegen. Fast alle Häftlinge, die Berichte über ihren Aufenthalt im KZ Columbia hinterlassen haben, berichten von Drängen und Hast bei Alltagsverrichtungen wie dem Spülen der Emailleschüsseln (Hartmann 1990, 112) oder dem schon erwähnten Toilettengang. Die dauernde Hetzerei der SS kann nur narrativ kommuniziert werden – auch archäologischen Artefakten haftet eher Kontemplatives als Zeitknappheit an. Wie sich insgesamt zeigt, sind für eine angemessene Auswertung von Fotos als Quellen, ganz besonders dann, wenn sie von Tätern stammen, Parallelquellen anderer Art notwendig. Hätte man nur die Koch’schen Fotos und den Abrissplan, nichts von den Quälereien, der Alltagsschikane, dem Foltern und Erniedrigen wäre sicht- und belegbar. Sie strahlen eine gewollte Harmlosigkeit, manchmal eine scheinbare Gutwilligkeit den Häftlingen gegenüber aus, die in krassem Kontrast zu dem bekannten Sadismus des Fotografen stehen. Kochs ColumbiaDokumentation ist eine Kameralüge. Und doch sollten wir nicht einfach die Fotos als derealisierend verdammen (Rupnow 2005, 259). Ganz im Gegenteil: Dieses Album und seine Fotos generieren mehr Erkenntnis als wenn sie die direkte Ausführung von Folter und Grausamkeiten dokumentierten. Die Konstellation, die wir für die Quellenkombination des KZ Columbia vorfinden, ist vielleicht genau deshalb so beeindruckend und gleichzeitig bedrückend, weil sie so kontradiktorisch und unbefriedigend ist: vor dem Hintergrund der Häftlingsberichte sind die Fotos nur als eine gewaltsame Ästhetisierung des Schreckens zu lesen. Kochs Bilder sind aufgrund ihrer scheinbaren Gewaltlosigkeit Gewalt gegen die Realität.

Fotografie und Archäologie

Fotografie ist auch in anderer Hinsicht für eine Archäologie der Nazi-Zeit ein problematisches Feld: die dokumentarischen Bilder, die wir von Befunden und Funden machen, haben immer eine ästhetische Qualität, die schon aufgrund ihrer

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genauen Planung zur Ausstrahlung visueller Harmonie neigt. Wie passt dies mit Orten des Terrors zusammen? Um einen adäquaten Zugang zur Rolle der Fotografie in diesem Feld zu finden, gehe ich kurz auf die verwobene Geschichte von Fotografie und Archäologie ein. Wie oft beschrieben, haben Archäologie und die Technik des Fotografierens eine eng miteinander verwobene Entwicklung (z.B. Bohrer 2011; Shanks and Svabo 2013, 89–91), wobei die Möglichkeiten des Fotografierens Ausgrabungstechniken sehr stark beeinflussten. Eine in der Archäologie bis heute vorhandene Ideologie misst der Kamera die Fähigkeit zur Objektivität bei. Sie wird immer noch angesehen als „the pencil of nature“, wie Talbot dies ausdrückte (Bohrer 2011, 30–34), und hatte aufgrund dieser Annahme zunächst auf alle Wissenschaften des 19. Jhs., die ihre Wissensobjekte illustrierten, einen großen Einfluss. Ob Botanik, Pathologie oder Archäologie, es bestand der Drang, die Subjektivität der Beobachtenden auszuschalten, aber auch die Variabilität der beobachteten Objekte oder Lebewesen so zusammenzufassen, dass sich allgemeine Schlüsse daraus ziehen ließen. Es wurde also nicht nur das subjektive Empfinden, die Sehensgewohnheiten und Abbildungskapazitäten der WissenschaftlerInnen und Zeichnenden kontrovers diskutiert; auch der Prozess des Synthetisierens der Beobachtungen selbst wurde als problematisch empfunden. Im ersten Schritt jeder Forschung muss ein Objekt des Wissens, ein „epistemisches Ding“, konstituiert werden. Selbst archäologische Ausgrabungen sind – zugegebenermaßen in einem recht einfachen, praktischen Sinne – immer ein Prozess der Herstellung epistemischer Dinge, benennbarer Einheiten, die wir aus dem Erdreich nach und nach wie SkulpteurInnen herausarbeiten. „Was an einem solchen Objekt interessiert, ist gerade das, was noch nicht festgelegt ist. So zeigt es sich in seiner charakteristischen Verschwommenheit, die dadurch unvermeidlich ist, dass es, paradox gesagt, eben das verkörpert, was man noch nicht weiß“ (Rheinberger 1992, 70). Wer einmal auf Ausgrabung mit einer in den obersten Lagen sichtbar werdenden Stampflehmarchitektur zu tun hatte, der oder dem ist diese Bemerkung sehr eingängig. Doch beschreibt Hans Jörg Rheinberger hier Forschung im Labor. Im Unterschied zu solchen naturwissenschaftlichen Vorgängen ist die Ausgrabung ein im Freien stattfindender Prozess. Der Grad der Improvisation ist vergleichsweise hoch, die Praxis komplex und langwierig. Wissenschaftlich werden Grabungen vor allem durch den Einsatz „technologischer Objekte“, wie dies Rheinberger bezeichnet. Diese bestehen, wie in anderen Disziplinen auch, aus Messinstrumenten und dokumentarischen Mitteln, schließen in diesem Falle jedoch auch grobes Werkzeug ein. Eine durch den Einsatz solcher Dinge mögliche Laboratmosphäre kann im Bereich von Ausgra-

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bungen mehr oder weniger stark ausgeprägt sein.34 Allgemein ist die Erwartungshaltung bei einer Ausgrabung wie im Labor eine offene, doch gibt es zwei gewichtige Unterschiede zwischen den epistemischen Dingen der Biologie oder anderer Laborwissenschaften und denen der Archäologie. Im Falle naturwissenschaftlicher Experimente können sich epistemische Dinge selbst im Laufe der Zeit in technologische Objekte verwandeln, die in weiteren Experimenten als begrenzende Mittel eingesetzt werden. War die Sequenzierung von DNA zunächst ein epistemisches Ding, und die enzymatische Sequenzierung eine unter vielen im Labor erwogenen Möglichkeiten, so ist diese enzymatische Sequenzierung heute längst zu einem Routineverfahren, einem „technologischen Objekt“ geworden (Rheinberger 1992, 70–71, Anm. 15). Dies ist in der Archäologie nicht der Fall, vor allem aufgrund des temporalen Schnitts zwischen epistemischem Ding (Objekten aus der Vergangenheit) und technologischen Objekten (Kameras und anderen Geräten der Gegenwart). Auch in einer weiteren temporalen Hinsicht, der Zukunftsdimension, ergeben sich deutliche Diskrepanzen zur experimentellen Laborpraxis. In beiden Kontexten gilt zwar, dass „ein technologischer Gegenstand [...] eine Antwortmaschine [ist], ein wissenschaftlicher eine Fragemaschine“ (Rheinberger 1992, 72). Doch die Fragen der Archäologie produzieren Zukunft höchstens indirekt: sie zielen auf eine in naher Zukunft liegende Entschlüsselung ab, die aber als Wissensinhalt einen Vergangenheitshintergrund liefert, der wiederum als lebensweltliches Rahmenelement Zukunftsvorstellungen bestenfalls mitzuprägen in der Lage ist. Zielt die naturwissenschaftliche „Fragemaschine“ grundsätzlich auf das „Noch-Nicht-Wissen“, so fragt die archäologische Maschine nach einem Wissen über das „Nicht-Mehr.“ Trotz dieser Unterschiede ist Rheinbergers Beschreibung des wissenschaftlichen Vorgehens gerade für die Stellung des Fotografierens in der Archäologie relevant. Denn mit der Erfindung der Kamera verschoben sich im Laufe des 19. Jahrhunderts die Relationen zwischen den epistemischen Dingen und den technologischen Objekten fundamental. Lorraine Daston und Peter Galison (1992) führen aus, wie sehr Reflexionen über Illustrationen, und besonders der Übergang vom Zeichnen zum Fotografieren diesen Prozess beeinflussten. Sie nutzen hierfür den Begriff „working objects“, konkrete Objekte als

34 In manchen Fällen – wie etwa im neolithischen Çatalhöyük – wurde ein großes Dach über der Grabungsstätte installiert, welches auf die gesamte Wahrnehmung der praktischen Vorgänge großen Einfluss hat: aus einem den Witterungseinflüssen ausgesetzten Außenraum wird ein vor Wind, Temperaturschwankungen und Sonne schützender Innenraum.

84 | M ATERIELLE S PUREN DES NATIONALSOZIALISTISCHEN T ERRORS „any manageable, communal representatives of the sector of nature (und materieller Kultur, R.B.) under investigation. No science can do without such standardized working objects, for unrefined natural objects are too quirkily particular to cooperate in generalizations and comparisons.“ (Daston and Galison 1992, 85)

Bei den „working objects“ geht es nicht um Rheinbergers Frage, was ein Wissensgegenstand ist, sondern wie er am besten sichtbar gemacht werden kann. „Atlases supply working objects to the sciences of the eye“ (Daston and Galison 1992, 85), doch nicht nur Atlanten tun dies, sondern genauso Kataloge von archäologischen Objekten und Befunden (s. Bernbeck 2010). Ein Hintergrundstreit darüber, ob ein genau abgezeichnetes Einzelobjekt als „typisch“ für eine größere Gruppe stehen könne, oder ob nicht ein abstrahierter Archetyp, der so in der Realität gar nicht existieren sollte, die bessere Art der Visualisierung für wissenschaftliche Dokumentation sei, wurde durch das Aufkommen der Kamera zugunsten des realen Einzelobjekts entschieden. Die Kamera wurde zum technologischen Objekt, welches Objektivität garantierte und damit vorgeblich das Problem der subjektiven Darstellungen löste und den gesamten Repräsentationsprozess ein für alle Mal regelte: es ging um ein „policing of subjectivity by the partial application of photographic technology“ (Daston and Galison 1992, 100), letztlich aber um weit mehr, nämlich um das Einüben der Selbstüberwachung der WissenschaftlerInnen. Es dauerte lange, bis man sich mit den subjektiven Aspekten der fotografischen Werke selbst beschäftigte. Das gilt auch für deren Anwendung in der Archäologie. Schriften zu Fotografie in der Archäologie sind, wie oben angemerkt, zunächst eher darauf ausgerichtet, den objektiven Charakter des Dargestellten zu versichern. So schreibt Petrie, Fotografieren sei essentiell „to guarantee the accuracy of the drawing“ (Petrie 1904, 73). Die Zuverlässigkeit einer Handlung des Repräsentierens ist mithin bei Maschinen größer als bei Menschen, deren Spuren demnach als Faktor in der Wissenschaft möglichst ausgeschlossen werden sollen. Hier finden wir die erwähnte Selbstdisziplinierung, wobei die technologische Maschine einerseits als Vorbild für die menschliche Aktivität, zum anderen als deren Kontrollmittel dient.35 Doch auch die Kamera-Akkuratesse muss historisch kontextualisiert werden. So schrieb Petrie zum Fotografieren von Gräbern, man benötige unter den Kno-

35 Das Statement von Petrie ist ein exzellentes Beispiel für das, was Günter Anders als „prometheische Scham“ bezeichnet, als den Eindruck der fundamentalen Unterlegenheit des Menschen seinen Erfindungen, den Maschinen gegenüber (Anders 1956, I: 23–59).

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chen ein „packing with dark earth to give contrast“ für ein gutes Foto. Er verwendete in solchen Zusammenhängen den Begriff des „dressing“, des Zurechtmachens, und insistierte auf der langen Zeit, die hierauf zu verwenden sei (Petrie 1904, 76–77). Diese heute verpönte Praxis, die man auch als „mise-en-scène“ bezeichnen mag (Shanks and Svabo 2013), schien zu Anfang des 20. Jhs. die Objektivität des fotografischen Bildes in keiner Weise zu beeinträchtigen. Der Zusammenhang von Objektivität und Fotografie wird noch deutlicher in George A. Reisners Text über die Grabungsfotografie: „Every observation should be supported as far as possible by a mechanical, that is photographic record of the facts observed“ (Der Manuelian and Reisner 1992, 4). Reisners Beschreibung des Fotografierens zeigt uns noch mehr. So schreibt er bezüglich der Mastaba G 1206 in Gizeh: „The door-block at the bottom of the pit was photographed, then the outer chamber showing the plastered entrance of the inner burial chamber; then the masonry blocking this entrance after removing the plaster; then the slabs covering the resting place of the body; and finally the skeleton in the receptacle hollowed in the rock.“ (Der Manuelian and Reisner 1992, 10)

Ausgraben selbst wird eine serielle Produktion fotogener Zustände. Wie im Praktischen erfahrene ArchäologInnen wissen, arbeiten wir tatsächlich bis heute weitgehend beim Ausgraben auf einen Fotozustand hin. Dieser wird so inszeniert, dass die Spuren der eigenen Tätigkeiten unsichtbar werden. Wir graben eigentlich nicht eine Ruinenrealität, sondern die bereinigte Repräsentation einer solchen aus. Dissard (2008, 311) betont, dass die mechanische Objektivität als Resultat archäologischer Praxis, die er als „Reinigungsritual“ bezeichnet, erst die Distanzen zwischen einem als befleckt und besudelt scheinenden Damals und einem vom abstrakt-hygienischen Raum dominierten Heute herstellt.36 Die Konzeptualisierung des fotografischen Ideals lenkt letztlich die Art der Ausgrabung. Das führt ganz im Sinne von Baudrillard zur Ununterscheidbarkeit von Signifikat und Signifikant. Die Ausgrabenden suchen weniger einen Befund

36 Auch Spuren des Reinigungsrituals selbst scheinen mittlerweile als Problem angesehen zu werden. So schreibt Maurizio Forte (2014, 6): „The side effect of this augmented visual information [3D visualization by optical laser scanning, R.B.] on the stratigraphy is that the scratches of archaeological trowels are visible, which partially compromises the identification of micro-morphologies belonging to the Neolithic context.“

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als die Befundabbildung, die paradoxerweise im Entfernen aller technologischen Objekte besonders aber aller Menschen kulminiert. Erst nach dieser Bereinigung kann ein mechanisches Bild eingefangen werden. Bohrer findet hierfür die richtigen Worte: „Archaeological photography records how a site virtually never looks, but rather how its directors want it to be for the record. It is a product of a field decision that effaces as much as possible the fieldwork, the human presence, itself“ (Bohrer 2011, 84). In rezenten Diskussionen archäologischen Fotografierens werden vor allem kolonialistische und orientalistische Einstellungen hervorgehoben: die Entfernung von lokalen MitarbeiterInnen, aber auch von Frauen; das Wegräumen von Werkzeugen als Indizien der Arbeit oder von Alltagsbedürfnissen. Archäologische Fotos verschleiern statt zu dokumentieren (Hamilakis et al. 2009; Baird 2011; Bohrer 2011, 73–81). Diese Kritiken bleiben an der Oberfläche der Sichtbarkeiten. Sie plädieren letztlich nur für den Einschluss der menschlichen und dinglichen Gegenwart in die Darstellungen der archäologischen Vergangenheit. Es geht jedoch in zweierlei Hinsicht um mehr, um tiefgehendere Auswirkungen auf das Denken. Erstens ist, wie ausgeführt, die visuelle Dokumentation als Wahrhaftigkeit erheischende eines der wichtigsten archäologischen Mittel, epistemische Dinge zu produzieren. Durch die Methode des Fotografierens sind diese von jeder Form der Ausgrabungsarbeit bereinigt und präsentieren eine klinische Sauberkeit. Zweitens hat die Methode des Ausgrabens in Stadien des RePräsentierens, wie z.B. Reisner sie beschreibt, und wie sie sich in jedem stratigraphisch ergrabenen Ort in sukzessiven Plana äußert, einen Einfluss auf die Wahrnehmung von Zeitlichkeit selbst durch eine Verwechslung der fundamentalen Strukturen des Verhältnisses von Dynamik und Statik. Henri Bergson kritisiert dies als eine unzulässige Umwertung grundlegender Verhältnisse: „Nous nous figurons que le mouvement lui-même est divisible indéfiniment. [...] L’‚immobilité‘ étant ce dont notre action a besoin, nous l’érigeons en réalité, nous en faisons un absolu, et nous voyons dans le mouvement quelque chose qui s’y surajoute“ (Bergson 1938, 159–160). Ausgrabungsfotos entziehen also der Realität gleich zwei Aspekte, das Gegenwärtig-Menschliche und das bewegte Leben insgesamt. Gehen wir nochmals zu Daston und Galisons Terminologie zurück: Selbstdisziplinierung und Ausschalten der Imagination sehen sie als den Kontext, innerhalb dessen sich die Wissenschaftsfotografie entwickelt. Im archäologischen Kontext wird jedoch, und das ist meine dritte Kritik, nicht nur die lebendige Ausgrabungspraxis, sondern eben auch das vergangene Leben mit der ihm innewohnenden Dynamik mit entsorgt. Archäologische Fotos führen zu einer doppelten temporalen Bereinigung.

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Bei den Orten des Nazi-Terrors kommt hinzu, dass es sich nicht um irgendwelche historisch „interessanten“ Plätze handelt, sondern um solche, in denen Leben prekär und bedroht war. Die Entfernung aller Zeichen des Lebens aus den Bildern entäußert sie indirekt auch ihrer vormaligen Gefahren. Selbst wenn das nicht der Fall wäre, müsste Susan Sontags Kommentar zum Doppelcharakter der Fotos beachtet werden. „Photography that bears witness to the calamitous and the reprehensible is much criticized if it seems ‚aesthetic‘; that is, too much like art. The dual powers of photography – to generate documents and to create works of visual art – have produced some remarkable exaggerations about what photographers ought or ought not to do.“ (Sontag 2003, 76–77)

Ästhetik wird zum Problem, wo der fotografische Inhalt mit starken negativen Affekten behaftet ist. Form und Inhalt stehen in einem Kontrast zueinander, der weitreichende Konsequenzen hat: „Narratives can make us understand. Photographs do something else: they haunt us“ (Sontag 2003, 89). Ich meine, die Schwierigkeit mit einer sorgsam orchestrierten, objektivierenden Fotoästhetik stellt uns vor eine Situation, die Sontags Äußerung in ihr Gegenteil verkehrt. Eine historisch gewachsene archäologische Ästhetik zur Produktion von „Objektivität“ entleert die Geschichte von allen Affekten, Empathie und damit einem elementaren Anteil der Historiographie, wie er gerade auch von Betroffenen eingeklagt wird (Friedländer 2007a). Das Prinzip archäologischen Fotografierens ist dann: Wo Leiden war, soll der professionelle Blick befriedigt werden. Gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma? Der buchstäblich ins Leere schweifende Blick über den Ausgrabungsplatz führt vielleicht zu einem Begehren, mehr zu wissen, da Befunde in der Regel fragmentarisch sind. Dieses Begehren bezieht sich jedoch nicht auf die Personen, die einst in diesen Baustrukturen lebten, sondern auf die Verfolgung und visuelle Ergänzung materieller Spuren selbst. Deutlich wird dies an einem Grabungsfoto aus einem Zwangsarbeitslager der Lufthansa in Tempelhof, wo neben den Baracken ein Splitterschutzgraben gefunden wurde (Abb. 2.8). Das Foto zeigt den Befund der zerdrückten Eingangssituation. Unten links sieht man den Schuh einer Person, die offensichtlich die Fotoleiter hält, und oben rechts sind gerade noch Besen und Kehrichtschaufel ausfindig zu machen. Der Grabungsvorgang ist in diesem nicht gecroppten Foto also durchaus zu erkennen, jedoch würden Fuß, Leiter und Utensilien mit Sicherheit bei Veröffentlichung durch kleineres Framing entfernt. Mit entsprechender Bildunterschrift ruft dieses Foto aber auch Fragen nach der Vergangenheit hervor: wie stürzten die Wände ein? Wie war der Boden des Grabens gestaltet? Waren die senkrechten Platten abgedeckt, und wenn ja,

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wie? Wie sah der Weg zum Zugang aus, der außerhalb des Ausgegrabenen liegen muss? Diese Fragen bewegen sich in rein sachlichen Sphären. Diskussionen auf der Ausgrabung verdeutlichen, dass sine ira et studio ein – auch vom Denkmalsamt als verantwortlicher Behörde geschätzter – Habitus ist, dessen vermutete Nähe zur Wissenschaftlichkeit allerdings öfters mit einem anderen Wissen schwer in Einklang zu bringen ist, dem um die Tortur und Ausbeutung am ausgegrabenen Ort. Meines Erachtens muss dieses aus Zugeneigtheit entstehende Wissen parallel zur Objektivität zum Ausdruck kommen können. Abbildung 2.8: Aufsicht des Eingangs in einen Splitterschutzgraben im Bereich des Lufthansa-Zwangsarbeitslagers, Tempelhofer Feld

Wie kann in solche Fotografien der Affekt, den Sontag in ihrem Frühwerk kritisiert, überhaupt erst hereingebracht werden? Sind die archäologischen Fotogra-

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fien tatsächlich nur als archivalisches Material zu verstehen, oder sollten sie nicht gleichzeitig auch Zeugen sein? Am historischen Extrem kann man diese Probleme besonders gut erkennen. Didi-Hubermann schreibt über Fotografien und den Holocaust, dass wir eine dialektische Geschichte benötigen, „capable de manier ensemble la parole et le silence, le défaut et le reste, l’impossible et le malgré tout, le témoignage et l’archive“ (Didi-Huberman 2003, 133, Hervorhebung im Orig.). Aber gilt dies nicht auch für einen a priori unschuldig erscheinenden, bei näherem Hinsehen aber grausamen Ort wie Tempelhof? Sontags Satz ist für Grabungsfotografien umzuformulieren: „they should haunt us, instead of reducing us to mere understanding.“ Zuviel Rationalität, zuwenig Heimsuchung. Abbildung 2.9: Derselbe Eingang wie in Abb. 2.8, mit Modifikation zur fotografischen Entästhetisierung

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Eine konkrete Möglichkeit, mit diesem Problem umzugehen, findet sich in Judith Butlers Diskussion von Sontags Essay. Für Butler sind Fotografien Argumente, die allerdings nicht auf verbaler Ebene argumentieren müssen. Es geht nicht nur darum, „what it [the photograph] shows, but also how it shows what it shows [...]“, um fortzufahren, dass „framing becomes part of the story; unless there is a way to photograph the frame itself. At that point, the photograph that yields its frame to interpretation thereby opens up to critical scrutiny the restrictions on interpreting reality“ (Butler 2009, 71–72). Man kann und sollte einen Entfremdungseffekt nutzen, um auf den artifiziellen, objektivierenden Charakter der archäologischen Fotos aufmerksam zu machen, und damit gleichzeitig Reflexionen zu ihrer spezifischen Ästhetik anzuregen. So lassen sich ohne weiteres Kommentare in Bilder einschreiben, die den Bildinhalt infrage stellen können. Ein solches, oder auch ein mittels Sprache produziertes bildimmanentes Framing, zugegebenermaßen in polemischer, gar aufdringlicher Weise eingefügt, hat zwei Effekte. Es macht deutlich, dass Fotografieren weder ein objektiver Vorgang ist noch ein transparentes Ergebnis hat. Vielmehr handelt es sich um einen Prozess voller Manipulationen und Modifikationen, viele davon absichtlich. Der zweite Effekt hat für die obsessiv an Dokumentation interessierte Wissenschaftsfotografie den Charakter einer Entfremdung. Ohne Umformung wird Abb. 2.9 als direkt vor der Betrachterin liegender Befund wahrgenommen. Der nachträglich eingefügte Stacheldraht irritiert diese Wahrnehmung des Archäologischen und führt dazu, das Bild zunächst anzusehen, statt durch es hindurchzusehen. Eine solche Störung hat den Charakter einer Erinnerung daran, dass das Medium Foto ein Mittler ist zu dem, worauf es eigentlich bei diesen Bildern ankommt: die Historie der Nötigung, Entführung, Ausbeutung und des Einsperrens von ZwangsarbeiterInnen. Das Verhältnis zwischen dem Stacheldraht als Vordergrund, an dem das Auge haften bleibt, und dem Ausgegrabenen im Hintergrund, dem normalerweise das wissenschaftliche Interesse primär gilt, produziert eine Spannung zwischen Zeugnis und Dokument, auf die DidiHuberman im obigen Zitat verweist. Die Grabungsfotografin Jessica Meyer hat für die Fundfotografien aus Tempelhof eine ähnliche Wirkung auf sehr viel subtilere Weise hervorrufen können. Sie übersetzte viele der Objekte, ganz unabhängig von ihrer spezifischen Herkunft, in menschliche Dimensionen, indem sie sie beim Fotografieren in ihren Händen hielt (Abb. 2.10). Diese fotografischen Repräsentationen haben eine Aussagekraft, die weit über die oft verloren wirkenden Dinge der dokumentarischen, nach Amtsvorschriften angefertigten Aufnahmen hinausreicht. Ein Vergleich zweier Fotografien ein- und desselben Gegenstands macht dies klar.

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Das kleine Plättchen der Abbildung 2.10 aus Aluminium (oder Dural) war sicher ein Überrest des Metalls vom Flugzeugbau. Jemand hatte dieses Plättchen mittels feiner Bohrungen mit einem Zeichen versehen, welches vage einer „4“ gleicht, bei dem es sich aber, wenn umgedreht, auch um ein stilisiertes kyrillisches Б handeln kann. Das Stück wurde in einem Kontext der Baracke 8 gefunden, in der sowjetische Zwangsarbeiter lebten. Links ist das Plättchen in seinem ursprünglichen Fundzustand mit anhaftender Erde, Korrosion und Verfärbungen zu sehen. Die Hand von Jessica Meyer, der Fotografin, vermittelt einen lebensnahen Eindruck des Objekts, dessen Drehung zur Betrachtung der Rückseite sich aus der Geste erahnen läßt; ebenso die Vorsicht, mit der das Plättchen gehalten wird. Abbildung 2.10: Zwei Fotografien einer selbstgefertigten Aluminium-Plakette mit kleinen Bohrungen

Auf der rechten Seite liegt das Plättchen auf einer Unterlage, in gereinigtem Zustand und analysierbar, so dass wir die Rillen der kleinen Bohrspitze in den einzelnen Löchern sogar erkennen können. Dennoch wirkt der Gegenstand abstrakter, isolierter. Doppelfotografien dieser Art können uns die beiden oben genannten Aspekte des rein Dokumentarischen und des Objekts als Zeugnis visuell vor Augen führen. Mit archäologischer Fotoästhetik muss für historische Plätze des Terrors und der Erniedrigung unkonventionell umgegangen werden. Wir sollten ähnliche Überlegungen allerdings auch für andere Kontexte anstellen. Fotografieren ist kein routiniert-automatisch anwendbares Mittel zur objektiven Dokumentation, sondern das Foto steht immer in einem spezifischen Verhältnis zu seinem Inhalt. Das gilt sowohl für die fotografische Inszenierung im Moment der Ablichtung als auch für das auf einem archäologischen Foto Erfasste.

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W ORAUF D INGE

VERWEISEN

Am 27.1.2015 wurde in der Berliner Philharmonie ein Konzert mit Werken von Johann Sebastian Bach, Ludwig van Beethoven, Max Bruch, Gustav Mahler, Joseph Achron, Ohad Ben-Ari und anderen gegeben. Soweit ist dies nichts Besonderes. Allerdings hatte das Konzert den Titel „Violinen der Hoffnung“ und fand an einem symbolischen Datum statt, dem 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz. Das Besondere war weniger die ausgewählte Musik als die Instrumente, auf denen das Orchester spielte. Sie hatten alle eine mit dem Holocaust, Flucht und Vertreibung verbundene Geschichte. Tatsächlich hatten Menschen, die den Holocaust überlebt und einen Weg nach Israel gefunden hatten, vielfach die in Deutschland erstandenen Instrumente nie wieder gespielt, sie gar zerstört oder zumindest Musik deutscher Komponisten gemieden. Der Geigenbauer Amnon Weinstein hatte Violinen, die Überlebende des Holocaust und Geflüchtete gerettet hatten, gesammelt und restauriert. „Jedes Instrument ist wie der Grabstein zu einem fehlenden Grab, für Körper, die eingeäschert wurden und denen man die Bestattung verweigert hat“, so Weinstein (zit. in Berliner Philharmoniker 2015). Für den damaligen Außenminister Walter Steinmeier (2015) waren „die Instrumente, die heute Abend erklingen, [...] Zeugen der Shoa. [...] Jede einzelne dieser Geigen erzählt eine Geschichte. Eine Geschichte von Verfolgung, Vertreibung und Tod. Da ist die sogenannte Drancy-Violine, benannt nach dem berüchtigten Sammellager bei Paris, von dem Zehntausende französische Juden per Eisenbahn in Vernichtungslager gebracht wurden. Ein Deportierter warf seine Geige noch vom Zug auf den Bahnsteig, und rief den Wartenden zu: ‚Nehmen Sie meine Geige! Wo ich hingehe, wird sie nicht lange bestehen‘.“

Der Umgang mit diesen Musikinstrumenten ist in mehrerlei Hinsicht für eine Archäologie der Nazi-Zeit relevant. Hatten die Überlebenden generell eher kein Interesse an den geretteten Geigen, und spezifisch kein Interesse, sie erklingen zu lassen, so gewannen sie für den Geigenbauer Weinstein einen symbolischen Wert. Sie sind Grabsteine, allerdings solche, die eine irritierende Lebendigkeit dadurch erhalten, dass sie ein unendliches Musikpotenzial in sich tragen. Sie markieren den Tod und überwinden ihn gleichzeitig beim Ertönen in den Armen von Musizierenden. Solche „Dinge“ haben in Relation zu anderen Elementen der materiellen Kultur ein – die negativen Konnotationen inklusive – abwechslungsreiches „soziales Leben“ (s. Appadurai 1986). Ihre „Biographie“, wie die archäologische Sprache es heutzutage oft ausdrückt (Gosden and Marshall 1999;

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Joy 2009), ist komplex und mäandrierend. Scharf setzen sich dagegen die symbolisch eher verarmten Dinge aus früheren Orten des Nazi-Terrors wie Nägel, Bruchstücke von Tonkrügen oder Glasscherben ab. Zu Anfang dieses Kapitels führte ich aus, dass die sinnliche Wahrnehmung von Fotografien und Dokumenten über das Auge läuft. Dabei changiert das Sehen zwischen Transparenz als dem „Durch-Sehen“ durch ein materielles Medium auf einen Text oder ein Bild einerseits, und dem „Ansehen“ derselben als Objekte andererseits. Der Fokus auf dem semiotischen Charakter lässt die Materialität, das Ansehen des Betrachteten allzu oft vergessen. Bei Geigen, Scherben, Eisenstangen und Knochen, kurzum, der Welt der „Gegen-Stände“, verschiebt sich das Wechselspiel des An- und Durchsehens radikal. Denn Objektwahrnehmung erfolgt nicht rein visuell, sondern zudem oft über den haptischen Sinn oder auch, wie bei den Violinen, über das Hören. Dinge sind, was ihren diskursiv erfassbaren Sinn angeht, deutlich weniger transparent als Akten und Fotos. Dennoch sind die Unterschiede zwischen schriftlichen, bildlichen und anderen materiellen Quellen im Grunde graduell: auch Fotopapier und Bücher haben, wie wir im Zuge der raschen Digitalisierung der Welt deutlich vor Augen geführt bekommen, eine haptische Qualität. Praktisch jedoch ist die Komplexität der aus einem Ziegelstein ablesbaren Bedeutung gegenüber einem Schriftstück so stark reduziert, dass ein kategorischer Schnitt angemessen erscheint. Materielle Kultur ist eben nicht lesbar wie ein Text, auch wenn ArchäologInnen dies manchmal behauptet haben. In der oben zitierten Konzertrede verweist Steinmeier auch auf die semiotische Seite der Dinge, wenn er behauptet, jede der Violinen erzähle eine Geschichte. Auch ArchäologInnen, die sich mit der Nazi-Zeit befassen, bedienen sich häufig dieser Metapher und bescheinigen Dingen narrative Macht (Hirte 1999, 32; Kersting and Müller 2015, 165). Darmanin und Mootz (2006, 1) schreiben über Artefakte aus dem Vernichtungslager Bełżec: „Each artifact tells of the survival of the human spirit in unspeakable circumstances.“ Aber ist das wirklich so? Erzählen diese Artefakte nicht auch etwas über die Unmöglichkeit des Überlebens? Und sind dann nicht die Inhalte, die da angeblich von den Geschichten ausgehen, rettungslos unterdeterminiert, offen für jede Phantasie heute? Wenn ja, bedeutet dies nicht, dass die Sachen, die wir aus der Erde ziehen, letztlich eben doch nur stumm sind? Die narrative Macht der Dinge, ihre Offenheit für Imaginationen ist ein komplexes Feld, welches der genaueren Reflexion bedarf, worauf ich noch ausführlicher eingehen werde (s.S. 177–217). Eine weitere Thematik, die Steinmeier anspricht, ist der Status der Musikinstrumente als „Zeugen der Shoah.“ In welcher Form legen die Violinen Zeugnis ab über den Holocaust, über Tod, Terror, Flucht und Angst? Sieht man ihnen die

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historischen Zustände an, wenn sie in einem Konzert in der Berliner Philharmonie die Bühne bevölkern? Auch hier wird eine anthropozentrische Metapher benutzt, der nachzuspüren lohnt, tritt sie doch in anderen materiellen Zusammenhängen ebenfalls öfter auf. Entsprechen Dinge in ihrer unverrückbaren, bohrenden Existenz dem Zeugnisablegen der überlebenden Opfer des Nazi-Regimes, von früheren KZ-Häftlingen bis zu ZwangsarbeiterInnen? Eyal Weizmans Idee einer „Forensis“ legt eine solche Assoziation nahe (s.S. 160–174). Ein dritter Aspekt von Objekten jeglicher Art ist ihr Status als historische Quelle (Hausmair 2017). In den Reden zum Berliner Konzert wurde diese Perspektive auf die Dinge nicht berührt. Doch natürlich kann auch eine Geige zur geschichtlichen Quelle werden. Eine von Weinsteins Violinen rettete der gesamten Familie des Rumänen Feivel Wininger das Leben: Deutsche Soldaten fanden Gefallen am Spiel des Besitzers und ließen ihn und Angehörige deshalb überleben (Grymes 2014, 9; 226–234). Ebenso wie für uns heute ein gefälschter Reisepass ein historisches Dokument, zur Nazi-Zeit aber (und heute für Flüchtlinge) ein überlebenswichtiger Gegenstand war und sein kann, so kann eine Violine diese Position einnehmen. In Tempelhof fanden wir Reste eines Gitarrengriffbretts, aber auch den Wirbel einer Balalaika (s.S. 240–241, Abb. 4.15) im Bereich eines Zwangsarbeitslagers. Wir wissen fast nichts über den Alltag der Insassen, die dort ihr Leben fristeten. Solche Objekte geben immerhin einen kleinen Einblick. Doch als Einzelobjekte sind sie wenig aussagekräftig. Dies gilt allerdings ebenso für eine alleinstehende Notiz darüber, dass ein Zug voll besetzt von Białystok nach Treblinka fuhr, aber leer zurück. Auch schriftliche Quellen fügen sich erst in einem größeren archivalischen Zusammenhang zu einem historischen Narrativ über den historisch singulären Massenmord der Nazis (Hilberg 2009, 85–89). Materielle Hinterlassenschaften vereinen in sich also drei Verweismodalitäten. Sie haben ein Evokationspotenzial, sie können im forensischen Sinne Zeugen sein und sie sind in der Lage, als Quellen zu fungieren (Abb. 2.11). Diese Modalitäten sind jedoch in Objekten jeweils in unterschiedlich starkem Maße vorhanden. Was die Nazi-Zeit angeht, so ergeben sich besonders scharf hervortretende, mit diesen Verweispotentialen assoziierte Qualitäten. Erstens geht mit dem Evokationspotenzial auf BetrachterInnenseite die notwendige Fähigkeit zur Empathie einher, der Wille, trotz Reflexion die „Fassungslosigkeit“ über die historische Ungeheuerlichkeit des „Dritten Reichs“ zu bewahren (Friedländer 2007a, 26). Die Besonderheit gegenüber den meisten anderen historischen Epochen und Konfigurationen besteht allerdings darin, dass den Dingen als auch ihrer damaligen Umgebung des Grauens letztlich nur im Negativen, als Sinnlosigkeit, noch ein Sinn abgewonnen werden kann. Wir gelangen mit der Geschichte

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des Nationalsozialismus schnell an die Grenzen der menschlichen Empathiefähigkeiten (Lang 2000, 17–20). Abbildung 2.11: Die drei Verweisungsmodi von Dingen

Dagegen können wir die Zeugen- oder Bürgschaft der Objekte als auch ihr Quellenpotenzial der Sphäre des kritischen, rationalitätsorientierten Denkens zuweisen. Der Überschuss über das rein Materielle hinaus besteht hier in der intersubjektiv nachvollziehbaren Zuschreibung von Bedeutungen an Objekte. Dabei richten sich die Bezüge zwischen Dingen, Menschen, Institutionen und Zukunftsplänen an einer möglichst großen Eindeutigkeit aus. Das Ziel ist ein standfestes Urteil über Sachverhalte. Es geht nicht um allgemeine Positionierungen, wie Tillmans (2012) sie dringlich einfordert, sondern um die Erforschung spezifischen historischen Unrechts und seiner potenziellen Rektifikation. Weiters fällt Objekten dort, wo sie als Quellen in der Zusammenstellung historischer Narrative mobilisiert werden, eine Rolle zu, die nur mit Unterdetermination zu charakterisieren ist. Dies ist kein Manko, denn auch das schriftliche Einzeldokument befindet sich fast immer in einer solchen Relation zum historischen Narrativ, welches Vielfalt und oftmals widersprüchliche Einzelelemente zu einem in sich kohärenten Mosaik vereinigt. Der Verweischarakter der Dinge ist, wie die Vokabel impliziert, notwendig relational. Ob ein Gegenstand als Zeugnis fungiert, etwas evoziert oder als Quelle interpretiert wird, hängt davon ab, in welchem Kontext er mit welchen Subjekten in Relation tritt. Ich verdeutliche dies mit einer Textpassage aus Jorge Sempruns Die große Reise. Der BuchenwaldÜberlebende teilt uns eine Vision mit, die bemerkenswert „archäologischen“ Charakter hat.

96 | M ATERIELLE S PUREN DES NATIONALSOZIALISTISCHEN T ERRORS „Vor einigen Wochen dachte ich, dass ich gerne mitangesehen hätte, wie die Gräser und Sträucher, Dornen und Wurzeln im Wechsel der Jahreszeiten, im rauschenden Regen des Ettersbergs, im Winterschnee und der kurzen, gleißenden Aprilsonne, wie sie unaufhörlich, beharrlich, mit der Beharrlichkeit der Natur, während schon das ächzende Holz auseinanderklafft, während schon der Beton unter dem Andrang des Buchenwaldes wieder zu Staub zerbröckelt, wie die ganze Natur unbarmherzig jene menschliche Landschaft am Hang des Hügels, jenes von Menschen errichtete Lager langsam wieder auslöscht und mit ihrem Gedränge von Gräsern und Wurzeln die Landschaft des Lagers bedeckt. Zuerst würden wohl die Holzbaracken des Großen Lagers einstürzen, deren leuchtend grüner Anstrich sie kaum vom Laub abhob, die jedoch jetzt schon bald unter der andrängenden Flut von Gräsern und Büschen verschlungen wären, dann die zweistöckigen Zementblöcke, und sicher ganz zuletzt, später als alle anderen Gebäude, viele Jahre später, so lange wie möglich noch in die Luft ragend gleich einer Erinnerung, einem Mahnmal, das erschütterndste Symbol des Ganzen: der viereckige, wuchtige Krematoriumsschornstein, bis eines Tages die Dornen und Wurzeln auch diese letzte, verzweifelte Gegenwehr aus Stein und Zement zu Fall gebracht hätten, dieses hartnäckig noch aufragende Bollwerk des Todes inmitten der grünenden Büsche, die schon das ganze Gebiet überwuchern, das einst Vernichtungslager war, und bis die Natur vielleicht sogar jene Schatten aus dichtem, schwarzem, gelb durchzogenem Rauch, die noch immer über der Landschaft schweben, diesen Geruch verbrannten Fleisches, der noch immer zitternd über der Landschaft hängt, ausgelöscht hätte, wenn die letzten Überlebenden, wenn wir alle längst verschwunden wären, wenn keine genaue Erinnerung mehr an das alles wach wäre, sondern nur noch die Erinnerung an die Erinnerung.“ (Semprun 1981, 194)37

Für Semprun rufen die materiellen Überreste vor allem Erinnerungen an Schrecken und Tod hervor. Er hält ein endgültiges Verschwinden dieses Ortes, nicht aber der Erinnerung an diese Geschichte für wünschenswert. Die Baracken und das Krematorium sind für ihn weder Zeugen noch auch brauchbare historische Quellen. Sie können, ja sollen dem Vergessen anheim gegeben werden. Andererseits insistieren Opferverbände und Bürgerinitiativen, dass die Erinnerung an die Lager es erfordere, sie in ihrer vollen Ausdehnung zu erhalten, damit der Nachwelt nicht nur die Erinnerung an den Ort, sondern auch die Monstrosität der Skala spürbar bleibe. Der gescheiterte Versuch, einen „Kaiser’s“ Supermarkt Anfang der 1990er Jahre auf dem ehemaligen Gelände des Frauen-KZ Ravensbrück zu eröffnen, brachte genau diese Argumente auf den Tisch (Dittberner 1999, 86–88). Schließlich wurde der Supermarkt im Jahr 2011 abgerissen. Die

37 Für einen ähnlichen Gedanken, deutlich in Anspielung auf das nachkriegszeitliche sowjetische „Speziallager Nr. 2“ in Buchenwald, s. Semprun (1995, 80).

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betroffene Fläche wurde renaturiert, um „sich harmonisch in die Umgebung einzufügen“, wie es tatsächlich in der Ankündigung des Landes Brandenburg heißt (BLB 2011). Das Evokationspotenzial dieses Ortes der Shoah war und ist bis heute so überwältigend, dass auch eine Kapelle des Kapitalismus auf solchem Boden keinen Platz finden kann. Tritt die materielle Welt als Zeugnis auf, ist sie ebenfalls vom BetrachterInnenstandpunkt abhängig. Der weiter oben beschriebene Fund eines Mauerrests des ehemaligen Militärgefängnisses und Konzentrationslagers Columbia in Berlin-Tempelhof war für manche BesucherInnen der freitäglichen Ausgrabungsführungen kaum ein Schulterzucken wert. Denn es gab ja Fotos des Baus und Dokumente, also wusste man, dass es das Gefängnis gab und wie es benutzt worden war. Für andere war die schlichte Präsenz der Reste der essenzielle, unwiderlegliche Beweis nicht nur für das Gebäude, sondern auch dafür, was sich dort abgespielt hatte. Solche fundamentalen Unterschiede charakterisieren bis heute auch das Feld der Nazi-Historiographie. Objektivismus ist eine einfache Möglichkeit, der eigenen (kollektiven und in Einzelfällen auch individuellen) historischen Verantwortung zu entfliehen: das Band zur Vergangenheit wird zerschnitten. Eine rein empathische Herangehensweise riskiert hingegen eine andere Art der Ungerechtigkeit, da sie heutige Zustände und Mentalitäten auf die Vergangenheit projiziert (Vernant 1999).

Gegenstände als historische Quellen Der Verweisungsmodus, welcher Dinge als Quellen betrachtet, steht in archäologischen Grabungsberichten in der Regel im Vordergrund. Derzeit bestehen in einer sich entwickelnden archäologischen Literatur Einseitigkeiten, Lücken und Probleme, die nicht unkommentiert bleiben können. Grabungen an Orten der Nazi-Zeit sind in Deutschland fast ausschließlich Rettungsgrabungen, d.h., sie geschehen aus Anlass des Baus einer Straße, eines Hauses, der Verlegung einer Pipeline oder anderer heutiger Vorhaben, die drohen, materielle Reste der Vergangenheit zu vernichten. Bis vor kurzem herrschte sowohl in archäologischen Kreisen als auch beim Gesetzgeber die Meinung vor, materielle Reste der Neuzeit seien weder schutzwürdig noch müsse man sie ausgraben (Behrens 1996). Teilweise basiert dies auf der Ansicht, es gebe ja ausreichend schriftliche und bildliche Belege für diese Zeiten. So bekundet Hilberg in seinem grundlegenden Buch zur Historiografie des Holocaust gleich am Anfang, dass materielle Quellen vollkommen ungenügend seien. Er schreibt über Befunde, dass „das komplexe Geschehen des Holocaust sich aus solchen physischen Überresten nicht

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zurückgewinnen [lässt]“ (Hilberg 2009, 14). Einerseits ist dem ohne Weiteres zuzustimmen, denn materielle Reste als nichtsprachliche Quellen reichen nicht entfernt aus, um den Holocaust und die rasanten Entwicklungen auf ihn hin in den institutionellen und administrativen Dimensionen im nationalsozialistischen System nachzuzeichnen. Dies lässt sich nur mittels schriftlicher Dokumente durchführen – wenn überhaupt. Doch Hilberg schätzt das Potenzial der materiellen Überreste falsch ein, wenn er sie schlicht als Illustration des anderweitig schon Bekannten oder als Bestand ansieht, der unserem Wissen nur insignifikante Details hinzuzufügen in der Lage ist. Für die erstaunliche wissenschaftliche Zurückhaltung in Bezug auf eine Erforschung der Materialität der Nazi-Verbrechen in Deutschland selbst mag das kollektive Unterbewusstsein eine wichtige Rolle spielen, nicht noch ein weiteres Feld der Vergegenwärtigung einer mörderischen Vergangenheit zu erschließen, welches die Erinnerung befrachtet. Das Täterkollektiv und seine Nachfahren imaginieren sich in die Rolle des Atlas, der die Last der „bedrückenden Zeiten“ nicht zusätzlich erschweren will. Denn die schiere demographische Größe der aus der „Volksgemeinschaft“ Ausgeschlossenen – der Kriegsgefangenen, ausländischen Zwangsarbeitenden, der Homosexuellen, Behinderten, der aus politischen oder religiösen Gründen Ausgeschlossenen bzw. Inhaftierten – lässt tatsächlich Spuren dieses Terrors fast überall erwarten (Pollack 2014). Als die östlichen Bundesländer nach der Wiedervereinigung neue Denkmalschutzgesetze für Bodendenkmale formulierten, wurden neuzeitliche materielle Reste als schützenswert explizit eingeschlossen. Die „alten“ Bundesländer zogen zum Teil nach. Seither hat sich die Anzahl der Ausgrabungen auch von Örtlichkeiten des 20. Jhs. vervielfacht, und unter den jährlichen Grabungsberichten der Landesverbände nehmen sie viel Platz ein. Doch hat sich, da Dokumentation und Bestandssicherung von Baubefunden bei diesen Ausgrabungen im Vordergrund stehen, ein einseitiger Fokus auf die immobilen Befunde ergeben, „in order to draw accurate plans of these places“ (Theune 2010, 3), was verstärkt wird durch eine oftmals überbürokratisierte Fundverwaltung in den Landesdenkmalämtern. Diese verführt die meist privaten Grabungsfirmen dazu, die Anzahl der abzuliefernden Funde gering zu halten. Erschwerend kommt hinzu, dass im universitären Milieu Studierenden wenig Anlass gegeben wird, sich mit den trotz der erwähnten Schieflage zahlreichen Neuzeitfunden in Qualifikationsarbeiten interpretativ auseinanderzusetzen. Wir lernen mithin den infrastrukturellen Rahmen von Orten des NS-Terrors kennen – doch was dort geschah, erschließt sich letztlich nur aus dem Zusammenspiel von unbeweglichen Befunden und dort angetroffenen Funden. Wollen wir Archäologie als Quelle vergangener Lebenswelten fruchtbar machen, sind Funde in ihren Ausgrabungskontexten ein es-

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senzielles Element. Es reicht weder aus, die aus der NS-Zeit stammenden Objekte – wie etwa die Violinen – genau in Augenschein zu nehmen, noch kann man sich auf die Betrachtung von obertägigen Baudenkmälern beschränken. Das Kontextualisieren, die Interpretation der unabsichtlich oder absichtlich in einem größeren Rahmen hinterlassenen und in situ erhaltenen Gegenstände ist für diese Art der Quelle unerlässlich. Erst durch Ausgrabungen werden Spuren des Handelns auch an Orten der extremen Repression und Tortur bewertbar. Die Tendenz zur einseitigen Fokussierung auf unbewegliche Bau- und andere Befunde ist auch international zu beobachten; gerade auch, wenn man rezente Überblickswerke zur Archäologie der Nazi-Zeit miteinander vergleicht. Claudia Theunes für ein großes Publikum verfasste Archäologie an Tatorten des 20. Jhs. enthält zwar Bemerkungen zu Funden (Theune 2014, 19–23; 75–81), ist jedoch weitestgehend eine Erörterung von Infrastrukturen von Lagern, Schützengräben und anderen Installationen der Gewaltgeschichte des letzten Jahrhunderts. Carolyn Sturdy-Colls’ Holocaust Archaeology (2015) behandelt eigentlich das gesamte Lagersystem der Nazis aus archäologischer Perspektive, bezieht sich jedoch bewusst hauptsächlich auf Baustrukturen; dies trifft weitgehend auch auf das Sammelwerk Die Transformation der Lager zu (Klei, Stoll und Wienert 2011). Denn diese können heutzutage durch geoelektrische Prospektionen, Luftbildanalyse und Bodenradarmessungen oftmals auch ohne Ausgrabung identifiziert werden. Dagegen ist jede Ausgrabung nicht nur eine Zerstörung des Befunds, sondern wir müssen gerade im Zusammenhang mit dem Holocaust auch potenzielle, ethisch hochproblematische Verletzungen des jüdischen HalachaKanons bedenken (Sturdy Colls 2015, 93–101). Mein Plädoyer für mehr Ausgrabungen ist also ein eingeschränktes: ethische Grenzen haben Priorität. Eine systematische Erfassung solcher Grenzen findet sich etwa in den „Vermillion Accords“ (World Archaeological Congress 1989), die festzulegen versuchen, unter welchen Bedingungen menschliche Überreste ausgegraben werden können. Aber vielleicht liegt das beobachtete Ungleichgewicht einer Vernachlässigung der Funde ja an der geringen Fundanzahl? Hilberg etwa meint, abgesehen von den museal ausgestellten Objekten existiere „kaum noch etwas“ (Hilberg 2009, 15). Dies steht in krassem Gegensatz zu den Erfahrungen der ArchäologInnen mit Fundmengen aus Grabungen in Konzentrations- und anderen NSLagern, etwa in Buchenwald, Sachsenhausen und Mauthausen (Hirte 1999, 31– 54; Kersting and Müller 2015, 171–175; Theune 2011, 548). Dort wurden dermaßen umfangreiche Fundmassen sichergestellt, dass wir immer wieder über die Möglichkeit der De-Akzessionierung gerade erst registrierter Objekte nachsinnen müssen (s. Bernbeck and Pollock 2013a, 10). An den Fundmengen kann es

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also nicht liegen: bei unseren Ausgrabungen auf dem Tempelhofer Feld in Berlin wurden fast 30.000 Fundnummern vergeben, wobei auf eine Nummer oftmals mehrere Einzelstücke kommen. Die Durchsicht internationaler Literatur zu Lagern des 20. Jhs. lässt einen anderen Grund für die einseitige Fokussierung auf die Infrastruktur der NaziLager erkennen. Es ist auffällig, wie sehr etwa Michael Waters Funde und deren Analysen in der Darstellung eines Kriegsgefangenenlagers der Jahre 1943–45 für fast 5000 Wehrmachtssoldaten in Hearne, Texas in den Vordergrund stellt, einschließlich tabellarischer Quantifikationen und eines von den Gefangenen selbst gebauten, komplexen Brunnens in Form eines Schlosses (Waters 2004, 157–211, 216–220). In einem komparatistischen Band zu Archaeologies of Internment finden wir fast nur landschaftsarchäologische und an Lagerstrukturen orientierte Beiträge. Immerhin beschäftigt sich ein Artikel mit Objekten, die aus Lagern Zivilinternierter in Süddeutschland stammen. Die dortigen Festgehaltenen fertigten kleine verzierte Büchsen, Aquarelle, Schachspiele und andere meist stark verzierte Gegenstände an (Carr 2011). Auch ohne eine systematische Suche ergibt sich deutlich der Eindruck, dass das Interesse an archäologischen Funden aus Lagerkontexten sich dann intensiviert, wenn es sich um individuell gestaltete, komplexe und damit um ästhetisch ansprechende Dinge handelt. Dies trifft übrigens auch auf Theunes ausführliche Behandlung der gravierten Zuckerdosen aus Sachsenhausen zu (Theune 2014, 77–81). Archäologie als Wissenschaft des Materiellen hat – vielleicht aufgrund des teils in die Kunstgeschichte zurückreichenden Ursprungs – seit ihren Anfängen eine Schwäche für die ästhetische Dimension von Sachgütern. Diese Einstellung ist gerade für eine Archäologie der Nazi-Zeit ein fundamentales Problem, denn hier sollte der oft bezweifelte Grundsatz, negative Evidenz sei Evidenz des Negativen, in den Vordergrund gestellt werden. Wir müssen genau das in unsere Quellenforschung mit einbeziehen, was nicht vorhanden ist, und voraussetzen, dass es auch nie vorhanden war. Wie kann dies ausgeführt werden? Ohne eine weitreichende komparatistische Basis von vollständig veröffentlichten Fundbeständen und -dichten bleibt eine Einschätzung zwar noch unbestimmt; aus dem Sachbestand von Zwangsarbeits- und anderen Lagern konkretisieren sich dennoch unterschiedliche Arten von Abwesenheiten, angezeigt durch Versuche, sich Ersatz für Fehlendes zu verschaffen, oder auch dadurch, dass Dinge an ganz bestimmten Stellen verloren wurden (Starzmann 2014, 10–13; Bernbeck and Pollock 2015, 178). Unterschwellige Klassifikationen in bedeutende und weniger bedeutende Dinge – persönlicher Besitz, beschriftete Gegenstände, Verziertes als genuin wertvoll – kommen dabei zum Ausdruck, und es ist wahrscheinlich, dass diese unterbewussten Tendenzen schon auf den Grabungen selbst dazu führen, be-

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stimmte Arten von Objekten gar nicht erst als Quellenmaterial aufzuheben. Rostige, abgebrochene Nägel aus Barackenschutt mögen belanglos erscheinen. Sie verkörpern genau das, was Hahn (2015, 14–15) für unsere heutige Zeit als die „Beiläufigkeit“ der Dinge beschreibt: „Man könnte das ‚Nicht-Wissen‘ oder auch das ‚Nicht-Wissen-Wollen‘ konstitutiv für die Interaktion mit Dingen überhaupt auffassen.“ Doch natürlich gibt es auch Dinge, deren Bedeutungen nicht so leicht beiläufigen Charakter annehmen. Das kann aus funktionalen Gründen sein, zum Beispiel bei Waffen, oder auch aus Gründen der Zerbrechlichkeit und Ästhetik, beides Merkmale, die auf die „Violinen der Hoffnung“ zutreffen. Der Beiläufigkeit steht am anderen Ende der Skala die Eindrücklichkeit gegenüber. Die alltägliche, routinierte Nutzung von Dingen verstärkt ihre Beiläufigkeit, während umgekehrt ein stark rhythmisierter, etwa auf Ritualen beruhender Umgang ihre Eindrücklichkeit betont. Die Einteilung der materiellen Welt in mehr oder minder beiläufige bzw. eindrückliche Dinge wird komplexer, wenn sich eine diachrone Perspektive einschiebt. Beiläufiges kann plötzlich interpretatives Potenzial entfalten, gleich den Bernheimschen „Überresten“ in der historiographischen Quellensystematik. Was im Damals Teil der materiellen Bühne war, auf der sich Leben abspielte, kann mit Zeitabstand relevante Informationen liefern. Das machen zum Beispiel systematische Auswertungen von einfachen Nägeln in der historischen Archäologie in den U.S.A. deutlich (Adams 2002; Young 1994). Umgekehrt hatten Dinge, die uns ephemer und unwichtig erscheinen, in den bedrängten Zuständen der Lager plötzlich extrem hohen Wert, etwa Löffel und Schuhe (Kogon 1946, 44; Levi 1991, 50–51; Anders 2000, 115; s.a. Theune 2011, 557–559). Eindrückliche Funde aus Ausgrabungen der Nazi-Zeit werden auf recht unterschiedliche Weisen analysiert. Einerseits gibt es die Meinung, man könne Untersuchungen nach dem traditionellen Schema der Prähistorie durchführen, „mit einer typochronologischen Einordnung, bei der Herstellungstechnik, Form, Grundfunktion sowie die Zeitstellung eruiert werden“ (Theune 2014, 20). Andererseits werden Funde in Gruppen eingeteilt, deren Ursprung offensichtlich die lebensweltlichen Erfahrungen der ArchäologInnen plus historisches Wissen sind. Kersting und Müller schlagen die Kategorien Bauwesen, Drogerie, Haushalt, Bekleidung, Militaria, Münzen und Sonstiges vor (Kersting and Müller 2015, 171–172). Ronald Hirtes Einteilung mit 17 Gruppen und jeweils weiteren Untergruppen ist sehr viel komplexer, aber ebenfalls an historisch bekannten Kontexten ausgerichtet. Hirte schreibt explizit, dass für ihn die Funde Verweisund nicht Beweischarakter haben (Hirte 1999, 32). Er meint damit den Verweismodus, den ich oben als Evokation bezeichnet habe (s.a. Kapitel 4). Mehrfach wird die Meinung vertreten, man könne gerade Objektbestände aus der Na-

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zi-Zeit Opfern bzw. Tätern zuschreiben (Theune 2011, 552–553, 2014, 65; Hirte 1999, 32). Dies ist sicherlich für Gebäude und Infrastruktur in vielen Fällen möglich. Bei den Funden dürfte diese Unterscheidung jedoch nur für einen sehr kleinen Teil möglich sein. So entdeckten wir im Weserflug-Zwangsarbeitslager in Berlin-Tempelhof eine ganze Reihe von Tellern mit dem Aufdruck „Schönheit der Arbeit“ samt Hakenkreuz im Kontext der Zwangsarbeitsbaracken. Der Fundort dieses ursprünglich nur für Angehörige der „Volksgemeinschaft“ vorgesehenen Porzellans (Zentek 2009) kann im Tempelhofer Kontext keinesfalls als Indiz für die Präsenz deutscher Arbeiter gewertet werden; vielmehr gelangten diese Teller auf uns bislang unbekannten Wegen in das Lager (Bernbeck and Pollock, in Druck). Das Bestreben, mit den Funden Geschichte zu schreiben, d.h., sie im erläuterten Sinne als Quellen zu benutzen, benötigt jedoch sehr viel genauere Kategorisierungen als die von Kersting, Müller und Hirte angeführten. Es müssten tatsächlich Gruppen sein, die eher dem typologischen Ansatz entsprechen, den Theune vorschlägt. Auch die Skala des erstrebten historischen Narrativs sollte genau bedacht werden, denn der oberflächliche Eindruck, eine Archäologie der Nazi-Zeit müsse immer ortsgebunden und daher mikrogeschichtlich ausgerichtet sein, ist falsch. Um darüber hinaus zu gelangen, sind allerdings erhebliche, nicht mit Einzelausgrabungen erreichbare Anstrengungen verbunden. Zum Beispiel haben wir an anderer Stelle den potenziellen Beitrag der Archäologie zu einer Strukturgeschichte anhand der gegen Kriegsende von den Ämtern verfügten allmählichen Angleichung des Status der sowjetischen ZwangsarbeiterInnen an den von Zwangsarbeitenden aus Westeuropa verdeutlicht (Bernbeck und Pollock 2015). Die geplante Besserung der Verhältnisse für diese sowjetischen ArbeiterInnen zielte auf die Anhebung der Produktivität für die Rüstung ab (Herbert 1999b, 281), jedoch ist unbekannt, wieweit dies umgesetzt werden konnte. Denn die „Volksgemeinschaft“ suchte in einer Mischung aus Rassismus, Abscheu und Furcht vor den Fremden teilweise, diese Nazi-Erlasse zu torpedieren. Alltagsfunde aus Lagern, in denen es nach den rassistischen Vorstellungen des Regimes getrennte Baracken und Komplexe gab, können sowohl qualitativ als auch quantitativ auf die Differenzen im Fundbestand zwischen Baracken west- und osteuropäischer ZwangsarbeiterInnen hin untersucht werden. Für die archäologische Analyse eher ungewohnt sind auch etliche der industriellen Fertigung entstammende Objekte. Es dürften sich fast an jedem Grabungsort der Nazi-Zeit Dinge industrieller Herstellung mit seriellem Charakter finden. Blechbüchsen, Flaschen und Werkzeugmarken werden von Hirte (1999) beschrieben. Dies ist hier jedoch weniger gemeint als vielmehr Maschinenteile, die im Kontext von Zwangsarbeitslagern zu erwarten sind. Diese zeichnen sich

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durch eine große Komplexität aus, und daher sind fragmentarische Einzelteile solcher Apparate nur mit Mühe einem spezifischen ursprünglichen maschinellen Gefüge zuzuordnen. Dieses Charakteristikum einer großen Menge an Funden, die in fast allen Kontexten des 20. Jhs. vorkommen dürften, haben wir in anderem Zusammenhang als „Komponentialität“ bezeichnet (Bernbeck und Pollock 2015, 178–180). Die stark standardisierte Industriefertigung ermöglicht es umgekehrt aber auch, Maschineneinzelteile zu identifizieren. Die serielle Fließbandfertigung in der militärischen Luftfahrtindustrie hatte unter den Nazis schon seit Machtantritt 1933 einen schnellen Aufschwung genommen, was unter anderem durch die Auslagerung der Produktion von Einzelelementen möglich war. Instrumente aus den Cockpits der Militärflugzeuge wurden von vielen Werken gleichzeitig nach genauen Vorschriften und Maßen gefertigt, so dass sie im Baukastensystem in unterschiedliche Flugzeugtypen eingebaut werden konnten. So fand die in Tempelhof gefundene Anzeigescheibe eines Sauerstoffmessgeräts (Abb. 2.12a, Fl. 30496) in elf unterschiedlichen Flugzeugtypen Verwendung.38 Abbildung 2.12: a) Scheibe eines Sauerstoffdruckanzeigers für Flugzeugcockpits, Fl. 30496; b) Teil einer elektrischen Brechkupplung für Flugzeuge, Fl. 27560; c) Schukostecker der Firma Berker, Produktionsdatum 1935

Ebenso können aufgrund dieser Art der Produktion, wenn eine Teilchennummer lesbar ist, unscheinbare Stücke wie eine elektrische Brechkupplung von Siemens mit der von der Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt vergebenen sog. „Flieg-

38 Es handelt sich um drei Flugzeugtypen von Messerschmidt Me109, Me163 und Me262, die Sturzkampfbomber Ju 87 und Ju 88 von Junkers, den Dornier Bomber Do355, angeblich auch die „Nurflügel“-Konstruktion Go229, das Jagdflugzeug He219 von Heinkel und Ta 152 sowie Fw190 von Focke-Wulf.

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Nummer“ (hier Fl. 27560) funktional identifiziert werden (Abb. 2.12b). Andere Objekte wie ein Schuko-Stecker der Firma Berker mit anhaftenden Wandresten weisen nicht nur den Fabrikanten, sondern auch das Produktionsdatum 1935 aus (Abb. 2.12c). In den entzifferbaren Objektkategorien spiegelt sich ein Aspekt der industriellen Kriegsproduktion: Die starke Komponentialisierung der Gegenstände war dazu da, den Produktionsprozess für den Krieg zu beschleunigen. Lutz Budraß (1998, 736–800) zeigt in seinen Forschungen, wie sehr die letzten Kriegsjahre, aus denen viele dieser Funde stammen, zu mangelnder technologischer Weiterentwicklung im Zeichen der verstärkten Serienfertigung führten und damit zur industriellen Stagnation. Der Modus der Fundauswertung als historische Quelle ist mit diesen Bemerkungen bei weitem nicht ausgeschöpft. Ich kann nicht behaupten, die Potenziale und Grenzen adäquat erkannt oder dargestellt zu haben. Wir sind eher dabei, ein Forschungsfeld zu öffnen, und treffen dabei auch auf weitere unerwartete ethische Probleme. Denn eine große Menge Informationen findet sich im Internet, allerdings auf Militaria-Seiten, auf Diskussionsforen von Militaristen und wohl auch von Neonazis. Viele dieser Seiten sind nur mit einer Angabe des eigenen Namens, Email und manchmal auch der Adresse benutzbar. Die militaristische und die angekoppelte rechtsradikale Szene haben ein weit reichendes Detailwissen, welches der Einordnung von Objekten dienlich sein könnte, jedoch ist die Schwelle des Zugangs in Form der Preisgabe persönlicher Informationen hierfür meist zu hoch.

***

Ich habe in diesem Kapitel schriftliche Dokumente, Fotos und archäologische Dinge von unterschiedlichen Seiten her betrachtet. Mir ging es dabei darum, das Potenzial der Materialität von Text, Bild und Gegenstand für eine Auseinandersetzung mit dem Terror der Nazi-Zeit abzuschätzen. Die drei Arten von materiellen Hinterlassenschaften können wir natürlich nicht einfach zu einer Gesamtdarstellung addieren, noch lässt sich eine routinierte Methodik etablieren, indem wir bestimmten Quellenarten feste Relationen oder Prioritäten zuschreiben. Ein Grund liegt darin, dass der materielle Bestand für untersuchte Orte und für spezifische Fragestellungen so deutliche Differenzen aufweist. Wir sind weit entfernt von einem Zustand, in dem wir etwa archäologische Untersuchungen zu industriellen Anlagen, zu Lagern, Baudenkmälern oder anderen Ausgrabungsergebnissen in großen Synthesen für übergreifende Fragen verwenden könnten.

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Abbildung 2.13: Aufsicht der Standspur der Fassadenmauer des KZ Columbia mit dem Fassadenknick in der Bildmitte; der südliche Bildteil beinhaltet den Fundamentgraben

Auf absehbare Zeit wird also eine Archäologie der Nazi-Zeit weitgehend eine verortende und verortete Auseinandersetzung mit der Vergangenheit sein. Aufgrund der jeweils spezifischen Lückenhaftigkeit der materiellen Assemblagen kann deshalb auch keine allgemeine Aussage zur Relevanz schriftlicher, fotografischer oder sachlicher Quellen getroffen werden. Unsere Ausgrabungen auf dem Tempelhofer Feld zeigen dies deutlich. Wir hatten zwei unterschiedliche Sphären systematischer Ausgrenzung untersucht, einerseits das KZ Columbia und andererseits Areale mehrerer Zwangsarbeitslager. Für das KZ sind vielfältige schriftliche Quellen, ein Teilplan ebenso wie eine kursorische Baubeschreibung vorhanden (s.S. 5 –76). Berichte etlicher Häftlinge über die in diesem Gebäude erlittenen Qualen erlauben Einsichten in die Brutalitäten der an die Macht gekommenen Gestapo, SS und anderer Nazi-Schergen. Dagegen fallen die archäologischen Belege sehr mager aus, denn außer Bodenkacheln und Ziegeln ließ sich bislang nichts aus dem Inneren mit Sicherheit dingfest machen. Und außer einer verkippten Treppenstützmauer konnte nur die Standspur des Fundaments, jedoch keinerlei Baurest in situ identifiziert werden (Abb. 2.13). Für die Zwangsarbeitslager war unser Wissen vor Ausgrabung ganz anders gelagert. Es gibt für das „Gemeinschaftslager Richthofen“ und das LufthansaLager am Alten Hafen zwar etliche Luftbilder der Royal Air Force in Vogelperspektive, jedoch nur ein einziges Foto, welches vom Dach des monumentalen Nazi-Flughafens herunter im Winter 1943–44 aufgenommen worden sein muss

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(Abb. 6.5, S. 357). Aus dem Bundesarchiv lagen immerhin Baugenehmigungen mit angehängten Skizzen des Amtes des Generalbauinspektors von Berlin vor. Aus diesen gingen die Lage und Anzahl schon bestehender als auch geplanter Baracken hervor.

Abbildung 2.14: Folgen eines Bombenabwurfs im Winter 1943–44 für das Zwangsarbeitslager „Richthofen“ am Columbia-Damm; Luftbild der Royal Air Force vom 20.2.1944

Im Gegensatz zu den ausführlichen Berichten der Häftlinge des KZ Columbia haben wir für das Weserflug- und Lufthansa-Lager allerdings keine zeitnahen Zustandsbeschreibungen ehemaliger ZwangsarbeiterInnen, sondern nur weit später verfasste und mündlich kommunizierte Erfahrungsberichte. Doch wo das

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KZ Columbia sehr fundarm war, fanden wir große Mengen archäologischen Materials in den Bereichen des Richthofen-Gemeinschaftslagers, was unter anderem an der kompletten Zerstörung von mindestens sieben Holzbaracken durch eine Bombe Ende 1943/Anfang 1944 liegt (Abb. 2.14). Wie sich an diesem Beispiel deutlich zeigt, hat die Produktion archäologischer Quellen in der Regel einen radikal anderen Hintergrund als das Erstellen von Akten und Fotos, die einen einzelnen Moment festhalten wollen, und zwar für spätere Handlungen, seien es Bezahlungen, Massenmorde, eine nostalgische Erinnerung an sie oder eine Überprüfung der Präzision von Bombardements. Allein an diesem Vergleich zweier Grabungsabschnitte auf dem Tempelhofer Feld in Berlin wird deutlich, dass archäologische Materialien aus der NaziZeit schon aufgrund der Relationen zu anderen Quellenarten eine wechselnde Rolle spielen können, als primär durch Authentizität Sinn stiftende, als historische Quellen oder als Zeugen. Im nächsten Kapitel geht es mir um das schwierige Verhältnis zwischen der Rolle der Augenzeugenschaft und den materiellen Spuren als Zeugnissen der Nazi-Vergangenheit.

3. ZeitzeugInnen und Zeitzeugnisse

„In Italia bellum gerimus, in sede ac solo nostro; omnia circa plena civium ac sociorum sunt; armis viris equis commeatibus iuvant iuvabuntque; id iam fidei documentum in adversisi rebus nostris dederunt; meliorum prudentiores constantiores nos tempus diesque facit,“ wird von einer blonden Schülerin vorgelesen. „Ei das hast Du gut gelesen, Elisabeth“ merkt Herr Dr. Stellker an, bleckt seine Zähne, leckt sich ausgiebig die Lippen und wendet sich an den links am nächsten Pult sitzenden Harald: „Na, übersetzen Sie mal.“ Der Aufgerufene stottert: „Wir führen Krieg in Italien für unseren Sitz... alle haben... einen Kreis um uns Bürger geschlossen...“ Stocken. Das Gesicht des Dr. Stellker verfinstert sich. „Welch’ armselige Klimmzüge am geistigen Brotkasten!“ Er steht auf, hinkt zum zweiten Pult rechts und beugt sich über den Schüler Stefan Schwarz, wobei das steife „Holzbein“, wie wir das nennen, eine merkwürdige schräge Gerade nach oben vollführt. „Na Schwarz, können Sie das gewinnen? Machen Sie mal weiter“, herrscht er ihn an. „Ich war gestern krank, konnte nichts vorbereiten“, sagt der kleinlaut. „Bei uns hätts das nicht gegeben, das kann ich Euch Trotteln sagen. Jaja, die Zeit und der Tag macht uns besser, klüger und standhafter, wie wahr. Wir hatten noch Stolz und Ehre, Treue fürs Vaterland!“ Stellker wird lauter. „Ach, Herr Dr. Stellker, ja, das wissen wir, Sie haben sich ja sehr für das Land eingesetzt, nicht wahr?“ besänftigt ihn die schöne Elisabeth. „Ja, damals im Kaukasus...“ Er setzt sich wieder, seufzend. „Sie waren doch in Maikop?“ setzt Wilfried geschickt nach. „Mhmmm“, Stellker nickte anerkennend und sieht sich um im Klassensaal, in dem die hölzernen Doppelpulte jeweils zwei junge Frauen oder Männer nebeneinander zwängen. „Ich war damals mit der Wehrmacht in Rostow am Asowschen Meer und im Kaukasus. Kinder, wir haben uns tapfer geschlagen und Rostow befreit, ja, und dann haben wir die Kriegsflagge auf dem höchsten Berg des Kaukasus aufgestellt.“ „Sie waren da ganz oben?“ wirft die Schülerin Birgit ein, einen bezaubernden Blick versuchend, während ihre Banknachbarin kaum das Lachen unterdrücken kann

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bei der Vorstellung, das Holzbein krieche einen steilen Berg hoch. Dr. Stellker fixiert Birgits Oberkörper, leckt sich wieder die Lippen und erinnert sich weiter: „Nein, nicht ganz oben war ich, wir mussten ja unsere Pflichten erfüllen, ich war bei der Nachrichtenabteilung und manchmal, wenn wir Partisanen gefangen hatten, ich habe bei Verhören dokumentiert, da gab es viel solches Gelichter und gefährliches Volk, also das waren die Gebirgsjäger, die waren da oben, haben unsere schöne Adlerfahne auf dem Elbrus aufgepflanzt und dann mit Zielfernrohr nach Süden, nach Mesopotamien geblickt. Ich war damals bei der Basis in Krasnodar...“ „Ah, und da haben Sie sicher bei einer Familie gewohnt? Gabs da solche Zwiebelturmkirchen wie in Bayern?“ fragt Birgit zurück, die Interessierte spielend. „Also wir waren ja im Feindesland, wisst Ihr Kinder, wir hatten Funker, die hatten diese Geräte im Tornister, aber ich war beim Fernsprechtrupp und habe aufgepasst, dass beim Verlegen der Leitungen immer alles seine Richtigkeit hatte“ fügt der ergraute Stellker stolz hinzu. „Sie waren Techniker?“ Der Spott eines weiteren Schülers fällt dem Lehrer gar nicht auf, er beschreibt jetzt schwere Artilleriegeschütze und einen „Rohrkrepierer“, was immer das auch sei. Irgendeine 12,8 cm Kanone von Krupp hat ihm Eindruck gemacht, mit einer Lafette, einem Wort, das uns genauso wenig bedeutet wie Haubitzen, Unterstände oder Nebelgranaten. In diese verbale Waffenschau wirft der Hinterbänkler und Hugenottennachkömmling Roubeix achtlos und wie nebenbei ein: „Gabs da nicht auch Juden damals?“ Man muss wissen, diese langhaarige Gestalt, die oft mit einem kleinen aber sichtbaren Päckchen Irgendwas im Strumpf in die Schule kommt, ist als dem Rauschgift verfallener Raucher im Kleinstadtmief moralisch schon verloren gegeben. Er kann sich, so denken wir anderen opportunistisch, eine solche Frage leisten, da er nichts mehr zu verspielen hat. Der Rest freut sich, denn alle wissen, was nun fast ritualhaft folgt. Stellker bekommt einen dunkelroten Kopf, schreit den Schüler an: „Raus!!!“, der aber nur kühl antwortet: „Nöö“ und die langen Beine unter dem Tisch demonstrativ noch weiter ausstreckt. Die schöne Elisabeth tut so, als wolle sie den Lehrer besänftigen und vermittelt: „Das war doch nicht so gemeint.“ „Nicht so gemeint, nicht so gemeint,“ äfft Stellker nach, „Ihr habt doch gar keine Ahnung, wie das damals war, Ihr wart ja gar nicht dabei, Ihr habt nichts gesehen als Friedberg, und könnt Euch über solche Sachen überhaupt kein Urteil erlauben! Da waren keine Juden, ich war vor Ort, nicht Ihr!“ Er beruhigt sich etwas, kann wieder aufsehen in den hässlich-dunkelgelb getünchten Klassenraum. Schweißtropfen perlen auf den ausgiebigen Geheimratsecken. Roubeix mischt sich fast sachlich nochmals ein. „Sie werden schon Recht haben, es gab auch keine Waffen-SS dort, nicht wahr, keine Sondereinsatzkommandos, keine Massaker an Kriegsgefange-

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nen, und natürlich haben Sie nie einen Juden getroffen dort, nein, nein. Das ist ja alles Quatsch, was wir in Gemeinschaftskunde gelernt haben.“ Jetzt ist es vorbei. Die Lehrergestalt explodiert wie eine Granate vor uns, weiß nicht wohin mit sich und der Welt, gurgelt Unverständliches und stürzt dann plötzlich hinkend aus dem Klassenzimmer, Bücher, Mappe und die Baskenmütze zurücklassend. Zum Direktorenzimmer. Wir wissen schon, dass dies keinen Erfolg haben würde, denn Dr. Scheinborn, der Leiter der Schule, würde für derartige Zwistigkeiten als von den Nazis selbst Gebeutelter kein Verständnis haben. So und ähnlich liefen viele Konflikte in meiner Jugend ab, als ich noch in die Schule ging. Das war Anfang bis Mitte der 1970er Jahre. Die Schule war in vollem Übergang von verknöcherten alten Nazi-Lehrern hin zu idealistischen PädagogInnen der 1968er Revolte. Die Älteren, die – das war für viele der SchülerInnen damals offensichtlich – logen und gleichzeitig behaupteten, die Wahrheit aus eigener Anschauung für sich beanspruchen zu können, waren eine moralisch bankrotte Generation. Und doch vermieden wir es, den Problemen auf den Grund zu gehen. Die meisten Kinder dieser Tätergeneration kreisten mit ihren Fragen die Nazi-LehrerInnen und -Eltern nur vorsichtig ein (Waldeck 2014). Die metaphorische Angst vor der Tür zum Elternschlafzimmer samt „Urszene“ mutierte zur Angst, stattdessen verbal „die Tür zu den Gaskammern zu öffnen“ (Speier 1992, 30). Die Frustration über diese bis zum Ende unausgefochtenen Streitereien setzte sich in abgeleiteten Prinzipien fest, an denen umso dogmatischer festgehalten wurde, weil ihnen das „Nie Wieder!“ unterlegt war. Ich hatte zum Beispiel mit tiefgehender Grundsätzlichkeit gelernt, jedem Einschluss von individuellen Erfahrungen und jedem persönlichen Bezeugen in der Historiographie eine scharfe, endgültige Absage zu erteilen – beschämenderweise, vielleicht aber für die damaligen Verhältnisse auch bezeichnend, kam mir gar nicht die Idee, dass dies auch Opfer des Nationalsozialismus einschließen könne! Heute aber werden Zeugen und Zeuginnen im öffentlichen Diskurs für glaubwürdiger gehalten als originale Dokumente und als die materielle Unhintergehbarkeit der Orte, an denen Einkerkerung, Folter, Erschießungen, Vergasungen und Massenmord stattfanden. Wie kam es zu diesem raschen Wandel?

Z EITZEUGENSCHAFT

UND

H ISTORIOGRAPHIE

Zeitzeugenschaft als historisches Phänomen hängt eng mit den Nürnberger Prozessen zusammen, mehr jedoch noch mit dem Eichmann-Prozess in Jerusalem. Die Entwicklung der Zeugenschaft allein für die Geschichte der Nazi-Zeit ist so

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komplex, dass ich hier nur einige wichtige Stationen erwähne, die eine Zeugenfunktion der Dinge kontextualisieren sollen und gleichzeitig auf potenzielle Probleme verweisen (für Deutschland s. Sabrow und Frei 2012; für Israel s. Yablonka 2015).39 Wie in Kapitel 2 vermerkt, möchte Hilberg die Quellen in „Dokumente“ aus der Zeit des Nationalsozialismus und „Zeugnisse“ („testimony“ in der Originalversion) aus der Zeit danach einteilen (Hilberg 2009, 21). Dabei ist der Erwartungshorizont der VerfasserInnen entscheidend. Schon in Droysens Reflexionen zur Geschichtsschreibung spielt die Figur des Untersuchungsrichters sowie von Zeuginnen und Zeugen eine Rolle. Bleiben wir bei der Metapher des Gerichts, so kann es Zeugenschaft erst geben, wenn das Verbrechen begangen ist, und wenn es soweit eingegrenzt ist, dass Täter vor Gericht stehen können, wenn Indizien sowie Material für Anklage und Verteidigung gesammelt sind. Zudem aber darf das Verfahren nicht verjährt sein und es muss ein Begehren nach einem Urteil und potenzieller Konsequenz bestehen, die im Rahmen des Möglichen Gerechtigkeit wieder herstellen. Zeugenschaft ist also einerseits eingerahmt von der temporalen Abgeschlossenheit des Falls durch die polizeiliche Aufnahme des Vergehens, andererseits durch die jeweils spezifischen Verjährungsfristen. In der Historiographie, in die sich eine Archäologie der Nazi-Zeit notwendigerweise einreiht, gibt es solche normativen Setzungen nicht. Geschichte als lebensgefährliches Drama, „dessen letzte Scene man noch nicht gesehen hat“ (Schlözer 1773, zitiert in Saupe 2012: 77), stellt sich völlig anders dar, wenn der Ausgang eines „Zeitalters“ bereits bekannt ist und die Logik des Ablaufs von außen, sozusagen im Rückspiegel studiert werden kann. „Sinn“ erlangt Geschichte erst dann, wenn sie als vergangene imaginiert wird. Doch was bedeutet das Kriterium der Abgeschlossenheit für historische Prozesse? Zunächst eine Benennung und Datierung. So scheint für unseren Fall – und vielleicht die gesamte Geschichte der Moderne – der 8. Mai 1945 das wichtigste Kalenderdatum zu sein, welches einen definitiven Schlusspunkt unter die bislang grausamste historische Epoche setzt. Betrachtet man jedoch das Jahr 1945 genauer, so war der Zweite Weltkrieg an diesem Maitag nicht zu Ende, Hiroshima und Nagasaki standen noch bevor. Umgekehrt war Auschwitz schon am 27. Januar befreit worden. Längerfristig hatte sich der Erwartungshorizont der Alliierten als auch des Nazi-Regimes und seiner Verbündeten bereits langsam seit der Schlacht von

39 Augenzeugen waren seit Herodot und Thukydides die Basis für Wahrheitsansprüche, wurden mit dem Historismus Rankes allerdings entwertet (Saupe 2012).

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Stalingrad im Januar/Februar 1942 allmählich verschoben: der Sieg der Alliierten wurde immer deutlicher absehbar. Warum also die Notwendigkeit des 8. Mai, wenn doch subjektiv für viele der Betroffenen andere Tage dieses Jahres weitaus entscheidender waren? Auf kollektivem Niveau ist es so, dass wir Sinn in der Geschichte durch derartige Daten als Mechanismus der closure erzeugen. Es geht darum, einen Zeitabschnitt objektivieren zu können, so dass er überhaupt erst von außen gesehen werden kann. Wir leben individuell und sozial in dem, was Husserl als „Zeithof“ bezeichnete. Ein Zeithof kann mehr oder minder große Ausdehnung haben und ist uns affektiv innerlich. Die Festlegung eines artifiziell festgelegten Datums verhilft einer kollektiven Vergangenheit erst zur Realität, die dann durch Jahrestage überhöht und ritualisiert werden kann. Die andere juristische Grenze der Verjährung ist im historischen Diskurs noch schwieriger zu identifizieren. Zwar wird in der Zeitgeschichte oft behauptet, das Bezeugen selbst definiere den Rahmen – wenn also der oder die letzte Überlebende der Lager, oder auch die letzten Täterfiguren sterben, dann ist die historische Angelegenheit verjährt. Dass dies eine vereinfachende Darstellung ist, wird am postkolonialen Schrifttum deutlich, das sich hauptsächlich gegen die tiefen Langfrist-Spuren wendet, die der Kolonialismus hinterlassen hat. Die Rede vom „Post-Witness“-Zeitalter auf der einen Seite (Popescu und Schult 2015) und dem intergenerationell vermittelten Trauma auf der anderen (Horn 2014) macht die unausgeloteten und vielleicht unauslotbaren Tiefen der Verjährung deutlich. Kehren wir zu Hilbergs Unterscheidung zurück: Auch die zum KZ Columbia in Kapitel 2 zitierten Aussagen Kurt Hillers und anderer direkt nach Entlassung werden dadurch, dass sie schon in der ersten Hälfte der 1930er Jahre geschrieben wurden, nicht zu Dokumenten, die Hilberg als verlässlich ansehen würde. Denn er stützt sich allein auf offizielle Akten. Tagebücher, persönliche Notizen oder Briefe sind hingegen Selbstzeugnisse.40 Sie gehören in den Kreis der „EgoDokumente“ ebenso wie die ZeugInnenaussagen vor Nazi-Gerichten, bei den Nürnberger Prozessen oder dem Eichmann-Gerichtsverfahren (allgemein: Schulze 1996; Ulbrich, Medick, und Schaser 2012). Entscheidend ist die Erfahrungsgrundlage solcher Zeugnisse. Sie sind nicht aus der Recherche sondern aus der persönlichen Anschauung entstanden. Ebenso wichtig ist der soziale und kulturelle Entstehungszusammenhang, wobei viele Parameter zu berücksichtigen sind:

40 Diese Haltung führt Goldensohn (2005) zur überzogenen Kritik, Hilberg habe eine „perpetrator history“ geschrieben.

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die Positionalität in dem System, über welches berichtet wird; handelt es sich um Subjekte der „Volksgemeinschaft“ oder um aus politischen, rassistischen oder anderen Gründen Ausgeschlossene? Was ist der Kontext des Bezeugens? Geht es um ein juristisches Verfahren, welches eine konkrete Wahrheitsfindung und Herstellung von Gerechtigkeit verfolgt? Wenn nicht, was ist der Grund des Bezeugens? Hat das Zeugnis einen expliziten Anspruch auf Wahrhaftigkeit oder ist es verkleidet als literarische Fiktion? In welchem Medium wird Zeugnis abgelegt und was war/ist der Erwartungshorizont für das Zeugnis? Ist die Mitteilung also eine orale, für ein Archiv bereitgestellte Aufzeichnung, z.B. ein Video, oder handelt es sich um ein Schriftstück? Wie groß ist die temporale Differenz zwischen bezeugter Zeit und Zeugniszeit? In manchen Fällen wurden Zeugnisse direkt nach dem 2. Weltkrieg aufgenommen, in anderen dauerte es mehr als 40 Jahre, bis die ZeugInnen zu sprechen begannen; das Gedächtnis spielt in allen Fällen eine eminente Rolle.

Im Folgenden werde ich einige dieser Themen genauer in Augenschein nehmen und dabei kurz auf die sich ändernde Stellung der Zeitzeugenschaft insgesamt eingehen. In den Nürnberger Prozessen wurde zum ersten Mal, wenn auch unbeabsichtigt und implizit, Geschichte selbst vor Gericht gestellt, nicht allein die Ausführenden (Felman 2002, 11–13). Das lag unter anderem daran, dass die Nürnberger Richter – alles Männer – insgesamt sieben Organisationen des „Dritten Reiches“ daraufhin untersuchten, ob sie verbrecherisch gewesen seien (Pätzold 2006, 92–101). Dass dabei das Oberkommando der Wehrmacht und der Generalstab als „nicht verbrecherisch“ eingestuft worden waren, war schon 1946 umstritten und hatte langfristige Auswirkungen, zu denen auch der Streit um die bereits erörterte Wehrmachtsausstellung gehört. Übergeht Geschichte normalerweise ihre Opfer, die sie beschweigt und in rhetorisch und formal fest verankerter Art und Weise ausgrenzt, so setzten die Nürnberger Prozesse neue Maßstäbe, die sich bis heute auswirken, etwa in der Rolle des International Criminal Court in Den Haag. Im Ablauf der Prozesse spielten allerdings ZeugInnen der Nazi-Verbrechen noch eine untergeordnete Rolle. Die Anklage berief sich auf Berge an Dokumenten des NS-Regimes selbst, die direkt nach dem Krieg sichergestellt, ausgewertet und als unverrückbare Beweise für die jedes bekannte Maß übersteigenden Verbrechen der Angeklagten zusammengestellt worden waren. Wieviorka meint dazu, „le procès de Nuremberg marque le triomphe de l’écrit sur l’oral“ (1998, 94). Schriftlichkeit

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nahm vor Gericht einen wesentlich höheren Beweisstatus an als die vergleichsweise wenigen ZeugInnen der Anklage, unter denen vor allem Seweryna Szmaglewska aufgrund des Bezeugens des Leidens und Sterbens unzähliger Kinder Aufsehen erregte (Pätzold 2006, 71–75). Beim Ulmer „Einsatzgruppenprozess“ des Jahres 1958 gab es zwar Zeugen, jedoch standen diese fast alle auf Täterseite – kaum eine/r der potenziellen ZeugInnen auf der Opferseite hatte überhaupt überlebt (Müller 2009, 210–211). Erst der große Prozess gegen Eichmann in Jerusalem hatte einen für die „Zeitzeugenkultur“ bis heute reichenden Einfluss. In der Wahrnehmung dieses Prozesses in Deutschland steht Hannah Arendts „Bericht über die Banalität des Bösen“ (Arendt 1986) trotz Kritik (z.B. Stangneth 2011) nach wie vor im Mittelpunkt des Kollektivgedächtnisses; zurecht, denn sie legte zum ersten Mal ausführlich und überzeugend dar, dass die deutschen TäterInnen ganz normale Alltagsmenschen, nicht aber psychopathische Bestien der Gewalt waren. Damit machte sie indirekt klar, dass die Zivilgesellschaft zumindest der Bundesrepublik, in der hochrangige Nazis in vielen Stellen offen Karriere machten, bis weit in die 1970er Jahre hinein letztlich nur eine dünne Verkleidung des Bekenntnisses zu Menschlichkeit und Gerechtigkeit entwickelt hatte. Doch langfristig und international war Arendts Nachzeichnung der harmlos-bürgerlichen Charaktermaske eines in Pflichterfüllung und bestem Gewissen agierenden Massenmörders Eichmann fast von geringerer Bedeutung als das Auftreten der ZeitzeugInnen im Gerichtssaal. Staatsanwalt Gideon Hausner hatte seine Strategie sorgfältig geplant, und sie anders ausgerichtet als die Nürnberger Prozesse. Wie Hausner plastisch erklärt: „[A document] speaks in a steady voice; it may not cry out, but neither can it be silenced. [...] But I knew we needed more than a conviction; we needed a living record of a gigantic human and national disaster, though it could never be more than a feeble echo of the real events. [...] I decided that the case would rest on two main pillars instead of one: both documents and oral evidence.“ (Hausner 1966, 291)

Arendt kritisierte genau diesen Aspekt des Verfahrens in ihrer Darstellung scharf. „Denn der Anklage ging es in diesem Verfahren primär um die Leiden der Juden und nur sekundär um die Taten Eichmanns“ (Arendt 1986, 73). Nach Hausner kann ein Dokument zwar nicht zum Schweigen gebracht werden, doch ein vernichtetes Dokument kann auch nichts mehr indirekt attestieren. Im menschlichen Bereich ist dies anders. Das zeigt sich in Hausners Verlesung der Anklageschrift, die mit den folgenden Worten begann:

116 | M ATERIELLE S PUREN DES NATIONALSOZIALISTISCHEN T ERRORS „As I stand here before you, Judges of Israel, to lead the prosecution of Adolf Eichmann, I do not stand alone. With me, in this place and at this hour, stand six million accusers. But they cannot rise to their feet and point an accusing finger toward the man who sits in the glass dock and cry: ‚I accuse‘. For their ashes were piled up in the hills of Auschwitz and in the fields of Treblinka, or washed away by the rivers of Poland; their graves are scattered over the length and breadth of Europe. Their blood cries out, but their voices are not heard. Therefore it falls on me to be their spokesman and to unfold in their name the awesome indictment.“ (Hausner 1966, 323–324)

Nach dem Prozess resümierte er: „I questioned the witnesses on the fate of individuals who had perished. Only then did the nameless and faceless dead come to life for a moment before our eyes, ‚vivid as a scream in the night‘, as an observer put it. After their agonies had been recorded, they returned, as it were, to their mass graves, and once more became only part of the incredible statistics of the holocaust.“ (Hausner 1966, 327–328)

Der Staatsanwalt schwang sich zumindest rhetorisch zum Sprecher der Ermordeten auf. Er beansprucht, für sie Zeugnis abzulegen, während die Gruppe der Überlebenden – pars pro toto – für sich selbst reden konnte; nach Hausners Logik jedoch nicht für die Toten. Das Auftreten möglichst vieler und unterschiedlicher Zeuginnen und Zeugen war ein Versuch, die Geschichte in Form des von ihr verursachten Leids vor Gericht zu stellen. Im Vergleich zu den Nürnberger Prozessen musste die Strategie hierbei am öffentlichen Diskurs orientiert sein, denn die Geschichte selbst anzuklagen kann mit individuellen Stimmen allein im Gerichtssaal nicht gelingen. Kritische Stimmen bezeichneten den komplett aufgezeichneten und im Fernsehen übertragenen Eichmann-Prozess aufgrund seiner theatralischen Elemente gar als „Schauprozess“ (Arendt 1986, 70–71). Für Felman und Wieviorka hingegen war die anfängliche Wirkung dieses Gerichtsprozesses positiv. Wieviorka beschäftigt sich ausführlich mit der psychologischen Situation der ZeugInnen, Opfer des Holocaust, die bis dahin in Israel und anderswo aufgrund dessen, dass sie sich angeblich nicht genug gewehrt hatten, zu einem schamvollen Schweigen verbannt waren (Wieviorka 1998, 98–101; s.a. Wiesel in Semprun und Wiesel 2012, 15). Doch das öffentliche Sprechen war keine befreiende Tat, wie sich in dem Gerichtsverfahren schnell zeigte. Die Erinnerungen wieder hervorzuholen und coram publico zu beschreiben war für viele der ZeugInnen ein überaus schmerzhafter Akt des Wiedererlebens der erlittenen Qualen – eine Vergegenwärtigung dessen, was nicht vergeht (Langer

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2000; Laub 2000). Der Auschwitz-Überlebende K-Zetnik beschreibt das Lager im Zeugenstand: „Time there was not like it is here on earth. Every fraction of a minute there passed on a different scale of time. And the inhabitants of this planet had no names, they had no parents nor did they have children. There they did not dress in the way we dress here; they were not born there and they did not give birth; they breathed according to different laws of nature; they did not live – nor did they die – according to the laws of this world.“ (Nizkor Project 1991, Session 68)

Eine weitere Nachfrage des Staatsanwalts auf diese einleitende Aussage und seine versuchsweise Weiterführung der Aussage „I see them, they are watching me, I see them ... I see them ... I saw them standing in line ...“ (s. Felman 2002, 136) ließen ihn ohnmächtig werden. Der Prozess musste unterbrochen werden. Allein daran wird ersichtlich, wie stark das Heraufbeschwören traumatischer Zustände auf ZeugInnen als ein plastisches Wiedererleben wirken kann. War die Erfahrung des Eichmann-Prozesses für die israelische Gesellschaft überaus prägend (Yablonka 2012), so nahm die Anerkennung der Zeugenschaft der Opfer hierdurch und im Zuge der kurz darauf ablaufenden Frankfurter Auschwitz-Prozesse zwar zu, erreichte jedoch keinen Quellenstatus in den historischen Disziplinen. Ganz im Gegenteil, auch die Gerichtsakten der Nürnberger Prozesse wurden von den deutschen HistorikerInnen als einseitige Aussagen „in Acht und Bann getan“ (Frei 1998, 82). Erst mit der Alltagsgeschichte und der Abwendung von der Sozial- und Strukturgeschichte Anfang der 1980er Jahre formierte sich eine Geschichtswerkstatt-Bewegung, die dies änderte. Diese Bewegung bestand aus dezidiert nicht-akademischen, dabei aber mit dem Anspruch des Aufklärerischen agierenden Gruppen, in denen lokale Historie und die Befragung von ZeugInnen als direkte Evidenz für eine „Gegenerzählung ‚von unten‘“ in den Vordergrund traten (Sabrow 2012, 22), eine Tendenz, die von Wildt (2008, 353–355) vor allem auf die Ausstrahlung der amerikanischen TV-Serie „Holocaust“ in Deutschland zurückgeführt wird. Bemerkenswert an „Holocaust“ als ein Medienereignis des Jahres 1979 ist, dass der Film auf die Historiographie und den Gedächtnisdiskurs eine umwälzende Wirkung hatte, obwohl die zentrale Handlung erfunden war. Auch wenn die Stellungnahmen vieler Überlebender negativ ausfielen, entstand aus „Holocaust“ doch eine Kanonisierung von Bildern, filmischer Ästhetik und Erzählmechanismen, die nicht nur als Beitrag, sondern eher als Grundlegung der mythischen Aspekte der heutigen Wahrnehmung der Shoah angesehen werden müssen. Die Gesamtwahrnehmung einer ganzen Epoche, auch im Bereich der Ge-

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schichtswissenschaften, beruht mithin eher auf einer dramatisierten Inszenierung der Geschichte als auf den an sich schon unfasslichen Zeugnissen selbst. Dies ist keinesfalls allein negativ zu bewerten; denn der historische Diskurs zeigte starke Defizite in der Beschäftigung mit der Shoah, ganz besonders in Deutschland. Zudem war diese Serie Anlass für eine große filmische Interviewsammlung von Überlebenden, das Yale-Fortunoff Archiv, welches in kritischer Reaktion auf diesen Film zusammengestellt worden war (Wieviorka 1998, 140–145). Ähnlich angelegt und gut bekannt sind zudem das Yad Vashem Archiv gefilmter Zeugnisse sowie das Spielberg-Archiv (s. im Überblick Neugebauer und Schindler 2011). Aus der Kritik, die vor allem im Anschluss an die Medialisierung der Zeugenschaft entstand, entwickelten sich verallgemeinernde Einschätzungen wie die Wieviorkas (1998, 179): „Le témoignage s’adresse au coeur, et non à la raison. Il suscite la compassion, la pitié, l’indignation, la révolte même parfois. Celui qui témoigne signe avec celui qui reçoit le témoignage un ‚pacte compassionel‘.“ Hier ist eindeutig nicht die Aussage vor Gericht, sondern etwas sehr viel Allgemeineres angesprochen. Man könnte dies so formulieren: Augenzeugenschaft ist von Zeitzeugenschaft streng zu trennen. Ein Augenzeugnis beruht auf einem direkten, individuellen Erleben eines Ereignisses und versucht eine möglichst genaue Wiedergabe. Natürlich nehmen ZeugInnen ein traumatisches Ereignis aus spezifischer Sicht wahr, sie mögen Teile davon vergessen, verdrängen oder in den Vordergrund schieben. Doch kann ein solches Augenzeugnis nicht ohne Weiteres in eine sprachlich vermittelbare Erfahrung transferiert werden, ohne sein metonymisches Potenzial 41 zu berücksichtigen: manche Erlebnisse können von Grund auf einmalig sein, während andere rekurrierend auftreten. Zeitzeugenschaft hingegen kann in einen größeren Diskurs integriert werden, der sie zu einem akkumulierbaren Kulturelement transformiert. Hier ist das Erlebnis in eine symbolisch repräsentierbare Form (performativ und/oder sprachlich) geronnen, die qua Repräsentation medialisiert, und aufgrund dieses Zustands gleichzeitig weiter medialisierbar ist: Zeitzeugenschaft kann dramatisiert, intergenerationell transferiert, umgewandelt und der Empathie direkt zugänglich gemacht werden. Natürlich sind die Grenzen zwischen Augen- und Zeitzeugenschaft in vielen Fällen nur sehr schwer zu ziehen, und wurden im Eichmann-

41 Ein Einzelereignis kann für andere, ähnliche gelagerte stehen, wobei „Repräsentieren“ das Verhältnis ungenau ausdrückt. Metonymie impliziert das Verbleiben auf derselben Realitätsebene. Ein Erleben von verbaler Erniedrigung steht demnach nicht für „Repression“ im allgemeinen, da dieser abstraktere Begriff auch andere Arten der Unterdrückung beinhaltet.

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Prozess bewusst vom Staatsanwalt aufgelöst: Augenzeugenschaft sollte zu Zeitzeugenschaft werden. Doch nur mangelndes Unterscheidungsvermögen von am eigenen Körper und Geist erlebtem Leiden einerseits und der repräsentierten Erfahrung eines Traumas andererseits kann zu Aussagen wie der Wieviorkas führen, die jede Augenzeugenschaft als historisch unglaubwürdig desavouiert (s. dazu S. 123). Die Glaubwürdigkeit eines Zeugnisses hängt ebenso von der Form ab, in der es gegeben wird. Viele der ZeugInnen, egal wann, worüber und unter welchen Umständen sie sich äußern, beteuern die Wahrhaftigkeit dessen, was sie zu Papier bringen oder sagen. Fast 60 Jahre nach dem Ende des Nazi-Regimes schreibt Marcel Elola: „Ce livre n’est pas une fiction. Tous les événements qui y sont relatés je les ai vécus“, um einen fast nostalgischen Satz anzuschließen: „J’espère de tout coeur pouvoir transmettre à des jeunes et des moins jeunes la trace, aussi infime soit-elle, d’un vécu au quotidien que nous sommes, hélas aujourd’hui, peu nombreux encore à pouvoir raconter.“ (Elola 2005, 6)

In einer Sammlung Briefe ehemaliger sowjetischer Kriegsgefangener des Zweiten Weltkriegs finden wir sehr selten Bemerkungen zu Erinnerungsproblemen, obwohl diese Briefe nach dem Jahr 2000 geschrieben worden waren; dagegen fällt der Anspruch auf absolute Wahrheit auf: „Ich fühle mich verpflichtet, so genau wie möglich die Fakten und nur Fakten zu berichten, ohne jeglichen politischen Eifer und ohne Akzente. Ich muss nämlich sagen, das viele ‚Erinnerungen‘ entweder übertrieben oder einfach erlogen sind.“ (Nikolaj Gutijew in Schramm und Radczuweit 2007, 152)

Insgesamt sind in den Zeugnissen der ehemaligen ZwangsarbeiterInnen Zweifel an der Glaubwürdigkeit seltener anzutreffen als in denjenigen der KZÜberlebenden. Das mag auch daran liegen, dass ZwangsarbeiterInnen heutzutage weniger Anerkennung erfahren als ehemalige KZ-Häftlinge. Doch auch Primo Levi bemerkt gleich zu Anfang von Ist das ein Mensch? : „Mi pare superfluo aggiungere che nessuno dei fatti è inventato“ (Levi 1958, 10; s.a. Sodi 2001, 37– 38).42 Elie Wiesel wehrt jede literarische Geste entschieden ab, wenn er meint, „a novel about Auschwitz is not a novel – or it is not about Auschwitz“ (Wiesel 2006b, X). Améry (1977, 16) erklärt, er suche nach einer „Wesensbeschreibung

42 Das kurze italienische Vorwort fehlt leider in vielen deutschen Ausgaben.

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der Opferexistenz.“ Dennoch zeigt sich unter den KZ-Überlebenden eine immer wieder durchscheinende Angst, man werde ihnen die unvorstellbaren Massenmorde und die dafür entwickelte Tötungsmaschinerie schlicht nicht glauben (Wiesenthal 1967, 422–423; s.a. Levi 1990, 7–8; Trksak 2000, 202). Dies ist kein Effekt der Nachkriegszeit, wie das schon zu Zeiten des Ghetto in Warschau angelegte Archiv und Briefe dazu belegen (Wieviorka 2006, 8). Letztlich zeigt sich gerade an dieser Stelle ebenfalls eine Futur-Zwei-Mentalität auf Seiten der Opfer des Nazi-Regimes. Die Planung der Erinnerung an den Massenmord war eine Praxis des Widerstands. In all diesen Schriften und weiteren, von Ruth Klüger bis Robert Antelme, steht neben der Insistenz auf Wahrheit aber auch die kritische Einsicht in die Unzulänglichkeit der Sprache, „das Unbeschreibliche“ auszudrücken. So sagt Elie Wiesel von sich, „I mistrusted the tools, the procedures. Should one say it all or hold it all back? Should one shout or whisper? Place the emphasis on those who were gone or on their heirs? How does one describe the indescribable? [...] So heavy was my anguish that I made a vow: not to speak, not to touch upon the essential for at least ten years. Long enough to see clearly. Long enough to learn to listen to the voices crying inside my own. Long enough to regain possession of my memory. Long enough to unite the language of man [sic] with the silence of the dead.“ (Wiesel 1978, 15)

Die Einsicht in das Problem des Sprechens vermittelt Levi eher metaphorisch in seiner erschütternden Beschreibung des Sterbens des kleinen „Hurbinek“ direkt nach der Befreiung des Lagers. Im Sterben macht das Kind Sprachversuche, die scheitern: niemand kann ihn verstehen, auch die anderen Überlebenden nicht. „Hurbinek starb in den ersten Tagen des März 1945, frei, aber unerlöst. Nichts bleibt von ihm: er legt Zeugnis ab durch diese meine Worte“ (Levi 1991, 182). Derartige Schriften über die Lager, welche Reflexionen zur Versprachlichung und Zeugenschaft enthalten, erhellen zudem, dass die AutorInnen nicht unbedingt faktische Wahrheiten im traditionellen Sinne anstreben: Namen können verändert werden, zeitliche Abfolgen umgeschichtet, Träume eingewoben werden. Doch auch wenn die menschlichen Darstellungsmittel zur Beschreibung äußerster physischer, psychologischer und struktureller Gewalterfahrung in frustrierender Weise unangemessen scheinen, beanspruchen die Schreibenden dennoch Wahrhaftigkeit: das Durchlebte – in welcher spezifischen Form auch immer – wird demnach subjektiv angemessen repräsentiert. Imre Kertész dreht diese Überlegung um, wenn er meint, „das Konzentrationslager [sei] ausschließ-

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lich als Literatur vorstellbar, als Realität nicht“ (Kertész 1993, 253). Auch Semprun hat Zweifel an der Möglichkeit des Erzählens. „Nicht, dass das Erlebte unsagbar wäre. Es ist unerträglich gewesen, was etwas ganz anders ist, wie man leicht verstehen wird. Etwas anderes, was nicht die Form eines möglichen Berichts betrifft, sondern seine Substanz. Nicht seine Gliederung, sondern seine Dichte. Zu dieser Substanz, dieser transparenten Dichte werden nur diejenigen vordringen, die es verstehen, ihr Zeugnis in ein Kunstwerk, einen Raum der Schöpfung zu verwandeln.“ (Semprun 1995, 23)

Was ist dann aber von dem in fast trockenem Stil geschriebenen Bericht Eugen Kogons (1946) oder auch dem der Kommunistin Charlotte Müller (1981) über Ravensbrück zu halten? Kogon verzichtet ganz auf die ersten Person Singular, während Müller engagiert und mit Empathie, aber von keinen Selbstzweifeln geplagt schreibt. Sie ist eine von denen, die Améry (1977, 30–39; s.a. Levi 1990, 129–151) als diejenigen charakterisiert, die es leicht hatten, weil sie einen Glauben oder eine Ideologie hatten, die ihnen vorschrieb, was richtig war.43 In Berichten sowjetischer Kriegsgefangener sind in Hinsicht auf die Sachlichkeit ebenfalls große Differenzen auszumachen, was aber nicht nur mit persönlichen Befindlichkeiten, sondern ebenso mit der Behandlung nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft zusammenhängt. Viele derjenigen, die in den NS-Stalags ihr Dasein am Rande des Überlebens fristen mussten, wurden nach Rückkehr in die Sowjetunion als Verräter unter Stalin nochmals mit Lagerhaft bestraft (Schramm und Radczuweit 2007). Ehemalige sowjetische und aus anderen osteuropäischen Ländern stammende ZwangsarbeiterInnen und Kriegsgefangene konnten sich vor 1989 bzw. dem Ende der Sowjetunion kaum öffentlich äußern, entschädigt wurden die Kriegsgefangenen von ihren früheren Peinigern in Deutschland nie.

Zeitdifferenz und die (Un-)Möglichkeit des Bezeugens Ein wichtiger Aspekt der Zeugenschaft ist die chronologische Differenz zwischen dem Geschehen und dem Zeugnis. Zwei widerstreitende Argumente werden für bzw. gegen die Auswirkungen eines gewissen zeitlichen Abstands von den Ereignissen und deren Bezeugung vorgebracht. Das Zeugnis von Gewalt und Unterdrückung ist fast immer, wenn es vor Gericht kommt, von starken

43 Natürlich muss auch für religiöse Menschen trotzdem das Hadern mit Gott berücksichtigt werden (häufig zu finden in Wiesel 2007).

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Emotionen begleitet, die aber gerade für ein abwägendes, kritisch sichtendes Vorgehen und ein möglichst gerechtes Urteil eher undienlich sind. Hier treffen wir wiederum auf Arendts in der Beobachtung des Eichmann-Prozesses geäußerten Wunsch nach einer möglichst sachlichen Verhandlungsführung, die die Voraussetzung für kritisches Nachdenken sei. Das Nachlassen der Emotionen spielt in solchen Überlegungen eine große Rolle – gemäß des Sprichworts, die Zeit heile alle Wunden. Wie weit verbreitet diese Einstellung in den ersten Jahrzehnten nach 1945 in Deutschland war, zeigt sich in einem Band mit Kurzberichten ehemaliger französischer Kriegsgefangener in Nazi-Deutschland, deren Herausgeber meint, „vingt ans après: c’est un délai favorable à l’objectivité du témoignage. L’homme mûr se souvient de sa jeunesse et la juge avec sérénité. La colère et le ressentiment ont passé“ (Mazars 1965, 6). Wieviorka zitiert Marc Bloch zur Augenzeugenschaft im Ersten Weltkrieg, wonach „l’émotion et la fatigue détruisent tout sens critique. [...] Le doute méthodique est d’ordinaire le signe d’une bonne santé mentale. C’est pourquoi les soldats harassés, au coeur troublé, ne pouvaient le pratiquer.“ (Marc Bloch 1997, 182; Wieviorka 1998, 30). Wenn genügend Zeit über ein grausames Großereignis hinweggegangen ist, kann man nicht nur sachlich über Erlebtes berichten, sondern sich auch über die Gräben hinweg dann doch wieder verständigen, so der Tenor dieser Ansicht (Wieviorka 1998, 87). Auch Primo Levi thematisiert dies kurz in seinen Überlegungen zum historiographischen Status seiner Schriften (Levi 1990, 12–14). Diese Position entspricht in problematischer Weise den Wünschen derjenigen, die Kriegsverbrechen verübt haben und nur darauf warten, dass Vergessen und ein Abschwächen der Empfindlichkeiten einsetzt. Wie oben schon erwähnt, sind solche Einstellungen gerade im Angesichte extremer Traumata illusorisch: „Vergangenheit, die nicht vergehen will“, betitelte Ernst Nolte (1987) seinen missratenen und verzweifelten Versuch, die Shoah zu relativieren. Noltes Titel selbst hat ungewollt etwas allzu Wahres: für die meisten überlebenden Opfer der Nazi-Gesellschaft bleiben lebenslang Traumata, Ereignisse, die sich weigern, in die Erinnerung abzusinken. Stattdessen springt die Vergangenheit in die Gegenwart in Form von Flashbacks, Intrusionen und einem grausamen Wiedererleben. Hier scheint eine ewige Gegenwart auf, eine Zeit, welche sich der monotonen Chronologie der Historie oder Archäologie komplett versperrt (LaCapra 2004, 55–56). Es gibt ausreichend psychologische Studien, die nicht nur besagen, dass Opfer von Gewalt – in extremen Fällen wie dem Nationalsozialismus auch deren Nachkommen – ein Trauma davontragen, sondern dass auch die TäterInnen selbst von ihrer individuellen und kollektiven Geschichte nicht so leicht loskommen, noch auch deren Nachfahren (Felman und Laub 1992; Heimannsberg

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und Schmidt 1992; Lohl und Moré 2014). Hier zeigen sich Verbindungen zwischen individueller traumatischer Biographie und kollektiv unverarbeiteter Vergangenheit: „Da das Geschehen während seines Ablaufs nicht völlig integriert wurde, kann das Ereignis [...] nicht zu einer in die abgeschlossene Geschichte der Vergangenheit eingebetteten ‚narrativen Erzählung‘ werden“ (Caruth 2000, 93). Wichtig ist der Tenor: im Angesichte der komplexen Struktur von Traumata führt zeitliche Distanz zum Geschehen nicht zu einem Abschwächen oder gar ungenauerer Erinnerung. Ganz im Gegenteil: die quälende Wiederkehr des Erlebten zeichnet sich durch die Exaktheit der Details aus (Caruth 2000, 86–87). Mit dem oben zitierten Schlözer zu reden, ist es, als ob eine klimaktische Szene im Drama unendlich wiederholt wird. Führt mithin nicht die scheinbar abgeklärte Distanz, raum-zeitlich, sprachlich und/oder kulturell, zu belastbaren Urteilen des Geschehenen, sondern eine „mehrdimensionale Nähe“? Keller (2009, 183–184) beansprucht dies für Gerichtsverfahren. Tatsächlich wird, was für Gerichte gilt, auch für den allgemeinen Rahmen des Bezeugens von Erfahrungen immer wieder als entscheidend aufgeführt: das menschliche Gedächtnis ist, was Details angeht, ein Kurzzeitgedächtnis. Daher kommt Wieviorka (1998, 167) zu dem Schluss, dass sachliche Angaben in Zeitzeugnissen voraussehbar unzuverlässig sind, und daher unvereinbar mit dem „impératif du métier d’historien, celui de la quête obstinée de la vérité.“ Für sie sind die Aussagen von ZeugInnen lediglich „de façon oblique, la vérité non des faits, mais celle plus subtile mais aussi indispensable d’une époque et d’une expérience“ (Wieviorka 1998, 168). Young radikalisiert die angebliche Unzuverlässigkeit der ZeugInnen weiter, wenn er die Tagebücher aus Ghettos, auch diejenigen von Chaim Kaplan und Emmanuel Ringelblum aus dem Warschauer Ghetto, die sich explizit und kritisch rein auf selbst Wahrgenommenes beschränken wollten (s. Jockusch 2012, 129–131), als eine „illusion of reality“ beurteilt, da der ganze Kontext, und damit auch die aufgezeichneten Beobachtungen der BewohnerInnen der Ghettos „choreographed by the Nazis“ war (Young 1988, 33). Aus einer solchen Feststellung ergibt sich ein fundamentales Problem. Denn Zeugenschaft, oder auch intensive historische Beschäftigung mit den Lagern, fing schon 1945 an. Zu den Werken der direkten Nachkriegszeit gehört das oben erwähnte Übersichtswerk Eugen Kogons (1946), ein ausführliches, sachlich gehaltenes Buch über Konzentrationslager mit Buchenwald als Paradebeispiel. Kogon stellte diesen Bericht bis Jahresende 1945 fertig und konnte hierfür auf die Archive der U.S.-Besatzungsbehörden zurückgreifen. Weniger analytisch, dennoch übersichtlich ist Hermann Langbeins (1982 [1949]) kurz darauf publizierte Beschreibung seiner Zeit in Auschwitz. Beide Autoren verstanden sich im

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weiteren Sinne durchaus als Historiker. Doch wird man ihnen aufgrund ihres Status als Opfer des Nationalsozialismus die Zuverlässigkeit der Aussage absprechen? Bei Young klingt genau dies an: die Nazis überblickten die Lage besser als die von ihnen Eingekerkerten, Erniedrigten, Ermordeten. Und deutsche Historiker der gleichen Generation, selbst in der HJ und Wehrmacht gewesen,44 taten die Arbeiten israelischer Kollegen ab, zuvörderst Saul Friedländers. So vermeinte Martin Broszat in einem Brief an Friedländer ein „Nebeneinander von wissenschaftlicher Einsicht und mythischer Erinnerung“ in dessen Schriften zu erkennen, welches dem Fokus aufs Detail schade (Friedländer 2007b, 193). Rationale (deutsche) Historiographie wird durch subjektive Opfer-Erinnerung gefährdet. Diese atemberaubende „Logik“ der Einschätzung historischer Positionalität – Opfer und ihre Communities sind suspekte ZeitzeugInnen, Täter in ihren sozialen Netzwerken sind objektiv – ist in aller Bitterkeit bei Walter Benjamin (1992b, 145) schon vorausgesehen, der kurz vor seinem auf der Flucht vor den Nazis gewählten Freitod darüber sinniert, was sich ergibt, „wenn man die Frage aufwirft, in wen sich denn der Geschichtsschreiber des Historismus eigentlich einfühlt. Die Antwort lautet unweigerlich in den Sieger. Die jeweils Herrschenden sind aber die Erben aller, die je gesiegt haben.“ An der von außen in die deutsche Diskussion hereingetragenen Auseinandersetzung über Zeitzeugnisse und die historiographische Sicht von Opfern werden Grenzverschiebungen sichtbar, die letztlich die Auflösung ganzer Kategorien und die Entstehung neuer in sich tragen. Geschichte und Archäologie gerade der Nazi-Zeit sind ohne ein Eingehen auf die Positionalitätsfrage anachronistisch. Postkoloniale Epistemologien klagen genau dies ein, die Reflexion über den Standpunkt, von dem aus geforscht wird. Die Unschuld des Außenstandpunkts ging aber auch in den Naturwissenschaften mit den Science Studies längst verloren, was die Voraussetzung für eine kritische Auseinandersetzung mit „Wissensproduktion“ unter NS-Verhältnissen war (Schmuhl 2005). Doch das zynische Bewusstsein des Wissenschaftsbetriebs zeigt sich in der Tatsache, dass die Praxis unbeirrt weiter wie eh und je verfährt und „empirische“ Beobachtungen in objektivistische Formen gießt. Das darf dann später kulturgeschichtlich aufgearbeitet werden. Die Literaturwissenschaften haben den grundsätzlichen epistemologischen Wandel vielleicht am ehesten begriffen: mit dem Ende der Lager, teils sogar zuvor mit den Dokumenten, die Mitglieder der Sonderkommandos in Auschwitz schrieben und vergruben (s. Cohen 1994), entstand eine Zeugenschaftsliteratur, die sich im Erzählgestus deutlich von anderen Texten absetzt. Die Besonderheit

44 Unter anderen Karl Dietrich Bracher, Andreas Hillgruber und Martin Broszat.

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ist, dass im „Ich“ eine Narratorfigur erscheint, die die oder den hinter dieser Figur stehende(n) Autor(in) in den Vordergrund schiebt, aus einem verständlichen Bedürfnis der Bestätigung der Authentizität. Bei derartigen Zeugnissen ist auch schon die Frage unsinnig, wie weit sie erfunden sind (Bal 1997, 27), zumal AutorInnen dazu, wie oben angedeutet, deutlich unterschiedliche Positionen beziehen. Auf Seiten der RezipientInnen ergibt sich die Schwierigkeit, dass starke Empathie mit der Narratorfigur ethisch hochproblematisch ist, bedeutet sie doch vielfach eine Opferidentifizierung auf Seiten der Täternachkommen (s.S. 368– 375 und Konitzer 2012). Viele Texte erzielen – meist ungewollt – genau diesen Effekt (Schönthaler 2011, 41–43). Statt Identifizierung ist ein Zuhören gefragt, welches sehr viele Überlebende, die schreiben, schmerzlich vermissen (Semprun 1995, 150–151). Gerade den diversen audiovisuellen Archiven mag man dies ankreiden: Sammelwut verbirgt die Unfähigkeit, Einzelnen wirklich zuzuhören (Allerkamp 2005, 312–313, mit Bezug auf Ruth Klüger). Auf der Seite der Erzählenden/AutorInnen besteht das Dilemma darin, dass das „Ich“ letztlich immer auch für diejenigen mitspricht, die sich nie hatten äußern können. Einer der Versuche, für diese Menschen explizit Zeugnis abzulegen, stammt von dem oben erwähnten Yehiel Dinur, der sich selbst allerdings als Narrator-Autor K-Zetnik nennt, um damit seinen paradoxen Status als die Umgekommenen in sich vereinend klar zu machen: „How could I explain that it was not me who wrote the book; they who went to the crematorium as anonymous, they wrote the book! They, the anonymous narrators [...], for two years they passed before me on their way to the crematorium and left me behind.“ (KZetnik, zitiert in Felman 2002, 148)

Was für Vernichtungslager als besonders problematischer Zeugnis-Effekt diskutiert wird, ist mit Sicherheit auch für ehemalige Kriegsgefangene, ZwangsarbeiterInnen und andere durch das Nazi-Regime in Mitleidenschaft Gezogene der Fall. Schweigen hat nicht nur den Hintergrund der physischen Vernichtung, sondern unter Überlebenden oft auch gender- und klassenspezifische oder andere soziale Gründe (Kannonier-Finster und Ziegler 2011). Bornand meint, dass sogar die LeserInnen in einem Zeitalter des Zeugnisdiskurses zu indirekten Zeugen werden (Bornand 2004, 60–61). Doch wird hier ein tertiäres „Erleben“, die Repräsentation eines durch AutorInnen nacherlebten, literarisch umgeformten Ereignisses in ZeugInnenschaft veredelt, eine kaum akzeptable Interpretation der Identifizierung mit Protagonisten. Die Problematik dieses Effekts spüren wir viel deutlicher, wenn wir eine entsprechende Fiktion der Täterseite betrachten. Eines der eindrücklichsten Beispiele hierfür ist sicher Jonathan Littells Die

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Wohlgesinnten (2008). Dessen in der 1. Person Singular gehaltener Bericht eines SS-Sturmführers, der sich in dem Buch mehrmals an historisch belegten bestialischen Massakern beteiligt, provoziert sprachlich eine unterschwellige Identifizierung mit dem Protagonisten, einem grausamen Kriegsverbrecher. Aufgrund dieses Stilmittels wurde das Buch scharf angegriffen; zu Unrecht – ist es doch zudem das Spiegelbild des umgekehrten Vorgangs, der problematischeren Identifizierung mit Opfern in vielen Texten. Eine Auseinandersetzung mit dem Thema „Zeugenschaft“ kann nicht ohne eine Bezugnahme auf das einflussreiche Werk von Giorgio Agamben auskommen, der für Was von Auschwitz bleibt (2003) aus unterschiedlichen Richtungen eingehend kritisiert wurde. Etliche dieser hier nicht weiter aufzuzählenden Kritiken setzen am angeblich mangelnden historischen Wissen des Autors an, eine wohlfeile Zurückweisung einer Schrift, die disziplinäre Grenzen bewusst hinter sich lässt und nicht mit faktischer Darstellung beginnt. Für Agamben ist „Auschwitz“ ein Moment, an dem er die Möglichkeit erwägt, was es bedeutet, in entsubjektiviertem Zustand zu existieren. Die generalisierende Absicht in dieser Philosophie – das Lager als „das biopolitische Paradigma des Abendlandes“ zu deklarieren (Agamben 2002, 190) – geht aus dem Kontext der Homo SacerBände deutlich hervor. Agamben baut seine Argumentation auf den beiden griechischen Begriffen für politisches und schlicht biologisches Leben, βίος und ζωή auf. Er will das politische Menschsein als zur sprachlichen Zeugenschaft fähiges βίος begreifen und das reine Existieren ohne sprachliche Züge und jede Überlebensfähigkeit als ζωή, als von allen Rechten ausgeschlossenes, jederzeit vernichtbares ‚bloßes‘ Leben (s.a. Agamben 2002). Agamben meint, an dem Extrem „Auschwitz“ einen biopolitischen Zustand aufzeigen zu können, der in schwächerem Maße für das 20. Jahrhundert insgesamt typisch ist und bis heute andauert. Solchen stark generalisierenden Reflexionen kann deshalb zugestimmt werden, weil es einen weitgehenden Konsens gibt, dass die Shoah nicht nur ein „Geschichtsbruch“, sondern auch ein „Zivilisationsbruch“ ist (Diner 1988, 2003), gar ein „Gattungsbruch“ (Zimmermann 2005, 25–43). Daher auch sind traditionelle, tief verankerte Grundsätze, unter anderem historiographische, neu zu überdenken. Man kann und sollte nicht nur Beziehungen zwischen Auschwitz und den an das klassische Griechenland gebundenen hehren Idealen erörtern (Meier 2002), sondern ebenso die neu zu formulierenden Post-Shoah-Relationen zwischen dem Historischen und einer grundsätzlich anders zu justierenden Ethik. Tiefer gehende Kritiken an Agamben setzen sich einerseits mit seinem explizit geäußerten Bestreben auseinander, die Shoah nicht zu sakralisieren (Agamben 2003, 8), und andererseits der Rhetorik,

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die „Auschwitz“ in eine Chiffre verwandelt, und genau das Sakralisieren und Überhöhen zum Ergebnis hat (Traverso 2007, 60–61). Was von Auschwitz bleibt ist jedoch in großen Teilen eine Reflexion über den gewaltsamen Prozess der Entsubjektivierung, nicht nur die oft kritisierte, entkontextualisierte Darstellung des sog. „Muselmanns“ der Lager. In etlichen Anwürfen wurde bemerkt, dass Agamben mit seinem Fokus auf der Figur des „Muselmanns“ als Paradigma von „Auschwitz“ diejenigen verschweigt, die gar nicht diesen Status erreichen konnten, da sie direkt an der berüchtigten Rampe aussortiert und in die Gaskammern getrieben wurden (Traverso 2007, 63; Mesnard und Kahan 2001, 57–59). Die Kritik am Übergehen der direkt in die Gaskammern Getriebenen ist berechtigt, jedoch geht es Agamben bei seinen Reflexionen zu Auschwitz um das Phänomen eines in den Lagern ablaufenden Prozesses, nicht um den ersten Augenblick, der die Selektion beinhaltet (Agamben 2003, 90–106). Agamben reflektiert über den Verlust des Menschseins durch die einem Menschen aufgezwungenen Umstände. Mesnard und Kahan (2001) lesen in diese Reflexionen eine ungerechte weil ahistorisch-abstrakte Bewertung des Sterbens. Agamben zeichne die „Muselmänner“ als unbedingte morituri, als auf keinen Fall Überlebende oder Überlebensfähige. In der Tat meint er, diesen Menschen als per definitionem nicht Überlebenden kann ein Bezeugen ihres Zustandes nicht gegeben sein, und diejenigen, die über die Shoah berichten können, sind nicht in der Lage, für den Zustand dieser Geschöpfe Zeugnis abzulegen. In vielen Schriften Überlebender findet sich denn auch eine Distanz zu dieser Menschengruppe (z.B. Levi 1991, 85–86), Améry schließt sie sogar explizit aus seinen Betrachtungen aus. Dennoch: ans Ende seines Textes setzt Agamben acht Zeugnisse von Menschen, die sich auf dem Status eines „Muselmanns“ befunden hatten (Agamben 2003, 144–150). Es gab also ein Überleben der zum Tode Verdammten. Eine weniger harsche Bewertung sollte zunächst davon ausgehen, dass es Agamben in der Analyse des Potenzials, Zeugnis abzulegen, um die noch Lebenden geht, die jedoch kurz vor dem Tod stehen. Er erörtert dies mit den Termini der „Subjektivierung“ und „Entsubjektivierung“ (Agamben 2003, 90–104). Offensichtlich sind dies Prozesse, von denen Agamben jedoch nur die Endzustände betrachtet. Dies scheint mir das eigentliche Problem zu sein: Was von Auschwitz bleibt ist ein Text, der auf Kategorisierungen basiert, statt Abläufe und damit die unklaren, verschwimmenden Grenzen zwischen „Subjekt“ und „Nicht-Subjekt“ zu reflektieren. Denn die Grenzen zwischen normalen Lagerhäftlingen und „Muselmännern“ sind nicht eindeutig. Nun mag man behaupten, dass der offensichtlich nur schwer aus Berichten von Überlebenden zu rekonstruierende Vorgang der Entsubjektivierung im Lager selbst schon an der Un-

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möglichkeit des Bezeugens eines solchen Prozesses liegt. Ich meine jedoch, dass Ruth Klüger wahrscheinlich recht hat, wenn sie neben eine die Situation realistisch einschätzende „Hoffnungslosigkeit, die Mut macht [...] die apathische Hoffnungslosigkeit, verkörpert in dem Phänomen ‚Muselmänner‘“ stellt (Klüger 1992, 105–106), so dass dieser Unterschied in den Lagerpopulationen primär ein geistiger war, der dennoch kaum vom Körperlichen getrennt werden konnte.45 Ist schon der Prozess der Entsubjektivierung zum „Muselmann“ ein kaum nachvollziehbarer, so ergibt sich aus der Prozesshaftigkeit ein weiteres Problem. Kann ein Mensch mehr oder weniger Subjekt sein? Von Agambens Standpunkt aus handelt es sich ja nicht um ein plötzliches Umschalten vom Subjekt zum Nicht-Subjekt, sondern um den allmählichen Verlust eines Ichs und seines Überlebenswillens. Die Frage nach der „Subjekthaftigkeit“ und das Problem der Kategorisierung werden noch deutlicher, wenn wir berücksichtigen, dass Agamben Subjekt und Nicht-Subjekt mit dem Gegensatz „menschlich“ – „nicht-menschlich“ gleichsetzt (Agamben 2003, 105).46 Eine Auflösung dieser impliziten Parallele Mensch – Subjekt ist notwendig, um die Strukturen der Lagerunkultur der Nazis zu analysieren. Dann gelangen wir zu dem Ergebnis, dass Menschen durch die Zustände, in die sie gesteckt wurden, entsubjektiviert werden konnten, ohne dass ihnen das Menschsein abging. Genau diese Differenzierung ist es auch, die den Prozess der „Resubjektivierung“ erst erklären kann, wie er in den Zeugnissen der ehemaligen „Muselmänner“ am Ende von Agambens Buch belegt ist. Denn merkwürdigerweise fügt Agamben diese Zeugnisse, die seine gesamte Argumentation im empirischen Bereich ad absurdum führen, als Bestätigung an, dass der Status „Muselmann“ unbezeugbar ist, und dass jedes Zeugnis desselben ein Paradox sei (s.a. LaCapra 2004, 171–172). *** Wie die obigen Ausführungen verdeutlichen, ergaben sich zwei konträre Diskurse zu Zeitzeugnissen im Laufe der Jahre seit 1945. Einerseits beobachten wir „die Geburt des Zeitzeugen“ – die unsägliche Verwendung der deutschen Sprache durch HistorikerInnen subsummiert das Gender-spezifische Zeugnis der Frauen komplett unter das der Männer – samt ihrem Einsatz in den Medien

45 Die bei Agamben zitierten Selbstzeugnisse bestätigen dies nur teilweise (Agamben 2003, 144–150) 46 Im Original: „l’uomo e il non-uomo“, im Zusammenhang mit „soggetto“ und „desoggettivazione“ (Agamben 1998, 111–112).

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(Sabrow und Frei 2012; Wieviorka 1998), andererseits entwickelt sich eine Sakralisierungstendenz, die einhergeht mit „Auschwitz“ bzw. „Holocaust“ als Metaphern für das Unsagbare und damit Unbezeugbare, ob insgesamt oder in einzelnen Elementen.47 Reiht sich der erstere Diskurs in die globalen Kommodifizierungstendenzen des Kapitalismus ein, so desavouiert der zweite, die hagiographische Seite, das menschliche Zeugnis als Möglichkeit der Erzählung des Erlebten. Das Bezeugen wird aufgrund psychologischer, mnemotechnischer und sprachlicher Argumente in Zweifel gezogen. Es verwundert wohl nicht, dass die heutige Welt bei derart fundamentalen Problemen mit dem menschlichen Zeugnis technische Auswege ins Spiel bringt. Statt menschlicher Beobachtungen werden Kameras, DNA und Nanotechnologie als Zeugen und Beweismittel eingesetzt. Auch die schiere Materialität wird zunehmend als unumstößliches Element eines entsubjektivierten Bezeugens in Anspruch genommen, ein komplexer Effekt, dem ich mich nunmehr zuwende.

A RCHÄOLOGISCHES B EZEUGEN Erinnern an und Vergessen der Nazi-Zeit und ihre vielfältigen Formen gewalttätiger, überall sichtbarer Ausgrenzung wandeln sich rasch in einem schon seit 20 Jahren thematisierten Prozess des Übergangs in ein „Post-Witness“-Zeitalter. Bislang spielten materielle Zeugnisse der Nazi-Zeit eine passive, hintergründige Rolle, während das komplexe Verhältnis der überlebenden ZeugInnen zu denen, die sich nicht mehr äußern können und konnten, im Vordergrund stand. Gedenken wurde an Orten verankert, weshalb man die Überreste von bestimmten Lagern konservierte und restaurierte, während die meisten anderen derartigen Standorte spurlos verschwanden. So kam es, dass heute vor allem die großen Konzentrationslager bekannt sind. Rituell werden an diesen Stätten des Terrors und Leidens Gedenktage abgehalten. Die politische Klasse eroberte sie für ihre Reden, für die Touristik wurden Baracken hergerichtet und Besuchsprogramme organisiert. Orte wie Buchenwald, Oranienburg oder Mauthausen, natürlich auch Auschwitz blieben nicht nur aufgrund ihrer Darstellung in den Medien bekannt, sondern werden als „Sehenswürdigkeiten“ besucht (s.S. 351–359). Doch kann die materielle Welt überhaupt für die damaligen Opfer einstehen, kann das in Unterhaltungen, Interviews, persönlichen Notizen, Berichten und

47 Extrem ist Claude Lanzmanns Einstellung, der so weit geht, seinen Film „Shoah“ als konstitutiv für die realhistorische Shoah zu deklarieren, das Zeigen der Fotos des Sonderkommandos in Auschwitz (s.S. 301–303) aber scharf zurückweist .

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Büchern weitergegebene Erlebnis der Ausgrenzung und Terrorisierung sozusagen von Dingen übernommen und weitergeführt werden? „Ersetzen Zeitzeugnisse zunehmend das Gespräch mit Zeitzeugen“, wie Ronald Hirte (1999, 56) fragt? Er beantwortet dies negativ, denn im Vergleich „bleiben authentische Gegenstände [...] immer stumm und hoffnungslos“ (Hirte 1999, 57). Ist ein solches Statement im Kontext von Buchenwald oder jedem anderen Lager eigentlich eine Selbstverständlichkeit, so wird genau dies im theoretischen Diskurs der heute viel diskutierten „symmetrischen Archäologie“ nicht ohne weiteres akzeptiert. Symmetrische Archäologie unterschiebt paradigmatisch den Dingen eine Handlungsmacht, die von der menschlichen weitgehend ununterscheidbar ist. Aus diesem Ansatz würde folgen, dass das materielle Zeugnis der Ruinen und Fragmente denselben ontologischen Stellenwert hat wie die Worte der Überlebenden. Theoretisch auf Bruno Latour fixiert, beansprucht die symmetrische Archäologie eine Verschmelzung von Gegenwart und Vergangenheit, Subjekt und Objekt, Expertise und populärem Wissen, Alltag und Ritual. Dieser Diskurs, geprägt von einer obsessiven Auflösung von Antagonismen, Widersprüchen und Differenzierungen hat interessanterweise das Thema „Täter und Opfer“ bislang komplett vermieden. Symmetrische Archäologie ist eine sich neutral gebende Einstellung: sie beharrt auf „methodological impartiality“ (Shanks 2005). Schon länger werden den Gegenständen dann in Analogie zu Menschen Biographien, Unordentlichkeit, Langeweile, Sturheit und etliche andere Charakteristika zugestanden, die direkt menschlichen Mentalitätsbeschreibungen entlehnt sind. Das führt im Extrem zum Postulat einer ontologischen Vermischung von Ding und Mensch (Webmoor und Witmore 2008, 59), die zudem auf eine Anthropomorphisierung der gegenständlichen Welt hinausläuft. Gegen diese Bestrebungen wiederum wird im Gefolge der object-oriented ontologies („OOO“) eine Archäologie konstruiert, die sich nurmehr auf „an observation on level with things – and of things as things“ konzentriert (Pétrusdottír 2012, 600), egal, wie „banal, trivial or simply boring“ eine solche Disziplin sei (Olsen 2013, 296). Man solle sich an einer an Heidegger angelehnten „Gelassenheit der Dinge“ orientieren (Pétrusdottír 2012, 599). Diese Diskussion um Ontologien in der symmetrischen Archäologie als auch der „res“-zentrischen Kritik Olsens zeigt Tendenzen zurück zum reinen Empirismus, bzw. einem Positivismus, der dem gesamten wissenschaftlichen Neorealismus des 21. Jahrhunderts eigen ist (s. Harman 2008). In einer solchen Welt hat die differenzierte Betrachtung der Vergangenheit – falls überhaupt von Interesse – als ein Prozess, der Formen des Bezeugens einbezieht, keinen Platz. Denn Handlungsmotivationen wie Entsetzen, Ehrgeiz und Eifersucht sind in einer zerflossenen Handlungseinheit wie „Aktanten“ nicht mehr greifbar, geschweige denn in einer posthumanen Welt (zu einer weitrei-

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chenden Kritik s. A. Cole 2013). Begehren, Anerkennung, Sehnsucht und Schuld haben genauso wenig Platz. Ronald Hirtes oben erwähnte Frage nach Dingen als Zeitzeugnissen erübrigt sich ebenfalls, da das historische Setting nicht mehr von Belang sein soll. „Perhaps it is time to give up these airy ambitions [to write history from things] which in any case are doomed to render things – and archaeology – secondary“ (Olsen 2013, 295). Eine Archäologie der Nazi-Zeit kann meines Erachtens niemals einen posthumanistisch-objektontologischen Standpunkt einnehmen, ohne in Zynismus abzugleiten.48 Daraus folgt zunächst auch, dass die materielle Dimension der Lager als objektive Präsenz nicht mit den oben erörterten literarischen, gerichtlichen und anderen Zeugnissen der Opfer gleichgesetzt werden kann. Denn in Zeugenaussagen erinnern Subjekte aktiv, während Objekte dies nur passiv zu tun in der Lage sind: sie sind „da“, und dieses Dasein ist ausreichend und für eine Dingwelt auch unüberwindbar. Ähnlich wie Staatsanwalt Hausner könnte man formulieren, dass Dinge stetig sind, sie haben keine Einwände noch verwickeln sie sich in Widersprüche, sie fangen nicht an zu zagen, sie betonen keinen Einzelaspekt ihrer selbst. Im Angesichte von Holocaust-Leugnern mögen solche Eigenschaften attraktiv erscheinen und je nach historischer Lage kann es notwendig sein, diesen simplen positivistischen Aspekt der Materialität der Ausgrenzungsorte des NS-Systems zu betonen. Die ausgemachte Stummheit der Dinge verhindert aber auch ihre Funktion als „Zeitzeugen.“ Ihre schiere Existenz macht sie eher zu Bürgen für Alltagsdrangsalierung, willkürliche Grenzziehungen und Gewalt. Zeugenschaft ist ein komplexes Phänomen. Sowohl Agamben (2003, 14–15) als auch Derrida (2005, 24–27) weisen auf den im Lateinischen geläufigen Unterschied hin zwischen superstes im Sinne einer/s Überlebenden, erlebt Habenden auf der einen Seite und testis/terstis als „celui qui aura été présent“ (Derrida 2005, 26), als beiwohnende Dritte. Diese Unterscheidung findet sich im Wortfeld für Bezeugen und Verbürgen wieder, denn das Verbürgen beinhaltet nicht unbedingt eine handelnde oder leidende Beteiligung und ein Miterleben eines Geschehens. Bezeugen ist nach Derrida nicht notwendig diskursiv, sondern lässt sich als „l’avoir-été-présent ‚comme tel‘“ beschreiben (Derrida 2005, 34). „Terstis“ als anwesendes Drittes beschreibt den bürgenden Status der Dinge im Umfeld der Zeugenschaft in ausreichend differenzierter Weise. Zeugenschaft selbst, témoignage als aktive Dar-

48 Man muss sich allerdings bewusst machen, dass auch die prozessuale Archäologie mit ihrem Fokus auf Systemen vor langer Zeit schon eine methodologische Dezentrierung des Menschen vorgenommen hatte, die erst durch feministische Ansätze eine (leider nur partielle) Rehumanisierung erfuhr (s. exemplarisch Tringham 1991).

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stellung vergangener Geschehnisse unterscheidet sich von Bürgschaft als allein passive Garantie des Da–Gewesen–Seins. Dinge können nur in sehr speziellen Fällen Zeugnis ablegen für historische Prozesse, weil ihnen die Möglichkeit der Erinnerung an sinnliche Erfahrung und damit die Darstellung derselben in performativer, sprachlicher oder anderer Form abgeht.49 Die Komplexität dieser Konstellation zeigt sich darin, dass Dinge nicht nur Verhältnisse verbürgen, sondern auch Bürgen sein können für das Existiert-Haben von Zeuginnen und Zeugen. Ein evidenter Fall sind z.B. die persönlichen Dokumente, die viele ehemalige ZwangsarbeiterInnen einsandten, um Entschädigungen zu erhalten (Beispiele in Wenzel 2008). Komplexer sind die von Wenzel (2008, 92–101) erörterten Zeichnungen, die ehemalige ZwangsarbeiterInnen anfertigten, um ihre genaue Kenntnis der Orte nachzuweisen, an denen sie ausgebeutet wurden. Hier ist eine Korrelation von objektiven Hinterlassenschaften etwa eines Reichsbahnlagers mit der Repräsentation in (materieller) Form einer Zeichnung die Bürgschaft dafür, Zwangsarbeit geleistet zu haben, mithin als Person Zeugin oder Zeuge zu sein. Das Statische und Passive der gegenständlichen Bürgschaft ist jedoch gerade im Bereich des Archäologischen auch in komplexere dialektische Verhältnisse eingebettet, die ich im Folgenden näher erläutere. Dabei gehe ich auf unterschiedliche Aspekte ein, von ihrer anerkennungstheoretischen Dimension über die Dialektik des Zeigens und Verschweigens bis zu ihrer Multitemporalität und schließlich ihrer Rolle in einer Sphäre der „Forensis“. Was bedeutet Bürgschaft konkret im Angesichte der Objektivität als „Dinghaftigkeit“ einer Ausgrabung? Bürgschaft im nicht-juristischen Sinne verliert heutzutage an Bedeutung. Eine spürbare Leichtfertigkeit und oberflächliche Schnelllebigkeit unserer Zeit mag der Grund hierfür sein. In Schillers bekannter Ballade über die Bürgschaft stellt der Protagonist Damon, zum Tode verurteilt aufgrund des geplanten Tyrannenmords an Dionys, seinen Freund dem Tyrannen als temporären Bürgen bis zur Todesstrafe zur Verfügung, um die Hochzeit seiner Schwester andernorts zu erleben. Damon wird von nichts anderem getrieben als der tiefen Sorge um seinen Freund, der für die zeitlich festgelegte Wiederkehr bürgt. Eine Person steht mit ihrem Leben ein für eine andere. Doch wie verwandelt sich dieses Verhältnis, wenn Bürgschaft nicht in Persönlichkeiten sondern in Dingen manifest wird? Und zwar fragmentierten, unkommodifizierbaren Dingen?

49 In ähnlicher Weise unterscheidet Alfred Gell (1998, 17–21) zwischen „primary agency“ von (menschlichen) Subjekten und einer den Dingen – in seinem Fall Kunstwerken – innewohnenden „secondary agency“ (s. hierzu auch Robb 2010).

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Bürgschaft ist immer aufgeschobene Zeit, und im traditionellen Sinne eine Zukunftsabsicherung und -erwartung. Bei zeitlicher Umdrehung, in der der Gegenstand Vergangenes verbürgt, ist die Aufschiebungsrichtung nicht a priori festgelegt. In Anlehnung an Derrida kann man das Verhältnis so deuten, dass der Gegenstand qua Da–Gewesen–Sein die Existenz vergangener Subjekte garantiert. Jedoch ist die Bürgschaft zudem umgekehrt zu lesen: wir sind die SchuldnerInnen in diesem Verhältnis, und diejenigen, die nicht mehr leben, die Gläubigerseite. Das Verantwortungsgefühl für den Bürgen, die Schillersche Verpflichtung zu seiner Existenzsicherung hat einen Vertrag mit vergangenen Subjekten zur Grundlage. Die zeitliche Umdrehung der Verpflichtung ins Vergangene lehne ich durchaus gewollt an Walter Benjamins bekanntes Bild des Engels der Geschichte an, der, der Zukunft den Rücken kehrend, die Trümmer der Vergangenheit vor sich aufgetürmt sieht. Das zeitlich umgestülpte Verpflichtungsverhältnis unsererseits richtet sich allerdings nicht auf alle vergangenen Subjekte, sondern ist spezifisch auf diejenigen ausgerichtet, die Leid und Unglück, Repression und Schmach erfahren haben.50 Zunächst heißt das ganz praktisch für archäologische Ausgrabungen von Orten der Nazi-Zeit nicht mehr und nicht weniger, als dass möglichst alle Funde aufgehoben werden. Denn man sieht ihnen bei der Ausgrabung im Feld noch nicht an, ob sie das Potenzial zur Bürgschaft haben. Wir erleben dann eine Potenzierung der Zahl materieller Bürgschaften, aus nachvollziehbarer Vorsicht. Doch was darauf im archäologischen Alltag folgt, entspricht den obigen Reflexionen zur Schillerschen Moral nicht mehr: die Dinge als potenzielle Bürgen werden in der Regel in Verliesen verstaut und die meisten davon nie wieder hervorgeholt (K.P. Hofmann et al. 2016). Die Produktion von dinglichen Bürgen entschwundener Subjekte hat aufgrund einer Geschichtsindustrie von Museen, Medien, Wissenschaft und auch der Profitorientierung von Ausgrabungen Warencharakter angenommen: Privatfirmen beschäftigen professionelle AusgräberInnen, um dabei einen wie auch immer minimalen Gewinn zu erwirtschaften. Fundstücke sind nach Gesetz abzuliefernde Teile des Grabungsapparats. Dergestalt hat ihr Sammeln den typischen Charakter der Gleichmacherei eines kommodifizierenden Kapitalismus (Bernbeck 2016). Die materielle Welt und ihre Spuren, eine Welt, der wir im postindustriellen Zeitalter bis zum Verderb verbunden sind, wird nicht nur als Anhaltspunkt für vergangene Zustände in Anspruch genommen, sondern endet pauschal in der Geiselhaft der festungsgleich

50 Daher können fast keine der gegenwärtigen „Weltkulturerbestätten“ den Anspruch erheben, im hier beschriebenen Sinne Bürgen der Vergangenheit zu sein, es sei denn als Negation.

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verschlossenen Lagerhallen für Objekte. Nicht nur ein Zeichen der Warengesellschaft, sondern auch zunehmender Verabsolutierung eines Sicherheitsdenkens. Soll man daher Goeschel und Wachsmann folgen, die ähnliche Tendenzen in der derzeitigen deutschsprachigen historischen Forschung zu Lagern der NS-Zeit ausmachen und sich darüber mokieren? „Breadth is not matched by depth. In its obsession with detail, [research] constitutes a rather distinct and increasingly self-referential field of ‚concentration camp history‘, heavy on empirical fact but light on analysis“ (Goeschel und Wachsmann 2013, 274). Ich meine ganz im Gegenteil, dass Genauigkeit im Detail primär eine Frage der Anerkennung des Leids der Opfer ist. In diesen Zusammenhang gehört eine Bemerkung von Ruth Klüger über ihre Transporte vom KZ Theresienstadt nach Auschwitz-Birkenau und schließlich zum Außenlager Christianstadt: „Die Unlust der meisten Leute, [...] sich die Namen der kleineren Lager zu merken, ist vielleicht darauf zurückzuführen, dass man die Lager möglichst einheitlich und unter großen Schildern der berühmt gewordenen KZs haben möchte. Das ist weniger strapaziös für Geist und Gefühl, als sich mit Differenzierungen auseinanderzusetzen. Ich bestehe auf Unterscheidungen.“ (Klüger 1992, 81)

Der Forderung Goeschels und Wachsmanns, eine interessante historia rerum gestarum zu produzieren, einen anspruchsvollen Wissenschaftsdiskurs also, möchte ich das Postulat einer versuchten Relation der Anerkennung vergangener Subjekte entgegensetzen (Bernbeck 2015b, 260–263). Zwischen den Polen eines Bewahrens um des Bewahrens willen und einer Geschichtserzählung, die eine argumentative Ästhetik zu ihrem Maßstab erhebt, gibt es eine dritte, in einer anerkennungstheoretischen Philosophie verankerte Position, die mir gerade bei Epochen wie der NS-Zeit als Grundeinstellung relevant erscheint. Vergangenen Subjekten gegenüber sollte „die Einstellung der Sorge einen nicht nur genetischen, sondern auch begrifflichen Vorrang vor dem neutralen Erfassen der Wirklichkeit besitz[en]“ (Honneth 2014, 39). Grundsätzlich gehe ich am Ende dieses Buchs nochmals auf das Anerkennungsproblem ein (s.S. 429–435). Hier versuche ich, dies anhand zweier Beispiele der Ausgrabungen von Zwangsarbeitslagern in Tempelhof zu verdeutlichen. Im Laufe der archäologischen Arbeiten entstand eine Datenbank von etwa 30.000 Objekten – gebührt allen dieselbe Aufmerksamkeit? Oder wie wird eine Auswahl getroffen, die den Verhältnissen der schonungslosen Ausgrenzung angemessen ist? Ich hatte in Kapitel 2 argumentiert, dass Dinge neben ihrem Quellencharakter auch Zeugnis/Bürgschafts- und Evokationspotenziale in sich tragen (s.S. 92–97). Die Unterscheidung dieser Modi hat unter anderem als Konse-

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quenz, dass eine statistische Stichprobenrepräsentativität der Tausende von Dingen nur dort gilt, wo wir sie als Quellen auswerten. Dreht es sich hingegen um die Gegenstände als Bürgen, sind Statistiken und Auszählungen invalid. Ein Objekt kann durchaus für potenzielle ZeugInnen vergangenen Geschehens bürgen, aber nur für konkrete Subjekte. Die Bürgschaftsqualität der Dinge ist je individuell, so dass auch die Relation zwischen einem Ding und einem Subjekt eine nicht übertragbare ist. Abbildung 3.1: Brosche aus einem Splitterschutzgraben im Zwangsarbeitslager der Firma Weserflug, Berlin-Tempelhof

Am nördlichen Rand des Zwangsarbeitslagers der Firma Weserflug im Bereich der Baracken für sowjetische Frauen gab es einen engen, am Boden mit Betonplatten ausgelegten Splitterschutzgraben. Unter diesen Platten lagen etliche Funde, unter anderem ein langovaler, stark gewölbter gläserner Einsatz einer Brosche oder Halskette (Abb. 3.1; s.a. Bernbeck et al. 2014, 47–48). Der Schmuckgegenstand hat leichte Ausbrüche an einer Schmalseite. Eine Rille am Rand weist auf eine ehemals vorhandene Einfassung unbekannten Materials hin. Wir sind im Angesichte eines persönlichen Gegenstands einer Zwangsarbeiterin, deren Herkunft wir nur insoweit präzisieren können, als sie wohl aus den besetzten Gegenden der damaligen Sowjetunion kam. Vielleicht war sie aus einer Stadt, vielleicht auch vom Lande; nicht ganz verarmt, denn sie konnte sich diesen Schmuck leisten bzw. hatte ihn geerbt oder geschenkt bekommen. Auf sich bedacht, denn sie hatte ihn mitgenommen in die unbekannte Ferne, vielleicht hatte sie sogar vor Deportation seitens der Schergen des „Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz“ Fritz Sauckel die Zeit gefunden, ihr wichtige und lieb gewordene Gegenstände zur Mitnahme auszusuchen. Hatte sie die Brosche im Transport versteckt oder als Ausweis ihrer Selbstachtung getragen? Welche Be-

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deutung hatte das Schmuckstück im Lager für sie? Trug sie es zur Arbeit oder in den wenigen Ruhestunden zwischen Schlaf und Ausbeutung im Flughafen? Wir wissen all dies nicht, jedoch verbürgt der ovale Glasgegenstand eine ganz eigene Beziehung zwischen einer deportierten Frau, deren Namen wir nicht kennen, und einem für sie besonderen Wertstück. Im Modus der Bürgschaft und des Bezeugens ist dieser Gegenstand nicht als „Schmuck“ klassifizierbar, der dann als Kategorie gezählt und in seiner quantitativen Verteilung im Lager untersucht werden könnte. Die Eigentümlichkeit der Bürgschaft ist ihr auf ein nicht verallgemeinerbares Subjekt ausgerichtetes Verhältnis, unabhängig davon, wie bekannt oder unbekannt dieses uns ist. Unkenntnis der genauen Qualität einer Bürgschaftsbeziehung hat keine Auswirkungen auf die Unverkennbarkeit der je eigenen Existenz einer solchen Beziehung. Auf und unter der Sohle desselben mit Betonplatten ausgelegten Schutzgrabens entdeckten wir zudem 27 großenteils stark korrodierte kleine rechteckige Marken aus „Dural“, einer für den Flugzeugbau verwendeten Aluminiumlegierung. In diese kleinen Plättchen waren dreistellige, in einem einzigen Fall eine vierstellige Nummer eingestanzt (Tabelle 3.1). In Gesprächen und auf der Suche nach Parallelen ergaben sich mehrere potenzielle Funktionen. Es könnte sich um Werkzeugmarken handeln, die für Geräte standen, die die einzelnen Arbeiterinnen in Gebrauch hatten. Doch warum sollten diese weit entfernt von jeder Arbeitsstelle in einem Splitterschutzgraben in diesen Mengen auftauchen? Eine weitere Möglichkeit ist, dass die Arbeiterinnen ihre mitgebrachten Habseligkeiten in einer Effektenkammer der Firma abgeben mussten und dafür eine Marke bekamen, mit der sie diese bei Entlassung zurückerhielten.51 Auf diese Art konnte die Firma Weserflug versuchen, Zwangsarbeiterinnen von der Flucht abzuhalten, was sowieso aufgrund allgegenwärtiger Denunziation, sprachlicher Schwierigkeiten, des langen Fluchtweges und der drastischen Strafen für ein solches „Vergehen“ hochriskant war. Es kann schließlich auch sein, dass die Arbeiterinnen selbst von der Weser Flugzeugbau durchnummeriert wurden, eine Entsubjektivierung, wie sie in Zwangsanstalten bis heute regelhaft

51 Derartige Effektenkammern gab es in Konzentrationslagern (für Buchenwald s. Hirte 1999, 40–41), die Abgabe von Besitz wird aber u.a. auch für das Arbeitserziehungslager Fehrbellin von Helene Freudenberg (2004, 27) geschildert. Die Autorin erwähnt dort allerdings auch, dass es Essensmarken aus Blech gab. Wie weit verbreitet Effektenkammern in Zwangsarbeitslagern waren, ist unklar. Blechmarken aus BrieskowFinkenheerd dürften eine ähnliche Funktion wie die Marken in Tempelhof gehabt haben (Glauning und Nachama 2013, Abb. S. 114). Aluminiummarken der LufthansaZwangsarbeiter aus Tempelhof geben nur Nationalitäten an.

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vorgenommen wird. Wiederum finden wir in Buchenwald und Mauthausen Parallelen (Hirte 1999, 51–53; Hausmair 2017). Tabelle 3.1: Fundstellen von 27 Duralmarken, dreistellige Nummern und ein Versuch, Nichtwissen explizit zu machen Schnitt-Nr.

Befund-Nr.

14 14 14 17 14 14 14 14 14 14 14 14 14 14 14 14 14

248 210 210 269 248 248 210 210 210 210 210 210 248 210 210 248 248

Identifizierbare Zahl 010 277 392 592 727 737 738 765 766 768 769 774 776 782 831 910 911

14

248

917

14

248

926

14

208

951

14

210

962

14 14 14 14 14 14

248 210 248 248 210 209

966 973 974 978 982 6021

Bürgschaft für Unwissen um Person Name? Charkov? Smolensk? Besitz in einem Koffer? Alter? Schmuck und ein Kleid? Ingenieurin? Kinderzahl? Ledig? Bäuerin? Im dritten Lager? Woroschilowgrad? Kleidung? Jugendliche? Lehrerin? Kommunistin? Name? Hastig mitgenommene Habseligkeiten? Leningrad? Tonangebend in ihrer Baracke? Tochter eines Offiziers der Roten Armee? Mutter? Fluchtversuch gemacht? Metallarbeiterin? Minsk? Tatarische Identität? Name?

Unter den drei Möglichkeiten (Werkzeugmarke, Besitzmarke, Personalnummer) scheint nur die erste unwahrscheinlich zu sein. Zeigen diese kleinen Metallstückchen hingegen Personen an, besteht zwischen Objekt und Subjekt eine direkte und offensichtlich ersatzlose Relation. Das schließe ich aus der Plakette mit der Nummer 6021, die eine Mindestzahl über die Jahre von über 6000

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ZwangsarbeiterInnen bei der Firma Weserflug auf dem Tempelhofer Feld andeuten würde, was keineswegs unrealistisch ist. Sicher waren nicht alle 6000 und mehr SklavenarbeiterInnen gleichzeitig in Tempelhof anwesend, sondern sie konnten weitergereicht oder wegen Vergehen an schlechtere Arbeitsplätze versetzt, oder auch an die Gestapo transferiert werden. Die Weserflug ist bekannt für eigene Haftzellen und ein offensichtlich enges Verhältnis zur Gestapo, die Missliebige in Arbeitserziehungslager abgeschoben haben wird (s. Faksimiles von Haftdokumenten in Wenz 2006, 138, 139; Glauning und Nachama 2013, 212). Stellen die Marken hingegen Besitz dar, so ändert sich an der Konsequenz, es müsse mehrere Tausend ZwangsarbeiterInnen gegeben haben, nichts. Jedoch sind die Plättchen dann nicht Teil einer Desubjektivierungsstrategie, die aus Personen Nummern macht, sondern jedes einzelne ist Bürge für eine spezifische Relation, nämlich zwischen einer Zwangsarbeiterin und ihrem befristet konfiszierten Eigentum; eine je individuelle Erpressungserfahrung, in ihrer Schärfe abhängig von gefühltem persönlichem Wunsch nach materiellem Besitz. In beiden Fällen sind die Schicksale zudem örtlich, kulturell, beruflich, vom Alter her, ideologisch und in vielerlei anderer Art und Weise verankert. Die Dinge sind damit auch Bürgen für ein vages, zumindest in seinen Kategorien (Ort, Beruf, Alter usw.) bestimmbares Nichtwissen, welches nicht verschwiegen werden darf. Interessanterweise gibt es jedoch in den Wissenschaften wenig Möglichkeiten, die Erahnbarkeiten des Nicht-Gewussten zu verdeutlichen, die Grenzen und Kategorien des Nichtwissens zu explizieren. Ich versuche dies, vielleicht auf eine allzu plumpe Art, in Tabelle 3.1. Die Frage nach der Repräsentativität von Funden ist also nicht leichtfertig so zu beantworten, dass man schlicht aus dem ausgegrabenen Abschnitt des Splitterschutzgrabens – aus einer Länge von 7,70m bei einer Gesamtlänge von etwa 40m – auf den Rest schließen und damit die Gesamtzahl im Graben auf 135 Plättchen hochrechnen darf. Dies ist nur dann gerechtfertigt, wenn wir die Objekte allein als Quellen betrachten, wie in Kapitel 2 ausgeführt. Eine solche Interpretation ist jedoch nicht nur „unvollständig“, sondern schlicht falsch, wenn die nummerierten Aluminiumplaketten als Bürgen für Personen interpretiert werden, bzw. wie in diesem Falle, eventuell für Personen-Ding-Relationen. Wie ausgeführt, kann in Bürgschaftsverhältnissen kein Einzelobjekt mehr für ein anderes stehen, ebenso wenig wie ein Trauma einer jugendlichen Zwangsarbeiterin für die Überlebensängste einer älteren verheirateten Frau einstehen kann. Insgesamt lässt sich festhalten, dass „die Materialien [...] durch ihre reine Existenz gleichzeitig als unerbittliche Zeugen einer grausamen Vergangenheit [fungieren]“ (Bernbeck 2015a, 424); heute würde ich allerdings präziser formulieren

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und den Begriff „Zeugen“ in einem solchen Zusammenhang durch „Bürgen“ ersetzen. Abbildung 3.2: Duralmarken aus dem Splitterschutzgraben im Zwangsarbeitslager der Weserflug, Tempelhof

(Nummern: 867, 010 und unlesbar)

Was wird aus archäologischen Verhältnissen im bronzezeitlichen Spanien, im Huari-Horizont Perus, in der frühdynastischen Zeit Mesopotamiens, wenn wir uns von der unidimensionalen Quellenidee samt darin enthaltener Stichprobenrepräsentativität verabschieden? Sind wir den neolithischen Subjekten in ähnlicher Weise verpflichtet wie denen der Nazi-Zeit? Ist der chronologische Abstand für die archäologischen Gegenstände als Bürgen vergangener Subjekte und der Zustände, in denen sie lebten, überhaupt relevant? Man muss weder mystisch veranlagt noch religiös sein, um ein diachrones Verantwortungsgefühl und eine über die Brücke der Dinge reichende „existenzielle Zugewandtheit“ (Honneth 2014, 39) auch zu Subjekten tief im Brunnen der Vergangenheit zu entwickeln.



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Zeigen heißt Verschweigen

„Wie viele Geschichten sind nie erzählt worden, weil es keine Überlebenden gab!“ (Elie Wiesel in Semprun und Wiesel 2012, 41). Im Zentrum des Erinnerns an die Nazi-Zeit stehen bis heute diejenigen, die über ihr Schicksal keinerlei Zeugnis ablegen konnten. Wir können uns mit dieser Aporie nicht zufrieden geben, und eine Archäologie des „Dritten Reichs“ wird zu einem größeren Teil aus dem Wunsch nach Erinnerung entstehen als aus dem Interesse an faktischer Geschichte. Doch Erinnerung woran? Die paradoxe Struktur solchen Erinnerns zeigt sich in einer Bemerkung Jorge Sempruns, die er in Zusammenhang mit der Rettung eines sterbenden ungarischen Juden nach der Befreiung von Buchenwald im April 1945 macht: „Diese Geschichte ist mir einfach so eingefallen, unvermittelt. Aber sie erinnert mich an etwas, woran ich mich nicht erinnere. Erinnert mich zumindest daran, dass ich mich an etwas erinnern müsste. Dass ich mich daran erinnern könnte, wenn ich mir etwas Mühe gäbe“ (Semprun 1995, 44). Semprun sinniert hier über die Dialektik des Erinnerns, die darin besteht, dass das Vergessene und das Nicht-Erinnerbare sich hierin spiegeln. „Zeigen heißt Verschweigen“, bemerkte dazu der Historiker Reinhart Koselleck (2005). Er sagte dies in einem Interview mit Bezug auf das gerade fertig gestellte Berliner Holocaust-Mahnmal nahe des Brandenburger Tores. Sein Argument: durch das Erinnern an die jüdischen Opfer würden die anderen Opfergruppen, Homosexuelle, Roma und Sinti, politische AktivistInnen, Zeugen Jehovas und WiderständlerInnen aus unterschiedlichen europäischen Ländern aus dem Gedenken verbannt. Kosellecks implizite Forderung nach Mahnmalen für die anderen Opfergruppen wurde zumindest für Homosexuelle sowie Roma und Sinti mittlerweile an Orten unweit des Holocaust-Mahnmals erfüllt. Keines dieser Denkmale kann jedoch als Bürge im obigen Sinne angesehen werden. Sie erinnern, indem sie auf ortlose Weise auf Kollektivverbrechen hinweisen. Die Denkmale sind von KünstlerInnen gestaltet und im Zentrum Berlins angelegt, so dass sie zu touristischen Anziehungspunkten werden. Doch sie sind nicht authentisch, weder materiell noch in ihrer Lokalisierung. Die unweit dieser Stätten liegende Topographie des Terrors hingegen war der tatsächliche Standort des ehemaligen Reichssicherheitshauptamts (RSHA). Die dort in den 1980er Jahren ausgegrabenen und zur Besichtigung offenen Reste von Kellern markieren mithin einen authentischen Ort.52

52 Die ehemaligen Folterkeller des RSHA sind allerdings dem Publikum nicht zugänglich (Neumayer 2005; Bernbeck und Pollock 2007).

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Aus den obigen Bemerkungen ergibt sich, dass jede Präsenz immer auch Absenz bedeutet. Geoffrey Megargee, Herausgeber einer Enzyklopädie der Lager des NS-Regimes, schätzt, dass es im Machtbereich der Nazis etwa 42.500 Lager gab, wobei alles zusammengezählt wurde, von Zwangsarbeitslagern über Arbeitserziehungslager, Stamm- und Durchgangslager für Kriegsgefangene, Kranken-, Sterbe- und Konzentrationslager (Lichtblau 2013). Die Nachricht über diese Zahl und der Plan, sie in einer Enzyklopädie zu dokumentieren,53 führten zu einem Streit in der deutschen Presse. Manche HistorikerInnen meinten, die Daten seien schon bekannt gewesen (Buggeln 2010), während ein anderer Einwand war, hier würden völlig disparate Phänomenen unter einen Nenner gebracht (M. Spoerer, in Burchard und Warnecke 2013); der Historiker Wolfgang Benz sah sich gar plagiiert (Benz 2013). Interessant an diesem Streit sind die weit auseinanderliegenden Gründe für Kritik. ‚Nichts Neues‘ kontrastiert mit der Forderung nach Genauigkeit im Detail, nach „seriöser Forschung“, die „nicht einsammeln, sondern graben“ müsse, am Einzelfall arbeiten – wobei das Graben hier natürlich metaphorisch zu verstehen ist (Wolfgang Benz, zit. in Burchard und Warnecke 2013). Adorno (1997, 45b) meint dazu, dass „der individuelle Fall, der aufklärend für das furchtbare Ganze einstehen soll, [...] gleichzeitig durch seine eigene Individuation zum Alibi des Ganzen“ wird. Weder befähigt das Aufzählen, ob der Individuen, die in der Shoah oder als Kriegsgefangene und Zwangsarbeitende ihr Leben ließen, oder die Liste der Lager, in denen sie umkamen zum Verständnis „des Ganzen“, noch kann dies metonymisch durch Fallstudien geschehen. Und dennoch: Selbst wenn das historische Verbrechen sich diesen Zugängen verweigert, muss immer wieder neu nach Mitteln gesucht werden, das Unfassbare zu fassen. „Chaque bribe existante – d’images, de paroles ou d’écrits – est arrachée à un fond d’impossible. Témoigner, c’est raconter malgré tout ce qu’il est impossible de raconter tout à fait“ (Didi-Huberman 2003, 133 Hervorhebungen im Orig.). Jede archäologische Ausgrabung ist in diesem Sinne eine Verdichtungspraxis des Materiellen, die notwendig zum Verlustiggehen anderer Reste führt. In Parallele zu Kosellecks Spruch des Verschweigens im Zeigen ergäbe sich für die Archäologie, „aufdecken heißt verstecken.“ Nicht nur, dass jedes Ausgraben von Rudimenten, wie Archäologie-Studierende vom ersten Semester an wissen, eine Demontage der Zusammenhänge ist, unwiderruflich und endgültig. Vielmehr befindet sich jede Ausgrabung in dem Moment, in dem sie das

53 Die auf mindestens sieben Bände angelegte Enzyklopädie des United States Holocaust Memorial Museum ist vor allem deshalb wichtig, weil sie auch alle kleinen und kleinsten Lager einschließt. Bislang sind erst wenige Bände erschienen.

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Materielle als Bürgschaft für Subjekte nimmt, in einer Dialektik des Auf- und Verdeckens. Am Beispiel des Zwangsarbeitslagers der Weserflug GmbH lässt sich dies anschaulich machen. Wir legten einen 60m langen Schnitt, 3,20 m breiten Schnitt an, der rechtwinklig zu den aus Luftbildern bekannten Baracken verlief. Der von der Grabung geschnittene Bereich von drei parallel aufgestellten Baracken lag am Übergang vom Wohn- zum Sanitärtrakt. Aus Luftfotos wissen wir, dass die Baracken jeweils eine Gesamtlänge von 56,50 m hatten, dass wir also mit dem etwas mehr als drei Meter breiten Schnitt jeweils nur einen sehr kleinen Teil der Gebäude freigelegt hatten (Abb. 3.3). Abbildung 3.3: Baracken 6 bis 8 im Lager der Weserflug am Columbia-Damm mit eingezeichnetem Ausgrabungsschnitt 16

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Die Gesamtheit der Funde und Befunde, die im Ausgrabungsschnitt zutage kam und auf das Leben der Zwangsarbeiter verweist, ist im oben erläuterten Bürgschaftsmodus ein falscher Dispens von der Beschäftigung mit anderen Barackenund Lagerbereichen, nicht aber ein Ausschnitt derselben. Denn die rudimentären Grundmauern von Baracken, das Heizungssystem, Werkzeuge und kleine Besitzstände der Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter, die dort lebten, erleichtern zwar unser Erfassen des eingezwängten Lebens auf dem Tempelhofer Feld unter den Nazis, doch ist genau diese Erleichterung ein Trugbild, ein „Alibi des Ganzen“, wie Adorno sich ausdrückt. Da jedoch eine Komplettgrabung unrealistisch ist, müssen Darstellungsformen gefunden werden, die die Beunruhigung über die verdeckt bleibenden Dinge und Baureste erzeugen bzw. deutlich machen. Bei den Baracken können wir zurecht vermuten, dass weitere Rudimente zu finden wären, grübe man südlich und/oder nördlich unseres Ausgrabungsschnittes. Dies ist an anderen Stellen des großen Zwangsarbeitslagers nicht der Fall. Im östlichen Bereich, wo nach vorhandenen Bauskizzen und Fotos Baracken für sowjetische Zwangsarbeiterinnen gestanden hatten, gab es in zentralen Flächen bis zum gewachsenen Boden keinerlei Spuren mehr (Abb. 3.4). Abbildung 3.4: Grabungsstelle des Weserflug-Lagers, an der Barackenreste vermutet aber nicht mehr vorhanden waren

Nach dem Krieg, während der Besatzungszeit und der Nutzung durch USMilitärpersonal, waren direkt neben der heutigen Grabungsstelle Baseball-Felder angelegt worden, und im Zuge dessen hatte man wohl die letzten Barackenreste abgeräumt. Wir gewinnen in diesem Falle Kenntnis über unsere Unkenntnisse,

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wobei die Vernichtung der Spuren höchstwahrscheinlich ohne spezifische Absichten geschah. Das Ergebnis ist dennoch genau jenes, welches schon Walter Benjamin in seiner siebten These zur Geschichte deutlich formulierte: „Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Und wie es selbst nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozess der Überlieferung nicht, in der es von dem einen an den andern gefallen ist. Der historische Materialist rückt daher nach Maßgabe des Möglichen von ihr ab. Er betrachtet es als seine Aufgabe, die Geschichte gegen den Strich zu bürsten.“ (Benjamin 1992b, 145; Hervorhebung R.B.)

Im Falle des Lagers ist dies so zu lesen, dass nicht allein die Materialität der Lager ein paradigmatisches Dokument der Unkultur darstellt. Die gedankenlose Vernichtung dieser Reste als Bürgen für das Elend der Nazi-Opfer bleibt Teil der Geschichte des Nationalsozialismus auch nach seinem Ende. Der derzeitige Zustand des Flughafenensembles, das nach 1945 zunächst für militärische, dann zivile Luftfahrt, heute für kulturelle und sportliche Zwecke sowie in allerletzter Zeit zur Unterbringung von Flüchtlingen genutzt wird, ist ein Paradebeispiel für eine solche „barbarische Überlieferung.“ Ich habe dies wissenschaftlich-abstrakt an anderer Stelle als „politische Taphonomie“ bezeichnet (Bernbeck 2005, 112– 114): der bestens erhaltene Nazi-Bau von Ernst Sagebiel (Dittrich 2005a) mit seinen monströsen Proportionen steht einer grünen Wiese mit den verwahrlosten, hier und da verstreuten kleinen Bauten der U.S.-Besatzung gegenüber. Sichtbare Zeugen für die Barackenlager der Nazi-Zeit sind einige wenige Tafeln eines Geschichtspfads, die mit Bild und Text über frühere Zustände informieren (s.a. Kapitel 6). Auch hier ist das Prinzip des Futur Zwei, der Zukunft als Vergangenheit am Werke. Ob beabsichtigt oder nicht, die gigantischen Ausmaße der offiziellen NS-Bauten dominierten schon zu NS-Zeiten die notdürftigen, armseligen Baracken. Von letzteren ist umso weniger erhalten, als sie aus Holz bestanden, im Baukastenprinzip aus Fertigteilen aufgebaut und auseinandergenommen werden konnten, um an anderer Stelle wieder aufgestellt zu werden (Stangelmeyer 1944). Die Bauart war äußerst anfällig gegenüber Bränden, und insbesondere in großen Städten wirkten sich die Brandbomben der Royal Air Force auf solche Zwangsarbeitslager verheerend aus, wie schon in Kapitel 2 ausgeführt (s. Abb. 2.14). Was Tempelhof betrifft, so hat sich der stoffliche Gegensatz zwischen dem gigantischen Nazi-Flughafenbau und Baracken in der Nachkriegszeit weiter vergrößert, als die wenigen noch vorhanden Baracken abgerissen und deren Spuren zum Teil vernichtet wurden.

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Neben diesem Aspekt der achtlos entledigten Überreste haben die Nazi„Volksgemeinschaft“ und ihre Oberen jedoch bekanntermaßen schon frühzeitig dafür gesorgt, dass bestimmte Spuren auf jeden Fall verschwanden, und dann potenzielle Zeugen und Zeuginnen ermordet. Exemplarisch hierfür steht die sog. „Enterdungsaktion“ des „Sonderkommandos 1005“ unter Paul Blobel, die zwischen 1942 und 1944 die Spuren der Massenmorde der Einsatzkommandos im ganzen damaligen östlichen Besatzungsgebiet durch Ausgraben und Verbrennen der Leichen beseitigen sollte. Für die Arbeiten wurden jüdische Häftlinge herangezogen, die am Ende der Vertuschungsarbeiten erschossen oder vergast wurden. Da diese Aktion fast ohne Schriftlichkeiten durchgeführt wurde, ist der Kenntnisstand sehr schlecht. Immerhin gab es einen Aufstand der beteiligten Häftlinge. Einige wenige konnten entkommen und über das Ausmaß dieses ungeheuerlichen Vorgangs Zeugnis ablegen. So gab Joséf Sterdyner zu Protokoll: „Mitte November 1943 begann ich in Borek bei Chełm im Himmelkommando bei der Zerkleinerung und dem Zermahlen der menschlichen Knochen zu arbeiten, und ich arbeitete bis zum 24. Februar 1944. [...] Ich arbeitete außerdem bei der Aushebung der Leichengruben. Diese Gruben hatten die Größe: 3 ½ m tief, 25m lang; aus zwei Gruben haben wir 8.000 italienische Soldaten ausgegraben, von denen manche noch in Uniform waren. [...] Auf Befehl der Deutschen wurden die Italiener wie auch die Menschen anderer Nationalität auf Scheiterhaufen zu 1.000 Personen gelegt und verbrannt. [...] Die Knochen wurden mit einem speziellen Fahrzeug der Marke ‚Diesel‘ gemahlen, das eine Vorrichtung hatte, um die Knochen zu Mehl zu mahlen. Teilweise wurde das Mehl durch die Deutschen weggebracht, teilweise waren wir gezwungen, es im Wald zu verstreuen.“ (zitiert in Hofmann 2013, 93–94)

Die „Enterdungsaktion“ ebenso wie der Versuch, alle Spuren der Vernichtungslager Treblinka, Chełmno, Bełżec und Sobibór zu tilgen (Sturdy Colls 2015, 244–249), verdeutlichen auf drastische Art die berechtigten Ängste, von denen KZ-Häftlinge wie Simon Wiesenthal (1967, 422–423) berichten: dass die Vernichtungsevidenz selbst vernichtet wird, und von denen, die diese Aktivität durchführen mussten, ebenfalls keine Zeugen am Leben bleiben würden. Das Wissen um diese Verhältnisse zwingt uns die Konsequenz auf, genau diesen Vorgang an anderen, uns unbekannten Orten und Momenten ebenfalls zu vermuten. Jedes gefundene Relikt hat als bedrohlichen Begleiter die zerstörte Spur. Noch das kleinste archäologische Bruchstück beinhaltet seine eigene Negation. Das ist ein weiterer entscheidender Grund, warum eine symmetrische Archäologie, die nicht nur den Mensch-Ding-Unterschied ablehnt, sondern zu-

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dem auch das dialektische Denken (Witmore 2006),54 nicht den Hintergrund für eine Archäologie des abgründigen 20. Jhs. und insbesondere die Nazi-Zeit liefern kann. Denn damit blieben die auf Negation und Aufhebung basierenden Reflexionen über Zeugnis und das Nicht-Bezeugen-Können, über Erinnern an und Vergessen von Qualen, Schrecken und Verbrechen des Nazi-Terrors, wie sie Wiesel und Semprun anstellen – sowie aus sehr unterschiedlicher Warte Koselleck – außen vor. Dialektisches Denken ist geradezu eine Grundbedingung, um sich überhaupt in angemessener Weise mit der Lagerunkultur des Nationalsozialismus zu beschäftigen. Die aktive Wahl als auch die durch äußere Umstände veranlasste archäologische Erforschung eines Ortes resultieren immer in einem Verdecken, welches aus dem „Nicht-Ausgraben“ andernorts besteht und selbst thematisiert werden muss. Dabei ist die Symmetrie des Aufdeckens und Verdeckens begleitet von einer topographischen Asymmetrie. Die archäologische Aktivität ist in der Regel punktuell, das Verschweigen dagegen vielfältig und flächendeckend. Wichtiger als dieser Aspekt der Negation im Archäologischen ist jedoch die Möglichkeit, aufzudecken, was nicht mehr aufdeckbar ist. Dabei steht die Erkenntnis der unbedacht zerstörten materiellen Reste neben dem willentlichen Verstecken und dem Spurenvernichten. Wer sich diesen Situationen gegenüber sieht, weiß, daß sie/er „es übernimmt, für [die Untergegangenen] Zeugnis abzulegen, [...] dass er [sic] Zeugnis ablegen muss von der Unmöglichkeit, Zeugnis abzulegen“ (Agamben 2003, 30).

Anonymität und Dinglichkeit „Mit der absurden Präzision, an die wir uns später gewöhnen sollten, nahmen die Deutschen den Appell vor. ‚Wieviel Stück?‘ fragte der Oberscharführer zum Schluss; und der Rottenführer stand stramm und meldete, es seien sechshundertfünfzig ‚Stück‘, und alles stimme“ (Levi 1991, 14). Diese Beschreibung Primo Levis von seiner Gefangennahme und seinen ersten Erfahrungen mit dem NaziRepressionsapparat verweisen allzu deutlich auf die schon angesprochene Entsubjektivierung der riesigen NS-Inkarzerierungsmaschine. Dem von Agamben

54 Nach dem Credo der symmetrischen Archäologie ist „mixture … an ontological state prior to the process of purification which dialectics is complacent in accepting and



exacerbating“ (Webmoor und Witmore 2008, 59).

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analysierten internen Verlust des Selbst und des Selbstwertes der KZ-Häftlinge, der sich u.a. durch sprachliche Kommunikation, soziale Relationen, Körperhygiene und einen minimalen Besitz zum Teil verhindern oder zumindest aufhalten ließ, steht eine von außen herangetragene gewaltsame Entsubjektivierung gegenüber, die weit außerhalb der KZs einsetzt und im Extrem auf eine komplette Verdinglichung der Person abzielt. Millionen Menschen wurden von Lagerführern, SS, Gestapo oder Firmen, die Zwangsarbeiterinnen beschäftigten zu Nummern degradiert, wenn nicht in die Vernichtung getrieben. Auch dies muss weiter differenziert werden: Die Verdinglichung aller aus der „Volksgemeinschaft“ ausgeschlossenen Menschen war im Kontext der Zwangsarbeit Mittel zur Ausbeutung, war aber gleichzeitig Ziel des Regimes, und zwar in der rassistischen Ideologie einer rigiden Hierarchisierung ganzer Gruppen voneinander separierter Menschen. „Immer musste man die Nummer sagen. Der Name war überhaupt nicht wichtig. Nur die Nummer“ erinnert sich Stanka Simoneti-Krajnc aus Slowenien an ihre Zeit im Mädchen-KZ Uckermark (Gruppengespräch 2000, 165) Die Diskussion um das Beispiel der Nummernmarken aus Tempelhof weiter oben (s.S. 136–139) zeigt die materiellen Belege für diese Tendenz ebenso wie die in Kapitel 2 erwähnten Kriegsgefangenen-Nummern in den Akten der Firma Gresitza. Verdinglichung setzt am Eigennamen und seiner Unterdrückung an. Grundsätzlich geht es also um Anonymisierung als politisches Vereinheitlichungsmittel, im Kontext der Lager als extremes Druckmittel. Martin Pollack (2014, 46–47) schreibt, auf Massenmorde und Holocaust bezogen: „Wichtiger als Zahlen sind die Namen der Opfer, weil wir nur auf diese Weise einzelne Schicksale erzählen können, eine unabdingbare Voraussetzung, um diese Menschen dem Vergessen zu entreißen und den Überlebenden und Nachkommen ihre Geschichte zu überliefern.“ Wenn so viel an Namen hängt, sieht es für eine Archäologie der Nazi-Zeit schlecht aus, da nur in ganz seltenen Fällen Namen an und über Objekte greifbar werden. Die auf Namen aufbauende Argumentation hat eine deutlich moralische Seite. „The absence of a name can too easily be taken for an absence of value“ (Robson 2008, 353). Meines Erachtens wird in heutigen Gesellschaften die Relevanz von Namen für Erinnerung überbewertet. Dafür reicht es, sich Werke zu der Rolle der Ahnen in vielen nicht-westlichen Gesellschaften genauer anzusehen (z.B. Maurice Bloch 1971). Eine Erinnerung über die Individualität hinaus mag für unsere kapitalistische Moderne unmöglich scheinen, hat aber viele unterschiedliche kulturelle Manifestationen gefunden. Der Fehler im Denken ist das Gleichsetzen von Anonymität und Vergessen. Archäologie schließt das Potenzial ein, aus diesem für die Moderne und Postmoderne typischen Dilemma einen Ausweg zu weisen. In

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meinen Erläuterungen hierzu stütze ich mich wiederum auf anerkennungstheoretische Reflexionen. Axel Honneth (2014, 61–75) analysiert die sozialen und politischen Verhältnisse unserer Zeit als durchsetzt mit „Anerkennungsvergessenheit“, wobei er das „Vergessen“ auf generelle sozioökonomische Strukturen des Kapitalismus und auf eine allgemeine menschliche Unachtsamkeit bezieht, nicht aber auf ein willentliches Vergessen-Machen. Dennoch sind Honneths Reflexionen äußerst wertvoll für einen Zugang zum Phänomen der Anonymität im Archäologischen. Er beschreibt in einer differenzierten Kritik der frühen Schriften von Georg Lukács den Vorgang der Verdinglichung als von Anerkennung über Objektivierung zu Verdinglichung führend. Zwischen die Anerkennung des Gegenübers als gleichwertigem Subjekt auf der einen und die komplette Verdinglichung der Person auf der anderen Seite setzt Honneth als Mittelposition die Objektivierung. Es ist in vielen Situationen keineswegs notwendig, Anderen in einem Anerkennungsverhältnis gegenüberzutreten. Eine epistemische, am Erkennen ausgerichtete Einstellung zur Welt ist dann tolerabel, wenn sie im Bewusstsein des Anerkennungshintergrunds entsteht und damit potenziell vom (Er)Kennen zum Anerkennungsverhältnis zurückkehren kann. „Das objektivierende Erfassen von Sachverhalten oder Personen ist ein mögliches Produkt vorgängiger Anerkennung, nicht aber deren pures Gegenteil“ (Honneth 2014, 64). Umgekehrt schreibt Honneth, dass „überall dort, wo sich Praktiken des puren Beobachtens, Registrierens oder Berechnens von Menschen gegenüber ihrem lebensweltlichen Kontext verselbständigen, [...] jene Ignoranz gegenüber der vorgängigen Anerkennung [entsteht], die hier als Kern aller intersubjektiven Verdinglichung beschrieben worden ist.“ (Honneth 2014, 98)

Honneth geht es in seinen Überlegungen darum, wie aus Menschen in einem Prozess der Amnesie Dinge zu werden drohen. Die Komplexität seiner Theorie eignet sich aber auch für den prototypisch archäologischen Ausgangspunkt: Assemblagen aus Gebäuderesten und Befunden sowie beweglichen Einzeldingen sind immer eine bis ins Letzte verdinglichte Welt. Kann aus dieser ein wie auch immer partieller Rückweg hin zu stärker anerkennenden, wenigstens aber objektivierenden Relationen beschritten werden? Unter den vielen Tausend Dingen, die aus Ausgrabungen kommen, verweisen nur ganz wenige auf Namen von Personen. Gerade wenn dies der Fall ist, eröffnet sich das Potenzial einer partiellen Entdinglichung, paradoxerweise durch Dinge selbst. Entdinglichung ist also der Vorgang, bei dem wir von anonymen Gegenständen ausgehend den Rückweg zu

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Subjekten aufnehmen. Am einfachsten ist dies, wenn wir an Dingen Personennamen direkt identifizieren können, oder sogar Aspekte ihres Lebens. Abbildung 3.5: Drei „dog tags“ von Mitgliedern der U.S. Air Force; Flughafen Tempelhof, aus einem Feuerlöschteich55

Dies war der Fall bei fünf militärischen Erkennungsmarken („dog tags“) der U.S. Army, die in einem Feuerlöschteich am Alten Flughafen in Tempelhof gefunden wurden. Die Namen auf drei dieser Marken sind ohne weiteres lesbar (Lorenzo Caliendo, James Shestak und Tommy Gorden; Abb. 3.5). Die Marken enthalten neben der Art der militärischen Einheit auch Informationen zum Dienstgrad, Impfungen und Blutgruppe. Anhand der Beschriftung kann man sie zudem recht genau datieren (US WW2 Medical Research Centre 2007). So waren die Marken von L. Caliendo und J. Shestak zwischen Januar und Juli 1943 geprägt worden, diejenige von T. Gorden zwischen Januar und April 1946.56 Der Katholik L. Caliendo war nach der Art seiner Nummer schon im 2. Weltkrieg Offizier und hatte 1943 eine Tetanus-Impfung erhalten, die Blutgruppe ist ebenfalls bestimmbar. Tommy Gorden war eingezogen worden, was sich aus der „3“ vor seiner persönlichen Nummer ergibt, und war protestantischen Glaubens. Der Lebenslauf der Personen lässt sich teils über Internet-Recherche nachverfolgen, so dass auch Familienangehörige aufgefunden werden können und ein Mensch

55 Soweit möglich, werden die Daten mit Zustimmung der Nachkommen der drei Personen Kontakt erwähnt. 56 Das Impfdatum auf der individuellen Marke schränkt den Zeitraum weiter ein.

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in Einzelheiten erkennbar wird.57 Lorenzo Caliendo etwa war Oberst der U.S. Air Force, und nach dem 2. Weltkrieg, als er in Tempelhof stationiert gewesen sein muss, im Korea- und Vietnam-Krieg. Er starb 65-jährig und ist auf dem Cementerio Britanico in Montevideo (Uruguay) begraben. Auch eine Familie Shestak gibt es in dem Ort Mobile, Alabama, der als Herkunftsort für James Shestak auf der Marke in Tempelhof eingestanzt ist. Warum die Marken im Müll landeten bleibt ungewiss. Das mag an Beförderung, Impfungen oder dem Wechsel zu einer anderen Einheit gelegen haben. In anderer Weise treten uns Unternehmer aus der nationalsozialistischen Zeit entgegen. Markennamen auf Geschirr, Flaschen, Baumaterialien und anderem verweisen oft auf Industrielle, Besitzer von Handwerksbetrieben wie Gresitza (s.S. 44–51) oder von Dienstleistungsfirmen. Funde in Tempelhof zeigen an, dass der Hotelbesitzer Curt Elschner wohl im „Alten Hafen“ (dem Flughafengebäude aus den 1920er Jahren) eine Filiale betrieb. Hiervon zeugen eine Schüsselecke, ein Teller und ein Aschenbecher (Abb. 3.6; s.a. Ziegelmann o. J. für ähnliches Geschirr). Man kann nach besser erhaltenen Stücken davon ausgehen, dass Schüssel und Teller aus der „Königlich privilegierten Porzellanfabrik“ in Tettau (Oberfranken) stammen, der Aschenbecher hingegen aus der Produktion der Firma Arno Fischer in Ilmenau (Thüringen). Der Besitzer dieses angeblich größten Hotels der 1920er Jahre in Europa, Curt Elschner, ist eine schillernde Figur, die einen Aspekt des Nationalsozialismus sehr anschaulich wiederzugeben vermag. Elschner hatte kurz nach dem Ersten Weltkrieg das Hotel Excelsior gegenüber dem Anhalter Bahnhof im Zentrum Berlins gekauft, in Schwung gebracht und war darüber schnell sehr wohlhabend geworden. In diesem Hotel konnte man nicht nur übernachten und in vielen unterschiedlichen Restaurants und Bars sich verköstigen lassen: ein „Prunksaal“ war künstlerisch mit Glasfenstern von Religionsvertretern gestaltet worden, neben einem Papst, Luther und Buddha auch Moses. Der „Excelsior-Tunnel“ verband ab 1928 das Hotel und den Anhalter Bahnhof unterirdisch miteinander. Zudem gab es im Hotel einen Fahrkartenverkauf für die Reichsbahn, und man warb mit schnellem Anschluss an den Flugverkehr. „Die amtliche FahrkartenAusgabe im Hause erspart dem Gast Zeit und Mühe. In nur 10 Minuten fährt ein Taxi bis zum Berliner Zentralflughafen in Tempelhof“, kündigte ein Werbeprospekt an.

57 Wie stark sich die gesellschaftlichen Zustände seit dem Zweiten Weltkrieg gewandelt haben, zeigt sich daran, dass heute weniger ein Problem der Namenlosigkeit als vielmehr das Problem fehlender Anonymität besteht (Matthews 2010).

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Abbildung 3.6: Geschirr des Hotel Excelsior vom Alten Flughafen Tempelhof; obere Reihe: zwei Teile einer Vorlegeplatte; unten links: flacher Teller; unten rechts: Aschenbecher

Genau lässt sich die Geschichte nicht nachvollziehen, jedoch hatte Elschner im Jahre 1928 Hitler oder einer ganzen Gruppe der NSDAP die Übernachtung im Hotel verweigert, wahrscheinlich aus Sorge um damals arriviertere Gäste, die Hitlers Anwesenheit gestört hätte. Dieses Ereignis blieb Hitler persönlich wohl im Gedächtnis, so dass es ab 1933 allen SS-Angehörigen und späterhin auch allen NSDAP-Mitgliedern verboten war, in dem Hotel zu speisen oder gar zu nächtigen. Nun lag das Reichssicherheitshauptamt, also die SS- und GestapoZentrale, in allernächster Nachbarschaft des riesigen Anhalter Bahnhofs und des Hotels. Elschner versuchte deshalb ab 1938 mit unzähligen Briefen und Eingaben in serviler Manier, seinen Antisemitismus nachzuweisen, um diesen Bann rückgängig zu machen. Er ließ seine Angestellten Bittgesuche schreiben, er erweiterte die ansehnliche Hotelbibliothek um Bände eindeutig nazistischen Inhalts – ohne Erfolg. Auf eine endgültige Ablehnung Himmlers hin zog er sich vor Kriegsende auf sein zweites Hotel auf der Wartburg in Eisenach zurück (Kellerhof 2007, 194–203). Hier zeigt sich uns ein schäbiger persönlicher Opportunismus, wie er sicherlich weit verbreitet war. Man vermied die Nazis, solange dies geschäftsschädigend war, richtete sich jedoch schnell an gewandelten politischen Verhältnissen aus und pries seine Feindlichkeit Juden gegenüber, so-

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bald das dem Profit zweckdienlich schien. Das Wissen um diesen Hintergrund stammt aus Archiven. Archäologisch tritt uns nur der Name entgegen, und aus den Zusammenhängen ergibt sich ein weites Netzwerk an Beziehungen unterschiedlicher Art von Tempelhof zum Anhalter Bahnhof, zu den Porzellanfabriken in Oberfranken und Thüringen und zu den Gewaltapparaten. Es ist auffällig, dass sich diese Beispiele entweder auf Personen beziehen, die nach der Nazi-Zeit in Tempelhof als Soldaten, mithin auf Seiten der Machthabenden, stationiert waren, oder auf Personen, die dort unternehmerisch tätig waren. Im Falle der ZwangsarbeiterInnen und Kriegsgefangenen ist eine versuchsweise Entdinglichung anhand archäologischer Objekte in Tempelhof unmöglich. In gewissen Grenzen gibt es jedoch andernorts Zugänge von Material zu Personen. So, wenn Ronald Hirte (1999, 50) vier Nummern, die in eine im KZ Buchenwald gefundene Aluminiumschüssel per Hand eingeritzt sind, zu ihren vermutlichen Besitzern zurückverfolgt: die Zahl 2560 verweist auf den Polen Tadeusz Sanaszek, 13436 verweist auf einen namenlosen Menschen sowjetischen Ursprungs, aus der Zahl 44709 kann auf den Franzosen Jean Bourau geschlossen werden, der im selben Transport wie Jorge Semprun deportiert worden war; schließlich steht 54085 für den Belgier Robert Coppenolle. Wahrscheinlich ist, dass die Schüssel selbst von den Personen in Reihenfolge besessen und benutzt wurde. Es ist wohl kein Zufall, dass einzig eine aus der Sowjetunion stammende Person namenlos bleibt. Wichtig an den Funden ebenso wie den Nummern auf der Aluminiumschüssel aus Buchenwald ist, dass die Dokumentation der Verdinglichung es erlaubt, eben diesen Vorgang rückwärts zu beschreiten, auch wenn die Persönlichkeiten dieser Menschen sehr viel unschärfer bleiben als im Falle Curt Elschners. Wie steht es aber um den großen sonstigen Fundbestand aus Konzentrationslagern, Gefängnissen, Zwangsarbeitslagern und anderen Plätzen der Unterdrückung? Wir wissen, dass Hunderte, wenn nicht Tausende von ZwangsarbeiterInnen gleichzeitig auf dem Tempelhofer Flugfeld ihrer Sklavenarbeit nachgehen mussten, doch wir kennen zumindest derzeit weit weniger als 50 Namen. Dies ist eine für die Archäologie typische Situation: es herrscht eine kollektive Anonymität, die dann auch unsere historischen Rekonstruktionen durchdringt und sie schal und suspekt macht aufgrund ihres hohen Abstraktionsgrades. Friedrich Nietzsche beschreibt die Beunruhigung und Verlegenheit, die mit solchem Unwissen einhergeht: „Etwas Unbekanntes auf etwas Bekanntes zurückführen erleichtert, beruhigt, befriedigt, giebt außerdem ein Gefühl von Macht. Mit dem Unbekannten ist die Gefahr, die Unruhe,

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die Sorge gegeben, – der erste Instinkt geht dahin, diese peinlichen Zustände wegzuschaffen. Erster Grundsatz: irgend eine Erklärung ist besser als keine.“ (Nietzsche 1999, 93)

In der Archäologie werden in der Tat immer wieder Versuche unternommen, die Anonymität des Materiellen zu durchbrechen, wobei vor allem Gräberfunde hierzu Anlass geben. Eine Variante sind narrative Inventionen (z.B. Van Dyke 2015), eine neuere 3D und andere visuelle Mittel (Forte 2014). Im historischen Bereich zählen hierzu historische Romane wie der oben erwähnte von Jonathan Littell (2008). Solchen Versuchen haftet eine (eingeschränkte) Beliebigkeit und Relativierung der historischen Wahrheit an. Das größte Problem in Zusammenhang mit dem Nazi-Apparat besteht jedoch in der Gefahr einer unziemlichen Identifizierung mit seinen Opfern, besonders, wenn dies auf Seiten der Nachfahren von Tätern und Täterinnen geschieht (Jureit und Schneider 2010; s. aber Konitzer 2012). Ist also, wie Gilead (2015) postuliert, gerade für die Archäologie der NaziZeit ein objektivistischer Standpunkt als wahrheitsleitend vorzuziehen? Muss man Gilead folgen und aufgrund der Holocaustleugner interpretative Enthaltsamkeit als Prinzip des Umgangs mit materiellen Resten einfordern? Sollen wir die Entdinglichungsversuche als fehlgeleitete Imaginationen aufgeben? Meines Erachtens spricht gegen ein solches Bescheiden mit der reinen Beschreibung des archäologischen Materials, dass hierdurch die Verdinglichung der NS-Opfer nur noch weiter getrieben wird. Welche Strategie der „Deanonymisierung“ ist dann aber ethisch vertretbar – wenn Objektivismus als auch die auf Empathie beruhenden Ansätze der Narrativierung in die Irre führen? Und wie weit kann Entdinglichung überhaupt führen, bevor sie scheitert? Im nächsten Kapitel weise ich auf einige narrative Möglichkeiten in Form von Szenarien hin, es bleibt aber zunächst das von Didi-Huberman im Angesicht der Aporie eines jeden Darstellungsversuchs (nicht nur des Holocaust, sondern der Untaten des gesamten NaziRegimes) proklamierte „trotz allem.“ Ella Littwitz, eine dem Ausgrabungsprojekt in Tempelhof verbundene israelische Künstlerin, hat einige Ausgrabungsfunde in einer Installation in ein Kunstwerk verwandelt (s.S. 304–309). Ein Aspekt davon war die Wiederbelebung eines Schallplattenfragments, auf dem man Bruchteile einer Sekunde jeweils Stimmen hören konnte, offensichtlich aus der frühen U.S.-Besatzungszeit; sie verwendete dies ebenso wie eine abgewandelte, vergrößerte Wiedergabe von Filmresten, die wir gefunden hatten. Wo ArchäologInnen aus den räumlichen Verteilungen und Relationen der Dinge untereinander Sinn zu erschließen trachten, war für Littwitz die ursprüngliche Medialität der Funde der entscheidende Zugang zur Vergangenheit. Es kann durchaus sein, dass Kunst einer der Wege

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zur Entdinglichung ist, vielleicht der beste uns zur Verfügung stehende. Der vermeintliche Gegensatz von Wissenschaft und Kunst ist durchaus nicht nur an dieser Stelle in Auflösung begriffen (Parzinger et al. 2014). Letztlich ist aber die obige Alternative zwischen „streng wissenschaftlicher“ archäologischer Erklärung und affektiver Beziehung zu Dingen als anerkennungsheischender Interpretation insgesamt unzureichend. Anonyme Dinge aus Ausgrabungen bilden ein sehr eingeschränktes Reservoir für Entdinglichungen. Statt verzweifelt nach Namen und Individuen zu suchen, sollte in der Materialität des Archäologischen das Potenzial der Erinnerung an die ewig anonym Bleibenden zum Vorschein gebracht werden. Wenn alles Erinnern ein Vergessen ist, alles Zeigen ein Verschweigen, ist Anonymität nicht einmal der schlechteste Ausgangspunkt. Denn die Unmöglichkeit eines Rückbezugs auf eine konkrete Person verweigert den oben erwähnten falschen Dispens der erleichternden Erinnerungsfähigkeit. Doch die Anonymität der Dinge muss nicht nur, wie Nietzsche formuliert, als eine „Unruhe“ und „Gefahr“ des Unbekannten ausgehalten werden; vielmehr ist die Namenlosigkeit als Eigenschaft der Dinge Bürge für die Unartikulierbarkeit von Erlebtem. Archäologie hat mithin die paradoxe Aufgabe, die von Dingen ausgehende Bürgschaft dieser Unartikulierbarkeit in Worte zu fassen. Ein Objekt aus dem Bereich einer Baracke für sowjetische Kriegsgefangene im Weserflug-Lager in Tempelhof mag dies veranschaulichen. Von dort stammt ein kleines Messingmedaillon von 2,6 cm Durchmesser (Abb. 3.7). Der flache Gegenstand mit einem zerbrochenen Aufklapp-Mechanismus hat zwei seitliche Ösen. Die Außenseite ist mit Serien von feinen Längsrillen verziert und hat eine dezentrierte Fassung für einen einstmals vorhandenen Schmuckstein. Der Deckel enthält noch ein bräunliches, lederartiges Material. Das ursprünglich in dem Medaillon befindliche Objekt, wahrscheinlich ein Bild, vielleicht aber auch ein kleiner Gegenstand, eine Haarlocke, ist verloren. Der Gehalt der Erinnerung hat den Krieg und die Brandbomben nicht überstanden. Welcher Mann58 hat hier ein immer wieder betrachtetes, ihm teures Bild, ein wertvolles Erinnerungsstück seiner Verlobten, eine symbolische Verbindung zu Eltern oder Kindern in der Asche der Baracke hinterlassen müssen? Aus dem leeren Medaillon starrt uns ein schmerzlicher Verlust an. Das ihm teure Objekt konnte der Kriegsgefangene nach der Bombennacht nicht wiederfinden noch bergen. Er wusste nicht einmal, dass von dem Erinnerungsstück die leere Hülle

58 Baracke 8, in deren Bereich das Medaillon gefunden wurde, war für sowjetische Kriegsgefangene bestimmt gewesen, auf Skizzen als „russische Männer“ bezeichnet.

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zurückgeblieben war, sondern verlor mit dem Medaillon die gegenständliche Erinnerung an seine Erinnerung. Abbildung 3.7: Medaillon aus Baracke 8, Tempelhof

Doch kann das leere Medaillon nicht auch eine ganz andere Funktion gehabt haben? Ein Rahmen für ein Heiligenbild, wie es manchmal von orthodoxen Sowjetbürgern getragen wurde? Vielleicht war es gar nicht von einem sowjetischen Gefangenen, sondern jemand anderem? Der kleine zerbrochene Metallgegenstand drängt uns nicht nur den herben Erinnerungsverlust eines Menschen im Zweiten Weltkrieg auf, sondern er verbürgt in seiner bruchstückhaften Form und im ungewissen Fundkontext die Unmöglichkeit unseres eigenen Erinnerungsvermögens. Dieser Erkenntnis darf allerdings nicht so stattgegeben werden, dass wir uns ins deskriptive Beschweigen zurückziehen. Mit dieser Problematik beschäftige ich mich eingehender in Kapitel 4.

Gebrochene Temporalitäten und materielle Welt

Ich hatte schon die traumatischen Effekte und die Auflösung linearer Zeit in Zusammenhang mit Zeugenschaft kurz erwähnt. Wie ist das bei Gegenständen mit Bürgschaftscharakter? Schillers Gedicht war mir Anlass, die temporale Umdrehung der Verpflichtungsverhältnisse unter Bürgschaftsbedingungen anzudeuten (s.S. 132–134). Insgesamt ist das Phänomen der Bürgschaft von komplexer multitemporaler Natur. Diese wird zu einem elementaren Problem für eine traditionelle Archäologie, die sich mit nicht-linearer Zeit bestenfalls im Sinne von zyklischen, meist als rituell interpretierten Phänomenen auseinandersetzt (Bradley 1991; Ickerodt 2014). In Kulturerbe-Diskursen und manchen Arbeiten zur sym-

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metrischen Archäologie finden wir allerdings Vergangenheit, die nicht vergeht, und zwar aufgrund der simplen ontologischen Tatsache, dass die materiellen Formen in der Gegenwart existieren, vor und nach ihrer Freilegung, sowie völlig unabhängig von ihrem Alter (Witmore 2013). Für Cornelius Holtorf (2005, 6) bedeutet dies, dass „as far as I am concerned, the practices of archaeology in the present are far more important and also more interesting than what currently accepted scientific methods can teach us about a time long past. [...] Archaeology remains significant, not because it manages to import actual past realities into the present but because it allows us to recruit past people and what they left behind for a range of contemporary human interests, needs, and desires.“

Auf die Nazi-Zeit bezogen enden solche Aussagen in einer höchst problematischen, ja zynischen Haltung. Eine archäologische Herangehensweise an das rassistische Regime unter der Voraussetzung einer naiven Auflösung der Vergangenheit-Gegenwart-Differenz wäre eine wissenschaftliche Katastrophe politischethischer Dimensionen. Das Leiden der Opfer verschwände zugunsten der Ruinenästhetik und ihrer Medialisierung. So kann mit einer traumatisch-gegenwärtigen Vergangenheit nicht verfahren werden. Die Multitemporalität materieller Dinge von Lagern, Folter und Verschleppung ist anders aufzulösen. Dinge existieren natürlich in der Gegenwart, doch dürfen die unterschiedlichen Arten des Nicht-Gegenwärtigen, der Lücken, nicht über einer flachen Dingexistenz vergessen werden. Eine undialektische Fokussierung auf Assemblagen von Sachen, Objekten, Menschen und Institutionen als ein Netzwerk ohne Zeittiefe kann jenen in keinster Weise gerecht werden. Als Bürgen sind Dinge nämlich immer auch gegenwärtige Zeichen für vergangene Ereignisse. Jede Einschätzung dieser diachronen Dimension von Ruinen und Überresten als nachrangig im Verhältnis zur Gegenwart kolonisiert die Vergangenheit mit eigenem Begehren (Bernbeck 2015b). „The Past is a Foreign Country“ betitelte David Lowenthal (1999) ein einflussreiches Buch. Damit kritisierte er auch diejenigen, die den Aufschrei der Kolonisierten nicht hören wollten oder wollen. Denn für sie kann eine jede Epoche als Projektionsfläche der eigenen Wünsche, als Mülleimer der eigenen Respektlosigkeit dienen. Sicher wird der Bürgschaftscharakter des Materials bedingt durch den Standpunkt in der Gegenwart, mithin aber auch durch eine für diese Dimension konstitutive Diachronie. Komplexer noch werden die multitemporalen Zustände, wenn wir versuchen, Jean Amérys Forderung nach Zeitumkehrung zu berücksichtigen.

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„Mein Ressentiment, das mein persönlicher Protest ist wider das moralfeindliche natürliche Zeitverwachsen und in dem ich den eigentlich humanen absurden Anspruch der Zeitumkehrung erhebe, – ich möchte, dass es auch eine geschichtliche Funktion ausübe. Würde es die Aufgabe erfüllen, die ich ihm stelle, dann könnte es historisch als ein Stadium moralischer Fortschrittsdynamik der Welt stehen für die ausgebliebene deutsche Revolution. Der Anspruch ist nicht weniger absurd und nicht weniger sittlich als das individuelle Verlangen nach Reversibilität irreversibler Prozesse.“ (Améry 1977, 123)

Hier schreibt ein Gefolterter gegen die gelassene Historisierungserwartung seiner Folterer an. Das Kapitel „Ressentiments“ bei Améry ist letztlich ein Aufschrei gegen die Objektivierungs- und closure-Mentalität in der Gesellschaft allgemein, wobei hiermit zentral auch die Geschichts- und damit archäologischen Wissenschaften gemeint sind. Daraus entsteht die Forderung nach einem „selbstmisstrauischen“ Umgang mit der Vergangenheit (Tillmanns 2012, 133). Eine andere, aus Amérys Zeit des Ressentiments hervorgehende temporale Dimension einer solchen Archäologie ist der permanent drohende Einbruch der Vergangenheit in die Gegenwart. Strukturell ist dieser Effekt der traumatischen Zeit ähnlich, wie zwei kurzen Episoden aus der Ausgrabung auf dem Tempelhofer Feld verdeutlichen sollen. Bei den Ausgrabungen des Jahres 2013 am Nordrand des Tempelhofer Feldes hatten wir Reste von Kondombehältern sowie ein Kondom gefunden. Der eine Deckel (Abb. 3.8) war von der Firma „Dublosan“ aus Berlin-Neukölln59 und konnte durchaus nach Berichten von ehemaligen Zwangsarbeitern aus einem Automat im Krieg gezogen worden sein (Elola 2005, 42). Wir wussten zudem, dass in dem Zwangsarbeitslager Männer und Frauen gelebt hatten, die aber durch einen Stacheldrahtzaun voneinander getrennt gewesen waren. Wie selbstverständlich nahm ich dennoch an, dass diese Kondom-Funde Indizien für sexuelle Aktivitäten seien, die zwischen Zwangsarbeitern und -arbeiterinnen abgelaufen waren. Eines Tages, ich saß in einem ICE auf dem Weg von Frankfurt nach Berlin und sinnierte über die Ausgrabung, fiel mir plötzlich ein, dass ich selbst den Ausgrabungsbericht des Jahres 2012 mit einem langen Zitat aus einem Dokument des Legationsrats und NSDAP-Mitglieds Gotthold Starke eingeleitet hatte, in dem von „Zuhälterei“ und „Unzucht“ der deutschen Lagerführun-

59 Für ähnliche Funde aus Buchenwald und deren potenziellen Zusammenhang mit dem „Lagerbordell“ s. Hirte (1999, 48); zum historischen Buchenwalder Kontext s. Kogon (1946, 148–150).



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gen mit Zwangsarbeiterinnen in den Lagern Berlins die Rede ist (Bernbeck et al. 2013, 1; zum Gesamttext des Starke-Berichts s. Bremberger 2008b). Damit bekamen das Kondom und die Behälter plötzlich eine ganz andere Bedeutung: Konnten sie nicht von derartigen Vergewaltigungen stammen? Ich kannte den Bericht, ich hatte die Funde gesehen, und doch hatte ich nicht daran gedacht, beides zusammen zu bringen. Nunmehr war plötzlich die genaue Stelle, an der wir Kondome und deren Behältnisse gefunden hatten, von verwandelter Bedeutung. In einem Falle war es ein Splitterschutzgraben für Sowjet-Frauen am Columbia-Damm, dessen Nutzung augenblicklich in völlig neuem Licht erschien (Pollock und Bernbeck 2016). Hieß dies doch, dass Splitterschutzgräben nicht allein, wie in Interviews und Erinnerungen mit ZwangsarbeiterInnen eindrücklich erzählt, Stätten des angstvollen Wartens während der Fliegerangriffe waren, sondern zu anderen Zeiten potenziell Orte sexueller Gewalt. Solche Zusammenhänge mögen systematisch erforschbar sein, jedoch tendieren Einsichten bei dieser Art von Ausgrabungen eher dazu, als Einfälle daherzukommen: nicht im Sinne einer Idee, sondern eines ins Bewusstsein einstürzenden Äußeren. Die Vergangenheit bricht in die Gegenwart ein. Auch wenn dies im beschriebenen Fall der Grabung natürlich in nicht-traumatischer Weise erfolgt, hat dieses Einfallen des Vergangenen in die Gegenwart dennoch einen Anstrich des Belastenden und Beklemmenden. Abbildung 3.8: Aluminium-Deckel einer Dublosan-Kondomdose aus dem Bereich der Weserflug-Zwangsarbeitslager für sowjetische und französische Kriegsgefangene, Berlin-Tempelhof

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Auch auf ganz andere Art kann diese Vergangenheit einbrechen. So wurde am 15.8.2013 bei den Ausgrabungstätigkeiten im Bereich des Zwangsarbeitslagers der Firma Weserflug eine sowjetische Handgranate entdeckt. Um diese durch Sprengung zu entschärfen, musste der Columbiadamm, eine größere Ost-WestVerkehrsader in Berlin, für zwei Stunden gesperrt werden. Derartige Zwischenfälle kommen in den städtischen Zentren der Bundesrepublik Deutschland recht häufig vor, aber meist werden diese Funde schlicht als für das Alltagsleben störend und gefährlich empfunden. Sie sind eine Vergangenheit in der Gegenwart, die möglichst schnell entfernt werden soll. Im Kontext einer archäologischen Ausgrabung verkompliziert sich jedoch diese chronopolitische Verdrängung, und das bedrohliche Objekt, auch wenn durch Zerstörung unschädlich gemacht, ist gleichzeitig ein Memento für einen auf diesem Terrain historisch abgelaufenen, sinnlosen letzten Kampf um das Flugfeld und seine Eroberung durch sowjetische Truppen zwischen dem 23. und 26.4.1945 (Wenz 2006, 142). Damals waren an der Fundstelle die letzten Baracken der ZwangsarbeiterInnen längst abgeräumt worden. Doch die Unklarheit über das Ende der Lager und damit über das Schicksal derjenigen, die dort arbeiteten, drängt sich durch einen derartigen Fund umso stärker in den Vordergrund: sein Einbruch in die Gegenwart markiert auf recht brutale Weise gleichzeitig die Wissenslücke zwischen den letzten von uns im Archäologischen gefundenen Lebenszeichen der ZwangsarbeiterInnen im Frühjahr 1944 und dem „Kampf um Berlin“ im April 1945. Die Granate bezeugt unbezeugte Zeit. In einer Archäologie der NS-Zeit zwingen sich uns Einsichten auf, ohne dass eine systematische Steuerung der Erkenntnisse, ein methodisch „sauberes“ Vorgehen möglich wäre, wie dies so schön auf Deutsch heißt. Auch insofern sehe ich eine Parallele zu Traumatisierungen, denn Caruth (2000, 87) beschreibt diesen Effekt als Besessenheit: die Person wird von erschreckenden Gedanken an vergangene Szenen „willkürlich in Besitz genommen.“ Hier ist die Parallele zwischen den zwei archäologischen Beispielen und dem Trauma sehr partiell, in der Brüchigkeit der Analogie aber verräterisch. Wir können bestimmte Arten von Assoziationen und das Weiterspinnen von Gedankenketten in der Sphäre archäologischen Interpretierens als „Spekulation“ abtun, was nichts anderes bedeutet, als die Besessenheit weit von sich zu weisen. Diese Haltung gilt nicht nur als angemessen, sondern als fundamental erstrebenswert in der akademischen Welt (besonders Deutschlands). Doch erst die Offenheit für das Einfallen der Vergangenheit in die forschende Gegenwart ist die Bedingung für die Möglichkeit dessen, was Walter Benjamin (1992, 94c) als „Aufblitzen“ von Ähnlichkeiten und Verbindungen umschreibt. Über die Geschichte selbst sagt er, „das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei. Nur als Bild, das auf Nimmerwieder-

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sehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten“ (Benjamin 1992b, 143; Hervorhebung im Orig.). So verhält es sich auch mit der Ungreifbarkeit des Moments des Besessenseins im Angesicht eines Fundes oder Befundes: ich kann dieses Ereignis erzählen, ich kann es jedoch nicht willentlich in seiner überwältigenden Schärfe wieder hervorrufen, es kann nicht leicht weitergegeben und in Standardnarrative integriert werden. Archäologien, die sich der blitzartigen Besessenheit durch vergangene Verhältnisse aus methodischen Gründen versperren, können die Geschichte des menschlichen Leidens nicht gänzlich erfassen, weil sie diese Erniedrigungen der Vergangenheit mit dem Stacheldraht der Skepsis von der Gegenwart trennen. Der rationale Diskurs dient einer so grundsätzlichen Abwehr des Affiziert-Werdens, dass die Vergangenheit leere Hülse bleibt. Das betrifft offensichtliche Hinterlassenschaften wie den Titusbogen in Rom, neuassyrische Reliefs im Britischen Museum, den Pergamon-Altar im Berliner Pergamon-Museum oder die Befunde in Herxheim, aber auch die gesamte Strukturgewalt der sozialen Ungleichheit, welche bis heute als „Entstehung sozialer Komplexität“ neutralisiert wird.

Der Fall Berlin-Dahlem und die New Forensis

Am 1.7.2014 wurden an der Freien Universität beim Graben einer Rohrleitung direkt neben der zentralen Universitätsbibliothek menschliche Knochen gefunden. Die Polizei wurde geholt, da man annahm, es handele sich um die Spuren eines Verbrechens. Ebenso kam die Gerichtsmedizin hinzu, und man stellte recht schnell fest, dass die Knochen nicht rezenten Ursprungs, sondern einige Jahrzehnte alt sein dürften. Am nächsten Tag bereits berichtete die Zeitung „B.Z.“ in einer kurzen Notiz über den Fund und fügte an, unweit habe sich „bis 1945 das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik“ befunden, wo „Leichenteile ermordeter Menschen untersucht [wurden], die der KZ-Arzt Josef Mengele aus dem Vernichtungslager Auschwitz an das Institut schickte“ (B.Z. 2014). Die Knochen gelangten zunächst in die rechtsmedizinische Abteilung der Berliner Charité, wo sie soweit analysiert wurden, dass man das Zustandekommen des Befunds als einige Jahrzehnte alt identifizieren konnte, ebenso wie eine Mindestanzahl von 15 Individuen, deren menschliche Reste in der Grube gelandet waren (Grube 2 auf Abb. 3.11). Danach wurden sie an das Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin weitergegeben und von dort nach einer gewissen Zeit des Aufhebens an das Krematorium in Berlin-

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Ruhleben, wo sie im Dezember 2014 eingeäschert wurden, so dass jede weitere Nachforschung nunmehr unmöglich ist (Kühne 2015a). Danach trugen das gerichtsmedizinische Institut, das Präsidium der Freien Universität, der Historiker Götz Aly und in einem Kommentar ich selbst einen Konflikt in den Zeitungsmedien aus. Im Zuge dessen schlug ich eine Gedenkveranstaltung zum Tag der Befreiung von Auschwitz am 27.1.2015 vor, die von Studierendenseite scharfe Kritik bekam (Jestadt 2015). Bei dem Sachverhalt dreht es sich nicht, wie von Götz Aly (2015) der Universität unterstellt, um ein absichtliches Vernichten von Evidenz aus Auschwitz. Vielmehr führte eine Abfolge von peinlichen Fehleinschätzungen und mangelndem Interesse zu einem in der Sache schändlichen Ergebnis: der Einäscherung von potenziell aus Auschwitz stammenden menschlichen Überresten noch 70 Jahre nach Befreiung des Lagers. Die Gesamtheit der beteiligten Stellen, von der Freien Universität über die Polizei bis zur Gerichtsmedizin, dem Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin bis zur Max Planck-Gesellschaft zeigt auf allzu deutliche Weise, wie sich auch heute von einer wirklichen Vergangenheitsbewältigung nicht sprechen lässt. Dabei war die Freie Universität Berlin erst nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet worden, hatte also historisch keine Last zu tragen – ganz im Gegensatz zur Max Planck-Gesellschaft als Erbin der 1911 gegründeten Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, zu der auch das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik (im Folgenden KWIA) gehörte. Mir geht es hier nicht um Schuldzuweisungen sondern um die Frage nach dem ursprünglichen Anlass des Vergrabens der Knochen. In den Zeitungen waren im Frühjahr 2015 bestenfalls vage Vermutungen geäußert worden, Mengele habe aus Auschwitz menschliche Körperteile nach Berlin schicken lassen (Bartélémy 2015). Die Hauptquelle für alle derartigen Berichte ist Miklós Nyiszlis (1963, 20) Bericht über seine erzwungene, aber auch enge Zusammenarbeit mit Mengele in Auschwitz, die er, auf ein Vorwort Bruno Bettelheims folgend, mit diesen Worten einleitete: „As chief physician of the Auschwitz crematoriums, I drafted numerous affidavits of dissection and forensic medicine findings which I signed with my own tattoo number. I sent these documents by mail, counter signed by my superior, Dr. Mengele, to the BerlinDahlem address of the ‚Institut für Rassenbiologische und Anthropologische Forschungen‘, one of the most qualified medical centers of the Third Reich. It should still be possible to find them today in the archives of this Research Institute. [...] Done at OradeaNagyvarad, March 1946.“ (Nyiszli 1963, 20)

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Nyiszli schrieb diesen Text auf Ungarisch im ersten Jahr nach Kriegsende und erinnert sich darin auch präzise an eine Szene, in der Mengele zwei körperlich behinderte jüdische Männer, Vater und Sohn, töten ließ, um die Skelette als Beweis für die „Degeneration der jüdischen Rasse“ zu erhalten. „They must be prepared and their skeletons sent to the Anthropological Museum in Berlin“, soll Mengele befohlen haben (Nyiszli 1963, 132). Lösch (1997, 417) vermutet, dass damit ebenfalls das KWIA in Berlin-Dahlem und eine dort aufzubauende „Erbbiologische Centralsammlung“ gemeint war. Beschreibungen Nyiszlis über die von ihm nach Berlin-Dahlem gesandten Pakete bleiben allgemein. „I had to keep any organs of possible scientific interest, so that Dr. Mengele could examine them. Those which might interest the Anthropological Institute at Berlin-Dahlem were preserved in alcohol. These parts were specially packed to be sent through the mails. Stamped ‚War Material – Urgent‘, they were given top priority in transit. In the course of my work in the crematorium, I dispatched an impressive number of such packages.“ (Nyiszli 1963, 54)

Obwohl wir also wissen, dass der ungarische Pathologe eine beträchtliche Anzahl Sendungen nach Berlin expedieren musste, soll die einzige, für die er auf einen skeletalen Inhalt verweist, an ein anthropologisches Museum gegangen sein. Die spezifische Erwähnung dieses Falls hat aber wohl weniger mit der Sendung von Knochen zu tun als mit Nyiszlis Erinnerung an die besonders schrecklichen Umstände, unter denen diese menschlichen Reste mazeriert wurden, nämlich in einem kochenden Topf, aus dem unwissend andere Häftlinge langten, in der Meinung, es handele sich um das Zubereiten einer Mahlzeit ... Wie eng die Beziehungen zwischen Auschwitz und Berlin-Dahlem waren, und wie stark Mengele selbst ein Abhängigkeitsgefühl vom KWIA in Dahlem vermittelte, zeigt sich an Nyiszlis (1963, 56) nachträglich gestellter, banger Frage: „Was it conceivable that Dr. Mengele, or the Berlin-Dahlem Institute, would ever allow me to leave this place alive?“ Handelte es sich bei den 2014 in Dahlem gefundenen Knochen um Opfer aus Auschwitz, so ergibt sich eine komplexe Anschlussfrage: war diese Grube hastig gegen Kriegsende angelegt worden, um die Evidenz vor den anrückenden Alliierten zu verbergen? Dann wäre die Einäscherung im Dezember 2014 im juristischen Sinne so etwas wie eine Beweisvereitelung gewesen. Doch so eindeutig ist der Verdacht eines absichtlichen Versteckens gar nicht (Biagioli 1992, 204– 205): Kann es nicht auch sein, dass die im KWIA „forschenden“ WissenschafterlerInnen in ihren Tätigkeiten nichts ethisch Anstößiges sahen und der Um-

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gang mit menschlichen Überresten mithin in dieser Mentalität nichts als eine gedankenlose „Entsorgung“ war? Hier betreten wir den Bereich, den Weizman (2014) als „Forensis“ bezeichnet. Dabei geht es um das Beurteilen von, wenn nicht das Richten über abgelaufene Prozesse und vergangene Ereignisse. Dies muss und wird in einer Archäologie der Nazi-Zeit auf jeden Fall eine wichtige Rolle spielen, weshalb ich etwas näher auf den Hintergrund und das Potenzial einer solchen forensischen Praxis eingehe. Die forensischen Sparten der physischen Anthropologie, der Archäologie, Linguistik und verwandter Wissenschaften existieren im Schatten von Gerichten, Kriminalpolizei, Staatsanwaltschaften und des Militärs. Forensik ist im Sinne Althussers (1977) an „Repressive Staatsapparate“ gebunden. Der Forensik setzt Weizman seinen Begriff der New Forensis entgegen, wobei der richtendanalytische Blick der Staatsorgane in einen antihegemonialen umgedreht werden soll, „to resist state and corporate violence and the tyranny of their truth“ (Weizman 2014, 11). Dabei betrifft der eine Forensis interessierende Zeitraum sicher zunächst die Gegenwart mit ihren brennenden Problemen, die nahe Zukunft und die jüngste Vergangenheit in einem Zeitraum, der für Geschädigte oder deren Nachkommen juristische und/oder moralisch pressierende Relevanz besitzt. In diesen Rahmen der jüngeren Vergangenheit gehört nicht nur die NaziZeit, sondern potenziell auch der Erste Weltkrieg (s. dazu etwa Olusoga 2014), das Kolonialzeitalter samt der Sklavenhaltung im 19. Jh., aber auch die seit Columbus betriebene Auslöschung ganzer Populationen auf den amerikanischen Kontinenten sowie die Genozide des 20. Jhs., angefangen mit dem osmanischen an den Armeniern. Ich bin allerdings der Meinung, die von Weizman und KollegInnen formulierten Ideen seien auch auf sehr viel ältere Zeiten als die erwähnten übertragbar. Im forensischen Bereich bleiben Dinge nicht passive Bürgen, sie werden zu Zeugen. Man kann dies schon an der Ausdrucksweise forensischer SpezialistInnen ablesen. So betont Clyde Snow die Macht des Materiellen: „Bones make good witnesses – although they speak softly, they never lie and they never forget“ (Snow und Fitzpatrick 1989, 243). Es ist vielleicht nicht verwunderlich, wenn in Forensik bewanderte WissenschaftlerInnen, da sie öfter in Gerichtsverfahren herangezogen werden, von den Objekten, die sie untersuchen, als „Zeugen“ sprechen. Wie schon erwähnt, findet man diesen Ausdruck als Metapher auch in archäologischen Texten, und ganz besonders solchen, die sich mit Hinterlassenschaften des 20. Jhs. beschäftigen. Auch Minister Steinmeier meinte, Violinen seien „Zeugen der Shoah“ (Steinmeier 2015). Wir erkennen entfernt die zum geisteswissenschaftlichen Credo gewordene Verschiebung und Auflö-

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sung der Grenzen zwischen Subjekt und Objekt sowie ein inhärentes Zugeständnis an das Handlungspotenzial der Dinge. Ist die Metaphorik des Bezeugens problematisch, so ist der Begriff im forensischen Sinne durchaus angemessen. Nun ist Bezeugen jedoch prinzipiell diskursiv. Sollen wir also von sprechenden Dingen ausgehen? Keenan und Weizman geben sich nicht mit einer vagen Metaphorik oder gar einem präsumptiven Eigenleben von Objekten zufrieden (Keenan und Weizman 2012, 65–67; Keenan 2014, 35, 38). Sie führen aus, dass und wie die Sachwelt in einem urteilenden Forum zum Zeugen wird und was es mit der Fähigkeit der Dinge zum Diskurs auf sich hat. Schon in der antiken Rhetorik, etwa in Quintilian (IX, 2,31), kannte man das Sprachvermögen und das Personenhafte von Dingen als Prosopopöie (Lausberg 1990, 411–412). Sie wurde angesehen als wichtiges Mittel des Überzeugens. Dinge sprechen lassen ist ein Akt des Übersetzens, und das Verständnis für eine „Sprache der Dinge“ benötigt Mittler – dies können Menschen, aber heutzutage auch Datenprozessoren, Videocameras und anderes sein (Weizman 2014: 9–10). Das grundsätzliche prosopopoietische Medium der Dinge bleibt letztlich aber immer das menschliche Subjekt. Weizman entwickelt das hybride Konzept der „Forensis“ aus Praktiken und Konzepten der physischen Anthropologie, der Linguistik, Architektur, Archäologie, IT und etlichen anderen traditionellen Wissenschaften. Der gesamte forensische Prozess spielt sich in zwei Sphären ab. Im Feld werden Objekte gesammelt; im Gegensatz etwa zu Bourdieus Begriff des champs/Feld spricht Weizman jedoch explizit von einem force field, einem konfliktuellen Kräftefeld. Die zweite Sphäre ist das Forum, bestehend aus drei Elementen: (1) Objekte bzw. Orte, die (2) mittels ÜbersetzerInnen vor (3) einer „assembly of the public“ zur Sprache gebracht werden (Weizman 2014, 9). Zentral für die Forensis sind sicher alle diese Elemente, jedoch steht die Übersetzung im Zentrum. Traditionelle Forensik konstruiert das Objekt als anthropomorphisierten Beweis. Keenan und Weizman (2012, 66) beschreiben dieses traditionelle Vorgehen so: „The act of personification – the one that treats inanimate things as if they were humans – also renders them more human. Humans, after all, forget and they do lie. The object of [...] interest is not simply subjectified – it becomes something different, a sort of super-subject.“ Die Subjektivierung des Objekts gibt den Anschein einer objektiven Wahrheit. Die New Forensis hingegen verfährt anders. „The forums in which facts are debated are the technologies of persuasion, representation, and power – not of truth, but of truth construction“ (Keenan und Weizman 2012, 67, Hervorhebung im Orig.). Um im Sinne der Forensis tätig zu werden, muss also ein politisches Verständnis von Konflikten vorhanden sein, welches die materielle Seite als Be-

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zeugnis nicht nur mit einbezieht, sondern als einen Kern von Problemen sieht. Ebenso wichtig ist der prosopopoietische Umgang mit dieser Zeugenschaft, der Übersetzungsprozess. Wie essentiell tatsächlich das Zeugnis von Dingen in Gerichtsverfahren mit historischer Dimension sein kann, zeigt der Prozess des Holocaustleugners David Irving gegen die Historikerin Deborah Lipstadt. Ein wichtiger Teil des Verfahrens betraf die Behauptung der Anklage, es habe in Auschwitz-Birkenau keine Vergasung gegeben, wobei Irving als Beweis das Fehlen von Einfülllöchern für Zyklon B in der Gaskammer des gesprengten Krematoriums II in Auschwitz-Birkenau anführte. Lipstadts Verteidigung hatte den Architekturhistoriker Robert van Pelt bestellt, der in Zusammenhang mit einem ganzen Expertenteam eine aus Nazifotos, U.S.-Luftaufnahmen, Materialuntersuchungen vor Ort und bautechnischen Verfahren die materiellen Überreste als Zeugen auftreten ließ (Van Pelt 2014; Keren, McCarthy, und Mazal 2004). Irving verlor den Prozess. Ist dieses Beispiel aufgrund seines Rahmens eines formellen Gerichtsverfahrens strukturell traditionell angelegt, so sind andere Beispiele für Forensis Grenzüberschreitungen, in denen Kunst und Wissenschaft, Elektronik und Ästhetik kombiniert werden, um punktuell auf strukturelle oder direkte Gewalt hinzuweisen. Das geschieht etwa bei der nachträglichen Berechnung der Drift von Flüchtlingsbooten im Mittelmeer samt der Nähe, in die sie zu anderen Schiffen kamen, ohne dass etwas zur Rettung der Insassen unternommen wurde. Daran lässt sich aufzeigen, wie sehr man im Mittelmeer Sterben-Lassen-Boote von Rettungsbooten unterscheidet, und zwar allein aufgrund der jeweiligen Bootsbesatzung (Heller und Pezzani 2014). Mittel um dies aufzuzeigen sind in diesem Fall nicht allein Worte sondern eine Ästhetik thematischer Karten, die die Drift von Booten deutlich macht, andere Objekte auf dem Wasser in ihrer zeitlichen und räumlichen Verteilung zeigt, und damit auf eine von Weizman postulierte doppelte Bedeutung von Ästhetik verweist. Einerseits wird eine „forensische Ästhetik“ zum Produktionsmittel für die Wahrhaftigkeit des Behaupteten. Hier ist Ästhetik ein aus Darstellungen resultierender Überzeugungseffekt, besonders anschaulich herausgearbeitet in Keenan und Weizmans (2012) Essay zur Identifizierung von Mengeles Leiche in einem Grab im Nossa Senhora do Rosário-Friedhof von Embu das Artes, einem Vorort von São Paulo in Brasilien. Zum anderen ist aisthesis das sensorische Potenzial, und zwar nicht nur des Menschen, sondern auch der materiellen Welt. Unterschiedliche Materialien haben je eigene Empfindlichkeiten, die ein wichtiger Teil einer forensischen Ästhetik sind (Weizman 2014: 14). Auf das Thema der Flüchtlinge im Mittelmeer bezogen gehören zum Zeugnis Karten der Strömungen, der vorherrschenden Winde oder der unterschiedlichen Wassertemperatur; ein mit Luft gefülltes Schlauchboot samt Dieselmotor trägt materiel-

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le Empfindlichkeiten in sich, die ein Auflaufen auf einen steinigen Strand gefährlich machen. Weizman und Keenan erweitern das Interesse an der juristischen Rhetorik um einen wichtigen Punkt, das Politisch-Historische. Wenn Dinge Zeugnis ablegen, geht es um Gerechtigkeit, allerdings nicht allein um die per Gerichtsverfahren, also institutionell erwirkte – oder versperrte – Gerechtigkeit, sondern insgesamt um den politischen, an hart umkämpften Themen andockenden Disput. „Having an axe to grind should sharpen the quality of one’s data rather than blunt one’s argument“ (Weizman 2014: 13). Dies mag auch nicht allein, wie bei jedem Gerichtsverfahren, in einer Relation zwischen Vergangenheit und Gegenwart begründet liegen, sondern kann ebenso das Verhältnis zwischen Gegenwart und Zukunft betreffen, was besonders im Überschneidungsbereich von Forensis und Ökologie der Fall ist. Archäologische Objekte als Zeugen im Kontext der Forensis haben wegen ihrer Empfindlichkeiten einen sachlichen, berechnenden und berechenbaren Charakter. Dinge sind im „Forum“ als Evidenz zugegen. Evidentia meint im Sinne Quintilians einen Diskurs, der durch geschickte rhetorische Strategien wirkt, der so graphisch formuliert, dass man das Gehörte zu sehen vermeint (Quintilian IX, 2, 40; s. Ueding und Steinbrink 1994, 284–285). Die das Bild begleitenden Worte sollten einen Eindruck hervorrufen, der die Bilder selbst wahr erscheinen lässt. Weizmans Haltung unterscheidet sich aufgrund seines Überzeugungsoptimismus von der der meisten ArchäologInnen, die sich zu diesen Fragen äußern. Er glaubt, den Dingen definitive Statements entlocken zu können. Dagegen meinen Shanks und Svabo (2013, 95), dass „evidence won’t speak for itself; it needs mobilizing in a case, and this requires constant vigilance and unceasing effort under an anxiety to document as much as possible, because we don’t actually know what is, has, or might be going on, and may never know.“ Der Unterschied liegt auch darin begründet, dass die New Forensis sich immer auf konkrete Fälle bezieht, in denen Strukturen, Prozesse und Ereignisse der Gewalt für eine versammelte Öffentlichkeit sichtbar gemacht werden sollen. Eine Forensis schreibt keine Langzeitgeschichte oder Vorgeschichte, sondern konzentriert sich auf Momente unerträglicher Machtausübung, ob staatlicher, wirtschaftlicher, religiöser oder anderer Art, die natürlich nicht ohne vorgängige Strukturen existieren und selbst auf Strukturen einwirken. Damit komme ich zu den Funden in Berlin-Dahlem aus dem Sommer 2014 zurück. Der Verdacht, dass es sich bei den angetroffenen Menschenknochen um Opfer aus Auschwitz handelt, ließ sich zunächst weder bestätigen noch widerlegen. Andere Möglichkeiten waren durchaus zu erwägen. Das KWIA hatte auch aus der Kolonialzeit stammende anthropologische Skelettsammlungen aus Afri-

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ka und anderen Erdteilen. Zudem waren in der Grube Marken gefunden worden, die zu einer anatomischen Sammlung zu gehören schienen, sowie ein Fläschchen mit „Procain“, einem Lokalanästhetikum, welches 1905 entdeckt und recht schnell medizinisch eingesetzt worden war und als terminus post quem für die Anlage der Grube fungiert. Abbildung 3.9: Ausschachtungen und Aufmauerung des Kellergeschosses des Henry-Ford-Baus der Freien Universität Berlin, Sommer 1958

(Pfeil: Grubenprofil. Das Dach im Hintergrund gehört zur ehemaligen KWIA-Direktorenvilla)

Zwar ist die Frage historisch zentral, woher diese Knochen kamen. Doch ebenso wichtig ist die oben angesprochene Frage, ob das KWIA bewusst Spuren eines Menschheitsverbrechens verschleiert oder achtlos menschliche Überreste aus

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Nyiszlis oder anderen Verschickungen in der Landschaft vergraben hat. Dies beinhaltet die Frage, ob den Handelnden bewusst war, dass sie verbrecherische Forschung betrieben oder ob sie ihren moralischen Kompass komplett verloren hatten. Auf eine Beweisvereitelung weisen die von Nyiszli (1963, 19) attestierten Unterlagen aus Auschwitz hin, die im Archiv des KWIA vorhanden waren, gegen Kriegsende wahrscheinlich aber von Hans Nachtsheim, einem der dortigen Wissenschaftler und späteren Professor an der Freien Universität Berlin, vernichtet wurden (Müller-Hill 2003, 525). Im Sommer 2015 wurden im Garten des ehemaligen Direktorenhauses des KWIA, heute benutzt vom Center für Digitale Informationssysteme (CeDIS) der Freien Universität Berlin, neue Bäume gepflanzt und andere Gartenarbeiten durchgeführt, diesmal unter archäologischer Begleitung. Dabei kamen neben Einzelfunden aus den Nachkriegsjahren auch weitere Gruben zutage. In diesen befanden sich ebenfalls Knochen, allerdings von Tieren. Eine enthielt ausschließlich Schweineknochen von mindestens 16 Tieren (Grube 3 auf Abb. 3.11), die andere stark gestörte Grube Knochen von Schafen und Rind (Grube 1 auf Abb. 3.11; s. Bernbeck und Greif 2015). Auffälligerweise ist bei den Schweinen ein einziges Körperteil, der Vorderlauf (ulna, radius, humerus und carpalia) in den Knochen vertreten. Bei den in wesentlich geringeren Zahlen vorhandenen Schafsknochen (mindestens drei Individuen) handelt es sich um dieselben Körperteile.60 Die Knochen sind fast durchweg an einem Ende mit einer Säge oder einem scharfen Beil abgeschnitten. Nun war bekannt, dass das KWIA Tierversuche unternahm, wobei man allerdings bislang um Kaninchen und Ratten wusste, also kleine Nager, die vor allem der Zoologe und Genetiker Hans Nachtsheim eingesetzt hatte (Schwerin 2004). Archivrecherche ergab, dass mindestens eine weitere Grube im Umfeld des KWIA bei Ausschachtungsarbeiten für den Henry-Ford-Bau der Freien Universität im Jahre 1953 angeschnitten worden war, über deren Inhalt allerdings über ein Foto hinaus keinerlei Informationen vorliegen (Abb. 3.9; Abb. 3.11, Grube 4). Auf Plänen des KWIA samt Direktorengebäude sind zwei Bereiche mit Ställen zu erkennen. Einerseits gab es südlich des Institutsgebäudes eine langgestreckte Reihe von Schuppen, in denen die erwähnten Ratten und Kaninchen untergebracht gewesen waren. Andererseits ist auf einem Plan des Jahres 1927 nördlich des Direktorenhauses ein kleines, heute noch bestehendes massives „Stallgebäude“ verzeichnet, welches zum heutigen Zeitpunkt als studentisches Café benutzt wird. Die in letzterem gehaltenen Tiere sind unbekannt, jedoch ist

60 Bei den Rinderknochen ist dies nicht mehr auszumachen, da sie zu fragmentarisch erhalten sind (freundliche Mitteilung, Jana Eger).

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der Bau nur knapp 10 m von der Grube mit den Schweineknochen entfernt, die sicher erst nach 1928 unter die Erde kamen.61 Im Sommer 2016 wurden bei weiteren Grabungen zur Sicherung der Evidenz zwei weitere Gruben identifiziert. Eine davon (Nr. 5 auf Abb. 3.11) war dem Befund der 2014 entdeckten Grube sehr ähnlich: unter fundleeren Füllschichten fanden sich eine sehr große Menge zerbrochener Menschenknochen, kleine, handbeschriebene Plastikmarken und ein wenig organisches Material sowie Teile einer Körperabformung aus Gips. Die andere Grube (Nr. 6 auf Abb. 3.11) enthielt eine dichte Packung von Katzenkopf-Pflastersteinen und dazwischen menschliche Knochenreste, vor allem Zähne. Diese Grube kann aufgrund von Styropor-Verpackungsresten in die 1970er Jahre oder später datiert werden. Die Datierung zeigt umgelagerte Skelettreste an, die wohl aus einer bislang nicht lokalisierten Grube des KWIA stammen dürften. Es gab im direkten Umkreis des KWIA also nach den Funden und Archivalien etliche Gruben, von denen zwei mit Tierknochen sowie drei mit Menschenknochen gefüllt waren, und schließlich eine unbekannten Inhalts. Vergraben von Knochen war mithin keine ungewöhnliche Idee. Unter der Annahme, dass die Gruben einen gemeinsamen institutionellen und chronologischen Ursprung haben, deutet dieser Befund zunächst schlicht auf eine nach heutigen Terminologien post-anthropozentrische Auffassung des KWIA hin. Die im Humanismus postulierte fundamentale Differenz zwischen Mensch und Tier war abgeschafft zugunsten einer Spaltung innerhalb der Gattung Mensch. Unter den Menschen gab es solche, die mit Tieren auf eine Stufe gesetzt und rechtlos als homines sacri, wie Agamben (2002) so deutlich ausführt, jederzeit getötet, „geopfert“ werden konnten, und jene, die einem inneren Kreis des Menschseins qua Zugehörigkeit zur Kollektivität der bio-

61 Der vorliegende Plan des Direktorenhauses des KWIA mit den Angaben zum „Stallgebäude“ und eingezeichneten Obstbäumen, Hecken usw. hat das Datum 10.3.27 und stammt von der Firma Späth (eingesehen im Archiv der Max Planck-Gesellschaft). Deren damaliger Besitzer Hellmuth Späth hatte ein dem schon erwähnten Hotelier Curt Elschner nicht unähnliches, wenngleich tragischeres Schicksal. Gleich nach Machtübernahme durch die Nazis NSDAP-Mitglied geworden, stand seine Betriebsausrichtung ganz in der langen Tradition eines den Regierenden seit 1720 nahestehenden Betriebs. Am Flughafen Tempelhof war Späth ebenfalls tätig; eventuell ist auf ihn die auf Plänen vermerkte „Tarnpflanzung“ am Rande der Zwangsarbeitslager zurückzuführen. Späth war mit einer jüdischen Frau verheiratet und hatte eine nach den damaligen rassistischen Vorstellungen halbjüdische Tochter. Aufgrund einer Denunziation unklaren Inhalts wurde er 1944 verhaftet und am 15.2.1945 im KZ Sachsenhausen ermordet (Kulke 2005).

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logisch determinierten „Volksgemeinschaft“ angehörten (Wildt 2007). Tierische und menschliche Körperteile konnten, so sie nicht mehr gebraucht wurden, auf dem Institutsgrundstück entsorgt werden. Die von Kant postulierte „moralische Gemeinschaft“ war ideologisch wie auch praktisch radikal eingeschränkt worden. Zunächst kann die radikal exklusivistische, biodeterministische Mentalität als Einwand gegen die Idee geltend gemacht werden, die KWIA-Mitglieder hätten die Grube mit den Überresten von einer unbekannten Zahl von Menschen mit dem Ziel des Verbergens von Evidenz angelegt. Abbildung 3.10: Profil einer 1,80 m tiefen Grube (Nr. 5 auf Abb. 3.11) in Berlin-Dahlem, Grundstück des ehemaligen KWIA

Doch zwei Elemente des Gesamtbefundes weisen in eine andere Richtung. „Die Verhaltensweisen der Täter sind überall und immer dieselben. Täuschen und tarnen. Die namenlosen Toten sollen mitsamt den sie bergenden Gruben verschwinden“, schreibt Martin Pollack (2014, 25). Das ist aufmerksam beobachtet: nicht allein die Toten, auch die Gruben, in die sie gelegt wurden, mussten unsichtbar werden. Das wurde erreicht, indem man sie in ihren oberen Bereichen der Umgebung komplett anglich oder gar bepflanzte, was aber eine Mindesttiefe zur Abdeckung des Inhalts am Grubenboden voraussetzte. Genau in diesem Sinne lassen sich die Gruben um das KWIA herum in zwei Gruppen teilen. Die

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Gruben mit Tierknochen waren flach und endeten kaum 0,50 m unter der heutigen Oberfläche, konnten sogar von Hunden oder anderen Tieren leicht erreicht, erst recht bei späteren Gartenarbeiten aufgefunden werden. Davon unterscheiden sich die anderen Gruben. Die im Jahr 2014 entdeckte, mit menschliche Resten gefüllte Grube war fast 1,0 m tief. Die mit „5“ auf Abb. 3.11 bezeichnete Grube der Nachgrabungen des Jahres 2016 mit menschlichen Überresten erreichte eine Tiefe von 1,8 bis 2,0 m. Bei der im Jahr 2014 entdeckten Grube sind auf einem Polizeifoto Knochen erst ab einer Tiefe von 0,50m und tiefer sichtbar (Kühne 2015b). Das Problem an der polizeilichen Dokumentation ist zwar, dass sich anhand der Fotos nicht feststellen lässt, ob die Grube von der heutigen Oberfläche aus eingetieft und dann mit anderem Material gefüllt wurde, oder ob der oberste halbe Meter nur deshalb keine Knochen aufweist, weil sie durch Straßenbauarbeiten schon weit früher zerstört wurden.62 Doch die Nachgrabungen im Jahr 2016 bestätigen, dass diese Gruben auch im oberen Füllbereich nicht durch Straßenbau zerstört sind (Abb. 3.10). Auf einen Vertuschungsversuch weist ein weiterer Faktor hin. Die Gruben mit Tierknochen wurden auf dem Grundstück des Direktorenhauses des KWIA gefunden, während diejenigen mit den Menschenknochen am äußersten südöstlichen Rand des gesamten Institutsgrundstücks lagen; die nur aus Fotos bekannte Grube im Südosten (Abb. 3.9) befand sich auf jeden Fall außerhalb des KWIAGeländes. Eine letzte Bestätigung, dass die Gruben in den Zusammenhang mit dem KWIA in der Nazi-Zeit gehörte, ergab sich daraus, dass bei den Nachgrabungen neben Menschenknochen auch mehr als 120 kleine Knochen von Kaninchen, dem Hauptversuchstier Hans Nachtsheims als auch Karl Diehls am KWIA, gefunden wurden (Pollock und Cyrus 2015; Schwerin 2004, 136–177). Der forensische Fall bleibt bislang unabgeschlossen. Er zeigt zudem eine in den Beispielen zur New Forensis Weizmans selten auftretende ethische Komplexität. Der Historiker Aly behauptete, mittels genetischer Analysen seien Knochen „einzelnen und untereinander verwandten Menschen“ zuzuordnen (Aly 2015). Genau diese schnelle, unreflektierte Art des forschen Forschens bedeutet jedoch, dass ohne jede Nachfrage bei potenziellen Hinterbliebenen bzw. deren

62 Man müsste dann davon ausgehen, dass der Fund entweder von den Bauarbeitern nicht bemerkt wurde oder das Interesse an Aufklärung des Hintergrunds seitens der Verantwortlichen nicht vorhanden war. Möglich ist auch, dass die oberen Grubenbereiche bewusst frei von Knochen blieben, um das potenzielle Auffinden zu erschweren.

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Verbänden (Zentralrat der Juden in Deutschland, Zentralrat der Sinti und Roma) menschliche Überreste als Analyse„material“ begriffen werden. Abbildung 3.11: Luftbild des Henry-Ford-Baus (unten rechts) und der Zentralbibliothek (unten links) der Freien Universität Berlin mit sechs Gruben

(rote Punkte: (1) Grube mit Schaf- und Rinderknochen; (2) Fundplatz mit Menschenknochen vom 1.7.2014; (3) Grube mit Schweineknochen; (4) Grube im Ausschachtungsbereich des Henry-Ford-Baus; (5) und (6) Gruben mit Menschenknochen, entdeckt 2016; langgestrecktes Gebäude mit rotem Ziegeldach links oben: ehemaliges KWIA-Institutsgebäude; kleineres Haus schräg davor: ehemaliges zugehöriges Direktorengebäude)

Auch bei Zustimmung dieser Verbände steht jede potenzielle Analyse unter der bedrückend düsteren Parallelität zwischen Mengeles Absicht, aus der Physis des Menschen seine Gruppenzugehörigkeit abzuleiten, und dem Bestreben, aus den knöchernen Spuren in Berlin-Dahlem auf die Identität der Opfer, und damit auch

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auf eine Gruppenzugehörigkeit in Nazi-Deutschland zurückzuschließen. Es handelt sich eben nicht um schlichte Objekte, die man sorglos jedem verfügbaren naturwissenschaftlichen Verfahren unterwerfen kann, sondern um die letzten physischen Spuren von Opfern. Auch Entdinglichung, weiter oben als archäologische Verfahren aufgeführt, hat hier ihre Grenzen. Die erste Frage muss die unbeantwortbare sein, ob den Menschen, deren leibliche Überreste in Dahlem gefunden wurden, eine solche Analyse recht gewesen wäre. Vielleicht sind wir an einem Punkt angelangt, an dem Wissenschaft sich mit Nichtwissen bescheiden muss. Nichtwissen als Ergebnis eines jähen Einbrechens der Vergangenheit in die Gegenwart (Bernbeck 2015c). Der Zufallsfund aus dem Juli 2014 hat die Landschaft in Berlin-Dahlem um die Universitätsbibliothek und das Auditorium Maximum im Henry-Ford-Bau trotz der Unabgeschlossenheit des Falls stark verändert. Besehen wir uns ein Luftbild, auf dem die derzeit bekannten Gruben markiert sind (Abb. 3.11), so wird deutlich, dass Studierende und Lehrende der Freien Universität täglich eine historische stark belastete Landschaft durchqueren, die Martin Pollack (2014, 72) so charakterisiert: „Meist gibt es da etwas, eine dumpfe Ahnung, schwache Hinweise, Gerüchte, Geflüster, Geraune, dass hier oder da etwas geschehen ist, was nicht an die Oberfläche dringen soll – und was sich gerade deshalb hartnäckig hält und nicht vergehen, nicht verstummen will, bis schließlich irgendwann etwas auftaucht, zum Vorschein kommt, eine Zeugenaussage, eine Erinnerung, eine flüchtig hingeworfene Bemerkung, eine vergilbte Fotografie, ein Dokument, irgendwelche materiellen Hinweise, Bodenfunde.“

Wie in diesem Kapitel erörtert, stehen Zeuginnen und Zeugen als Überlebende von im Kollektiv verankerten und begangenen Verbrechen in einem komplexen Verhältnis mit den materiellen Spuren dieser Taten. Archäologische Dinge erscheinen uns in solchen Zusammenhängen als passive und in ihrer Unwandelbarkeit hartnäckige Bürgen vergangener Zustände. Sie haben eine erbitterte Stummheit an sich. Unter bestimmten Verhältnissen erweist sich diese Gegenständlichkeit auch als Zeugenschaft. Das geschieht überall dort, wo Dinge durch forensische Arten der wissenschaftlichen oder künstlerischen Übersetzung im Rahmen konkreter politisch relevanter Fragen durch unsere Übersetzung zum Sprechen gebracht werden. Eine entscheidende Rolle spielt Archäologie dort, wo sie anonymen Opfern von Unrecht eine Präsenz, wenn schon nicht eine Stimme wiedergibt. Die Namenlosigkeit einer Erinnerung muss unterschieden werden vom Vergessen. Das

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anrufungslose und damit außerhalb der Sprache situierte Erinnern aber ist in seiner wissenschaftsinternen Wertigkeit erst noch genau zu bestimmen.

4. Evokation und Narration

Aleksandra Kroh, eine in Paris lebende französisch-polnische Physikerin, erinnert sich an einen Schulbesuch in ihrer Kinderzeit in Auschwitz: „We children were blasé. [...] We knew that once we had finished our tour of the camp we would find the real world again, the one waiting for us outside, where death was only an abstract notion. Auschwitz was already part of history. Then we went into a shed where the guide showed us great heaps of objects taken from the prisoners, objects there had been no time to dispose of before the camp’s liberation. Gazing at one of the heaps, the one consisting of toys, all my defenses fell to pieces. That sight was to haunt me for years, and it overwhelms me now even as I write. There were dolls, some very sophisticated ones, others very modest, all loved enough to have been carried along on that last journey. There were teddy bears, so soft to the touch that the children would hug them very tight so as not to be afraid in the dark night. There were toys for the littler ones and for the bigger ones, a multitude of toys; each one had been held in the hand of a child, and in letting go of it, the child was saying good-bye to life. What I felt then was no longer mere pity or circumstantial horror, but a paralyzing dread, a limitless indignation and weariness. Never has the world’s cruelty appeared to me more sharply than at that moment.“ (Kroh und Duckstein 1996, 66–67)

Dieser kurze Text beschreibt den Effekt, den ich als „Evokation“ durch Dinge bezeichnet habe (s.S. 94–97): sie rufen einen Gedanken, ein imaginiertes Szenario hervor, sie beschwören ein mögliches Geschehen herauf. Ein evoziertes Bild ist nicht von Dauer, es „huscht vorüber“, wie Walter Benjamin formuliert. Wenn ein Blick, ein in glücklichen Tagen gehörtes Musikstück, das schräg einfallende Sonnenlicht mit einem Herbstschatten, ein ekelhafter Geruch plötzlich in uns etwas Vergangenes aufrührt, so ist diese Erscheinung momenthaft. Durch Sinneswahrnehmungen unserer Umgebung hervorgerufene Erinnerungen tendieren dazu, ebenso schnell zu vergehen, wie sie aufkamen. Die Dauer des Erinnerns

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und die Dauer des Erinnerten entsprechen sich. Es sind Episoden, kurzfristige Geschehnisse, die vor dem Inneren aufscheinen. Zentral für alle Evokationsvorgänge im hier erörterten Kontext ist, dass es sich um Mensch-Ding-Relationen handelt. Während ich dieses Kapitel schreibe, erreicht mich ein „Call for Contributions“ von Yannis Hamilakis (2016, Hervorhebung R.B.), in dem es unter anderem zur Flüchtlingskatastrophe des Jahres 2015 heißt: „Forced and undocumented migration cannot always be expressed in words, but it can be evoked in things, in sensorial and affective experiences and gestures, in non-linguistic utterances. [...] In all these cases, materiality and sensoriality are the primary means of understanding the phenomenon.“

Offensichtlich sieht Hamilakis Evokationen als ein Mittel an, die Notlage der Flüchtlinge besser zu verstehen, wobei er, wie Kroh auch, den Dingen eine Evokationsmacht zuschreibt. Wenn also die Dinge unsere menschlichen Sinne über Evokationen ansprechen, stellt sich die Frage, was solche Evokationsvorgänge genau sind, wie sie ablaufen, welche epistemologischen Probleme auftreten, wo Grenzen zu ziehen wären. Ich versuche im Folgenden, den multiplen Dimensionen von Evokationen nachzugehen. In einem zweiten Teil dieses Kapitels erörtere ich ihre Einbindung in größere archäologische Diskurse. Auf Evokationen als einen Verweisungsmodus der Dinge – neben dem der Gegenstände als Quellen bzw. als Bürgen/Zeugen – hatte ich in Kapitel 2 hingewiesen. Dort hatte ich auch erwähnt, dass Evokationen mit Sinn aufgeladen sind, ein Aspekt, der sie von Dingen als Quellen und Zeugen unterscheidet, da Gegenstände in diesen beiden Modi eher Bedeutung annehmen, ein von Sinn zu separierendes Attribut (Abb. 2.11, S. 95). Zudem sind Evokationen in ihrer Stellung in Ursache-Wirkungs-Beziehungen wenig festgelegt. Ich halte das Evokationspotenzial von Dingen für elementar für die Interpretation von Gegenständen aus archäologischen Ausgrabungen der Nazi-Zeit. Mir geht es dabei um mehrere Dimensionen von Evokationsvorgängen: •



Fragen der Positionalität: inwieweit ist der persönliche oder soziale Hintergrund beteiligt an der mehr oder weniger unwillkürlichen Aktivierung unserer Imaginationskräfte? Evozierte Szenen und Bilder haben immer einen zeitlichen Horizont als auch einen Wiederholungscharakter; in welcher Beziehung stehen diese beiden temporalen Faktoren zu historischen Dimensionen?

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Gegenstände können die Eigenschaft des Beiläufigen haben; lässt sich aus ihnen dennoch ein Evokationspotenzial erschließen? Kann man die mit der Imagination verbundenen Sinne schärfen? Sind imaginierte Szenarien dem tatsächlichen Geschehen einigermaßen entsprechend und wie kann dies ermessen werden? Und gibt es historisch, ethisch, sprachlich oder anderweitig begründete Grenzen des imaginierenden Nacherlebens? Was ist der historiographische Status „metaphorischer Evokationen“, wenn etwa unter Bombenhitze zerschmolzene Glasflaschen aus Ausgrabungen die unbändige Gewalt des Krieges evozieren sollen?

Mit diesen Überlegungen hoffe ich, das Umfeld der an konkreten historischen Epochen ansetzenden Evokationsmacht der Dinge einigermaßen zu umreißen.

N ACHERLEBEN

UND

E VOKATIONSSZENARIEN

Zum Zeitpunkt, als Aleksandra Kroh Auschwitz besuchte, war sie in einem Alter „when childhood is giving way to adolescence“ (Kroh und Duckstein 1996, 66). Es ist daher wohl nicht erstaunlich, dass sie gerade von Gegenständen erfasst wurde, die das Leben von Kindern betreffen. Sie beschreibt einen Vorgang, den Wilhelm Dilthey als „Nacherleben“ bezeichnet und mit dem historischen Verstehen in einen engen Zusammenhang bringt. „Verstehen“ als Klammer für die Geisteswissenschaften ist in der kontinentalen, historisch verankerten Archäologie als von Dilthey formulierter Hintergrund bekannt (Giuliani 2003). Diese epistemologische Grundlage bezeichnet jedoch heute kaum mehr als monotone Wissenschaftstapete, bestenfalls eine vernachlässigbare Basis für wichtigere, in rezenteren Zeiten aufgekommene Diskurse. Diltheys komplexes Gedankengebäude ist heute weitgehend der Wissenschaftsgeschichte überlassen. Doch in unserem Kontext gewinnt die Idee des Nacherlebens als ein vom historischen Verstehen geschiedener Vorgang neue Relevanz. Beides sind empathische Zugangsweisen zur Vergangenheit. Sie sind einander zeitlich gegenläufig, sollen jedoch im historischen Arbeiten gekoppelt werden. Der Zeitpfeil des Verstehens läuft der historischen Zeit entgegen: man nähert sich dem Vergangenen quasi rückwärts an, von der Gegenwart in immer tiefere Vergangenheiten fortschreitend. Nacherleben hingegen „rückt, beständig fortschreitend, mit dem Lebensverlauf selber vorwärts“ (Dilthey 1927, 214). Ein volles Erfassen der Geschichte beansprucht also (1) eine Rekonstruktion von historischen Zusammenhängen, wie ich sie in den Kapiteln 2 und 3 als Quellen- und Bürgschafts-orientiert be-

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schrieben habe, (2) das stufenweise Vordringen aus gegenwärtigen Lebenswelten in tiefere Vergangenheiten und (3) eine komplette Rückversetzung, die innerhalb der Vergangenheit in eine vergangene Zukunft hinein voranzugehen in der Lage ist (Makkreel 1992, 328–329). Wenn Kroh schreibt, „each one (of the toys, R.B.) had been held in the hand of a child, and in letting go of it, the child was saying good-bye to life“, beschreibt sie ein solches bitteres Nacherleben, welches einerseits die schwarze Ahnung der Kinder, andererseits das allgemeine Wissen über den Ausgang des Geschehenen beinhaltet. Mit Koselleck lässt sich formulieren, dass wir in der Lage sein müssen, den Erfahrungsraum und Erwartungshorizont vergangener Subjekte einzunehmen, gleichzeitig aber die Situation von außen und mit unseren eigenen Erfahrungen und Erwartungen zu betrachten. Diese Verdopplung der Wahrnehmung ist unabdingbare Voraussetzung für die Ergründung des Evokationspotenzials überkommener Materialität. Aus dem Element des Diltheyschen Nacherlebens erschließt sich die in Kapitel 2 erwähnte Unterscheidung von Sinn, mit Evokationen aus Dingen assoziiert, und Bedeutung in den Verweisungsmodi von Quelle und Zeugnis. Denn Sinn ist Richtung und Absicht im Kontext von Widerfahrnissen des Lebens, wie Günter Figal erklärt. „Sinn ist die Korrelation zwischen dem Zukünftigen, Gegenwärtigen oder Vergangenem [sic] und dem je eigenen Verhalten. Es ist eine Relation, die immer ‚von zwei Seiten‘, ‚in zwei Richtungen‘ zu sehen ist“ (Figal 2005, 349), die in dem Erleben der Welt und einem Einstellen auf dieses Erleben besteht. Evokation als Nacherleben beinhaltet diese gerichtete Zeitlichkeit, das Merkmal einer dynamischen, subjektiven Temporalität. Dieses dialektische Verhältnis zwischen Erwartung und Erfahrung bleibt der Chronik und Chronologie, dem externen Blick der Objektivität verschlossen, schwingt aber im Begriff des „Erwartungshorizonts“ mit. Genau darin unterscheidet sich die Evokation als Sinnproduktion von der Bedeutung. Bedeutungen der Dinge sind statische, unhinterfragte, abstrahierbare Relationen zwischen Symbolisierung und ihrem Gegenstand, zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem. Solche Relationen zwischen Wort, Konzept und Ding können zwar reflektiert werden, mangeln jedoch einer direktionalen Orientierung. Dilthey beschreibt Nacherleben, als ob es einer rein wissenschaftlichen Anstrengung ähnlich der Husserl’schen Epoché bedürfe, einer Ausklammerung der alltäglichen Anschauung, um einen adäquaten Vollzug dieser speziellen Erlebnisart zu ermöglichen. Doch im Falle der von Aleksandra Kroh beschriebenen Szene ist die Parallelität des Status der nacherlebenden und der evozierten Personen auffällig: das Kind auf Besuch im KZ ist da mit dem Nacherleben am schnellsten bei der Hand, wo es um Kinder in der Vergangenheit geht. Wie verhält sich dies bei imaginativen Szenen, die das Betrachten archäologischer Fun-

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de mit sich bringt: eine zerbrochene Haarspange, ein geborstenes Gitarrengriffbrett, eine zerdrückte Feldflasche oder ein verrosteter Schlüssel63 – was lösen sie aus, und wie sind sie mit der Position der Betrachtenden verbunden? Layla Renshaw zeigt unterbewusste Assoziationseffekte in ihrem Bericht über die forensischen Ausgrabungen in Las Campanas bei Burgos in Spanien auf. Beim Entdecken von Feuerzeug und Zigarettenpapier an einem republikanischen Opfer des spanischen Bürgerkriegs kamen die RaucherInnen des Teams intuitiv herbei und nahmen an der Untersuchung des Befundes ausgiebig teil, „to meet a fellow smoker“, wie sie schreibt (Renshaw 2011, 157). Die Fähigkeit zum Nacherleben, die Dilthey ausführlich beschreibt, soll allgemein sein, ist aber von subjekt-spezifischen Anziehungskräften mitbestimmt, die gender-, alters- oder klassenspezifisch sein mögen oder aus solchen Neigungen wie der Liebe zur Musik bestehen. Evokationsvorgänge sind nicht rein rational, sondern unter anderem auch an Identifikationsgefühle und Positionalität gebunden: die Nähe zwischen sinnierendem Subjekt und den Personen, über die man nachdenkt, hat einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Fähigkeit zum Nacherleben. Es bleibt zu ergründen, ob Nacherleben, eine zweifelsohne elementare und im Alltag meist unwillkürlich realisierte Praxis, so neutral gestaltet werden kann und sollte, wie dies wohl von Dilthey ursprünglich für die historischen Wissenschaften beabsichtigt war (s. hierzu Scott 1991). Wichtig ist aber, sich nicht nur die Strukturen des Relationsgeflechts in Evokationen klar zu machen, sondern auch die Qualität dieser Relationen: „The historian puts him- or herself in the other’s position without taking the other’s place or becoming a substitute or surrogate for the other who is authorized to speak in the other’s voice“ (LaCapra 2004, 65). Die Überlegung, das Evokationspotenzial anhand von Funden aus den Ausgrabungen des Tempelhofer Feldes in Berlin zu verdeutlichen, führte Susan Pollock und mich an anderer Stelle schon zu einer ausführlichen Beschäftigung mit einem kleinen Gegenstand, dem schwarzen Rest eines einseitig zerschmolzenen Plastikkamms, der ein eingeritztes Datum vom 16.6.1942 trägt (Bernbeck und Pollock 2015, 187–188). Die Wahl gerade dieses Gegenstands zum Aufzeigen von Evokationspotenzialen könnte deswegen kritisiert werden, weil es sich höchstwahrscheinlich um ein Objekt eines Zwangsarbeiters handelt. Warum haben wir nicht ein Objekt ausgesucht, welches der Seite der Aufpasser, Unterdrücker, der schlagenden Aufseher und Ausbeuter angehörte? Empathie mit Opfern der Nazis, ein Versuch, deren Leiden nachzuerleben, ist aus zwei Gründen eine heikle Angelegenheit. Erstens treffen Versuche des Nacherlebens im Zweifels-

63 Alles in Tempelhof angetroffene Funde.

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falle nicht die tatsächlichen Erfahrungen der Betroffenen. Sie werden bestenfalls mehr oder weniger adäquat repräsentiert (s.S. 301–313). Und zweitens suchten wir uns denjenigen anzugleichen, die wir in dieser historischen Situation als moralisch höherstehend denn andere einschätzen. Das impliziert indirekt die sehr gewagte Annahme, man hätte sich damals selbst nicht auf der Seite der Verfolgerinnen und Täter befunden.64

Abbildung 4.1: Foto und Zeichnung des Reflektortrichters eines Handscheinwerfers, Weserflug-Zwangsarbeitslager, Tempelhofer Feld

Ich mache hier mittels eines Szenarios daher einen anderen Versuch, der vordergründig zeigen soll, was ein Objekt der Machthaber und Bewacher aus Tempelhof evozieren kann. Daneben geht es mir aber auch um einen fundamentaleren

64 Das Abfassen von Strukturgeschichten der Nazi-Zeit war vielleicht auch deshalb für eine lange Zeit so gefragt, weil damit diese komplexe Frage der Empathie schlicht vermieden werden konnte (Kansteiner 1994, 154). Auch der sprachliche Duktus der „objektiven“ historischen Formulierungen trägt seinen Teil dazu bei, Reflexionen über Positionalität zu vermeiden (Barthes 1967, 68–69).

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Aspekt dieses Sinnierens über Dinge. Oben hatte ich den unwillkürlichen, nichtrationalen Charakter der meisten Momente vermerkt, die Evokationen hervorrufen. Diese Unwillkürlichkeit ist aber keinesfalls eine notwendige Vorbedingung für Evokationen, sondern Reflexion und detailliertes Vorwissen und die „Kenntnis der Quellen“ können einem historisierenden Nacherleben ebenfalls den Weg ebnen. Bei dem Fund, den ich zu diesem Behufe näher betrachten will, handelt es sich um einen grün patinierten Reflektor eines Handscheinwerfers (Abb. 4.1a). Das trichterförmige Metallstück von 9 cm Durchmesser ist etwas verbeult, man erkennt jedoch den mittigen Glühlampeneinsatz, der ein Gewinde enthält, als auch das dreizackig ausgebogene Blech für die Ersatzglühlampe. An zwei Stellen hat das Blech nach Verlust oder Zerstörung der Lampe einen Schlag von einem Gegenstand mit einem stumpfen Ende erhalten (Abb. 4.1b). Derartige Handscheinwerfer mit Ersatzbirne wurden und werden meist von der Feuerwehr oder Wachdiensten verwendet und kamen auch in Nazi-Lagern zum Einsatz.65 Tempelhof war, wie ganz Berlin, nachts aufgrund der Bombardierungen verdunkelt. Die Wachleute werden also um so besser mit Lampen ausgerüstet gewesen sein, um Ausbrüche aus den Zwangsarbeitslagern verhindern zu können. Routine-Wachgänge entlang genau festgelegter Strecken sind für andere Teile des Flughafengeländes aus den Jahren 1941–1942 belegt (Abb. 4.2). Man kann sich durchaus eine Szene aus der Sicht eines Angehörigen des Werkschutzes66 vorstellen, der die Wachbaracke am Columbia-Damm für einen RoutineRundgang verlässt. Auch ein SS-Mann ließe sich einsetzen, denn die SS unterhielt einen Wachposten zentral am sog. „Alten Hafen“ im Flughafengelände. Das massive neue Flughafengebäude erscheint als schwarzes Quadrat im Westen und verdeckt dort die ansonsten dicht über den Himmel gesäten Sterne einer kalten Nacht. Der Gang am Zaun entlang produziert nur einen schmalen, auf den Boden gerichteten Lichtfleck, der von Zeit zu Zeit rundum zur Kontrolle das Gelände erhellt. Da lässt der Scheinwerfer aus der Ferne eine gebückte Gestalt am anderen Ende der Baracke erahnen, vor den schwarzen Zweigen der Tarnpflanzung. Der helle Kegel des herumgeisternden Lichts steht plötzlich still und fixiert die Szene. Der Stacheldraht vor den Koniferen ist auch im gleißenden

65 Ein Befehl zur totalen Verdunkelung des KZ Auschwitz vom 15.12.1943 sieht unter anderem Nachschub mit Handscheinwerfern vor (Frei et al. 2000, 380). Barbara Distel (2015, 200) zitiert einen im Tagebuch von Edgar Kupfer-Koberwitz berichteten Fall aus Dachau, wo ein Wachposten nachts einen anderen niederschoss, weil er ihn fälschlich im Scheinwerferlicht für einen KZ-Häftling hielt. 66 Zur Stellung dieser Institution in der Nazi-Zeit s. Drobisch (1965).

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Schein kaum auszumachen, doch hat sich die Person anscheinend daran zu schaffen gemacht. Aus der Ferne zeichnet der Scheinwerfer einen großen Kreis mit einigermaßen weichen Umrissen, doch im rapiden Herannahen beschränkt sich der sichtbare Radius immer mehr und verschärft die Konturen scherenschnitthaft. Sichtbares und Unsichtbares scheiden sich nun hart und gewähren einen unerbittlichen Blick auf den Schauplatz. Die gesamte Aufmerksamkeit konzentriert sich auf die ausgeleuchtete Person, die sich zögerlich aufrichtet. Der Lichtschein bewegt sich nochmals kurz nach links und rechts, die Umgebung absuchend, schwingt dann aber unnachgiebig zurück zu dem schmächtigen Menschen am Stacheldraht. Die Blendung, die der Scheinwerfer in seinen aufgerissenen Augen hervorruft, lässt diese noch größer und erstaunter erscheinen, als sie sind. Dem Scheinwerferstrahl hilflos ausgeliefert, kann er nicht sehen, wer ihn sieht. Ein barscher, drohender Zuruf und wütendes Hundegebell zerreißen die eisige Stille. Abbildung 4.2: Plan der Berliner Flughafengesellschaft (BFG) für Wachrundgänge auf dem Flughafen Tempelhof, Nov. 1941 bis Sept. 1942; ohne Einzeichnung der Zwangsarbeitslager

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Der Scheinwerferrest evoziert die Macht im nächtlichen Herrschaftsblick des Wachpersonals und die Ohnmacht derjenigen, die von diesem Blick eingefangen werden. Die imaginierte Szene beruht auf Vorkenntnissen, etwa dem Verdunkelungsbefehl, aber auch auf dem Wissen, dass in der nahebei gelegenen Wachbaracke am Columbia-Damm weitere Wächterkollegen bereit standen. Dass es in Tempelhof Hunde gab – eventuell scharfe –, zeigen Hundeknochen als auch Hundebiss an Tierknochen aus einer Grube nahe des Alten Flughafens auf dem Feld (Gütter 2015, 22). Ich habe die Szene bewusst so formuliert, dass die Lampe als Teil einer materiellen Einheit aus Scheinwerfer, daran hängender Hand des Wachmanns, dessen Augen und Stacheldraht figuriert. Dieser kombinierten Handlungseinheit, einem „Repressionsaktant“, wenn man so will, ist der einzelne Kriegsgefangene rettungslos ausgeliefert – jedoch steht eindeutig menschliche Intentionalität hinter dieser Einheit. Die Szene, die sich in dem Scheinwerferfragment eröffnet, unterscheidet sich in einer Hinsicht deutlich von Krohs Bericht über ihren Auschwitz-Besuch als Kind: die Teddybären und Puppen führen zu einem unwillkürlich entstehenden Bild, einer intuitiven Imagination. Dagegen hat das für das Tempelhofer Zwangsarbeitslager entwickelte Szenario eine Auswahl unter vielen möglichen Funden zur Grundlage sowie die Absicht, sich von diesem bestimmten Ding in irgendeiner Weise inspirieren zu lassen. Dieser Vorgang ist mithin willkürlich.67 „Memory work“ nennt Jones (2007, 26) einen solchen „process of evocation indexed by objects.“ Ich halte beide Situationen für historiographisch relevant, auch wenn dies eine eher ungewöhnliche Ansicht sein mag. Willkürliche Evokationen sind aufgrund der Kontextualisierung jedoch einer traditionellen Geschichtsschreibung näher als unwillkürliche. Trotz dieser Tatsache meint Frank Ankersmit, eine wirklich historische Erfahrung könne nur die sein, die uns „with a direct and immediate contact with the past“ versorgt, und beschreibt dies als „a contact that is not mediated by historiographical tradition, by language or aspects of language (like tropology), by theory, narrative, ethical or ideological prejudice“ (Ankersmit 1994, 56; Hervorhebung im Orig.). Nacherleben als willkürliche Evokation hingegen sei nichts als „copying the past“ (Ankersmit 1994, 20). Dieser Einschätzung folge ich nicht, sondern schätze den historischen Wert der zwei Evokationsmodi genau umgekehrt ein. Trotz dieses Unterschieds ist die Grundstruktur der Evokation in beiden Fällen gleich (Abb. 4.3). Ein gegenwärtiges Subjekt tritt mit einem Gegenstand

67 Ich verwende den Begriff „unwillkürliche Evokation“ in Anlehnung an Walter Benjamins von Marcel Proust übernommenen Ausführungen zu „unwillkürlichem Gedächtnis/mémoire involontaire“ (Benjamin 1974b, 609–610).

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oder einer Kollektion von Gegenständen aus der Vergangenheit in ein sinnlich erfahrbares Verhältnis. Dies kann auch eine sekundäre Sinneserfahrung sein, wie etwa das Betrachten eines Fotos. Die Kopräsenz von Subjekt (S2) und Evokationsgegenstand (D) führt zur Herstellung einer bestimmbaren Relation (RS2-Dt2). Das Wissen um die lange Lebensdauer und den Kontext des Objekts erlaubt zudem die Imagination eines vergangenen Subjekts, welches mit diesem Gegenstand in einem Verhältnis (RS1-Dt1) zum Zeitpunkt t1 stand. Historische Rahmenelemente sind ausreichend bekannt, um ein im Diltheyschen Sinne nacherlebendes Verhältnis hervorzurufen. Was das Schema nicht zeigt, ist die komplexe Struktur dieser Relationen der Kopräsenzen zu den Zeitpunkten t1 und t2. Denn letztlich handelt es sich um eine Metarelation. Nacherleben beinhaltet nicht nur die Vorstellung des vergangenen Menschen im Verhältnis zu einem Gegenstand, der überdauert hat, sondern auch ein in der Regel unreflektiert produziertes Verhältnis von einem gegenwärtigen und einem vergangenen Verhältnis zwischen Mensch und Ding. Es ist genau dieses Verhältnis von Verhältnissen, welches durch die Positionalität der Betrachterin berührt wird. „The fellow smoker“, zu dem sich die o.g. ausgrabenden RaucherInnen in Burgos hingezogen fühlen, ist solch eine Metarelation. Man muss dabei zudem im Gedächtnis behalten, dass diese Metarelation immer selbst eine in der Gegenwart assumierte und keine objektiv existierende ist. Abbildung 4.3: Schematische Wiedergabe der zeitlichen Relationen von Evokationsgegenständen

(S1, S2: Subjekte; D = Ding; t1, t2 = Zeitpunkte)

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Eine solche formale Analyse ist deshalb wichtig, weil Evokation oft mit Unwillkürlichkeit gleichgesetzt wird. Wenn die Relation zwischen Gegenstand und Subjekt von BeschauerInnen intuitiv als ähnlich angenommen wird, ist eine Bedingung für unwillkürliche Imaginationen gegeben. Im Bereich des archäologischen Arbeitens sind jedoch willkürliche Evokationen möglich, ja sogar notwendig. Ein Verbundenheitsgefühl mit vergangenen Subjekten via Gegenständen kann auch da hergestellt werden, wo die beschriebene Metarelation von größerer Entfernung bestimmt zu sein scheint. Vorbedingung hierfür ist eine intellektuelle Anstrengung, sich die vergangene Relation der Kopräsenz zwischen Dingen und Menschen vorzustellen, und zwar in der expliziten Absicht, daraus ein Szenario vergangener Zustände zu entwickeln – wie etwa im Falle des oben erwähnten Scheinwerferrests. Aus der potenziellen Willkürlichkeit des Evokationsvorgangs ergibt sich eine weitere wichtige Konsequenz: wir können zum Zwecke einer aus den Dingen entstehenden Historiographie Evokationsgegenstände auswählen. Im Prinzip kann jeder einzelne archäologische Fund, ja sogar eine ganze Assemblage materieller Kultur als Evokationsgegenstand genommen werden – genauso wie jede traditionelle Historie im präfigurativen Status schon eine implizite Auswahl trifft, welche Quellen als relevant angesehen werden. Der abgenutzte Begriff der „Aura“ scheint mir übrigens in diesem Zusammenhang wenig sinnvoll, weil er suggeriert, den Dingen der materiellen Welt wohne etwas inne, was über sie hinausreicht. Das „zur historischen Reliquie erhobene Relikt“ (Sabrow und Frei 2012, 27), seine Aura also stellt nur eine Beziehung zwischen Gegenstand und Subjekt, nicht aber zwischen zwei (oder mehr) Subjekten her. Aura ist ein für die Historie in diesem Sinne unergiebiges Konzept. In kantischen Begriffen ist die unwillkürliche Evokation der passivsinnlichen Anschauung geschuldet, während willentlich herbeigeführte Szenarien dem Bereich des aktiven Denkens und der Vernunft entstammen. Dennoch sind die Übergänge hier fließend, und auch eine willkürlich anhand von „Daten“ und „Dingen“ herbeigeführte, sozusagen empirisch verankerte Evokation überschreitet für manche WissenschaftlerInnen erlaubte historisch-archäologische Verfahren. Seit Hayden Whites Arbeiten ist jedoch die Frage offen „as to where passive intuition in Kant’s sense ends and the swirl of details actively posited as historical data or knowledge begins“ (Ball 2013, 97). Die als „Evokation“ beschriebene Prozedur der Interpretation archäologischer Gegenstände ist nur dann ein akademisches Sakrileg, wenn man darauf besteht, dass zwischen Fiktion und Fakt ein tiefer Graben liegt, der nicht überbrückt werden kann und darf. Nach diesem Credo erfindet die Historiographie nicht, sondern beobachtet und berichtet ausschließlich (z.B. Koselleck 1977; Pollock 2015). White (1987, 67) formuliert diese traditionelle Auffassung folgendermaßen:

186 | M ATERIELLE S PUREN DES NATIONALSOZIALISTISCHEN T ERRORS „The imagination is disciplined by its subordination to the rules of evidence which require that whatever is imagined be consistent with what the evidence permits one to assert as a ‚matter of fact‘.“

Das kann nun allerdings so ausgelegt werden, dass nichts über die sogenannt „positiv existierenden“ Fakten hinaus imaginiert werden darf, oder aber, dass nichts evoziert werden darf, was den Fakten widerspricht. Im ersteren Falle ist der Evokationsmodus tabu, im zweiten – an den ich mich halte – hingegen legitim.

Über Zeithöfe Sowohl das zu Anfang dieses Kapitels beschriebene Erlebnis des AuschwitzBesuchs als auch die für das Tempelhofer Zwangsarbeitslager umrissene Szene eines Wachgangs beschränken sich auf eine Momentaufnahme. In welchem Zusammenhang stehen solche Augenblicke mit einer längerfristig angelegten Historiographie? Es ist illusorisch, zu meinen, bei ausreichend dicht gestrickten Szenarien ergäbe sich wie von selbst eine historische Erzählung. Ein posthum veröffentlichter Essay Alfred Gells (2013) beschäftigt sich genau mit diesem Problem. Was ist das Verhältnis der momentanen Evokationen zur längerfristigen Vergangenheit? Gell zeigt, dass zwei Malereien Marcel Duchamps, Nu descendant un escalier No 2 und Réseau des stoppages étalon (Abb. 4.4) ein (vielleicht ironischer) Versuch waren, das Phänomen der Dauer visuell darzustellen. Gell selbst diskutiert diese Frühwerke Duchamps unter Zuhilfenahme von Husserls im Zusammenhang mit seiner Phänomenologie formulierten Ideen zu Zeit und Zeitwahrnehmung. Sowohl Duchamp als auch Bergson in seinen Vorlesungen des Jahres 1911 in Oxford, die ich im Kontext von Fotografien schon erwähnte (s.S. 86), mögen sich tatsächlich indirekt auf Husserl bezogen haben. Nu descendant un escalier No 2 ist durch die Vervielfältigung der kubistischen Figur, die sich in multiple Einzelstadien und Elemente aufgelöst hat, eine Parodie auf die Momentaufnahmen des Fotos, die Bergson als dem Bewusstsein unangemessen kritisiert hatte. Bekanntermaßen versucht die Phänomenologie Erkenntnis dadurch zu ergründen, dass über den Zusammenhang zwischen Wahrnehmung und Bewusstsein reflektiert wird. Die Erfahrung zeitlicher Kontinuität ist ein solches Rätsel, dem Husserl nachspürte. In seinen Vorlesungen zum inneren Zeitbewusstsein kam er zu dem Schluss, dass die Gegenwart kein unendlich feiner Schnitt zwischen Vergangenheit und Zukunft ist, sondern eine Dauer hat. Das Erleben zeit-

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licher Abläufe schließt in jedem Moment ein unmittelbar Vorgängiges als auch ein direkt Nachfolgendes notwendig mit ein. Auf die Einzelheiten des ausführlich in Husserls Vorlesungen erläuterten Phänomens kann hier nicht eingegangen werden (Husserl 1928). Als „Retention“ bezeichnet er eine Art „vergangene Gegenwart“, die nicht separat erinnert werden kann: ein anhaltender Ton, dessen Beginn, Mitte und Ende wir nicht als getrennt, sondern als Kontinuum wahrnehmen. Von dieser unmittelbaren und von der Gegenwart sinnlich unabtrennbaren Vergangenheit setzt Husserl die „Reproduktion“ ab als die intentional wieder hervorgeholte, tiefer abgesunkene Vergangenheit. Diese beiden qualitativ unterschiedlichen Verhältnisse zur Vergangenheit werden entweder als verschmolzen mit der Gegenwart (Retention) oder als abgetrennt von ihr (Reproduktion) erfahren. Spiegelbildlich zur Retention setzt Husserl die unmittelbare Zukunft und die an sie unwillkürlich geknüpften Erwartungen als Protention an – Erwartungen im Handeln, die zeitlich undistanziert-verschmolzen mit dem Augenblick des Gegenwärtigen sind. Schutz analogisiert symmetrisch zum Begriffspaar Retention – Protention den (distanziert-zukünftigen) Entwurf mit der (distanziertvergangenen) Reproduktion.68 Dabei hängen die Möglichkeiten der Protention – des unmittelbar Erwarteten – als auch der Projektion vom Erlebten und Erinnerten ab, weshalb Husserl (1928, 395–400) in diesem Zusammenhang auch von derartigen Erwartungen als „Wiedererinnern“ spricht. Wiedererinnern ist ein gedanklicher Vollzug, der dem Prozess des Nacherlebens sehr nahe steht und in sich dieselbe Illusion der Identität von Imaginiertem und Tatsächlichem trägt. Husserl beschreibt ihn als „Vergegenwärtigungsmodifikation des Wahrnehmungsprozesses mit allen Phasen und Stufen bis hinein in die Retentionen: aber alles hat den Index der reproduktiven Modifikation“ (Husserl 1928, 397). Dieser Modifikationseffekt gilt auch für jede Evokation. Der Absatz aus Krohs Besuch in Auschwitz ist ja keine unmittelbare Beschreibung eines Erlebnisses, sondern in seiner Struktur nahe an dem, was Husserl „Wiedererinnerung“ nennt. Dennoch gibt es einen wichtigen Unterschied zum nacherlebenden Evozieren: das Wiedererinnern wird von Husserl als in die je individuelle Lebenswelt fest integriert angesehen, was für die historische Imagination und die historisierende Evokation nicht der Fall ist. Denn sie beziehen sich – mit Ausnahme der Äußerungen in Ego-Dokumenten – auf das Leben Anderer, was den Grad der Modifikation in den von Husserl thematisierten „reproduktiven Modifikationen“ deutlich vergrößert. Beiden gemeinsam bleibt hingegen eine Temporalität, die

68 Im englischen Text benutzt Schutz (1967, 57–63) den besser passenden Begriff „project.“

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Husserl (1928, 396) als „Zeithof“ bezeichnet. Das ist die ausgedehnte, mit den Begriffen Retention und Protention umschriebene Gegenwart, die uns in Krohs spontaner Empathie mit den Kindern in Auschwitz entgegentritt. Auch die im Scheinwerfer-Rest in Tempelhof enthaltene Episode hat diese Temporalität: spontane Vorstellungen, keine Planungen oder Erinnerungen. Abbildung 4.4: Marcel Duchamp, Réseau des stoppages étalon, Paris 1914 (Museum of Modern Art, New York)

Damit komme ich zurück zu Alfred Gells Interpretation von Husserls Zeitvorstellungen. Er will den Begriff des Zeithofs ausdehnen, denn „there is no reason to think that the same model cannot serve as a representation of the subjective aspect of temporal processes of longer durations, up to the span of an entire lifetime, or longer if we include the vicarious past and future which historical consciousness provides us with“ (Gell 2013, 107). Kann diese Idee für die aus archäologischen Gegenständen entstehenden Evokationen übernommen werden, um daraus eine längerfristige Geschichte zu erstellen? Die Möglichkeiten seien nochmals kurz an Krohs Text aufgezeigt. Die im Angesicht der Spielzeuge in Auschwitz von ihr imaginierte Beziehung zu deren kleinen Besitzern beschränkt sich auf den Moment der erzwungenen Abgabe der geliebten Gegenstände, auf einen kurzen Zeitraum, der eingerahmt ist durch die Ankunft in Auschwitz und

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den Tod in der Gaskammer. Unerwähnt in der imaginierten Szene bleibt, dass die Kinder bei Ankunft in Auschwitz nicht nur eine furchtbare Güterzug-Reise hinter sich hatten, paradigmatisch von Jorge Semprun (1981) beschrieben, sondern davor schon die ihnen wichtigsten Dinge zum Mitnehmen ausgesucht hatten, und dabei sonstiges Liebgewonnenes zurücklassen mussten. Die vor den Augen erscheinende Szene steht im Kontext eines längeren Lebensabschnitts, und diese Erkenntnis öffnet die Augen für die Verkettung mit ähnlichen, vorhergegangenen Trennungserlebnissen und deren Ubiquität im ganzen von den Nazis besetzten Europa. Gell zeigt in seinen Überlegungen exemplarisch an Duchamps Gesamtwerk aber auch, dass sich Retention und Protention nicht einfach in einen längerfristigen Bewusstseinsstrom ausweiten lassen. Vielmehr wird aus dem kontinuierlichen, zeitlich linearen Ablauf ein Netzwerk an Haltepunkten mit Vorverweisen aus älteren auf jüngere, und Rückverweisen von rezenteren auf frühere Werke, mithin ein diachrones Netzwerk (Gell 2013, 107–112; insbes. Abb. S. 108). Er liest das réseau des stoppages étalon dabei als selbstreflexiv: Die Haltepunkte (stoppages) sieht er als Duchamps Kunstwerke, die aber ohne die Lücken dazwischen nicht erfassbar seien. Hieraus gewinnen wir eine Grundstruktur des Beitrags von gegenstandsbasierten Evokationen zur Geschichte. Sie sind nicht feste Bausteine für eine traditionelle historische Erzählung, sondern imaginierte Augenblicksszenarien in einem Netzwerk. Doch sind nicht allein die Momentaufnahmen, sondern auch die Lücken zwischen ihnen konstituierend für einen Beitrag der Materialität zur Geschichte. Zudem ergibt sich aus diesen Überlegungen eine klare Differenz zwischen Assoziationen und Evokationen. Assoziationen, besonders im Sinne von Freuds „freiem Assoziieren“ (Freud 1942, 533–537), können lateral zu ganzen Ketten erweitert werden, die von vorgestellter Szene zu Szene springen mögen. Historisch relevante Evokationen hingegen sollten sind nicht frei. Sie sollten nur an einen Gegenstand oder Assemblage angeschlossen werden, so dass einem aus solchen historisch relevanten Imaginationen entstehenden Netzwerk ein paralleles Netzwerk an Evokationsgegenständen unterliegt.

Die Auflösung der dinglichen Beiläufigkeit Eine weitere Voraussetzung für eine an den Gegenständen angedockte Imagination ist, dass diese in unserer Umwelt nicht zu uns in einer Relation des Selbstverständlichen stehen, wie von Heidegger in seinem Begriff des „Zeugs“ analysiert (Heidegger 1927, 66–72). Er spaltete die gesamte objektive Welt auf durch eine Unterscheidung von Zuhandenheit (das „Zeug“) und Vorhandenheit. Zu-

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handenheit meint die Gebrauchsdinge in ihrer „unauffälligen Vertrautheit“ (Heidegger 1927, 104). Das, was schlicht da ist, ohne jede weitere Aufmerksamkeit zu erheischen, grenzt sich von den Dingen ab, die uns als Mittel oder Ziel von Handlungen als „vorhanden“ bewusst werden, weil sie fehlen, nicht funktionieren oder noch nicht getan sind (Heidegger 1927, 73–74). Die gegenständliche Welt ist zum allergrößten Teil nach diesem Ansatz „zuhanden“, wird als gegeben hingenommen, ohne richtig wahrgenommen zu werden. Ich hatte schon bemerkt, dass wir durch die materielle Welt nicht hindurchsehen, weil sie uns nicht als Index für etwas anderes erscheint (s.S. 93); hinzuzufügen ist allerdings, dass wir vielfach die Dinge sehen, ohne sie wirklich anzusehen – bewusst bemerken wir das Heidegger’sche „Zeug“ weder visuell noch taktil noch anderswie. Hans-Peter Hahn (2015, 14–16) umschreibt das unbemerkte weil vertraute Verhältnis zur gegenständlichen Welt anschaulich als die „Beiläufigkeit“ der Dinge, deren andere Seite ich als Eindrücklichkeit benannt hatte (s.S. 100–102). Dinge sind jedoch nicht in sich selbst beiläufig (bzw. eindrücklich), sondern dies hängt von der jeweiligen Situation ab (Ludwig 2015). Nehmen wir ein Alltagsbeispiel, den Kugelschreiber. Aufgrund der Massenproduktion von Schreibgeräten habe ich beispielsweise seit Jahren keine Kugelschreiber mehr kaufen müssen. Die meisten in meinem Besitz habe ich irgendwo aufgelesen, weil sie jemand anderes liegen ließ oder verlor. So fand ich einmal gegen Ende des akademischen Jahres 2003–2004 , als man für die Elternbesuche der Studierenden die begrasten Hügel auf dem Campus der Binghamton University schon ganz mit Düngemittel vergiftet hatte, am Rande des abschüssigen Weges zur naturwissenschaftlichen Bibliothek einen ganz exquisiten, mit besonderer Schreibspitze ausgestatteten Kugelschreiber der Marke Caran d’Ache. Sollte ich ihn aus den nitrophoskablauen Kügelchen klauben? Ich tat es und erinnere mich bis heute an das bequeme Schreibgerät, welches sich tatsächlich der Hand anzuschmiegen schien. Die Umstände anderer Kugelschreiber-Fundstücke als auch deren Marke habe ich vergessen – es gibt ihrer zu viele und ihre Präsenz ist zu selbstverständlich. Ihre Substitutierbarkeit durch Bleistifte, Federhalter, Computer oder Telefone lässt sie zu einem materiellen Hintergrund werden, der wie die leise dahinplätschernde Musik in marmornen Hotelfoyers noch nicht einmal zur Wahrnehmung gedacht ist. In anderen Kontexten kann ein Kugelschreiber weit mehr Bedeutung haben, etwa im Gefängnis von Guantánamo Bay, wo die sogenannten „flexiblen“ Gefangenenkulis verhindern sollen, dass man Schreibstifte als Mordwaffe benutzt (Abb. 4.5; Aizenmann 2005). In afghanischen Gefängnissen gibt es meist gar keine derartigen Geräte, wie ich mich selbst im Laufe gelegentlicher Arbeit dort

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überzeugen konnte. Denjenigen, die in diesen Situationen einen Brief nach hause schreiben wollen (wenn sie es überhaupt dürfen), zeigen sich Kugelschreiber oder Bleistifte in einer fundamentalen Heideggerschen „Vorhandenheit.“ Beiläufigkeit ist also weniger eine Frage der „Funktion“ eines Objekts als vielmehr seiner Häufigkeit, Substituierbarkeit und seiner allgemeinen Einbettung in eine je spezifische historische Lebenswelt. Zusätzlich zum materiellen Überfluss ist für die postindustrielle Welt die Virtualisierung des Lebens zu bedenken, die nicht etwa zu einer Abnahme des Ding-Verbrauchs, sondern über die omnipräsente, meist visuelle Werbung eher zu einem weiteren Zuwachs führt: auch für die oben illustrierten Gefängniskugelschreiber wird bei Amazon im Internet geworben, samt 5-Sterne-Kundenevaluierung (Amazon 2016). Abbildung 4.5: Der Kugelschreibertyp für Gefangene in Guantánamo

Die variable Stellung der materiellen Gegenstände in unserem Leben sollte in kulturwissenschaftlichen Analysen nicht unberücksichtigt bleiben. „Die ‚geringen Dinge‘ in ihrem Status der geringen Beachtung zu belassen, ist die erste Herausforderung für die Befassung mit materieller Kultur“, meint Hahn (2015, 17), und kritisiert viele Untersuchungen zu „materiality“, die den Einbettungsmodus der Dinge dadurch vernachlässigen, dass sie unspektakuläres „Zeug“ mit ausgiebigen Reflexionen zu deren Bedeutungen versehen. Der französische Philosoph Roger-Paul Droit (2003) sieht das ganz anders und beschreibt auf legere Art und Weise, wie er sich den Alltagsdingen in pur individueller Gegenüberstellung zu nähern versucht. Er will dem herumliegenden und -stehenden „Zeug“ seine Beiläufigkeit nehmen, indem er Einzelsachen in ihrer Vielseitigkeit betrachtet und sie auf die Evokationen befragt, die sie in ihm auslösen. Er macht

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also – in Heideggers Terminologie – den Versuch, den Übergang vom Zuhandensein zum Vorhandensein zu forcieren. Zwar ist das Ergebnis für ihn zufriedenstellend, der Weg dorthin führt ihn aber auch in Probleme: „Avec les choses, depuis quelques jours, il ne se passe plus rien. Elles sont là, mais plates et closes. Mutiques. Je ne peux rien en tirer. J’ai beau les regarder, intensément, rien. Indifférence complète“ (Droit 2003, 37). Dinge rufen also nicht immer Evokationen hervor, doch Droit macht deutlich, dass dies nicht an ihnen selbst, sondern an uns liegt. Dabei kann der Übergang von der Beiläufigkeit zur Eindrücklichkeit nicht einfach willentlich herbeigeführt werden, sondern erfordert eine Anstrengung, die nicht immer erfolgreich ist. Diese Anstrengung besteht im Erlernen des Umgangs mit den Sinnen, nicht den Dingen – vom Sehen zum Hinsehen, vom Greifen zum Begreifen, vom Hören zum Zuhören. Diese Intensivierung der und Konzentration auf die Sinneswahrnehmung ist allerdings nicht allein eine rational erlernbare Fähigkeit, denn sie beinhaltet auch eine gesellschaftliche Komponente. Schon Marx wusste, dass „die Bildung der fünf Sinne eine Arbeit der ganzen bisherigen Weltgeschichte [ist]. [...] Der sorgenvolle, bedürftige Mensch hat keinen Sinn für das schönste Schauspiel; der Mineralienkrämer sieht nur den merkantilischen Wert, aber nicht die Schönheit und eigentümliche Natur des Minerals; er hat keinen mineralogischen Sinn.“ (Marx 1968, 541–542, Hervorhebung im Orig.)

Wie man sieht, beschränkt sich Marx gar nicht auf die fünf seit Aristoteles bekannten Sinne (s. Classen 1993), sondern postuliert einen „mineralogischen“ und viele andere Sinne. Unsere sinnliche Wahrnehmung der Welt selbst ist zu einem großen Teil eine Internalisierung gesellschaftlicher Bedingungen, die Marx für verkümmert hält, weil der Sinn des Habens alle anderen sukzessive ersetzt habe. „Das Privateigentum hat uns so dumm und einseitig gemacht, dass ein Gegenstand erst der unsrige ist, wenn wir ihn haben“ (Marx 1968, 540). Möglicherweise ist das Zuhandensein im Kapitalismus tatsächlich an eine vorgängige Aneignung gebunden. Roger-Paul Droits Reflexionen scheinen samt und sonders ebenfalls an Relationen des Besitzes gebunden zu sein und bestehen in einer Strategie des reflektierenden Verfremdens von individuellem Sachbesitz. Die Bemühungen stehen in Gegensatz etwa zur Phänomenologie Merleau-Pontys (1945), für den visuelle Praktiken im menschlichen Körper zunächst ohne jede gesellschaftliche Dimension verankert sind. Die Möglichkeit des Verfremdens führt auch zur Bewusstwerdung genau der erwähnten Undurchsichtigkeit der Dinge:

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„À mesure que je commence à voir [les choses] autrement, ces choses si proches, si faciles à prendre ou à seulement effleurer, partout données, toujours à portée de main, ces choses si ordinaires jusque-là commencent à devenir si lointaines qu’elles peuvent paraître inaccessibles, à jamais opaques.“ (Droit 2003, 182)

Bei aller gesellschaftlichen Begründung des genauen Wahrnehmens als auch der Sensibilisierungspotenziale von Evokationsgegenständen sind die Fähigkeiten des Verbalisierens derselben unterschiedlich stark ausgeprägt. Isaac Gilead (2015, 245) meint zu diesem Problem des imaginierenden historischen Erzählens, die Grenzen lägen nicht in „science, politics, and ideology – the main limit is that most of us [archaeologists, R.B.] are not creative writers.“ Dies findet eine wenig thematisierte Parallele im historiographischen Diskurs, die auch Hayden White trotz seiner Insistenz auf unerkannten narrativen Praktiken kaum je explizit ausspricht. Nach Ball (2013, 95 Hervorhebung im Orig.) ist White „daring them [historians] to explore their artistic freedom to make history.“ Aber kann diese künstlerische Freiheit auch ausgefüllt werden? Vielleicht sollten gute narrative Fähigkeiten auch im Archäologischen stärkere Förderung und Beachtung finden? Ein sicher kaum erreichbares Ideal für die Szenarien, von denen hier die Rede ist, sind Walter Benjamins kurze Prosastücke, die sich auf eine Fülle von einfachen Alltagsdingen beziehen, vom Stockfisch über norwegische Blumen bis zum mittäglichen Schatten reichend. Hier ist ein Meister der Evokation am Werke. Über Mauern in Marseille etwa schreibt er: „Zu bewundern die Disziplin, der sie in dieser Stadt unterworfen sind. Die besseren im Zentrum tragen Livrée und stehen im Solde der herrschenden Klasse. Sie sind mit schreienden Mustern bedeckt und haben sich in ihrer ganzen Länge vielhundertmal dem neuesten Anis, den ‚Dames de France‘, dem ‚Chocolat Menier‘ oder Dolores del Rio verschrieben. In den ärmeren Vierteln sind sie politisch mobilisiert und stellen ihre geräumigen roten Lettern als Vorläufer roter Garden vor Werften und Arsenale.“ (Benjamin 1994, 63)

Die aphoristische Form solcher Denkbilder kann eine wichtige Orientierung geben für eine textliche Form dessen, was Dinge evozieren (Richter 2007). Archäologie ist eine Tätigkeit, die uns zumindest teilweise der originären Verfremdungsarbeit des „Beiläufigen“, wie sie Droit betreibt, enthebt. Denn die aus dem Erdreich gehobenen Gegenstände erheischen genau durch ihr zeitweiliges, oft auch langfristiges Verschwinden und Wiederauftauchen eine besondere Aufmerksamkeit. Sie sind entfremdet, weil in der Regel in kleine tönerne Scherben oder scharfkantige Feuersteinreste fragmentiert; sie sind nutzlos, überaltert

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und anachronistisch, patiniert und eines anregenden Neuigkeitswerts komplett verlustig. Da sich vielfach schon grundsätzliche Aspekte wie etwa eine Materialangabe nur unter Einsatz komplexer Vergrößerungsinstrumente oder anderer Hilfsmittel identifizieren lassen, zwingen solche Dinge zum genauen Hinsehen. Beiläufigkeit gibt es hier nur für die Professionellen, die tagtäglich diese Dinge durch ihre Hände gehen lassen. Erläutern möchte ich den Effekt des spezifisch archäologischen Entzugs der Beiläufigkeit eines Objekts anhand eines schwarzen Kugelschreibers aus den Tempelhofer Grabungen, der vollständig, aber leicht angebrochen in Schnitt 13 in einer Planierschicht gefunden wurde (Abb. 4.6). Vormals waren dort Zwangsarbeitsbaracken gewesen, deren letzte Reste man aber für die Anlage eines Baseballfeldes in den Zeiten nach 1953 weggebaggert hatte. Der Stift dürfte nach dieser Umgestaltung dort verloren worden sein. Metallene Stellen des Kugelschreibers wie die Spitze, der Mittelring und Federbügel sind mit Erdresten verbacken. Patinierung lässt darauf schließen, dass das Stück wohl nicht aus den letzten 20 Jahren stammt. Eine weiße, leicht mit Prägestempel vertiefte Aufschrift in Großbuchstaben besagt „SKILCRAFT – U.S. GOVERNMENT.“ Da der Gegenstand aus einer Ausgrabung stammt, hat er nicht nur eine 12-stellige Grabungsfund-Nummer, sondern ist in einer Datenbank unter „Schreibgerät“ klassifiziert und bekam, da mit Schrift versehen, die Vorzugsbehandlung , fotografiert zu werden. Abbildung 4.6: „Skilcraft“-Kugelschreiber, Fund aus einer Planierschicht nahe der Baseball-Felder am Flughafen Tempelhof

Es ist nicht verwunderlich, Kugelschreiber in Neuzeitgrabungen zu finden. Sie sind genau das beiläufige Alltagszeug, das uns umgibt. „It’s one of those things that you just sort of take for granted because there’s so many of them. You don’t think about the history that’s behind them“, sagt Kugelschreibersammler Tony Bridges über die Skilcraft-Kulis (Mui 2010). Diese Schreibgeräte haben eben

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doch, wie so vieles andere auch, eine partikulare Geschichte. Sie werden ausschließlich von Mitgliedern der National Industries for the Blind (NIB) in North Carolina und Wisconsin hergestellt, werden hauptsächlich an staatliche Stellen verkauft, und unter diesen vor allem an das U.S.-Militär und die Post. Wegen der militärischen Nutzung gibt es spezifische Anforderungen für solche Kugelschreiber.69 Seit Einführung dieser Kugelschreiber 1952, deren Design sich über die Zeit kaum wandelte, werden pro Jahr Millionen verkauft, denen man in den USA in einer Vielfalt staatlicher Büros begegnet. „Few have realized that this government-issue pen has a history to rival that of any monument“ (Mui 2010). In diesem Fall wird deutlich, dass Dinge nicht immer sofort genug Information in sich tragen, um etwas historisch Relevantes zu evozieren. Sie tun dies erst, wenn wir von persönlicher Intuition bzw. deren Mangel auf die Ebene der Recherche wechseln. Diese objektive, in der Archäologie altbekannte Ebene der Forschung muss man jedoch wieder verlassen, will man sich des Evokationspotenzials der Funde versichern. Ohne hier eine konkrete Szene zu imaginieren, kann man zunächst einige Parameter derselben festlegen. Denn die SkilcraftKulis wurden explizit als „expendables“, als Verbrauchsgüter verstanden. Diese Eigenschaft ist vielen der aus der Nachkriegszeit stammenden Funde in Tempelhof eigen. Eine genaue quantitative Analyse dürfte zeigen, dass sich das Verhältnis zwischen Mensch und Alltagsding in den wenigen Jahren, die in den Ausgrabungen des Flughafens verzeichnet sind, von einer eher sparenden hin zu einer Wegwerf-Mentalität änderte, wobei dies gerade im Bruch zwischen NSzeitlichen und Schichten mit U.S.-Material deutlich wird. Das führt direkt zurück in den komplexen diachronen Zusammenhang von Beiläufigkeit und Eindrücklichkeit. Denn die verstärkte Produktion von expendables, seit den 1920er Jahren in der U.S.-amerikanischen Industrie forciert, war noch ungewohnt, besonders wenn man die Geschichte der Great Depression und des Zweiten Weltkriegs in Betracht zieht. Hier wurde industriell zur Beiläufigkeit erzogen, und der Kugelschreiber aus Abb. 4.6 als ein nicht fragmentierter, also in funktionsfähigem Zustand dem Archäologischen überantworteter Gegenstand ist Bürge für diesen Prozess. Da es Nachfüllminen der Firma Skilcraft gab, wird er auch zum Einblick in die Mentalität eines Soldaten, für den die Einstellung auf diese neuen Verhältnisse kein Problem war.

69 Normen und Faktisches zu diesen Schreibgeräten sind leicht herauszufinden: Sie müssen bei Extremtemperaturen bis zu –40 Grad C funktionieren, das Schreiben muss für eine Mindestlänge von 5000 Fuß ausreichen, die Tinte darf nicht klecksen. Sie haben eine Spitze, die aus einer Legierung von Wolframkarbid und Kobalt besteht.

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Ein anderes Charakteristikum der Archäologie, welches die Imagination anregt, ist das Bruchstückhafte. Die große Mehrzahl der Dinge aus Ausgrabungen besteht aus Fragmenten, und gerade das Zerbrochene regt die Phantasie an. „Fragmentariness as such constitutes an interpretive asset that evokes interest and stimulates the imagination“ (Burström 2013, 311). Man suche, so Burström, unwillkürlich danach, wie das Ganze ursprünglich geformt gewesen sein mag – und diese Anomalie sprenge die archäologischen Dinge aus dem Rahmen der Beiläufigkeit heraus: „[They] do not fit into the general framework of the recent past as a complete whole“ (Burström 2013, 319). An einem kleinen Gegenstand aus Tempelhof lässt sich das Vervollständigungsbegehren aufzeigen. Der Porzellanarm einer Puppe (Abb. 4.7) mit einer Länge von 7,5 cm stammt aus einem Feuerlöschteich, der erst einige Zeit nach Kriegsende gefüllt wurde. Wie sah die Puppe aus? Und wie kann aus einem solch kleinen Stück ein Szenario entstehen, das für das Tempelhofer Feld Wahrscheinlichkeit für sich verbuchen kann? Wir können die gesamte Figur als helloder dunkeläugig, schwarzhaarig oder blond, mit mechanischem Augenöffnen oder ohne, in bunten, weißen oder anderen Kleidern imaginieren – beim Nachdenken über die vielfältigen Möglichkeiten begegne ich in mir selbst sofort auch der Standardisierung von Imagination, wenn ich mir das vollständige Objekt anhand äußerlicher, visueller Kriterien wie Haar- und Augenfarbe vorstelle, die in unheimlicher Weise auch den Klassifizierungskategorien des Nazi-Rassismus entsprechen. Abbildung 4.7: Arm einer Porzellanpuppe aus einem Feuerlöschteich,Tempelhofer Flughafen

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Doch um der historischen, nicht der rein objekt-basierten Imagination aufzuhelfen, ist es zunächst notwendig, das Umfeld von Kinderspielzeug auf dem Tempelhofer Flugfeld zu untersuchen. Einen genau datierbaren Kontext gibt es für diesen Fund nicht, so dass eine eindeutige Zuschreibung etwa zum nahegelegenen Zwangsarbeitslager der Lufthansa oder dem der Firma Weserflug nicht möglich ist. Aus den Zeiten der frühen U.S.-Besatzungszeit sind zumindest keine Belege für Soldatenkinder vorhanden. Der Feuerlöschteich war noch vor der Luftbrückenzeit (Juni 1948 bis Mai 1949) einer der urkundlich dokumentierten „trashpoints“ der U.S. Basis geworden. Nach Luftbildern war er definitiv bis zum Jahre 1953 mit Abfall aus der NS- als auch der frühen U.S.-Besatzungszeit zugeschüttet worden. Ist also eine Datierung des Puppenarms in die frühen Jahre der U.S.-Besatzung in Tempelhof unwahrscheinlich, so wissen wir aus zwei unterschiedlichen Quellen, dass in der Nazi-Zeit im Weserflug-Lager Kinder lebten und starben. Eine sind die Erzählungen von Mariya Kulish und Olena Skladaniuk aus der Ukraine, die selbst als Kinder mit ihren Müttern, die beide Zwangsarbeiterinnen waren, im Barackenlager auf dem Tempelhofer Feld lebten. Sie kamen im Mai 2013 zu Besuch nach Berlin und erzählten ausführlich bei einem Spaziergang über das Feld von ihren Erinnerungen und Erfahrungen (Engel 2013). Die zweite Quelle sind Akten aus Krankenhäusern im Umkreis des Flughafens, aus denen das Leiden und Hungern von Kleinkindern – teils mit Todesfolge – hervorgeht (Bremberger 2001e). Allgemeinere Überlegungen zu einem Spielzeug wie Puppen lassen sich auch im Bereich der Wissenschaften finden. So beschrieb Freud eindringlich, wie ein Kleinkind – sein Enkel – eine Spule und anderes Spielzeug wegwarf bzw. versteckte und dann wiedererscheinen ließ. Das Ganze stand in direktem Zusammenhang mit dem Weggehen der Mutter bzw. deren Wiedererscheinen. „Es war dabei passiv, wurde vom Erlebnis betroffen und bringt sich nun in eine aktive Rolle, indem es dasselbe, trotzdem es unlustvoll war, als Spiel wiederholt. Dieses Bestreben könnte man einem Bemächtigungstrieb zurechnen“ (Freud 1967, 14). Das Objekt wird durch die Vereinnahmung zum Tröster und hilft über traumatische Einsamkeit hinweg. Später haben Psychologinnen und Psychologen dies mit „Übergangsobjekten“ assoziiert (Winnicott 1971, 1–25) und in ihnen die Urform des Spielens ausgemacht. Alfred Gell interpretiert das Spiel mit Puppen ähnlich wie Freud als besonders befriedigend durch seinen Bemächtigungscharakter: „Dolls, even those which open and close their eyes, emit cries, or even wet themselves, never produce any behaviour which is not directly under the control of the nurtureproviding play-mother. The playing child knows this perfectly well, but that does not pre-

198 | M ATERIELLE S PUREN DES NATIONALSOZIALISTISCHEN T ERRORS vent them from having the liveliest sensation that the doll is an alter ego and a significant social other. Doll play is so totally satisfying just because of this passivity. [...] Dolls are wholly ‚passive‘ others, they exhibit ‚passive agency‘.“ (Gell 1998, 129)

Ein Fund wie der winzige Puppenarm evoziert aber auch prekäres Kinderleben in den Zwangsarbeitsbaracken. Neben Hunger und Kakerlaken erinnerten sich die beiden ukrainischen Besucherinnen lebhaft an ihre große Angst, wenn die Mutter am Morgen zur Arbeit verschwand. Würde sie je wiederkommen? Tagsüber waren die mit Stacheldraht umzäunten Barackenbereiche nicht nur leergefegt, sondern es fanden zum Kriegsende hin auch tagsüber zunehmend Bombenangriffe statt, wobei Tempelhof aufgrund seiner zentralen militärischen und nachrichtendienstlichen Funktion ein besonders wichtiges Angriffsziel darstellte. Berichte von Kindern, die mit ihren als ZwangsarbeiterInnen tätigen Eltern in Lagern in Deutschland waren, sind durchsetzt mit dem Verweis auf Angstzustände, die durch ähnliche Situationen hervorgerufen wurden (Westphal und Keseberg-Alt 2011). Der schmächtige Porzellanarm löst die Vorstellung langer Stunden ängstlichen Wartens aus. Eine Puppe mag in diesem Falle neben der sicher vorhandenen Bemächtigungsfunktion ebenso eine Beschwichtigungskraft gehabt haben. Gerade die Einnahme einer aktiven Rolle im kindlichen Spiel mag über ein gesteigertes Gefühl des Ausgeliefertseins an eine bedrohliche Welt hinweg geholfen haben, wobei Kinder sich dem Evokationspotenzial solcher Gegenstände wesentlich unbefangener hingeben als Erwachsene (s.a. Habermas 1996, 255–260). Mein Eintreten dafür, dass ein Puppenarm Vorstellungen produziert, wie ein Kinderleben in Zwangsarbeitslagern ausgesehen haben mag, kann als fehlgeleitet kritisiert werden. Schließlich wissen wir ja nicht, wie das Objekt datiert, noch können wir genau seine Herkunft bestimmen. Die Richtungen, in die uns der kleine linke Arm weist, sind vielfältig. Je fragmentierter, desto unterdeterminierter ist die imaginierbare Einbindung eines Objekts in seine soziale Umgebung, und umso vielfältiger sind die Möglichkeiten der Evokation. Dasselbe gilt für den Fundkontext. Und genau diese Situation führt uns aufgrund des wissenschaftlichen Habitus recht schnell zum Rückzug – ins Schweigen. Zu fragmentiert, zu alt, ohne genau feststellbaren Ursprungskontext, so dass jede ursprüngliche Nutzung mysteriös erscheint. Und die wissenschaftliche Ausbildung hat wie ein Sturzregen über einem noch glimmenden Feuer den letzten Funken Imagination in uns ausgelöscht. Aus diesen Überlegungen zum Verhältnis zwischen historiographischen Gewohnheiten, der Beiläufigkeit der Dinge und ihrem Evokationspotenzial ergibt sich dreierlei.

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Erstens ist das Auslösen von Imaginationen, mit dem Dinge uns überraschen können, nicht allein in der Fähigkeit zur Empathie zu suchen. Vielmehr gehört dazu in den hier interessierenden Kontexten immer auch historisches Vorwissen. Viele Gegenstände aus Grabungen werden stumm bleiben, wenn wir nicht aktiv ihre Herstellungs- und/oder Nutzungskontexte erforschen. Die Realisierung von Evokationspotenzial in den Dingen ist nicht allein Sache der Intuition und Phantasie, sondern eine durch Kenntnisse orientierte Imagination. Die „disziplinierte“, wissensangereicherte Evokation sollte von der unwillkürlichen, nicht kritisch hinterfragten abgesetzt werden. Zweitens enthebt die archäologische Tätigkeit uns von der Notwendigkeit, die Dinge erst artifiziell zu verfremden, um ihnen näher zu kommen. Nichtnutzbarkeit und damit einhergehende „Wertlosigkeit“ geben den Dingen etwas Eindrückliches, rücken sie aus dem Beiläufigkeitshintergrund heraus. Drittens ist eine feine Sinneswahrnehmung eine Vorbedingung für ein nacherlebendes Verhältnis zu den Dingen. Dabei bedeutet eine Schärfung der Sinne nicht, eine möglichst objektive Versprachlichung oder anderweitig „objektive“ Repräsentation von Gegenständen anzustreben. Genauigkeit und Objektivität sind wesensverschieden.

Das Fragmentarische der archäologischen Dinge regt die Phantasie durch einen Drang zur imaginierenden Vervollständigung an. Jedoch muss hierbei berücksichtigt werden, dass Vervollständigung viele alternative Möglichkeiten einschließen kann. Daraus ergibt sich die Frage, wo die potenziellen Grenzen des Evokationspotenzials liegen. Gibt es Szenen, die wir gar nicht erst vorzustellen versuchen sollten? Und wenn ja, was sind Kriterien für eine Grenzziehung zwischen legitimen Imaginationen und solchen, die vermieden werden sollten?

Grenzen der Evokation Bei Objekten aus den Lagern der Nazi-Zeit ist relative zeitliche Nähe und damit eine oberflächliche Familiarität gegeben, und zudem ist der Erhaltungszustand oftmals relativ gut. Darum scheint ihr Evokationspotenzial im Vergleich mit anderen archäologischen Funden älterer Epochen so stark zu sein. Dennoch war diesen Dingen in Zeiten ihrer Nutzung ein ganz anderer Status eigen als unseren heutigen Massenprodukten der postindustriellen globalisierten Welt. Evokationsgegenstände sind gefährlich, da sie uns leicht in die Irre leiten. Wir treffen zunächst auf ein generelles Problem: in den Lagern der Nazis musste das Weni-

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ge, was an persönlichen Dingen zur Verfügung stand, gut behütet werden. Im Extrem treten uns diese Zustände in den Vernichtungslagern entgegen. Éva Fahidi leitet ihre Erinnerungen über Auschwitz so ein: „Wer von Euch kann sich vorstellen, niemanden und nichts, rein gar nichts zu haben? Ihr steht auf dem Appellplatz, splitternackt. Es gibt nichts, auf der ganzen Welt nichts, was Euch gehören würde. Was gehört einem Menschen überhaupt, was macht den Menschen aus? Die Ausstrahlung seiner Persönlichkeit, sein im Unbewussten verankerter moralischer Halt? In diesem Augenblick gibt es nur die Hoffnung, dass das, was ist, schnell vorbeigehen möge. Es kommt nur darauf an, noch fünf Schlucke Plörre zu bekommen und dann zur richtigen Seite selektiert zu werden. So erging es mir.“ (Fahidi 2011, 11)

Auch was dann folgte, war nicht besser. Auf erschreckende Weise verdeutlicht Elie Wiesel dies in seinem traumatischen Bericht über die Selektion seines Vaters für die Gaskammer, als der Vater dem entsetzten Sohn sein letztes Gut, einen Löffel und ein Messer als „Erbe“, als überlebenswichtige Gegenstände schenken will (Wiesel 2006a, 99–101). In anderen Nazi-Lagern waren die Zustände etwas besser. Einige Beispiele hierfür hatte ich schon genannt, etwa die Blechschüssel aus Buchenwald, die von Hand zu Hand gegangen war (s.S. 152) oder das Medaillon aus Tempelhof (s.S. 154–155). Während Starzmann (2014) gerade auf das Fehlen der Dinge verweist, beschäftigen sich Hirte (1999), Theune (2011) und Müller (Kersting und Müller 2015) mit den absolut unerlässlichen „Leistungen“ der Dinge bei der Aufrechterhaltung der Selbstachtung für Lagerinsassen. Für die besser gestellten ZwangsarbeiterInnen bekommen wir einen recht genauen Überblick aus Besitzlisten, wenn sie diese zur Reklamierung zerstörten Eigentums zur Restitution einreichen konnten.70 So verfasste der tschechische ehemalige Zwangsarbeiter Karel Vích eine Liste seines Besitzes, der bei einem Luftangriff samt Zerstörung eines Lagers in Berlin-Lichtenrade am 23.12.1943 verloren ging. Die Liste enthält: 1 Wintermantel, 1 Arbeitsanzug, 1 Paar Straßenschuhe, 8 Paar Socken, 1 Jacke, 1 Pullover, 3 Handtücher, 1 Hut, 6 Hemden, 3 Paar Unterhosen, 1 Paar Handschuhe, 10 Taschentücher, 2 Krawatten, 2 Bürsten (für Kleider und Schuhe), 1 Zahnbürste, Küchengeschirr, 1 Schere, Briefpapier, Rasierapparat mit Kassette, 6 Bücher, 2 Koffer (Vích 1998). Je mehr ich in den Zeugnisberichten aus Lagern las, desto deutlicher bekam ich allerdings auch den Eindruck, dass die Welt der Dinge in diesen Verhältnissen plötzlich eine weitere Seite zeigte. Es handelt sich dabei um ihre „Af-

70 Zur tatsächlichen Zahlung oder Erstattung ist allerdings kaum etwas bekannt.

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fordanz“, die im Zusammenhang mit Akteur-Netzwerk Theorien im Gefolge von Bruno Latour, Annemarie Mol, und John Law diskutiert wird (Knappett 2004; Hofmann und Schreiber 2011; Keßeler 2016). Gegenstände haben nicht nur ein eng begrenztes Feld an vorherbestimmten Nutzungen, sie bieten sich grundsätzlich an für viele unterschiedliche Tätigkeiten. Skilcraft-Kugelschreiber sind zum Schreiben da, doch ihre Länge entspricht genau 150 nautischen Meilen auf U.S.Navy-Karten und macht sie damit der Navigation dienlich (Mui 2010). Vorgeschrieben von militärmedizinischer Seite ist, dass solche Kulis in der Lage sein müssen, „to perform an in-field emergency tracheotomy“ (Wood 2012), keine alltägliche Anwendung eines Stifts. Im spätkapitalistischen Alltag mit seinen bis ins kleinste Detail spezialisierten Objekten wird vieles, was unter die Kategorie Affordanz fällt, als „Zweckentfremdung“ wahrgenommen. Wo elektrische Büchsenöffner und spezielle Eierkocher die Haushalte vollmüllen, werden Dingfunktionen soweit eingeschränkt, dass ihre Affordanz gering ausfällt. Solche Geräte können nur unter großen Mühen so zweckentfremdet werden, dass sie weiterhin verwendbar bleiben. Man muss also von unserer absurden Konsumgüterwelt abstrahieren, um die Affordanz der Dinge in extremen Notsituationen zu verstehen. Obwohl es selbst in Momenten existenzieller Ausweglosigkeit weiterhin eine begrenzte Beiläufigkeit von Hintergrund-Materialität gegeben haben wird, war diese im Verhältnis zur heutigen Lebenswelt radikal reduziert. Den Dingen ihre vordergründige Beiläufigkeit zu lassen, wie von Hahn (2015, 17) gefordert, ist für diesen historischen Fall wenig angemessen. Dinge, die normalerweise den Zustand der Eindrücklichkeit und Relevanz zu haben scheinen, konnten sich in Lagerkontexten in Sinnentleertes wandeln, während gänzlich belanglose Sachen plötzlich eine fundamentale Relevanz annahmen. Jorge Semprun (1981, 209–215) beschreibt etwa, wie leere Konservendosen im vollgepferchten Güterwagen auf dem Transport nach Buchenwald mit Urin gefüllt wurden, um darin eingetauchte Taschentücher durch kleine Öffnungen der Waggonwand in den Fahrtwind zu halten und mit den kaltfeuchten Tüchern die Ohnmächtigen zu Bewusstsein zu bringen, damit es in der schrecklichen Enge des Wagens kein Chaos durch umfallende Menschen gab.71 Wer käme auf die Idee, sich solch eine Verwendung von Konservendosen auch nur vorzustellen (Abb. 4.8)? Sollte uns dieses Beispiel nicht lehren, ähnliche Gegenstände aus

71 Semprun beansprucht nicht, Geschichte zu schreiben; seine Werke widersetzen sich linearer Chronologie. Man mag daher die oben geschilderte Szene als Fiktion abtun. Es bleibt dennoch das Prinzip einer radikalen, durch die Umstände forcierten Umnutzung der Dingwelt.

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Ausgrabungen an NS-Orten mit größtem Argwohn zu betrachten? Nicht die primäre Funktion, sondern das Außergewöhnliche sollten wir imaginieren. Dabei muss aber die mit den außerordentlichen Situationen einhergehende Singularität der Gegenstandsnutzungen bedacht werden: das Konkrete und Einzigartige an Sempruns Erzählung darf auf keinen Fall verallgemeinert werden. Ein Objekt wie die verrostete und verbeulte Dose (Abb. 4.8) aus Tempelhof kann also nicht als „Parallelfall“ aufgefasst werden, sondern steht als differente Singularität im Verhältnis zu vergangenen Subjekten. Herrmann Langbein (1982, 166) schreibt über seine Zeit im „Bunker“, dem Lagergefängnis von Auschwitz, „wir kehren mit Papier und Pappendeckel den Betonboden sauber“, da eine Selektionskommission erscheinen sollte, die Gefangene zum Erschießen vor der „schwarzen Wand“ aussuchte. Nach seinen Berichten wurde während des Exekutierens eine Decke über den Luftschacht seiner im Keller befindlichen Zelle gehängt, um eventuelle Beobachtungen der „Bunker“-Insassen zu verhindern (Langbein 1982, 175). Pappe und Papier sind hier nicht einfach zum Schreiben oder Einpacken da, die Decke wird nicht als wärmender Schutz verwendet. Sie spielen jeweils spezifische Rollen als Gegenstände des Schutzes vor bzw. der Verschleierung von Verbrechen. Abbildung 4.8: Blechdose aus dem Bereich des Weserflug-Zwangsarbeitslagers, Tempelhofer Feld, Berlin

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Die recht unterschiedliche Bereitschaft der Grabungsmitglieder auf dem Tempelhofer Feld, ungewöhnliche bis seltsame und ausgefallene Geschehnisse für die Funde und Befunde in Betracht zu ziehen, führte im Team zeitweilig zu unterschwelligen interpretativen Spannungen. Rationale, auf Skepsis und diszipliniertem Empirismus basierte Einstellungen und ein eher imaginierender Rekonstruktivismus spielten während der gesamten zwei Jahre des Feldprojekts eine bedeutende, und wie ich meine kreative Rolle. Die Breite der Möglichkeiten einer mit Objekten verbundenen Imagination, ähnlich „abwegig“ wie die Konservendosen in Sempruns Szene, sei an einem weiteren Beispiel illustriert, welches sich auf Puppen und damit potenziell auf den Fund aus Tempelhof bezieht. Nina Rudakowa war als sechs- bis achtjähriges Kind mehr als zwei Jahre mit ihrer zur Zwangsarbeit deportierten Großmutter in Deutschland. Unter für das Kind verwirrenden Umständen durfte sie eines Tages eine Puppe aus einem ihr unbekannten Haus in Ballenstedt mitnehmen, dem Ort, wo Großmutter und Enkelin in einem Barackenlager lebten: „Ich [sah] auf dem Boden eine Puppe in einem schönen Kleid. Ich hatte noch nie eine Puppe besessen und hob sie auf. Ein Arm war abgebrochen. Großmutter ärgerte sich und befahl mir, die Puppe zurückzulegen, aber ich lief mit meiner kostbaren Beute davon. In der Baracke waren alle von der Puppe begeistert. Sie hatte schwarze lockige Haare, die echt aussahen. Außerdem konnte sie die Augen öffnen und schließen und etwas Ähnliches wie ‚Mama‘ sagen. Wenn sie es tat, schaute das neugeborene Kind von Tante Sonja in ihre Richtung und verstummte. Später zeigten Dunjascha [eine Freundin der Autorin, R.B.] und ich dem kleinen Mädchen die Puppe immer wieder, um ihr Hungergeschrei nicht hören zu müssen.“ (Rudakowa 2011, 106–107)

Damals, so schreibt Rudakowa über das Neugeborene, „mochte [ich] dieses kleine Wesen nicht und wollte nicht mit ihm in der Baracke bleiben. Abends verhängte ich unsere Pritsche mit einer Decke, um nicht mit anzusehen, wie das Kind an Tante Sonjas abgemagerter Brust saugt. [...] Weder tags noch nachts hatte man Ruhe vor diesem Geschöpf.“ (Rudakowa 2011, 106)

Die Puppe wurde also von einem Kind eingesetzt, um einen mit dem Leben ringenden Säugling in nicht gerade wohlwollender Weise zum Schweigen zu bringen. Aus der Ferne haben wir kaum den Mut, uns solche Szenarien auch nur annäherungsweise vorzustellen – wir verbleiben im Generischen und betreiben damit eine Über-Routinisierung sowie Entproblematisierung des Alltags in der

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Zwangsarbeit. Der ehemalige Zwangsarbeiter Marcel Elola (2005, 35) bemerkt hierzu: „La guerre, le danger de mort quotidien créaient une ambiance exceptionnelle. [...] Disons qu’on voudrait vivre en très peu de temps ce que la vie paisible étale sur un très grand nombre d’années ou bien refuse.“

Das schloss erhebliche Wagnisse ein, „sans égard pour les risques encourus ni pour les suites fatales.“ In hochriskanten bis verzweifelten Situationen ändern sich bei den meisten Menschen die Einstellung zum Leben und die Disposition zum Handeln fundamental. Nach meinen Erfahrungen in Gesprächen, Führungen und Vorträgen über die Tempelhofer Grabungen besteht eine Tendenz dazu, existenzielle Angst als Gefühlslage auf die damaligen Exkludierten zu projizieren. Das ist sicher richtig, doch war diese in unterschiedlichsten Graden verschränkt mit außergewöhnlicher Courage. Eine Lektüre der Erzählungen von und Interviews mit ehemaligen Kriegsgefangenen, ZwangsarbeiterInnen und anderen Opfern des Nazi-Systems bringt einen außergewöhnlichen Reichtum an eigensinnigen Widerstandshandlungen im Kleinen zutage, wie etwa bei der Herstellung eines Messers, um einen SS-Hund zu töten und zu verspeisen (Denaiffe o.J.). Für die Extremfälle der Vernichtungs- und Konzentrationslager ist auch zu bedenken, dass zwar kurz nach dem Krieg den Überlebenden oft mangelnder Widerstand vorgeworfen wurde. Doch Friedländer (2007c, XXIV) rückt diese Perspektive auf das Handeln zurecht: „Anything that came to mind and led to survival meant setting an obstacle in the path of the German goal.“ Schon das schlichte Überleben war unter Bedingungen der ubiquitären Todesdrohung in den Vernichtungslagern Widerstand. Gerade weil der gesamte nationalsozialistische Repressionsapparat eine außerordentliche, brutale Anstrengung zur Disziplinierung, Enteignung, Entrechtung, Entsubjektivierung und Massenmord war, ist schon ein Anflug an Eigensinn als Widerstand gegen die extreme Standardisierung in einer minimal materiell ausgestatteten Welt zu werten. „Absolute Macht verdichtet den Raum und zerstört die Territorien der Person“ (Sofsky 1997, 80). Doch die Forderung des evokativen Interpretierens archäologischer Funde beinhaltet noch ein weiteres Dilemma. Die intuitive als auch die disziplinierte Imagination eines vergangenen Umgangs mit den Dingen tendieren dazu, die angenommenen Ursprungsbestimmungen der Objekte als zentral für ein Szenario anzunehmen. Scheinwerfer zum Leuchten, Puppen zum Spielen, Dosen zum Aufbewahren, Stifte zum Schreiben. Diese Tendenz zur „interpretativen Normalisierung“ (Bernbeck 2015a, 426–429) wird verstärkt, nicht etwa vermindert

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durch die Hinwendung der Archäologie zur Praxistheorie und Kulturgeschichte. Bourdieus Versuche, die alltäglichen Handlungen in ihrem Ablauf theoretisch zu erfassen, ist bekanntermaßen an den Habitus als eine „strukturierende Struktur“ geknüpft (Bourdieu 1998). Der Alltag ist demnach durchdrungen von interiorisierten, letztlich aber sozial vorgeprägten Handlungsschemata, die improvisierend im Alltag umgesetzt werden. Archäologisch wurde diese Idee vielfach dazu herangezogen, die zeitliche Skala der Rekonstruktionen von Vergangenheit zu verkleinern, da nunmehr plötzlich dem Alltag eine wichtige Funktion in der gesellschaftlichen Reproduktion zuerkannt wurde. Statt longue durée wurde die Mikrogeschichte zum Vorbild. An den Beispielen Sempruns und Rudakowas zeigt sich allerdings ein blinder Fleck in der archäologisch-historischen Umsetzung von Praxistheorien: Historisch unterschiedliche Lebenswelten sind nicht alle im selben Grade von Routinen durchzogen (Robb 2010). Krieg, Gewalt und Lagerleben gehören zu den geschichtlichen Situationen, in denen der Anteil von Ausnahmesituationen gegenüber routiniert erscheinenden deutlich zunimmt, bis diese Ausnahmen das Leben dominieren. Ist das Improvisieren bei Bourdieu eine Art der menschlichen Flexibilität, die durch das Fundament des Habitus ein Auskommen in der Welt garantiert, so kann sich dieses Verhältnis zwischen Habitus und Improvisation in Extremzuständen radikal verschieben. Wo Koselleck (1989, 349–375) Erwartung und Erfahrung als undifferenzierte Elemente subjektiven Zeiterlebens feststellt, setzen sich bei anhaltenden Extremsituationen wie dem Leben in Zwangslagern „gravierende Veränderlichkeitserfahrungen in radikale Veränderbarkeitserwartungen“ um (Bernbeck 2015a, 428). Da WissenschaftlerInnen selbst kaum in solch außerordentlichen Zuständen leben, ist es unabdingbar, über die eigene Umwelt zu reflektieren, und zwar in deren Verhältnis zu einer ehemaligen fundamental anders strukturierten Umwelt, mit welcher man sich archäologisch befasst. Die selbst erlebte Durchdringung des Alltags mit Ausnahmesituationen sollte nicht als historische Konstante angesehen werden. Diese komplexe Situation darf aber selbstverständlich genauso wenig dazu führen, grundsätzlich Extremszenarien in die Dinge hineinzulesen, ein Problem, das auch „historisch disziplinierte“ Evokationen betrifft. Denn die Einbildung von Szenarien, und erst recht deren Umsetzung in dauerhaften Text tut den Gejagten und Überlebenden, vor allem aber den Ermordeten dann unrecht, wenn sie so nicht vorkamen. Daher ist die willkürliche, disziplinierte Evokation von der schieren Phantasie in ähnlicher Weise abgegrenzt wie Doku-Fiktion von reinen Spielfilmen. Ein weitreichendes Studium vor allem von Augenzeugenberichten ist für dieses Verfahren unerlässlich, wobei auch die Partikularitäten der

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ausgrenzenden Lagerverhältnisse aus nicht-archäologischen Quellen umfassend recherchiert werden müssen. Die Integration von fiktiven Elementen, die Momente des Wahrscheinlichen betrifft, ist also gerade aus praxistheoretischer Perspektive von ethischen Schwierigkeiten durchdrungen. Am deutlichsten tritt uns dies in manchen unwillkürlich ablaufenden Evokationsprozessen entgegen. Es ist nicht verwunderlich, dass wir in den traditionell eher übervorsichtigen Geschichtswissenschaften und erst recht der Archäologie kaum Material zur Hand haben, um dieses Problem zu erörtern. Jeder über das Faktische hinausgehende Sinnüberschuss wird vor allem im deutschsprachigen Umfeld als gefährliche Spekulation eingeschätzt. Um die Grenzen der Evokation aufzuzeigen, greife ich zur Anschauung auf den Roman Austerlitz von W.G. Sebald zurück, in dem der Protagonist einen Besuch im früheren NS-„Auffanglager“ Breendonk in Belgien beschreibt (Sebald 2001, 28–40). Dort heißt es: „Indem ich in diese Grube [die Folterkammer, R.B.] hinabstarrte, auf ihren, wie es mir schien, immer weiter versinkenden Grund, auf den glattgrauen Steinboden, das Abflussgitter in der Mitte und den Blechkübel, der daneben stand, hob sich aus der Untiefe das Bild unseres Waschhauses in W. empor und zugleich, hervorgerufen von dem eisernen Haken, der an einem Strick von der Decke hing, das der Metzgerei, an der ich immer vorbeimusste auf dem Weg in die Schule und wo man am Mittag oft den Benedikt sah in einem Gummischurz, wie er die Kacheln abspritzte mit einem dicken Schlauch. Genau kann niemand erklären, was in uns geschieht, wenn die Türe aufgerissen wird, hinter der die Schrecken der Kindheit verborgen sind.“ (Sebald 2001, 37)

In historiographischen Zusammenhängen wäre eine solche Art der Evokation höchst unangemessen. Selbst im Bereich der Fiktion klingt dies anstößig, wie der Autor selbst wohl auch bemerkte, denn der letzte Satz des zitierten Textabschnitts scheint eine Entlastung zu versuchen. Die unwillkürliche Übertragung der Sinneseindrücke eines Ortes des Terrors auf im Verhältnis harmlose Kindheitsängste mag tatsächlich bei manchen BesucherInnen von Gedenkstätten auftreten. Zu wenig wissen wir über solche Effekte. Das Missverhältnis einer Gleichsetzung unterschiedlicher Leidensarten ist jedoch so gravierend, dass hier definitiv die ethischen Grenzen des Evokationspotenzials überschritten sind. Eine andere Grenze ist das unermessliche Grauen mancher Ereignisse, die jeden Anspruch eines Nacherlebens a priori ausschließen. Geht man von den Selbstzeugnissen der früheren Insassen von Nazi-Lagern und Bewohnern der Ghettos aus, so nahmen die sozialen Relationen eine unvergleichlich wichtigere

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Rolle ein als die materielle Welt, obwohl Hunger und die Versorgung mit dem Allernotwendigsten durchaus relevant waren und Organisationsgeschick erforderten. Zur Illustration verweise ich auf Christopher Brownings (2010) Remembering Survival, eine im Sinne der Mikrohistorie geschriebene Abhandlung zum Schicksal der Juden in Wierzbnik im Bezirk Lublin (Polen). Sowohl Brownings Werk als auch das Gedächtnisbuch Sefer Wierzbnik-Starachowice (Schutzman 1973) zeigen eindeutig, dass im Angesicht der existenziellen Bedrohung die materielle Welt zumindest in den Erinnerungen eine untergeordnete Rolle spielt. „Survivors’ most vivid and searing memories of the early days of German occupation related [...] to the shock of German brutality that accompanied everyday encounters and the overwhelming sense of humiliation, vulnerability, and danger that such casual brutality inflicted.“ (Browning 2010, 31)

Das historische Narrativ des Alltagsterrors seitens der Überlebenden aus Wierzbnik bleibt konstant fokussiert auf Ermordungen von Eltern, Kindern und anderen Verwandten, das Sterbenlassen, Deportationen ganzer Nachbarsfamilien in den Tod, oder den Zwang, angeschossene und halbtote Gemeindemitglieder lebendig zu begraben. Es ist eine seltsame Tendenz der heutigen archäologischen Wissenschaft, das subjektiv-menschliche Verhältnis zur Umwelt als mehr oder minder gleichmäßig verteilt auf Relationen zu anderen Subjekten und zu Objekten anzusetzen. „We are one with the past. […] We can transcribe this shared condition with the past both to the mere presences of the material past and how we associate with it, how we handle the same things, walk the same floors and travel along the same paths“ behauptet Kristján Mímisson (2012, 461). Wirklich? Yaakov Katz (1973, 21) berichtet Folgendes vom Massaker am 27.10.1942, als die SS ihn zur Anlage eines Massengrabs für die wie nebenbei erschossenen Ortsbewohner zwang: „We dug two graves, a separate one for the men and one for the women. While at work, one of the young men of the clean-up unit, Eliyahu Sharif of the town of Bazechin, broke his leg. A Nazi shot him on the spot. The bullet pierced his mouth, and while he was fully conscious, we were ordered to bury him alive. It is difficult to describe my feelings at that moment. It seemed to me that the ground we stood upon would give way; the earth would open its mouth and swallow the universe.“

Sharif wurde „erst“ am nächsten Tag ermordet und begraben...

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Man mache eine Reise in die polnische Stadt Starachowice, 160 km südlich von Warschau, und besuche den am südöstlichen Ortsrand gelegenen Rynek, den Marktplatz. Kann man, nur weil man im ehemaligen Zentrum des jüdischen Ghettos von Wierzbnik steht, dieselbe Position einnehmen wie die dort im Oktober 1942 von der Sicherheitspolizei zusammengetriebenen Juden? Als die Älteren, weil sie nicht schnell genug zum Rynek kamen, kurzerhand vor den Augen ihrer Familie und Nachbarn erschossen wurden (Browning 2010, 84–86)? Sich wie ein Opfer zu fühlen wäre die Konsequenz aus Mímissons Beschreibung, ist aber unerträglich naiv oder zynisch. Vielleicht sind es ja die mordenden Deutschen, mit denen wir uns in einer „shared condition“ befinden, mit denen wir „handle the same things, walk the same floors“? Hier ist definitiv Evokationen eine Grenze gesetzt. Gegenstände sind bestenfalls ein entferntes Echo eines solchen Leides. In der Tat ist jeder Versuch, sich in die jüdische Bevölkerung in von den Nazis beherrschten Gebieten über Einzelmomente hinaus hineinzuversetzen, eine zum Scheitern verurteilte Anmaßung (s.S. 220 –221). Es sind die emotional unvorstellbaren Verbrechen, die den Anspruch verbieten, ein gesamtes Leben am Abgrund in irgendeiner Weise „nacherleben“ zu können. Das gilt erst recht für den Versuch, sich existenzielle Situationen wie die gerade zitierten vorzustellen. Evokationen müssen in diesem Sinne beschränkt bleiben auf „harmlosere“ Momente außerhalb dieses unvorstellbaren Grauens.

Metaphorik und Evokation „Death was only an abstract notion. Auschwitz was already part of history“, bemerkt Kroh (Kroh und Duckstein 1996, 67) in ihrem Text. Dennoch war ein allgemeines Wissen um Auschwitz die Bedingung für die Möglichkeit ihrer kindlichen Imagination, die sich an den Puppen und anderen Spielzeugen festhakte. Die „Erlebnisphantasie“, wiederum ein Ausdruck Diltheys, hat in der historiographischen Sphäre notwendigerweise einen Rahmen, ein Vorwissen, dessen Skala sich stark von der konkreten Situation des Nacherlebens abhebt. Zum Vorwissen gehören der Holocaust, Gaskammern, Millionen Ermordete, im weiteren Sinne aber auch rassistische Ausgrenzung, Angriffskriege und Gewalt, sowie eine einigermaßen korrekte Einordnung, wann und wo spezifische Ereignisse sich abspielten. Ist also die schon mehrfach angesprochene Strukturgeschichte die Voraussetzung für eine praxistheoretisch orientierte „Kulturgeschichte“ der Gewalt? Und sind nicht die mikrohistorische Imagination sowie in deren Anschluss das Nacherleben eine Ruhigstellung der Geschichte durch Einzelszenen

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samt historischer Alibifunktion, wie der weiter oben schon diesbezüglich zitierte Adorno sarkastisch vermerkt (S. 143)? Trotz dieser Einwände gerade auch gegen die Mikrogeschichte lässt sich aus der Historiographie über den Nationalsozialismus meines Erachtens lernen, warum der problematische Rückzug ins Strukturell-Unpersönliche und von allen ethischen Fragen Bereinigte vermieden werden kann und muss. Saul Friedländers Kritik an der Strukturgeschichte dreht sich genau darum, dass sie den von ihr abgesteckten Rahmen nicht mit Inhalt füllt. Für die Vernichtungspolitik den Juden gegenüber führt er in Anschluss an den gerade zitierten Satz, dass „anything that came to mind and led to survival meant setting an obstacle in the path of the German goal“ Folgendes aus: „It is at this microlevel that the most basic and ongoing Jewish interaction with the forces acting in the implementation of the ‚Final Solution‘ took place; it is at this microlevel that it mostly needs to be studied“ (Friedländer 2007c, XXIV). Für Lager bedeutet dies, dass man die Prozesse der Verdinglichung bis zur Vernichtung nur dann adäquat analysiert und beschreibt, wenn man das tatsächliche Erleben der Ausgegrenzten und Erniedrigten zentral integriert.72 Das Eingehen auf das Evokationspotenzial von Objekten sollte auf diesem Weg noch erheblich weiterführen als bislang aufgezeigt. So schreibt Günter Anders aus Anlass der Erstausstrahlung des Films Holocaust: „Personen kann man nicht personalisieren. Höchstens ‚re-personalisieren‘: dann nämlich, wenn man sie durch Versklavung oder durch Verdinglichung oder durch Verwandlung in bloßen Abfall [...] ihres Personencharakters beraubt, wenn man sie also ‚de-personalisiert‘. [...] Was wir zu tun haben, und was der Film [Holocaust, R.B.] geleistet hat, ist, die Ziffern in Menschen zurück zu verwandeln. Und zu zeigen, dass die sechs Millionen Vergasten sechs Millionen Einzelne gewesen sind.“ (Anders 1979, 182–183)

Das Evokationspotenzial der materiellen Hinterlassenschaften von Leid, Unterdrückung und Mord in diesem Sinne wirken zu lassen, das durch die Dinge buchstäblich Hervorgerufene zu artikulieren ist nicht nur eine der Möglichkei-

72 Man mag den abstrakten Duktus einem Buch wie Wolfgang Sofskys (1997) Ordnung des Terrors vorwerfen, ein „ahistorisches und handlungsfreies Konstrukt sich selbst setzender absoluter Macht“ zu sein (Roth 1999, 120). Andererseits fragt es sich, ob nicht die abstrakte Sicht – der der Täter sehr nahe – zum Verständnis der Brutalität in diesem Falle beiträgt. Das Bedenkliche, wenn nicht Entsetzliche am generellen wissenschaftlich-historischen Diskurs, jedenfalls dem mir bekannten ist aber, dass diese Haltung zur Norm gemacht wird (s. Bernbeck 2009).

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ten, aus den Befunden und Gegenständen einer archäologischen Vergangenheit eine Geschichte zusammenzustellen: es ist eine Pflicht. Die Verbindung mit den Strukturen, die ein stacheldrahtumzäuntes Leben aufkommen ließen und erniedrigend gestalteten, lässt sich meines Erachtens dann integrieren, wenn wir Evokationsgegenstände metaphorisch lesen. Denn nicht jede Evokation muss sich im Modus des Nacherlebens auf eine historische Alltagssituation konzentrieren. Nehmen wir nochmals den kleinen Puppenarm und sehen ihn uns von einer anderen Perspektive an. Kopf und Körper der Puppe fehlen, doch wir scheinen in Abb. 4.9 eine zur Faust gerollte linke Frauenhand vor uns zu haben, mit rötlich-braunen Spuren am kleinen Finger und einem Ausbruch an den Knöcheln. Evoziert diese winzige Hand aus einer solchen Sicht nicht auch die zum Widerstand erhobene Faust einer Zwangsarbeiterin? Man mag sie als zart, zerbrechlich und empfindlich wahrnehmen, die Geste aber ist entschlossen. Ins Innere übertragen wäre dies ein verletztes Gemüt, blutig gestoßen vom täglichen Kampf gegen die unbesiegbar scheinende Macht der Betriebsleitung, aber im Kern trotzig und sich selbst behauptend. Die Hand ist angebrochen, aber nicht zerbrochen, auch dies ein Ausdruck für die Resilienz der Ausgebeuteten. Abbildung 4.9: Puppenarm der Abbildung 4.7 aus anderer Perspektive

Die als 15-jährige von den Nazis verschleppte frühere Zwangsarbeiterin Stanislawa Michalowska berichtet über ihre Knechtsarbeiten am Flughafen Tempelhof bei der Weser Flugzeugbau:

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„Untergebracht war ich in einer Baracke, ganz nahe am Flugplatz, durch den ich in die Fabrik ging. [...] Die Arbeit begann um sieben Uhr früh und endete je nach Bedarf der Fabrik, d.h. ich arbeitete acht, zwölf, 24 oder 36 Stunden lang. Meine Arbeit bestand in den abschließenden Tätigkeiten bei der Herstellung von Flugzeugen, besonders den Rädern oder Luftschrauben. Die Entlohnung betrug im ersten Jahr 50 Mark im Monat, dann bekam ich überhaupt nichts. Der Leiter der Halle, in der ich arbeitete, war Herr Labuch, ein aggressiver Mensch, der die Arbeiter oft schlug, ein Mensch, vor dem alle Angst hatten, und doch blieb man völlig hilflos gegenüber seiner schlimmen Einstellung.“ (zitiert in Heisig 2001, 206)

Mangelnde Nahrung tat ihr übriges zu „Verbitterung und Widerstand gegen Weserflug und die Bewacher“ (Wenz 2006, 140). Solche Zustände lassen sich metaphorisch in ein Objekt hineinlesen. Doch ist das nicht die einzige Richtung, in die die Imagination uns treiben kann. Die kleine Hand kann auch ein anders geartetes Grauen hervorrufen, wie es Nelly Sachs (2010, 16) in ihrem Gedicht „Hände“ formuliert:

HÄNDE Der Todesgärtner, Die ihr aus der Wiegenkamille Tod, Die auf den harten Triften gedeiht Oder am Abhang, Das Treibhausungeheuer eures Gewerbes gezüchtet habt. Hände, Des Leibes Tabernakel aufbrechend, Der Geheimnisse Zeichen wie Tigerzähne packend – Hände, was tatet ihr, Als ihr die Hände von kleinen Kindern waret? Hieltet ihr eine Mundharmonika, die Mähne Eines Schaukelpferdes, faßtet der Mutter Rock im Dunkel, Zeigtet auf ein Wort im Kinderlesebuch – War es Gott vielleicht, oder Mensch? Ihr würgenden Hände, War eure Mutter tot, Eure Frau, euer Kind? Daß ihr nur noch den Tod in den Händen hieltet, In den würgenden Händen?

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Als Sachs dieses Gedicht kurz nach 1945 in Schweden schrieb, hatte sie gerade noch dem Holocaust entkommen können. Auch eine Zusammenfügung von Funden und poetischen Texten kann Evokationen auslösen, die den generellen Rahmen der Nazi-Geschichte beleuchten. Nehmen wir ein anderes Objekt aus Tempelhof, den verrosteten Kopf eines Flaschenöffners (Abb. 4.10), und konfrontieren ihn mit einer Aussage aus Roger-Paul Droits Werk. „Rien d’autre qu’un décapsuleur. Un machin sans importance, indispensable seulement dans une circonstance très délimitée. Bien ajusté à sa fonction. Efficace en son genre: capsule enserrée de biais, effet de levier, chuintment immédiat du contenu, chute avec bruit métallique de la pièce à demi pliée. Banalissime, sans intérêt, seulement fonctionnel. Soudain, je n’arrive plus à le croire. La tête prise en étau, la pression qui la soulève, les vertèbres qui craquent, le crâne détaché tombant enfin du corps, roulant aux pieds. Ouvrir la bouteille, c’était arracher une tête. Décapsuler décapiter. Ou plutôt non.“ (Droit 2003, 150)

Droit denkt nicht an historisch spezifische Situationen, denn er redet von seinem eigenen Flaschenöffner zu hause, jedoch beschwört dieses Objekt in ihm Bilder herauf, die in die mörderische Nazi-Zeit passen, zumindest aus Sicht ihrer Opfer. Abbildung 4.10: Rest eines Flaschenöffners aus dem Bereich der Baracke 6, Zwangsarbeitslager der Weserflug, Tempelhofer Feld

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Abbildung 4.11: Zahnrad, Fund in einem Feuerlöschteich, Tempelhofer Feld

Ich schließe diese Überlegungen ab mit einem weiteren Objekt aus Tempelhof, dem prototypischen „Rädchen“ im Getriebe (Abb. 4.11). Dieser kleine Gegenstand stammt aus dem im Jahre 2012 ausgegrabenen Feuerlöschteich, demselben Kontext wie der Puppenarm. An dem exakt geschnittenen durchbrochenen Zahnrad von 3,2 cm Durchmesser und 1 mm Stärke ist eine formlose komplett korrodierte Rostmasse festgebacken.

Seit heute fühle ich mich besser, denn ich habe es endlich geschafft, eine Situation herzustellen, in der niemand mehr unangemeldet versucht, mein Arbeitszimmer zu betreten. Das kam so: ein Bürobote, der schon seit Langem hier angestellt ist und daher in vielen Dienststellen unseres Gebäudes wie selbstverständlich ein- und ausgeht, betrat nach kurzem Anklopfen, ohne dass ich Ja gesagt hätte, mein Zimmer. Das war die Gelegenheit! Ich hatte alles schon exakt vorgeplant und herrschte ihn zunächst an, er habe zu warten, bis ich ihn hereinließe. Er entschuldigte sich, und meinte nonchalant, es solle nicht wieder vorkommen. Ich stand auf, ging zur Tür, öffnete sie sperrangelweit und schrie ihn an: „Harms, Sie unterstehen sich, unangemeldet bei mir herein zu stolzieren, und mich dann auch noch mit einem ‚Guten Tag‘ zu begrüßen statt ‚Heil Hitler‘! Was meinen Sie eigentlich, wen Sie vor sich haben? Ich bin seit 1930 in der Partei und angesehenes SS-Mitglied!“ Der arme Eingeschüchterte meinte zaghaft, „Aber ich hab doch Heil Hi...“, worauf ich noch lauter wurde und nach Leibeskräften brüllte, soweit meine Stimme trug: „Sie wollen mich auch noch anlügen!! Das reicht jetzt, ich werde den Werkschutz rufen, der Sie an die Gestapo

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wegen volksverräterischer Stimmungsmache überstellen wird.“ Ich zwang ihn zurück in mein Büro, rief den Abwehrbeauftragten an und ließ Harms abführen. Während des Tages und zum Abend hin, als ich nach hause ging, schaute ich in mehrere mir verängstigt scheinende Gesichter. Ich hatte es geschafft! Endlich war ich diese entsetzliche Angst los, entdeckt zu werden. Seit etwa zwei Jahren habe ich immer wieder Zusammenbrüche, plötzlich, mitten bei der Arbeit falle ich vom Stuhl, finde mich mit stechendem Kopfweh auf dem Boden wieder. Manchmal geschieht dies auch zu hause, und meine Familie hat mich schließlich überzeugt, doch zum Arzt zu gehen obwohl eine gewisse Gefahr damit ja heutzutage verbunden ist. Diesen Hausarzt Holzinger mag ich gar nicht, denn er ist wie ich ein Parteimitglied und wie ich Ortsgruppenleiter, kommt aber aus schlechten Verhältnissen, wie man sagt. Ich habe schon mehrmals mit ihm über die politische Linie, die die Partei lokal verfolgen muss, Streit gehabt. Seine Praxis, wo er gläserne Spritzen und diese ekelhaften Nadeln hat, dient sicher auch dazu, den Volkskörper rein zu halten von krankhaftem Ungeziefer. Er untersuchte mich also und ließ sich meine Beschwerden beschreiben, und sagte, „Ich fürchte, Sie haben die Fallsucht. Sie wissen ja, was das ist, und wissen wohl auch, dass ich das weitermelden muss.“ Das Schlimmste, was ich mir hatte vorstellen können, war nun eingetreten, aber immerhin war ich vor lauter Angst einigermaßen vorbereitet auf diese Nachricht gewesen. Ich nahm den in diesem Augenblick schärfsten mir möglichen Ton an, versuchte, den Überlegenen herauszukehren, um nicht das innerliche Zittern zu zeigen. „Nein, das ist es nicht! Ich bin völlig gesund, es war reine Überarbeitung, bin mir da ganz sicher.“ Dr. Holzinger gab zurück, „Wie Sie meinen, aber seien Sie beruhigt, ich habe Sie im Auge, mein Lieber.“ Das war eine nicht sehr subtile Morddrohung. Wir verabschiedeten uns, und ich brachte noch unter, dass ich ihm natürlich wie üblich gerne behilflich sei, sollte das mal notwendig sein; ich wusste ja, er war verschuldet. Seit diesem Arztbesuch lebte ich in der ständigen Angst, bei einem dieser Anfälle entdeckt zu werden, besonders im Büro, wo mir dies schon mehrmals passierte. Daher musste ich auf irgendeine Weise dafür sorgen, dass niemand unangemeldet je mein Zimmer mit dem großen Schreibtisch und der vor kurzer Zeit für diese Notfälle angeschafften Chaiselongue betrat. Lange sann ich mit meiner Frau darüber, wie ich die Gefolgschafter im Hause vom unangemeldeten Eintreten ein für alle Mal abbringen könne. Wir kamen auf diese Idee, jemanden genau deswegen in aller Öffentlichkeit abführen zu lassen. Beide hatten wir eigentlich ein schlechtes Gewissen dabei, und saßen stundenlang im Wohnzimmer, die Gedanken hin- und her wälzend. Eines Tages vertraute ich mich meinem besten Freund mit dem Plan und den Bedenken an, der mir sagte, das brauche mich nicht zu beunruhigen. Wir seien alle nur kleine Rädchen in dem

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großen Getriebe der Volksgemeinschaft, aber manche seien eben gänzlich entbehrlich – dazu gehörten auch die meisten aus der unteren Gefolgschafterebene.73 Dieses Szenario ist weniger abwegig, als es an der Oberfläche erscheinen mag; in diesem Falle rekurriere ich auf Überlegungen der Positionalität, die ich weiter unten ausführlicher erörtere (s.S. 367–377). Insgesamt sind aber Szenarien mit metaphorischen Imaginationsmechanismen ein ethisch problematisches Feld. Hier gibt es keine Möglichkeit, mittels faktischer Elemente wie Dokumente, Fotos oder archäologischer Funde ein evoziertes Szenario einzuhegen. Daher denke ich, man sollte diese nur unter zwei Vorbedingungen überhaupt in historischarchäologische oder kommemorative Repräsentationen einbringen: sie müssen erstens klar von dokumentierten Quellen abgesetzt werden (das gilt auch für alle übrigen Evokationen), und sie sollten zweitens nur dort zum Zuge kommen, wo eine sehr dichte Quellenlage gegeben ist. *** Können auch Funde der Antike und Prähistorie die Rolle von Evokationsgegenständen annehmen? Sicher ist es leichter, sich in eine Lebenswelt des 20. Jahrhunderts mit all ihren außerordentlichen Gräueln und Verbrechen hinein zu versetzen als in eine dörfliche Gesellschaft in Nordindien vor mehreren Tausend Jahren. Nach der hier vorgelegten Analyse von Evokationen würde der Abstand zwischen uns und dem vorgeschichtlichen Indien, also zwischen den zwei Kopräsenzen der Abb. 4.3 (S. 184) so groß, dass ein Gegenstand nicht mehr als Brücke für die beiden zeitlich und lebensweltlich getrennten Mensch-DingVerhältnisse stehen kann. Das Objekt ist in der heutigen Lebenswelt bestenfalls eine Kuriosität, nicht aber auf beiläufige Art zweckdienlich. Der sterile Charakter der meisten archäologischen Schriften ist dieser unreflektierten Annahme ge-

73 Man mag statt dem obigen Szenario auch Passagen aus den Gefängnisaufzeichnungen des Kommandanten von Auschwitz, Rudolf Höß, zitieren, deren letzte Sätze lauten: „Wie beneide ich meine Kameraden, die einen ehrlichen Soldatentod sterben durften. Ich war unbewusst ein Rad in der großen Vernichtungsmaschine des Dritten Reiches geworden. Die Maschine ist zerschlagen, der Motor untergegangen und ich muss mit. [...] Mag die Öffentlichkeit ruhig weiter in mir die blutrünstige Bestie, den Millionenmörder sehen – denn anders kann sich die breite Masse den Kommandanten von Auschwitz gar nicht vorstellen. Sie würde doch nie verstehen, dass auch er ein Herz hatte, dass er nicht schlecht war.“ (Höß 1958, 151)

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schuldet. Solange Evokationen in ihrem imaginativen Charakter klar erkennbar sind, können sie auch für ganz andere Gesellschaften meines Erachtens als heuristisches Mittel eingesetzt werden. Dies führt nicht zu faktischen Kenntnissen, sondern zu neuen Einblicken in jeweilige Vergangenheiten durch andere als die Fenster des Katalogismus und der reinen Faktizität. Die Neuzeit-Archäologie ist nicht nur die Anwendung von Verfahren, die für weit ältere Epochen entwickelt wurden auf rezente Verhältnisse. Dieser „Missbrauch“ des Archäologischen führt seinerseits zu neuen Rahmensetzungen, die in die Antike rückgespiegelt werden können und sollten. Ich habe hier versucht, das Potenzial von Dingen als Evokationsgegenständen aufzuzeigen. Neben einer strukturellen Analyse der historisch-archäologischen Evokation ging es mir dabei um die Frage ihrer komplexen Temporalität und um die Position der Evozierenden im Verhältnis zu den Dingen als auch zu den Personen, die wir mit diesen Gegenständen in Verbindung zu bringen suchen. Eine wichtige Rolle spielt das artifizielle Abstellen des Beiläufigkeitscharakters der materiellen Umwelt. Schließlich habe ich die Möglichkeit metaphorisch angelegter Evokationen erwogen. Die gesamten Überlegungen mögen viel zu spekulativ scheinen und über das Ziel des Verstehens historischer Abläufe weit hinauszuschießen. Dieser Vorwurf hat jedoch selbst einen Haken, wie ich im Zusammenhang mit der Einhängung von Evokationen in größere Narrative erläutern werde: die Verweigerung der Imagination ist selbst historiographisch äußerst bedenklich und hat politische Folgen für das generelle Vergangenheitsverständnis, und dasjenige des „Dritten Reichs“ im Besonderen. Zunächst sei aber die Frage nach diesem sehr subjektiven Interpretationsweg auf die von der Nazi-Gesellschaft Ausgeschlossenen selbst angewandt: War in den Lagern „Evokation“ als eine Strategie des Überlebens zu bemerken? Die Aussagen der ZeitzeugInnen sind nicht eindeutig. Elie Wiesel (2006, 52) etwa meint, „bread, soup – these were my whole life. I was a body. Perhaps less than that even: a starved stomach.“ Ganz anders dagegen François LeLyonnais (LeLyonnais 2011, 57–58), der seinen Bericht über systematische Evokationen von Kunst als Überlebensstrategie in Mittelbau-Dora beginnt, indem er das lange Stehen am Appellplatz beschreibt: „Der Herbst hatte seinen Einzug gehalten. Da geschah es: Ohne Vorwarnung ergriffen mich die Äste der kahlen Bäume und trugen mich fort. Die Hölle von Dora verwandelte sich plötzlich in einen Bruegel, dessen Gast ich wurde. Zweifellos verstärkt durch die körperliche und geistige Schwäche, in der wir uns befanden, nahm eine helle Aufregung von mir Besitz“; um zu schließen : „Wo sind sie, die Erinnerungen an die ‚Passacaille‘ von Bach, gespielt während einer besonders scharfen Desinfektion, an das ‚Quintett für

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Klarinette‘ von Mozart, deren silberne Läufe sich mit dem scheußlichen Thema der Amöbenruhr verwoben, an das ‚XI. Quartett‘ von Beethoven, das seine Revolte am Tag nach einer Reihe besonders gelungener Hängungen grollte [...]?“

V ON E VOKATIONSGEGENSTÄNDEN ZUR HISTORISCHEN E RZÄHLUNG Im Zusammenhang mit Retention, Protention und Alfred Gells Lektüre des Gemäldes Réseau des stoppages étalon von Duchamp habe ich ansatzweise das Problem der Evokation als Element von Erzählungen angeschnitten (s.S. 186– 189). Können wir die archäologischen Hinterlassenschaften der Nazi-Zeit in eine zusammenhängende Darstellung einbinden, und wie könnte dies aussehen? Um diese Frage geht es in den nachfolgenden Überlegungen. Es ist illusorisch, sich einen unabhängigen, parallel zu den Text- und Bildquellen gestalteten Diskurs allein aus archäologischen Materialien vorzustellen, der dazu dient, andere Diskurse zu korrigieren. Das ist nicht verwunderlich, denn auch Fotos benötigen immer Sprache, um ihr orts- und zeitspezifisches Entstehen zu bezeugen. Allerdings ist auch Sprache nicht nur sinnstiftend, sondern der Komplementierung bedürftig, denn menschliche Praxis und ihre symbolisch-linguistische Wiedergabe sind nicht identisch. Materialität in Form bestimmter Funde oder Befunde kann Abweichungen der Praxis von Planungen aufzeigen, wie anhand von Betonfundamenten eines Lufthansa-Barackenlagers in Tempelhof erläutert (Bernbeck 2015, 421–426). Um die Breite der archäologischen Möglichkeiten für die Konstruktion von historischen Narrativen abzustecken, gehe ich zunächst kurz auf in der Archäologie entwickelte Methoden ein, mittels derer man meint, aus dem materiellen Stillstand der Ruinen und Fragmente zu den Bewegungsabläufen der Vergangenheit gelangen zu können. Dinge wie der Handscheinwerfer, der Puppenarm oder die unterschiedlichen in Kapitel 2 und 3 abgebildeten Leichtmetall-Plättchen (Abb. 3.2; S. 139 und Abb. 3.5, S. 149) existieren zunächst in der Gegenwart und sind bestenfalls eine Spur in die Vergangenheit. Der archäologisch-materielle Komplex ist statisch, war aber ursprünglich Teil einer dynamischen Lebenswelt. In der Archäologie wurde für die Rückverwandlung der statischen Gegenwart in die dynamische Vergangenheit vor fast 40 Jahren die sog. „Middle Range Theory“ entwickelt (Binford 1977; Raab und Goodyear 1984). Dieses Programm entstand im Rahmen der „prozessualen Archäologie“, die die Vergangenheit als ein sich selbst mehr oder minder schnell transformierendes System auslegte (s. Bernbeck 1997, 109–129). Untersuchungen im Rahmen der Middle Range Theory bestanden aus

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ethnoarchäologischen Forschungen, wie sie etwa Carol Kramer (1982) und Patty J. Watson (1979) in Dörfern im Iran oder Lewis Binford (1978) bei den Nunamiut in Alaska vorgenommen hatten. Dabei setzte man voraus, dass beobachtete Korrelationen zwischen menschlichem Verhalten und seinem materiellen Niederschlag über den erforschten Einzelfall hinaus verallgemeinerbar sind. Eine andere Richtung der Middle Range Theory ist die experimentelle Archäologie, die aus den materiellen Gegebenheiten den Rahmen von möglichen Handlungen zu eruieren versucht (z.B. Pierce 2005). Diese Ansätze sind, wie sofort klar sein dürfte, für eine Archäologie der Nazi-Zeit nicht anwendbar. Niemand – so nehme ich an – wird Menschen in größter Not auf Handeln hin in einem quasi-ethnographischen Modus untersuchen, ohne in die Situation aktiv einzugreifen, um sie zu ändern. Die Welt der Lager als „Labor“ für kulturwissenschaftliche Modelle zu nehmen, ist wissenschaftsethisch völlig unvertretbar.74 Es gibt zwar archäologische Untersuchungen von Extremsituationen, so etwa Jason De Leóns (2015) „Undocumented Migration Project“, jedoch unter einem klar politischen Anspruch, hiermit auch die horrenden Zustände der Migration zu ändern. Ein weiterer Aspekt ist hier zu bedenken. Middle Range Theory wurde in einem systemtheoretischen Rahmen entwickelt, der Vergangenheit als eine Aufeinanderfolge von intern dynamischen Systemen ansah, wobei eines relativ abrupt durch ein darauffolgendes, in der Regel komplexeres abgelöst wird (Flannery 1972). Dabei waren die Einzelstadien wie etwa die politischen Organisationsformen „band – tribe – chiefdom – state“ so generalisiert gesetzt, dass die Menschen, die diese Geschichte machten, gänzlich vernachlässigbar wurden. Diese Vorstellung einer Vergangenheit ist nicht nur vergröbernd-ahistorisch, sondern auch in ihrer a priori angesetzten Langfristigkeit so weitmaschig, dass sie für einen Zeitabschnitt wie das 20. Jh. gänzlich ungeeignet ist. Kann die Archäologie sich an den historischen Wissenschaften orientieren, die ja den Übergang vom Archiv zum Narrativ auch irgendwie zustande bringen? Archiv – Narrativ: Diese Schnittstelle der „historischen Imagination“, das Stadium der Präfiguration, ist konzeptuell nicht einfach zu fassen. Bermejo Barrera (2005, 188) setzt Erinnerung von Geschichte ab, weil Erinnerung Evokationen mittels Gefühlen produziere, während Geschichte dies durch Diskurs erreiche. Diese seltene Einbeziehung des Begriffs der Evokation führt zu einer ähnlichen Differenzierung wie der von mir vorgeschlagenen zwischen unwillkürlicher und willkürlicher Evokation.

74 Mit der Wende zum Postkolonialismus müsste die Ethnoarchäologie aus ähnlichen Gründen längst verschwunden sein.

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Die Parallele reicht dennoch nicht aus. Wie weiter oben ausgeführt, unterstehen archäologische und andere Dinge immer mehreren Interpretationsmodi (s.S. 92–97). Sie können als Quellen gelesen werden, sie stehen als Bürgen ein für Gewesenes und sie evozieren Handlungen. Diese Mehrdimensionalität der Objekte führt letztlich zurück zu einer viel allgemeineren Frage: Was kann das Ziel einer Archäologie der Nazi-Zeit überhaupt sein? Ein Narrativ? Ausstellungen? Eine Illustration dessen, was historisch erforscht wurde? Dinge für ein leichteres, gar erleichterndes Gedenken? Selbst wenn man sich vielleicht auf das Ziel einer Erweiterung vorhandener Erkenntnisse durch archäologische Forschung wird einigen können, hat diese Hinzufügung ihre ganz spezifischen Begrenzungen in den Eigenheiten des Materiellen und seinem Potenzial, praktisch erforscht zu werden. Zudem müssen solche Ergebnisse immer in Abhängigkeit von den Erkenntnissen anderer Disziplinen gesehen werden. Auffällig ist, dass an den Stellen, wo in der Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus Verallgemeinerungen über das historisch Partikulare hinaus thematisiert werden, sofort ethische Probleme aufkommen, für die der sog. Historikerstreit paradigmatisch ist (s. Piper 1987). Auch die erwähnte feministische Kritik an Fotografien (s.S. 64– 65) entzündet sich zu einem guten Teil an der Nichtverallgemeinerbarkeit von Darstellungen, eine Problematik, die ich nochmals in Kapitel 5 aufgreife. Die historischen Wissenschaften haben sich intensiv bemüht, den Nationalsozialismus in seiner internen Entwicklung, in den Gründen für seine rasche Radikalisierung, seinen wirtschaftlichen Aspekten und dem Drang zum Krieg zu erfassen (Kershaw 1994; Kansteiner 1994; Wildt 2008). Diese Arbeiten geben den Rahmen für eine Archäologie derselben Zeit ab, weil sie der Investigation des Materiellen um viele Jahre vorgängig sind. Strukturell gibt es durchaus Ähnlichkeiten der Wissensproduktion. Denn die Zweistufigkeit des archäologischen Arbeitens – erst die Ausgrabung, dann die interpretierende Auswertung – entspricht dem historischen Vorgehen mit der Archivrecherche und darauffolgender narrativer Interpretation. Sind unsere Archive im Boden verborgen und bestehen aus Dingen, haben die HistorikerInnen ebenso leblose Papiere vor sich, die sie in eine dynamische Darstellung verwandeln. Mit dieser Parallele stoßen wir zugleich auf die in den Geschichtswissenschaften umstrittene Frage nach der sogenannten Faktizität des Historischen. Die Diskussion der letzten Jahrzehnte um dieses Problem ging aus von Hayden Whites bekanntem Werk Metahistory (1991), in dem er den Geschichtswissenschaften vorwarf, zu unterschlagen, dass der Ursprung ihrer Darstellungen fiktiv ist, da die Arbeit der „Figuration“ des Historischen, vor allem auch des implizit in historischen Werken konstruierten Plots, primär eine Angelegenheit des Erzählstils ist, und die sog. Fakten eher eine Nebensächlichkeit, da diese auch anders ausgewählt, zusammengestellt und

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vor allem sprachlich eingerahmt werden können. „Geschichtsschreibung ist Erzählung. Erzählungen sind erfundene, sprachliche Kunstprodukte, auch wenn sie sich auf reale Personen und reale Ereignisse beziehen. Deshalb ist Geschichtsschreibung Erfindung“ – das ist in wenigen dürren Worten Kansteiners Zusammenfassung von Whites auf mehreren Hundert Seiten ausgebreiteten Argumenten (Kansteiner 2013, 12). Natürlich muss eine solche These gerade in historischen Abhandlungen zur Shoah zu Widerspruch führen. Die komplette Loslösung der Form als dem Inhalt vorgängig – von White (1991, 30) in den Begriff der „Präfiguration“ gefasst – ist umstritten. Schließlich ist Präfiguration immer an ein Vorwissen irgendwelcher Art gebunden, so dass Form und Inhalt in einem dialektischen Verhältnis zueinander stehen. In diesem Sinne ist auch Perry Andersons (1992, 64) Statement zu lesen, dass „certain kinds of evidence preclude certain sorts of emplotment.“ Whites undialektische Position hingegen kann so verstanden werden, dass die Realität der Massenmorde in den Vernichtungslagern, die Angriffskriege und menschenverachtenden Internierungen von der geschichtlichen Darstellung unhintergehbar verdeckt werden. Historia rerum gestarum ist die Mauer, hinter der die res gestae verschwinden. Eine solche Relativierung des Wahrheitsanspruchs verschafft allerdings auch sog. „Revisionisten“ und Holocaustleugnern wie Rudolf Germar und David Irving zumindest einen epistemologischen Vorteil. Auch White (1987, 76–80) meint zu diesem Problem daher, dass das Faktische eben nicht komplett von narrativer Praxis verdeckt wird. In den archäologischen Termini dieses Buchs ausgedrückt: die Bürgschaft der Dinge ist ein Aspekt, der nicht durch Quelleninterpretation oder durch ihre Anschauung als Evokationsgegenstände aufgehoben wird. Im Angesicht des Holocaust wird das Problem der Form durch ein inhaltliches ergänzt. Gerade traditionell-linear erzählende Historiker wie Christopher Browning zeigen die Unmöglichkeit der verstehend-nacherlebenden Narrationen auf. Er beschreibt anhand von Täterzeugnissen des Reserve-Polizeibataillons 101 den Mord an 1500 Juden in Jozefów südlich von Lublin im Juli 1942. Details aus den Akten fasst Browning (1992a, 24) so zusammen: „Second Company received no instruction on how to carry out the shooting. [...] Many of the men did not give neck shots but fired directly into the heads of their victims at pointblank range. The victims’ heads exploded, and in no time the policemen’s uniforms were saturated with blood and splattered with brains and splinters of bone.“

Die unermessliche Gewalt dieser Ereignisse und die Skala, auf der dies stattfand, sind weit außerhalb der erfahrbaren heutigen Welt. Der hermeneutische Zugang

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zu dieser Geschichte, und zwar sowohl auf Opfer- als auch auf Täterseite, ist versperrt; und damit auch jeder Versuch einer Evokation von Einzelheiten solcher Extremsituationen (s. dagegen Rüsen 1997, 130). Die aus Erkenntnissen wie denen Browns resultierende sog. Nichtrepräsentierbarkeitsthese ist deshalb von Belang, weil sie den chronologischen Zeitabschnitt von 1933 bis 1945 permanent offen hält und damit das Gefühl unmöglich macht, die Taten irgendwie verarbeitet und hinter sich gebracht zu haben (s. Kansteiner 1994; Lang 2000). Martin Broszats (1985) Plädoyer für eine Historisierung der gesamten NSZeit als eine Epoche, die in die Sequenz der europäischen und Weltgeschichte gehört wie jede andere, läuft der Erkenntnis massenhafter, subjektiv nicht nachvollziehbarer Verbrechen zuwider. Voraussetzung für diesen Prozess der Historisierung ist also eine Objektivierung der Tatbestände und die damit ermöglichte Betrachtung „von außen.“ Die Shoah soll normalisiert werden als ein Ereignis unter vielen ähnlichen. Zu diesem Zwecke versuchte Broszat, die sperrigen Erinnerungen der Opfer als mythisch und irrational abzuqualifizieren (s. dazu Friedländer 2007b). Niemand streitet ab, dass eine Synthese der ökonomischen Politik samt Zwangsarbeit, dass eine Kriegs-, Kultur- oder Sozialgeschichte der zwölf Nazijahre geschrieben werden kann. Am Holocaust und seinem Gesamtumfeld scheiden sich jedoch die Geister. Das Problem hierbei ist die vereinheitlichende Überblicksgeschichte, die notwendig zu einer omniszienten Perspektive wird. Eine solche Auktorialität aber hat strukturelle Ähnlichkeiten zu ganz bestimmten historischen Akteuren: den Machthabern aller Zeiten (Bernbeck 2009). Im Falle der NS-Zeit und des Holocaust sind dies die Entscheidungsträger in den Apparaten, von amtlichen Regierungsstellen über die NSDAP bis zur SS und Generalität. Der Versuch, die Ausschließung, Unterdrückung und schließlich die versuchte komplette Vernichtung der Juden, Roma und Sinti sowie anderer Bevölkerungsgruppen dadurch zu verstehen, dass man sie unter eine disziplinäre Kontrolle bringt, ist nachträglich verdoppelte Gewalt auf symbolischer Ebene. Broszats Forderung der historischen Eingliederung wird notwendig zum Versuch einer strukturell verharmlosenden, verschweigenden Reduktion der Ungeheuerlichkeiten des nationalsozialistischen Staates. Nicht nur bei Überlebenden, sondern auch bei Künstlerinnen und Philosophen führte dies zu Abwehrreaktionen, meist bestehend aus dezidierten Statements über die Unintelligibilität der Shoah. Neben Adornos bekanntem Diktum über Poesie nach Auschwitz vertritt Claude Lanzmann diese Position in der Öffentlichkeit heute am deutlichsten: „Die Frage braucht bloß in einfacher Form gestellt zu werden – Warum wurden die Juden umgebracht? –, um sie schlagartig in ihrer Obszönität zu enthüllen. Es gibt eine

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absolute Obszönität eben im Unterfangen des Verstehens“ (C. Lanzmann, zit. in Caruth 2000, 95, Hervorhebung R.B.). „Historisierung“ oder der Versuch, den Holocaust als historischen Prozess zu normalisieren, hat selbst eine lange Geschichte. Sie reicht vom anfänglichen Verschweigen zur Verweigerung deutscher HistorikerInnen, sich intensiv mit der Shoah auseinanderzusetzen – die erste große Konferenz zu diesem Thema fand 1984 statt (Friedländer 2007b, 190) – bis zu Kansteiners Nachzeichnung des Versuchs, den Holocaust vom absoluten Geschichts- und Zivilisationsbruch zum exemplum umzudeuten (Kansteiner 1994). In diesen Kontext gehören auch Welzers Kritik an der angeblich verkrusteten Erinnerungskultur an die Shoah (Giesecke und Welzer 2012, 27–77) und die annähernd 50 Jahre währende Nichtbeachtung der Materialität des Nazi-Systems durch die Archäologie nach 1945. Historisierung als „Integration in die Geschichte“ bedeutet notwendigerweise eine Normalisierung. Kann man die Singularität des Holocaust und seiner Bedingungen, die Heraussprengung aus dem Kontinuum der Geschichte überhaupt historisch einholen? Saul Friedländer (1997, 2007c) hat dies in seinem zweibändigen Werk Nazi Germany and the Jews versucht, indem er die narrative Form soweit auflöste, dass der Effekt der „narrative closure“ und damit eine potenziell mit dem Erzählen verbundene ästhetische Befriedigung nicht eintreten. Linearisierung und Einordnung in den weitgehend chronologisch angeordneten Text werden immer wieder durch persönliche Zeugnisse der Opfer des Holocaust aufgebrochen (Friedländer 2007a, 28–53). Zwar hat auch bei Friedländer eine omnisziente Erzählung die Funktion eines roten Fadens im Text, doch wird dieser immer wieder verknotet an Stellen, an denen sich plötzlich Opfer des Systems zu Wort melden, deren direkte Erfahrungen den Erzählfluss nicht – wie in anderen historischen Erzählungen – bestätigen (z.B. Herbert 1999b), sondern aufhalten und konterkarieren. Insgesamt entsteht dadurch eine multivokale, durchbrochene Narration (Kansteiner 2013, 21). Am historischen Sonderfall des Holocaust und seiner Behandlung durch HistorikerInnen zeigt sich aber auch eine andere Seite, die Daniel Fulda verdeutlicht, wobei er sich auf zwei Monographien des gerade zitierten Christopher Browning (1992b, 2010) bezieht. Brownings Abhandlungen basieren auf Prozessakten. Fulda meint, Rechtsprechung stehe zumindest inhaltlich der Geschichtsschreibung nahe, denn „die Darstellungsform der Erzählung ist dabei unverzichtbar, weil sie den Handlungszusammenhang (den Tathergang) klärt, ohne dessen Kenntnis kein Urteil möglich ist“ (Fulda 2013, 137). Geschichte und Gericht sind an möglichst wahrheitsgetreuen Darstellungen von Sachverhalten interessiert, um sich ein Urteil zu bilden. So kommt es, dass die Geschichts-

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schreibung, siehe Browning, Gerichtsakten benutzt, und dass umgekehrt historische Expertise an Gerichtsverfahren teilnimmt (Frei, Van Laak, und Stolleis 2000). Es gibt in der Justiz jedoch eine Verengung gegenüber der historischen Erzählung: „Vor Gericht wird aus den verschiedenen Erzählungen der Zeugen [sic] die eine für wahr angenommene Geschichte konstruiert“ (Brückweh 2009, 193, Hervorhebung im Original). Dagegen kann Eindeutigkeit in den historischen Wissenschaften einschließlich der Archäologie nur für spezifische Ereignisse angestrebt werden – wenn überhaupt. Ein Beispiel hatte ich schon angesprochen: die Bemühungen der New Forensis (s.S. 160–174). Hier wird jeweils für ein zeitlich und räumlich scharf umrissenes Feld das Ziel gesetzt, einen einzigen Vorgang eindeutig in seinem Ablauf darzustellen und zu beurteilen, was aus dem stark an Gerechtigkeitssuche orientierten Konzept resultiert. Aber auch über die New Forensis hinaus gilt, dass ohne Feststellung des Tathergangs keine Möglichkeit zur Urteilsbildung besteht. Es gibt also einen Bedarf nach Erkenntnissen zum Handlungszusammenhang, dem aber im Falle des Holocaust die Wirkung der formalen (und oft inhaltlichen) Tendenz zur harmonischen Erzählform entgegensteht, als auch das inhaltliche Problem der Unvorstellbarkeit. Dies betrifft die schiere Zahl der Opfer als auch (und besonders) konkrete Tathergänge. Schließlich ist anzumerken, dass der Holocaust als Ermordung von Juden, Roma, Sinti, Homosexuellen, Behinderten, unliebsamen Geistlichen und politischer Opposition keine scharfen Ränder hat. Verbrechen des gesamten Zweiten Weltkriegs, das Sterbenlassen von Millionen sowjetischer Kriegsgefangener an Hunger und Krankheit, Arbeitserziehungslager und andere Arten der mörderischen Ausgrenzung sind Teil dieser Vernichtungsmaschine gewesen, und stellen daher für die Geschichtsschreibung ähnliche Herausforderungen dar.

Ortsgenealogie als Erzählform Welche Möglichkeiten stehen dann einer Darstellung archäologisch erforschter historischer Vorgänge offen, die (1) die Urteilsbildung erlaubt, (2) multiple Perspektiven einbezieht, und (3) die Vielfalt der durch archäologische Funde und Befunde indizierten Mikroskala des Historischen berücksichtigt? Zunächst verweise ich auf eine schon angesprochene Dimension des Archäologischen, seine Ortsgebundenheit. Die archäologische Herangehensweise zeichnet sich durch eine geographische Konkretheit aus, die historische Untersuchungen oft vermissen lassen. Eine Abhandlung zum Zusammenhang zwischen Krieg, Exklusion und Wirtschaft des „Dritten Reichs“ (Aly 2005b), eine Biographie Heydrichs

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(Gerwarth 2011) oder eine Monographie über die Entwicklung normaler Menschen zu Massenmördern mit gutem Gewissen (Welzer und Christ 2005) sind großenteils ortlos, was sogar auf ein Buch über die „Ordnung des Terrors“ mit extensiven Diskussionen von Ortsaménagements zutrifft (Sofsky 1997). Sie setzen das „Dritte Reich“ als geographische Sphäre ein oder verfolgen den Lebensweg eines Individuums, wobei Orte bestenfalls eine Bühne abgeben. Natürlich gibt es auch deutlich ortsgebundene historische Werke, wie etwa Christopher Brownings (2010) Buch über Starachowice oder Michael Wildts regionsspezifische Geschichte aus der Weimarer und frühen NS-Zeit (Wildt 2007). Beide werden als Beispiele von microstoria oder Alltagsgeschichte eingeschätzt. Microstoria tendiert nicht nur zur chronologischen, sondern eben auch zur detaillierten räumlichen Fokussierung. Jedoch bleibt der Ort auch in diesen Narrativen meist eine fixe Größe, statt selbst durch die Geschichte konstituiert zu werden. Die Ortsgebundenheit des Archäologischen hingegen lenkt aufgrund ihrer Praxis des Ausgrabens Zusammenhänge fast selbstverständlich in Richtung der Mikrohistorie. Nun mag man behaupten, die vielen ehrenamtlich arbeitenden Geschichtswerkstätten hätten schon zu einer solch intensiven Auseinandersetzung mit entsprechenden Themen geführt, dass eine Disziplin wie die NeuzeitArchäologie wenig Neues hinzuzufügen hat. Lokalgeschichtliche Abhandlungen enthalten jedoch allzu oft genau das von White thematisierte Problem der abgeschlossenen Form als auch die Verkürzung von Ursache-Wirkungs-Ketten. Ein historischer Vorfall soll so untersucht werden, dass wir ihn erklären können. Lokale Ereignisketten – etwa politisch motivierte Saalschlachten in Dörfern der hessischen Wetterau nördlich von Frankfurt in der Zeit vor 1933 – werden in einem Narrativ figuriert, das schon am Titel („Warum ...“) das Streben nach Aufdecken von Kausalzusammenhängen verdeutlicht (Strecker 2011), und damit die Frage nach dem Sinn dieser Vorgänge stellt. Was heute lokal nicht mehr sinnerfüllt erscheint, soll so erklärt werden, dass es sich in eine Abfolge der Geschehnisse einordnen lässt, wobei diese Abfolge harmonischen, antagonistischen, zwiespältigen oder anderen Charakters sein kann. Diese landläufige Auffassung der Rolle der Geschichte als Sinnstiftung (Rüsen 2006) insistiert, dass man mit rigorosen wissenschaftlichen Methoden herausfinden kann, wie bestimmte Ereignisse und Konfigurationen der Vergangenheit zustande kamen. Wir sollten diese a priori als lösbar gesetzte Sinnfrage keineswegs leichtfertig als Grundlage hinnehmen. Die antisemitische Ideologie der Nazis kann von der jüdischhessischen, der jüdisch-deutschen und der jüdisch-europäischen Bevölkerung nur als sinnlos empfunden worden sein. Ist es nicht bedenklich, diesem ausgegrenzten und existenziell bedrohten Leben im Nachgang einen objektiven Sinn

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zu geben? Kommt hier Sinnstiftung nicht der Legitimation des Abgelaufenen nahe? Und muss diese Frage nicht auch auf viele andere historische Subjekte ausgeweitet werden? Der leider weitgehend vergessene Theodor Lessing wies schon einige Zeit vor dem „Dritten Reich“ historische Kausalketten als „schnelle Abwälzungen und Beruhigungen“ zurück (Lessing 1921, 48). In letzter Konsequenz – und im Gegensatz zu Evokationsszenarien – lassen diese Überlegungen „Sinn“ im Bereich der narrativen Geschichte, „Richtung und Absicht“ im eigenen Erleben (s.S. 177–180) als eine Frage ohne Antwort erscheinen. Eine örtlich-archäologisch verankerte Darstellung gerade von aspeken des Nationalsozialismus sollte meines Erachtens die der Erzählung innewohnenden Tendenzen zur Kohärenz meiden. „Abklärung, das wäre ja auch Erledigung, Abmachung von Tatbeständen, die man zu den geschichtlichen Akten legen kann“, meint Jean Améry (1977, 13) zu dem, was ich kurz oben als Historisierung erläutert habe. Ich plädiere daher dafür, eine Form der Darstellung zu finden, die sich nicht an traditionellen historischen Narrativen als Ideal orientiert, sondern an Foucaults Gedanken zur Genealogie. Foucault (2009, 194) formuliert prägnant, „Wissen dient nicht dem Verstehen, sondern dem Zerschneiden“, also genau dem Gegenteil dessen, wofür es in der Historie traditionell eingesetzt wird. Foucault geht es in diesem Text, einer Nietzsche-Lektüre, um eine radikale Infragestellung von unreflektierten Vorannahmen und um die Herausstellung grundsätzlicher Kontingenz im Historischen. Die Beschreibung der Geschichte soll nicht von ihrem Ende her als Ursache-Wirkungskette erfolgen, sondern als Raum von Möglichkeiten und Diskontinuitäten, als unterdeterminierter Prozess. Eine weitere wichtige Dimension der Genealogie ist für Foucault die politische der Subjektkonstitution. Genealogie „is ‚local‘ or contextual, which is not to say non-generalizable nor relativist. Its applications are restricted to all the places, sites, and fields in which identities, subjectivities and reflexive categories are formed and constituted“ (Saar 2002, 236). Auch die Entsubjektivierung, die ich weiter oben thematisiert hatte (s.S. 126–128), ist, wenn man so will, ein negativer Subjektivierungsvorgang. Nun vernachlässigt Foucault als einer der hauptsächlichen Theoretiker des Diskurses im 20. Jh. die Materialität der Welt sträflich.75 Doch die Archäologie enthält die Möglichkeit, eine derartige inhaltliche Lakune anhand von Ortsgenealogien zu problematisieren.

75 Seine Geschichten der Sexualität, des Wahnsinns und des Gefängnisses beziehen an manchen Stellen die gegenständliche Welt ein, so etwa in seinen Ausführungen zum



Panoptikum, welches er aber ebenfalls metaphorisch als Indikator für die Position der Subjekte in der Moderne liest.

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Ortsgenealogien sind Darstellungen, die anhand schriftlicher, bildlicher und gegenständlicher Unterlagen eine unterdeterminierte, diskontinuierliche Subjektivierungsgeschichte schreiben. Sie sind also nicht pur archäologisch, sondern eine dem Archäologischen zugewandte Form der historischen Darstellung, die langfristige und kurzfristige Zeitlichkeiten in sich tragen muss. Die drei Elemente der Unterdeterminierung, der Diskontinuität und der Subjektivierung sowie ihre Relationen untereinander werde ich im Folgenden etwas ausführlicher erörtern.

Normale Wissenschaft als wissenschaftliche Normalisierung Das Verhältnis zwischen Quellen und geschichtlichem Narrativ ist immer eines der Unterdetermination. Schließlich wird eine Geschichte traditionell von einer Quellenauswahl bestimmt. Das trifft erst recht auf Archäologie zu, deren Ressourcen ja in der Regel Fragmente sind, die allerdings bei neuzeitlichen Grabungen in sehr großen Mengen auftreten. Wir können überdies davon ausgehen, dass die Überreste nicht repräsentativ sind, da organisches Material sich nur in sehr geringem Umfang erhält. Im spezifischen Falle des Zweiten Weltkriegs zersörten Bombardierungen und die bewusste Verschleierung von Verbrechen Evidenz. Realismus der historischen Darstellung muss, wenn Archäologisches eingeschlossen ist, notwendig auf Fiktion hinauslaufen, denn der erforschte Ort ist interpretativ ein Möglichkeitsraum. Ein Zitat aus Robert Musils Mann ohne Eigenschaften mag illustrieren, was ich hiermit meine: „Wenn man gut durch geöffnete Türen kommen will, muss man die Tatsache achten, dass sie einen festen Rahmen haben: dieser Grundsatz, nach dem der alte Professor immer gelebt hatte, ist einfach eine Forderung des Wirklichkeitssinns. Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, und niemand wird bezweifeln, dass er seine Daseinsberechtigung hat, dann muss es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann. Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muss geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müsste geschehn; und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, dass es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.“ (Musil 1978, I:16)

Diese Aussage lässt sich ohne weiteres auf Geschichtsprodukte projizieren, weshalb die Geschichte dauernd umgeschrieben wird. „Es ist so gewesen“ führt di-

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rekt zur Frage: „Könnte es nicht auch anders gewesen sein?“ Ein eklatantes Beispiel auf internationaler Skala ist der Disput um den Beginn des Ersten Weltkriegs, dessen Ursachen nach der „Fischer-Kontroverse“ (s. Fischer 1967) für lange Zeit Deutschland zugeschrieben wurden, seit wenigen Jahren aber in den Geschichtswissenschaften dominant als chaotisches Zufallsprodukt „der Umstände“ uminterpretiert werden (Clark 2012; Münkler 2013). Solche Wandlungen sind keine rein akademische Fragen, sondern haben Auswirkungen auf den politischen Bereich und das kollektive Bewusstsein, werden aber gleichzeitig von letzterem konstituiert. Die Unterdeterminiertheit des Historischen ist natürlich keine Frage nach dem Geschehen selbst, sondern seiner Darstellung. Ebenso verhält es sich mit den archäologischen Evokationsgegenständen. Willkürliche Evokationen sind einseitig und subjektiv, auch wenn sie wie oben beschrieben kontextuell „diszipliniert“ sind. Daher darf hier nicht der Eindruck eines Wahrheitsanspruchs entstehen. Der imaginative Umgang mit Gegenständen, gerade wenn sie von solchen Orten wie Zwangslagern kommen, erfordert äußerste Bedachtsamkeit. Denn Evokationen, die in schriftliche Szenarien gerinnen, maßen sich an, die Erfahrungen anderer wiederzugeben, weil diese selbst zum Schweigen verurteilt wurden.76 Wir lesen in ein Objekt etwas hinein, und zwar qua imaginiertem Nacherleben einer uns real unbekannten Situation. Wie schon bemerkt, ist dies eigentlich ein historiographischer Tabubruch. Der Grund des Tabus liegt sicher in der Gefahr des Relativierens historischer Tatbestände. Dennoch zieht dieses Problem nicht unbedingt ein ethisch begründetes Verbot des Verfahrens nach sich. Zunächst ist die Einschränkung zu bedenken, dass wir von örtlichen Genealogien sprechen, in deren Zusammenhang Evokationsgegenstände auftreten. Orte existieren nur in einem größeren, schon durch andere Forschungen gesetzten Rahmen. Der materielle Möglichkeitsraum ist eingelassen in einen historischen Diskurs. Im Falle der Grabungen auf dem Tempelhofer Feld, die das KZ Columbia und Zwangsarbeitslager der Lufthansa und der Weserflug betrafen, sind für den Rahmen Werke zur NS-Geschichte Berlins und des Bezirks zentral (Schilde 1987; Wörmann 2002; Wildt und Kreutzmüller 2013), und für das KZ Columbia die Studie von Schilde und Tuchel (1990). Für die Zwangsarbeitsgeschichte der Lufthansa existieren ein bis vor kurzem unveröffentlichtes Manuskript und ein Film zur Unterdrückung dieses Manuskripts durch die Lufthansa (Budraß 2016; C. Weber 2009); dringlicher noch ist es, für die in Airbus aufgegangene Firma Weserflug eine Geschichte ihrer Ausbeutung und Unterdrückung einschließlich mehrerer Zwangsarbeitslager und eines KZ-

76 Man ist unwillkürlich an Fragen der Postkolonialismus-Studien erinnert, am eindrücklichsten formuliert in Spivaks (1988) Aufsatz „Can the Subaltern Speak?“

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Außenlagers von Flossenbürg in Rabštejn in Böhmen zu schreiben (s. Wenz 2006, 132–140; Bremberger 2001c; Joza 2006). Natürlich ist es möglich, dass archäologische Materialien auf der Ebene des Quellenmodus selbst zu diesem übergreifenden historischen Diskurs beitragen. Es handelt sich also nicht um eine einseitige Beziehung, in der Archäologie die „Dienstmagd der Geschichte“ ist (Hume 1964). Geht es jedoch um Evokationen, so sind diese tatsächlich der Überschuss der historischen Imagination. Es sind im Sinne der Objektivität Sackgassen, die nicht in neue Forschungsfelder führen. Auf sie kann sich zukünftige Forschung nicht als Tatsachenmaterial beziehen – und doch tragen sie zum allgemeinen historischen Bewusstsein in ähnlicher Weise bei wie die Filme Holocaust und Schindlers Liste. Sie malen aus, während das Faktische der Rohbau ist, der von Zeit zu Zeit auch übermalt werden kann. Und genau wie diese Filme wird ein durch die Forschung eingegrenzter struktureller Rahmen – der eben dort die Grenze setzt, wo Revisionismus droht – nicht durchbrochen, da das fiktive Element auf der Ebene der lokalen Praxis angesiedelt ist. Allerdings haftet dem Evozieren, wenn es die materielle Welt in Worte verwandelt, etwas allzu Unkritisches an. Es kann nicht sein, dass wir auch nur die alltägliche Welt der Zwangsarbeit uns zusammenphantasieren! Ethisch ist dieses Verfahren, auch wenn es in der Archäologie manchmal in erkenntniskritischer Absicht eingesetzt wird (Van Dyke 2015, 92–94; Gibb 2015), gerade für NSLagerkontexte solange hochproblematisch, wie die Gefahr besteht, dass wir den Opfern zu allem real ihnen zugefügten Unrecht auch noch etwas Unzutreffendes post hoc andichten. Die Befürchtung, Unangebrachtheiten abzufassen, ist auch generell der Grund, warum die wissenschaftliche Archäologie im Beschreiben, Vermessen, in naturwissenschaftlicher Analyse und dem Katalogisieren steckenbleibt. Die Spannung zwischen der Stummheit der Dinge und der ihnen innewohnenden Aufforderung zur Sinngebung wird scheu vermieden. Hören wir noch einmal Roger-Paul Droit zu diesem Phänomen: „Les choses parlent-elles? Ont-elles quelque chose à dire? N’est-ce simplement nous, toujours nous, qui les dotons d’un sens, d’une parole possible? Ce n’est pas tout à fait si simple. Nous faisons parler les choses, mais à partir des données qui sont en elles. Elles ne sont ni vraiment parlantes ni tout à fait muettes.“ (Droit 2003, 183)

Meist schlagen wir uns auf die Seite der Stummheit und kleiden Form, Farbe und verschorfte Kruste der Dinge in ein Gewand mehr oder minder ästhetisierender Kategorien, Worte und Zahlen. Wir setzen sie auf vielfältigen Wegen in Bezug zueinander und hängen übervorsichtig am Ende ein paar anonyme Menschenwesen marionettengleich an dieses übermächtige Gegenstandsuniversum.

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Interpretationen, die diesem Weg der Skepsis folgen, haben jedoch eine ethisch fatale Dimension. Denn was dabei zutage tritt, ist ein Phänomen der brisanten Glättung: Verlässlichkeit der Ergebnisse ist, ob im historischen oder archäologischen Bereich, „die Illusion geschichtswissenschaftlicher Kontrolle und Normalisierung [...], mit der sich Historiker [sic] die Vergangenheit gewöhnlich aneignen“ (Kansteiner 2013, 20). Wissenschaft ist allzu oft Kontrolle über Wissen, und um die Kontrolle nicht zu verlieren, geht man kein interpretatives Risiko ein. Das ist in Bereichen richtig, in denen instrumentelle Vernunft dominiert. In der Sphäre des Historischen und der Humanwissenschaften insgesamt führt diese Einstellung jedoch zu einer Verarmung nicht nur der eigenen Imagination, sondern ebenso zu einer substanziellen Reduzierung der Vielfalt menschlicher Beziehungen, und gerade solcher der Ausbeutung und Unterdrückung. Der Grund für diese Einseitigkeit bestand schon immer darin, dass diejenigen, die sich im Alltag, der Politik und in Machtapparaten allgemein durchsetzen, ihre Ziele ebenfalls eher zu realisieren in der Lage sind als die Subalternen. Daraus entsteht in der Archäologie eine politische Taphonomie: Materiell überleben der Triumphbogen, der Palast und das Mausoleum oder wenigstens sein Rest, die niedergeschlagenen Bauernaufstände, die kleinen Widersetzlichkeiten des Alltags, die massenhafte Aufsässigkeit aber verschwinden aus der Geschichte. Dieses Argument ist seit langem bekannt, hat aber leider nichts von seiner Dringlichkeit eingebüßt. Die Folge des unüberlegten Verlassens auf „materielle Evidenz“ ist ein aktives Verschweigen von Spannungen und Konflikten in entsprechenden fachwissenschaftlichen Diskursen. Nehmen wir ein konkretes Beispiel, welches ich schon weiter oben aufgeführt hatte, den Rest des Handscheinwerfers vom Tempelhofer Feld (Abb. 4.1; s.S. 180–181). Die skeptische Interpretation verfährt so, dass keine Szenarien an das Objekt gehängt werden, wenn nicht positive Evidenz vorhanden ist. Da das Objekt nicht in einem eindeutigen aktiven Konfliktkontext gefunden wurde, ist es also weder den Tätern noch anderen Personen zuzuordnen. Es gibt schließlich keine klaren Indikatoren für irgendwelche tatsächlichen Handlungszusammenhänge. Übrig bleibt ein Handscheinwerfer, den theoretisch auch die Häftlinge benutzt haben können. Wir wissen es tatsächlich nicht. Weitet man diese Einstellung auf den Gesamtbestand archäologischer Evidenz aus den Tempelhofer Grabungen aus, dann bleibt das rekonstruierbare Handlungspotenzial allseits auf ein absolutes Minimum beschränkt. Was aber sind das für „nicht-imaginierte Handlungen“ und deren Potenzial? Ich hatte schon auf die Tendenz zur Routinisierung hingewiesen, die bei dieser wissenschaftlichen Mentalität machtvoll durchschlägt: die Handlampe mag dann, wie Dokumente andeuten, zwar allnächtlich benutzt worden sein, aber

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selbst wenn ihre Funktion in Erwägung gezogen wird, bleibt diese Aktivität der Bewachung eine harmlose Angelegenheit, in der die Spannung zwischen einem rabiaten Werkschutz – samt Werksgefängnis im Hintergrund – und den unter Häftlingsbedingungen lebenden Zwangsarbeitenden negiert wird. Was für stark abstrahierende Diskurse gilt – „one gets almost no sense of the perpetratorvictim dynamic“ (LaCapra 2004, 162) – erscheint ebenso in den ängstlich am Konkreten klebenden Deskriptionen. Nichts imaginieren läuft in der Sphäre der Archäologie auf eine normalisierende, verharmlosende Darstellung der Vergangenheit hinaus. Wir haben für die Nazi-Zeit ausreichend orale und schriftliche Quellen, aus denen häufige und scharfe Konfliktsituation erkennbar werden. Beschränken wir uns beim Auswerten etwa der archäologischen Evidenz des KZ Columbia und der Lager der Weserflug und Lufthansa in Berlin-Tempelhof auf eine zurückhaltend-skeptische Interpretation der Befunde und Funde, dann unterdrücken wir aktiv die Handlungsräume der Täter, vor allem aber auch ihrer Opfer. So verschweigt man die historische Ausbeutung, Erniedrigung und die Eigenheiten der Abwehr gegen ein mörderisches Terrorregime. Interpretative Zurückhaltung ist Geschichtsklitterung. Weder das freie Evozieren noch dessen Vermeiden um jeden Preis sind also interpretativ gangbare Wege zu dem, was ich oben als Ortsgenealogie umrissen habe. Wie kann dann eine kritisch-reflexive Interpretation aussehen, welche von der Anmaßung absieht, für Subjekte der Vergangenheit sprechen zu können? Das Prinzip, mit welchem sich dies bewerkstelligen lässt, ist ein einfaches: Ein Gegenstand oder Befund, zwei oder mehr mögliche Szenarien. Die Auslegung archäologisch-materieller Kultur findet immer in einem Möglichkeitsraum statt, dessen beunruhigende Weite („irgendeine Erklärung ist besser als keine“, meinte Nietzsche sarkastisch) durch ein einziges evoziertes, versprachlichtes Szenario radikal verkleinert wird. Dieser Vorgang der Möglichkeitsbegrenzung muss durch die Formulierung alternativer Mikronarrative relativiert werden, die im Anschluss zu Vergleich und Bewertungen herausfordern (Bernbeck 2015). Dadurch zeigt sich zudem, dass archäologische Materialien auf der Handlungsebene in der Regel nicht eindeutig interpretierbar sind. Ich mache dies am Beispiel des Handscheinwerfers klar (Abb. 4.1), für den ich weiter oben ein kurzes Szenario angeführt hatte (S. 181 –182). Heute ist die Gelegenheit. Das ist der Wachmann, den wir den ‚Ängstlichen‘ nennen. Er hält den Scheinwerfer hoch und leuchtet möglichst weit vor sich,

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dreht sich oft um und erhellt die Strecke hinter sich sowie das Gelände zu seiner Rechten und Linken. Der scheint sich nicht recht herauszutrauen aus der Wachbaracke, er macht nämlich auch nur die regelmäßigen Rundgänge. Oder er will gar niemanden aufschrecken. So etwas merkt man sehr leicht, wenn man eingesperrt in einer verwanzten, feuchten Baracke herumsitzen muss und eigentlich auf die Gelegenheit wartet, die Freundinnen auf der anderen Seite des Stacheldrahts in deren schäbigen Holzbehausungen besuchen zu können. Natürlich ist das Risiko groß, besonders bei Fliegerangriffen, wenn alle in die Splittergräben rennen. Man kann die Wachleute wirklich leicht an ihren Gewohnheiten erkennen, wie sie das Dunkel durchschneiden. Richtig ärgerlich ist der, der immer versucht, in die Frauenbaracken hinein zu leuchten. Fehlende Vorhänge sind sehr störend. Vorgestern war der Kerl unterwegs, der den Lichtschein kreiseln und rhythmisch hin- und herschwingen lässt, als ob er tänzelt, wenn er am Stacheldraht entlang läuft. Der und ein anderer schleichen sich oft unvorhergesehen im Dunkeln an, blenden plötzlich das Licht durch ein Fenster in unsere Stuben auf. Diese Nacht aber ist unsere, die Schleichwege durch das heimlich in den Stacheldraht geschnittene Loch, ein Stück herausnehmbaren und wieder einsetzbaren dornigen Metallgeflechts knapp über dem Boden links unseres Tores kennen wir alle. Heute ist die Situation außerordentlich günstig. Diese Alternative zu der weiter oben erwogenen Szene mit einem Wachmann, der einen Zwangsarbeiter am Stacheldraht aufstöbert, zeigt zunächst die Weite des Möglichkeitsraums, der den Sinn der Dinge rahmt. Hieraus ergibt sich auch die Unterdeterminierung jeder mit Gegenständen assoziierten Evokation. Die Offenheit der gesamten Menschheitsgeschichte ist hierin begründet. Zwei weitere wichtige Elemente habe ich einbezogen: Nacherleben enthält als zentrales Element vergangene Zukunft, die Hoffnungen und Befürchtungen von Handelnden in der Vergangenheit (Gagnebin 2001, 108–109). Die Komplexität dieses Geflechts unterschiedlicher Zukunftserwartungen zeigt sich im obigen Szenario auch darin, dass das erzählende Subjekt die Erwartungen seiner Unterdrücker als ängstlich oder aggressiv imaginiert und in seine eigenen Absichten integriert. Die von Koselleck thematisierten Erfahrungen und Erwartungen sind keine eindimensionalen, subjektinternen Verhältnisse, sondern immer in ein Geflecht an imaginierten Intentionen kollektiver und individueller Anderer eingebunden, die für jeweils eigene Intentionen konstitutiv sind (Rorty 1995). Wichtiger scheint mir ein weiteres Element der beiden für denselben Gegenstand eingefügten Szenarien. Das Handlungspotenzial ist jeweils sehr unterschiedlich austariert. Im ersten Fall sind Perspektive als auch Schilderung so angesetzt, dass eine klare Dichotomie von (Bewacher : Täter : aktiv) und (Zwangs-

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arbeiter : Opfer : passiv) entsteht. Das entspricht gängigen Schwarz-WeißSchemata und ist vielfach den historischen Realitäten der NS-Zeit angemessen. Jedoch halte ich eine allzu scharfe Teilung der Welt des Nationalsozialismus in dieser Hinsicht für unangebracht. Auch die ehemaligen ZwangsarbeiterInnen und viele der überlebenden KZ-Häftlinge insistieren auf ihrem damaligen Willen innerhalb der jeweiligen Möglichkeiten, sich minimale Spielräume der Selbstbestimmung zu erhalten oder zu verschaffen. Daher ist das zweite Szenario an solchen Potenzialen ausgerichtet, die durchaus nicht gleich Sabotage und aktiven Widerstand beinhalten müssen. Es reicht völlig aus, die Feinfühligkeit für Freiräume einzubeziehen, die in kritischen Situationen durch genaue Beobachten von Handlungsgrenzen und das Vermeiden von Gefahren entsteht. Karl Schlögel (2003, 433–434) meint hierzu: „Das Auge der Gejagten und Bedrohten ist genau. So entgeht ihm kein Detail, denn das Leben hängt vielleicht an einem Detail, an einem Zufall, an einer jähen Wendung, die die rechtzeitige Rettung bringt“ (s. dazu auch Browning 2010, 7). Auffällig an den Erzählungen ehemaliger ZwangsarbeiterInnen sind die differenzierten Mitteilungen über die Verhältnisse zu deutschen (Mit-)Arbeitern und Arbeiterinnen, da neben überheblich-aggressiven Vorgesetzten und KollegInnen (s. den Bericht von Stanislawa Michalowska, S. 210) an manchen Stellen auch die zumindest nicht abweisenden Relationen erwähnt werden (Lepieszka 2000, 43; Spiridonowa 2000, 101). Diese betrafen allerdings wohl fast ausschließlich die Situation am Arbeitsplatz.77 Abstrakter ausgedrückt, ist die Zuschreibung von Handlungsmacht in über Dinge evozierten Szenarien dann ein Problem, wenn ein normatives Bild entsteht, in dem Gruppen von Menschen ohne innere Differenzierung erscheinen. Die Unterdeterminierung lässt Platz für alternatives Nacherleben, welches zu einer Kritik der eigenen Imaginationen führen sollte. In Repräsentationen des Archäologischen hat dieses Verfahren zugleich die Wirkung des Verdeutlichens des unterdeterminierten Charakters archäologischen Wissens.

77 Es wäre eine genauere Untersuchung wert, solche Erwähnungen auf das GenderSpezifische hin zu untersuchen. Ohne systematischen Überblick scheint es mir, als ob Männer in Zwangsarbeitsverhältnissen – soweit Zivilisten – wesentlich besser behandelt wurden als Frauen.

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Unterbrochenes Leben, zerbrochener Diskurs Das zweite Element der oben angesprochenen Ortsgenealogien ist die Diskontinuität, die auf der formalen als auch auf der inhaltlichen Ebene zum Tragen kommen sollte. Im Zusammenhang mit den NS-Lagern ist es naheliegend, aber nicht unbedingt notwendig, Diskontinuität an der ethisch fundierten „Nichterzählbarkeit“ des Holocaust aufzuhängen (Traverso 2014, 120–126). Diskontinuität – genauer: Unterbrechung – ist eine Erfahrung, die jedes Leben bzw. Überleben in Lagern mit sich bringt, wie Michael Jackson (2002, 12–14) auch in seinen Analysen heutiger Flüchtlinge und anderer Entwurzelter erläutert. Eine Darstellung archäologischer Nachweise unterbrochenen Lebens sollte nicht den Eindruck der Abgeschlossenheit und Kohärenz durch ihre narrative Struktur hervorrufen. Präzisere Überlegungen zu spezifischen Darstellungsformen sollten allerdings vom untersuchten Einzelfall abhängig gemacht werden. Für jede Archäologie moderner Gewaltkontexte ist die Reflexion über angemessene Darstellungsmodi eine grundsätzliche Aufgabe. Doch befinden wir uns nicht in der oben beschriebenen Schwierigkeit der Geschichtswissenschaften, eingängige Erzählungen zu produzieren, die die Gefahr einer Sinnstiftung und „Opferidentifizierung“ (Jureit und Schneider 2010) mit sich bringen. Ganz im Gegenteil: die Archäologie der Nazi-Zeit ist bislang, weil sie zumindest in Deutschland weitgehend Sache der Landesdenkmalämter blieb, im Bereich des Deskriptiven geblieben oder hat sich an den Erinnerungsdiskurs angehängt (s. dazu Kapitel 6). Nun sind archäologische Reste statische Materie, die aus der Vergangenheit in die Gegenwart hineinragt. Die genaue Dokumentation von Befunden und Funden führt zu Einsichten in ihr Zustandekommen. Aufeinander geschichtet lassen sich dann oft ganze Komplexe voneinander zeitlich trennen. Intern aber sind wir schon auf der Ebene der einzelnen Gegenstände, erst recht der Kontexte, in denen sie vorkommen, mit Palimpsesten konfrontiert. Maria Theresia Starzmann hat für das Tempelhofer Feld auf diese Situation und einige sich daraus ergebende Konsequenzen aufmerksam gemacht (Starzmann 2015). Diese an Kosellecks (2000) „Zeitschichten“ angelehnte Interpretation der Befunde in Tempelhof macht deutlich, dass die Dimension des Husserlschen Zeithofs aus Befunden nicht zu extrahieren ist, denn sie sind temporal zu inkohärent und ausgedehnt. Das hat Auswirkungen auf den Impetus, sich überhaupt mit dieser subjektiven temporalen Dimension zu beschäftigen. In der Neuzeit-Archäologie ist die Konsequenz leider allzu oft, sich mehr mit der inhaltlichen Erinnerung an Geschehenes als mit der Problematik solch diachroner Relationen zu befassen. Im archäologischen Befund ist Diskontinuität die Regel und sie wird in der Interpretation nur selten überbrückt für die Integration in ein historisches oder

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kunsthistorisches Narrativ.78 Dennoch aber passt Walter Benjamins Forderung einer Auflösung der traditionellen, auf Kontinuität bedachten Geschichtsschreibung auf die deskriptive Archäologie: „Sie legt nur auf diejenigen Elemente des Werkes Wert, die schon in seine Nachwirkung eingegangen sind. Ihr entgehen die Stellen, an denen die Überlieferung abbricht und damit ihre Schroffen und Zacken, die dem einen Halt bieten, der über sie hinausgelangen will“ (Benjamin 1982, 592). Auch im archäologischen Zusammenhang bedeutet dies, dass wir die nicht realisierten Aspirationen und Hoffnungen als historisch irrelevant beiseite schieben. Wie oben erwähnt, ist der Dilthey’sche Begriff des Nacherlebens gerade auf diese Dimension des fortschreitenden Zeitrücksprungs gerichtet, auf die offene Zukunft der Vergangenheit (Dilthey 1927, 191–227). Hier finden wir – neben dem expliziten Verlautbaren von Handlungspotenzial – eine weitere wichtige Begründung für die Notwendigkeit, Evokationen an Gegenständen aufzuhängen. Geschichte besteht eben nicht nur aus dem Vorgefallenen, sondern auch aus Plänen, Zukunftsvisionen und Wünschen, die nie Wirklichkeit wurden: ein „Nacherleben“ und Evokationen schließen genau diese meist zum Scheitern verdammte vergangene Zukunft ein. Konkret und auf Lager bezogen: die misslungenen Fluchtversuche, die vergeblichen Bemühungen, mehr Nahrung, bessere Hygiene und Kleidung zu erhalten, ebenso wie das Gegenteil, die allzu berechtigten Ängste um das eigene sowie das Überleben von Familie und Freunden. Die Grabungsobjekte als Evokationsgegenstände zu nehmen heißt, sie als Benjamins „Schroffen und Zacken“ aufzufassen. Archäologische Darstellungen wären mithin durchaus als Deskription zu konzipieren. Diese Deskription sollte jedoch eine von Evokationen als narrativen Elementen durchbrochene sein. Im gewohnten archäologischen Diskurs erscheinen die ungewohnten Narrative dann als „Ort der Beklemmung“ (Gagnebin 2001, 106). Dies kann in ähnlicher Weise geschehen wie in Friedländers (2007c) historischer Erzählung Years of Extermination, die durch Zitate aus Tagebüchern und anderen Ego-Dokumenten von NS-Opfern aufgebrochen wird. Der Effekt für das Fortschreiten eines Textes wird von Birgit Neumann als „Arretieren“ umschrieben. In der Historiographie hat dies die Wirkung, dem „zeitlichen Verlauf des Geschehens und [...] der

78 Im Prinzip haben dokumentarische Archive, aus denen die Geschichtswissenschaft schöpft, genau dieselbe Struktur. Wie gesagt hat man dort keine Scheu, die Einzelteile in eine Erzählung samt Plot zu konfigurieren. Warum sind Archäologien historischer Perioden – man denke an Altägypten oder Mesopotamien – in dieser Hinsicht so zurückhaltend? Ein Hauptproblem scheint die Verlässlichkeitshierarchisierung von Quellenarten zu sein, die Schriftzeugnisse über das Dingliche stellt.

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Temporalität der fortschreitenden Narration ein achronisches Innehalten entgegen[zu stellen]“ (Neumann in Frei et al. 2013, 210). Erinnert dies nicht an Alfred Gells Lesung von Réseau des stoppages étalon (Abb. 4.4) als diachrones Netzwerk mit Haltepunkten? Im archäologisch-beschreibenden Diskurs werden durch die Einfügung von Mikronarrativen gerade keine Erzählungen arretiert, sondern der deskriptive Textfluss. Die Wirkung der Aufsprengung gewohnter Formen ist jedoch vergleichbar. Reizvoll als formale Alternative zur linearen Eingliederung solcher Evokationsszenarien in einen beschreibenden Text ist Isaac Gileads (2015, 245–251) Vorschlag, sich an der graphischen Struktur der Seiten eines Talmud auszurichten und einen deskriptiven Haupttext mit evokatorischen Kommentaren zu umrunden. Grundsätzlich sollten, da bei wissenschaftlichen Werken immer ein „Pakt“ mit den RezipientInnen geschlossen wird, die Szenarien aus Gegenständen deutlich davon abgesetzt werden, was zumindest traditionell in westlichen Kulturen als „faktisch“ gilt.79 Formale Diskontinuität hat einen Erfahrungshintergrund: Die Lager der Nazis setzten einen materiellen Rahmen, innerhalb dessen Menschen radikal auf ihr physisches Selbst zurückgeworfen wurden. Die sozialen Netzwerke, in denen sie gelebt hatten, waren durch Deportation zerrissen; Konfiszierung und eine minimal und standardisiert ausgestattete dingliche Lebenswelt erzwangen geradezu eine unterschwellige Auseinandersetzung mit der Affordanz dieser künstlich verarmt gehaltenen Sachbestände. Kollektivleben, oftmals ohne Mitglieder der eigenen Familie, führte zu einem kompletten Verlust des Privaten. Die häufige Relokalisierung der ZwangsarbeiterInnen und insgesamt der Lagerhäftlinge, als Entsubjektivierung gewollt und von den Betroffenen so erfahren, erzwang dauernde Adjustierung an neue Orte, an sich immer wieder wandelnde persönliche, materielle, soziale und lokal spezifische Repressionsverhältnisse. Erzählungen, Berichte und Interviews verweisen auf diese Erfahrung der Brüchigkeit des eigenen Lebens, von relativ gut gestellten Kriegsgefangen bis zu denjenigen, die nur mit Glück überlebten. Diese Art der radikalen lebensweltlichen Diskontinuität schlägt sich archäologisch nicht nieder – gerade für die Überstellungen an andere Orte gibt es viel zu wenige personenspezifische Objekte, die zudem noch an unterschiedlichen Orten aufgefunden werden müssten, um archäologisches Spurenverfolgen auf individueller Ebene zu betreiben. Kontextuelle Zeiteinheiten, also in Schichten eingelagerte Fundkontexte, sind kaum je auf ein einzelnes Jahr, geschweige

79 Hier kann nicht näher auf das Problem der Geschichte als europäisch generiertem Darstellungsmodus eingegangen werden. Ich verweise auf die Diskussionen in Dirlik (2000) und Chakrabarty (2000).

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denn ein Ereignis datierbar, weil die abgelagerten Gegenstände meist unterschiedlich lange in Gebrauch waren. Eine zerscherbte Anrichteplatte aus dem Feuerlöschteich in Tempelhof mag Dutzende von Jahren vor Ablagerung benutzt worden sein, Tierknochen hingegen dürften von Ausnahmen abgesehen aus den letzten Wochen vor Ablagerung stammen. Zudem muss ein archäologisch nicht weiter differenzierbarer Kontext nicht in einem einzigen Moment zustande gekommen sein: das Auffüllen des Feuerlöschteichs mit Müll kann Wochen, Monate, gar Jahre gedauert haben. Anders sind die Umstände im Weserflug-Lager, dessen Zerstörung plötzlich und auf eine Nacht im Winter 1943 bis 1944 angesetzt werden kann. Kontexte konstituieren also über- und nebeneinander gesetzte Zeitblöcke mit meist unbestimmter Dauer. Ähnlich komplex sind die Verhältnisse bei mobilen Funden. Bis vor nicht allzu langer Zeit dachte man über Gegenstände als fertige Produkte nach, während heutzutage eine zeitlich als abgestuft konstruierte Sequenz von Benutzungsspuren von großem Interesse ist. Das „social life of things“ (Appadurai 1986) zeigt sich in den Scharten, Schrammen und Abschürfungen der Objekte. Abbildung 4.12: (a) unten rechts: silberne Mitropa-Kuchengabel (Herstellung 1929) aus einer Grube nahe des Alten Flughafens; (b) großes Bild: dieselbe Gabel, Griffunterseite mit Nutzungsspuren

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Ich greife hier eines heraus, welches in einen Luxuskontext gehört, eine Mitropa-Silbergabel aus einer Müllgrube nördlich der Lufthansa-Hangars und des aus den 1920er Jahren stammenden Hauptgebäudes des „Alten Hafens“ in Tempelhof (Abb. 4.12 a,b). An dem abgebildeten Exemplar kann man recht gut bei Autopsie zwei Schichten von Scharten erkennen: solche, die aus der Zeit der Benutzung stammen und durch wiederholte, parallele strichartige Einkerbungen charakterisiert sind. Diese häufen sich am Ende des Griffs und an der Auflage der Zinken. Kreuz und quer über das gesamte Objekt verteilt laufen andere Einkerbungen unterschiedlicher Tiefe, die augenscheinlich großenteils im Zuge der Ablagerung zustande kamen, manche wohl auch erst durch die Ausgrabung selbst. Abbildung 4.13: oben: Das „fliegende Mitropa-Restaurant“, die Junkers G 38; unten: das Mitropa-Restaurant am Flughafen Tempelhof, ca. 1935

Die Gabel kann wahrscheinlich dem ausgedehnten Flughafenrestaurant der Mitropa zugewiesen werden, welches in den 1920er und 30er Jahren offensichtlich die Oberschicht Berlins bediente. Das zeigen zahlreiche Austernschalen, die verstreut über die Grabungsschnitte zutage kamen. Doch durch den Fundort der Gabel nahe der Lufthansa-Hangars ist auch die Möglichkeit gegeben, dass sie

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Teil des Mitropa-Restaurationsdienstes an Bord von Lufthansa-Flugzeugen war. Zwei große im internationalen Flugverkehr eingesetzte Junkers G 38-Flugzeuge waren bekannt als „fliegende Mitropa-Restaurants“ (Abb. 4.13, s.a. Hentschel 2008, 14, 17). Die regulär auftretenden Scharten sind vermutlich zurückzuführen auf das Reinigen, in wenigen Fällen vielleicht auch Essenspraktiken, das Decken der Tische und Wegtragen von Geschirr. Für die chaotischen Abnutzungen sekundärer Art können keine konkreten Mutmaßungen getroffen werden, doch insgesamt ist die Temporalität, die sich in solchen Spuren an Objekten ausdrückt, eine gestische. Sie verweisen daher auf einen sehr kleinen Zeithof, der auf einer kleineren Skala als menschlich-biographische Ereignisse angesiedelt ist. Hingegen sind die unterschiedlichen Zeitabschnitte des Nutzens im Restaurant und des Entsorgens zeitlich längerfristig als die Ereignisse, die das Leben der Zwangsarbeitenden so brüchig gestalteten. Der empirische Beleg für eine „Biographie“ der Objekte hat also andere Temporalitäten als menschliches Leben. Wenn daher die Objektbiographie kritisiert wird, ist das nicht ganz unberechtigt (Arndt und Müller 2015, 182). Es ist aber auch nicht so, dass „different types of account are needed for different scales“ (Hodder 2000, 31): das Ineinanderfügen eigentlich inkompatibler Zeitlichkeiten kann vielmehr dazu dienen, die Unvorstellbarkeit der historischen Prozesse zu unterstreichen. Trotz solcher Einwände können archäologische Objekte auf andere Art unterbrochenes Leben sichtbar machen. Ein weiter oben beschriebenes Medaillon (Abb. 3.7, S. 155) zeigt dies auf eindrückliche Weise. Wie schon bemerkt, war der Inhalt wahrscheinlich ein Bild oder eine Haarsträhne. Ein solcher Gegenstand, ebenso wie ein bronzener und ein beinerner Ehering (Abb. 4.14) sind Dinge, die persönliche Beziehungen buchstäblich „ver-dinglichen.“ Der bronzene Ring mit einem Durchmesser von 21 mm (Ringgröße 66) ist höchstwahrscheinlich einem Mann zuzuschreiben, während der beinerne mit 18 mm (Ringgröße 58) im Überschneidungsbereich der Größen von Frauen und Männern liegt. Beide wurden in den Kontexten der Baracke 8 gefunden, die von sowjetischen Kriegsgefangenen belegt war. Eheringe sind normalerweise ein materielles Symbol für die Bindung zweier Menschen aneinander und werden traditionell nicht abgelegt. So stellt sich als erstes die Frage, wieso in einem so kleinen Bereich einer Barackenstadt zwei derartige Ringe zum Vorschein kommen. Schließlich blieb der größte Teil der Baracke 8 unausgegraben. Möglicherweise befand sich nahe den Sanitärräumen in den Baracken ein Bereich für Spinde, wo wertvoller Besitz aufbewahrt werden konnte. Die Frage nach dem Ablegen und Verstauen von Eheringen kann mindestens zwei Gründe haben. Zum einen kann es sein, dass die Firma Weserflug bei der Arbeit das Tragen jeglichen Schmucks

E VOKATION UND N ARRATION | 239

an den Händen verbot, wie noch heute bei Tätigkeiten an offen rotierenden Maschinen üblich (Hüning et al. 2012, 49–50). Dass es bei solchen Maßnahmen nicht um die Sicherheit der Arbeitenden sondern um Produktivität ging, wird aus dem Bericht des tschechischen Zwangsarbeiters Karel Kincl (1998, 11) deutlich, der – weil nicht mit Hitlergruß erscheinend – nach Misshandlungen ohne Überschuhe zur Arbeit gegen musste, daraufhin bei Nietarbeiten Flügelteile von Flugzeugen mit den bloßen Schuhen zerkratzte und deswegen vom deutschen Obermeister erst recht geschlagen wurde. Theoretisch möglich, meines Erachtens unwahrscheinlicher ist ein zweiter Grund für das Ablegen der Ringe: das Aufnehmen außerehelicher Beziehungen im Lager. Abbildung 4.14: Kupferner und beinerner Ehering aus dem Bereich von Baracke 8, Zwangsarbeitslager der Weserflug, Tempelhofer Feld

Ursprünglich sind die Ringe wahrscheinlich als symbolisch wichtige, dennoch eher „beiläufige“ Gegenstände von einem unbestimmbaren Zuhause mitgenommen worden, im Gegensatz zu dem Medaillon. Sie konnten jedoch bei längerer Trennung auch zu einem materiellen Zeichen für das sozial unterbrochene Leben werden. Deportation und Flucht bringen immer ein Zerreißen gesellschaftlicher Netze, oft auch linguistischer und materieller Umgebungen mit sich. Eheringe beschwören familiäre Bindungen herauf, Beziehungen zu geliebten Menschen. Ist das Leben schon unterbrochen, so haben in diesem Falle die Bombardements der Alliierten die Ringe als ein materielles Mittel zur Überbrückung der Brüche und Abgründe im Schutt begraben. Wir treffen hier eine paradoxe Besonderheit bestimmter Dinge an, die in der Nazi-Zeit selbst schon als Evokationsgegenstände der Ausgestoßenen fungierten. Sie erinnerten die Verschleppten an ihre Familien oder andere ihnen wichtige Personen. Die Bedingung dafür, dass die Archäologie sie heute als Evokationsgegenstände identifizieren kann, ist, dass sie zunächst den BesitzerInnen abhanden kamen, mithin, dass sie in der NS-Zeit

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genau diesen Status verloren. Die Möglichkeit gegenwärtigen Nacherlebens beruht auf einem unmöglich gewordenen Nacherleben in der Vergangenheit. Abbildung 4.15: Schnecke eines Saiteninstruments aus den Schichten unter Baracke 17 des Tempelhofer Weserflug-Lagers

Den Verschleppten musste nicht unbedingt Materielles die Brücke zum Zuhause bedeuten. Es ist vielmehr anzunehmen, dass Sprache, Poesie, Musik oder auch Speisen dazu beitrugen, Sehnsüchte nach einem Herkunftsort hervorzurufen. Im Weserflug-Lager wurde in den Gründungsschichten einer Baracke für Zwangsarbeiterinnen aus dem Osten eine seitenständige Wirbelmechanik eines Saiteninstruments gefunden (Abb. 4.15). Dieses kann wahrscheinlich als einer Balalaika, Mandoline oder Laute zugehörig identifiziert werden,80 nicht aber einer Gitarre, die in der Regel hinterständige Wirbelmechaniken aufweist. Aus diesen kleinen Stückchen verrosteten Metalls bekommen wir einen Hinweis auf immaterielle Mittel, eigene Herkunft zu beschwören. Evokationen eines anderen Ortes unter Zwangsbedingungen waren performativ, das Objekt war nicht das Medium einer

80 Balalaiken und Lauten erscheinen in Ego-Dokumenten aus der NS-Zeit. Welzer und Christ (2005, 55) zitieren aus dem Tagebuch des SS-Obergruppenführers Erich von dem Bach-Zelewski, der stolz berichtet, aus Anlass eines Besuchs Himmlers im komplett zerstörten Mogilev „kleine Tafelmusik einer russischen Klaviervirtuosin und eines Balalaikaspielers“ organisiert zu haben. Von einer Laute ist die Rede in einem Bericht über Ilse Weber in Theresienstadt (Ruth Elias, in I. Weber 2008, 323).

E VOKATION UND N ARRATION | 241

Evokation, sondern das Mittel, dieses Medium (Musik) herzustellen. Der kleine Metallrest lässt die Imagination eines performativen Aktes von einiger Dauer zu, im Gegensatz zu vielen anderen Objekten, wobei diese Imagination aber indirekter ist als in Fällen, in denen Gegenstände selbst Brücken in die Vergangenheit sind. Der Verlust dieses Instruments, wohl ebenfalls Resultat eines Bombardements, verunmöglichte (oder zumindest erschwerte) Performanzen der Sehnsucht, war aber wiederum die Bedingung für die Möglichkeit, dass wir heute eine solche Szene mit Grund imaginieren können. Lagerinsassen versuchten mit derartigen Dingen, die Erfahrung eines zunehmend fragilen und zerbröckelnden Lebenszusammenhangs zu kompensieren. Hier ergibt sich eine zusätzliche Wendung zu Starzmanns (2014) Ausführungen des konstitutiven Charakters der Lücken für eine Historiographie der Lager des „Dritten Reichs.“ Die gegenständliche Evidenz ist für Starzmann von der grundsätzlichen Lückenhaftigkeit des Materiellen im Lager durchzogen, einer historisch tatsächlichen kargen bis nicht-existierenden Ausstattung. Gefundener Sachbesitz wäre dann ein Hinweis auf eine Negation der Negation, das Fehlen einer Lücke. Umgekehrt gilt jedoch im Falle Tempelhofs, dass der in Ausgrabungen angetroffene Sachbesitz auf das Entstehen einer Lücke verweist: die ZwangsarbeiterInnen verloren im Bombardement großenteils ihr dingliches Eigentum. Je mehr wir also heute finden, desto weniger blieb damals in den Händen der BarackenbewohnerInnen. Man kann nach dieser Logik zumindest für die Teile der materiellen Welt, welche tatsächliche im Besitz von Lagerinsassen blieben, den Grundsatz eines „Je mehr archäologische Lücken, desto besser“ konstatieren.81

M ATERIALITÄT

ALS

S UBJEKTIVIERUNGSRAHMEN

Subjektivierung ist ein weiteres Element von Ortsgenealogien. In der Archäologie ist der Subjektbegriff nur sporadisch präsent, was zu einem großen Teil an oberflächlichen Gleichsetzungen mit „Individuum“ und dem Selbst liegen mag. Stattdessen ist vielfach von Identität und ihren Dimensionen die Rede, einerseits traditionell, weil man aus archäologisch-materiellen Objektklassen Kollektivitäten erschließen will, und andererseits in an Intersektionalität ausgerichteten Werken, in denen (diskriminierte) Identität als eine Schnittstelle von Dimensionen wie Gender, Alter, physische Konstitution und Klasse definiert wird (z.B.

81 Entsprechend, allerdings nicht für Gegenstände, beklagt Sanyal (2002, 4) eine „conflation of absence with loss.“

242 | M ATERIELLE S PUREN DES NATIONALSOZIALISTISCHEN T ERRORS

Meskell 1999). Neuerdings wird gerne auf ethnographische Forschungen in Ozeanien verwiesen, wo auf mehrere Menschen verteilte Konzeptionen des Selbst als „Dividual“ überwiegen (Strathern 1988; Mosko 1992). Eine modische Ausweitung dieser Vorstellungen auf Situationen in anderen Gesellschaften sollte jedoch nicht ohne Überprüfung vollzogen werden und ist für das Europa des 20. Jhs. unabhängig von kulturellen, religiösen oder sprachlichen Zugehörigkeiten unangemessen. Sicher muss man sich aber ebenso vom hegelianischen Subjektbegriff des 19. Jhs verabschieden. Ich halte mich hier an Laclau und Mouffes (1985) Überlegungen, wonach fluide soziale Zustände dazu führen, dass Menschen lernen müssen, dauernd unterschiedliche Subjektpositionen einzunehmen. Sie sind mithin keine kohärenten, stabilen Subjekte. Weiter hatte ich schon in Zusammenhang mit der Diskussion von Agambens Nachdenken über die Shoah darauf hingewiesen, dass eine Erosion der prinzipiellen Fähigkeit des SubjektSeins durch gezielte äußere Umstände hervorgerufen werden kann. Was die Nazi-Lager angeht, so sind primär die erbarmungslosen intersubjektiven Verhältnisse zwischen Tätern und Opfern hierfür verantwortlich, jedoch setzen die materiellen Verhältnisse einen Rahmen, der diese Brutalität massiv unterstützt. Um die Subjektivierungsmacht des Materiellen an konkreten Verhältnissen aufzuzeigen, gehe ich kurz auf einige strukturelle und architektonische Aspekte des Weserflug-Lagers in Tempelhof ein. Es handelt sich um ein Zwangsarbeitslager, also nicht um das Extrem der KZs, deren räumliche Struktur von Sofsky (1997, 61–87) eingehend analysiert wird. Dennoch sind bestimmte Charakteristika der räumlichen Anlage von Konzentrationslagern auch in Zwangsarbeitslagern wiederzufinden. Kamiński (1982, 13) spricht von einer „Lagerisierung“ des gesamten Lebens unter den Nazis. Ziel der Lager insgesamt war, Gestaltungsmöglichkeiten des Raumes zu minimieren. Während wir implizit immer noch allzu oft annehmen, in Räumen wie in vorgefertigten Behältern zu leben, zeigte Lefebvre (2000) anschaulich, dass wir zwar diese Räume vorfinden, sie aber gleichzeitig in unseren Praktiken, Vorstellungen und Machtbeziehungen produzieren. Ein Lager ist in diesem Sinne ein Raum, dessen Machtbeziehungen so konzipiert sind, dass die in ihm Lebenden von der Produktion des Raumes weitgehend ausgeschlossen bleiben; das Lager ist, abstrakt betrachtet, in dieser Hinsicht eine Radikalisierung der Ungleichheit der Produktionsverhältnisse des Raumes. Die Abstufungen der Nazi-Ideologie, deren grundlegendes Charakteristikum der Rassismus ist, führten zu einer komplexen Entfaltung unterschiedlicher Lagertypen, von denen Schwarz (1990, 70–71) 16 verschiedene auflistet. Darin sind Kriegsgefangenenlager, Kranken- und Sterbelager für zivile Zwangsarbeitende, Durchgangslager und andere gar nicht eingeschlossen. Megargees (2013)

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Enzyklopädie-Projekt soll die Zehntausende von Ausgrenzungslagern des Systems erfassen. Ich werde im Folgenden unter Bezugnahme auf allgemeine Studien eines „einschließenden Ausschließens“ (Doßmann et al. 2007, 227) den konkreten Fall Tempelhof aufgreifen und die Peripheralisierung, die Zonierung und die Baracke als konstituierende Elemente kommentieren. Dabei nimmt die genaue Analyse der Luftbilder der Royal Air Force eine mindestens ebenso wichtige Stellung ein wie die archäologischen Befunde. Die offizielle Bezeichnung der Barackenstadt als „Richthofen-Gemeinschaftslager“ am Nordrand des Tempelhofer Feldes rührt daher, dass nicht nur die Weserflug Baracken in diesem Lager betrieb, sondern auch die Lufthansa. Die beiden firmenspezifischen Lagerteile waren voneinander durch Zäune getrennt. Peripheralisierung des Lagers steht dem Bedürfnis, es nahe am Arbeitsort anzusiedeln, nicht nur in Tempelhof entgegen. Ökonomisches und ideologisches Denken gerieten in Konflikt. Während Ulrich Herbert (1991, 1999b, 77–94; 153–181) dieses Spannungsfeld in seinen politischen Entscheidungsdimensionen als einen Konflikt zwischen den Repressionsorganen des Reichssicherheitshauptamts und der Industrie schildert, geht es hier um parallele Unstimmigkeiten auf lokal-praktischer Ebene: die Wege zwischen Arbeitsplatz und „Wohnort“ im Barackenlager sollten minimiert, dabei aber die Präsenz der ZwangsarbeiterInnen in der Öffentlichkeit soweit als möglich unterdrückt werden. Eine Analyse der Luftfotos und der zur Verfügung stehenden Pläne des Weserflug-Lagers am Columbia-Damm illustriert die Flexibilität des Designs dieser Lager, ihr schnelles Wachstum als auch den plötzlichen Abbau und das Verschwinden (Tabelle 4.1). Auf einem bis 1940 freien Gelände werden zunächst im Laufe des Jahres 1941 neun Baracken leicht unterschiedlicher Maße gebaut. Die Baracken waren wahrscheinlich für jeweils ca. 200 Arbeitende ausgelegt. Die Qualität der Dokumentation zu Baracken-Standorten ist variabel, und die Funktions- sowie Belegungsbezeichnungen auf den vorhandenen Skizzen nicht immer akkurat. Besonders ein Vergleich von Luftfotos und Skizzen aus dem Jahr 1942 ergibt mehrere Widersprüche, was die Gesamtzahl bestehender Baracken betrifft, und zeigt die Unzuverlässigkeit der vorhandenen Zeichnungen. So wird in einer bei Wenz (2006) abgebildeten Skizze für die Baracken des Jahres 1941 (abgesehen von einer Wirtschaftsbaracke „WI XII“) ein Einheitsmaß von 57,62 x 12,64 m angegeben. Dies ist nach den RAF-Luftfotos definitiv falsch; somit sind auch die Anzahl der dort verzeichneten Baracken und der Verlauf der Stacheldrahtzäune mit Vorsicht zu betrachten. Dasselbe gilt für eine Skizze im Archiv des Flughafens vom März 1942, auf der elf Baracken im WeserflugLager eingetragen sind, obwohl alle anderen Dokumente dieser Zeit nur neun Baracken verzeichnen.

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Tabelle 4.1 : Zu- und Abnahme der Barackenzahlen im Weserflug-Lager am Columbia-Damm, Berlin-Tempelhof Anzahl westlicher Teil

Anzahl östlicher Teil

Quelle

Assatzk 2011

Phase

Datum

Anzahl Baracken

1

ca. 1937– 1938

4–5?

(4–5)

0

2

12.12.1939

0

0

0

Februar 1941

9

9

0

14.3.1941

Baracken im Bau

0

0

23.7.1941

7

7

0

September 1941

9

9

0

14.10.1941

9

9

0

März 1942

11

9

2

20.5.1942

16

9

7

18.6.1942

18

9

9

31.10.1942

18, 4 in Planung

9 +2

9 +2

5.5.1943

18

9

9

18

9

9

18

9

9

3

4 September 1943 Oktober 1943 1.12.1943 20.2.1944 5

unspezifisch 4 (+ 1 beschädigt)

/

/

2

2 (+ 1 beschädigt)

31.5.1944

4

2

2

April 1945

keine

0

0

Archiv BFG, allgemeiner Bauplan Archiv BFG, allgemeiner Plan RAF (Luftfoto 444) Archiv BFG, Feuermeldeplan RAF (Luftfoto 775) Archiv BFG, Feuermeldeplan Archiv BFG (Wenz 2006, 136) BA R4606/4916, Bauplanung Baracken

Anzahl Zwangs arbeiterInnen (Wenz 2006, 135)

38782

1024

BA R4606/4916 Archiv BFG, WarmwasserInstallationsplan RAF (Luftfoto 4094) RAF (Luftfoto 3265) Archiv BFG, allgemeiner Plan

1848

RAF (Luftfoto 4050) RAF (Luftfoto 3029) RAF (Luftfoto 3109)

2103 (1592)

(RAF = Royal Air Force; BA = Bundesarchiv; BFG = Berliner Flughafen-Gesellschaft)

82 Diese Zahl ist sicher nicht richtig, da aus der Gesamtzahl der ArbeiterInnen pauschal für die Weserflug-Werke Lemwerder und Tempelhof ein Anteil von 30% ZwangsarbeiterInnen für 1941 angesetzt wurde (Wenz 2006, Tabelle S. 135). Es ist vielmehr eine starke Zunahme der Zwangsarbeit in Tempelhof für das Jahr 1941 anzunehmen, wobei bislang keine Dokumente mit genauen Zahlen bekannt sind.

E VOKATION UND N ARRATION | 245

Dennoch kann anhand der Gesamtheit der Fotos und Pläne der allgemeine Rahmen der Entstehung und des Abbaus bzw. der Zerstörung der Lagerbauten rekonstruiert werden, woraus sich eine Einteilung in fünf Stadien ergibt (Tabelle 4.1):







• •

Phase 1 berührt eine „Vorgeschichte“, die archäologisch bislang nicht belegt ist, und eventuell aus Baracken bestand, die als vorübergehende Wohnstatt für Berlin-fremde ArbeiterInnen während des Baus des „Neuen Flughafens“ errichtet worden sein könnten (Assatzk 2011, Foto S. 11);83 Phase 2 ist ein darauf folgender Zustand ohne jegliche Baracken, der bis mindestens März 1941 währte, als die Weserflug nach Berlin Tempelhof umzog und wohl noch keine osteuropäischen ZwangsarbeiterInnen in Berlin beschäftigte; Phase 3 reichte von etwa Mai 1941 bis Frühling 1942, als ein erster Strang von neun Baracken direkt östlich des neuen Großflughafens angelegt worden war. Die westlichste und kleinste Baracke ist eine Küche mit direkt angeschlossener Wirtschaftsbaracke, daneben stand eine Verwaltungsbaracke; In Phase 4 erfolgte gegen Anfang 1942 ein schneller Maximalausbau des Lagers auf 18 Baracken, die bis Ende 1943/Anfang 1944 bestanden; Phase 5: Wahrscheinlich zerstörte der schwere Luftangriff der Alliierten am 30.–31.1.1944 die meisten Weserflug-Baracken (s. Brief des kaufmännischen Werksleiters Dahn in Wenz (2006, 129)). Wo danach die ZwangsarbeiterInnen unterkamen, ist unbekannt. Einige mögen im Flughafen untergebracht worden sein, andere als Belegschaft zur Weserflug-Filiale in Rabštejn bei Česká Kamenice abtransportiert worden sein. Dort wurde ein unterirdischer Produktionsort erst gegen Kriegsende stark ausgebaut. Nur wenige Baracken bestanden noch einige Monate weiter, wobei möglicherweise schon ein Angriff am 22.3.1944 weitere Baracken zerstörte (Bremberger 2001b). Die Gesamtdauer der Barackennutzung kann auf insgesamt etwas weniger als drei Jahre eingeschätzt werden.

Aus den Plänen für diese Barackenstadt ergibt sich ein bemerkenswertes ideologisches Detail. Man hatte die Baracken anfangs so geplant, dass sie zwischen Columbia-Damm im Norden und den Außengrenzen einer ovalen Zentralfläche lagen, die sich dadurch ergab, dass Hitler selbst am Flughafen ein „Luftstadion“ für militaristische Luftschauen gefordert hatte (Dittrich 2005b, 161). Für die ge-

83 Die Strukturen im Hintergrund des Fotos sind sehr undeutlich. Es könnte sich auch um gestapelte Baustoffe handeln.

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ometrische Form des Flughafens wurden selbst Kriegsgräber des Ersten Weltkriegs verlegt. Als die ersten Baracken gebaut wurden, hielt man sich streng daran, außerhalb dieses imaginären Stadionraumes zu bleiben und setzte eine Reihe Baracken so dicht wie möglich an den Columbia-Damm. Auffällig ist, dass sogar die Länge der Baracken an diese Planung angeglichen wurde, denn sie konnten im Osten länger als im Westen sein, ohne das imaginierte Oval zu berühren (Abb. 4.16). Die späteren, seit 1942 östlich anschließenden Baracken nahmen auf diese Grenze keine Rücksicht mehr, wie die von mir eingezeichnete rote Linie im Luftfoto klar zeigt – sie läuft mitten durch die Baracken hindurch. Abbildung 4.16: Luftbild der Royal Air Force vom 6.9.1943, neues Flughafengebäude links im Bild

(blau umrandet: die bis zum Frühjahr 1942 existierenden Baracken des Zwangsarbeitslagers der Weserflug; rot: imaginäre Grenze des „Luftstadions“)

E VOKATION UND N ARRATION | 247

Abbildung 4.17: Weserflug-Baracken und Weserflug-Montagehallen im Flughafen Tempelhof (türkisfarben), Lufthansa-Baracken und -Montagehallen (gelb);

Die gestrichelte Linie auf diesem Plan vom 1.7.1943 markiert die vermeintliche Grenze des „Luftstadions“ (s. roter Pfeil)

Allerdings gibt es unter den Plänen des Tempelhofer Feldes aus der NS-Zeit, die diese späteren Baracken aufweisen, keinen, der die topographischen Verhältnisse richtig wiedergibt. Die Skizzen präsentieren die Baracken weiterhin außerhalb der imaginierten Umgrenzung des besagten „Luftstadions“, wofür an dieser Stelle unmaßstäblich gezeichnet werden musste (Abb. 4.17). Was hier vorliegt, ist eine ideologisch-zeichnerische Verdrehung des Faktischen, die den Raum der „Volksgemeinschaft“ strikt vom Raum der Ausgeschlossenen trennte, sei es wegen biopolitischer Gründe („Polen“, „Ostarbeiter“) oder wegen militärischer (Kriegsgefangene). Hier zeigt sich ein tiefsitzender Wille zu Exklusion und Peripheralisierung der Lagerorte noch auf symbolischem Level. Dies wirft ein bezeichnendes Licht auf die Unzuverlässigkeit der Dokumente. Sie verfälschen eklatant räumliche Verhältnisse, im spezifischen Fall zudem die Barackenanzahl, denn im östlichen Lagerteil befanden sich insgesamt (die Wachbaracke eingeschlossen) neun und nicht zehn Baracken. De facto entstand mit dem Ausbau ab Frühjahr 1943 im Osten des Weserflug-Lagers ein Bereich, der stärker als der westliche der „Ordnung des Rasters“ entspricht, wie sie in Kriegsgefangenenund anderen staatlichen NS-Lagern vorherrschte (Doßmann et al. 2007, 236– 237), mit zwei Barackenreihen und einer Wachbaracke an einem Ende, was strukturell dem „Dachauer Modul“ entsprach (s. Gabriel 2007, 210–213).

248 | M ATERIELLE S PUREN DES NATIONALSOZIALISTISCHEN T ERRORS

Zonierungen von Lagern bestanden meist aus unterschiedlichen Funktionsbereichen (Territorien des Bewachens, Wirtschaftens, Wohnens, der Hygiene usw.). Diese wurden jedoch gerade in der Nazi-Zeit zusätzlich nach rassistischen Kriterien biopolitisch aufgeteilt. Dadurch bildete sich eine komplexe Gliederung, die besonders für Konzentrationslager analysiert wurde (Sofsky 1997, 61– 69; Gabriel 2007), die aber auch für große Zwangsarbeitslager außerhalb der KZs galt, unter anderem für das Tempelhofer Feld. Einzelne Quellenkategorien widersprechen sich hier erheblich, wobei die Schriftlichkeiten, zumindest was die Lagerzonierung angeht, zwar elementare Informationen liefern können, mit denen aber sehr vorsichtig umzugehen ist. Für die zonale Aufteilung dieses Lagers gilt insgesamt, dass der „Serialität des Raums [...] die serielle Struktur der sozialen Masse [entsprach]“, wobei aber „soziale Unterschiede, Funktionen und Tabus“ – die rassistischen Verbote, Abstufungen und Eingrenzungen – gleichzeitig mit der Vereinheitlichung wirkten (Sofsky 1997, 67). Man wollte nicht nur die Arbeitskraft der ZwangsarbeiterInnen möglichst effektiv ausplündern, sondern die strikte Abtrennung in Stacheldraht-umgrenzte Einheiten sollte der „‚Stapelung‘ von Menschenmassen“ dienen (Doßmann et al. 2007, 236–237), für die der Status als Subjekt möglichst negiert werden sollte. Zudem versuchte man, Menschen aufgrund rassistischer Kriterien jeweils unterschiedlich stark zu entsubjektivieren. Daher war jeder Eigensinn, jede persönliche Regung unerwünscht, wenn nicht verboten. Und obwohl sich manchmal bei der Arbeit gemeinsame Interessen von Zwangsarbeitenden und deutschen ArbeiterInnen ergaben, war doch das Interesse der „Volksgenossen“ am Leben in den Baracken nach der Arbeit kaum gegeben (Herbert 1999b, 248). Schließlich seien die Baracken als „Wohnorte“ erwähnt. Baracken haben eine im Krieg verankerte Geschichte als provisorische, transportable Haus-artige Gebilde, die zudem aufgrund ihrer standardisierten Form ein Sortieren des Inhalts erleichtern (Doßmann et al. 2007). Auch die Weserflug-Baracken sind keine komplexen Gebilde, sondern Standard-Bauten, deren Teile man, so sie gespart werden konnten, für weitere gleichartige Bauten aufheben konnte.84 Auf dem einen Schrägbild des Lagers (Abb. 6.5, S. 357) ist jedoch erkennbar, dass es im Abschnitt für sowjetische Frauen mindestens zwei Barackentypen gab, eine Feststellung, die auch ein leicht schräg aufgenommenes RAF-Fliegerbild vom Oktober 1943 bestätigt. Die Baracken mit Kollektiv-Schlafsälen und gemeinsam

84 Die Weserflug schreibt in einem Antrag an das Amt des Generalbauinspektors: „Diese Baracke ist zum größten Teil vorhanden. Es fehlen jedoch die sämtlichen Innenwände, da sie für eine andere ältere Baracke verwendet werden mussten“ (Bundesarchiv, R4606/4916).

E VOKATION UND N ARRATION | 249

benutzten Hygiene- und Aufenthaltsräumen – falls vorhanden – waren so eingerichtet, dass Rückzugssphären für Einzelne schlicht nicht existierten. Subjekte sollten sich permanent beobachtet fühlen, wenn nicht von Wachschutz und überbordender Bürokratie, dann von anderen ArbeiterInnen. Abschaffung des Privaten war eines der expliziten Ziele. Ob diese Zustände das Gegenteil des Gewünschten, nämlich starke Solidarität bewirkten, oder ob der gesetzte materielle Rahmen das Obrigkeitsziel der Einschüchterung und des Zwangs zur Unterdrückung individueller Regungen erreichte, können nur systematische, vergleichende Forschungen zum Lageralltag aufhellen. Hierauf gehe ich im nochmals nächsten Kapitel ein. Insgesamt lässt sich festhalten, dass das Leben in Schachteln, die raumplanerisch erreichte Zerstörung jeder Privatsphäre und der Entzug der Teilnahme am öffentlichen Leben zu einem kaum erträglichen Dasein führten. Das Aufrechterhalten selbstbestimmter sozialer Beziehungen wird unter diesen Bedingungen zu einer großen Schwierigkeit, und damit auch das Aufrechterhalten einer das Selbst fundierenden Subjektivität. Denkt man zudem an unzureichende Ernährung und übersteigerte Arbeitsanforderungen, dann ist Zugriff auf persönlichen materiellen Besitz einerseits von sekundärer Bedeutung gewesen, andererseits aber als eines der wenigen verbleibenden Erinnerungsmittel durchaus von Belang. Wo die Ideale von Walter Gropius und Le Corbusier den modernen Menschen durch eine Industrialisierung und Containerisierung des materiellen Rahmens mit erschaffen wollten (Klose 2009, 219–263), pervertierten die Nazis diesen Ansatz zu einem komplett durchfunktionalisierten Menschenbild. Dieses wirkt übrigens bis heute nach. Ernst Neufert, Bauhaus-Architekt und ab 1943 „Reichsbeauftragter für Baunormung“, publizierte 1936 seine „Bauentwurfslehre“, die bis heute immer wieder überarbeitet und als Handbuch für ArchitektInnen neu aufgelegt wird (Neufert und Kister 2012). Nahm Max Weber noch gegenüber den Bürokratisierungs- und Verdinglichungstendenzen eine ambivalente Haltung ein, so finden wir hier eine unkritisch-positive Einstellung zum modernen Menschen als normierter Maschine. „Une maison est une machine à habiter“, hatte Le Corbusier (1923, 73) diese Idee schon früh konsequent in ihrer Übertragung auf den Raum ergänzt. Die zweite Seite dieser Objektivierung ist das Biologische. Le Corbusier sprach von „Zellen“, Walter Gropius von „Waben“, in jedem Falle aber von einzeln nicht überlebensfähigen Teilen, die im Kollektiv einen Organismus – im Falle der Waben mit starker interner, funktional getriebener Hierarchisierung – ergeben. ***

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Ich habe in diesem Kapitel zwei große Themen einer Archäologie der Nazi-Zeit angeschnitten, die interpretative Probleme betreffen. Das erste fragt nach der Kraft des Gegenständlichen, eine disziplinierte Imagination in Gang zu setzen, einen Vorgang, den ich hier als „Evokation“ bzw. das Evokationspotenzial der Dinge analysiert habe. Die Grundlage dafür ist die Fähigkeit zum Nacherleben, deren eminente Gefahr im unkritischen „Hineinversetzen“ in eine nicht einholbare Vergangenheit liegt. Andererseits trägt die Unterdrückung der Imagination selbst ein noch größeres Risiko in sich, eine Politisierung durch Neutralisierung bzw. Unterschlagung aller Handlungsoptionen. Wir treffen auf eine Aporie, denn der im Ansatz unkritische Vorgang des Nacherlebens müsste sich gleichzeitig einer Selbstkritik unterziehen. Ein möglicher Ausweg ist die Erstellung alternativer Szenarien, wodurch das Konkretisierte sich als nicht konkretisierbar erweist. In der Konsequenz bedeutet dies, dass archäologische Materialien Gegenstände der Evokation werden können, wenn gleichzeitig ihre diesbezügliche Unterdeterminiertheit explizit bleibt. Einzelobjekte und Einzelszenen sind nicht in der Lage, auch nur einen lokalen historischen Zusammenhang zu erfassen. Sie bedürfen einer Verankerung in einem größeren Rahmen, welcher je nach spezifischem Fall primär archäologisch oder durch schriftliche oder bildliche Dokumente gespeist sein kann. Nimmt man die Archäologie als Ausgangspunkt empirisch fundierter Interpretation, so führt die Gegenständlichkeit vergangener Welten primär zu einer deskriptiven Repräsentation, die arm an narrativen Elementen ist und Vergangenheit auf eine Aufeinanderfolge von Bildern bzw. deren Beschreibungen reduziert. Die mit diesem Fokus auf Materialität verbundene Entsubjektivierung der Darstellung läuft Gefahr, den von den Nazis gewollten Vorgang nachträglich auf anderer Ebene zu wiederholen. Objektivierende Wissenschaft ist in diesem Falle inakzeptabel. Vielmehr müssen Formen des Interpretierens gefunden werden, die in der Lage sind, ein stärker anerkennendes Verhältnis zu vergangenen Subjekten zu produzieren, ohne gleichzeitig ein eingängiges, bruchloses Narrativ zu schaffen. Ich habe hier einen als „Ortsgenealogie“ bezeichneten Modus der Darstellung entworfen, der beschreibend-statische Quellenanalysen und dynamischnarrative Elemente (in Form von Evokationen) integrieren soll, ohne in faziler formaler oder inhaltlicher Kohärenz zu enden. Aus dem unterdeterminierten Charakter der Quellen als auch der Evokationen ergeben sich Möglichkeitsräume, deren Kenntlichmachung in Alternativ-Narrativen liegt. Eine Ortsgenealogie samt ihren internen multiperspektivischen Vorstellungen steht zudem immer in einem dialektischen Verhältnis mit größerskaligen historischen Prozessen, deren Analyse und Synthese sich bislang aus nicht-archäologischen Quellen speist.

5. Komparatistik: Notwendigkeit einer Unmöglichkeit

Während der Ausgrabungen in Tempelhof führten wir im Sommer 2012 und 2013 regelmäßig an Freitagen Führungen für Interessierte durch, gelegentlich auch Sonderführungen für Kinder und ältere SchülerInnen oder Betriebe. Im Frühsommer 2013 nahmen die Erklärungen zu den Ausgrabungen besondere Brisanz an. Denn zu diesem Zeitpunkt waren wir sowohl mit Untersuchungen des ehemaligen KZ Columbia beschäftigt als auch mit Freilegungen im „Richthofen Gemeinschaftslager.“ Beide Stellen wurden schon in der Nazi-Zeit als „Lager“ geführt, und beide waren Orte der unrechtmäßigen Exklusion. Was das Verständnis dieser Situation anging, fiel das Publikum tendenziell in zwei Gruppen. Die einen erfuhren Tempelhof insgesamt als einen urbanen Bereich von Nazi-Verbrechen, wobei Unterschiede zwischen dem KZ aus der frühen NS-Zeit und den Zwangsarbeitslagern für die Rüstungsproduktion im Zweiten Weltkrieg komplett verschwanden. Bei einer anderen Gruppe ließ sich in den Fragen und Gesprächen ein radikaler Unterschied in der Imagination der Verhältnisse der beiden Lager ausmachen. Das KZ Columbia wurde schnell verstanden als grausiger Ort der Lebensgefahr für die von der SS dort Gefolterten und Erniedrigten. Hingegen wurde das hoffnungslose Schicksal der ZwangsarbeiterInnen in den Weserflug- und Lufthansa-Lagern als weniger bedrohlich, ja fast harmlos eingeschätzt. Dieser Wahrnehmungsunterschied lag an den zwei Buchstaben „KZ.“ Das Problem, welches sich für uns in der Darstellung der Ausgrabung nach außen auftat, ist damit umrissen: mangelnde Differenzierungsfähigkeit auf der einen Seite, eine durch die Bezeichnung „KZ“ in Gang gesetzte Assoziationskette auf der anderen Seite, die „Auschwitz“ und „Holocaust“ mit einschloss. Wir mussten uns ausgesprochen bemühen, das KZ Columbia in den Kontext der sog. „frühen Konzentrationslager“ zu setzen (Benz et al. 2002; Tuchel 2005). Dass dort zwar gemordet wurde, aber eher regelloser Terror als systematische Tötungsabsicht vorlag (Buggeln und Wildt 2013, 172), konnte nur durch wieder-

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holtes Betonen vermittelt werden. Bei den Zwangsarbeitslagern stellten wir fest, dass sich dieses Publikum zwar gefängnisartige Zustände ohne jede materiellen Güter ausmalte, die dennoch gerade im Verhältnis zum KZ Columbia als „nicht so gravierend“ aufgefasst wurden – vielleicht auch der Grund, warum im Nachhinein von manchen unserer ZuhörerInnen diese zeitlich, räumlich und materiell deutlich unterschiedlichen Lager nicht mehr getrennt wurden.

S INGULARITÄT , V ERGLEICH UND HISTORISCHE S YSTEMATISIERUNG Solche Erfahrungen mit der Vermittlung unserer Ausgrabungsergebnisse umreißen zwei miteinander auf komplexe Art verschränkte historiographisch-archäologische Bereiche, die ich hier näher erläutern möchte. Differenzierendes Zuhören bei den Führungen endete in einer implizit vergleichenden Empathie, die das Eingesperrtsein im KZ als traumatischer für die Betroffenen imaginierte als das Zwangsarbeitsleben in den unweit östlich gelegenen Baracken. Die äußeren historischen Umstände der nationalsozialistischen Ausgrenzung, ob „Schutzhaft“ im KZ oder rassistisch begründete Einschließung im Zwangsarbeitslager, werden damit jedoch in problematischer Weise verallgemeinert: die Imagination schreibt dann den KZ-Insassen einerseits, den ZwangsarbeiterInnen andererseits eine jeweils spezifische, intern aber einheitliche Art des Erleidens der Umstände zu. Sind nicht Einsamkeit in der Fremde, Sorgen, Bedrängungen, grausamer Schmerz bis zur Folter singuläre, in keiner Weise verallgemeinerbare Negativverhältnisse zur Welt? Die Erfahrungen mit verallgemeinernden Vorstellungen unseres Publikums führten uns dazu, den vergleichenden Ansatz als eine schwierige, wenn nicht unmögliche Interpretationsmethode anzusehen (Pollock und Bernbeck 2015, 149–150, 2016). Dennoch kommen wir im archäologischen als auch im historischen Bereich nicht ganz ohne Komparatistik aus – eine Erfahrung, die wir bei diesen Ausgrabungen in ganz anderer Hinsicht machen konnten. Eine Archäologie der Nazi-Zeit ist erst im Entstehen, so dass auch kein anhaltender wissenschaftlicher Diskurs mit einigermaßen bekannten Positionen und internen Disputen existiert. Man kann die Situation so umschreiben, dass uns im Bereich des Methodischen und Interpretativen „Anhaltspunkte“ fehlten. Wir organisierten daher im Frühjahr 2013 ein Treffen, während dessen Fragen logistischer, methodischer und theoretischer Art einer Archäologie der Nazi-Zeit diskutiert wurden (Bernbeck und Pollock 2013a). Nicht, dass die Technik des Ausgrabens ein Problem wäre. Doch selbst die von Ämtern angesetzten Stan-

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dards scheinen an manchen Stellen erweiterungsbedürftig. Mit welchem Grad der lokalisierbaren Genauigkeit sollten Funde aus sekundären oder tertiären Kontexten des. 20. Jahrhunderts aufgenommen werden? Welche Erfahrungen mit dem Umgang der immensen Fundmengen gibt es, besonders derjenigen aus dem Oberbodenbereich? Aber auch auf allgemeinerem Niveau schweben selten thematisierte Fragen im Raum. Wie nimmt man eine systematische Auswertung der Ausgrabungsresultate vor? Vergleichen als eine Methode, sich diesen Themen anzunähern, schien eine fachliche Notwendigkeit zu sein, gleichzeitig aber ein zu fragwürdig-normativem Denken drängendes Verfahren. Im Folgenden handle ich die beiden Themen des Vergleichs objektiver Bedingungen des Leidens und die Möglichkeiten der Erforschung der subjektiven Leidenserfahrung nacheinander ab. Die Praxis des Vergleichs ist in Geschichte und Archäologie auf unterschiedlichsten Ebenen angesiedelt. Ich werde anhand von vier Aspekten die hiermit verbundenen Spannungen und Probleme einzugrenzen versuchen, jedoch ohne einen Anspruch auf umfassende Bearbeitung: •







Zunächst beschäftige ich mich mit Großvergleichen ganzer Nationen, politischer Systeme, Gesellschaften oder Kulturen, wie sie in Geschichte und Archäologie gleichermaßen vorgenommen werden. Ein zweiter Vergleich, der in der archäologischen Praxis eine erhebliche Rolle spielt, ist der typologische. Morphologie, Variablen qualitativer oder quantitativer Art werden eingesetzt, um Ähnlichkeiten unabhängig von historischen Kontexten aufzuspüren. Hierbei geht es mir spezifisch um eine „Lager-Archäologie“ und ihre Stellung in der Moderne. Anschließend an diese allgemein-typologische Diskussion wende ich mich dem kontextualisierten Vergleich von Lagern in der Nazi-Zeit zu, um hieran die Verschränkung von Biopolitik und Architektur genauer aufzuschlüsseln. Eine letzte Vergleichsart für die Lager bezeichne ich als antagonistisch. Ich vergleiche hierbei nicht den von politischen Systemen geschaffenen Handlungsraum oder die Materialität und historische Umwelt von Internierungsorten, sondern das Lager als eine aktive Raumproduktion von Akteuren mit radikal unterschiedlichen Interessen, wofür ich mich auf Henri Lefebvres (2000) Auseinandersetzung mit Räumlichkeit stütze.

Wie ich in einem zweiten Teil des Kapitels erörtern werde, führt die unabdingbare Forschungspraxis des Vergleichens in ihrer Verknüpfung mit dem NaziRegime, dessen Hauptziele in Rassismus, Ausgrenzung und der Produktion von Leid bestanden, in eine Aporie. Denn die Rekonstruktion der materiellen Rah-

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menbedingungen des Leidens in den Lagern steht in einem irrekonziliablen Gegensatz zum je singulären Leiden an diesen Bedingungen, aber auch ihrer Erinnerung.

Archäologie und der Vergleich politischer Systeme „Archaeology is inherently comparative. Comparison is necessary to understand the archaeological record. [...] Comparative analysis is the only way to identify unique features of human societies.“ Mit diesen Sätzen beginnen Smith und Peregrine (2011, 4) ihre grundsätzlichen Überlegungen zu einer vergleichenden Archäologie komplexer Gesellschaften. In vielerlei Hinsicht haben sie recht. Chronologie als Basis archäologischer Abhandlungen beruhte bis zur Etablierung von einigermaßen sicheren Verfahren der Radiokarbondatierung auf typologischen Vergleichen. Die Objekt-Typologie selbst baut auf formalen und Materialvergleichen auf. Artefaktverteilungen sind erst dann genauer interpretierbar, wenn man einen Vergleichsmaßstab hat, der meist darin besteht, zwei Verteilungen an unterschiedlichen Orten miteinander in Bezug zu setzen (s. Wandsnider 1996). Aufgrund des statischen Charakters der archäologischen Reste sind auch alle diachronen Prozesse letztlich nur durch den Vergleich jeweils synchroner Zeitscheiben erschließbar. Eines der prototypischen Werke aus diesem Bereich ist V. Gordon Childes The Danube in Prehistory (1929). Im Rahmen der kulturevolutionistischen Archäologie spielen globale Fragen eine grundlegende Rolle: Unter welchen Umständen und warum entwickelten sich prästaatliche Hierarchien oder auch die ersten Staaten? Wo finden wir den Übergang vom Jagen und Sammeln zum Anbau? Unter welchen Bedingungen fand dieser Übergang statt? Fragen nach der ältesten Keramik, dem Aufkommen des Rades, der Metallurgie, der organisierten Religion oder den ersten Städten werden in der Archäologie als die spezifisch durch diese Disziplin zu bearbeitenden Themen angesehen. Die Formulierung von Forschungsproblemen derart globaler Ausmaße setzt eine komparatistische Herangehensweise voraus, woraus sich auch die oben zitierten apodiktischen Statements von Smith und Peregrine erklären. Diese Art der Forschung hatte ihre Höhen und Tiefen. Ein bis heute instruktives Beispiel ist Robert McC Adams’ (1966) vergleichende Studie zur Urbanisierung in Mesopotamien und Mittelamerika. Zeitweilig hatten übergreifende Klassifikationsversuche von Elman Service (1968) und Morton Fried (1967) großen Einfluss auf die Archäologie. Sie mündeten in evolutionär aufgereihten Typen politischer Komplexität. Im Moment zeigt sich ein neuerlicher Boom kultur- und gesellschaftsübergreifenden Fragen auf anderer methodischer Basis (Kintigh et al. 2014; Em-

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berling 2016; s. aber Cobb 2014).85 Insgesamt wird in der Archäologie der Großvergleich als Methode der Erkenntnisgewinnung mit erstaunlicher Sorglosigkeit angewandt. Ethische Bedenken wegen einer radikalen Verdinglichung oder der Unterdrückung interner Interessenswidersprüche in den verglichenen Einheiten scheint es kaum zu geben. Forschungspraktiken tun ihr Übriges zur Intensivierung dieser komparatistischen Tendenz. Für den professionellen Ruf ist es im anglophonen wissenschaftlichen Bereich förderlich, ein Thema zu „besetzen“, was dadurch geschieht, dass man auf gut besuchten Konferenzen eine Sitzung über ein neues oder modisches Thema organisiert und versucht, weithin bekannte SpezialistInnen einzuladen, die dieses Thema in Hinblick auf unterschiedliche, geographisch weit verstreute Einzelgesellschaften oder -kulturen diskutieren. Die daraus entstehenden edierten Sammelbände unterstützen den komparatistischen Trend stark, ohne dass die vergleichende Vorgehensweise hier eine explizite Rolle spielen muss. Man überlässt es vielmehr meist – abgesehen von einem Einleitungsbeitrag, welcher Probleme und Gemeinsamkeiten erwähnt – den LeserInnen, die Verbindungen zwischen einzelnen Beiträgen eines Sammelwerks selbst zu ziehen. So entsteht eine übergreifende Rhetorik, die die Archäologie als eine globale Wissenschaft erscheinen lässt, für die einzelne Kulturen, Gesellschaften und deren Mitglieder bestenfalls den Status eines „Falls“ haben. Die Reihe solcher „case studies“ ist endlos und greift Forschungsgegenstände wie Erinnerung und Materialität, politischen Zusammenbruch, Innovation und Kommensalität, Performanz oder Haushaltsstrukturen auf, um nur einige rezente Themen zu nennen. Die Archäologie des 20. Jhs. verfährt nicht anders. Myers und Moshenska (2011a) versammeln Beiträge zu einer „Internierungsarchäologie“, deren „Fälle“ von Kriegsgefangenenlagern für Wehrmachtssoldaten in den U.S.A. über das Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen und Orte des Genozids in Argentinien bis nach Auschwitz reichen. In ähnlicher Weise zusammengestellt sind Aufsatzkollektionen zu Lebensbedingungen in Anstalten (Beisaw und Gibb 2009) oder Kriegsgefangenenlagern (Mytum und Carr 2013). Myers und Moshenska (2011b, 8–10) listen eine Reihe von Themen auf, die sie als relevant für alle Einkerkerungsarchäologien betrachten. Hierunter fallen die Ähnlichkeit zu Ide-

85 Die komparatistischen Tendenzen auf dem Niveau ganzer Gesellschaften oder „Kulturen“ bestehen vor allem im Rahmen der anglophonen, oft in die (Kultur-)Anthropologie eingegliederten Archäologie. Im deutschsprachigen Raum arbeitet am ehesten die Ur- und Frühgeschichte mit Großvergleichen, während die mit Texten befassten Archäologien im griechisch-römischen, ägyptischen und westasiatischen Umfeld stärker dem Partikularismus huldigen.

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alplanungen der Moderne, das räumliche Arrangement von Lagern und Gefängnisgebäuden sowie die ökonomischen Aspekte des Baus und Unterhalts solcher Orte offizieller Gewaltausübung. Einerseits ist die Unbekümmertheit frappierend, mit der eine Zivilinternierung auf der Isle of Man mit dem Vernichtungslager Auschwitz in denselben Kontext gesetzt wird. Andererseits mag man mir dies ebenfalls zum Vorwurf machen, habe ich doch auf etlichen Seiten dieses Buchs Zitate von Auschwitz-Überlebenden mehr oder weniger direkt in Relation gesetzt zu den Verhältnissen in Zwangsarbeitslagern, obwohl die Zwangsarbeitslager in der Regel von Zivilfirmen geführt wurden und die Konzentrationslager eine Organisationsstruktur der SS hatten, mithin gewichtige Unterschiede aufwiesen. Jedoch bleibe ich bei Bezügen innerhalb ein- und desselben verbrecherischen Regimes. Myers und Moshenska zielen hingegen auf eine globale Internierungsmaterialität ab. Der naive Glaube an den Erkenntnisgewinn durch Komparatistik unterscheidet die Archäologie weitgehend von der Geschichtswissenschaft mit ihrem Fokus auf Partikularitäten bestimmter historischer Abläufe, ganzer Epochen, Räume oder Gesellschaften. Obwohl also das Vergleichen im historischen Umfeld eine eher geringe Rolle spielt, tritt es seit der Auflösung der Sowjetunion und der Globalisierung in den 1990er Jahren stärker in den Vordergrund (Kaelble 2012) – nicht ohne auf erhebliche methodische Kritik am verfahrensinhärenten Nationalismus, an den Komplexitätsreduzierungen und der Mono-Perspektive zu stoßen (Werner und Zimmermann 2002). Im historischen Bereich stechen vor allem diejenigen Großvergleiche hervor, die ganze Staatssysteme, Nationen oder Gesellschaftsstrukturen zueinander in Bezug setzen. Der „Diktaturenvergleich“ (Schmiechen-Ackermann 2014), vergleichende Genozid-Forschung (Feuerstein 2014) oder Komparatismen des Faschismus (s. Traverso 2014, 81–111) gehen alle von einem hohen Abstraktionsniveau der verglichenen Einheiten aus. Daraus ergibt sich die drängende Frage, in welchem spezifischen Verhältnis eine vergleichende und damit notwendig den verglichenen Einheiten äußerliche Position zu den möglichen internen Positionen der „Akteure“ steht. Gerade bei der Analyse von Differenzen und Ähnlichkeiten zwischen ganzen politischen Systemen oder Gesellschaften ist das Interesse oft auf die oberen Stufen von Hierarchien ausgerichtet. Die Frage, in welchen Hinsichten zwei Regime sich ähneln, impliziert bereits eine Perspektivverengung, die die zweifelsohne vielfältigen Ansichten der Beherrschten unerheblich erscheinen lässt (Friese 2004). Das gilt auch für die archäologischen Vergleiche nichtstaatlicher politischer Strukturen (Earle 1991, 1997; zur Kritik s. Pauketat 2007). Ist der Ausgangspunkt einer vergleichenden Untersuchung ein abstrakter Begriff, wirkt sich dies fundamental auf die historische Beobachtung aus. Feststellungen über Macht,

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Gewalt und ihre Ausübung werden durch Termini wie „Genozid“ oder „Diktatur“ so ausgelegt, dass ein unbedingtes tertium comparationis entsteht, eine Gemeinsamkeit, die auch bei aller Mühe des Nachweises von Differenzen eine tiefergründige Gleichsetzung impliziert. Verglichenes kommt zu Fall, indem es zum Fall verkommt. Wie die histoire croisée kritisiert, basiert dieses Vorgehen auf fixen Modellen und vorgestanzten Einheiten, denen viel zu wenig Flexibilität zukommt (Werner und Zimmermann 2002, 609–612). Das Extrem stellen die in der Archäologie und bestimmten Arten der Kulturanthropologie zu Rate gezogenen Human Relations Area Files (HRAF) dar, die auf der Extraktion von Variablen aus Ethnographien zum Zwecke des statistisch fundierten Gesellschaftsvergleichs beruhen. Ganze Gesellschaften werden in eine Stichprobe objektiviert und verzwergt. Komplette Verdinglichung von Lebensverhältnissen und den diese Verhältnisse gestaltenden Menschen ist die Voraussetzung für diese Datenbank und die aus ihr hervorgehenden Forschungsresultate. Im Bereich der NS-Geschichte hat der historische Vergleich eine theoretisch wenig reflektierte Grundlage und ist stark mit der Politologie und den Sozialwissenschaften verknüpft. Der vergleichende Ausgangspunkt ist nach wie vor Hannah Arendts Totalitarismus-These, die in unterschiedlichen Institutionen und Foren teils als Grundsatzprogram genommen, teils in ein politisches Dogma umgewandelt wird. Ein offensichtliches Problem dieses Vergleichs ganzer Herrschaftssysteme (Arendt 1973; Overy 2004), der die Nazi-Herrschaft insgesamt zu anderen Diktaturen in Beziehung setzt, ist die Übertragung in heutige politische Rhetorik und Entscheidungspraxis. So manifestiert sich Arendts Begriff als Geschichtsdoktrin der EU in einer Entschließung des Europa-Parlaments vom 2.4.2009 (European Parliament 2009). Dieses Hohe Haus propagiert eine Gleichsetzung von Diktaturen durch den Begriff des Totalitarismus. Obwohl der Holocaust explizit erwähnt wird, bleibt er subsummiert unter andere Ereignisse. Wie kam es dazu? War nicht im Zuge des „Historikerstreits“ in den 1980er Jahren die Totalitarismus-These auf gesamteuropäischer Ebene in Misskredit geraten? Ernst Nolte hatte damals durch seine Behauptung einer Vergleichbarkeit, ja sogar einer Ursächlichkeit des Klassenkampfs für den Holocaust eine ethisch bedenkliche, weil Deutschland als Ganzes exkulpierende Position formuliert (Wippermann 1997, 95–98). Die wenig später folgende Wiedervereinigung der beiden Deutschland 1989 bot den Anlass für die Wiederbelebung des Totalitarismus-Begriffs, wobei erstaunlicherweise das Hamburger Institut für Sozialforschung eine entscheidende Rolle spielte (Roth 1999, 118–131). Nicht nur Stalinismus und das Nazi-Regime werden weithin wieder als Spielarten der Diktatur

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mit einem gemeinsamem Hintergrund angesehen (zur Kritik s. Morsch 2010),86 sondern diese Tendenzen gipfeln in Gleichsetzungen wie den „beiden deutschen Diktaturen“ (prägend: Kühnhardt et al. 1994), die im heutigen politischen Sprachgebrauch unreflektiertes Allgemeingut geworden sind. Selbst wenn in der einschlägigen komparatistischen historischen Literatur nicht nur auf die angeblichen Ähnlichkeiten der „beiden Diktaturen“, sondern auch auf die Unterschiede verwiesen wird, bleibt doch die unbedingte Insistenz auf der Vergleichbarkeit an sich (z.B. Jesse 2005, 41–45). Einem solchen Großvergleich ganzer politischer Ideensysteme wie des NSRegimes und der DDR steht allein schon im Wege, dass die Vergleichsgrößen inkompatibel sind (Haupt und Kocka 1996; Giordano 1987, 347). Die DDR als eine kleinbourgeoise imperiale Peripherie und der Nazi-Großreichsanspruch, der durch Vernichtungspolitik erreicht werden sollte, werden auf dasselbe Niveau gesetzt. Die politische Problematik der Gleichsetzung besteht darin, eine krasse Diskrepanz des Grades der Unmenschlichkeit zu verdecken. Das ist gewollt, denn der Vergleich hat mehr ideologischen als wissenschaftlichen Gehalt (Wippermann 1997, 111–117; Frei 2009, 33–34). Man ist versucht, die ins Groteske reichenden Argumente mit der Polemik Margherita von Brentanos zu kommentieren: „Der bloße Vergleich des Dritten Reiches mit der DDR ist eine schreckliche Verharmlosung. Das Dritte Reich hinterließ Berge von Leichen. Die DDR hinterließ Berge von Karteikarten“ (zitiert nach Die Zeit vom 16.8.1991). Auch durch die Archäologie des 20. Jhs. geistert der Totalitarismus-Begriff, und wird dort in leichtsinniger Weise verwendet. So zieht González-Ruibal (2011, 59–65) die Evidenz aus Spanien, dem faschistischen Italien, dem salazaristischen Portugal, der Nazi-Zeit in Deutschland und der stalinistischen Sowjetunion zu einer „material culture of totalitarianism“ zusammen. Für Schofield und Cocroft (2011, 248) war auch die DDR Teil der totalitaristischen Welt, was implizit ebenfalls auf „zwei deutsche Diktaturen“ verweist. Auch andernorts wird der Begriff ohne genaue Referenz eingesetzt (McGuire 2008, 17–18, 39; Casella 2011, 189; Dezhamkhooy et al. 2015). Tatsächlich muss zunächst jeder Einzelfall vor derartigen potenziellen Inbezugsetzungen auf seine Vergleichsfähigkeit hin untersucht werden. Der Historiker Reinhart Koselleck kam, was den Holocaust angeht, zu diesem Ergebnis: „These considerations [of moral, as well as political and religious demands] point to a uniqueness which, in order to be

86 In Frankreich wird beharrlich und unnachgiebig ein öffentlicher Streit um die explizit geforderte Gleichsetzung von Stalinismus und NS-Herrschaft geführt, initiiert von Stéphane Courtois mit seinem Schwarzbuch des Kommunismus (Courtois et al. 1997).

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determined, creates both the necessity of making comparisons as well as the need to leave these comparisons behind“ (Koselleck, in Friedländer 1989, 71). Zugegebenermaßen impliziert das Wort „Totalitarismus“ in einem wiedervereinten Deutschland eine spezifische ideologische Stellungnahme, die in anderen Ländern und Kontexten nicht so virulent ist. Die Versuche einer Inbezugsetzung ganzer politischer Regime durch solche umfassenden Begriffe – das gilt ebenso für „Diktatur“ oder „Genozid“ – berühren ein tiefer reichendes Problem, das Verhältnis zwischen Begriff und Realität. Adorno (1970, 20) reflektiert hierüber in den Einleitungsseiten der Negativen Dialektik und analysiert die grundsätzliche Unversöhnlichkeit von Begriff und dem vorgeblich Begriffenen: „Dringlich wird, für den Begriff, woran er nicht heranreicht, was sein Abstraktionsmechanismus ausscheidet, was nicht bereits Exemplar des Begriffs ist.“ Die Verwissenschaftlichung des Bezeichneten – etwa in Form einer listenhaften archäologischen Terminologie oder einer historischen Kategorisierung – ist folgenreicher, als wir wahrhaben wollen. Denn die Begriffe überwältigen das mit ihnen vermeintlich Erfasste: „die Phänomene [begegnen] nur noch als Exempel ihrer Begriffe.“ Im Falle des Genozid schreibt Adorno, „durch die Kodifizierung, wie sie in der internationalen Erklärung der Menschenrechte niedergelegt ist, hat man zugleich, um des Protestes willen, das Unsagbare kommensurabel gemacht“ (Adorno 1980, 287). Man hat das wissenschaftliche Wunder vollbracht, Nichtvorstellbares in eine vergleichende Form zu gießen. Gegen diese in der kapitalistischen Gesellschaft tief verankerte Denkweise insistiert Adorno auf dem grundsätzlichen Überschuss des Realen über sprachliche Ausdrucksfähigkeiten hinaus. Dieses philosophische Argument findet seinen Widerhall in einer – falsch betitelten – Analyse Wulf Kansteiners (1994) zur Stellung des Holocaust in der Geschichtsschreibung: er vermeint, eine Wandlung der Argumentation festzustellen, wonach die absolute Singularität und Nicht-Integrierbarkeit der Shoah in die Geschichte heutzutage eher in derselben als exemplum aufginge. Auschwitz als „Beispiel“? Wofür? Eine genauere Lektüre zeigt, dass Kansteiner mit „exemplum“ etwas ganz anderes als ein nachahmbares Beispiel meint. Er kritisiert am Historikerstreit und besonders an Nolte und Habermas, dass sie letztlich eine ähnliche Art der Logik verfolgen, obwohl sie in diesem Disput die schärfsten Kontrahenten waren. Beide konstruieren einen Raum abstrakter Begrifflichkeiten, wobei Nolte aus seinen Termini die Normalität und Wiederholbarkeit des Holocaust extrahiert, während Habermas umgekehrt die absolute Singularität in seinem ebenso abstrakten Zugang findet. „Abstract categories (modernity, normality, transcendence) and abstract argumentation prevent them [Habermas and Nolte, R.B.] from being able to assess realistically the closeness or distance be-

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tween our own and Nazi society“ (Kansteiner 1994, 164). Der Kern von Kansteiners Aufsatz meint genau dies: Alltagsgeschichte und eine Konkretisierung sind notwendig, um eine realistischere Sichtweise auf die Verhältnisse in der Nazi-Zeit zu finden, deren Ziel in der Abschätzung der Distanz zwischen der Position der HistorikerInnen und dem Nationalsozialismus zu bestehen scheint, allerdings nicht unbedingt in der Geschichte selbst mehr liegt. Alltagsgeschichte jedoch entzieht sich dem Großvergleich.

Raumtypologische und biopolitische Vergleichslogiken „Blocks of 48 cages each, with two rows of mesh cages separated by a narrow corridor. The blocks have no external walls, only a pitched roof; they stand on concrete bricks in areas of raked gravel surrounded by high, opaque green fences topped by razor wire. The cages are about as long and wide as a tall man lying down, and contain a metal bunk, a tap and a toilet.“

So beschreibt der Journalist James Meek (2003) der britischen Zeitung The Guardian die Blocks von Camp Delta in Guantánamo Bay, Cuba. Dieser Text könnte rein strukturell fast den Baracken des Tempelhofer Zwangsarbeitslagers der Weserflug übergestülpt werden, wären da nicht dimensionale Differenzen (Abb. 5.1). Allerdings lässt sich der Vergleich auf weitere Details ausdehnen. Baracken bestehen bzw. bestanden in beiden Lagern aus Langbauten mit schwach geneigtem Satteldach, einem Mittelgang, davon abgehenden Zellen bzw. Räumen mehr oder minder quadratischen Grundrisses87 und einem Eingang an einer Schmalseite. Auch die generelle Anordnung zeigt zumindest für den Ost-Teil der Tempelhofer Barackenanlage und Guantánamo Parallelen: durch die parallel aufgestellten Baracken läuft in der Mitte eine Lagerstraße (vgl. Abb. 4.16 und Abb. 5.2). Die rektanguläre Anordnung solcher Lager schränkt die Sichtlinien eines idealen Panoptikums ein und muss die visuelle Kontrolle durch personelle Instanzen wie Offiziere, „Joint Task Force“, Lagerführer, Kapos, Blockälteste usw. ersetzen (Gabriel 2007, 211). Die Grundstruktur reicht jedoch extrem weit: von Miranda de Ebro im Spanien Francos (González-Ruibal 2011, 62–63; Fig.4.3) über das Manzanar War Relocations Center für japanische Zivilinternierte im 2. Weltkrieg in den USA (Beckwith 2013, 274; Fig. 15.1) bis zum

87 Einzelheiten der Metallbaracken in Guantánamo sind ersichtlich auf der Website von Zone Interdite (Wachter und Jud o.J.).

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„Dachauer Schema“ der meisten Konzentrationslager (Gabriel 2007, 2011; Abb. dort S. 209, 2011; Endlich 2005, 218). Ähnliche Anordnungen kann man zudem schon in Kriegsgefangenenlagern aus dem Ersten Weltkrieg wie etwa in Dülmen in Nordrhein-Westfalen finden. Abbildung 5.1: Plan der Baracke 13 des Weserflug-Lagers in Tempelhof

Abbildung 5.2: Plan von Camp 1, Guantánamo Bay, 2003; Buchstaben A bis I bezeichnen jeweils einzelne Baracken („blocks“)

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Der Vergleich der Baracken lässt sich auf einen dritten Ort erweitern. Die Container eines Flüchtlingslagers, die im Herbst 2015 in Wünsdorf etwa 40 km südlich von Berlin aufgestellt wurden, bestehen aus jeweils zwei Reihen von einem Dutzend blauer Containerzellen mit einem aus Containern bestehenden Mittelgang. Zwei Zellen an einem Barackenende sind für Sonderfunktionen (Nasszellen, Küche) eingerichtet. Die formale Ähnlichkeit der achsensymmetrischen Anlage mit Modul-artiger Zellenstruktur ist frappierend (Abb. 5.3). Abbildung 5.3: Containerunterkünfte in Wünsdorf-Waldstadt, Herbst 2015

Archäologie als mit der stofflichen Welt befasste Disziplin trifft hier auf eine Art der materiellen Kultur, die den in der universitären Sozialisation eingebrannten Trieb zur Typologisierung und Klassifikation fast vollends zu befriedigen in der Lage ist. Die Container oder Baracken bestehen aus zwei Zellenreihen samt Mittelgang. Auf noch größerer Skala der Barackenanordnung selbst finden wir zudem eine ganz ähnliche räumliche Konfiguration der oben beschriebenen Baracken in einer Aufreihung samt Mittelweg – es handelt sich also nicht allein um komparable Strukturen auf einer einzigen Ebene, sondern um eine hierarchisierte Modularisierung. Lager bestehen aus mehreren ineinander verschachtelten Niveaus von Raumeinheiten, deren grundsätzliche Fähigkeit darin besteht, beliebig erweiterbar zu sein (s.a. Myers 2010). Man kann also über das Niveau der

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im letzten Kapitel erläuterten Ortsgenealogien als vereinzelten Geschichten durch einen vergleichenden Ansatz hinausgelangen. So listet Sturdy Colls (2015, 43) komparatistisch vorgehende Vorhaben auf und schreibt, „these projects have clearly demonstrated the benefits of comparing Holocaust sites and the findings of archaeological research.“ Ich bleibe für einen Moment beim konkreten Vergleich von Materialitäten der drei oben genannten Lager. Besieht man sich Relationen wie etwa Länge und Breite der dortigen Bauten, erscheinen deutlichere Differenzen, wobei die Baracken in Tempelhof und die Käfigreihen in Guantánamo mit einem BreitenLängen-Verhältnis von 1: 4,5 bzw. 1: 5,5 sich immer noch weitgehend ähneln, während die Wünsdorfer Flüchtlingsunterkünfte abweichen: sie sind nur doppelt so lang wie breit. Es lässt sich eine ganze Liste an Variablen zusammentragen, nach denen man diese drei Orte systematisch auf formaler Ebene vergleichen kann, um Parallelen und Differenzen genauer zu bestimmen. An der immobilen Infrastruktur sind Zugang, Lage (isoliert oder integriert in andere Wohnbereiche), Umzäunung, Vorhandensein und Form von Verkehrsbereichen, Wachgebäude (Türme, Extrabaracken), Beleuchtungsanlagen, Zu- und Abwasserleitungen von Interesse. Sind zahlreiche Parallelen auffällig, sind doch andererseits unter den 13 Variablen auch Unterschiede zu bemerken (Tabelle 5.1a). Systematische formale Vergleiche materieller Kultur sollten immer sowohl Parallelen als auch Differenzen berücksichtigen, die man in einem einfachen Quotienten aus Similaritäten und Differenzen berechnen kann (Tab. 5.1b). Dieser liegt für Tempelhof und Wünsdorf bei 1,0, was bedeutet, dass es genauso viele Ähnlichkeiten wie Unterschiede gibt. Zwischen Tempelhof und Guantánamo bestehen weniger Parallelen als Unterschiede, denn der Quotient liegt bei 0,73. Für Guantánamo und Wünsdorf sind die Parallelen mit 0,47 nochmals erheblich geringer. Mithin sind sich das Flüchtlingslager und das Zwangsarbeitslager der Nazis im Zweiten Weltkrieg formal verhältnismäßig ähnlicher als diese beiden Lager und Guantánamo. In der Welt der Archäologie wird ein solcher morphologisch-quantifizierender Vergleich durchaus als legitim betrachtet und im Altertum in ähnlicher Weise auf Siedlungspläne, Bronzewaffen oder Grabformen angewandt. Die abstrahierend-quantifizierende Logik des Formalen setzt ebenso allgemeine Vergleichsdimensionen ein, um daraus kulturelle Nähe bzw. Distanz anscheinend objektiv zu erschließen. Und aus den Ähnlichkeiten bzw. Differenzen würden wir eventuell sogar noch funktionale Nähe bestimmen, zumal die drei Orte alle in dieselbe allgemeine Epoche datieren, nämlich die Moderne. Als „case studies“, die sich in eine „compelling material signature of uniformity“ der Internierung fügen (Casella 2011, 289; Hervorhebung im Orig.), tref-

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fen sie trotzdem nicht den intendierten politischen Kern der drei Orte. Ein Flüchtlingslager wird zumindest grundsätzlich zum Schutz eingerichtet, während Zwangsarbeitslager und Gefängnisse Menschen isolieren, zu welchen ultimativen Zwecken auch immer. Es ist bezeichnend, dass eine typologische Analyse diesen Unterschied nicht eindeutig identifizieren kann. Tabelle 5.1: (a) Vergleich einiger formaler Charakteristika von Baracken/Blocks/Containern in einem Zwangsarbeitslager (Tempelhof, 1943), einem Hochsicherheitsgefängnis (Guantánamo 2003) und einem Flüchtlingslager (Wünsdorf, Zustand 2015); (b) Umsetzung von Tabelle 5a in einen Ähnlichkeitskoeffizienten (a) Größerer Kontext Barackenbreite : -länge Überwiegendes Baumaterial Dach Zellenbreite : -länge Untergrund Lage Duschräume Lage Toiletten Umgrenzungsmaterial Art der Umgrenzung Wände Sicht nach außen Zellenbelegung (b) Tempelhof Guantánamo Wünsdorf

Tempelhof 1943 integriert in Stadt 1 : 4,5 Holz

Guantánamo 2003 isoliert 1 : 5,5 Metall

Wünsdorf 2015 isoliert 1:2 Metall

leicht geneigter First 1:1 auf Stelzen an der hinteren Schmalseite, integriert an der hinteren Schmalseite, integriert

leicht geneigter First 1:1 auf Stelzen an der hinteren Schmalseite, außerhalb In jeder Zelle

Stacheldraht einfacher Stacheldrahtzaun massiv gerahmte Fenster mehrere Personen

Nato-Draht doppelter Stacheldrahtzaun Gitter Gitter Einzelzelle

leicht geneigter First 1:3 Betonfläche an einer Schmalseite, integriert an der hinteren Schmalseite, integriert --nicht fertiggestellt---nicht fertiggestellt--

Tempelhof --5,5 : 7,5 5,5 : 5,5

Guantánamo 0,73 --3,5 : 7,5

massiv gerahmte Fenster mehrere Personen

Wünsdorf 1,0 0,47 ---

(Kursiv = Anzahl der Parallelen : Anzahl der Differenzen (Unbekanntes, d.h. Umzäunung nicht eingerechnet als Differenz); Fettdruck = einfacher Ähnlichkeitsquotient, berechnet als Ähnlichkeiten : Differenzen)

Interessanterweise findet sich im soziologischen Schrifttum Unterstützung für die obigen formalen Parallelisierungen, und zwar aus zwei unterschiedlichen Richtungen. Zygmunt Bauman (1994) bezeichnete das 20. Jahrhundert pauschal als das „Jahrhundert der Lager.“ Dabei bezog er sich vor allem auf die Lager der Nazis und des Stalinismus und griff auf die Totalitarismus-These Arendts zurück. Doch das ist nicht der Endpunkt von Baumans Betrachtung. Vielmehr schreibt er Jahre vor der Entstehung von Guantánamo, dass auch konsumbesessene westliche Gesellschaften da, wo Menschen nicht in die Gesellschaft zu pas-

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sen scheinen, die „totalitäre Lösung ohne totalitären Staat“ suchen, und fährt fort: „Der Stil der ‚Problemlösungen‘ dieser Tendenz hat – mehr als wir uns eingestehen möchten – mit der ‚totalitären Neigung‘ zu tun, mit den totalitären Versuchungen, die in der Moderne offenbar endemisch sind. Es wäre voreilig, Nachrufe auf die ‚klassischen‘ Lager nach Art Himmlers und Stalins zu schreiben. Diese Lager waren eine moderne Erfindung, selbst wo sie von antimodernen Bewegungen benutzt wurden“ (Bauman 1994, 37). Tatsächlich greifen Staaten im noch neuen 21. Jahrhundert nach einem zeitweiligen Nachlassen derzeit wieder stärker zum Lager als einem politischen Mittel des Regierens. War die Globalisierung in den 1990er Jahren noch gefeiert worden als der Aufbruch ins postnationale Zeitalter, welches den Unternehmen ganz neue Mobilitäten erlaubt und hybride Subjekte produziert (z.B. Appadurai 1996; Hannerz 1996), so zeigt sich seit der Jahrtausendwende, dass nicht nur Kapital, sondern auch Arbeitende und Subalterne allen Widrigkeiten zum Trotz zu enormer Mobilität fähig sind, besonders wenn sie ein Dasein unter unerträglichen Bedingungen fristen müssen (Hardt und Negri 2004; Friedman 2013). Doch diese unvorhergesehene Beweglichkeit bringt die simplifizierenden Vorstellungen von Politik, Kapital und Wissenschaft über die Globalisierung durcheinander. Die schnell steigende weltweite Anzahl der MigrantInnen, unter ihnen aufgrund regionaler Konflikte eine Vielzahl an Flüchtlingen, führt zum staatlichen Versuch der immer radikaleren Ausgrenzung. Waren in Europa Lager schlimmstenfalls als provisorische Einrichtungen bis zur Feststellung des Status von Flüchtlingen gedacht, werden diese temporären Elendsverwaltungen heute immer mehr zu festen Einrichtungen. Während ich dies schreibe, erschallt der demagogische Ruf nach komplettem Ausschluss ganzer Bevölkerungsteile in Europa, den U.S.A. und Australien. Zielscheibe sind Personen aus Mittelamerika oder alle Menschen islamischen Glaubens – und schon wieder Roma und Sinti. Ziel der politischen Hetze ist es, Reflexionen über Einzelschicksale systematisch zu unterdrücken. Dieses Exklusionsdenken bezieht sich auf ganze Kollektive und macht sich in erschreckendem Ausmaß breit. Abschiebelager, als „Ausreisezentren“ deklariert, Flüchtlingslager, Erstaufnahmelager, Auffanglager, Transferlager – sie alle sind räumliche Organisationsformen nicht nur des 20. Jhs. sondern auch unserer Zeit. Die Sprache selbst generiert eine typologische Einheitlichkeit, die auch zur Grundlage etlicher rezenter wissenschaftlicher Sammelbände zu Lagern geworden ist (z.B. Schwarte 2007; Greiner und Kramer 2013). Wie beim Totalitarismus auch, scheint sich der Begriff „Lager“ zu verselbständigen, um darin das Singuläre, die Spezifizität der subjektiv erlebten Ausgrenzung und Erniedrigung verschwinden zu lassen. Dies gilt selbst für historische Werke wie etwa Kotek und Rigoulets (2001) em-

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pirisch angelegte Sammlung, die Baumans Begriff des „Jahrhunderts der Lager“ schon im Titel aufnimmt und sich im Zusammentragen von Beispielen gänzlich von der Idee des politischen Totalitarismus als abstraktem Konzept inspirieren lässt. Hier wird Geschichte in ein konzeptuelles Gerüst gepresst, welches die Partikularitäten des Einzelfalls hinter einer gleichmachenden Fassade verschwinden lässt. Wenn etwa für den Genozid an den Armeniern zwei kurze Opferberichte eingestreut werden (Kotek und Rigoulet 2001, 111–116), erhebt sich die Frage, ob diese beispielhaft für alle andere Stimmen des Völkermords an den ArmenierInnen stehen sollen. Die typologische Verallgemeinerungstendenz ist auch in den Arbeiten Erving Goffmans zu „totalen Institutionen“ zu spüren, obwohl er durch seinen mikrosoziologischen Ansatz gleichzeitig die Partikularitäten örtlicher und zeitlicher Verhältnisse nicht aus den Augen verliert. Goffman (2007, 5–6) leitet diese Institutionen aus dem normalen Alltagsleben der Moderne folgendermaßen ab: „A basic social arrangement in modern society is that we tend to sleep, play and work in different places, in each case with a different set of co-participants, under a different authority, and without an overall rational plan. The central feature of total institutions can be described as a breakdown of the kinds of barriers ordinarily separating these three spheres of life. First, all aspects of life are conducted in the same place and under the same single authority. Second, each phase of the member’s daily activity will be carried out in the immediate company of a large batch of others, all of whom are treated alike and required to do the same thing together.“

Diese Beobachtungen nehmen eine außerhalb der „total institutions“ existierende Lebenssphäre als Maßstab dafür, was innerhalb geschieht. Das hat den Vorzug, eine unabhängige Vergleichssituation für die Auseinandersetzung mit Heimen, Gefängnissen, psychiatrischen Kliniken und eben auch Lagern als „anderen Orten“, den Heterotopien Foucaults zu verwenden. Kennzeichnend ist „the handling of many human needs by the bureaucratic organization of whole blocks of people. [...] They can be supervised by personnel whose chief activity is not guidance or periodic inspection (as in many employer-employee relations) but rather surveillance“ (Goffman 2007, 6–7). Heutzutage steht Migrationsmanagement als Herrschaftsprojekt paradigmatisch für diese Objektivierungs- und Kontrolltendenzen der Lagerisierung (Georgi 2012, 161). Lager bestehen aus modular erweiterbaren räumlichen Einheiten temporärer Art. Und alle Lager sind totale Institutionen – jedoch ist nicht jede totale Institution notwendig ein Lager. Wenn ein spezifisches Lager als Fallstudie eines für die Moderne charakteristischen Organisationstyps dienen kann, dann eröffnet

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der vergleichende Ansatz zumindest die Möglichkeit zur weitreichenden Kritik durch Verallgemeinerung des Partikularen (z.B. Pieper 2008). Doch solch gut gemeinter sozialwissenschaftlicher Abstrahierungswille lädt dazu ein, das Einzelschicksal als austauschbares Exempel aufzufassen. Zudem führt er wie schon der Großvergleich zu erheblicher historischer Unschärfe (Später 1999, 23). Ich gehe daher dem geschichtlich stärker kontextualisierten Vergleich von Lagern im Folgenden nach, indem ich die Vielfalt der Lager in der NS-Zeit genauer in den Blick nehme. *** „Erbanlage ist wohl Schicksal, zeigen wir uns aber als Meister dieses Schicksals, indem wir Erbanlage als uns gestellte Aufgabe ansehen, die wir zu erfüllen haben.“ Diesen Satz und andere Stellen aus den Schriften Otmar von Verschuers (1936, 11), des letzten Direktors des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik zitiert Giorgio Agamben in Homo Sacer (2002, 156–159) als Beleg für eine neue Qualität der Biopolitik des 20. Jahrhunderts. Nicht mehr die statistisch, geographisch, sprachlich oder kulturell umschriebene Population ist Zielscheibe der Politik, sondern eine Population, die grundlegend als biologische, und damit als Abstammungseinheit verstanden wird. Radikal gewandelt hat sich jedoch nach dem Zitat von Verschuers der von der Wissenschaft ausgehende Machbarkeitswahn im Bereich des Biologischen. Agamben analysiert dies als die Grundlage des Rassismus, der absolut exkludierten homines sacri, und als Basis der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. Den Ort dieser Politik identifiziert Agamben (2002, 175–190) wiederum als „das Lager“, welches er zum Nomos der Moderne erklärt. Bei Agamben schwingt mit, die Logik moderner Staaten mache aus dem Volk eine als Organismus gedachte Einheit. Ein Organismus aber kann von Krankheiten und Kleinstorganismen wie Viren angegriffen werden. Dieses metaphorische Denken ist zweifelsohne die Grundlage der nazistischen „Rassenhygiene“ und der Ideologie dieses Regimes insgesamt. „Wir wissen heute: Das Leben eines Volkes ist nur garantiert, wenn rassische Eigenart und Erbgesundheit des Volkskörpers erhalten bleiben“, schrieb Verschuer (1936, 5). Derartige Vorstellungen beruhen nach Agamben immer auf einer Gruppe Ausgegrenzter und absolut Rechtloser, deren realer Platz außerhalb des „Volkes“ ist. In Agambens Überlegungen zu den Mechanismen der Exklusion fließen drei Dimensionen zusammen: die juristische, in der Begründung an Carl Schmitts Idee des Ausnahmezustands angelehnt, die politische im Sinne von Foucaults Biopolitik, und die geographische mit dem Lager als dem Ort der homines sacri. Agambens ein-

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flussreiches Werk wurde auch in der Forschung zu Lagern der Nazi-Zeit intensiv rezipiert. Wie schon erwähnt, findet Agamben aufgrund seiner ahistorischen Tendenzen, aber auch aus grundsätzlicheren Erwägungen nicht immer Zustimmung (Muhle 2007, 90–95; Hartung 2007). Agamben (2002, 179; Hervorhebung im Orig.) definiert das Lager als „ein Stück Land, das außerhalb der normalen Rechtsordnung gesetzt wird, deswegen jedoch nicht einfach Außenraum ist. Was in ihm ausgeschlossen wird, ist nach der etymologischen Bedeutung von exceptio herausgenommen (ex-capere), eingeschlossen mittels seiner eigenen Ausschließung.“ Damit erfasst er jedoch nur eine Art der Nazi-Lager. Es ist bekannt, dass das NS-Regime auch für die „Volksgemeinschaft“ eine radikale Politik der Lagerisierung betrieb. Denn bei den Lagern des „Dritten Reichs“ geht es nicht nur um den „ausschließenden Einschluss“ der Exklusionslager, von den „harmloseren“ für westeuropäische Kriegsgefangene über die rassistisch gegliederten für Zwangsarbeit bis zu Konzentrations- und Vernichtungslagern. Zur selben Machttechnik sind auch die vielen Inklusionslager zu rechnen, deren Mechanismus ein „einschließender Ausschluss“ war. Die „Volksgenossen“ wurden möglichst oft und in unterschiedlichen Zusammenhängen in Ferien- oder Arbeitslagern zusammengeführt (Patel 2013, 317–318). Institutionen wie der Reichsarbeitsdienst und die Deutsche Arbeitsfront hatten hierfür das Organisatorische zu erfüllen. Es gab mithin eine Entwicklung zweier paralleler Lagersysteme. Das eine war für die sog. „Volksgemeinschaft“ bestimmt, das andere für die von ihr ausgeschlossenen (Buggeln und Wildt 2013). Gemeinsam sind beiden eine Reihe räumlicher Charakteristika: der rasterartige Grundplan, die scharfe Umgrenzung durch einen Zaun, die Isolation von der Umgebung, die intern modularen Bauten und die rein funktional gestalteten Inneneinrichtungen. Materielles Grundprinzip war eine vom Reichsarbeitsdienst vorangetriebene „technische Normung auf dem Gebiete des Unterkunftswesens“ (Stangelmeyer 1944, 381). Aus den materiellen Umständen einer kollektiven Unterbringung von Personen, die nicht miteinander aufgewachsen waren, resultierte der gewollte Ersatz des Hauses als privates Rückzugsgebiet durch öffentliche Unterbringung.88 Für Inklusions- als auch Exklusionslager ist ein schroffes

88 Grundsätzlich wird im Lager das Häusliche staatlich. Der vor den Nazis geflohene Archäologe Paul Jacobsthal, als Deutscher von der britischen Regierung von seiner Professur in Oxford entfernt und zeitweilig auf der Isle of Man interniert, beschreibt seine Enthäuslichung so: „People still unknown to each other a fortnight before, now living closer to each other than married, sharing beds and rooms“ (Jacobsthal, in Ulmschneider und Crawford 2013, 231).

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Machtgefälle zwischen Lagerleitung und LagerbewohnerInnen charakteristisch. Solche vordergründigen Parallelen der NS-Lager dürfen allerdings nicht die massiven Unterschiede verdecken. Militärisch inspirierte Ordnung war zwar für Inklusions- wie Exklusionslager die Grundlage, doch allein schon die Dichte der Barackenaufstellung und die interne Belegungsdichte der beiden Lagertypen sind in keinster Weise vergleichbar. Zudem weisen Exklusionslager fundamentale Unterschiede in der Belegung einzelner Blocks und Baracken auf (Spoerer 2001, 116–122, Tab. S. 118). Im Extrem führt dies zu entwürdigender „hautnaher Verdichtung“ (Sofsky 1997, 80). Dagegen fallen Großzügigkeit und Weitläufigkeit der Reichsarbeitsdienstlager um so mehr ins Auge (Abb. 5.4). Abbildung 5.4: Reichsarbeitsdienstlager nahe Bad Salzschlirf am Ostrand des Vogelsbergs

Sofsky (1997, 88–114) und Patel (2013) betonen als zweite Dimension der NaziLager deren problematische Temporalität. Grundsätzlich sind Lager Provisorien. Die in ihnen Lebenden werden bewusst aus dem Alltag herausgenommen und in eine „enthauste“ Umgebung versetzt (Herbert 1999a, 27). In der Regel war der Ort der Lager selbst zumindest dem ursprünglichen Ansinnen nach ebenfalls provisorisch. Im Laufe der Jahre nahm der Umfang dieser temporären Orte zur Stapelung von Menschen drastisch zu. Das gilt insbesondere für die Zeit ab Kriegsanfang samt damit entstandenen Unterkunftsnotwendigkeiten für das Mi-

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litär sowie für Kriegsgefangene. Es war gerade der raumzeitliche Rahmen des Außerordentlichen, womit die NS-Institutionen eine rasche Militarisierung der gesamten Gesellschaft förderten. Denn die Lagerleitungen und -ordnungen setzten ans Militärische angelehnte Routinen auch in Inklusionslagern durch (Patel 2013, 319, Tab. 1). Die Übertretung entsprechender Regularien wurde allerdings nur in den Exklusionslagern brutal bestraft (z.B. Andrzejewska 2004, 24–25). Man darf also nicht die grundsätzlichen Differenzen zwischen den Lagern für „Volksgenossen“ und „-genossinnen“ und den Ausgeschlossenen übersehen. Beide standen zwar unter einem Programm militärischen Drills, jedoch waren die Ausgeschlossenen jederzeit der Schikane von Vorgesetzten, Werkschutz, Gestapo, Kapos, SS-Wachmannschaften und anderem Lagerpersonal ausgesetzt. Unvorhersehbarkeiten im Rahmen einer strikten Routine gehörten zum Zeitschema der Exklusionslager, ein archäologisch nicht greifbarer Effekt, auf den ich schon im Zusammenhang mit dem KZ Columbia hinwies (S. 81). Noch elementarer war, dass diese Lagerinsassen die längerfristige Zukunft weder voraussehen noch in irgendeiner Weise selbst gestalten konnten. Aufgrund der völligen Offenheit, ob überhaupt und wann man ein solches Lager verlassen konnte, verlor „die menschliche Existenz ihren Entwurfcharakter“ (Sofsky 1997, 103), das ihr fundamental eingeschriebene Zukunftshoffen. All dies trifft auf die Reichsarbeitsdienstlager, die Wehrertüchtigungslager der HJ und ähnliche Lagerorte der Inklusion nicht zu. Wenn manche Lager ohne Probleme von Inklusions- in Exklusionslager umgewandelt werden konnten, dann liegt dies nicht an den temporalen, sondern allein an den räumlichen Parallelen der Inklusions- und Exklusionslager. Klare Grenzziehung, interne Zweiteilung in Personal/Leitung und Insassen, kollektive Unterbringung und die gemeinsame Nutzung von Hygiene- oder Küchenräumen gehören hierzu. Wegen dieser vergleichbaren Raumstrukturen konnte das Lager Hinzert von einem Dienstverpflichteten- in ein Polizeihaftlager verwandelt werden, welches später Arbeitserziehungslager und schließlich Hinrichtungsstätte wurde (Buggeln und Wildt 2013, 186–188). Patel fasst die Praktiken der Inklusions- und Exklusionslager zusammen als den Gegensatz von „Auslese der angeblich rassisch Wertvollen“ und „Terrorisierung und Ausmerze von Gegnern“ (Patel 2013, 328; Hervorhebung im Orig.; s.a. Buggeln und Wildt 2013, 183). Beide gemeinsam waren Ausdruck eines brachial gestaltenden, biologisch-„gärtnerischen“ Regierungswillens, der in den zeitgenössischen Metaphern außer Nutzpflanzen nur Unkraut kannte und sich im menschlichen Bereich als eliminatorischer Rassismus äußerte. Ein derartiger Biologismus als Grundlage der Kollektivität zeigt sich etwa in einem Machwerk

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des SS-Arztes und Ministerialdirektors im Innenministerium Arthur Gütt (1935, 18–19; Hervorhebung im Orig.): „Es gilt also, [...] Rassenhygiene, d.h. Vorsorge für die kommenden Generationen zu verwirklichen. [...] Es gibt dazu zwei Möglichkeiten: 1. Die ausjätende Erbpflege oder die Verhinderung des erbkranken und asozialen Nachwuchses und 2. Die fördernde Erbpflege oder die Bevorzugung, Unterstützung und Förderung der erbgesunden und rassisch wertvollen Familien.“

Das formuliert von Verschuers Programm, genetisches „Schicksal“ in eine „Aufgabe“ zu verwandeln, auf kollektivem Niveau. Bauman charakterisiert treffend die Lagerisierung unter dem Nazi-Regime als „a practice that combines strategies of architecture and gardening with that of medicine – in the service of the construction of an artificial social order, through cutting out the elements of the present reality that neither fit the visualized perfect reality, nor can be changed so that they do.“ (Bauman 1989, 65)

Die von Patel behauptete Gleichsetzung der Begriffspaare „Auslese : Ausmerze“ mit „Inklusionslager : Exklusionslager“ beinhaltet jedoch eine gravierende Unschärfe. Der Blick in die biopolitische Dimension der Lager ist an dieser Stelle unterdifferenziert. Agamben (2002, 157) schreibt, man müsse eine unmittelbare Biopolitik von der mittelbaren trennen. Unmittelbar ist Biopolitik dort, wo das Leben selbst zum Objekt der Politik wird, wo Sterben, Sterilisieren und Heiratsverbote radikal in das biologische Sein des Menschen eingreifen. Diese Politik ist demnach das, was Bauman als „Gärtnerei“ umschreibt, und was in dem Gütt’schen Pamphlet als „Jäten“ und „Fördern“ bezeichnet wird. Hier wird auf der Ebene eines imaginierten „Volkskörpers“ gedacht, welcher von „pathologischen“ Aspekten befreit werden muss. Eine solche unmittelbare Biopolitik auf Seiten der „Volksgemeinschaft“, ideologisch untermauert durch Hans F.K. Günthers rassistische Schriften zur „Aufnordung der Germanen“ (Gray 2004, 246– 251), trifft allerdings nur auf den „SS-Lebensborn“ und wenige andere in die primäre biologische Reproduktion der Gesellschaft eingreifende Institutionen zu (Lilienthal 2003).89 Die kontrollierenden und Subjekt-umformenden Inklusionslager für die „Volksgemeinschaft“ waren dagegen viel eher Teil einer mittelbaren Biopolitik. Von Patel als Orte der Entindividualisierung bezeichnet, sollten

89 Etliche geplante derartige biopolitische Aktivitäten stießen auf Regime-internen Widerstand und kamen daher nicht zur Realisierung (Schmuhl 2005, 410–422).

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dort Individuen lernen, ihre Eigenheiten durch angestrebte willenlose Eingliederung in ein Kollektiv aufzugeben (Patel 2013, 327–328). Dies wäre mithin ein weitgehend rücksichtsloser, vom Staat forcierter Subjektivierungsvorgang. „Lager sind ohne Gewalt – und sei sie noch so subtil – kaum vorstellbar“ (Jahr und Thiel 2013, 8). Arbeitsdienstlager und verwandte Kollektivierungsinstitutionen kann man insofern als Lager der Züchtigung, nicht aber als „Lager der Züchtung“ (Doßmann et al. 2007, 231) bezeichnen. Eine direkte „Auslese“ biologischer Züge war für die „Volksgemeinschaft“ trotz des „Heranzüchtens kerngesunder Körper“ (Hitler, zitiert in Buggeln und Wildt 2013, 177) mit der oben genannten Ausnahme des SS-Lebensborns nicht angestrebt. Dagegen hatten die meisten Exklusionslager eine im Agamben’schen Sinne unmittelbar biopolitische Funktion, deren Extrem die aktive, rassistisch fundierte Vernichtung ganzer Bevölkerungsgruppen war. Aber auch die Schaffung von zum Tode führenden Bedingungen insgesamt und das Verbot sexueller Beziehungen zwischen fast allen AusländerInnen und den Mitgliedern der „Volksgemeinschaft“ sind als unmittelbare Biopolitik aufzufassen. Genau in der einzigartig-grausamen Biopolitik der Nazis zeigt sich auch die Unangemessenheit des pauschalisierenden Totalitarismus-Begriffs. Der GULag war keine Einrichtung mit dem Ziel einer Intervention in die unmittelbaren biopolitischen Grundlagen eines Systems. Stalins Lager sollten Menschen rücksichtslos ausbeuten und aus „Verrätern“ dozile Untertanen machen, mit Mitteln, die oft tödlich waren (Später 1999, 23). Dies ist und bleibt, wie mörderisch auch immer in der Umsetzung, dennoch der Bereich einer indirekten Biopolitik. Für die Nazi-Zeit selbst muss man das Ziel einer Entindividualisierung durch Inklusionslager strikt unterscheiden von dem der Entsubjektivierung durch Exklusionslager, wie sie Agamben am Extrem der „Muselmänner“ der Konzentrationslager diagnostizierte (s.S. 127–129). Auch innerhalb eines eng begrenzten Zeitraums und für ein einziges politisches Regime wie den Nationalsozialismus ist eine genaue Auseinandersetzung mit der Machttechnik „Lager“ notwendig. Kontextualisierte Vergleiche nähern sich beträchtlich einer Sicht derjenigen, die an solchen Orten ihr Leben ließen oder dort litten. Dennoch bleibt auch dieses komparatistische Niveau pauschalisierend. In einem weiteren Abschnitt zeige ich anhand des antagonistischen Vergleichs, wie im Bereich der Archäologie Differenzierungen der Alltagsgeschichte durch Komparatistik erst identifiziert werden können.



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Antagonismus als Vergleichsbasis Was ist ein „antagonistischer Vergleich“? Bevor ich näher auf ein Beispiel eingehe, seien kurz einige Bemerkungen allgemeiner Art vorangestellt. Der einfachste Typ des Vergleichs bezieht sich auf die Einschätzung einer Relation zwischen zwei Einheiten bezüglich ihrer Ähnlichkeiten und Differenzen. Die formalen Einheiten der Tabelle 5.1b (s.S. 264) gehören in diese Vergleichsgruppe. Man behandelt dabei die verglichenen Entitäten, als existierten sie völlig unabhängig voneinander, als auch unabhängig von der Betrachtungsposition. Diese Art der Komparatistik ist daher notwendig objektivistisch und entkontextualisiert. Im Rahmen des Historikerstreits und Ernst Noltes Ansichten zum Totalitarismus hatte ich jedoch auch schon darauf verwiesen, dass er Bolschewismus und NS-Regime in einem „kausalen Nexus“ sieht (Nolte 1987, 46). Rein formal betrachtet, ist dieser spezifische Großvergleich politischer Systeme durch eine historisch partikulare, zudem stark umstrittene Relation zwischen zwei politischen Systemen gekennzeichnet. Bei jedem diachronen Vergleich sequenzieller Schichten einer archäologischen Stratigraphie, aufeinander folgender Lager eines Ortes oder unterschiedlicher Entwicklungsstadien einer Institution entstehen aufgrund des Zeitablaufs implizit ebenfalls notwendig je spezifische Verhältnisse zwischen Vergleichseinheiten. Es mag allerdings merkwürdig klingen, wenn bei „antagonistischer Komparatistik“ zwei in Widerspruch zueinander stehende Entitäten miteinander verglichen werden sollen. Das ist auch nicht gemeint. Es geht nicht um zwei unterschiedliche, in einem gegensätzlichen Verhältnis zueinander stehende unabhängige Phänomene, sondern um zwei Dimensionen einund desselben Phänomens – im konkreten Fall: eines Ortes. Ich illustriere das Verfahren eines solchen antagonistischen Vergleichs mit dem Weserflug-Lager des Tempelhofer Feldes. Dazu gehört eine vorgängige Kritik: Vergleichende Studien zur „Lagerisierung“ haben insgesamt einen fatalen Hang zur Vorstellung, dass die Bedingungen des Lagerlebens von den Machthabenden in Gänze vorgeschrieben werden können. Das gilt für Baumans kühne Thesen ebenso wie für die mikrosoziologischen Arbeiten Goffmans. Auch Kotek und Rigoulets (2001) am historisch Konkreten ausgerichtete Abhandlung vermittelt diesen Eindruck. Das organisierte räumliche Raster, die strikten Aufsichts- und Kontrollmöglichkeiten wirkten als strukturelle Gewalt, der die LagerbewohnerInnen weitgehend hilflos ausgesetzt waren. Dieser Anschein der Ausweglosigkeit dominiert auch Sofskys Monographie (1997) oder Schwartes Sammelband zu Lagern (2007). Alltagshandeln auch unter Bedingungen der Repression und des extremen Zwangs unterwirft sich jedoch nicht willenlos den raumplanerischen und raum-

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verwalterischen Vorstellungen der Unterdrücker und Bewacher. Der marxistische Intellektuelle Henri Lefebvre (2000) führt aus, Raum sei keine vorgegebene Dimension, kein fester Rahmen, in den man sich nur einfügen kann. Raum wird nicht vorgefunden, er wird dauernd in Handlungen neu hergestellt. Raum ist ein Produkt. Dabei ist entscheidend, dass dieses Produkt nicht anonym entsteht, sondern aus antagonistischen Verhältnissen im politischen, planerischen und Alltagshandeln (Lefebvre 2000, 337–406). Lefebvre beschreibt einen espace perçu, den vorgefundenen Raum, in dem sich Praktiken abspielen. Dieser wird zu einem großen Teil beeinflusst von einem espace conçu, dem geplanten und durch Regulierungen eingerichteten Raum der Mächtigen. Doch die gesellschaftlichen Gruppen, die die Gestaltung des Raumes und die ihm unterliegenden Gesetze und Regeln nur minimal beeinflussen können, schaffen sich im Alltag ihren eigenen Raum, den espace vécu. Produktion von Raum ist nicht nur eine Frage der Flächennutzungspläne, der Architekturbüros oder eben der Lagerleitungen, sondern Raum wird konstant durch die in einem geschaffenen Rahmen stattfindenden Praktiken modifiziert, konterkariert und transformiert – das ist die Substanz des espace vécu. Als „espace des ‚habitants‘, des ‚usagers‘“ (Lefebvre 2000, 48–49, s.a. Schroer 2008, 138–139), der aktiv und in spezifischer Weise appropriiert wird, ist dies im vorliegenden Falle der Nazi-Lager eine Raumnutzung durch deren Insassen, die zugleich ihre eigene subalterne Raumproduktion ist. Auf eine archäologische Analyse von Lagern angewandt, ist der espace perçu die in der Gegenwart vorgefundene Materialität, bestehend aus Bau- und anderen Befunden als auch den beweglichen Funden. Der espace conçu lässt sich rekonstruieren aus den vom NS-Regime geschaffenen repressiven Regularien für den Aufbau von Lagern, die Trennung nach rassistischen und anderen Gesetzen in Lagerzonen, aber auch aus Bauresten und anderen Befunden wie etwa Gruben. In ursprünglichem Zustand, also als Baracken mit einer standardisierten Einrichtung, sollten sie einen so engen materiellen Rahmen setzen, dass die disziplinierenden Ziele der Lagerleitungen möglichst vollständig umgesetzt wurden (De Cunzo 2009, 208). Wie oben angemerkt, sind dann jedoch die in einem solchen Lager angetroffenen Funde nicht einfach als eine weitere Facette des subordinierten Lagerlebens zu interpretieren, sondern als eine Produktion von Nutzungsraum durch die im Lager Lebenden. Diese Raumproduktion wird sich mehr oder weniger deutlich gegen die Strukturen und Regeln zur Wehr gesetzt haben. Der Grad der Abweichung von dem, was man als „räumliches Unterdrückungsideal“ des espace conçu bezeichnen kann, ist Anzeiger für Renitenz, Subversion und Alltagswiderstand.

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Befragen wir Stimmen ehemaliger Lagerinsassen auf solche Verhältnisse, so finden wir wenig Angaben hierzu. Es ist auch kaum anzunehmen, dass die Erinnerungen an Aufsässigkeit oder Widerspruch kriegsgefangener französischer Offiziere des Zweiten Weltkriegs mit denjenigen deportierter ZwangsarbeiterInnen aus der Sowjetunion oder gar von Häftlingen der Konzentrationslager vergleichbar sind. Zwar fordert das starre Schachtelschema der Lager zu „Missbrauch“ – aus Sicht der Planungs- und Kontrollinstanzen – geradezu heraus. Rigide Durchsetzungsversuche der Macht stehen einer lokal spezifischen, subversiven Eigenwilligkeit der Betroffenen gegenüber. Es ist aber ebenso zu bedenken, dass in Konzentrationslagern die Zustände insgesamt durch Nahrungsmittelentzug, katastrophale hygienische Verhältnisse und permanente Todesdrohung so extrem ausfielen, dass auch die Subversion langsam starb, da „der Kausalzusammenhang zwischen sozialem Verhalten und Überleben“ der KZ-Häftlinge systematisch von den Nazis vernichtet wurde (Löwenthal 1990, 3:167). In vielen Lagern für ZwangsarbeiterInnen und Kriegsgefangene hingegen waren gerade die aufsässigen Aktivitäten Teil des Alltags, wobei ich der Meinung bin, dass in den Erinnerungen der Betroffenen diese Alltagssubversion eher unartikuliert bleibt oder von uns heute nur ungenügend erkannt wird. Wir treffen hier auf ein Phänomen, welches Alf Lüdtke (1993) als „Eigensinn“ umschrieben hat, eine gewisse Sturheit den Verhältnissen gegenüber. ZwangsarbeiterInnen aus Polen und den Ländern der ehemaligen Sowjetunion erwähnen manchmal fast nebenbei, den vorgeschriebenen Aufnäher mit den Bezeichnungen „P“ (für Polen) und „Ost“ (für OstarbeiterIn) für den Aufenthalt außerhalb der Lager abgenommen zu haben, etwa beim Friseur oder Fotografen (z.B. Lepieszka 2000, 45). Auch geplant-subversive Handlungen sind durchaus zu finden, meistens in Erzählungen von Männern. So berichtet ein französischer Zwangsarbeiter, der den Beruf des Metzgers erlernt hatte, wie er in einem Lager am Rande Berlins eines Nachts heimlich und alleine einen ganzen Stier für seine Kameraden geschlachtet und zerteilt habe, der daraufhin in der Gefangenenküche allmählich im Verborgenen gekocht und verzehrt worden sei – ohne dass die Lagerleitung etwas von der Schlachtung bemerkte (Cinquin 1965, 106–111).90 Verständlicherweise wird die am häufigsten erwähnte und wichtigste Widerstandshaltung, die Flucht aus der Gefangenschaft, manchmal im Detail beschrie-

90 Die frühere ukrainische Zwangsarbeiterin Jekaterina Spiridonowa (2000, 102) erinnert sich hingegen: „Welche Macht auch immer herrschte, wir haben uns ihr untergeordnet; so muss es auch sein, und wir waren zu der Zeit sehr jung.“ Ihre Bitte um Versetzung an eine andere Arbeitstelle bei den Verantwortlichen resultierte im Abtransport in das Arbeitserziehungslager Fehrbellin.

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ben (z.B. Descombes 1965; Nikolaj Gutijew in Schramm und Radczuweit 2007, 152–159). Doch hier geht es mir um alltäglichere Geschehnisse. Archäologie hat den Schlüssel dafür, Renitenz und Auflehnung gegen strukturelle Gewalt empirisch zu ergründen. Wenn archäologische Arbeiten das Phänomen Lager als materiellen Raum analysieren, der umfassend und bis ins Detail beherrscht werden konnte, so liegt dies zumindest teilweise am schon kritisierten Fokus auf Befunden wie etwa Barackenresten, Zäunen und Lagerwegen, unter Vernachlässigung der Aussagekraft der Funde und ihrer Verteilung (s.S. 99). Archäologie der NaziZeit ist nur dann in der Lage, subversive Handlungen zu erschließen, wenn sie die nicht-invasiven Methoden des remote sensing, der Geomagnetik und anderer von Sturdy Colls (2015) beschriebener Methoden erweitert und ausgräbt; 91 wenn Befunde als struktureller Rahmen für Handlungen in Bezug gesetzt werden zu Funden als Ausweis ebendieser Handlungen. Der unbefugte Besitz, die illegale Beschaffung und Nutzung von Gegenständen, das Unterlaufen von biopolitischen Zonen im Lager können nur identifiziert werden, wenn die mobilen Dinge in ihren Kontexten genauestens dokumentiert und ausgewertet werden. Konzentriert man sich auf Bauten und Befunde, mithin auf den espace conçu, wird allzu leicht die Produktion eines espace vécu vergessen. Eine derartige archäologische Praxis reproduziert post factum einen einseitigen Geschichtsraum. Dieser ist die Räumlichkeit des Beherrschens, nicht der Widerständigkeit. Strukturell verdoppelt eine solche Archäologie das den Opfern der Nazis angetane Unrecht. Die Aufnahme der Befunde darf nur der Anfang eines systematischen „antagonistischen Vergleichs“ sein, der diesem Beherrschungsraum die Dinge und ihre Verortungen gegenüberstellt, und damit die in ihnen quasi eingefrorene Raumproduktion multipler espaces vécus der Lagerinsassen. Ausgraben und außerordentlich gewissenhaftes Dokumentieren von Fundverteilungen sind die Bedingung für die Möglichkeit, das jahrzehntelange, spezifisch archäologische Verschweigen des mörderischen Unrechtsregimes der Nazis zu beenden. Ich versuche, an einem Beispiel des Weserflug-Lagers in Tempelhof dieses Vorgehen aufzuzeigen. Hierfür wende ich mich zunächst der Rekonstruktion eines espace conçu zu, wozu ich neben Ausgrabungsergebnissen Dokumente des Flughafenarchivs und Luftfotos der Alliierten heranziehe.

91 Wie bemerkt, kann dies natürlich nur dort geschehen, wo keine ethischen Bedenken gegen das Aufreißen des Bodens bestehen (Sturdy Colls 2015, 87–112).

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Abbildung 5.5: Skizze des Weserflug-Zwangsarbeitslagers am Columbia-Damm

(Baracke 1 = Küche; 2 = Wirtschaftsbaracke; 3 = Verwaltung; 4, 5 = „deutsche Gefolgschafter“; 6 = französische Kriegsgefangene; 10 = Wachbaracke; 7–9, 11–18 = „Russen-Lager“; 19–24 = in Planung, aber nie ausgeführt; gestrichelter Pfeil: Eingang bei Tor 9; dicker Pfeil: archäologische Aufdeckung von Stacheldraht (s.a. Abb. 5.6, S. 281).

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Eine Skizze vom 31.10.1942, angefertigt im Zuge der Planung und des Baus von neuen Baracken, teilt das Lager anhand von Beschriftungen und Zäunen in drei Abschnitte: den Teil für „deutsche Gefolgschafter“, Verwaltung und Bewirtschaftung; eine einzige Baracke für französische Kriegsgefangene, und den großen Bereich des „Russenlagers“ mit 11 Baracken plus einer Wachbaracke, sowie mit sechs weiteren in Planung befindlichen, von denen allerdings keine mehr gebaut wurde (Abb. 5.5). Die schon erwähnte Zonierung ist hier in Abstufungen der Zugänglichkeit markiert. Vom Lagereingang (Tor 9) im Westen gelangte man in den Verwaltungsbereich, welcher nicht von den Wohnbaracken für deutsche ArbeiterInnen abgegrenzt war. Östlich davon befand sich die separate, komplett umzäunte Baracke für französische Kriegsgefangene.92 Für das daran im Osten anschließende „Russenlager“, ohne weitere Differenzierungen zwischen die restlichen 11 Baracken eingetragen, wird ein das Ganze umgebender Zaun angegeben, wobei aber eine durchgezogene Linie am Westrand – zur Baracke für die Franzosen hin – eine Sichtblende zu indizieren scheint, die auch auf Luftfotos anhand von Schattenwurf auszumachen ist. Eine separate Wachbaracke samt Auffahrweg und Extra-Tor in der Mitte dieses Bereichs sind ebenfalls eingezeichnet. Auf einer weiteren, etwas älteren Skizze vom 18.6.1942 (Bundesarchiv, R4606/4916) ist für die zwei Baracken für „deutsche Gefolgschafter“ pauschal und ohne Herkunftsangabe „Ehepaare“ angegeben. Handelt es sich also um deutsche Ehepaare, die hier in zwei Baracken lebten, und warum? Da ja ein Zaun um das Gesamtgelände läuft, fragt man sich, welchen Status diese Personen hatten: Wachpersonal mit Familien? Bekannt ist, dass MitarbeiterInnen aus dem Bremer Stammsitz oder der Niederlassung der Firma in Lemwerder beim Umzug nach Berlin vorübergehend auf dem Flugfeld untergebracht waren, allerdings betrifft dies den Zeitraum des Jahres 1940/41 (Heisig 2003, 170). Bernhard Bremberger berichtet von mindestens 20 Kindern, die im Weserflug-Lager geboren wurden, „meist von Ehepaaren aus der Sowjetunion“ (Bremberger 2001a, 55) – lebten diese in den zwei Baracken? Wie das oben erwähnte Beispiel des Lagers Hinzert zeigt, sind Umnutzungen dieser Art leicht möglich. Zudem bemerkt Stefanie Endlich im Zusammenhang mit Konzentrationslagern, dass „Plan- und Bauunterlagen [...] wenig Aussagekraft [haben], wenn sie nicht

92 Berichte französischer Kriegsgefangener sind uneinheitlich, was die Verpflichtung bzw. Möglichkeit des Arbeitens angeht. Robert Bruyez (1965, 53) berichtet, in Halle (Saale) an der Montage von JU 87-Sturzkampfbombern beteiligt gewesen zu sein, die auch in Tempelhof gebaut wurden, während Louis Pelletier (1965, 87–88) sich als Unteroffizier der Arbeit trotz Aufforderung entziehen konnte.

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mit den Erinnerungen und Prozessaussagen der Überlebenden über die realen Funktions- und Nutzungsbedingungen verbunden werden“ (Endlich 2005, 211). Das gilt ebenso für Zwangsarbeitslager. Andererseits fehlt eine für Menschen aus der Sowjetunion immer vorhandene strenge Umzäunung zum Lagereingang hin, so dass diese Rekonstruktion unwahrscheinlich ist. Eine überzeugende Antwort auf die Frage muss derzeit offen bleiben. Auf derselben Zeichnung ist eine durch Zäune getrennte Aufteilung des „Russenlagers“ in einen westlichen Teil mit drei Baracken für „russische Männer“, sowie einen östlichen mit den restlichen acht Baracken für „russische Frauen“ angegeben, wobei um beide jeweils eigene Begrenzungen und ein zwischen ihnen verlaufender Weg eingezeichnet sind. Das Luftbild der Royal Air Force vom September 1943 (Abb. 4.16, S. 246) zeigt einen neun Monate späteren Zustand als die Skizze der Abb. 5.5. Auf dem Foto ist zu erkennen, dass nicht drei, sondern nur zwei Baracken, die sich im Bereich der „russischen Männer“ befanden, mit einer besonderen, sichtbehindernden Mauer oder einem Zaun umgeben waren. Zur Straßenseite hin hatte auch die französische Baracke einen Sichtschutz. Deutlich wird in diesem Foto zudem, dass die Franzosen wohl einen eigenen, mit der Baracke umzäunten Splitterschutzgraben direkt vor der Tür hatten, und dass auch für die zwei Baracken der russischen Männer ein solcher Extragraben existierte, sowie mehrere im Bereich für Frauen aus der Sowjetunion (in Abb. 5.5 unmaßstäblich eingezeichnet). Welcher Art die Begrenzung um die beiden Baracken für russische Männer war, zeigt der Fund eines noch heute gespannten, unterbödig zwischen diesen und der östlich benachbarten Baracke gezogenen doppelten Stacheldrahts (s. Abb. 5.5, roter Pfeil; Abb. 5.6). Man trennte also Baracken innerhalb des „Russenlagers“ voneinander so weitgehend ab, dass der Stacheldraht auch ein Fliehen unter der Umgrenzung hindurch unmöglich machen sollte. Diese Art der auch unterirdisch noch wirkenden Eingrenzung entsprach einer Vorschrift des Oberkommandos des Heeres für sowjetische Kriegsgefangene (Oberkommando des Heeres/Allgemeines Heeresamt 1942) und erweist einmal mehr das Potenzial der Archäologie, die Verlässlichkeit schriftlicher Dokumente zu überprüfen. In diesem Fall ergibt der Befund, dass die Zwangsarbeiter keine Zivilisten, sondern sowjetische Kriegsgefangene waren. Sie zeigt aber auch die als signifikant eingeschätzte Ausbruchsgefahr und damit die prekären Lebensumstände der derart Eingesperrten und die generelle Tendenz deutscher Behörden zum extensiven Einsatz von Stacheldraht als Mittel des Einsperrens (Netz 2004, 209–215).93

93 Ursprünglich war vorgeschrieben, auch zivile OstarbeiterInnen in von Stacheldraht umzäunten Barackenlagern einzusperren, jedoch wurde diese Maßnahme trotz Wider-

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„Stacheldraht, überall Stacheldraht“ war auch die Erinnerung von Leonhard Czerniakowski, der als Kind Zwangsarbeiter in Tempelhof gewesen war und im Sommer 2013 das Tempelhofer Feld besuchte. Trotz dieser Bedingungen, trotz steigenden Drucks auf die Rüstungsindustrie zur Produktionsbeschleunigung und zunehmend prekärer Verhältnisse durch immer intensivere Bombardierungen gelang etlichen ZwangsarbeiterInnen die Flucht. Der Repressionsapparat versuchte zurückzuschlagen. In Berlin schränkte man die Freizügigkeit der aus dem Ausland Stammenden immer mehr ein und überprüfte die Umzäunungen der Zwangsarbeitslager schärfer als vorher (Bräutigam 2003, 49–50). Was den espace conçu angeht, den Herrschafts- und Kontrollraum, so stimmen der archäologische Befund und das Luftfoto der RAF aus dem Jahre 1943 miteinander überein, weichen aber von den Skizzen aus dem Sommer und Herbst 1942 zumindest in der Zugehörigkeit der Baracken zu bestimmten Lagerzonen deutlich ab.94 Entweder sind also die Skizzen von einer erheblichen Ungenauigkeit, oder es ergab sich eine Verschiebung in der Lagerstruktur zwischen Herbst 1942 und Sommer 1943, die zur Errichtung des Zaunes samt Sichtblende und unterirdisch verlegtem Stacheldraht um die zwei Baracken mit Männern aus der Sowjetunion führte. Deutlich wird zudem aus der Gesamtheit der Quellen, dass die Zonierung des Weserflug-Lagers nicht nur eine rassistische Dimension hatte, sondern auch nach Genderkriterien trennte. Für die Unterbringung von Frauen im östlichen Lagerbereich sprechen die Broschen und andere Schmuckstücke aus dem dort ausgegrabenen Splitterschutzgraben (s.S. 135–136). Wie bekannt, versuchte das Amt des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz nicht nur, jeden Kontakt von ZwangsarbeiterInnen mit Deutschen zu unterbinden (Heusler 2010, 198), sondern „um die Ausländer von deutschen Volksgenossen, insbesondere Frauen, fernzuhalten, sollten ihre Energien [...] auf Geschlechtspartner gleichen ‚Blutes‘ gelenkt werden“ (Spoerer 2001, 203). Im Falle Tempelhofs stimmt das nicht ganz, denn die Männer- und Frauenbaracken waren durch Stacheldraht voneinander isoliert. Wie andere Lager der Nazis auch, schloss dieses seine „BewohnerInnen“ nicht nur nach außen ab, sondern praktizierte das ausschließende Einschließen auch intern (s. Martin und Sjöberg 2011).

stands des Reichssicherheitshauptamtes schon im Frühjahr 1942 wieder aufgegeben (Herbert 1999b, 193–195). 94 Leider ist ohne weitere Grabungen nicht feststellbar, wer in der Baracke östlich des auf Abb. 5.5 eingezeichneten und auf Abb. 5.6 sichtbaren Stacheldrahts untergebracht war.

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Abbildung 5.6: Schnitt 17 der Ausgrabung auf dem Tempelhofer Feld mit unterbödig verlaufendem Stacheldraht, der zwei Baracken im für „russische Männer“ ausgewiesenen Bereich trennte

Wir können leider nicht genau sagen, wie viele ZwangsarbeiterInnen in einer Baracke untergebracht waren, da dies erheblich je nach rassistischer damaliger Kategorisierung variierte. Nach Spoerer (2001, 118) waren für eine StandardBaracke RAD RL IV für jede Stube 18 Plätze für Zivilarbeitende und nichtsowjetische Kriegsgefangene vorgesehen, für sowjetische Kriegsgefangene die

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doppelte Zahl.95 Im Falle Tempelhofs bleibt auch unbekannt, ob es einen inneren Aufenthaltsraum gab, wie groß dieser war, und andere Details, die auf eine genaue Anzahl an ZwangsarbeiterInnen im Lager schließen lassen würden.96 Es gibt jedoch einige Indizien für hohe Belegungszahlen jeder einzelnen Baracke. Auffällig ist, dass die Firma Weserflug am 15.7.1942 eine Lazarettbaracke mit Waschküche beantragte. Zum gleichen Zeitpunkt ersuchte die Firma zudem um die Genehmigung zur Errichtung einer Entwesungsbaracke „für unsere zu einem hohen Prozentsatz aus Ausländern, vor allem Russen, bestehende Gefolgschaft.“97 Das lässt auf sehr unhygienische Zustände im Lager schließen, wirft auf die Versorgung der „Russen“ durch den ausbeutenden Betrieb ein schlechtes Licht und indiziert Überbelegung. Die Entwesungsbaracke, als Steinbau geplant, wurde vom Amt des Generalbauinspektors Speer übrigens nicht genehmigt. Jedenfalls kam für das Weserflug-Lager am Columbia-Damm auf 10 Baracken für ZwangsarbeiterInnen – bei Einberechnung der Baracke für französische Kriegsgefangene elf derartige Bauten – eine Lazarettbaracke. Setzt man einen Durchschnitt von 130 Personen pro Baracke an, so kommt man auf etwa 1300 bis 1400 Personen.98 Eine geschätzte Zahl von etwa 70 Betten in der Lazarettbaracke erlaubt demnach einen maximalen Krankenstand von etwa 5% (s. hierzu Spoerer 2001, 138–142).99 Fügt man die Indizien aus den Planungen zu einem Gesamtbild, so ist anzunehmen, dass Überbelegung besonders der Baracken für „Ostarbeiter“ und „Ostarbeiterinnen“ zu hygienischen Problemen, Ansteckungsgefahr und zu Tuberkulose als der damals am stärksten grassierenden Krankheit führte. Zum espace conçu gehören auch die Baracken für Verwaltung und Bewachung. Für die elf (maximal 13) hölzernen Aufenthaltsbehälter – nichts anderes waren die Baracken – benötigte man zwei ganze Baracken bzw. 13 bis 15% der gesamten überdachten Fläche. Barackenlager sollten ja eigentlich gerade die

95 Eine Stube dieses Barackentyps hatte eine Quadratmeterzahl von 53,7 qm. Man kann also pro ZwangsarbeiterIn von einer quälenden Enge von 3 bis 4 qm Eigenraum ausgehen, bei sowjetischen Kriegsgefangenen von nicht mehr als 2 qm. 96 Ein Plan des Heizungsinstallateurs Henning zeigt einen Raum, der etwas größer als die anderen ist, jedoch gibt es keine Markierungen zur Raumfunktion (s. Abb. 5.1). 97 Nach einem Dokument des Bundesarchivs (BA, R4606/4916). 98 Das ist niedrig geschätzt, denn die beiden Baracken für Ehepaare/Deutsche, in denen sicher weniger Personen wohnten, sind hier nicht mit eingerechnet. 99 Im „Ausländerkrankenhaus Mahlow“ kamen auf eine Baracke der Maße 45,00 x 13,90 m zehn Krankenzimmer à 7 Betten. Ich nehme diese Zahl als Richtwert für die Lazarettbaracke in Tempelhof (freundliche Mitteilung, Dr. Ulrike Kersting, 20.3. 2016).

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Verwaltung und Kontrolle der Insassen durch Standardisierung erleichtern. „Die Lagerverwaltung kann so mit Hilfe von Lagerplan, Name und/oder (Häftlings-) Nummer genau wissen, wo sich die von ihr ‚verwalteten‘ Subjekte im Raum des Lagers befinden“ (Doßmann et al. 2007, 237). Wir ersehen schon hieraus, dass das, was auf dem Plan euphemistisch als „Verwaltung“ daherkommt, nichts anderes ist als der Versuch einer bis ins Kleinste reichenden Beaufsichtigung und Kontrolle. Die rigide Gleichförmigkeit und Abgeschlossenheit des Lagers kann als Gefängnis-artige Einrichtung gelesen werden, als ein Raum, in dem Ausgebeutete nach dem Willen sowohl der staatlichen NS-Behörden als auch der mit diesen konformen Firma Weserflug ihr Dasein zu fristen hatten. Die archäologischen Baracken- und Zaun-Befunde widersprechen den Dokumenten zwar im Detail, nicht aber im Grundsätzlichen. Doch die im Lager Lebenden ließen sich trotz aller Anstrengung nicht komplett kontrollieren. Sie verschafften sich ihre Handlungsräume, ihren espace vécu. Wie gesagt, schlägt sich dieser archäologisch in der Verteilung mobiler Funde nieder, die mit bestimmten Praktiken im Lager assoziiert werden können. Solche Dinge schließen Essgeschirr, Spielzeug, Fragmente von Musikinstrumenten, Werkzeuge, Kleidungsreste und anderes ein. Um das Potenzial einer Auswertung solcher Funde zu zeigen, beschränke ich mich auf eine einzige Art von Objekten, Porzellanteller mit dem Aufdruck des Amtes Schönheit der Arbeit und deren räumliche Verteilung in einem Abschnitt des Weserflug-Lagers.100 Wir hatten am Rand des Weserflug-Lagers quer durch drei Baracken einen 60 m langen und 3,20 m breiten Schnitt geöffnet. Die westlichste Baracke hier angetroffene Baracke mit der Nummer 6 war für französische Kriegsgefangene bestimmt, die zwei östlich davon befindlichen Baracken 7 und 8 für „Russen“ (Abb. 5.5; Bernbeck et al. 2014, 57–59). Über den gesamten 60 m-Schnitt verstreut fanden sich zudem Bruchstücke von Porzellangefäßen mit dem Stempel „Schönheit der Arbeit“ (Abb. 5.7c), einem mit ergonomischen und DesignAufgaben beschäftigten Arm der „Deutschen Arbeitsfront“, die selbst die Karikatur einer Gewerkschaft war (Zentek 2009; Egbers 2014). Von den insgesamt 22 Porzellanböden sind alle außer zwei Tassenböden als Suppenteller zu bestimmen. Insgesamt acht Teller entfallen auf den Bereich der Baracke für französische Kriegsgefangene und neun weitere auf den der sowjetischen Kriegsgefangenen (Baracken 7 und 8). Aus der Fläche zwischen der französischen Bara-

100 Hierbei werden nur Bodenscherben mit dem Aufdruck ausgewertet, nicht aber Ränder, die eventuell auch zu solchen Tellern gehören können, jedoch keine Stempel aufweisen. Das Ergebnis kann sich nach Auswertung aller Funde also noch ändern.

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cke 6 und der westlicheren für sowjetische Männer (Baracke 7) stammt eine recht große Zahl weiterer derartiger Fragmente, die nicht eindeutig der einen oder anderen Baracke zugeordnet werden können. Dort entdeckten wir zudem zwei ineinander verschmolzene Emaille-Schüsseln, die innere mit einem schwach erkennbaren floralen Muster in Grün (Abb. 5.7a). Tabelle 5.2: Verteilung von Porzellan-Tellern mit dem Stempel „Schönheit der Arbeit“ in den Baracken 6 bis 8 des Lagers der Weserflug GmbH in Tempelhof Laufende Meter in Schnitt 16 0-5 5-10 10-15

Verortung Barracke 6 (frz.) zwischen Barracken 6 und 7

16-22 21-22 22-26 25-30 28.5 – 29.5 35-40 40-50 50-60

Barracke 7 (sowjetisch)

zwischen Barracken 7 und 8 Barracke 8 (sowj.) östlich von Barracke 8 (sowj.)

Anzahl der Fragmente

Teller/ TassenAnzahl

Quadratmeter (Grabung)

Dichte der Fragmente pro qm

6

8

32.0

0.38

2 1 (Tasse) 3 (davon 1 Tasse) 1 1 2 1

3

0.09

8

43.2

0.19

1

1

16.0

0.06

1

1

32.0

0.03

1

1

32.0

0.03

Die beiden Emaille-Schüsseln zeigen an, was wohl der Standard des Essgeschirrs in den Baracken war: neben mehrfach angetroffenen einhenkligen Emaille-Bechern eine multifunktionale Emaille-Schüssel, ein generischer Gefäßtyp, der in ähnlicher Form auch aus anderen Lagern für ZwangsarbeiterInnen wie etwa dem „Ausländerkrankenhaus Mahlow“ südlich von Berlin belegt ist (Glauning und Nachama 2013, 164 unten). Dennoch gelangten Teller besserer Qualität, eigentlich für deutsche Arbeiter und Arbeiterinnen bestimmt, ins Lager. Die Verteilung der Porzellanbodenscherben in Tabelle 5.2 zeigt eine stark variierende Dichteverteilung gleichartiger Gegenstände. Nach den strikten Vorstellungen des Nazi-Systems würde man entweder annehmen, dass die ursprünglich für die Kantinen der „Volksgemeinschaft“ produzierten Porzellan-Geschirre gar nicht in Zwangsarbeitslagern auftreten; oder, wenn sie das tun, dass die Vertei-

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lung den rassistischen Kategorisierungen der NS-Behörden entspricht. Auffällig an der Dichte-Verteilung ist im Falle Tempelhofs zunächst, dass sich die Funddichten der Baracke für französische Kriegsgefangene und der westlicheren für sowjetische Kriegsgefangene zwar unterscheiden, denn die Dichte dieser Funde in Baracke 7 ist nur halb so hoch wie in der von Franzosen genutzten Baracke 6; doch die Funddichte fällt weiter radikal ab nach Osten im Zwischenraum zwischen den Baracken 7 und 8, also hin zur zweiten Baracke für sowjetische Kriegsgefangene und östlich davon. Die Dichte in Baracke 8 (0,03 Scherben/qm) beträgt nur noch weniger als ein Sechstel der benachbarten Baracke 7, obwohl es zwischen den Baracken 7 und 8 keinen Zaun gab (s. Abb. 4.16 und 5.5). Die räumliche Verteilung dieser spezifischen Fundkategorie, die auf lagerinterne Praktiken der ZwangsarbeiterInnen zurückzuführen ist, zeigt also einen weitaus deutlicheren Unterschied zwischen den zwei Baracken für „russische Männer“ als zwischen den Baracken 6 und 7, die zudem durch einen sichtundurchlässigen Zaun voneinander getrennt waren. Abbildung 5.7: (a) Zwei ineinander verschmolzene Emailleschüsseln; (b) und (c): Innenseite und Boden von verbrannten Exemplaren der PorzellanSuppenteller des Sets „Schönheit der Arbeit“

((c) mit der Angabe „Bauscher Weiden“ und dem feuerverkrusteten „Schönheit der Arbeit“Stempel; alle aus Schnitt 16, Baracken 6 bis 8, Grabungen Tempelhof )

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Was ist der Grund für dieses unerwartete Ergebnis? Ohne eine genaue Auswertung anderer Fundbestände, etwa der Becher, der Reste von etwaigen anderen Emaillegefäßen und von mit Essen assoziierten Objekten lässt sich noch keine andere Antwort hierauf geben als die, dass sich hier ein espace vécu niederschlägt, ein Raum, dessen Produktion die nationalsozialistische WeserflugLagerführung nicht unterbinden konnte. Dieses bislang sehr vorläufige Vergleichsergebnis ist allerdings nicht als Anzeichen einer etwaigen Solidarität der Unterdrückten zu interpretieren, in dem Sinne etwa, dass der Gegensatz zu den Nazis unter den Kriegsgefangenen dazu führte, dass die Franzosen Porzellan an die sehr viel schlechter versorgten sowjetischen Gefangenen weitergaben. Dann hätte man im Bereich der „russischen“ Baracken 7 und 8 eine gleichmäßige Verteilung dieser Objekte erwartet, wohingegen wir innerhalb dieses stark abgeschlossenen Komplexes eine drastisch ungleiche Verteilung feststellen. Ohne weitere Dichteanalysen anderer Objekte verbietet es sich, über die Gründe dieser Unregelmäßigkeit zu spekulieren. Immerhin aber ist der mit archäologischen Mitteln durchgeführte antagonistische Vergleich von espace conçu und espace vécu auf rein empirischem Niveau in der Lage, neue Aspekte einer lokalen Mikrogeschichte aufzudecken. Wie in derartigen Forschungszusammenhängen üblich, generiert diese Art des Vorgehens allerdings eher neue Fragen, als dass sie zu einem in sich kohärenten Bild führt. Diese zu weiteren Nachfragen führende Vergleichskonzeption mag als ein Beitrag zu offenem Wissen angesehen werden, welches keine letzten Sicherheiten zu bieten in der Lage ist. Die vier hier erörterten Vergleichsverfahren, vom Großvergleich über einen formalen und einen kontextualisierten bis zum antagonistischen Vergleich haben als Tendenz gemeinsam, dass sie individuelle Erfahrungen kollektivieren. Wie zu Anfang dieses Kapitels angesprochen, ist eine derartige Verallgemeinerung insbesondere dann problematisch, wenn die in solchen Zusammenhängen verhandelten Erfahrungen prinzipiell negative – konkret: Erlebnisse des Leidens – sind. Der Vergleich solcher Zustände und Orte maßt sich noch vor seiner Realisierung und Ergebnisformulierung bereits an, über ein „Mehr“ oder „Minder“ an Leiden urteilen zu können. Es ist diese ethische Dimension, die das komparatistische Verfahren als Arroganz der Historiographie (Archäologie inklusive) erscheinen lässt. Wenden wir uns zum Abschluss dieser Diskussion zwei Stimmen zu, die selbst Konzentrationslager und Folter der Nazis überlebt haben. Ruth Klüger nimmt einen ungewöhnlichen Standpunkt ein, wenn sie schreibt: „Der ungelöste Knoten, den so ein verletztes Tabu wie Massenmord, Kindermord hinterlässt, verwandelt sich zum unerlösten Gespenst, dem wir eine Art Heimat gewähren, wo

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es spuken darf. Ängstliches Abgrenzen gegen mögliche Vergleiche, Bestehen auf der Einmaligkeit des Verbrechens. Nie wieder soll es geschehen. Dasselbe geschieht sowieso nicht zweimal, insofern ist jedes Geschehen, wie jeder Mensch und sogar jeder Hund, einmalig. Abgekapselte Monaden wären wir, gäbe es nicht den Vergleich und die Unterscheidung, Brücken von Einmaligkeit zu Einmaligkeit.“ (Klüger 1992, 70)

Die Metapher lässt Raum für die Komparatistik, insistiert aber dennoch auf einer grundsätzlichen Singularität. Zu einem anderen Ergebnis kommt Jean Améry (1977, 24), der über seine Überlebensstrategie in Auschwitz im Gegensatz zur „radikal geistigen Haltung“ seines Freundes Nico Rost nachsinnt: „Nein, ich hätte [im KZ] ganz bestimmt nichts über Maimonides gelesen, selbst wenn mir, was in Auschwitz kaum denkbar war, ein einschlägiges Buch in die Hände gefallen wäre. [...] Ich schämte mich, wie gesagt, sehr, [...] bis es mir schließlich gelang, mich einigermaßen zu diskulpieren. Dabei dachte ich [...] an die entscheidende Tatsache, dass der Holländer [Nico Rost, R.B.] sich in Dachau befunden hatte, nicht in Auschwitz. Es lassen sich nämlich in der Tat diese beiden Lager nicht so einfach auf einen gemeinsamen Nenner bringen.“

Diese hier angesprochene Unmöglichkeit des Vergleichens im Angesicht des extremen Leids hat weitgehende Konsequenzen für die Beschäftigung mit der gesamten nationalsozialistischen Vergangenheit; wohl auch weit darüber hinaus. Hierum soll es im folgenden Abschnitt gehen.

L EIDEN , H ANDLUNGSPOTENZIAL

UND

A RCHÄOLOGIE

Die grundsätzliche Fähigkeit des Menschen zum Nacherleben auch der Taten und Leiden anderer ist wohl nicht abzustreiten. Doch kann diese Fähigkeit auch auf Extremsituationen übertragen werden? Ist es nicht eine Anmaßung, zu meinen, man könne sich in die Lage von ZwangsarbeiterInnen oder gar KZHäftlingen tatsächlich einfühlen? Wo liegt die Grenze zwischen legitimen Evokationen und einer falschen Identifizierung mit den Opfern der Nazis? Leiden ist unbestreitbar ein universales Element menschlicher Geschichte, nicht auf einen bestimmten Zeitraum beschränkt, und auch den Unaufmerksamen kann seine Gegenwart kaum verborgen bleiben. Merkwürdigerweise spielt Leiden jedoch in der Archäologie kaum eine Rolle (s. aber Hodder 2016, 93–104; Pollock und Bernbeck 2016; Pollock 2016). Das gilt bislang sogar für die Geschichte der Nazi-Zeit. Wenn überhaupt, finden wir eher Auseinandersetzungen mit Gewalt und

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Brutalität als einem kulturhistorischen Phänomen (z.B. Bersani und Dutoit 1985; Davis 1996). Dieses komplexe Themeneld behandle ich in drei Hinsichten.







Bevor ich auf weitere Einzelheiten des Komplexes der Nazi-Brutalität, des Leidens und einer Archäologie dieser Verhältnisse eingehe, werde ich meine Überlegungen in allgemeinen theoretischen Diskursen der Archäologie situieren. Hierfür gehe ich zunächst auf zwei anglophone Theoretiker aus der Soziologie und Anthropologie der Kunst ein, Anthony Giddens und Alfred Gell, deren Einfluss auf die Archäologie erheblich war und noch ist. Diese Ansätze stelle ich den Gedanken Adornos gegenüber. Individuelle traumatische Erfahrungen spielen in der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit im Allgemeinen und dem Holocaust im Besonderen eine große Rolle, wie ich schon in der Diskussion um Bezeugen und Bürgschaft erörterte (Kapitel 3). Der Frage nach dem Verhältnis zwischen der Erfahrung individuellen Leidens, seines Einschlusses in materieller Kultur und den (Un-)Möglichkeiten einer Vermittlung des Leidens gehe ich in einem zweiten Schritt weiter nach. Geschichte besteht nicht aus einzelnen, unverbundenen Ereignissen. Was ist die Rolle des Leidens an den Verhältnissen und der Gewalt im längerfristigen Geschichtsprozess und dessen Narrationen, die eher am aktiven Handeln als an Widerfahrnissen und deren Verarbeitung ausgerichtet sind? Wie steht es um die Abgeschlossenheit und den Willen zur „Bewältigung“ einer solchen Geschichte? Um diese Frage zu beantworten, greife ich vor allem auf Walter Benjamins letztes Werk Über den Begriff der Geschichte zurück (Benjamin 1992b).

Struktur und „Agency“, Gesellschaft und Subjekt In den 1970er Jahren ergab sich als Reaktion auf den damals dominanten Strukturalismus von Claude Lévi-Strauss und Louis Althusser eine Gegenbewegung, die auf zwei diesem innewohnende Einseitigkeiten aufmerksam machte. Erstens vernachlässigt der Strukturalismus menschliche Handlungen, die erst die Reproduktion ganzer Gesellschaften und ihrer Institutionen ermöglichen, und zweitens sind es diese menschlichen Handlungen, die Strukturen eine Geschichte geben und sie aus der vermeintlichen Invarianz lösen. Schon Marx (1972, 115) hatte die Dialektik großskaliger Prozesse und kleinteiliger Handlungen hervorgehoben, als er schrieb, „die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter

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unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“ Die antistrukturalistische handlungstheoretische Wende verdankt ihren Ursprung besonders der Soziologie mit Anthony Giddens’ „Strukturationstheorie“ (1979, 1984) und Pierre Bourdieus (1976, 1998) praxistheoretischem Ansatz. Diese Überlegungen wurden in einem bahnbrechenden Aufsatz von Sherry Ortner (1984) in die Kulturanthropologie eingeführt. Oft als „agency theory“ oder „practice theory“ apostrophiert, gelangten Handlungstheorien im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts auch langsam in die postprozessuale Archäologie, in der der Sammelband Agency in Archaeology (Dobres und Robb 2000) ihre endgültige Etablierung markiert. Zentral ist die Dialektik von Handlungspotenzial („agency“ bei Giddens/ „habitus“ bei Bourdieu) und Struktur („champs“ in Bourdieus Originaltexten), die in unterschiedlichem Vokabular und mehr oder weniger politischen Untertönen elaboriert wird. In den archäologischen Diskussionen um Handlungspotenzial wurde „agency“ im Zuge der Akteur-Netzwerk-Theorien (ANT) von Bruno Latour, Michel Callon und Annemarie Mol auch auf Dinge ausgedehnt. John Robb gibt einen nützlichen Überblick über diese Debatten und ihr Umfeld in der Archäologie, stellt dann aber vielleicht etwas selbstzufrieden fest: „We have learned what we can from the concept and can move on“ (Robb 2010, 515). Das ist vorschnell. Denn auffällig am archäologisch-anthropologischen Diskurs ist, dass zwar Handeln eine große Rolle spielt, dass aber sein Anderes, das Erleiden der Handlungsfolgen, ausgespart bleibt. Man vermeint, Handeln habe keine negativen Effekte auf andere Menschen und/oder Dinge, es wird dargestellt wie ein Geben ohne Nehmen, ein Sehen ohne Gesehen-Werden, ein Brand ohne Asche. In der realen Welt ist Agency als Handlungspotenzial nicht nur dynamisch mit Strukturwandel verkoppelt, sondern beinhaltet ein menschliches Schadensrisiko, dessen explizites In-Kauf-Nehmen im rhetorischen Extremfalle den Massenmord zum „Kollateralschaden“ umwandelt. In der Agency-Theorie sind dies schlicht die „nicht intendierten Handlungsfolgen.“ Ganz anders ausgerichtet ist Alfred Gells (1998) letztes Buch Art and Agency, in dem er sich ebenfalls systematisch mit Handlungspotenzialen auseinandersetzt. Nach seiner Vorstellung gibt es „for any agent [...] a patient, and conversely, for any patient, there is an agent“ (Gell 1998, 22). Der gesamte erste Teil des Werks baut auf dieser Unterscheidung auf. Allerdings beschäftigt sich Gell mit Kunst, also mit Relationen zwischen Menschen und einem ausgesuchten Kreis von Dingen. So werden KünstlerInnen und andere mit Kunst befasste Subjekte in „agents“ und „patients“ aufgeteilt: die Mäzene, welche Kunst ordern, sind in diesem Augenblick mit Handlungspotenzial ausgestattet, während

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das allgemeine Publikum in Museen in der Regel eine „patient position“ einnimmt (Gell 1998, 47). Auch Dinge können Agency haben, allerdings unterscheidet Gell zwischen „primärem“, von Intentionen getriebenem, und „sekundärem“, ebenso wirkungsvollem, aber nicht notwendig intendiertem Handlungspotenzial. Kritiken und spätere Auseinandersetzungen mit dem Buch verschieben den Akzent von der Relation „agent – patient“ hin zu „dispersed agency“ (Olsen 2010, 135–136). Vor allem aber wird der Begriff „patient“ abgelehnt bzw. als ungeschickt angesehen, wobei offene Kritik hieran eher selten ist. Vielmehr wird er durch den ebenfalls von Gell verwendeten Begriff „recipient“ ersetzt (z.B. Layton 2003), was meines Erachtens zu einer unzulässigen Bedeutungsveränderung führt. Hier wird das Verletzen und Lädieren durch eine rhetorische Verdrängung ignoriert. Aus Leiden wird ein harmloses „receiving“, ein Zuteilwerden. Gell geht in seinem Werk durchaus auch auf Gewalt und Kunst ein, besonders in einer kurzen Diskussion zu Ikonoklasmus (Gell 1998, 62–65). Im Falle der Zerschneidung des Velázquez-Gemäldes Venus vor dem Spiegel101 durch die Suffragette Mary Richardson bescheinigt Gell dem temporär beschädigten Gemälde einen Zustand als eigenständiges Kunstwerk. Richardson als „patient“ wehrte sich aus Anlass der Verhaftung von Emmeline Pankhurst, einer anderen Sufragette, gegen ihre passive Rolle (unter anderem als Museumsbesucherin) durch eine Messerattacke auf das Bild. In Gells Worten transformierte sie sich selbst dadurch in einen „agent.“ Gells Interesse an der Relation von Handlungspotenzial und dem Erleiden bzw. Ertragen desselben geht aufgrund seines Interesses an Kunst zwar auf beschädigte materielle Werke ein, nicht aber auf beschädigtes Leben. Das Schema Abb. 5.8 zeigt die dialektischen Auffassungen von Handlungspotenzial bei Giddens und Gell, die zwar gänzlich unterschiedliche Ausrichtungen haben, jedoch um den Begriff der Agency zentriert sind. Wichtig ist mir hier, dass die Graphik eine relationale Lücke zwischen Struktur und Leiden aufzeigt. Gibt es keine Beziehung zwischen Leiden und Struktur? Ist diese immer über konkrete Handlungen vermittelt? Sind potenzielle Relationen zwischen Leiden und Struktur möglicherweise dialektisch? Die aufgezeigte Leerstelle im Agency-Diskurs spielt in Adornos soziologischen und philosophischen Schriften eine wichtige Rolle, aber auch in Johan Galtungs und Paul Farmers Arbeiten zu dem, was sie strukturelle Gewalt nennen. Diese Überlegungen sind für die hier angestrebte Auseinandersetzung mit der Position des Leidens in der Archäologie von Relevanz.

101 Das Gemälde befand sich damals und ist bis heute im Besitz der National Gallery, London.

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Abbildung 5.8: „Agency“ in Giddens’ Strukturationstheorie und in Gells Auseinandersetzung mit Kunst

Um mich diesem Thema anzunähern, sei nochmals an Adornos insistente Kritik am Begrifflichen erinnert, mithin an der Sprache, die den Überschuss der realen Welt zum Nichts reduziert (S. 259). Begriffe fassen Unterscheidbares zusammen und vernichten Einzigartigkeit. Sie sind die Basis der allgegenwärtigen Kommensurabilität der kapitalistischen Welt. So versammelt „Arbeit“ als begriffliches Abstraktum eine unendliche Vielfalt tatsächlicher Tätigkeiten, und ihre Bezahlung in Stundenlohn generalisiert produktive Handlungen in eine verschiebbare, indistinkte Masse. Die Negation des menschlich-singulären, materiellen Schöpfungsaktes im Allgemeinbegriff der Arbeit ist einer der Angelpunkte in Marx’ Werk. In Adornos Philosophie nimmt nicht mehr Arbeit diese Stellung ein, sondern – wie er mit einem Marx-Zitat erörtert – das Leiden und sein Spiegel, die Gewalt: „Von der Gewalt gilt die gleiche Doppelheit, welche die Kritik der politischen Ökonomie an der materiellen Produktion nachwies: ‚Es gibt allen Produktionsstufen gemeinsame Bestimmungen, die vom Denken als allgemeine fixiert werden, aber die sogenannten allgemeinen Bedingungen aller Produktion sind nichts als [...] abstrakte Momente, mit denen keine wirkliche Produktionsstufe begriffen ist‘.“ (Adorno 1980, 266)

Wenn es etwas auf der Welt gibt, was nicht abstrahiert werden kann, etwas, das sich der Austauschbarkeit in Gänze und unabänderlich entzieht, so ist es das

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Leiden – und doch wird es immer wieder in die Position einer „Durchgangsstation“ auf dem Weg zum Abstrakten gezwungen (Adorno 1980, 81). Statt wie Gell also eine Dynamik von „agent“ und „patient“ anzunehmen, bei der die Einzelperson in Sequenz und sogar gleichzeitig Rollen als „agent“, „patient“ und als „passive agent“ einnehmen kann, bildet für Adorno das Leiden den undialektischen Grund des Seins (Kaiser 1974, 155). „Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit. Denn Leiden ist Objektivität, die auf dem Subjekt lastet“ (Adorno 1970, 29). Was wird hier unter Leiden subsummiert, wenn es als beschwerliche Bürde, als „Objektivität“ zu denken ist? Unter Bezug auf Durkheim sagt Adorno an anderer Stelle, „Gesellschaft [stößt] auf jeden Einzelnen primär als Nichtidentisches, als ‚Zwang‘“ (Adorno 1972a, 12), der Individuen als „universaler Block“ bedrückt (Adorno 1972a, 19). Wir erkennen hier eine scharfe Differenz zu Giddens, für den gesellschaftliche Strukturen von den Handlungspotenzialen der Vielen reproduziert oder modifiziert werden, wobei die direkte Rückwirkung auf Individuen als entweder „restraining“ oder „enabling“ thematisiert wird (Giddens 1979, 69–71). Leiden an den kollektiven Zuständen als ein subjektives Verhältnis zum Sozialen steht für Giddens außerhalb jeder theoretischen Betrachtung. Seine rationalistische „Yes We Can“-Theorie geht implizit davon aus, dass Handlungswille ausreiche, die von Menschen angerichteten Komplexitäten zu meistern. Der gegenseitigen Konstitution von Gesellschaftsstrukturen und Organisationen auf der einen, handelnden Menschen auf der anderen Seite setzt Adorno ein Bild entgegen, welches sowohl Relationen zwischen der Gesellschaft und ihren Strukturen als auch zwischen Handelnden und Leidenden einschließt; womit, wenn man so will, die Lücke in dem Dreieck der Abb. 5.8 geschlossen würde. Das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Einzelnen thematisiert Adorno besonders in seinen soziologischen Schriften. So beklagt er, die rasch zunehmende Größe wirtschaftlicher und sozialer Einheiten habe die menschliche Vorstellungskraft weit hinter sich gelassen, und die Unbarmherzigkeit der Institutionen habe direkte Konsequenzen für Einzelpersonen. „Das Schmerzliche, das den Menschen von der Organisation angetan wird, hat seinen Grund in deren objektivem Mangel an Vernunft und Durchsichtigkeit“ (Adorno 1972b, 446). Wiederum unter Berufung auf Durkheim (1984) meint er, dass „Gesellschaft“ mehr als die Summe ihrer Einzelteile ist und die Gesellschaftsmitglieder als ihnen Äußerliches bedrängt und beschränkt, wobei er aber im Gegensatz zu Durkheim einem fundamentalen Pessimismus Ausdruck gibt: dieses „Mehr“ der Gesellschaft bestehe primär in der Austauschbarkeit von allem und jedem, sekundär aber auch darin, dass „die Vernünftigkeit des Ganzen verderbt [wird] zur letztlich zufälligen Vernünftigkeit der Mittel, wären sie auch bloß zur Vernichtung ersonnen“

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(Adorno 1972b, 445). Wie stark dieses Gesellschaftsbild von der Erfahrung des Nazi-Regimes und besonders des Holocaust geprägt ist, wird an solchen Stellen deutlich. Die Kritik an Giddens, Bourdieu und anderen läge also darin, das Einzigartige im Individuum weitgehend zu vernachlässigen, ganz besonders aber den unter keinen Umständen verallgemeinerbaren Kern dieser Einzigartigkeit, das Leiden. Ohne auf Details eingehen zu können, sei hier hinzugefügt, dass Johan Galtung eine andere Art des Verhältnisses zwischen Individuum und Großstrukturen thematisiert, die er als „strukturelle Gewalt“ bezeichnet. Der Unterschied zu Adorno liegt darin, dass ein eigenes Wissen und darum reflektierendes Verspüren des „universalen Blocks“ von Galtung eher als Ausnahme angesehen wird. Gewalt ist für ihn ein im Verborgenen wirkendes Verhältnis der radikalen Ungleichheit, welches den Opfern in der Regel gar nicht bewusst wird (Galtung 1969, 1985). Das Interesse richtet sich nicht auf subjektiv empfundenes Trauma, sondern verbleibt in einer objektivistischen, der traditionellen Wissenschaft eingeschriebenen Sicht auf die Verhältnisse, in der Erfahrungen in vergegenständlichte, dem Komparatismus sich andienende Größen umgewandelt werden. Die rezent von Michelle Hegmon skizzierte „Archaeology of Human Experience“ versucht, beide Seiten zu vereinigen, „[to] enhance our standard practice of dispassionate description and allow us to move from description to understanding“ (Hegmon 2013, 17, s.a. 2016). Meine eigene Arbeit mag durchaus als Bemühung in dieselbe Richtung gelesen werden, als ein Ringen um die archäologischhistorischen Möglichkeiten einer Gleichzeitigkeit von analytischer Schärfe und Empathie, wobei es nicht allgemein um Empathie geht, sondern um eine von Situationen der Gewalt und des physisch oder strukturell verursachten Leidens. Gleichzeitig können Objektanalysen niemals in eine quantifizierbare „Erfahrung“ münden. Erfahrung ist, auch wenn in den Erkenntnisbereich reichend, prinzipiell unreglementiert „Jede Erfahrung im Medium der Reflexion stößt auf etwas Unauflösliches, das nicht durch Begriffe allein eingeholt werden kann“ (Thyen 1989, 218). Eine solche Auffassung beinhaltet die vergleichsweise routinierte Methodenfrage im archäologischen Bereich, die Differenzierungen der angetroffenen „objektiven“ Verhältnisse zum Zwecke der Rekonstruktion der äußeren „Bedingungen des Leidens“ betrifft (Pollock und Bernbeck 2016). Wichtiger und viel problematischer sind aber Differenzierungen des subjektiven Leidens. Bekanntermaßen traf Walter Benjamin Unterscheidungen zwischen dem Begriff des Erlebnisses und der Erfahrung. Erleben als in gewissem Sinne modern, kurzfristig, direkt und bewusst lässt sich demnach nicht in ein Gedächtnis einbauen. Dies ist nur der Fall für Erfahrungen, die er als subkutan und unbewusst beschreibt (Benja-

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min 1974b, 615–616). Wo wären dann aber die von Adorno so negativ eingeschätzten Effekte der Strukturen und Institutionen auf Individuen anzusiedeln? Sind dies die Erfahrungen, die Galtung nicht interessieren? Und wie könnten sie in ein Geschichtsverständnis einfließen, wenn sie eine unbewusste Schicht des Gedächtnisses ausmachen? Um dem weiter nachzugehen, ziehe ich eine andere Dimension des Leidens in Adornos Schriften heran. In Rekurs auf sein bekanntes Diktum, nach Auschwitz ließe sich kein Gedicht mehr verfassen, meint er, dass das „perennierende Leiden [...] soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen [hat]; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe kein Gedicht mehr sich schreiben“ (Adorno 1970, 355). Hier ist nicht der Ort, auf die Diskussionen um den ursprünglichen Satz zu Gedichten einzugehen (s. dazu Claussen 1993). Vielmehr ist mir zu tun um die Unterscheidung zwischen „perennierendem Leiden“ und dem „Brüllen des Gemarterten.“ Adorno sieht in direktem, dem Körper zugefügtem Schmerz eine Handlung, die sich der sprachlichen oder anderweitigen Repräsentation verschließt. „Die somatische, sinnferne Schicht des Lebendigen ist Schauplatz des Leidens, das in den Lagern alles Beschwichtigende des Geistes und seiner Objektivationen, der Kultur, ohne Trost verbrannte“ (Adorno 1970, 358).102 Es ist diese Erkenntnis, die ihn ursprünglich zum Satz bewog, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben sei barbarisch. Die folternde Macht gegenüber den Leidenden ist so überwältigend, dass hiervor jeder sinnhafte Ausdruck versagt, ja zur Obszönität wird: wir sind auch in dieser Hinsicht am Ende jeder Dialektik. Die anschließende Relativierung in der oben zitierten Passage aus der Negativen Dialektik aber hat ihren Grund darin, dass das Leiden den Menschen eben auch in anderer Form erreicht, als „perennierendes.“ Dies ist die blockhafte Einwirkung des Gesellschaftlichen, die ebenso ein „Recht auf Ausdruck“ hat wie die unartikulierten Entsetzensschreie der Gefolterten.103 Solche Erfahrung rekurriert auf das „Medium begrifflicher Reflexion“, gehört also dem sprachlichsymbolischen Bereich an, ohne aber je in der Lage zu sein, komplett auszudrücken, was sie zu begreifen sucht (Naeher 1984, 188–189). Dauerhaftes Leiden mag seinen Ausdruck in künstlerischen Formen finden und daher als eine in Grenzen verarbeitbare Erfahrung gelten. Hingegen verbleiben die ungehört verhallenden Schreie außerhalb des menschlichen Erfahrungsbereichs. Man ist ver-

102 An anderer Stelle wird dies allgemeiner formuliert: „Irreduzibel ist das somatische Moment als das nicht rein cognitive an der Erkenntnis“ (Adorno 1970, 194). 103 LaCapra (2001, 76–78) unterscheidet in analoger Weise zwischen „structural“ und „historical trauma.“

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sucht, nicht nur, wie Walter Benjamin, zwischen Erlebnis als direkt bewussten Lebensverhältnissen und Erfahrung als dem nur randständig Explizierbaren zu unterscheiden, sondern die gänzlich außerhalb des Erfahrungsbereichs angesiedelten Zustoßungen als Widerfahrnisse abzusetzen, denen kein noch so insistenter Versuch der nachträglichen Beschreibung genügen kann. Allerdings können diese in Sprache verwandelt werden, wie Jackson (2002, 16; Hervorhebung im Orig.) ausführt: „Storytelling does not necessarily help us understand the world conceptually or cognitively; rather, it seems to work at a ‚protolinguistic‘ level, changing our experience of events that have befallen us by symbolically restructuring them.“ Jacksons „experience“ beschreibt das, was man als Widerfahrnis, abgesetzt von Erfahrung, bezeichnen mag. Abbildung 5.9: Das Verhältnis von Gesellschaft und Subjekt nach Adorno

Überlagern wir das Diagramm Abb. 5.8 mit Adornos Vorstellungen, so zeigt sich vor allem die Zentralität des Leidens in seinen Überlegungen.104 Weiterhin fällt auf, wie wenig ihn das Verhältnis von Handlungspotenzial und Gesellschaft

104 Erstaunlicherweise findet diese Überzeugung ihr Echo in Jörn Rüsens (2006, 186) Überlegungen zum zunehmenden Sinnverlust in einer Leidensvergessenheit. Dabei wird jedoch ein Erfahrungsbegriff verwendet, der bis in die Ebene unterhalb des Symbolischen reicht. Anders lässt sich die Behauptung, „unvordenkliches und unbegriffenes Leiden als elementare Sinnlosigkeitserfahrung“ sei konstitutiv für kulturelle Sinnbildung nicht verstehen.

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interessiert, der Aspekt, welcher für Giddens und Bourdieu im Mittelpunkt ihrer Bemühungen steht. Adorno erwähnt in diesem Zusammenhang nur den „Scharfsinn“ Talcott Parsons’, um gleichzeitig dessen Glauben an „begriffliche Vereinheitlichung“ und die Harmonie seines Modells zu kritisieren. Denn Gesellschaft „hat ihre Einheit daran [...], nicht einheitlich zu sein“ (Adorno 1972c, 44). Eine gründliche Lektüre von Adornos Schriften fördert Einseitigkeiten der heutigen Gesellschaftswissenschaften zutage, die historisch zu erklären sind. Unter dem Eindruck und der direkten Betroffenheit des Zivilisationsbruchs des Nationalsozialismus zu schreiben, führt zu gänzlich anderen Erkenntnissen als die akademische Auseinandersetzung mit Praxistheorien an der Cambridge University, dem Collège de France oder der Freien Universität Berlin im Zeitalter der Postmoderne. Positionalität hat gerade in der Wissenschaft Relevanz. Aber muss und kann man dann Adorno selbst nicht auch eine gewisse Einseitigkeit aufgrund seines persönlichen Schicksals zusprechen? Ist seine Zurückweisung jeder dialektischen Beziehung zum Leiden nicht auch eine vielleicht gewollte, historisch aber doch kritisierbare Voreingenommenheit? Auch wenn die Insistenz auf Wehrlosigkeit der Eingesperrten berechtigt ist, scheint die Spaltung in Opfer und Täter allzu schematisch und vergisst nicht nur Figuren wie die Kapos in den KZs, die für die Mithäftlinge eher als Täter, für die SS dennoch ihre Gefangenen blieben. Wichtiger ist, dass Adorno den Opfern des Nazi-Systems jegliches Handlungspotenzial versagt. Agamben nimmt durch seine Analyse der im KZ Lebenden eine entscheidende Differenzierung vor, die darauf hinausläuft, das absolut wehrlose Erleiden der Zustände allein auf die „Muselmänner“ zu beschränken. Zwar bleibt, wie weiter oben ausgeführt, die durch Lagerstrukturen und die Dauerdrohung der Strafe und des Todes weitestgehende Einschränkung des Handlungsraums aller Häftlinge das vorherrschende Merkmal der NS-Lager insgesamt. Und natürlich ist Giddens’ abstraktes Modell der sich gegenseitig konstituierenden Handlungspotenziale und Strukturen in seiner beschönigenden Ausgewogenheit für diese Bedingungen ein absolut unangemessener theoretischer Apparat. Dennoch scheitert auch Adornos Philosophie des Partikularen ironischerweise im Historisch-Konkreten an ihren generalisierenden Tendenzen zur Lage der Opfer. Die absolute Unabwendbarkeit der direkten Gewalt der Nazi-Schergen ist nicht in Frage zu stellen. Doch gilt dies auch für das sicherlich ubiquitäre strukturbedingte Leiden? Gab es auch in dieser Hinsicht keinerlei Ausweg? Was die materielle Seite der Strukturen angeht, so scheint Adorno der ins Negative gewandten Auffassung Walter Gropius’ nahezustehen, Materialität sei die „Gestaltung von Lebensvorgängen“ und habe das Potenzial, neue, rabiate Subjekte förmlich zu kreieren. In der von Exilverhältnissen in den USA gekennzeichneten

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Sammlung Minima Moralia äußert sich Adorno zur materiellen Gewalt des Gesellschaftlichen. „Was bedeutet es für das Subjekt, dass es keine Fensterflügel mehr gibt, die sich öffnen ließen, sondern nur noch grob aufzuschiebende Scheiben, keine sachten Türklinken sondern drehbare Knöpfe, keinen Vorplatz, keine Schwelle gegen die Straße, keine Mauer um den Garten? Und welchen Chauffierenden hätten nicht schon die Kräfte seines Motors in Versuchung geführt, das Ungeziefer der Straße, Passanten, Kinder und Radfahrer, zuschanden zu fahren? In den Bewegungen, welche die Maschinen von den sie Bedienenden verlangen, liegt schon das Gewaltsame, Zuschlagende, stoßweis Unaufhörliche der faschistischen Misshandlungen“ (Adorno 1980, 44). Es gibt kein Entrinnen, schon weit außerhalb der Lager nicht. Wirklich nicht? Ein universelles „strukturales Trauma“ (LaCapra 2001, 76–77) enthistorisiert in Adornos eigenen Schriften das, was doch allein der Singularität vorbehalten sein sollte. Ich sehe die kärglichen archäologischen Reste aus Tempelhof, der obigen Kurzanalyse eines espace vécu als listiges Hintergehen der Nazi-Repression folgend, als einen vielleicht sogar halb resignativen, jedenfalls aber erfolgreichen Versuch der ZwangsarbeiterInnen an, ihrer Verzweiflung etwas entgegenzusetzen. In manchen Situationen schließt das Leiden die Möglichkeit zur Subversion ein, einer Handlungsart, die genauer zu untersuchen wäre, die aber von den meisten SozialwissenschaftlerInnen zu wenig beachtet wird (s. hierzu Scott 1990). Es liegt auf der Hand, dass gerade eine Archäologie der Nazi-Zeit die bislang gängigen soziologischen Handlungstheorien oder gar behavioristische Ansätze nicht ohne weitergehende Reflexion übernehmen kann. Denn das individuelle Leiden und Traumata müssen in einer solchen fachlichen Ausrichtung eine zentrale Stellung innehaben, auch wenn sie bislang eher als Leerstellen erscheinen. Das Beschweigen hat damit zu tun, dass materielle Kultur nur in den seltensten Fällen direkte Spuren des individuellen Schmerzes aufweist – am offensichtlichsten noch dort, wo man menschliche Überreste antrifft, deren bioanthropologische Untersuchung dies eventuell eröffnen könnte. Jedoch sind schwerwiegende ethische Bedenken hiermit gerade da verknüpft, wo die Bioarchäologie sich mit NS-Opfern beschäftigt (Bernbeck 2015c). Archäologie sollte sich in diesem Feld jedoch ebenso wenig an denjenigen historischen Arbeiten orientieren, die objektivierend vorgehen, sondern vor allem auf die Erinnerungen und Äußerungen der Betroffenen zurückgreifen. Dabei ist es absolut unerheblich, ob materielle Hinterlassenschaften in irgendeiner Weise Zugriff auf solche Leidensbedingungen erlauben. Der Punkt ist, ihr Potenzial innerhalb eines größeren Erinnerungs- und historischen Wissens zunächst zu eruieren.

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Man muss extreme Situationen der Gewalt nicht als Augenzeuge oder – zeugin erlebt haben, um sich das Ausmaß des Leidens in den Lagern des NaziRegimes vorzustellen. Es ist eher umgekehrt: auch die direkte Erfahrung noch des eigenen Leids reicht im Nachhinein nicht aus, sich die radikale Verlassenheit von der Welt vorstellen zu können, die die Nazis millionenfach produzierten. Nicht nur Adorno meint, die Sprache selbst zeige hier ihre Unzulänglichkeit. Jean Améry erklärt in aller Deutlichkeit über seine Folterung durch die SS in der Festung Breendonk: „Es wäre ohne alle Vernunft, hier die mir zugefügten Schmerzen beschreiben zu wollen. [...] Der Schmerz war, der er war. Darüber hinaus ist nichts zu sagen. Gefühlsqualitäten sind so unvergleichbar wie unbeschreibbar. Sie markieren die Grenze sprachlichen Mitteilungsvermögens“ (Améry 1977, 63). Folter ist ein Grenzzustand des Leids, der zynischerweise dazu dienen soll, über Sprache vermittelte Informationen auszupressen. Elaine Scarry (1985, 35) betont das Zusammenfallen von physischem und verbalem Handeln in der Folter. Die am Leib Gemarterten sollen „gestehen“, sollen auf Fragen antworten, wobei die Folterer das Leid so wenig spüren, dass sie es bei „Notwendigkeit“ erhöhen, um Aussagen zu erhalten. Umgekehrt ist den Gefolterten die Welt unerheblich, da sie einzig und allein von einem unausdrückbaren Schmerz betroffen sind, bei dem jede ihrer verbalen Äußerungen als irrelevant erfahren wird; zumal Aussage und physische (oder auch psychische) Folter sich abwechseln. „A person in pain reverts to sounds prior to language, the cries and screams of human hurt“ (Scarry 1985, 43). Améry (1977, 72) berichtet, ihm bleibe aus der Tortur nur die Erkenntnis „einer großen Verwunderung und einer durch keinerlei spätere menschliche Kommunikation auszugleichenden Fremdheit in der Welt.“ Zwischen traumatischen Ereignissen und dem Moment, in dem die Betroffenen sich oder anderen darüber Zeugnis ablegen können, klafft ein zeitlicher Abstand. Doch: „Wer gefoltert wurde, bleibt gefoltert“ (Améry 1977, 64). Diese Vergangenheit vergeht nicht, eine Feststellung, die auch in der Trauma-Forschung immer wieder diskutiert worden ist. Mit einer Eindringlichkeit wie kaum ein anderer hat Améry versucht, das Schicksal der Gefolterten in Worte zu fassen, und doch auf der Unaussprechlichkeit des Erlebnisses insistiert. Überlebende der Nazi-Lager wie Jorge Semprun, Elie Wiesel, Primo Levi und viele andere haben in diesem Zusammenhang ebenfalls das fundamentale Ungenügen der Sprache an sich beklagt (s.S. 119–121). Die Aporie liegt darin, dass die Sprache gleichzeitig das Mittel ist, diese ihre eigene Unzulänglichkeit in Bezug auf derartige Erfahrungen

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zu bescheinigen.105 Um einen weiter oben verwendeten Begriff aufzunehmen: eine vorsprachliche Widerfahrnis dieser Art kann nicht übersetzt werden in (symbolisch repräsentierbare) Erfahrung. Wie soll man mit dieser Aporie umgehen? Die Geister scheiden sich hier radikal. Auf der einen Seite stehen dekonstruktivistische Ansätze der TraumaForschung. Für Studien zum Nationalsozialismus sind die Arbeiten von Cathy Caruth (1996) exemplarisch. Nach ihr ist das Hauptmerkmal des traumatischen Wiedererlebens der eigenen Vergangenheit „die Wahrheit eines Ereignisses und die Wahrheit von dessen Unbegreiflichkeit“ (Caruth 2000, 94–95). Der unfassliche Überschuss des Geschehenen wird von ihr als „unclaimed experience“ beschrieben. Hört man ZeugInnen genau zu, so finden sich Lücken und Brechungen, die im Abgrund zwischen Erinnerung und der schmerzhaften Erzählung derselben auszumachen sind (Stark 2000, 143). Es sind diese Lücken, in denen sich diese „nicht besetzte Erfahrung“ offenbart. Die Anthropologen Michael Lambek und Paul Antze (1996, xviii) beschreiben in einem anderen Zusammenhang die Verbindung, die das Trauma zerschneidet: „There is a dialectical relationship between experience and narrative, between the narrating self and the narrated self.“ Das Subjekt schöpft aus der Erfahrung, um eine Erzählung zu formulieren, wird aber ebenso durch diese Erzählungen selbst konstituiert. Wie oben erwähnt, kann in diesen Vorgang eine im Wortsinne sprach-lose Widerfahrnis der extremen Gewalt nicht eingeschlossen werden. Caruth bewertet das Therapieren eines Traumas, die Transformation von Trauma in eine darstellbare Erfahrung, als negativ, da damit „die der traumatischen Erinnerung wesentliche Genauigkeit und starke Wirkung verlorengehen“, ebenso wie die Dimension ihrer Unfassbarkeit selbst. Das hartnäckige Schweigen vieler Überlebender sei begründet darin, dass die narrative Form zum Glätten, Vergessen und Beschönigen führe, nicht primär wegen der Unartikulierbarkeit des Entsetzens. Theoretisch fügt sich dieser „Unsagbarkeitsdiskurs“ (Frei et al. 2013, 200) in die Lacan’sche Psychologie eines unerreichbaren „Realen“: Geschichte als eine des Traumas zeigt sich da am klarsten, wo sie gänzlich unzugänglich ist. An dieser Stelle kommt der Verdacht eines moralischen Gebots einer Traumatreue auf. Es nimmt nicht wunder, dass in der entsprechenden Lite-

105 In einer Bemerkung über Siegfried Kracauer geht Adorno noch einen Schritt weiter, wenn er feststellt, dass bei Kracauer „Leiden unverstellt, ungemildert in den Gedanken einging, der es sonst verflüchtigt“ (Adorno 1974, 389). Schon das Denken ver-



fälscht also in der Regel die wahre Natur des Leidens, wie sich diesem kurzen Einwurf entnehmen lässt.

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ratur die Schriften des Lacanianers Žižek ausgiebig zitiert werden (z.B. Edkins 2003). Diese Ansicht bleibt nicht unwidersprochen. Schon vor einiger Zeit monierte LaCapra (2001, 106) an diesen Arbeiten zu Trauma, ihre Form sei „orphic, cryptic, indirect“ und einem Verarbeiten von Traumata nicht förderlich. Stattdessen werde das verdrängende „Ausagieren“ gefördert, wie Freud dies nannte. Eine an LaCapra anschließende, polemisch-überzogene Kritik wirft den dekonstruktivistischen Ansätzen zu Trauma gar Zynismus vor, da Sprachspiele und ästhetische Überlegungen ohne Berücksichtigung, ja gegen die allzu reellen Leidenserfahrungen formuliert würden. Die empirische Traumaforschung und Praxis der Psychologie bleibe ausgespart (Kansteiner und Weilnböck 2008). Auch der manchmal fälschlich als Ursprung dieser dekonstruktivistischen Tendenzen angesehene Adorno (Kansteiner 2004), Inbegriff eines Theoretikers des Negativen, wird herangezogen, um die Unhaltbarkeit der poststrukturalistischen Position zum Trauma zu begründen (Schick 2009, 140–141). Tatsächlich argumentiert Adorno in einer längeren Passage der Negativen Dialektik, eine (philosophische) Hauptaufgabe sei es, das „Unausdrückbare auszudrücken“ (Adorno 1970, 114–116; s.a. Clemens 2008, 152). Nun könnte man hieraus den Schluss ziehen, die Archäologie sei für diese Absicht eminent geeignet, da sie ja als Ding-basierte Tätigkeit von der diskursiven Medialität unabhängig sei: die Sachen vermitteln historisches Leid schlicht über ihr Zugegensein, ohne einen oktroyierten Sinn. Sie enthalten sich der Sinngebung ganz besonders aufgrund ihres fragmentarischen Status, denn „only a damaged expression can be faithful [...] to the ‚damaged life‘ it yearns to express“ (Marder 2006, 58). Und hatte nicht schon Freud die Archäologie und die psychologische Offenlegung des Verdrängten parallelisiert? „Es gibt wirklich keine bessere Analogie für die Verdrängung, die etwas Seelisches zugleich unzugänglich macht und konserviert, als die Verschüttung, wie sie Pompeji zum Schicksal geworden ist und aus der die Stadt durch die Arbeit des Spatens wieder erstehen konnte“ (Freud 1907, 32–33). So einfach sollten wir es uns mit dem Archäologischen im Angesichte grausamer Repression und des – ich schließe mich in dieser Hinsicht den dekonstruktivistischen Ansichten an – unvorstellbaren Traumas nicht machen. Hartman (1996, 35) setzt die Freud’sche Parallelisierung in ein ganz anderes Licht, wenn er über Schliemanns Entdeckungen in Mykene schreibt, „the work of recovering shapes of memory from the destruction named the Holocaust has so little in common with Schliemann’s successful quest that it stands rather as a terrible coda.“ Heroische Entdeckungen, für die ein Schliemann immer noch gefeiert wird, oder heutige Ausgrabungsleiter, wie sie in den Fernsehfilmen von Gisela Graichen inszeniert sich finden – Frauen gibt es in verantwortlicher Rolle in

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Deutschland eher selten – , haben zu einem öffentlichen Bild des maskulinen Abenteuers der Archäologie geführt, welches zum traumatischen Sichtbarmachen einer Archäologie der Nazi-Zeit so gar nicht passen will. Auch der berufliche Habitus ist im Angesicht derartiger Ausgrabungstätigkeiten neu zu gestalten. Und eine Archäologie der Zustände unter dem Nazi-Regime muss nach anderen als den üblichen Mitteln der Analyse, der Illustration, der Statistik, der Verbalisierung und Ausstellung von vielleicht auch erschütternden Materialien suchen, um an das je singuläre Leiden der Opfer zu erinnern. Die Evokationsszenarien, wie ich sie in Kapitel 4 vorgeschlagen habe, sind im Angesicht extremen Traumas ebenfalls untauglich und verfehlt. „Nacherleben“ als eine Imagination, die von der Analogie diachroner Subjekt-Objekt-Relationen ausgeht, kann sich auf keine Situation beziehen, in der die originären Subjekt-Objekt-Relationen weder Erlebnis- noch Erfahrungscharakter haben, sondern in den Bereich der nicht repräsentierbaren Widerfahrnis gehören. Zudem besteht hier wie bei jedem Narrativ die Gefahr, eine eigentlich unmögliche Empathie soweit zu treiben, dass man meint, für die Opfer selbst sprechen zu können (LaCapra 2001, 78).

Ausdrucksgrenzen der Wissenschaft und künstlerisches Potenzial Auch wenn nach Adorno „alle Kultur nach Auschwitz, samt der dringlichen Kritik daran, [...] Müll ist“ (Adorno 1970, 359), sind es meines Erachtens doch die Künste, die noch am ehesten einen Weg zum Umgang mit der Aporie des Unausdrückbaren weisen können (s. dazu auch Hirte 1999, 66–75). Versuche künstlerischer Verarbeitung des Leidens in den KZs und anderen Nazi-Lagern gibt es vielfach in Denkmalen, Architektur und Literatur. Ich gehe im nächsten Kapitel auf Monumente nochmals ein. Um in der tastenden Annäherung an den Umgang mit subjektivem Leiden und der archäologischen Materialität weiterzukommen, beschränke ich mich hier auf Bemerkungen zu Claude Lanzmanns Film Shoah, zu Jorge Sempruns Roman Die lange Reise und Ella Littwitz’ Installation What there is/What is there? Lanzmanns Prinzip für den Film Shoah ist die „Unmöglichkeit, diese Geschichte erzählen zu können“ – nur um „von diesem Nichts aus einen Film zu machen“ (Lanzmann 2000, 105). Wie Caruth und Edkins ist er überzeugt davon, dass die im Film gezeigten Stunden von Interviews mit Erinnerungen keinen vollen Erfahrungsgehalt haben. Der Filmemacher spricht den von ihm Befragten a priori die Möglichkeit einer genuinen Erinnerung ab. Einerseits ist ihm darum zu tun, dass die Gespräche als gegenwärtige erscheinen, dass sie aber damit auch

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die grausame Gegenwart der Vergangenheit deutlich machen. Anderseits, und gewichtiger, ist der Film Shoah keine Dokumentation des Überlebens oder gar der Überlebenden, sondern er dreht sich zentral um die in den Gaskammern Umgekommenen (Lanzmann 2010, 539–540). Die Interviews können daher gar nichts anderes tun, als ein Thema umkreisen, für welches es nie Zeugen geben wird. Dass Lanzmann dies aber auch so halten möchte, zeigt seine Bemerkung, er würde NS-Originalaufnahmen der Ermordungen zerstören, gäbe es sie (zitiert in Žižek 2014, 39). Die von ihm Befragten waren nicht immer willig, Antworten zu geben. Der Film offenbart auf fast aufdringliche Weise den Druck, den Lanzmann in solchen Fällen ausübt. Er will zeigen, wie er die Vergangenheit aus seinen Interviewpartnern hervorzerrt, wohl auch, um klarzumachen, wie tief verschüttet die traumatische Erfahrung ist (Lanzmann 2000). Hartman (1996, 118) bemerkt, dass es dabei ausschließlich um das „Wie“ der Shoah, nicht aber um das „Warum“ geht. Sinn ist nicht zu erlangen, das kantische Erhabene zeigt sich hier im absolut Negativen samt damit verbundener Gefahr einer emotionalen Sakralisierung dessen, wovor uns grauen sollte. Kann man Shoah als Dokumentarfilm sehen? Obwohl die Form das suggerieren mag, ist dies nicht Lanzmanns Anspruch, der explizit Szenen für den Film stellte (Lanzmann 2000, 109). Was den literarischen Bereich angeht, so macht Žižek (2014, 43–49) zurecht auf die große Leistung Jorge Sempruns aufmerksam, der die von den AutorInnen des nouveau roman entwickelten, als abstrakt, avantgardistisch und ästhetisch ungenießbar eingeschätzten Erzählformen106 für eine Beschreibung von Schicksalen im Holocaust genau angemessen befand. Ob Semprun mit der literarischen Szene der 1950er Jahre in Paris vertraut war, wo er zur Zeit des Aufkommens des nouveau roman lebte, ist mir nicht bekannt. Allerdings war Semprun in diesen Jahren in Spanien politisch stark engagiert. Ein erster Schreibversuch direkt nach Freikommen aus Buchenwald führte ihn nah an einen Suizid, so dass er von dieser Vergangenheit bis in die 1960er Jahre aus Selbsterhaltungsgründen Abstand nahm; hiervon handelt sein zweiter großer Roman Schreiben oder Leben (Semprun 1995, bes. 253–261). Erst mit dem Buch Die große Reise (Semprun 1981) wagte er sich daran, die eigenen Erlebnisse der Nazi-Zeit literarisch zu verarbeiten. Diese zwei großen Werke lassen jede lineare Zeitanordnung vermissen. Der Narrator der Großen Reise springt aus der beängstigenden Gegenwart im überfüllten Viehwaggon zurück in die Zeit seiner Verhaftung und „imaginiert die Zukunft als Erinnerung“, wie Žižek (2014, 43) die Zeitstruktur tref-

106 S. hierzu Robbe-Grillet (1963). Ich habe eine potenzielle Anwendung auf die Archäologie vorgeschlagen, die in deutlichem Gegensatz zu einigen in diesem Buch geäußerten Ansichten steht (Bernbeck 2010).

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fend beschreibt. Semprun führte eine Existenz außerhalb der Normalzeit – und man darf annehmen, mit ihm andere Traumatisierte – , denn er hat den Tod „durchlaufen, von einem Ende zum anderen“ (Semprun 1995, 25). Der Effekt ist eine Zeitumkehrung: „Plötzlich hatte es mich bestürzt, sogar erregt, dass der Tod nicht mehr am Horizont war [...]; dass er sich bereits in meiner Vergangenheit befand, verschlissen, bis zur Neige geleert, sein Atem auf meinem Nacken immer schwächer wurde, sich jeden Tag weiter von mir entfernte“ (Semprun 1995, 25). Auffällig an der Großen Reise ist zudem, dass an keiner Stelle von Buchenwald berichtet wird. Dieser Romanbericht umkreist das „Unausdrückbare“ auf eine ungewöhnliche Art und Weise, die uns auf die unfassbare Lücke im Leben (und Text) des Protagonisten verweist. Semprun lässt zudem explizit offen, wieweit er von ihm Erinnertes und Fiktives erzählt. Auch diese Grenze hat das nicht verbalisierbare Leben im KZ restlos zerstört – das Leben ist Fiktion, eine klar definierte Realität gibt es nach Buchenwald nicht mehr. In Lanzmanns und Sempruns künstlerischen Auseinandersetzungen mit den Konzentrationslagern finden wir mehrere gemeinsame Elemente. Erstens umkreisen sie das ultimative Leiden, im ostensiblen Bedürfnis, die Notwendigkeit und gleichzeitig die Unmöglichkeit der Empathie zu verdeutlichen. Zweitens halten sie weiten Abstand von jedem rationalen Erklärungsversuch der von den Nazis produzierten mörderischen Realität. Und drittens lösen sie Alltagstemporalitäten auf. Die Vergangenheit manifestiert sich als gegenwärtig, nicht als vergangen. „Wer gefoltert wurde, bleibt gefoltert.“ Die Erinnerung dreht sich zudem nicht nur um ein direktes Leiden an den Umständen, sondern um das Leiden an der verlorenen Zukunft, ja selbst an dem, was Žižek (2014, 44) als befleckte und verdorbene Erinnerung charakterisiert. Die Wissenschaft tut sich schwer mit solchen Zusammenhängen. Zu sehr sind wir an Logik, Ordnung und an formal korrekter Repräsentation ausgerichtet, alles epistemologische Elemente, die den Erfahrungen in den Nazi-Lagern, auch in Zwangsarbeitslagern, diametral zuwider laufen. Wenn es denn eine Wissenschaft gäbe, die sich dem Trauma in einer nicht-medikalisierenden Art nähern wollte, so müsste sie von einem „Mehr an Subjekt“ auf der Seite der WissenschaftlerInnen gekennzeichnet sein (Adorno 1970, 47) – was allerdings, wie wohl ausreichend deutlich geworden, nicht zu Erkenntnis in traditionellem Sinne führen dürfte. Der Archäologie kommt im Angesichte der materiellen Überreste aus der Nazi-Zeit ihre deskriptionistische, fast anti-intellektuelle Geschichte zugute. Die Frage nach dem „Wie“ statt des „Warum“ bildet, wie wir sahen, auch in künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem Holocaust eine Plattform. In Kapitel 2 hatte ich die Problematik der Ästhetik des Archäologischen in einer Diskussion über Fotos angesprochen (s.S. 81–91). Sie ist weit davon entfernt,

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Teil eines sakralisierten „negativen Erhabenen“ zu werden. Anschauung ist ihr Modus, nicht Denken. Die Gefahr dieser Gegenstände besteht darin, dass wir „blind [...] gegens Unsichtbare am Sichtbaren“ bleiben (Adorno 1997a, 422), dass wir den Exzess des Grauens in der Menge und Zerschundenheit der Funde nicht wahrnehmen. Abbildung 5.10: (a) Regal mit Funden in der „Mülltonnenwaschanlage“, Tempelhofer Feld; (b) Ausstellung am Herzliya-Museum nahe Tel Aviv, Israel: „What there is/What is there?“

Die Künstlerin Ella Littwitz hat einige Funde aus den Tempelhofer Ausgrabungen in eine Installation mit dem Titel What there is – What is there? umgewandelt. Dabei handelt es sich um 3D-Scans von Funden, um Fotografien und eine zerbrochene Schallplatte. Leider wurde das Ensemble in Berlin nicht gezeigt, kann aber bis heute auf einer Website (Littwitz, Limon, und Bechler 2012) besichtigt werden. Der Titel verweist uns auf zweierlei: einmal auf den berühmten Artikel On What There Is des analytischen Philosophen Willard V. Quine (1980), auf den ich weiter unten zurückkomme. Zum anderen auf die temporale Dimension der ausgestellten Gegenstände, die durch das zweimalige „is“ des Titels in die Gegenwart gesetzt sind, obwohl sie ihren Ursprung in der Nazi- und Nachkriegszeit haben. Die Dinge existieren noch heute, als gescannte Reproduk-

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tion wie auch als Original. Doch verweist der zweite Teil des Titels auf einen Zweifel an der beiläufigen oder aufgedrängten Existenz derselben. Wie in der Ausgrabung auf dem Tempelhofer Feld, wo schlichte Blechregale in einer zum Arbeitsplatz und Büro umfunktionierten Mülltonnenwaschanlage als Lager für die tatsächlichen Funde dienten (Abb. 5.10), liegen die Scans in Littwitz’ Ausstellung des Herzliya-Museums in einem diesen nachempfundenen Regal: Scans von Schloss und Schlüssel, von einem Becher, einem Nummernschild, einer Tube, einem Wrack eines Modellflugzeugs und von anderem. Doch statt der Fülle in der Mülltonnenwaschanlage überwiegt der Eindruck der Leere. Das Regal steht für das Vergangenheitsarchiv. Es ist der meisten Inhalte beraubt, einzelne Einheiten wie das oberste Fach enthalten nichts mehr. Sind die Inhalte Ruinierte, so zeigt genaueres Hinsehen diesen Zustand auch an der Etagere selbst, in der das unterste Fach fehlt. Das Archiv selbst ist eine Ruine, und die Gegenüberstellung mit dem Tempelhofer Grabungsregal drängt uns die Frage auf, was die Massendinghaltung der Archäologie eigentlich bedeutet: sind die überquellenden Lagerhallen nicht immer noch eher leere, zerbrochene Regale? „What is there?“ verweist auf „What is not there?“ Abbildung 5.11: Schloss und Schlüssel, Puppenarm; 3D-Scans von Funden vom Tempelhofer Feld, in der Installation „What there is/What is there?“ von Ella Littwitz, Herzliya Museum, Israel

Was bedeutet es, archäologische Funde in 3D-Format zu scannen? In einem Sinne verweist Littwitz’ Installation auf Walter Benjamins Aufsatz zur Veränderung der Kunst durch ihre Reproduzierbarkeit. Benjamin setzt seinem Text ein langes Zitat aus Paul Valérys Pièces sur l’art voransetzte, das unter anderem

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feststellt, man müsse „sich darauf gefasst machen, dass so große Neuerungen die gesamte Technik der Künste verändern, dadurch die Invention selbst beeinflussen und schließlich vielleicht dazu gelangen werden, den Begriff der Kunst selbst auf die zauberhafteste Art zu verändern“ (Valéry in Benjamin 1974a, 472). Geht es Benjamin um technische Reproduzierbarkeit von Kunst, verwandelt hier die technische Reproduzierbarkeit den Abfall der Geschichte in Kunst. Das ist durchaus im Sinne von Benjamins Geschichtsphilosophie. Einen der 34 gescannten Funde hatte ich schon in Kapitel 4 erwähnt, den kleinen Arm einer Puppe (Abb. 5.11 rechts; s.a. Abb. 4.7, S. 98). An ihm wie auch Schloss und Schlüssel lässt sich leicht erahnen, dass die Scans nicht schlichte Kopien sind, deren Unterschied zum Original zu verschwinden sich anschickt. Vielmehr haben sie in Littwitz’ Werk eine Metamorphose hinter sich: den Verlust ihrer Opazität und Farbe. Das Auge benötigt Zeit, um sich mit solchen Fragmenten auseinanderzusetzen, zu erkennen, dass überhaupt etwas und was da zu sehen ist. Die Frage „Was ist da?“ ist keine des Gedankens, sondern des visuellen Sinnes. Fehlende Farbe entzieht dem Gegenstand auch seine schiere Materialität. Der Rückverweis auf einen tönernen, bronzenen, marmornen Ursprung ist ebenso gut möglich wie auf den aus Porzellan. Die Unsicherheit in der Sinneswahrnehmung löst schlagartig die Selbstverständlichkeit der materiellen Welt auf, wenn wir gewahr werden, dass das Sichtbare sich ins Unsichtbare zurückziehen kann, in eine Transparenz, die uns Teile der Erfahrung der materiellen Welt entzieht. Hier wird auf einen Gedanken Bezug genommen, der viele Werke der ersten Generation der „Frankfurter Schule“ durchzieht: die „Verarmung der Erfahrung“ (Jay 2005, 312–360). Farbe spielt in Quines Auseinandersetzung mit Dingen, ihrer Bezeichnung und Bedeutung eine wichtige Rolle. In seinem Aufsatz On What There Is meint er: „One may admit that there are red houses, roses, and sunsets, but deny, except as a popular and misleading manner of speaking, that they have anything in common. The words ‚houses‘, ‚roses‘, and ‚sunsets‘ are true of sundry individual entities which are houses and roses and sunsets, and the word ‚red‘ or ‚red object‘ is true of each of sundry individual entities which are red houses, red roses, red sunsets; but there is not, in addition, any entity whatever, individual or otherwise, which is named by the word ‘redness’, nor, for that matter, by the word ‚househood‘, ‚rosehood‘, ‚sunsethood‘“ (Quine 1980, 10).

Nach Quine kann man also Farbe und „Gegenstand“ nicht als jeweils getrennte Entitäten bezeichnen. Ich lese die transparenten 3D-Scans als einen Kommentar zu diesen Gedanken. Sie sind eben wie „roses/houses without redness.“ Haben wir also dann in Abb. 5.11 „dollhood“, „lockhood“ und „keyhood“ vor uns?

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Kann der Farbentzug Quine mit künstlerischen Mitteln ad absurdum führen?107 Oder zeigt er uns im Gegenteil, dass eine Trennung von „Farbe“ und Ding in zwei abstrakte Elemente gar nicht möglich ist, damit dem Argument Quines folgend? Grundsätzlicher steht dahinter eine weitere Frage: Warum werden diese Reflexionen ausgerechnet an materiellen Bruchstücken aus der Nazi-Zeit umgesetzt? Eine auf diese Dimension der Installation eingehende Lesung geht davon aus, dass Historizität in den Dingen ebenso eingeschrieben ist wie „Farbe.“ Beide sind ein Exzess der Dinge, der – entgegen Quines Auffassung – subtrahiert werden kann. Die Transparenz der Funde macht dann nicht nur auf den historischen Exzess der Dinge aufmerksam, sondern ebenso auf die Möglichkeit, ihn aus den Objekten zu extrahieren. „What there is“, das Objekt, muss so die Frage stellen, „What is there?“: Welche verborgene, und in diesem Falle welche Opfer-Vergangenheit steckt in ihm? Das Präsentische des Titels macht in Dopplung deutlich, dass wir nicht vor einer abgeschlossenen Geschichte, sondern einem im Objekt noch zu enthüllenden Leiden stehen. Die künstlerische Verarbeitung der Funde aus Tempelhof übersteigt die wissenschaftlichen Möglichkeiten des Sagens von Unsagbarem klar. Und sie enthält einen weiteren Effekt. Der Farbentzug erzeugt eine desorientierende Vereinheitlichung der Objekte. Die fehlende Farbe anverwandelt die sonst radikal unterschiedlichen Dinge. „Uniformity of the material serves to flatten the hierarchy between the objects“ (Limon und Bechler in Littwitz et al. 2012). Ein Spielzeugrest und Instrumente des Einschließens werden einander ähnlicher, wenn man sie in die Welt der Transparenz schickt. Der Rost, der die Metallgegenstände der Abb. 5.11b zerfressen und damit aufgebläht hat, erscheint jetzt als originärer Teil ihrer Gestalt. Das mag auch gelesen werden als eine ästhetische Kommentierung von Adornos Warnung vor dem (typisch wissenschaftlichen) Versuch, das Partikulare im Allgemein-Begrifflichen zu fassen. Das Scannen als eine Praxis der Vervielfältigung und damit der Kommensurabilität entpuppt sich als direkter Entzug von Erfahrung, als Abstraktion und Gleichmachung. Die ambivalente Haltung Walter Benjamins gegenüber diesem Effekt zeigt sich in seiner Auffassung, die transparente Austauschbarkeit sei auch eine Chance für die Zukunft: „Die Dinge aus Glas haben keine ‚Aura‘. Das Glas ist überhaupt der Feind des Geheimnisses. Es ist auch der Feind des Besitzes“ (Benjamin 1992a, 138). Man möchte anfügen: und der Feind der in den Dingen verborgenen Ge-

107 Ich danke Owen Flanagan für eine Diskussion philosophischer Implikationen, der mich darauf verwies, dass Quine als Anhänger des philosophischen Naturalismus die 3D-Scans schlicht als materielle Nicht-Identität von Original und Scan interpretiert hätte.

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schichte. Die Metamorphose in der Kunst Ella Littwitz’ lässt uns die Unbill der Kommensurabilität überhaupt erst bemerken, sie macht die Beliebigkeit der Austauschbarkeit sichtbar, und zeigt gerade darin ihre Universalisierung und somit ihre Nicht-Beliebigkeit. Nun muss man fragen: Hat nicht auch die archäologische Fragmentierung und das langsame Vergehen der Dinge einen solchen Effekt der Nivellierung von Differenz? Fragmentierung wurde durch eine Intervention John Chapmans (2000) ein beliebtes Thema für die Prähistorie Europas, bietet aber auch für eine Archäologie rezenter Zeiten Interpretationspotenzial (Burström 2013). „Das Ganze ist das Unwahre“, meint Adorno (1980, 55) in den Minima Moralia. Doch selbst wenn das Zerbrochene einen höheren Anspruch auf Wirklichkeit und Wahrheit hat, sind gerade diejenigen, die sich damit professionell beschäftigen, einem ganz eigenen Sog der Fragmenthaftigkeit als allgemeinem, austauschbarem Merkmal ausgesetzt. Das Beeindruckende, auf Gewalt und Ungewolltes verweisende an der Beschädigung der Gegenstände wird den Archäologinnen und Archäologen zur Beiläufigkeit wie im kapitalistischen Alltag ihr einwandfreier, serieller Charakter. Das führt zu einem weiteren Aspekt von Littwitz’ transparenten 3D Scans. Im Kontext von Fotografien und Akten hatte ich schon auf die Dialektik von Ansehen und Durchsehen verwiesen, dabei aber festgestellt, dass diese Wechselhaftigkeit auf Dinge, und gerade auf Alltagsdinge nicht zutreffe. Littwitz’ Installation führt die Gegenstände jedoch als durchsichtige vor, die da sind und eben doch in ihrer Transparenz nicht gänzlich wahrgenommen werden. Nun ist dieses „Durchsehen“ bei Fotografien und Dokumenten begleitet von einem Fokus auf dem Repräsentierten, einem vermeintlich der äußeren Materialität übergeordneten „Inhalt“, während etwa das „Durchsehen“ durch einen Puppenarm keine derartigen Repräsentationen erwirkt. Es ist, als ob wir ein leeres Blatt Papier anstarren. Diese Inhaltsleere verweist auf die schon angesprochene generelle Beiläufigkeit der Alltagsdinge, auf ihr Zuhandensein. Gleichzeitig ist ein solcher Scan aber auch eine implizite Relation zu seinem „Original“, dem archäologischen Fund. Die um den Puppenarm per Assoziation gesponnenen Evokationsszenarien (S. 196–198, Abb. 4.7 und S. 210–212, Abb. 4.9) statten dieses Fragment mit einer Eindrücklichkeit aus, die ihm nur in bestimmten Momenten gegeben ist. Folgen wir an dieser Stelle der Idee der Objektbiographie, so ließe sich sagen, dass der Gegenstand sein Dasein in einem Pendeln zwischen Beiläufigkeit und Eindrücklichkeit verbringt, zwischen Momenten der Achtlosigkeit seiner Umgebung und einer von ihm ausgehenden Bedeutungsmacht. Der transparente Scan als unlesbares Blatt hält uns dies im Wortsinne „vor Augen.“ Bill Brown (2001, 1–2) stellt zu Anfang seines für eine Wissenschaft der Dinge fundamentalen Aufsatzes fest, dass erst das besudelte

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Fenster sich in seiner ganzen Dinghaftigkeit zeigt, „a real, very dirty window, shutting out the sun.“ Erst die Spuren der Biographie, der Dreck des Lebens nimmt den Dingen ihre unlesbare Transparenz. Dazu gehören im archäologischen Bereich naturgemäß der Fundkontext und der eventuell erschließbare Herkunftsort, aber auch Spuren von Nutzung und Zerstörung der Dinge. Ich zeige an einem weiteren Fund aus Tempelhof, wie komplex die Nachverfolgung einer archäologischen Objektbiographie wäre, wenn sie nicht wissenschaftliche Massenware wäre. In einem schon erwähnten Splitterschutzgraben des Weserflug-Zwangsarbeitslagers in Tempelhof kam unter anderem ein Fragment eines Rosenkranzes zum Vorschein. Es ist dies eines der wenigen Objekte, die vor Waschen, Sortieren, Dokumentieren und schließlich der Fundfotografie und Zeichnung zufällig mit einer Privatkamera aufgenommen wurden. Man sieht das Objekt außerhalb des Fundkontextes, aber noch im märkischen Sand, in den es bei Auffindung eingebettet war (Abb. 5.12a). Ich setze daneben zwei Fotos desselben gereinigten Gegenstandes, deren Ziel es war, das Objekt zu dokumentieren und das Bild publikationsreif vorzulegen (s. Trenner und Collins 2014, 67 oben). Abbildung 5.12: (a) Rosenkranz-Fragment in umgebendem Boden; (b) dasselbe Fragment, in Annäherung an ursprüngliche Form ausgelegt; (c) dasselbe Fragment, gerade ausgelegt

Das Rosenkranzbruchstück besteht aus 13 gelben Glasperlen, die mit einem Kupferdraht in Form von kleinen Drahtschlaufen verbunden waren. An drei

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Stellen sind die Perlen nicht mit einer Doppelschlaufe, sondern mit einem längeren Verbindungsstück aneinandergereiht, welches aus einer Öse mit Spiralumwindung von 10 bis 12 Spiralen besteht. Das Ganze kann aufgrund kleiner Unregelmäßigkeiten bei den Spiralen als eine Handarbeit bestimmt werden. Die drei Abbildungen des Objekts vermitteln sehr unterschiedliche Eindrücke des Gegenstandes. Die Kreislegung der Abbildung 5.12b suggeriert seine Vollständigkeit. Das Bild ist eine Geste in Richtung auf die ursprüngliche Funktion: so ungefähr sah der Gegenstand in Gänze aus. Dabei bleibt allerdings verborgen, dass normalerweise ein Kreuz an einem Ende befestigt ist, und dass etliche Perlen fehlen müssen. Das Stück in einer geraden Auslegung (Abb. 5.13c) ist dem beschreibenden Blick am besten zugänglich: 13 Perlen, bei den für katholische Rosenkränze notwendigen 59 also nur ein kleiner Teil. Nach der Struktur folgt auf jeweils zehn Perlen für jeweils ein „Ave Maria“ eine in größerem Abstand gesetzte, stehend für ein „Vater Unser.“ Nach Abbildung 5.12c gibt es von diesen „Vater Unser“-Perlen also nur eine in Fragment 1 des Tempelhofer Bruchstücks. Fragment 2 kann nicht wie in der Abbildung 4.13c direkt an Fragment 1 angeschlossen haben, da sich rechts von Fragment 1 zusätzlich zu der einen vorhandenen neun weitere hätten anschließen müssen (Tabelle 5.3), bevor der nächste längere, mit Spiralöse markierte Abstand folgt. Die Fragmente 3 und 4 sind zu unvollständig, um eine genauere Position auf einem Rosenkranz zu bestimmen. Tabelle 5.3: Rosenkranz-Fragmente und ihre Einordnung in die Gesamtstruktur des Gegenstands s. Abb. 5.12b, von links nach rechts Fragmentstruktur Gesamtstruktur

Fragment 1

Fragment 2

Fragment 3

Fragment 4

ooo–o–o –oo oo oooo –o–oooooooooo–o-–oooooooooo–o–oooooooooo–o–ooo usw.

– = durch kleine Metallspiralen erzeugte größere Zwischenräume zwischen Perlen; o = Perle

Die Fotografie des kleinen Gegenstands noch in den Bodenresten hilft bei der Rekonstruktion jedoch erheblich weiter. Denn hieraus ist ersichtlich, dass Fragment 2 das eine Ende der Kettenreste war, und dass die Spiralöse sich am äußeren erhaltenen Ende befand. In dem Klumpen sandiger Erde lassen sich sodann an dieses Stück anschließend vier mehr oder weniger gerade aufgereihte Perlen ausmachen, wahrscheinlich Fragment 2 und Fragment 3 zusammen. Die umgeknickte Lage der nächsten fünf Perlen kann nur Fragment 4 sein, da die Abstände zwischen den Perlen für Spiralösen keinen Platz bieten. Von den 13 Perlen

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sind 9 auf Abb. 5.12a zu sehen. Wie aber Fragment 1 an Fragment 4 anschloss, lässt sich aus den Fotos nicht mehr rekonstruieren. Ist eine derart intensive Auseinandersetzung mit der Rekonstruktion dieses Fundes überhaupt angemessen? Reicht es nicht aus, die Funktion „Rosenkranz“ auszumachen, und dann nach Hinweisen zu suchen, warum dieser als beschädigtes Ding im Splitterschutzgraben zurückblieb? Sollte man nicht lieber dem Evokationspotenzial eines solchen Objekts nachgehen? Mit dem Klicken der Perlen in der Hand einer in Angst ausharrenden Zwangsarbeiterin, die um ihr Überleben in einer Bombennacht fürchtet? Theune (2010, 7–8) meint wahrscheinlich diese Art der Interpretation, wenn sie schreibt, dass „objects write their own history and are also closely connected to their possessor’s biography. [...] They stand for the powerlessness and humiliation of the people imprisoned but sometimes also for their self-assertion.“ Dieser symbolisierende Ansatz – Dinge sind allein ein Zeichen für etwas anderes – scheint mir verkürzt. Ein Rosenkranz entpuppt sich im Archäologischen als ein erstaunlicher Gegenstand, der eine eingehendere Performanz-Analyse lohnt. Es mag der katholisch-gläubigen Bevölkerung ja noch geläufig sein, wie ein Rosenkranz zu beten ist, ebenso wie der Wortlaut eines Ave Maria: „Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus. Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen.“ Der Zusammenhang zwischen dem Aufsagen der Gebete samt ihrem Wiederholungscharakter und dem Objekt ist offensichtlich. Die ideologischen Inhalte sind daran angebunden, nicht etwa das Essenzielle. Hierauf verwies schon Louis Althusser (1977, 138– 139), als er eine Pascal-Stelle dahingehend zitierte, dass nicht der Glaube der Grund für das Niederknien in der Kirche sei, sondern das Niederknien, also die körperliche Praxis, die Ursache des Glaubens. Ebenso verhält es sich mit dem Rosenkranz, dessen geringe Größe und flexible Form ihn praktisch überall nutzbar machen. Zudem haben wir hier einen Gegenstand mit intern komplexer Zeitlichkeit vor uns. An den einzelnen Perlen wird verschieden lang verweilt, um die entsprechenden Gebete aufzusagen. Sie brechen die Zeit in kleine Stücke, wobei Daumen und Zeigefinger in die Sprache fest einbezogen sind (Matthews 2011). Die aufgewandte Zeit zum vollständigen Aufsagen eines Rosenkranzes ist erheblich: ein Durchgang der 55 Perlen des Hauptrings wird als „Gesätz“ bezeichnet, und drei derartige Gesätze machen einen kompletten Vorgang aus. Die Kette hat für Gläubige eine spürbare Handlungsmacht, die sich umsetzt in Sprechakte, die physisch nicht Anwesende evozieren. Die routinierte und vielfach wiederholte Anrede („Ave Maria“) übt die Vorstellung tatsächlichen Daseins des

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Gegenübers und seiner Handlungen ein. Daraus ergibt sich eine spezifische Subjektivierung als Gläubige(r). Archäologische Dinge der Moderne müssen demnach nicht beschriftet sein, um auf sehr konkrete Weise Sprache und Temporalität zu offenbaren. Bestimmte Eigenheiten der Benutzung des Tempelhofer Rosenkranzes bleiben uns allerdings weiterhin verborgen, so die Sprache der Person, die ihn durch die Finger gleiten ließ, und ebenso mögliche mittels des Objekts ausgeführte, vom Standard abweichende Einzelgebete. Die psychologische Wirkung in Gefahrensituationen liegt einigermaßen auf der Hand, doch ist auch hier nicht ausschließlich an Aufrichtung, Trost oder Hoffnung auf Rettung zu denken. Das zerbrochene Ding kann auch Sinnbild des durch die Ereignisse zerstörten Glaubens selbst sein. Die untrennbare Einheit von Gegenstandsmaterialität, körperlicher Gestik, Sprechakt und kontemplativem Geisteszustand ist ebenso wie der Kranz selbst in jener Nacht im Winter 1943–1944 zerbrochen worden. Offensichtlich war keine Zeit mehr, dieses und andere Objekte nach dem zerstörerischen Luftangriff aus dem Graben zu bergen. Die zerbrochenen Glieder der Kette sind zu lesen als Zerstörung eines routiniert-ideologischen Subjektivierungsvorgangs, der das Leiden an den Zuständen teilweise abgefangen haben dürfte. Der Verlust des Objekts induzierte nicht nur eine Verstärkung alltäglichen Leidens, Objektzerstörung kann hier nicht von Subjektzerstörung getrennt werden. Eine Aufgabe des archäologischen Umgangs ist es, auf dieser Partikularität solcher Gegenstände zu beharren, in denen sich Leiden verbirgt, um die Unausdrückbarkeit des in ihnen Verborgenen wenn schon nicht aufzudecken, so doch einzukreisen. Dieses Einkreisen legt ein Stück des Weges zurück hin zur Betrauerbarkeit (zu diesem Begriff s. Butler 2009, 64, 74–78) der vielen bislang namenlosen Opfer des Dritten Reichs. Das Mitgefühl und die allgemeine Trauer um eine ganze Gruppe an Menschen anonymisiert und abstrahiert das nicht Abstrahierbare: man schaut über einen weiten Fluss hinweg und sieht bestenfalls Silhouetten am anderen Ufer. Das Einzelobjekt ist wie eine zerbrochene Brücke, die in den Fluss ragt und uns näher an eine einzelne Person in ihrem Schicksal als Opfer der Nazis bringt, ohne sie jemals erreichen zu können. Wo Adorno doppelt aporetisch eine philosophisch fundierte allgemeine „Unausdrückbarkeit“ artikulierte, die er in den Kontext der notwendigen und unmöglichen Partikularität setzte, verweisen archäologische Dinge ganz konkret auf die Partikularität dessen, was wir nicht erfassen können und doch zu erfassen versuchen müssen. Eine solche anti-typologische Archäologie ist eine unsystematische Wissenschaft, die erst noch erfunden werden muss. Wie oben dargelegt, ist die Eingliederung des Archäologischen in künstlerische Zusammenhänge wohl die angemessenste Art, das historische Leiden in seiner Nicht-Darstellbarkeit dazustel-

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len. Die ästhetische Sphäre ist noch am ehesten in der Lage unauslotbare Abgründe zu umreißen. In Einzelfällen vermag auch das genaue archäologische Hinsehen einen Teil des Leidens und Bruchstücke der damit verbundenen Affekte freizulegen. Es ist aber überaus bezeichnend, dass die wissenschaftliche Community gerade an dieser Stelle in der Regel scheitert.

D IE

NIEMALS ABGESCHLOSSENE

V ERGANGENHEIT

„The capacity of suffering is, clearly, part of being human. But not all suffering is equal. [...] Careful assessment of severity is important, at least to physicians, who must practice triage and referral daily“ meint der Arzt und Kulturanthropologe Paul Farmer (1997, 279). Seine Arbeit als medizinischer Aktivist in Haiti führt ihn zu einem eindeutigen, stark praxisorientierten und politischen Standpunkt, der Komparatistik befürwortet. In welchem Verhältnis steht dieses direkte Engagement zu theoretisch-historisch angelegten Betrachtungen, zumal den dekonstruktivistisch ausgerichteten, in denen jedes Vergleichen von Leiden aufgrund seiner Einmaligkeit a priori ausgeschlossen wird? Um dieser Frage nachzugehen, greife ich auf eigene Erlebnisse im Bereich humanitärer Arbeit in Afghanistan zurück.108 Der Häftling, nennen wir ihn Ahmed, erzählt mir in einem mitten im Hochgebirge in einem einsamen Tal liegenden Gefängnis in Nord-Afghanistan, wie er festgenommen und nach vergeblichen Versuchen des Verkaufs seiner selbst an westliche Militärmächte in einem unterirdischen Verließ auf eine für ihn unbestimmbare Zeit unter brutalen, von ihm nicht näher erläuterten Umständen habe überleben müssen. Schließlich sei er ans Tageslicht gezogen und in mehreren Gewaltmärschen mit etlichen Anderen an diesen Ort verschleppt worden. Gemeinsam hätten sie dann unter scharfer Bewachung die Mauern hier selbst in Windeseile errichten müssen, um danach darin zu verschwinden. Ich sitze frierend an eine dieser meterdicken, turmhohen Stampflehm-Einfassungen gelehnt in der schwachen Abendsonne, starre auf eine stinkende Kloake im Zentrum des großen Lehmgevierts und höre zu. Ahmed hockt vor mir und gestikuliert. Jeden Monat stürben mehrere entkräftete Mithäftlinge an Tuberkulose und anderen ansteckenden Krankheiten. Es gäbe keine Elektrizität und kein fließendes Wasser. Die

108 Aus Gründen der Vertraulichkeit sind alle hier umrissenen Ereignisse und Orte bis zur Unkenntlichkeit abgeändert, um nur noch die Grundlinien eines Vorgangs darzustellen.

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gegen die Kälte halbunterirdisch angelegten Zellen und der Gang davor machten das Lüften unmöglich. Selbstgebaute, tragbare Öfen aus Metallresten und Ton reichten für das Kochen der wenigen Lebensmittel nicht aus. Zu Anfang frage ich nach der Behandlung durch die Wächter, nach Informationen über eventuelle Entlassungen und Familienbesuch, und ob er einen Brief nach hause schreiben wolle. Dann erkundige ich mich, ob er wisse, wo er vorher gefangen gehalten worden war, mit wem, und ob er diese Örtlichkeiten beschreiben könne. Die Unterhaltung zwischen uns mag eine halbe Stunde gedauert haben. Andere Gefangene warten, ebenfalls mit mir oder einem anderen Delegierten aus dem kleinen Team des Internationalen Roten Kreuzes (ICRC) zu reden. Intern nennen wir diese Interviews unter vier Augen „entretien sans témoin“ (EST) und führen bei jedem Gefängnisbesuch möglichst viele durch. Das formelle Ziel dieser Gespräche ist es, einen Überblick über die allgemeine Situation der Häftlinge zu bekommen, um rudimentäre humanitäre Standards, besonders aber die Einhaltung der Genfer Konventionen sicherzustellen. Wir sind in Kriegsgebiet, wo diese Konventionen von den beteiligten Parteien zumindest teilweise ratifiziert worden waren. Vor Besuch eines Gefängnisses muss sichergestellt sein, dass Rotkreuz-Delegierte sich in Einzelgesprächen mit Häftlingen ohne weitere ZeugInnen unterhalten können. Die Hoffnung besteht darin, in vertraulicher Aussprache auch Missstände und Gewalt bis hin zu Folter mitgeteilt zu bekommen, um hierdurch einen ungeschönten Eindruck der Zustände zu erhalten. Die jeweils in einem Interview erfahrenen Probleme werden, wenn die Häftlinge dies wünschen, entweder gar nicht oder nur anonym an die Gefängnisleitung und höhere Verantwortliche weitergegeben. Wiederholte Besuche sind eine Möglichkeit der Kontrolle, ob die angemahnten Abänderungen tatsächlich realisiert wurden. Auch werden individuelle Probleme, etwa medizinische oder psychologische, ebenfalls aufgenommen und, soweit die Häftlinge dies wünschen, gegenüber Verantwortlichen angesprochen. Manche der Bitten sind fundamentaler Art und reichen von mehr Ausgang, adäquatem und ausreichendem Essen über Zugang zu Waschgelegenheiten oder Lesematerial bis hin zu Kühlung (oder Heizen) von Zellen. Vertrauensbildung in Inhaftierungskontexten ist nicht einfach; Zuhören und Nachfragen an entscheidenden Stellen unerlässlich. Nicht immer ist die Stimmung freundlich. Diese Arbeitsweise des Internationalen Roten Kreuzes im Bereich des Schutzes von Kriegsgefangenen und politischen Häftlingen ist ein Spiegel der historiographischen Problematik von Leiden und Komparatistik, hier allerdings im praktischen Bereich humanitärer Institutionen. Man hört sich die Beschreibungen individuell erlittener Schicksale an, um daraus allgemeine Zustände zu rekonstru-

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ieren und Handlungskonsequenzen zu ziehen, die das persönliche Erleiden der Gefängnisbedingungen auf einem nach internationalem Recht als erträglich empfundenen Niveau halten sollen. Das ICRC nutzt den Vergleich der Erfahrungen einzelner Häftlinge, um daraus möglichst verlässliche Informationen über die generelle Lage zu extrahieren. Der Vorgang hat alle Züge einer Abstraktion aus der Erfahrung individuellen Erleidens der Haftbedingungen zum Zwecke einer Objektivierung. Similaritäten werden betont, Differenzen minimiert, um daraus eine allgemeine Aufforderung zur Amelioration an die Gefängnisleitung zusammenzustellen. Immer wieder kam ich in Situationen, in denen ich Einzelpersonen gut genug kannte, um die Erfüllung eines Sonderwunsches in ihrer potenziellen Tragweite zu erfassen. Ein Gefangener ist abhängig von lokalen Suchtmitteln und bittet inständig, ich solle ihm diese mitbringen. Ein anderer klagt heftig darüber, dass er wegen traumatischer Erinnerungen nicht schlafen kann. Ein dritter fühlt sich von Mithäftlingen ausgegrenzt. In diesen Momenten bleibt das Leiden der Betroffenen konkret, direkt und emotional spürbar. Mein Wille, behilflich zu sein, scheitert aber oft an den „objektiven Umständen“, wie etwa den Regeln, dass keinerlei Gegenstände bei Besuchen humanitärer Delegationen in ein Gefängnis mitgebracht werden dürfen; er scheitert an logistischen Problemen, und er scheitert auch manchmal an meiner mangelnden Einsicht. Die geschilderte Objektivierung des Leidens durch Abstraktion erfolgt aufgrund strategischer Erwägungen. Das ist auch der Hintergrund für Paul Farmers Statement. Objektiv ist Leiden „ausdrückbar“, beschreibbar, klassifizierbar und damit auch offen für Vergleiche. Die äußerliche Untersuchung des Leidens ist die Bedingung für die Möglichkeit des Annäherns an seinen subjektiven Kern, nicht aber für das Verstehen, wie Farmer (1997, 272) mit dem Begriff „to make sense“ allerdings zu implizieren scheint. Denn Leiden – es sei denn, ein spezifischer und konkreter Anlass samt Moral der „Rache“ dominiert – wird nicht nur als unerträglich, sondern in der Regel als sinnlos empfunden. Farmer ist etwas anderes wichtiger: Die strukturelle, objektive Analyse spezifischer Leidensbedingungen. Nach Farmer sind kleinskalig-objektivierte Verhältnisse ohne allzu großen Aufwand in einen von ihm als wenig hilfreich eingeschätzten Komparatismus überführbar. Hier befindet man sich bei der zu Anfang des Kapitels erwähnten Relation zwischen „agent“ und „patient“, Machthaber und Unterlegenen. Großskaligere Analysen, die der notwendige Kontext für die in den Medien voyeuristisch aufbereitete sichtbare Gewalt sind, das also, was bei Giddens als Struktur abgehandelt wird, bleiben bei der Analyse gegenwärtiger Verhältnisse allzu oft ausgeblendet oder werden pauschal abgehandelt. Es geht nicht darum, dass Globalisierung eine Ursache für steigende wirtschaftlich-politische Unge-

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rechtigkeiten, für Armut und soziale Brüche ist, sondern das Wie müsste im Detail aufgeklärt werden, ohne auf Schlagworte zurückzugreifen. Der Augenblick lässt jedoch die direkte, praktische Abwehr von Not wichtiger erscheinen als eine Langfrist-Analyse. Paradoxerweise erfordert jedoch eine solche LangfristAnalyse von Notzuständen genau die Einsicht derjenigen, die sich, wie Farmer, in den verelendeten Verhältnissen weitaus besser auskennen als Regierende und Weltbank-BürokratInnen. Das ist es, was Farmer seit Jahren mit dem Ruf nach einer Untersuchung der „strukturellen Gewalt“ auf der Welt einklagt. Denn eine Zukunftsorientierung als reine Abwehr von akutem Leiden aus der Dringlichkeit des Moments heraus bleibt ein kurzfristiges Herumdoktern an Symptomen; dies ist das explizite Programm der meisten humanitären Organisationen wie des ICRC. Leiden nimmt eine ganz andere Position ein, wenn die Sicht auf die Vergangenheit gerichtet ist. „Das vergangene Unrecht ist geschehen und abgeschlossen. Die Erschlagenen sind wirklich erschlagen“, schrieb Max Horkheimer in einem Brief an Walter Benjamin (s. Benjamin 1982, 589). Die Feststellung war eine Replik auf die in einem Aufsatz formulierte Ansicht Benjamins (1937), die Geschichte sei „unabgeschlossen.“ Doch Horkheimers Satz kann auch Pate stehen für die gesamte westliche Historiographie: das Geschehen ist nicht zu ändern, so dass man sich dem Vergangenen in aller Gemächlichkeit und Gründlichkeit widmen kann – es gibt keine Möglichkeit der Rettung des einmal eingetretenen Unrechts mehr. Die oben als undialektisch charakterisierte Position der Leidenden in einer als Welt der Toten verstandenen Geschichte öffnet den Freiraum und die scheinbare akademische Muße, sich ausgiebig um das Verhältnis zwischen Strukturen und Handlungen zu kümmern, wie in der Diskussion um Giddens’ Strukturationstheorie erörtert; ob aus der Perspektive des Handelns – wie im Rankeschen Historismus und der Alltagsgeschichte – oder der Strukturen, wie in der Bielefelder Sozialgeschichtsschreibung. Im Gegensatz zu Farmers Analyse zukünftiger Not werden in den Vergangenheitswissenschaften zunächst die Strukturen und die diese im Handeln Reproduzierenden untersucht, dann vielleicht das Leiden der davon Betroffnen. Unbewusst steht dahinter wohl die Auffassung, dass Leidende vor allem nach einem strebten, dem Ende desselben. Ihre Erwartungshaltung an die (vergangene) Zukunft war eine negative, auf das Ende von einem Zustand ausgerichtete, nicht aber ein positiver Beitrag zur Geschichte. Die daher als fehlend eingeschätzten Rückwirkungen der an und in der Geschichte Leidenden, die ihnen unterschobene Passivität, gliedert sie aus aktiver Geschichte aus und verdammt sie damit zum zweiten Mal. Sie haben keine Konsequenzen erwirkt für das, was sich über viele Stufen bis ins Heute entwickelte. Damit entsteht auch eine weit

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tiefer reichende moralische Abstufung vergangener Subjekte. Ihre unterschiedlichen Sehnsüchte und Aspirationen sind von weitaus weniger Interesse als das, was sie praktisch umsetzen konnten. Es ist dann auch logisch, dass unter solchen Bedingungen der Erfolg mehr zählt als der Misserfolg. Diese unterschwellige Bewertung menschlichen Lebens hat denn auch in den historischen und archäologischen Wissenschaften zu einer Orientierung geführt, die • • •



Äußerliches dem Innerlichen vorzieht; Objektivität als Modus der Vergangenheitserzählungen weit höher gewichtet als das Subjektive; „die Masse der Fakten auf[bietet], um die homogene und leere Zeit auszufüllen“ (Benjamin 1992b, 152), statt zu suchen, ob nicht die Signifikanz eines ganzen Zeitalters in Einzelmomenten bewahrt sein kann; und die grundsätzlich das „Kennen“ als Verhältnis zu vergangenen Subjekten einem auch nur potenziellen „Anerkennen“ präferiert.

Dass objektive historische Diskurse nach Auschwitz eigentlich ein Problem sind, ahnt man auch in den Geschichtswissenschaften. „Man kann nach dem Holocaust die Geschichte Frankreichs auch nicht mehr so schreiben, wie man sie vorher geschrieben hat, wenn man aus der historischen Erfahrung des Holocaust die anthropologische Konsequenz zieht“, meint Jörn Rüsen (in Frei et al. 2013, 205). Das impliziert eine Umgestaltung nicht nur der Historie Frankreichs, sondern aller Epochen, wohl auch der Urgeschichte. Die grausige Erkenntnis des Holocaust ist, dass man Menschen all ihrer Würde berauben kann, die biologische Existenz von jedem wirklichen Leben separieren – die Möglichkeit kompletter Entsubjektivierung ist auch das Ende traditioneller Ethik (LaCapra 2004, 157–159). Was wäre aber die Konsequenz für eine damit notwendige „postapokalyptische“ Geschichtsschreibung? Reicht es im archäologischen Bereich aus, sich mit Ortsgenealogien abzugeben, wie weiter oben vorgeschlagen (S. 223–226)? Können wir überhaupt dem Dilemma der objektiven Wahrnehmung der Vergangenheit entkommen? Die Voraussetzung hierfür ist ein radikales Umdenken über unser Verhältnis zu vergangenen Subjekten. Wir sollten die Erschlagenen eben nicht nur als Erschlagene ansehen, sondern die Trümmer ihrer Erwartungen in jegliche historische Perspektive zentral einbeziehen. Das bedeutet eine Umwertung der Verhältnisse von Handeln, damit einhergehenden – öfter enttäuschten als realisierten – Hoffnungen und von Handlungserfolg, ob in Abhandlungen zum frühen Mittelalter oder der Bronzezeit Südost-Asiens.

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Es ist andererseits illusorisch, eine rein in vergangenen Subjekten verankerte Geschichte schreiben zu wollen. Allein um den Rahmen des Historischen zu ergründen, ist eine reflexive Distanz notwendig, die allerdings meist schon durch den zeitlichen Abstand gegeben ist. Wie kann aber eine Objektivierung geschichtlicher Tatbestände erreicht werden, ohne dass die Subjektivität derer verloren geht, die an ihnen in schmerzlicher Art teilhatten? Die schon in Kapitel 3 erörterte Differenzierung zwischen Verdinglichung und Objektivierung in Axel Honneths Werk (2014, bes. 61–68) kann zumindest als Basis für eine im jeweiligen Einzelfall zu überdenkende Lösung dieses Problems sein. Verdinglichung ist gekennzeichnet durch eine „Anerkennungsvergessenheit“, während Objektivierung die distanzierte Betrachtung Anderer beschreibt, die aber eine zugrundeliegende Anerkennungsrelation immer mit berücksichtigt. Anerkennung impliziert Anteilnahme, „wechselseitige Affiziertheit“, wie Honneth sich ausdrückt (2014, 57). Nun ist Honneths Essay aber eine sozialphilosophische Studie, die die Ko-Präsenz von Subjekten als Grundlage hat. Kann das einfach auf diachrone Verhältnisse übertragen werden? Der Schlüssel zu einer mindestens partiellen Antwort auf diese Frage liegt in Walter Benjamins (1992b) geschichtsphilosophischen Thesen. Um diese zu verstehen, muss man von der Grundvoraussetzung einer Unabgeschlossenheit der Geschichte ausgehen, was auch für jede „diachrone Anerkennungsrelation“ gilt (s.a. Herausgeber_innen-Kollektiv des FKA 2012, 177–180). Wenn Anerkennung eine Art der Anteilnahme an und Sorge um die Anderen ist, dann schließt dies eine Verantwortungsbeziehung mit ein, die allerdings im Falle der Diachronie nur einseitig von der Gegenwart aus wirken kann. „Historische Verantwortung“ (Tillmanns 2012) hat eine ähnliche Orientierung wie der Begriff des Eingedenkens bei Benjamin: sie macht „das Unabgeschlossene (Glück) zu einem Abgeschlossenen und das Abgeschlossene (das Leid) zu einem Unabgeschlossenen“ (Benjamin 1982, 589). Eine Weiterwirkung des unvorstellbaren weil maßlosen Leidens der Konzentrationslager ist in Deutschland geläufig als „Vergangenheitsbewältigung.“ Sie markiert auch eine Verantwortung, die man immer wieder im Kulturbereich und der Politik in sogenannten „Schlussstrichdebatten“ abzustellen versucht. Ganz im Gegensatz zu denen, die ein Ende der als quälend empfundenen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit propagieren, führt ein Verständnis der Geschichte als unabgeschlossene zu einer radikalen Ausweitung historischer Verantwortung: „Man kann nicht Auschwitz auf eine Analogie mit der Zernichtung der griechischen Stadtstaaten bringen als bloß graduelle Zunahme des Grauens, der gegenüber man seinen eigenen Seelenfrieden bewahrt. Wohl aber fällt von der nie zuvor erfahrenen Marter und Erniedrigung der in Viehwagen Verschleppten das tödlich-grelle Licht noch auf die fernste Vergan-

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genheit“ (Adorno 1980, 266). Dies gibt Rüsens Ansicht in konkreter und drastischer Form wieder. Das von der Unabgeschlossenheit dominierte, „eingedenkende“ Verhältnis zur Vergangenheit hat auch die Auflösung traditionell-linearer Zeitlichkeit zur Folge, wie schon mehrmals vermerkt. Wie kann das konkret aussehen? Tillmanns (2012, 94) illustriert dies anhand einer Szene in Jonathan Foers Roman Alles ist erleuchtet (Foer 2005, 77), in der es um einen Ring geht. Eine alte Frau, die Nazi-Massaker in der Ukraine überlebt hat und diesen Ring weitergibt, meint, er sei nicht für den Beschenkten da (den Protagonisten des Romans), sondern „du existierst für den Ring. Der Ring ist nicht für den Fall, dass es Dich gibt. Du bist für den Fall, dass es den Ring gibt.“109 Es handelt sich hier um eine komplexe Umwendung traditioneller Logik, die über die von Améry geforderte zeitliche Umkehr hinausgeht, da sie auch Ursache und Wirkung, Suchen und Gesucht werden vertauscht. Wie wäre es, wenn wir einmal den nicht-wissenschaftlichen Standpunkt einnähmen und uns vorstellten, die in Tempelhof gefundenen Ringe (Abb. 4.14; S. 239) hätten nur darauf gewartet, wieder entdeckt zu werden, um die mit ihnen ehemals verbundenen Menschen wieder in Erinnerung zu rufen? Gegenstand und FinderIn stehen in einem ko-präsenten Verhältnis, und das Aufeinandertreffen scheint wohl der menschlichen (Ausgrabungs-)Aktivität geschuldet. Doch in den Dingen, die ans Licht treten, kommt auch die in ihnen gestaute komplexe Vernetzung mit anderen Menschen zum Vorschein. Statt einer „Kette von Begebenheiten“ sieht ein Geschichtsverhältnis der Verantwortung eine „Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft“ (Benjamin 1992b, 146). Das Vergangene wird zu einem Schrotthaufen an Ungemach, Not und Unglück, der sich eben nicht in eine als distanziert imaginierte chronologische Ferne zieht, sondern dessen Fernstes noch direkt vor uns liegt, im Becken zu waschender Ausgrabungsgegenstände oder im prall gefüllten Fundregal. Der Zeitraffer ist ein notwendiger Mechanismus, er ist die Voraussetzung dafür, dass wir von einem Habitus der historischen Verdinglichung zu einem der Objektivierung übergehen können. Wenn wir je in der Lage sind, ein Anerkennensverhältnis zu vergangenen Subjekten aufzubauen, dann werden Unglück und Leiden nicht, wie Horkheimer schrieb, „durch den Tod besiegelt“ sein, sondern der Aufschrei der Ungerechtigkeit wird noch aus dem Paläolithikum bis in die Jetztzeit wiederhallen. Was Benjamin einfordert, ist schlicht eine Einstellung zur Geschichte, wie sie für die Nazi-Vergangenheit zumindest ansatzweise besteht. Keine Einstel-

109 Die Übersetzung kann ein Wortspiel nicht wiedergeben: „in case“, übersetzt als „für den Fall“, soll auch „in (einer) Schachtel“ implizieren.

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lung des Stolzes auf die Erfolge der Vorfahren, besonders aber keine Ableitung der kollektiven Identität aus einer Fortschrittsgeschichte, die jede Anteilnahme an den Verlierern dieses Prozesses zu vergessen bereit ist. Benjamins geschichtsphilosophische Thesen zielen in aller Schärfe gegen die Langzeitgeschichte und die Idee zu Felde, dass Neolithisierung, Verstädterung und industrielle Revolution eine Art Besserung der Menschheit hervorgebracht hätten, wie dies in Jared Diamonds (1998) und Ian Morris’ (2011) Werken anklingt. Diamonds und Morris’ Geschichten sind von einer kompletten Verdinglichung gekennzeichnet, die nicht den Hauch einer Anteilnahme zeigt. Damit bedienen sie allerdings auch die traditionelle Erwartungshaltung eines auf Positivismus eingestellten Publikums. Benjamin meint, die „geknechteten Vorfahren“ seien eine bessere Anleitung für einen Weg in die Zukunft als das „Ideal der befreiten Enkel“ (Benjamin 1992b, 149). Statt einer mehr oder minder konkreten Utopie geht es hier um Vergangenheit als Dystopie, deren Negation als „Erlösung“ erscheinen mag. Auch die Position der Forschenden wird in diesem kurzen Text mehrmals indirekt angesprochen. Geschichte soll geschrieben werden, „wie sie im Augenblick der Gefahr aufblitzt“ (Benjamin 1992b, 144). Geschichte ist selbst als in Gefahr zu sehen, woraus sich für diejenigen, die sich mit ihr beschäftigen, ein Verhältnis ähnlich dem der von Farmer thematisierten humanitären Aktion ergibt: Notzeiten produzieren Zeitnot. Die Gefahr für die Geschichte ist die der Aneignung durch die „herrschende Klasse“, denn „auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein“ (Benjamin 1992b, 144). Der Streit um die Geschichte des Tempelhofer Feldes, auf den ich im nächsten Kapitel zurückkomme, macht auf die daran beteiligte Bürgerinitiative den Eindruck einer Gefahr, die im Vergessenmachen gerade der Nazi-Geschichte besteht. Ähnlich, wenn nicht noch schärfer ausgeprägt ist dieses Bewusstsein im Bereich der postkolonialen Geschichtsschreibung, in der Dringlichkeit als zentraler Aspekt erscheint (Farred 2002). Für historische Episoden mit einem größeren temporalen Abstand mag der Eindruck der Gefahr gänzlich fehlen. Er ist herzustellen. Ungerechtigkeit im alten Griechenland, in Assyrien und bei den Olmeken zu identifizieren, darf nicht darin enden, sie als „historische Tatsache“ abzutun. Sie schreit danach, wie Brecht plastisch ausmalte, sich auch Cäsars Koch und die Maurer des siebentorigen Theben vorzustellen – nicht nur im Sinne der Ungerechtigkeit, sondern gerade der Anteilnahme, des Anerkennens dieser Menschen als Subjekte. Für sie ist „Erlösung“ nicht zu haben (s. LaCapra 2004, 144–147), ebenso wenig wie für die im Holocaust Vergasten. Doch wie kommt es, dass man sich die brutale Geschichte der assyrischen Feldzüge nicht als eine der Täter und Opfer vorstellen

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will? Warum fällt es so schwer, bei chronologisch weit zurückliegenden Epochen mit messerscharfen Differenzen zwischen Aggressoren und Leidtragenden aus der Verdinglichungsfalle herauszukommen? Statt eines stilistisch und kunstgeschichtlich-thematisch einzuordnenden Reliefs eine humanitäre Katastrophe zu sehen? Nur weil dies nicht dem assyrischen Diskurs entspricht, der bekanntermaßen bezüglich der Feinde Assyriens wenig Rücksicht an den Tag legte (Bahrani 2008)? Beispielsweise analysiert Fuchs die Gewaltbereitschaft der Assyrer durchaus angemessen und stellt sie als gnadenlos dar, vermeintlich weit grausamer als wir es mit unseren modernen Empfindlichkeiten sind. Erstaunlich ist aber, dass er den Terror ausschließlich aus Sicht der heutigen historiographischen Tradition sowie der Assyrer betrachtet – die Perspektive der damaligen Opfer bleibt ein blinder Fleck in seiner ansonsten detaillierten Diskussion (Fuchs 2009, bes. 115). Benjamin handelt den Gesichtspunkt der Forschung in der bekannten 9. These ab, die das Bild des „Engels der Geschichte“ von Paul Klee zum Thema hat. Dieser Engel, so Benjamin, steht mit dem Rücken zur Zukunft. Die Vergangenheitsbetrachtung ist in diesem Sinne kein Blick zurück, sondern im Gegenteil ein Blick nach vorn auf den erwähnten Trümmerberg des menschlichen Daseins, auf das vergangene Unerfüllte, auf zerbrochene Ziele, Wünsche, Träume, auf vergangene Zukunft. Hier stößt man an die Grenzen des historischen Diskurses, denn sicher unterliegt den Vorstellungen Benjamins ein stark theologischer Impuls, der vor allem im Begriff der „Erlösung“ zum Ausdruck kommt und von Benjamin (1982, 589) selbst ausdrücklich erwähnt wird: „Im Eingedenken machen wir eine Erfahrung, die uns verbietet, die Geschichte grundsätzlich atheologisch zu begreifen, so wenig wir sie in unmittelbar theologischen Begriffen zu schreiben versuchen dürfen.“ Der Grund für diesen Exkurs zu einigen Zügen in Walter Benjamins geschichtsphilosophischen Thesen war die Frage, ob eine „diachrone Anerkennungsrelation“, wie von Honneth in ko-präsenten Beziehungen beschrieben, überhaupt möglich ist. Ich komme am Schluss dieses Buchs nochmals hierauf zurück. Benjamins Antwort jedenfalls könnte lauten: sie ist nicht möglich, sondern notwendig. Sie ist eine Voraussetzung, um eine objektivierte Relation zwischen ArchäologIn oder HistorikerIn und einer adäquaten Behandlung der Vergangenheit zu etablieren, die nicht, wie in der traditionellen Historiographie fast die Regel, zur schlichten Verdinglichung mutiert. Sogar die historische Auseinandersetzung mit der Nazi-Zeit und ihren Verbrechen kann dann komparatistisch vorgehen, wenn eine Dimension der Anteilnahme an den Verglichenen in sie eingebunden wird. Dafür historische Erzählformen zu finden, ist eine Aufgabe, für die es mehr als nur eine Lösung geben wird.

6. Gegenwärtige Vergangenheiten

Wir leben in einer Welt der Raum-Zeit-Kompression. Seit dem 19. Jh. haben technologische Entwicklungen im Verkehrswesen unsere Fortbewegungsgeschwindigkeit rasant erhöht (Harvey 1990, 284–307). Das Internet hat diesen Gesamtprozess nochmals potenziert. Menschen „reden“ miteinander über Kontinente hinweg, so dass physischer Raum zumindest in der Wahrnehmung implodiert. Erst recht hat sich das Zeitgefühl aufgelöst. Wo eine in der Moderne erst entstandene lineare Zeitauffassung zu hochfliegenden Ideen einer Gegenwart werdenden Zukunft reizte, wo Revolutionen Hoffnung auf eine bessere Welt boten, wird die erahnbare Zukunft heute entweder zum Dystopischen oder zur absoluten Synchronie einer unausweichlichen Gegenwart. Ja, die Zeit selbst ist zur „Dyschronie“ geworden, zerstäubt und schwirrend, wie Byung-Chul Han das nennt (2009, 7–8, 35–40). Die Lebensverhältnisse sind zunehmend geprägt von einer Kopplung kapitalistischer Beschleunigung und der hierfür notwendigen technologischen Entwicklung von Akzelerationsmaschinen wie Computern, Nanotechnologie, 3D Scanning und anderem. Der Technokapitalismus verweigert das Verweilen, den Halt im doppelten Wortsinne. Die Beschleunigung selbst muss noch Runde um Runde akzeleriert werden. Die Folgen dieses Wandels sind gravierend und wurden von Günther Anders als tief sitzende „prometheische Scham“ des Menschen vor seinen eigenen technologischen Erfindungen bezeichnet (Anders 1956). Wir können nicht mithalten mit der selbst kreierten Maschinen- und Elektrowelt. Ein immer stärker sichtbarer Effekt dieser Diskrepanz zwischen Mensch und Maschine ist ein Mangel an Reflexion im Wissenschaftsbereich selbst. Denn auch das forschende Nachdenken wird zunehmend an kurzatmigen „Projekten“ ausgerichtet. Schon die Sprache ist verräterisch: dem Projekt fehlt jede Imagination des Abschließens, des Zurückblickens auf Getanes, der Kontemplation als Vorbedingung eines gefestigten Standpunktes in einer schnellen Welt .

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In solchen Zeiten verwundert eine gesteigerte Zukunftsangst und Unsicherheit, eine Hinwendung zu religiös-reaktionären Ideologien, „Populismus“ und starren Fundamentalismen nicht. Weniger dramatische Folgen beobachten wir im starken Interesse am Vergangenen als einer Welt, die stabil und beherrschbar erscheint. Schließlich kann sie sich nach gängigen Vorstellungen nicht mehr ändern, sie ist abgelaufen. So stellen wir in den 1990er Jahren für die Geisteswissenschaften global einen regelrechten „Erinnerungsboom“ fest (Huyssen 1995). Damit einher geht in der Archäologie, und zwar ebenfalls weltweit, eine immer stärker werdende Abkehr von den historischen Prozessen selbst, die zu bestimmten Zeiten vor sich gegangen sein mögen. Stattdessen finden wir überall die Hingabe an, wenn nicht Begeisterung für die Pflege von deren Überresten. „Heritage management“, das Auffinden, Sichtbarmachen und der Erhalt von materiellen Spuren haben ungeahnte Bedeutung angenommen (Meskell 2015). Denn Dinge, erst recht im unbrauchbaren Zustand, tragen eine Stetigkeit in sich, die für die im übersteigerten Zeitwirbel Lebenden eine Projektionsfläche der Stabilität bietet. „Contrary to actions, performances, and speech, things last“ (Olsen 2010, 121; Hervorhebung im Orig.). Die im Dinglichen besonders ausgeprägte Vergangenheitsobsession geht einher mit dem Vertrauensverlust in eine bessere Zukunft (Traverso 2014, 222–227). Gleichzeitig führt die Virtualisierung noch des Gedächtnisses als Internet-basiertes Cybergedächtnis mit einer unübersehbaren und oftmals auch ohne kritisches Vorwissen schwer überprüfbaren Zuverlässigkeit zu einer weiteren, in ihren Konsequenzen offenen Entwicklung. Diese rasch sich verstärkende Medialisierung der Erinnerung durch ihre BildschirmExistenz macht im Gegenzug die Authentizität „realer“ Orte und Gegenstände umso attraktiver (Soja und Blake 2002). Wie sich dies langfristig auf eine in letzter Zeit fast weltweit wieder stärker hervortretende Nationalisierung der Erinnerung auswirken wird, lässt sich noch nicht absehen. Diese Einschnitte in soziale Befindlichkeiten haben je regionale, nationale und lokale Ausprägungen. Im folgenden Kapitel gehe ich darauf ein, wie weit die Beschäftigung mit der Nazi-Vergangenheit in der „Berliner Republik“ von solchen Beschleunigungen getrieben ist. Vermehrt brechen Dispute auf. Einer war die erwähnte Wehrmachtssaustellung (s.S. 63–64). Auch materielle Spuren, Gedenkstätten und Mahnmale bieten Anlass zu öffentlichen Debatten. In eine um Wissensbestände, Verstehen und Nacherleben bemühte Mnemohistorie mischen sich zudem immer Machtverhältnisse. Diese komplexe Lage der Erinnerungsdiskurse erörtere ich zunächst in ihrer zeitlichen Dimension, und darauf folgend in ihrer räumlichen. In Anschluss an Cornelia Siebecks Auseinandersetzung mit Theorien zum kollektiven Gedächtnis analysiere ich die konkreten Diskurse als Erinnerungshegemonien. Einem gleichberechtigen Diskurs, der für

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alle Teilnehmenden etwa im Sinne einer Habermas’schen „idealen Sprechsituation“ gelten könnte, sind – wie sich an konkreten Beispielen zeigt – sehr enge Grenzen gesetzt. Das liegt einerseits an ungleichen Ausgangspositionen, andererseits aber auch am Zwang der Verhältnisse zum Argumentieren mit Fakten sowie dem Unterdrücken von Selbstkritik. Dreht sich der Streit in der zeitlichen Dimension der Erinnerung meist um ganze Epochen im Verhältnis zueinander, so sind Dispute um das Räumliche vor allem von Argumenten für und wider eine Zentralisierung des Gedenkens geprägt. In diesem komplexen Feld geht es um Authentizität und die Aura der Orte, um die Vermarktungstendenzen und die Möglichkeit, Gedenken als eine Art des Wahrnehmens zu gestalten, die sich an die mémoire involontaire Prousts anlehnt. Ein zweiter Teil des Kapitels wendet sich konkreten Praktiken im Feld der Geschichte und Erinnerung an die Nazi-Zeit zu. Diesen Komplex handle ich in vier Einzelpunkten ab, wobei ich zunächst von der „Unbehagen“-Debatte um die Erinnerungskultur der letzten Jahre ausgehe und diese in den Rahmen von Fragen zur schon angesprochenen Positionalität stelle (s.S. 25). In einem weiteren Abschnitt beschäftige ich mich mit diskursiven Praktiken, mit Sprache und unserem Verhältnis zu Ausdrücken und Begriffen, die wir in Äußerungen zum „Dritten Reich“ verwenden. „Praktische Praxis“ (im Unterschied zu diskursiver Praxis) bezieht sich konkret auf Forschungs- und Rettungsgrabungen, aber auch die in Gedenkstätten in ehemaligen Konzentrationslagern veranstalteten Werkstattprojekte, bei denen Jugendliche Ausgrabungen durchführen. In diesem Zusammenhang gehe ich auf die Erfahrungen der Studierenden als Mitarbeitende auf der Ausgrabung in Tempelhof ein. Die zunehmende Medialisierung des Erinnerns führt zwar zu einem gesteigerten Interesse an authentischen Orten und Dingen, erfordert aber dennoch ebenso eine Einbeziehung neuer Medien in die Erinnerungspraktiken, worauf ich zu Ende dieses Kapitels zu sprechen komme.

Z EITLICHE S CHICHTUNGEN „Archäologie und Erinnerungskultur“ überschreibt Claudia Theune den letzten Abschnitt ihrer Synthese zur Archäologie an Tatorten des 20. Jahrhunderts (2014, 96–100). Sie erläutert, wie eine Archäologie der Moderne dazu beitragen kann, dass „identitätsstiftende Erinnerungsorte zielgerichtet in unserem Gedächtnis erhalten bleiben“ (Theune 2014, 98). Hiernach soll auch die Sichtbarmachung von Lagern und anderen Ausgrenzungsorten des Nationalsozialismus einen Beitrag zur (Re-)Produktion der Befindlichkeiten und des Selbstverständnisses einer Kollektivität leisten. Die Komplikationen eines solchen Vorschlags

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zeigen sich im Kontrast mit einem öffentlichen Diskurs, der ein Bild von Kulturerbe als grundsätzlich positiv und erbaulich produziert. Dass nicht nur Denk-, sondern auch Mahnmale, die zudem an den von der imaginierten Kollektivität ausgeübten Terror erinnern, Teil des Kulturerbes sein können, ist eine relativ neue Erkenntnis (Meskell 2002). Aus dem Zusammenhang wird klar, dass die Identitäten, auf die Theune abzielt, nationale sind, wenn nicht gar europäische (Theune 2014, 12, 97–98). Meine eigenen Erfahrungen mit der amtlichen Unterstützung (Land Berlin) für die Grabungen auf dem Tempelhofer Feld bestätigen zunächst auf ganz praktische Weise die Existenz und Wirksamkeit staatlicher Institutionen in diesem Feld. Doch bevor man sich die Rhetorik der Erinnerungskultur aneignet, lohnt es, einen kritischen Blick auf die Geschichte derselben zu werfen. Allein der Begriff „Erinnerungskultur“ ist im Bereich der Nazi-Vergangenheit relativ neu. Traditionell wird dieser Diskurs unter Vergangenheitsbewältigung verbucht (König et al. 1998; Fischer und Lorenz 2007; Reichel 2007). Schon dieses Wort wird von Günter Anders als unpassend kritisiert, wenn er schreibt, dass „der Terminus [ungeprüft] unterstellt [...], dass das Erlebte erst einmal eine Wunde geschlagen habe, ein ‚Trauma‘, das dann – dies gilt als das zweite Stadium – ‚verdrängt‘ worden sei; und in der ‚Bewältigung‘, im Akt der Aufhebung der Verdrängung sieht man, mindestens als Desiderat, das dritte Stadium.“ (Anders 1979, 188; Hervorhebung im Orig.)

Das Trauma aber existiere bei den betreffenden Personen gar nicht. „Nicht ‚Heilung‘ heißt die Aufgabe, sondern ‚Wunde‘“ (Anders 1979, 189). Das Wort „Erinnerungskultur“ zeigt eine Verschiebung des älteren historisch-mnemonischen Diskurses an, die auf die Zeit der Wiedervereinigung der beiden Deutschland datiert werden kann (Assmann 2013, 10–11). Es signalisiert nicht etwa das von Günther Anders geforderte Schlagen der seelischen Wunde, eines Verantwortungsbewusstseins lange nach dem verbrecherischen Akt, sondern vielmehr die endgültige Loslösung von ethisch negativ aufgeladenen Erinnerungsprozessen. Genau an diesem Punkt sehen wir dann auch eine eigene Geschichte der diachronen Relation zwischen fortschreitender Gegenwart und Nazi-Zeit entstehen (Bergmann 1998, 406), deren Linien sich an wandelnden Begrifflichkeiten festmachen lassen. So klassifizierte Norbert Frei (2009, 40–42) unterschiedliche Nachkriegsphasen des Umgangs mit dem Nationalsozialismus in der Bundesrepublik, wobei er nach einer „Säuberungs“- und einer „Vergangenheitspolitik“Phase eine Zeit der „Bewältigung“ und seit den 1980er Jahren eine der „Vergan-

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genheitsbewahrung“ diagnostiziert. Zu letzterer gehört vor allem auch das Entstehen der Geschichtswerkstätten in den 1980er Jahren, die eine engagierte Forschung zur Alltagsgeschichte oft außerhalb der akademischen Institutionen betrieben. Auch die Erkenntnis, dass ZeitzeugInnen ihre eigene Perspektive auf das Geschehene beizutragen haben – und die filmische Dokumentation solcher Interviews – erweiterten damals die Perspektiven beträchtlich (s. Kapitel 3). In der „alten Bundesrepublik“ hatte man sich seit den 1970er Jahren mühsam von einer Haltung des Be- und Verschweigens der Nazi-Zeit gelöst. Nach dem Krieg war die öffentliche Wahrnehmung von Opfern des Nationalsozialismus entweder auf die umgekommenen Soldaten ausgerichtet gewesen oder auf die im Zuge des 20. Juli 1944 Ermordeten. Letztere waren die prototypischen „Helden“ aus der Nazi-Zeit: sie waren „mit Grund“ gestorben, denn sie hatten ja für die Ablösung einer ex post facto verdammenswerten Regierung gekämpft. Gleichzeitig war dies ein Narrativ, in dem Macht und Widerstand im NS-System sich auf den kleinen Kreis einer politischen Elite beschränkten. Alle anderen waren wie üblich nur BefehlsempfängerInnen gewesen und somit nicht etwa schuldlos, sondern schuldunfähig. Diese Attitüde, einprägsam vorgeführt von Adolf Eichmann im Jerusalemer Prozess, konnte Massenmord in „Tötung auf Befehl“ verwandeln (SS-Sturmbannführer Werner Hersmann, zit. in Müller 2009, 213). Solche Auffassungen brachen erst langsam nach der Ausstrahlung des Films Holocaust im deutschen Fernsehen im Jahre 1979 zusammen (Anders 1979, 185–195). Die Untersuchung materieller Kultur, und besonders die Ausgrabung verschütteter Lager des „Dritten Reichs“ spielte interessanterweise bis 1989 fast keine Rolle, sieht man von ganz wenigen Ausnahmen, etwa am Reichssicherheitshauptamt 1985 im damaligen West-Berlin oder dem KZ Witten-Annen ab (Rürup 1987, 206–215; Bernbeck und Pollock 2007; Isenberg 1995). Beide waren zudem nicht offiziell angeregte Grabungen, sondern durch den Verein Aktives Museum – Faschismus und Widerstand in Berlin e.V. bzw. den Besuch einer Wittener Schulklasse im KZ Dachau angeregte Unternehmungen. Die Entdeckung eines „SS-Fahrerbunkers“ im Jahre 1990 nahe der ehemaligen Neuen Reichskanzlei im Rahmen der Vorbereitungen des Pink Floyd-Konzerts The Wall in Berlins Zentrum weckte weiteres Interesse und führte zu einer langen Kontroverse, ob man die dort entdeckten kitschigen SS-Wandmalereien zerstören, ausstellen oder unzugänglich konservieren solle (Neumayer 2005; Rollmann 2010). Damals befand Wolfgang Benz – übrigens gleichzeitig mit den Planungen für eine Dauerausstellung des auf dem Gelände des Reichssicherheitshauptamts Gefundenen – „um die Banalität des Bösen zu zeigen, [müsse] man nicht unter die Erde steigen“ (Der Spiegel 1992). Dies allein zeigt, dass das Verständ-

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nis für den Wert von Bodendenkmalen jeder Art aus dem 20. Jahrhundert, und besonders aus der Nazi-Zeit, in der Bundesrepublik nicht weit entwickelt war. In der ehemaligen DDR war der Nationalsozialismus – bzw. der Faschismus, wie er dort hieß – radikal anders in den gesellschaftlichen Diskurs integriert. Nach offizieller Staatsideologie befanden sich die Faschisten im Westen (was für die Eliten in der Regel stimmte). Die DDR verstand sich als antifaschistischer Staat, so dass auch die Mauer selbst in absurder Weise als „antifaschistischer Schutzwall“ deklariert werden konnte (Münkler 2002). Die von den Nazis Umgebrachten wurden als Helden verehrt, wobei man aber eine scharfe Auswahl traf und besonders die umgekommenen kommunistischen Parteimitglieder verehrte. Einerseits bestand die staatliche Elite der DDR tatsächlich zum großen Teil aus ehemaligen Widerstandskämpfern, andererseits wurde das staatliche Gedenken aufgrund der damit verbundenen moralischen Überheblichkeit rasch zu einem toten Ritual um die Toten. Denn auch in der DDR war die mythologisierte Erinnerung an den kommunistischen Widerstand ein Neuanfang aus dem Vergessen, bestand doch die Masse der Bevölkerung aus denselben antisemitischen NSDAP-Mitgliedern und ehemals Nazi-hörigen Mitläufern wie in der Bundesrepublik.110 Der Staat und die SED trugen enorm zur kollektiven Verdrängung bei, denn qua Zugehörigkeit zur DDR war man nach dem offiziellen Diskurs immer schon exkulpiert. Eine Auseinandersetzung mit eigenen Verwicklungen, ganz zu schweigen von Mittäterschaft im Nazi-System war nicht notwendig. Die kommunistischen Opfer wurden als Nationalhelden gefeiert und die staatliche Forschung zum „Faschismus" war gleichzeitig Grundlage des antikapitalistischen Diskurses (Ahbe 2007, 12). Entsprechend verschwand das fragende Interesse am Schicksal von Menschen und Orten. Im Frauen-KZ in Ravensbrück gab man sich beispielsweise mit einer Gedenkstätte am Ufer des dortigen Schwedtsees zufrieden (Leo 2008, 75). Die Größe des Lagers ebenso wie die Existenz eines Siemens-Zwangsarbeitslagers und des angrenzenden Mädchen-KZ Uckermark blieben dadurch verborgen. 111 Zu den unbeabsichtigten Folgen dieser zum Staatsritual verkommenen Vergangenheitspolitik gehört auch der in den 1980er Jahren sich entwickelnde DDR-Rechtsextremismus unter Ju-

110 Zu dieser Art des Vergessens bemerkt der französische Ethnologe Marc Augé (2001, 78), „son ambition est de retrouver le futur en oubliant le passé, de créer les conditions d’une nouvelle naissance.“ Wer seine Widersacher vernichtet und vertrieben hat, tut sich mit diesem Vergessen in der Regel einfach. 111 Das Gelände war zunächst teilweise Sperrgebiet, weil durch sowjetisches Militär genutzt.

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gendlichen, dessen Ausmaß nach der Wiedervereinigung explodierte (Döring 2008, 99–102). Die Gedenkdiskurse in den beiden Deutschland führten in den 1980er Jahren also zu gegenläufigen Tendenzen. Sklerotisierung in der DDR, Entstehung einer aktivistischen Geschichtswerkstattsbewegung von unten in der BRD. Das verschärfte nur die nach der Wiedervereinigung zutage tretenden Probleme mit großen staatlichen Gedenkstätten der ehemaligen DDR: wie sollte mit den sowjetischen Speziallagern in den ehemaligen KZs wie Buchenwald und Sachsenhausen umgegangen werden? Waren diese Opfer des stalinistischen Systems nicht teils vorher selbst an Einlieferungen in Konzentrationslager beteiligt gewesen? Und wie war dieses „doppelte Gedenken“ gegeneinander abzuwägen? Die Komplexität des Themas führte nicht nur zu erneuten intensiven Bemühungen um historische Genauigkeit, sondern diese Rückbesinnung auf historische Forschung entsprang geradezu den politischen Funktionalisierungsversuchen einiger sich als „Sieger“ der Wiedervereinigung verstehender PolitikerInnen, die die Gelegenheit nutzen wollten, nach dem „Historikerstreit“ doch noch Nazi-System und Stalinismus gleichzusetzen. Dies führte zu Auseinandersetzungen mit NSOpferverbänden, die teils bis in die Gegenwart anhalten.112 Da nunmehr, nach dem Bundestagsbeschluss für die Errichtung eines zentralen Mahnmals für die jüdischen Opfer der Nazis, danach für die Homosexuellen und die Roma und Sinti auch einem zentralen Mahnmal für die Opfer des Kommunismus zugestimmt wurde (Hulverscheidt 2015), lässt sich absehen, dass – im Politikersprech – jede akzeptable „Opfergruppe“ des 20. Jhs. im Zentrum Berlins ihr eigenes Mahnmal bekommt. Nicht dazugehören dürften SSVerbände; vor allem aber wird man zusehen, ob nach einem Denkmal für die Opfer des Kommunismus eines für die in Deutschland zahlreichen kommunistischen Opfer erstellt wird, eingedenk des Prinzips der „doppelten Vergangenheit“, welchem damit auch auf anderem Felde als bei den sowjetischen Speziallagern stattgegeben würde. Derzeit und seit 1989 gilt in Bezug auf die von den Nazis verfolgten und getöteten KommunistInnen eher Walter Benjamins Satz, dass „auch die Toten vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher“ sind (Benjamin 1992, 144). Die sich rasch entwickelnde Berliner zentrale Gedenkstättenlandschaft beinhaltet auch die wenig bedachte Konsequenz einer Wiederaufnahme der nationalsozialistischen Kategorisierungen von ganzen Gesellschaftsgruppen, ein Phänomen, zu dem unbeabsichtigt auch manche Opferverbände beitragen. Zur dahinterstehenden strukturellen Gewalt des Staates bemerkt Michael Jackson (2002, 78):

112 Hierzu gehört etwa der Streit um „Fort Zinna“ in Torgau (Dieckmann 2010).

330 | M ATERIELLE S PUREN DES NATIONALSOZIALISTISCHEN T ERRORS „[For] organized violence, [...] its target is constructed socially not as an individual but as a category. State violence effectively extinguishes the person as an individual subject through a process of iconic essentialising that transforms him or her into a mere instance of a more general case: a species, a specimen, a pathology, a class.“

Auch post mortem und als kategorisierende Denkmalsform, muss man hinzufügen. In diesem von starken Spannungen und Konflikten gekennzeichneten Feld politisierten Gedenkens erwies sich der Begriff der Erinnerungskultur als ausgesprochen zweckmäßig, deutete er doch durch die Worthälfte „-kultur“ eine Vielfalt gleichartig nebeneinanderstehender Interessen an, womit er dem polemischen, von Machtkämpfen durchzogenen Umgang mit der Vergangenheit zu einem quasi-demokratischen Anstrich verhalf. Ähnlich angelegt ist Rothbergs Konzept einer „multidirektionalen Erinnerung“ (2009), die einen allseits toleranten und vielseitigen Erinnerungsdiskurs auf transkultureller Ebene propagiert, um der Hierarchisierung unterschiedlicher Genozide, des Holocaust und der Versklavungen zu entkommen (s.a. Craps und Rothberg 2011). Wenn dieser Ansatz allerdings von der internationalen auf eine nationale Ebene heruntergebrochen wird, entsteht im Falle des Nationalsozialismus wiederum das Risiko einer Einebnung von Täter-Opfer-Differenzen, indem der Diskurs dann auch die in Sowjetlagern inhaftierten Nazis mit ihren ehemaligen Opfern auf ein Niveau stellen kann. Auf wissenschaftlicher Seite dominieren im deutschen Sprachraum Jan und Aleida Assmann den Erinnerungsdiskurs, wobei ihr Einfluss weit in die öffentliche Meinung reicht. Im Folgenden werde ich kurz zwei Probleme einer „demokratischen Erinnerungskultur“ diskutieren, wie sie von den Assmanns konzeptualisiert wird. Dabei handelt es sich einerseits um die Reichweite von Erinnerungskulturen und andererseits um ihre Speicherfähigkeit. Jan Assmann traf eine einflussreiche Unterscheidung zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis. Bis zu etwa 90 Jahren zurück in die Vergangenheit sei Gedächtnis an „oral history“ geknüpft und damit kommunikativ verfügbar, während ältere Zeiten als schon abgesunkenes „kulturelles“ Gedächtnis zu konzeptualisiert seien. Dies würde einen mechanisch ablaufenden Übergang der Nazi-Zeit ins kulturelle Gedächtnis bedeuten. Ich will dies nicht weiter verfolgen, denn wichtiger scheinen mir seine Bemerkungen zur Erinnerungskultur aufgrund deren sehr breiter Definition, wofür er auf Halbwachs’ Ideen kollektiven Gedächtnisses zurückgreift. Dies schließt auch Gruppenidentität mit ein: „Erinnerungskultur hat es mit einem ‚Gedächtnis, das Gemeinschaft stiftet‘, zu tun“ (J. Assmann 1992, 30). Wes wir uns erinnern, so die These, macht uns zu dem, was wir sind (oder besser: zu sein imaginieren). Das „Wir“ sind auch bei

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Aleida und Jan Assmann dann oft ganze Gesellschaften, Nationen oder „Hochkulturen.“113 Eine noch größere soziale, politische und geographische Skala manifestiert sich in Bemühungen der Europäischen Union, ein kollektives Gedächtnis durch Fördergelder für Ausstellungen aus der Taufe zu heben. Hatte man dazu das Paläolithikum, die Bronzezeit, die Kelten und andere (prä-)historische Epochen bemüht, so sind außerdem etliche Versuche zu finden, die das blutige 20. Jh. als Rahmen eines gemeinsamen negativen Kulturerbes propagieren. Was „wir“ als Bevölkerung Europas gemeinsam haben, ist die vergangene Zwietracht. Claus Leggewie und Anne Lang konstruieren eine kollektive NegativErinnerung für Europa, die sie um den Holocaust als das zentrale Ereignis ansiedeln. Wie äußere Ringe legen sich der GULag, ethnische Säuberungen, Kriege und Krisen, Kolonialverbrechen und Migrationen um den traumatischen Kern (Leggewie 2011). Hier wird weit über den Rahmen eines Nationalgedächtnisses hinaus eine Identität konstruiert und propagiert, die Leiden nicht nur vergleicht, sondern dezidiert auf eine Skala der Unerträglichkeit setzt, deren innerstes Unnahbares der Holocaust ist. Der abstrakt-soziologische, komparatistische Blick wird weder den gesellschaftlichen Realitäten gerecht noch ist er, wie schon gezeigt, ethisch vertretbar (s.S. 256–260). Sicher könnte ein Verständnis von Kulturerbe als „negativ“ den landläufigen Chauvinismus einschränken. Insofern war dieser Versuch – Leggewie und Langs Buch wurde im Jahre 2011 publiziert – gut gemeint, hat sich allerdings mittlerweile als unhaltbar erwiesen. Migration und gewollte ethnische „Reinheit“ sind gerade die Triebkräfte, die derzeit die Europäische Union am allerersten zerlegen werden. „Europa“, was auch immer dies über einen geographischen Rahmen hinaus ist oder in Zukunft sein mag, scheint aus seiner Gewaltgeschichte nicht lernen zu wollen. Und die aufbrechenden Konflikte, die im Jahr 2015 wieder errichteten Grenzzäune und bewachten Schlagbäume sind zudem ein Zeichen für wiedererstehendes Pauschaldenken im nationalen Rahmen, drastisch bestätigt durch den bald folgenden Brexit. Doch solche Kritik bleibt vordergründig. Wischermann (2002) argumentiert zurecht, dass die Konstruktion der Erinnerungskultur als „kulturelles Großgedächtnis“ den heutigen zerklüfteten gesellschaftlichen Bedingungen der Postmoderne nicht mehr entspricht. Wir leben in Migrationsgesellschaften, der politische Diskurs zeichnet sich jedoch durch eine bemerkenswerte Verleugnung dieser Tatsache aus. Dies hat auch mit theoretischen Ansätzen zur Erinnerungskultur zu tun, scheint es doch so, als ob der historische „Normalfall“ ethnisch

113 So der Untertitel von Jan Assmanns Buch (1992).

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unvermischte Gesellschaften und Kulturen waren und sind. Die Archäologie hat sich im 20. Jahrhundert zu einem massiven ideologischen Fundament solcher Ansichten entwickelt, indem sie Kulturen als geographisch definierte Gefüge mit interner Einheitlichkeit behandelte und dies bis heute vielfach fortsetzt. Das zeigt sich auch in Jan Assmanns Behauptung (1992, 30), Erinnerungskulturen als gemeinschaftsstiftende Ideen seien ein „universales Phänomen.“ Niethammer (2000, 342–366) liefert eine Detailkritik der präsumptiven Einheitlichkeit der Halbwachs-Assmann’schen Erinnerungskonzepte. Der Mangel an Differenzierung bei Assmann – Wandlungen im interkulturellen Bereich sowie besonders die kulturanthropologisch dicht belegte aktive Konstruktion von Identitäten durch „erfundene Traditionen“ (Hobsbawm und Ranger 1992) – mag gerade der Tatsache geschuldet sein, dass er sich als Ägyptologe mit Gesellschaften befasst, die wir nur in Umrissen und nicht in ihrer ganzen Vielfalt kennen. In der wissenschaftlichen Praxis der Ägyptologie wird dies verschärft durch das starke Interesse an der damaligen Elite zu Lasten der unteren Klassen, die es zweifelsohne gegeben hat: durch forschungsgeschichtliche Einseitigkeiten sind schon die Bedingungen für die Möglichkeit eines Belegs gegenläufiger Erinnerungsstränge nicht gegeben. Ein weiteres Problem mit dem kollektiven Gedächtnis ist die Vorstellung, es sei ein „Speicher, aus dem die Erinnerung auswählt, aktualisiert, sich bedient” (A. Assmann 1999, 160). Man muss nicht so weit wie Andreas Huyssen (2003b) gehen und das Kollektive an Formen des Erinnerns komplett verneinen. Jedoch sind die materialisierten, institutionalisierten und schriftsprachlich verankerten Formen eines „kulturellen Gedächtnisses“ nicht so inflexibel wie von Jan Assmann dargestellt, nämlich als strikte Abfolge von kommunikativem Gedächtnis, welches nach einer gewissen Zeit ins kulturelle Gedächtnis umschlägt. Diese zwei Gedächtnisarten existieren in einem Umfeld diskursiver und anderer menschlicher Praktiken, die eher zu einer dialektischen Beziehung zwischen kommunikativem (besser: praktischem) Gedächtnis und kulturellem Gedächtnis führen. Mills and Walker (2008, 6) schlagen vor, die Multiplizität und das Dynamische durch den Begriff des „social memory“ von einem unrealistischeinheitlichen „collective memory“ abzusetzen. Dasselbe ließe sich erreichen, wenn man die plurale Form Erinnerungskulturen als Modus des orientierenden Nachdenkens über die Vergangenheit beanspruchte. Und doch ist auch eine solche Konzeption nicht befriedigend, wie ich anhand zweier Beispiele aus Tempelhof aufzuzeigen versuche.

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Zwischen doppeltem Gedenken und Erinnerung als Ware Erinnerungskultur wird derzeit in der deutschen Gesellschaft als etwas Vielseitiges aufgefasst. Der Begriff ist schwammig genug, um Gegensätze zu vereinen. Er kann also sowohl eine in sich geschlossene Einheit als auch ein Dach für vielfältige Einzelformen der Erinnerung suggerieren. „Den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft“ ist die zentrale Aufschrift in der Berliner „Neuen Wache“, vom damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl per Verwaltungsakt eingerichtet. Damit wird der von Wehrmacht, Einsatzgruppen und SS millionenfach Ermordeten gedacht – und ebenso ihrer Mörder, der im Krieg gefallenen SSMitglieder. Das ist die inklusive Erinnerungskultur, die pauschal alle Toten einschließt, die sich auf infame Weise des Todes bemächtigt, um die Täter den Opfern anzugleichen (Kunstreich 1999, 30; Kattago 2001, 129–141). Bei einer auf „Vielfalt“ dieser Art ausgerichteten Erinnerungskultur handelt es sich nicht einfach um nebeneinander stehende unterschiedliche Auffassungen zur Vergangenheit sondern um konfliktbeladene Auseinandersetzungen. Das trifft auch auf die schon erwähnten Gedenkorte Sachsenhausen und Buchenwald zu, wo jeweils der dominante Modus die Erinnerung das Konzentrationslager der Nazis, nicht aber das sowjetischen Speziallager ist. Diese Problematik eines „doppelten Gedenkens“ wurde von Volkhard Knigge (2006) in einigem Detail erörtert (s.a. Kattago 2001, 124–129). Der normale, kontinuierlich-historische Wandel wird im spezifischen Falle der beiden Konzentrationslager unwiderruflich zerschnitten durch Ereignisse wie das Ende des Zweiten Weltkriegs, die die Konstellationen der an einem Ort zusammengepferchten Opfer radikal wandelten. Archäologisch kann sich dies in stratigraphischen Abfolgen zeigen. Solche übereinander liegenden Zeitschichten mit unterschiedlichen oder gar antagonistischen Bedeutungen können zum Anlass der Gewalt werden. Der Jerusalemer Tempelberg/Haram al-Sharif als historisch mehrschichtiger Ort, dessen religiöser Wert einzelner Straten sehr unterschiedlich eingeschätzt wird, ist das wohl bestbekannte Beispiel hierfür. Die Reste des „Zweiten Tempels“ aus post-exilischer bis herodianischer Zeit wurden nach dem Aufstand im Jahre 70 u.Z. von der römischen Besatzung zerstört. Diese Ruinen des zentralen religiösen Ortes für die traditionelle jüdische Religion, von denen die Klagemauer der einzig sichtbare Rest ist, sind überlagert von zwei der wichtigsten islamischen Heiligtümer, die beide dort um die Wende vom 7. zum 8. Jh. u.Z. erbaut wurden, der al-Aqsa Moschee und dem Felsendom. Als Ariel Sharon den islamischen Bereich zwischen al-Aqsa und Felsendom betrat, war dies der Auftakt zur 2. Intifada, daher auch „al Aqsa-Intifada“ genannt.

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Ein weiterer, ähnlich konfliktreicher Ort ist Ayodhya in Indien. Als angeblicher Geburtsort des Gottes Rama weckt dieser Platz für hinduistische Fundamentalisten äußerst starke Assoziationen. An der Stelle stand jedoch die vom ersten Mogulkaiser Babur im frühen 16. Jh. errichtete Babri-Moschee. Schärfer noch als in Jerusalem entluden sich interreligiöse Spannungen immer wieder in Gewaltausbrüchen und schließlich im Abriss der Babri-Moschee durch einen Hindu-Mob (Bernbeck und Pollock 2013b). An solchen Orten zeigt sich in außergewöhnlicher Anschaulichkeit die Brisanz dessen, was man eine „politische Stratigraphie“ nennen mag: eine Stratigraphie, die auf ein Epochenschema passt, welches von verschiedenartigen sozialen Gruppen fundamental unterschiedlich bewertet wird. Der Historiker Koselleck setzt dafür den Begriff „Zeitschichten“ ein, den er wie folgt definiert: „,Zeitschichten‘ verweisen, wie ihr geologisches Vorbild, auf mehrere Zeitebenen verschiedener Dauer und unterschiedlicher Herkunft, die dennoch gleichzeitig vorhanden und wirksam sind“ (Koselleck 2000, 9).114 Archäologisch sollte man aber zwei Arten der Verbindung von Zeitschichten unterscheiden. Die Beispiele Jerusalem und Ayodhya betreffen stratifizierte Zeitschichten, die tatsächlich an ein- und derselben Stelle übereinander liegen. Diese sollten wir von kollokalisierten Zeitschichten absetzen, Schichten, die sich an einem generalisierten Ort nebeneinander befinden. In archäologischen Termini handelt es sich hierbei um das Phänomen der Horizontalstratigraphie. Das KZ Columbia, die Zwangsarbeitslager und der riesige Sagebiel-Flughafenbau auf dem Tempelhofer Feld ebenso wie die wenigen Bauten der U.S.-Besatzung sind in diesem Sinne kollokalisierte Zeitschichten aus den frühen Jahren des „Dritten Reichs“, dem Zweiten Weltkrieg und der Zeit des Kalten Krieges. Dass solche kollokalisierten Zeitschichten zu Streit führen können, lässt sich an der Situation des Tempelhofer Geländes aufzeigen. So lautet etwa der etwas ungelenke Titel einer Website des Studiengangs ‚Public History‘ der Freien Universität „Tempelhofer Unfreiheit“ (Geschichte im Web 2.0 2013). Diese Website setzt sich mit der Vergangenheit auf dem Tempelhofer Feld zur NaziZeit auseinander, aber auch mit dem im öffentlichen Diskurs vorhandenen Gedächtnis des Ortes. Tempelhof wird in (West-)Berlin immer noch weitgehend mit den mythischen „Rosinenbombern“, sowie mit dem Wagnis der Westalliierten des Brechens der Stalin’schen Blockade 1948–49 assoziiert, während die Nazi-Vergangenheit auch des monumentalen Flughafenbaus weitgehend verges-

114 Kosellecks Bild der Geologie passt sich gut ein in Zeitschichten als erinnerte Zeiten. Schon im nächsten Satz relativiert er aber diesen Begriff in unangemessener Weise durch eine eurozentristisch-sozialevolutionäre gemeinte Perspektive.

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sen ist. Die Geschichte und Stratigraphie des Feldes werden auf die Bemühungen der Alliierten um den Erhalt der Berliner Westsektoren reduziert. „Unfreiheit“ in obiger Überschrift hat damit nicht nur einen historischen, sondern auch einen erinnerungspolitischen Hintergrund. Sie versucht, auf das Vergessene aufmerksam zu machen. Neben Inhaltlichem geht es jedoch auch um einen Kampf um Begriffe. Denn von 2008 bis zum Plebiszit der BürgerInnen Berlins im Mai 2014, welches alle Entwicklungspläne des Landes Berlin für das Feld auf Eis legte (s.S. 34–35), versuchten der Senat von Berlin und die beiden landeseigenen Firmen „Grün Berlin“ und „Tempelhof Projekt GmbH“, den Ort unter dem Leitwort „Tempelhofer Freiheit“ zu einer Einnahmequelle zu machen. Das Feld konnte für unterschiedlichste Zwecke wie Konzerte, Sportveranstaltungen, Zirkus und anderes gemietet werden. Von besonderer Bedeutung war ein geheim gehaltener Vertrag des Bundes, des Landes und der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BIM) mit der Modemesse „Bread & Butter“, der im Jahr 2009 auf 10 Jahre für angeblich 1,6 Millionen Euro Mietzins im Jahr abgeschlossen worden war (Thönnissen et al. 2014). Die Messe ging inzwischen pleite (Hartmann 2014) und der Bezug des Flughafenbaus durch Flüchtlinge lässt derzeit keine Nachfolgemesse zu. Insgesamt war klar, dass für solche Verträge und die damit verbundenen Werbungs- und Verkaufsziele natürlich eine positive Reputation des Ortes als Symbol der „Freiheit“ weit besser geeignet ist als die Erinnerung an Konzentrationsund Zwangsarbeitslager. Denn man hat es mit „Helden der Geschichte“, sich aufopfernden Siegern zu tun. Sie werden am Columbia-Damm, wo früher eines der „Rosinenbomber“ getauften Transportflugzeuge stand, geehrt: „Die Stadt Berlin wurde 1948–1949 durch eine Luftbrücke der Alliierten 462 Tage lang, mit allen Lebenswichtigen Gütern versorgt. Diese C-54 ‚Skymaster‘ war während der Luftbrücke im Einsatz und wurde 1971 [...] als Erinnerung an dieses Ereignis, nach Berlin eingeflogen. Die Luftbrücke war die Antwort auf die Blockade aller Zufahrtswege durch die Russen. 75 Männer verloren ihr Leben im Dienste der Luftbrücke.“

Das Kurznarrativ gipfelt in den für eine Sache dargebrachten Opfern. Einer der beiden leicht V-förmigen Sockel mit der Inschrift in englischer und deutscher Sprache steht fast auf dem ehemaligen Splitterschutzgraben für russische Zwangsarbeiterinnen des Weserflug-Lagers aus dem Zweiten Weltkrieg. Diese älteren und zudem wehrlosen Opfer eines hausgemachten, in seiner Brutalität einmaligen Regimes sind in eine Werbung für das Gelände natürlich nur schwer

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integrierbar, auch wenn sie auf der Website der Tempelhof Projekt GmbH genannt werden.115 Es blieb nicht bei der Namensschöpfung „Tempelhofer Freiheit“, die „jedem, der sich auch nur ein wenig für die Geschichte dieses Ortes interessiert, wie Hohn erscheinen [muss]“ (Königseder 2012, 73). Im Sinne des modernen Marketings ging man daran, der „Tempelhofer Freiheit“ ein Corporate Design zu verpassen. Dafür wurde extra ein Schriftzug gekürt (Abb. 6.1), dessen Nutzung unserem Ausgrabungsprojekt schon bei Arbeitsbeginn nahegelegt wurde. In dem entsprechenden Dokument, welches wohl an Firmen geht, die auf dem Feld Projekte verwirklichen wollen, heißt es: „Die Schrift der Wortmarke Tempelhofer Freiheit lehnt sich stark an großen Groteskschriften der Zwanziger und Dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts an, wirkt aber gleichzeitig aktuell und zeitgemäß. Dadurch visualisiert sie optimal den Charakter des Ortes der Geschichte, die Gegenwart und Zukunft verbindet. Der eigenständige Charakter schafft eine selbstbewusste, starke und unabhängige Marke ‚Tempelhofer Freiheit‘“ (aperto 2011, 13). Es folgen Richtlinien zur Einpassung des Schriftzugs auf Blättern unterschiedlicher Größen. Der Verweis auf in der Nazi-Zeit geschaffene Schriften – ich hatte schon auf „Schaftstiefel-Grotesk“ verwiesen (s.S. 47–49) – lässt unabhängig von tatsächlicher Ähnlichkeit die Frage entstehen, ob die Absicht bestand, an Nazi-Ästhetik angelehnte Schrift mit dem Sagebiel-Bau in ein stilistisch kohärentes Bild zu fügen; natürlich immer unter Beachtung des Vorrangs des Branding zum optimierten Verkauf. Abbildung 6.1: Schriftzug „Tempelhofer Freiheit“ nach den Design-Vorlagen der Tempelhof Projekt GmbH

Bei dieser Art des Branding muss man unwillkürlich an die vielen Kommunisten und ihre damals durchaus noch idealistischen wirtschaftspolitischen Ziele den-

115 http://www.thfberlin.de/standortinfos/standortgeschichte/nationalsozialismus/zwangs arbeiter/ (zuletzt geöffnet am 13.6.2017).

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ken, die im KZ Columbia gefoltert wurden.116 Freiheit als ein offensichtlich auf den Kapitalismus bezogener Begriff, der nicht nur beschreiben soll, sondern selbst als Marke verkauft werden kann? Wo die Freiheit tatsächlich aber liegt, zeigen die folgenden Sätze der Internetvermarktungsagentur aperto: „Durch gezielte Suchmaschinen-Optimierung macht Aperto Online Marketing die ‚Tempelhofer Freiheit‘ zukünftig noch leichter im Netz auffindbar. Dabei sorgt die Keyword optimierte Aufbereitung des Contents für eine langfristige Erhöhung des Traffics. Darüber hinaus wird mit Hilfe des Webtracking-Tools Piwik das Verhalten der Website-Besucher analysiert, um die effiziente Durchführung von Online-Marketing-Maßnahmen für den Kunden [d.h. die Tempelhof Projekt GmbH und die Grün Berlin, R.B.] zu ermöglichen.“ (aperto o.J.)

Corporate Design selbst ist konzeptuell an einem Ort wie dem Tempelhofer Feld völlig verfehlt, bedeutet dies doch die Schaffung einer corporate identity. Die Verstetigung eines visuell wahrnehmbaren Äußeren samt hohem Potenzial der „recognizability“ versucht, die historische Kontingenz aus einem visuellen Element – einem Logo – komplett herauszufiltern, um diesen Eindruck dann auch auf das auszuweiten, wofür dieses Element steht. Corporate identity ist notwendig eine bewusst eingeschlagene Strategie der Enthistorisierung aus Vermarktungsgründen.117 Dies aber ist für einen Ort mit multiplen, konträr zu bewertenden Zeitschichten politisch und ethisch unangemessen. Noch bedrückender ist die vor den Website-BesucherInnen verborgen gehaltene Kommodifizierung ihrer eigenen historischen und anderen Interessen. Die Freiheit der InternetnutzerInnen beim Suchen innerhalb der Website ist gleichzeitig ihre Unfreiheit, dem Verwandeln dieses Interesses in eine verkaufsfördernde Ware zu entgehen. Man fragt sich, was denn das Ziel sein kann, wenn die Tempelhof Projekt GmbH BesucherInnen „tracken“ kann, die wiederholt die Bilder und Informationen zu den Zwangsarbeitslagern oder KZ-Insassen aufsuchen? Wenn Adorno schon im

116 Unter den 464 namentlich aufgelisteten Personen in Schilde und Tuchels Monographie zum KZ Columbia waren etwa 100 entweder Mitglieder der KPD, wie etwa Ernst Thälmann, oder standen ihr sehr nahe, wie die aus Mitgliedern von SPD und KPD entstandene „Miles-Gruppe“ um Walter Loewenheim (Leggewie 2005). Man kann davon ausgehen, dass auch ein recht großer Teil der im KZ Columbia eingesperrten, namentlich nicht bekannten Häftlinge aus dem Umfeld der KPD kamen. 117 Diese Strategie wird in wirtschaftswissenschaftlichen Handbüchern nicht explizit ausgesprochen, ergibt sich aber überdeutlich aus Zusammenhängen (z.B. Podnar 2015, 20–24).

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Denken abstrakter Begriffe und ihrer Verwendung bedenkliche Tendenzen der Vereinheitlichung und Gleichmachung spezifischer Lebenswelten sah, die sich eigentlich jeder Verallgemeinerung entziehen, so werden im Internet agierende Subjekte zur Verwendung von standardisierten Suchbegriffen geradezu erzogen. Diese unterscheiden sich von den generalisierenden Alltagsbegriffen und ihren unterschwelligen Tauschbarkeitsmechanismen dadurch, dass im Internet ein Apparat algorithmisch auf Begriffe reagiert und einen ausgesuchten Vorrat an Denkmustern, Informationen und vor allem Verkaufsangeboten zur Verfügung stellt. Noch der letzte Impetus, sich mit einer als kollektiv oder individuell wahrgenommenen Verantwortung für die Vergangenheit auseinanderzusetzen, wird bei Zuhilfenahme digitaler Medien umgehend einem Informationspool zugeführt, dessen einziges Interesse profitfördernde Tauschbarkeit ist. Auch Schilder auf dem ehemaligen Flughafen-Feld enthielten bis 2014 überall die Hinweise auf „Tempelhofer Freiheit.“ In den Anfangstagen unserer Ausgrabung des Lufthansa-Zwangsarbeitslagers wurde eine Informationstafel am Bauzaun mit der großen Überschrift „Tempelhofer Freiheit“ angebracht, in der von einem Zwangsarbeitslager keine Rede war. Erst nach Verhandlungen mit den Verantwortlichen konnten wir eigene Informationstafeln in Deutsch, Englisch und Türkisch anbringen. Manchmal hingen Blumen an diesen Bauzäunen (Abb. 6.2). Abbildung 6.2: Blumen am Bauzaun des KZ Columbia, Sommer 2013

Als Ausgrabung waren wir also mit einer Verwaltung des Feldes konfrontiert, die vom politischen Senat als dem Besitzer der beiden Firmen Tempelhof Pro-

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jekt GmbH und Grün Berlin explizit beauftragt worden war, das Areal möglichst gewinnbringend zu bewirtschaften. Wir hielten es für unsere Aufgabe, diese Verkaufsstrategie zumindest im Bereich der Grabungsflächen und zum Zeitpunkt des Arbeitens zu verhindern. Das war nicht weiter schwierig, da wir bislang unter Werten leben, nach denen „negatives Kulturerbe“ und Vermarktung nicht zusammenpassen. Wie lange dieser Zustand noch anhalten wird, und wann auch diese Schranken komplett fallen, lässt sich nicht absehen. Jedoch weist das Phänomen des „Dark Tourism“ (Foley und Lennon 1997) oder „Thanatourismus“ (Seaton 1996) bereits in Richtung einer Kommodifizierung. Tim Cole (1999) prangert den Verkauf des „Holocaust“ seit längerem an. Fatal wäre, wie sich Beech (2002, 205) die weitere Entwicklung des Gedenkens an Orten des Nazi-Terrors vorstellt: „In the further future, what are the prospects for concentration camps as tourist attractions? Two factors are likely to determine outcomes: the inherent ‚attractiveness‘ of the site to tourists and the marketing skills with which it is presented.“ Um dann die bessere Vermarktung anzupreisen. Diese Orte sollten „not entirely dissimilar to visitor centres associated with earlier sites of war and brutality“ werden (Beech 2002, 205). Nur ein weiterer Fall von „Dark Tourism.“ Noch fataler ist Lynn Meskells Ansicht zum Verhältnis von Vergangenheitsbewältigung und Tourismus: „Touring Nazi buildings in cities like Munich may provide the most effective strategy of economic and emotional adjustment so that tourism may represent the ultimate past mastering“ (Meskell 2002, 567). Soweit sind wir noch nicht. Denn Bürgerinitiativen rund um Tempelhof reagierten sehr unterschiedlich auf die „Marke“ der Berliner Landesregierung. Einerseits kam vehementer Widerstand vom „Förderverein für ein Gedenken an die Nazi-Verbrechen auf dem und um das Tempelhofer Flugfeld e.V.“, einer an die Berliner Geschichtswerkstatt angebundenen Gruppe. Andererseits lassen sich bei zwei anderen Bürgerinitiativen, die sich vor allem für eine Nichtbebauung des Feldes einsetzten, Anzeichen einer Übernahme der Begrifflichkeit erkennen, wobei aber die „Freiheit des Wiesenmeers“ und die Möglichkeiten, sich als Stadtmensch auf dem Feld auszuleben im Zentrum standen. Ort und die Bezeichnung „Tempelhofer Freiheit“ werden auch im akademischen Bereich propagiert als ein „ganz ungewöhnliches Experimentierfeld für urbane Raumpolitiken und zivilgesellschaftliche Initiativen“ (Kaschuba und Genz 2014, 7). Eine der Bürgerinitiativen, die sich für die Nicht-Bebauung des Feldes einsetzte, wartet mit einem Geschichtsbild auf, dessen mangelnde Differenzierung weitaus bedenklicher ist als alle regierungsamtlichen Begriffe und Darstellungen. In einem ihrer bis heute downloadbaren Flugblätter schreibt die „Bürgerinitiative Tempelhof 42“ unter anderem zum Flughafenbau des Architekten Sag-

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ebiel aus den 1930er Jahren: „Das grandiose Bauwerk spiegelt in der rationalen Monumentalität einer neuen Zeit die weltumspannende Dimension beginnender Globalisierung“ (Bürgerinitiative Tempelhof 42 o.J.). Dieser Satz markiert einen desaströsen Tiefpunkt an Erinnerungsfähigkeit. „Grandios“ sollte besser in „größenwahnsinnig“ abgeändert werden und Monumentalität in Monstrosität. Der so positiv klingende Ausdruck einer „neuen Zeit beginnender Globalisierung“ aber kann nur den Überfall auf Polen und die Sowjetunion und die Folge von Millionen Kriegstoten meinen. Im günstigsten Falle hatte sich die Bürgerinitiative das Ziel gesetzt, Tempelhof insgesamt so vielversprechend und verheißungsvoll wie möglich dazustellen. Dass dabei die drückende lokale Repressionsgeschichte nicht extra aufgelistet wird, mag für einen kurzen Flugblatt-Text noch erklärbar sein. Doch wenn die „Pathosformeln faschistischer Architektur“ (Lautenschläger 2014, 18) in ein positives Modernitätswahrzeichen umgedeutet werden, stimmt dies mehr als bedenklich. Entsprechend fällt eine Bemerkung zur Luftbrücke auf besagtem Flugblatt aus, die als „Symbol des Überlebens- und Freiheitswillens Berlins“ bezeichnet wird. Nachdem die Nazi-Zeit samt KZ und Zwangsarbeitslagern in Tempelhof in eine „beginnende Globalisierung“ umgebogen ist, fügt man passend und ohne jeden Bruch die Luftbrücke an, die als Selbstrettung der BerlinerInnen gefeiert wird, nicht aber als ein militärisches Manöver der West-Alliierten. Sarkastisch gefasst wird hier ein „Geschichtsbild“ vertreten, in dem erst die Nazis und dann die BerlinerInnen die Welt und sich selbst heldenhaft vor dem Kommunismus gerettet haben. Die Ziele, mit denen unterschiedliche Stakeholder den gesamten Nazizeitlichen Komplex Tempelhofs kommodifizieren bzw. in einen versteckten Erfolg ummünzen, könnten nicht gegensätzlicher sein: langfristige Randbebauungspläne seitens der Stadtverwaltung, Verhinderung derselben durch die o.g. Bürgerinitiative „Tempelhof 42.“ Beide aber stehen in scharfem Gegensatz zu Diskursen, die sich in Titeln wie „Kein Ort der Freiheit“ (Berliner Geschichtswerkstatt 2012) oder in der „Unfreiheit“ des Seminars der Freien Universität von einer Pauschalisierung der Geschichte des Feldes unter einem Freiheitsbegriff zu distanzieren suchen. Diese scharfe Diskrepanz wurde immer wieder in Gesprächen und in der Öffentlichkeit thematisiert (Speckmann 2014). Mit Erfolg: Kurz vor dem Plebiszit des Jahres 2014 wurde die amtliche Verwendung des Begriffs „Tempelhofer Freiheit“ eingestellt. Eine kuriose Stellung nehmen in diesem Zusammenhang die Werke des Concept Art-Künstlers Robert Montgomery ein. Seine Gedichte, weit über das Tempelhofer Feld hin sichtbar auf der Werbung nachempfundenen Anzeigetafeln, beziehen sich nach seinen eigenen Angaben auf „the layers of narrative history“ des Ortes und sollen an einem „healing“ teilhaben (Montgomery und

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Davies-Crook 2012). Anscheinend sollen die konträren Zeitschichten des Nationalsozialismus und der Luftbrückenzeit über poetische Maßnahmen in Harmonie überführt werden. In gewissem Sinne entspricht zeitweilig das über dem Weserflug-Zwangsarbeitslager aufgestellte Gedicht Montgomerys den Wünschen Jorge Sempruns für Buchenwald (s.S. 95–97): der Wald, die Natur sollen an diesen Platz zurückkehren (Abb. 6.3). Abbildung 6.3: Ausgrabungsteam im Sommer 2013 am Zwangsarbeitslager der Weserflug vor einem Kunstwerk von Robert Montgomery

Das „Verheilen“ der historischen Wunden in der Stadt ist für Montgomery weniger eine Frage der Auseinandersetzung mit dem Historischen, etwa in Form eines Vermittelns, als vielmehr einer visuellen Veränderung der Stadtlandschaft, in diesem Falle die nostalgische Sehnsucht nach einer Rückkehr der ehemals an dieser Stelle vorhandenen Natur. Der Wunsch nach einer Vergänglichkeit des Monumentalen erscheint noch deutlicher in einem weiteren Gedicht am Rande des Weserflug-Lagers: „Echoes of voices in the high towers all wounds explained here all knives bandaged all empires arrested all castles unbuilt all hearts unbroken“ (Montgomery 2012)

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Man mag die „high towers“ auf den nahebei stehenden Radarturm beziehen, die „unbuilt castles“ auf das Flughafengebäude und die „arrested empires“ auf Nazi,Sowjet- und U.S.-Regime, geht man nach manchen anderen Äußerungen des Künstlers. Doch die Billboards von Montgomery sind auch noch in einer zweiten Dimension zu lesen. Sein ursprünglicher Impetus, derartige Flächen mit selbstgestaltetem Text zu füllen, hat mit politischer Geschichte eher wenig zu tun. Seine Werke sind eher antikapitalistisch inspiriert und vor allem gegen Werbung ausgerichtet. „Billboards [...] get me down and make me feel yelled and shouted at.“ Die Kunstwerke seien seine Reaktion darauf; das steht mithin in einem deutlichen Spannungsverhältnis zu den oben beschriebenen Dienstleistungen der Werbefirma aperto. Ob dies dem Künstler oder der Grün Berlin GmbH bei Zulassung der Aufstellung dieser Arbeiten auf dem Tempelhofer Feld auffiel? Montgomerys Arbeiten wirken den Bestrebungen, Erinnerung an die Nazi-Zeit weiter zu vermitteln, eigentlich entgegen, so dass sich hier ein unausgesprochener meta-historischer Konflikt ergibt: zwischen dem Willen zur diskursiven Auseinandersetzung um die Geschichte und dem Wunsch danach, Gras (oder Wald) über die Grausamkeiten wachsen zu lassen. Kollidierende Diskurse über die geschichtliche Bedeutung eines Ortes sind letztlich Kämpfe um die politische Deutungsmacht über die Vergangenheit. Es geht um Ansprüche, eine „richtige“ gegen andere Lesarten eines Ortes zu verteidigen. Cornelia Siebeck (2013a, b) hat in mehreren Schriften zu solchen Fragen des Erinnerungsdisputs ein Hegemoniebestreben diagnostiziert. Auffassungen des Historischen zielen auf Dominanz, sind aber in einer offenen Gesellschaft gerade im Augenblick einer weitgehenden Akzeptanz nie vor aufkommenden Alternativen sicher. Entgegen gängigen Erwartungen sind auch die Diskussionen um die Vergangenheit des Tempelhofer Feldes mit zunehmender zeitlicher Distanz zum Nationalsozialismus nicht abgeebbt. Eine Vielzahl an Interessierten fand sich seit Mai 2012 zu einem auf Initiative der Senatskanzlei für Kulturelle Angelegenheiten des Landes Berlin einberufenen „Runden Tisch“ unter der Leitung von Andreas Nachama von der Stiftung Topographie des Terrors zusammen, um eine Koordination von geschichtsbezogenen Maßnahmen und Projekten zu ermöglichen sowie „Empfehlungen an politische Entscheidungsträger und andere Verantwortliche zu formulieren“ (Runder Tisch Tempelhof 2014, 1). An diesem Runden Tisch waren neben etlichen Historikerinnen auch die Ausgrabungsleitung, VertreterInnen von Senatsverwaltungen und das Berliner AlliiertenMuseum beteiligt, ebenso wie die schon erwähnte Bürgerinitiative „Förderverein für ein Gedenken an die Nazi-Verbrechen auf dem und um das Tempelhofer Flugfeld e.V..“ Im Laufe der Jahre ergaben sich vielfache Konfliktfelder, die immer wieder auf grundsätzlich unterschiedliche Interessen im Grad der Fokus-

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sierung auf spezifische Epochen des Tempelhofer Feldes verwiesen. Dabei war die prinzipielle Frage eine Abwägung des Gewichts von Nazi-Zeit und Zeit der Nutzung durch die Alliierten gegeneinander. Um ältere Epochen wurde nicht gestritten, ebenso wenig um die noch nicht empfundene Notwendigkeit einer Darstellung der letzten, durchaus bewegten Jahre seit Verlassen der U.S. Air Force im Jahre 1993 bzw. seit Einstellung des Flugverkehrs im Jahr 2008. Für den Runden Tisch war einer der Hauptkonfliktpunkte die beabsichtigte Verlegung des Alliierten-Museums aus dem peripheren Stadtteil Berlin-Dahlem nach Tempelhof. Dieser Umzug würde die Darstellung der Nachkriegszeit, und insbesondere der Luftbrückenzeit, sicherlich noch stärker als bislang in den Vordergrund rücken, was vor allem von der Bürgerinitiative immer wieder kritisiert wurde, für die die Nazi-Zeit in einem Gesamtkonzept zur Darstellung der Vergangenheit Tempelhofs den Schwerpunkt bilden muss. Die Initiative selbst organisiert häufig Veranstaltungen, die sich mit den Jahren 1933 bis 1945 in Tempelhof auseinandersetzen. Besonders erwähnenswert ist die Einladung von zwei ehemaligen Zwangsarbeitern aus Polen und zwei Frauen aus der Ukraine, die als Kinder mit ihren zur Zwangsarbeit herangezogenen Müttern auf dem Feld lebten (Engel 2013). Der Streit um eine „historische Markierung“ des Tempelhofer Feldes mag aus der Sicht einer demokratisierten Erinnerungskultur eher sinnlos erscheinen. Es ist genug Platz da, die Nazi-Zeit und die Alliierten-Jahre nebeneinander darzustellen, wie es auf dem Feld aufgestellte Informationstafeln des Berliner Forum für Geschichte und Gegenwart jetzt schon tun.118 Das Alliierten-Museum hat, da über den Bund und nicht das Land finanziert, ausreichend Mittel für Umzug und Umgestaltung der Südsektoren des Flughafenbaus, welche für das zukünftige Museum vorgesehen sind. Mittel für die Darstellung der Nazi-Zeit sind zwar ebenfalls versprochen, verbleiben aber sowohl was Höhe als auch eine eventuelle Unterbringung eines Gedenkorts angeht, unbestimmt. Ein Runder Tisch, an dem Ziele der Vergangenheitsdarstellung besprochen werden, kann dieses vom Ausgangspunkt her große materielle Ungleichgewicht nicht aufwiegen oder gar verbergen. Bei der derzeitigen Ausgangslage dürfte der Umzug des Alliierten-Museums nach Tempelhof nicht nur aus rein kulturpolitischen Gründen für das Land Berlin von Interesse gewesen sein. Denn Ernst Sagebiels abweisender NS-Bau muss dringend renoviert werden, und bei Integration eines vom Bund finanzierten Museums in den Bau können sicherlich auch hierfür Bundesmittel in Anspruch genommen werden.

118 http://gruen-berlin.de/tempelhofer-feld/ueber-den-park/auf-den-spuren-der-geschich te (zuletzt geöffnet am 13.6.2017).

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Somit war bei den Sitzungen des Runden Tisches deutlich, dass die „Sachzwänge“ stark in die Richtung drängten, der Zeitschicht Tempelhofs unter alliierter Besatzung eine große, wenn nicht die größte Bedeutung einzuräumen. Für diejenigen, die in dieser Situation dennoch an einem möglichst substanziellen Gedächtnisort für die Opfer der nationalsozialistischen Repression interessiert waren, ergaben sich strategisch zwei Möglichkeiten des Vorgehens. Die eine geht vom Prinzip aus, dass Zeitschichten keine Umwertungen kennen, und hält daher am Ziel fest, die Nazi-Zeit müsse in einem Gesamtkonzept der hauptsächliche Schwerpunkt der Darstellung sein. Diese Position ist getrieben von der Unbedingtheit historischer Verantwortung. Sie wurde (und wird) von der Bürgerinitiative „Förderverein zum Gedenken an Nazi-Verbrechen“ eingenommen. Das mag unrealistisch sein; eine „Tempelhofer Erklärung“ des Vereins aus dem Jahr 2014, die auf die Einseitigkeiten der öffentlichen Gedenkpolitik aufmerksam machte, lief Gefahr, die Senatsverwaltung zu düpieren und damit den Interessen an einer möglichst umfassenden Darstellung der Verbrechen der NSFirmen und staatlichen Institutionen auf dem Feld eher zu schaden als zu nützen (THF 33–45 2014). Nimmt man aber einen distanzierten Außenstandpunkt ohne jede Rücksicht auf finanzielle und andere Sachzwänge ein, so ist diese Einstellung die einzig richtige: die Erinnerung an das KZ mitten im heutigen Berlin darf nicht zum Spielball finanzieller Interessen werden. Eine andere Position mag man als „realistischer“ bezeichnen. Statt sich geschichtspolitisch unerreichbaren Zielen zu verschreiben, versucht man, in einer als strukturell ungleichgewichtig empfundenen Situation das Bestmögliche herauszuschlagen. Die Tempelhofer Ausgrabung hat sich eher dieser Haltung befleißigt, indem zum Beispiel die ersten öffentlich gezeigten Fundstücke im Alliierten-Museum in dessen Sonderausstellung „Flughafen Tempelhof – Die amerikanischen Geschichte“ einem größeren Publikum zugänglich gemacht wurden (s. Heisig 2014b, 14–17). Freundlicherweise hat zudem das Alliierten-Museum nach der Ausgrabung zur leichteren archäologisch-fachlichen Auswertung die Lagerung der großen Fundmengen übernommen. Aushandlung oder Prinzipientreue – auch hier kann man meines Erachtens nicht von einer alles neutralisierenden „Multikulti-Erinnerung“ ausgehen. Vielmehr zeigen sich trotz aller offenen Diskussionen Machtverhältnisse, die weit entfernt von einer diskursiven Gleichheit der einzelnen Mitglieder und Institutionen des oben genannten Runden Tischs, der dort vertretenen Positionen und damit der erinnerten Zeitschichten sind. Ebenso wie der Disput um den Begriff der „Tempelhofer Freiheit“ kann auch der Runde Tisch diskurstheoretisch als Beispiel für widerstreitende Versuche des Erhalts beziehungsweise Anstrebens von Erinnerungshegemonien angesehen werden. Ein Problem mit solchen meist

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streitbar geführten Diskursen liegt in einer gewissen Tendenz zum Changieren zwischen moralisierendem Positivismus normativem Moralisieren. Der Austausch von Argumenten ändert sich je nach Gesprächslage wenn es um die Bewertung unterschiedlicher Zeitschichten geht. Manchmal sind die „reinen Fakten“ am besten geeignet, eine Position der historischen Verantwortung zu untermauern, an anderen Stellen führt man Gründe aus dem Bereich der Verantwortungsethik selbst ohne weitere faktische Bezüge an. Vergessen spielt in der Regel als Vorwurf an Gesprächspartner eine Rolle, nicht aber als ein die eigene Position untergründig immer bedrohender Vorgang. Eine selbstkritische Haltung führt bei Aushandlungsprozessen dieser Art leider sofort zu enormen Nachteilen, da man annehmen muss, dass nicht alle GesprächspartnerInnen sich derselben Haltung befleißigen. Der Disput um Zeitschichten und ihre Bewertung führte im Falle Buchenwalds zu intensiver historischer Recherche (Knigge 2006, 254–255). Auch Archäologie hat das Potenzial, Daten für Zeitschichten-Interpretationen beizusteuern. Die rein praktische Erfahrung mehrerer Grabungsprojekte zeigt allerdings auch die Grenzen der Archäologie auf, die chronologisch oft in fataler Weise unpräzise bleibt. Meist liegt dies nicht am Fehlen einer oder mehrerer Epochen in archäologischen Befunden, sondern am Palimpsest-Charakter derselben (Starzmann 2015). So sind in Buchenwald als auch in Sachsenhausen Ausgrabungen bislang zwar in der Lage, anhand archivalischer Evidenz Episoden der KZ-Zeit und des sowjetischen Speziallagers voneinander zu trennen. Bei den massiv in Müllgruben auftretenden Funden scheitert die Differenzierung jedoch an beiden Orten. Für „Halde II“ in Buchenwald (Hirte 1999, 29–30) und eine 30 m lange und 2–3 m tiefe Müllgrube in Sachsenhausen, die im Zuge des Baus eines Museums für das sowjetische Speziallager entdeckt wurde, konnten nämlich keine stratigraphischen Schichtungen identifiziert werden (Müller 2010, 91–93). Radikal unterschiedliche historische Verhältnisse verschwinden in einem chronologischen Einerlei der materiellen Kultur. In Sachsenhausen sind von 1643 Einzelfunden insgesamt 69 Stücke (4,2 %) soweit chronologisch eingrenzbar, dass eine Zuordnung der Herstellung (nicht unbedingt der Nutzung) in die Zeit vor bzw. nach dem 8.5.1945 vorgenommen werden kann (Müller 2010, 164–168). Das liegt leider jedoch nicht an der Stratigraphie, sondern allein an der Datierbarkeit der Funde aufgrund Objekt-interner Merkmale wie etwa SSStempeln.

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Unerwartbares Erinnern: der archäologische Beitrag Auch im Falle der Tempelhofer Ausgrabungen sind etliche Befunde nicht mit absoluter Eindeutigkeit datierbar. Dies trifft wiederum ganz besonders auf denschon erwähnten, als Müllgrube benutzten Feuerlöschteich zu, der von der U.S. Air Force als „trash point“ deklariert worden war und nach fotographischen Aufnahmen bis etwa zur Luftbrückenzeit 1948/49 oder kurz danach in Benutzung war. Auch hier sind auf jeden Fall Funde aus der Nazi-Zeit vorhanden, können aber stratigraphisch nicht von solchen aus Zeiten nach dem Ende des „Dritten Reichs“ getrennt werden. Somit muss für all diese Beispiele eine historische Interpretation der Funde an Oral History und Dokumenten ausgerichtet bleiben. Fallen die in der Archäologie immer besonders reichhaltigen Funde aus Müllgruben somit als Anzeiger für historische Verhältnisse der Neuzeit, und insbesondere der Nazi-Zeit damit aus? Ist Archäologie eine Art der historischen Dokumentation, deren chronologische Unschärfe sie für relevante Einblicke in die Zustände des 20. Jhs. ungeeignet macht? Neben den o.g. Palimpsesten entdeckten wir in Tempelhof auch eine Müllgrube, die unerwartete Differenzierungen und Einsichten erlaubte, da dort nämlich eine Koinzidenz von archäologischer Stratigraphie und der Epochen-Trennung in Nazi- und U.S.-Besatzungszeit vorliegt, also das, was ich weiter oben als stratifizierte Zeitschichten bezeichnet hatte. Abbildung 6.4: Profil aus der Umgebung einer Speisebaracke nahe des Lufthansa-Zwangsarbeitslagers am „Alten Flughafen“

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Wieweit dies eine archäologische Rarität ist, muss derzeit dahingestellt bleiben, da zu wenig systematische Ausgrabungen zur NS-Zeit ausgewertet sind. Die in Tempelhof gefundene Abfallgrube lag direkt südlich eines Zwangsarbeitslagers der Lufthansa nahe des Eingangs zum alten Flughafen der 1920er Jahre. Die unteren Schichten stammen aus der Zeit kurz vor Kriegsende, gefolgt von einer dünnen, sandigen Trennschicht von nur 2–3 cm Stärke sowie darüber einem Stratum aus der U.S.-Besatzungzeit der direkten Nachkriegsjahre (Abb. 6.4; Bernbeck et al. 2013, 46–51; Gütter 2015, 2–4; Becker und Gütter in Druck). Die Grube stand offensichtlich mit einer direkt daneben befindlichen, im Grundriss T-förmigen Küchen- und Speisebaracke in Zusammenhang. Die Baracke hatte den Krieg unbeschadet überstanden und wurde von der U.S.-Besatzung weitergenutzt. Dies zeigen die in den beiden Hauptschichten massiv angetroffenen Funde von Tierknochen. Die Analyse dieses Knochenmaterials durch Ganesh Gütter und Cornelia Becker liefert ein erstaunliches und ins Einzelne gehendes Resultat. Denn die Fauna-Assemblagen aus der Nazi- und der U.S.Besatzungszeit ähneln sich – mit dem Unterschied, dass nur die U.S.-Schichten Hühnerknochen enthalten, während sich der Schlachttier-Bestand aus der NaziZeit auf Rinder (dominant), Schaf/Ziege und Schwein sowie einige wenige Einzelknochen anderer Tiere beschränkt (Gütter 2015, 8–30; Becker und Gütter in Druck). Ich habe aus den Angaben Gütters die Hühnerknochen herausgerechnet, um die Relation zwischen den drei Tierarten Rind, Schaf/Ziege und Schwein in den beiden Schichten vergleichbar zu machen (Tabelle 6.1). Tabelle 6.1: Vergleich dreier Tierarten in den Fauna-Assemblagen der Grube 41 am Alten Flughafen in Tempelhof

Anzahl

Gewicht Knochen (Durchschnittsgewicht)

Rind Schaf/Ziege Schwein Rind Schaf/Ziege Schwein Rind Schaf/Ziege Schwein

NaziSchichten (n) 1570 1017 56 24781 6002 491 15,8 5,9

U.S.Schichten (n) 44 33 5 587 148 49 13,3 4,5

8,8

9,8

NaziSchichten (%) 59,4 38,5 2,1 79,2 19,2 1,6

U.S.Schichten (%) 53,7 40,2 6,1 74,9 18,9 6,3

Danach ergibt sich eine sehr große quantitative Ähnlichkeit im „Speisezettel“ der Nazi- und Nachkriegszeit, deren Hauptunterschied ein etwas geringerer Anteil an Rindern ist. Das Durchschnittsgewicht der Knochen pro Tierart gleicht

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sich weitestgehend, was auf ähnliche Schlachtvorgänge für die Assemblagen beider Schichten schließen lässt. Wieweit dies bedeutet, dass die U.S. Air Force dieselben Anlieferquellen für Fleisch nutzte wie die Flughafenküche im Zweiten Weltkrieg muss derzeit unklar bleiben. Die detaillierte Analyse von Bruch oder Kontinuität im Alltag ist jedenfalls nur da möglich, wo die Stratigraphie tatsächlich eine historisch relevante, Kontext-spezifische Bearbeitung von Fundmaterialien ermöglicht. Insgesamt kann dieses Ergebnis so ausgelegt werden, dass die U.S.-Besatzungsbehörden sich gerade auch im Alltag sehr schnell an den vorgefundenen Umständen ausrichteten und ähnliche, wenn nicht identische Nahrungsmittelressourcen zur Versorgung anzapften wie die NS-Elite, die dort speiste. Dass es sich um nationalsozialistische Eliten handeln musste, kann man aus der gegen Kriegsende deutlichen allgemeinen Verknappung von Fleisch und anderen Lebensmitteln erschließen, die kontrastiert mit den hochwertigen Fleischstücken, die in den Knochenresten des Tempelhofer Flughafens repräsentiert sind. Auch der französische Zwangsarbeiter Marcel Elola (2005, 67–69) berichtet aus seiner Tätigkeit in einer Friedrichshainer SS-Fleischerei, dass viele SS-Standorte Berlins von dort mit exzellenten Lebensmitteln beliefert wurden. Erst die vollständige Auswertung auch der restlichen 2663 Funde aus der Grube wird allerdings einen genaueren Einblick in Kontinuitäten und Brüche der verschiedensten Bereiche des Alltagslebens erlauben. Einsichten wie die aus der Tierknochenanalyse der Tempelhofer Grube erschließen bislang unbekannte Einzelheiten über den Alltag und seine Übergänge von der Kriegs- in die Nachkriegszeit. Die Rede von einer „Stunde Null“, von „Zusammenbruch“ und „Katastrophe“ hatte schon in den 1950er Jahren in WestDeutschland zu einer Wahrnehmung geführt, welche den Neuanfang unter militärischer Besatzung der West-Alliierten in der Erinnerung soweit radikalisierte, dass damit auch einem Vergessen eigener Untaten nachgeholfen wurde: man lebte ja in einem neuen Zeitalter. Natürlich änderten sich die Lebensverhältnisse nach Befreiung und Kapitulation rasch, doch steht solcher Wandel immer in einem Verhältnis zu Kontinuitäten. Historisch und in den Erinnerungen erscheinen Nationalsozialismus samt Holocaust und Zweitem Weltkrieg auf der einen, die Besatzungszeit und Entwicklung von DDR und Bundesrepublik auf der anderen Seite als fundamental getrennte Zeitblöcke. Tatsächlich ist der 8. Mai 1945 für alle Opfer der Nazis ein existenzielles Datum, bedeutet er doch das irreversible Ende des lebensbedrohlichen Terrorregimes. Diesem Bruch stehen auf der anderen Seite eine alltagspraktische und ideologisch-unterschwellige Kontinuität gegenüber, die – trotz Richard von Weizsäckers vielzitierter Rede vom 8. Mai 1985, in der er den 8. Mai 1945 einen „Tag der Befreiung“ nannte (Weiz-

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säcker 1985) – dem Vergessen anheimgegeben wurden, ob aus Bequemlichkeit, Opportunismus oder Scham. Das Tempelhof-Projekt ist nicht nur hilfreich f3r die Rekonstruktion einer Alltagsgeschichte in Zwangsarbeitslagern (s.S 273– 287), sondern durch die hier entdeckten stratifizierten Zeitschichten auch für ein allgemeines Nachzeichnen einer Mikrohistorie im Umbruch vom NS-Regime zur Nachkriegszeit. Dies erlaubt eine analytisch fundierte Kritik an tief verankerten Vorstellungen von Brüchen und Kontinuitäten im 20. Jahrhundert, die erinnerungspolitische Vorstellungen relativieren hilft. *** Im Zusammenhang mit einer Archäologie der Nazi-Zeit treten uns Schichtungen in zwei Dimensionen entgegen; einmal als eine Stratigraphie im traditionellarchäologischen Sinne. Diese kann sich je nach Situation historisch als Palimpsest oder als genaue chronologische Abfolge erweisen. Zum anderen treffen wir an ein- und demselben Ort auch Befunde an, die ich weiter oben als kollokaliserte Zeitschichten definiert hatte, als Horizontalstratigraphie, für die die Situation des Tempelhofer KZ Columbia neben und zeitlich vor den Zwangsarbeitslagern typisch ist. Räumliche Kontiguität gewährleistet hier eine zeitlich genaue Aufschlüsselung der Befunde und Funde. Zeitschichten sind nach Koselleck Aufzeichnungen von Schichtenabfolgen, die wir als vergangen wahrnehmen mögen, die aber immer auch in der Gegenwart existieren. Als Teil von Erinnerungshegemonien verweist jedes Zeitschichtenpaket aber auch auf eine Sequenz potenziell variabler Bewertungen der Einzelschichten. Die Zeitschichten sind gegenwärtig, auch wenn in der Vergangenheit entstanden. Seit Ranke hat sich in den Geschichtswissenschaften ein Gleichbehandlungsgrundsatz für solche Zeitschichten durchgesetzt, der auch für die Archäologie übernommen wurde: „Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, und ihr Wert beruht gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst, in ihrem eigenen Selbst“ (Ranke 1971, 60). 119 Historische Wissenschaft bewertet traditionell nicht. Doch heute sind wir in einer Situation, in der Geschichte und Erinnerung nicht mehr so einfach in eine akademisch-objektive und eine subjektive, von Laien bestimmte Sphäre getrennt werden können. Erinnerung ist Teil des historischen Diskurses, ebenso wie die mediale Verwertung und Ausarbeitung desselben Teil der Erinnerungsdiskurse wird. Damit entwickelt sich eine neue Relation zwischen einer

119 Auch nur ein kurzer Blick in die Literatur zeigt indes, dass diese Gleichbehandlung nur vordergründig gilt. Neolithisierung und Urbanisierungszeiten genießen zum Beispiel in der Archäologie weit mehr Aufmerksamkeit als andere Epochen.

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sich als objektiv verstehenden historisch-kritischen Wissenschaft und einem wertenden Erinnerungsdiskurs. Die potenziell explosive erinnerungspolitische Dimension archäologischer Stratigraphien wird im Normalfalle weder von der Fachwelt noch den Laien wahrgenommen. Das Fehlen solcher Konflikte über Schichtenfolgen kann sogar als ein Indiz für eine unterentwickelte Erinnerungsdimension gewertet werden. Wenn alles Antike und Ruinöse zum Kulturerbe wird, und dieses als kommerzielles Objekt verkaufbar wird, manifestiert sich hierin auch die Verdinglichung der in solchen Zeitschichten repräsentierten Gesellschaften. Umgekehrt enthüllt dann der potenzielle Disput um Schichten – man denke an die Zerstörungen der letzten Jahre in Bamiyan, Ninive, Hatra oder Palmyra – eine Voreingenommenheit, die ein starkes wenn auch selektiv-negatives Interesse an Geschichte bedeutet. Ist angesichts einer neuen Welle des Ikonoklasmus eine Position der neutralen Wissenschaftlichkeit geboten? Wäre Einseitigkeit etwa im Streit um den Wert der Erinnerung an die Nazi-Zeit oder an die Alliierten-Epoche in Tempelhof nicht ein Schritt hinter Ranke zurück? Und ist nicht jede Höher- und Niederbewertung historischer Epochen oder archäologischer Schichten schlicht unwissenschaftlich? Ich meine, wir könnten diese Frage anhand von Walter Benjamins Thesen zur Geschichte nochmals neu überdenken. Auf den ersten Blick scheint die oben zitierte These IX über den „Engel der Geschichte“ auf eine Epochenneutrale Auffassung zu verweisen: die Vergangenheit ist „eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer schleudert“, so dass der „Trümmerhaufen in den Himmel wächst“ (Benjamin 1992, 146). Doch später im selben Text propagiert Benjamin das „Heraussprengen“ von Epochen aus dem linearen Ablauf als „Chance im Kampfe für die unterdrückte Vergangenheit“ (Benjamin 1992, 152). Nach diesen Worten sind Selektivität und bewertende Beurteilung durchaus erwünscht (s.a. Oy und Schneider 2015, 310). Allerdings nicht in dem Sinne, dass der Klassischen Antike als künstlerisches, philosophisches oder politisches Vorbild ein höherer Wert zugemessen wird als der Spätantike. Bleibt man bei Benjamins Bild, so sind diejenigen Zeitschichten als besonders bemerkenswert „herauszusprengen“, in denen der Trümmerberg vor dem Engel besonders rasch anwuchs. Die Aufschüttung des Zerschlagenen endet in einer Trümmerberg-Stratigraphie, deren zuallererst untersuchte Schichten diejenigen sein sollten, in denen das Leiden besonders massiv auftrat. Das ist der Maßstab, an dem Erinnerungshegemonien auszurichten wären.

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R ÄUMLICHE E RINNERUNGSHEGEMONIEN Nicht nur in temporaler, auch in räumlicher Hinsicht finden aufmerksame ZeitgenossInnen hegemoniale Tendenzen des Erinnerns. Aufgrund der blutigen Geschichte der Moderne stellt sich überall auf der Welt die Frage, wie mit Orten umgegangen werden soll, an denen Menschen gefangen gehalten, gedemütigt, gefoltert und ermordet wurden. Eine allgemeine Antwort kann hierauf nicht gegeben werden. In aller Regel werden solche Örtlichkeiten gerne mit Denkmälern bestückt, wenn die Opfer als Helden der gerade dominierenden Gruppen angesehen werden können. Beispiele sind die Siegerfigur „Mutter Heimat Ruft“ des immensen Stalingrad-Denkmals, die Installation am ehemaligen World Trade Center in New York, der Blutbrunnen auf Teherans Behesht-e Zahra-Friedhof oder das monumentale Beton-Rund am KZ Natzweiler-Struthof im Elsass. Helden der Verteidigung, der Revolution, des Widerstands werden monumentalisiert zur Legitimation politischer Regime, deren Rahmen in der Regel der nationale ist (Nipperdey 1968). Untaten, mit denen man sich als Nachkommenschaft der Täter identifizieren müsste, werden dagegen gerne verschwiegen. Die Opfer der Teilung Indiens und Pakistans bleiben bis heute in beiden Ländern als auch in Großbritannien unsichtbar. Ein noch unfertiges „Menschlichkeitsdenkmal“ in Gedenken an die ermordeten Armenier und Armenierinnen im türkischen Kars wurde 2011 auf Geheiß von Präsident Erdogan wieder abgerissen. Die U.S.A. haben viele Denkmale, aber zentrale Mahnmale für die Opfer der Sklaverei oder des Genozids an Native Americans sind immer noch nicht in Sicht. Auch räumliche Erinnerung muss in den Rahmen des Heute gestellt werden. Die technologische Beschleunigung hat ja nicht nur zur Radikalschrumpfung der Zeit auf den Augenblick samt seiner Globalsynchronie geführt, sondern gleichzeitig den Ort soweit reduziert, dass Virilio eine der „Götterdämmerung“ folgende „Ortsdämmerung“ (crépuscule des lieux) diagnostiziert, deren Ursachen er in der Telepräsenz und der damit einhergehenden Fähigkeit des Individuums zur Multilokation, dem zumindest virtuellen Aufenthalt an mehreren Orten gleichzeitig sieht (Virilio 2011, 70, 82). Im Gegensatz zu diesen sich rasch wandelnden Selbstverortungspraktiken symbolisieren alle Gedenkstätten, Mahnmale und auf andere Art markierten Plätze der Vergangenheit eine Ruhigstellung auch des Raums. Sie verstetigen Diachronie als statische Materialität einer vergangenen Epoche an einem bestimmten Ort. Ein Mahn- oder Denkmal ist also schon aus Gründen unserer heutigen Lebenswelt ein Anachronismus. Zudem ist es in der Regel aufgrund der Monumentalität meist Ausdruck von politisch dominanten Ideologien (Wippermann 2012). „Die Opposition baut, solange sie nichts als Opposition ist, keine Denkmale“, urteilt Nipperdey knapp (1968, 531).

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Mithin dürften Gedenkstätten und Mahnmale, auch wenn sie in der Regel herrschende Verhältnisse affirmieren, ein potenzieller Fluchtort vor dem Druck einer (in Virilios Worten) auf Nanochronologie reduzierten Lebenswelt sein. Absurd. Denn folgt man dieser Überlegung, so sind diese hergerichteten Orte zwar ein hic et nunc des vergangenen Terrors. Deswegen sind sie aber gleichzeitig Orte, die einen innerlich empfundenen moralischen Aufruf zum Verlassen einer hyperaktiven Alltags-Grundhaltung verursachen. Dieser Effekt wird dann als Erholung vom Stress der Gegenwart wahrgenommen. Genau das mag es gewesen sein, was der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder meinte, als er sagte, das Holocaust-Mahnmal in Berlin solle ein Ort sein, den man „gern mal besucht“ (Feddersen 2006). Verlangsamung, gar Kontemplation kann man sich nur an Orten erlauben, die einem eine gewisse Ehrfurcht vor dem Grauen und Terror abringen, die noch in Grenzen der Kommodifizierung durch den Tourismus aufgrund ihres entsetzlichen Erinnerungscharakters standhalten. Von Mahnmalen ohne Ortsbezug, in Berlin besonders zahlreich, sind Gedenkstätten an ehemaligen Konzentrationslagern, in Gefängnissen oder auch der Zentrale des Nazi-Repressionsapparats, der Topographie des Terrors, kategorisch zu unterscheiden. Denn an diesen Orten fanden die Verbrechen tatsächlich statt. Auf dem Ettersberg bei Weimar, am Nordrand des Tempelhofer Flugfelds, am Schwedt-See in der Uckermark stehen BesucherInnen auf demselben Boden, auf dem die Nazis ihre Verbrechen verübten. Kittsteiner (1999, 64) fasst den Unterschied zwischen Denkmal und Gedenkstätte eingängig zusammen: „Herrscht im Denkmal die Gegenwart über die Vergangenheit, so im Überrest die Vergangenheit über die Gegenwart.“ Doch auch Gedenkstätten kommen ohne eine Arbeit am Erhalt, ohne Schutz und Restaurierung nicht aus, sollen sie die Zeiten überdauern. Den meisten Konzentrations- und Vernichtungslagern wurde zudem durch Mahnmale unterschiedlichster Arten eine Ästhetik verpasst, die sie vom Zustand zur Zeit des Nationalsozialismus deutlich absetzt. Nun sollte man die Frage nach einer potenziellen Monumentalisierung des Leidens sowie grausamer Verbrechen vielleicht zunächst an die betroffenen Überlebenden und deren Nachkommen richten. Vielfach wurden an Orten des Verbrechens selbst Gedenkstätten eingerichtet, mit mehr oder weniger Beitragsmöglichkeiten seitens ehemaliger Häftlinge. So waren Sachsenhausen, Buchenwald und Ravensbrück zu Zeiten der DDR dominiert von einer Darstellung des kommunistischen Widerstands, der andere Häftlingsgruppen weitgehend vergessen ließ. Zu ihrem Entsetzen mussten ausgerechnet jüdische Überlebende bei Besuchen in Auschwitz vor 1989 eine respektlose Vernachlässigung der jüdischen Opfer feststellen (T. Cole 2013, 113–114). In diesen Fällen geht es weniger um eine Hegemonie von Zeitschichten als von

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Gesellschaftsgruppen. Das führt direkt zur Frage, wie denn Überlebende bei späteren Besuchen Orte wahrnehmen, an denen sie selbst einst ihr Dasein fristen mussten, während viele ihrer nächsten Anverwandten oder Bekannten dort ihr Leben ließen. Meist ist solch ein Besuch mit starken emotionalen Belastungen verbunden, aber auch mit einer ambivalent zu bewertenden Enttäuschung. Eva Fahidi (2011, 22) schreibt über ihren ersten Besuch in Auschwitz nach Entkommen von dort: „Ich hatte Angst, alles wieder durchleben zu müssen, das Eingepferchtsein, die Demütigung, die Unbarmherzigkeit, das Gebrüll, Dreck und Gestank, Hunger und Durst. [...] Die Begegnung war erschütternd. Aber auf eine andere Art, als ich erwartet hatte. Was ich sah, berührte mich nicht. Auschwitz war zur Touristenattraktion geworden. Das wahre Auschwitz kam nicht zum Vorschein. Birkenau empfing mich mit einer klaren, reinen Luft, mit einem lauen, leichten Wind. Die Landschaft war mir vollkommen fremd geworden. Die frische, mit dichtem grünem Gras bewachsene Wiese vermittelte ein angenehmes Gefühl von Ruhe. [...] Am Rande dieser Landschaft, exakt angeordnet wie in einem Barockgarten, standen die Ruinen der gesprengten Krematorien. Hier bin ich nie in meinem Leben gewesen. [...] Was kann dieser Ort, der mir jetzt nichts sagt und der nichts wiedergibt von dem, was damals war, dann einem Außenstehenden bedeuten?“

Ruth Klüger (1992, 67) äußert sich in ganz ähnlicher Weise nach einem Besuch in Dachau: „Da war alles sauber und ordentlich, und man brauchte schon mehr Phantasie, als die meisten Menschen haben, um sich vorzustellen, was vor vierzig Jahren gespielt wurde. Steine, Holz, Baracken, Appellplatz. Das Holz riecht frisch und harzig, über den geräumigen Appellplatz weht ein belebender Wind, und diese Baracken wirken fast einladend. Was kann einem da einfallen, man assoziiert eventuell eher Ferienlager als gefoltertes Leben.“

Beide Aussagen stellen zunächst fest, dass ein Nacherleben auch des eigenen Leids an solchen Orten nicht möglich ist: Hier bin ich nie in meinem Leben gewesen. Eva Fahidi scheint den weiter oben beschriebenen Rahmen eines Nacherlebens (s.S. 177–187) als wichtigen Aspekt einer historischen Beschäftigung mit der Nazi-Zeit, die über das rein Faktische hinausgeht, in einem einzigen Satz vom Tisch zu wischen. Der materielle Rahmen ist so fundamental verändert, dass kein Versuch gelingen kann, diese Vergangenheit in der Gegenwart noch zu erfassen. Das manifestiert sich in ganz simplen Beobachtungen. Zum Beispiel findet Cole in den Aussagen Überlebender als zentrale Beobachtung, dass das

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Wachsen von Gras nicht als ästhetisierend, sondern als verfälschend empfunden wird. „If there was one blade of grass you know what would have happened, you would have eaten it“, zitiert er Kitty Hart (T. Cole 2013, 115).120 Was ist dann aber der Wert von Gedenkstätten an Orten des Terrors? Was denken und/oder empfinden BesucherInnen, die ein ganz anderes Verhältnis zu den Geschehnissen vor Ort mitbringen als Überlebende? In der Literatur besteht die Tendenz dazu, Wissen samt Kritikvermögen streng von emotionalem Nacherleben zu trennen, obwohl sie gerade an diesen Orten in unvorhersehbarer Art zusammenfließen. Ist die Empathie mit Opfern möglich, ist sie überhaupt wünschenswert? Ist eine solche Empathie daran gebunden, selbst wenigstens ein potenzielles gewesen zu sein? Peter Weiss etwa schreibt über seinen AuschwitzBesuch: „Es ist eine Ortschaft, für die ich bestimmt war und der ich entkam. Ich habe selbst nichts in dieser Ortschaft erfahren“ (Weiss 1981, 14). Günther Anders und Theodor Adorno streuen ähnliche Bemerkungen in ihren Schriften ein. Diese Ausgangsposition unterscheidet sich radikal von der fast aller Jugendlichen, die heutzutage einen solchen Ort besuchen. Ausnahmen sind Schulklassen aus Israel, die bei Auschwitz-Besuchen so vorbereitet werden, dass der Effekt entstehen kann, dieser Ort wäre potenziell auch für ihr Ende bestimmt gewesen (Assmann und Brauer 2011, 87). Marianne Hirsch schlug für dieses Phänomen den Begriff des „post-memory“ vor, „distinguished from memory by generational distance and from history by deep personal connection“ (Hirsch 1997, 22). Sie wendet den Begriff grundsätzlich auf die Nachkommen der Opfer des NS-Terrors an. Meines Erachtens wäre dann zu überlegen, wie weit er mit umgekehrtem Vorzeichen ebenso auf die Nachkommen der Täter zutrifft. In diesem Sinne wäre „post-memory“ das Gefühl, für eine Täter-Rolle bestimmt gewesen zu sein, eine Empfindung, die sich deutlich von geerbter Schuld unterscheidet. Die Überlegungen von Hirsch implizieren, dass Kinder von Überlebenden der zweiten und dritten Generation grundsätzlich ein anderes Verhältnis zu solchen Orten haben als Kinder, deren Vorfahren in keinerlei Verhältnis zu den Verfolgungen standen. Hirsch lässt die Nachfahren der Täter aus, es ist jedoch offensichtlich, dass auch sie Teil einer „post-memory community“ unter anderen Bedingungen sein müssten. Die Grenzen des Zugehörens zu einer „postmemory community“ sind allerdings insgesamt unscharf. Die genealogische De-

120 Gerade an diesem zielsicher von so vielen Überlebenden beobachteten Detail lässt sich die ästhetisierende Entwicklung der Gedenkstätte nachverfolgen. Denn Primo Levi beschreibt einen älteren Zustand anlässlich seines Besuchs in AuschwitzBirkenau im Jahre 1965, 16 Jahre vor Kitty Harts Rückkehr: „Hier hat sich nichts verändert. Hier war Schlamm, und hier ist noch immer Schlamm“ (Levi 1999, 202).

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finition ist zu rigide, denn sie sollte offen sein auch für eine in Israel aufgewachsene Jugendliche mit äthiopischer Abstammung oder deutsche Kinder mit migrantischen Großeltern. Beinhaltet dieses laterale Erweitern von post-memory auf ganze Generationen letztlich eine Gefahr des Kontrollverlusts über Erinnerung? „As a third generation grows to maturity and postmemory becomes increasingly dissociated from memory, we are left to speculate on how and what these images can communicate in the different contexts into which they will be inserted“ (Hirsch 1997, 264). Mir scheint ein solches Nach-Erinnern im Sinne von Hirschs „post-memory“ weniger produktiv als ein Erinnerungsbegriff, der auf einem Zusammentreffen von Vorwissen und dem erwähnten Nacherleben basiert. Tatsächlich belegen empirische Untersuchungen, dass Gegenstände und Gebäude neben Dokumenten und Filmen Jugendliche bei Gedenkstätten-Besuchen am stärksten beeindrucken. „Allgemeine Themen und der Gesamtkontext fanden gegenüber individuellen Schicksalen und konkreten Objekten kaum die Aufmerksamkeit der Besucher. Überblickstexte und Dokumente wurden nicht gelesen und dazugehörige Tondokumente kaum gehört“ (Pampel 2007, 103). Kurzum, die Erwartungen von SchülerInnen beim Besuch von Gedenkstätten, sofern sie nicht ein schulisches Pflichtprogramm sind, richten sich auf den Bereich der Alltagsgeschichte aus, nicht aber auf einen Überblick oder gar ein kritisches Durchdenken der Zusammenhänge zwischen Alltag und größeren Gesellschaftsstrukturen. Dieses kleinskalige Interesse wird interessanterweise oft als „Nichtwissen“ thematisiert. Wieviorka (2006, 92–94) sieht in der Suche nach dem persönlichen Schicksal die Neutralisierung der Geschichtswissenschaft – doch warum soll der Zugang zur Geschichte und ein kritisches Verhältnis zum Nazi-Terror des 20. Jhs. nicht alltagsgeschichtlich-kleinskalig sein? Hierauf komme ich weiter unten nochmals im Zusammenhang mit Reaktionen der Studierenden auf die Grabungen in Tempelhof zurück. Das Interesse am persönlichen Schicksal, die manchmal starken emotionalen Effekte der Empathie beinhalten eine tiefer gehende Problematik. In einer weitgehend objektivierten modernen Welt trägt Empathie eine Dialektik des in jedem imaginativen Fremdbezug enthaltenen Selbstbezugs in sich. Zum Beispiel stritt Kittsteiner den Plänen für das Berliner Holocaust-Mahnmal jede genuine Erinnerungsabsicht ab und meinte, es handele sich bei diesem „Erlebnispark ‚Holocaust-Denkmal‘“ um eine Demonstration der Faszination der Deutschen mit ihrer eigenen Betroffenheit (Kittsteiner 1999, 68). Lars Rensmann (2000a, 149) unterstrich dies unter Berufung auf einen Artikel von Jürgen Habermas: Erinnern dürfe nicht der narzisstisch verselbständigten Selbstbezüglichkeit dienen.

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Und Ruth Klüger zeigt kaum mehr Milde, wenn sie zu den KZ-Gedenkstätten bemerkt: „Ein Besucher, der hier steht und ergriffen ist, und wäre er auch nur ergriffen von einem solchen Gruseln, wird sich dennoch als besserer Mensch vorkommen. Wer fragt nach der Qualität der Empfindungen, wenn man stolz ist, überhaupt zu empfinden? Ich meine, verleiten diese renovierten Überbleibsel alter Schrecken nicht zu Sentimentalität, das heißt, führen sie nicht weg von dem Gegenstand, auf den sie die Aufmerksamkeit nur scheinbar gelenkt haben, und hin zur Selbstbespiegelung der Gefühle?“ (Klüger 1992, 76)

Für alle Konzentrationslager-Gedenkstätten gilt, dass es schlicht keine „richtige“ (oder gar den historischen Realitäten entsprechende) Einstellung zu solchen Orten geben kann. Frühere Insassen von Nazi-Lagern werden oft von Ängsten der Wiederkehr von Traumata geplagt. Obwohl es auch da Ausnahmen zu geben scheint. Denn im Gegensatz zu Klüger und Fahidi äußert sich Jorge Semprun zur Umgestaltung des KZ Buchenwald eher positiv: „Man hatte den Stacheldrahtzaun beibehalten. [...] Der Kontrollturm über dem Eingangstor war noch da und entsprach genau der Erinnerung, die ich von ihm bewahrte. [...] Alles übrige war abgerissen worden, aber wie bei einer archäologischen Grabungsstätte waren der Standort und die Grundmauern jeder Baracke, jedes Steinblocks durch Rechtecke aus grauem Split gekennzeichnet, eingerahmt von einer Steinumrandung, und an der Ecke eines jeden erinnerte ein Markstein an die Nummer. [...] Das Ergebnis war von unglaublicher, dramatischer Kraft. [...] Das Leben war auf den Hügel des Ettersbergs zurückgekehrt.“ (Semprun 1995, 347–348)

Mit dem zurückgekehrten „Leben“ meint er nicht menschliches Leben – wie schon zitiert, war für ihn die Zeit in Buchenwald eine des Todes – sondern die Natur als Inbegriff des Lebendigseins. Und Bertrand Herz (2011, 166) berichtet von einem Besuch mit seiner Frau in Buchenwald im Jahr 1993: „Als wir in die Gedenkstätte hineingingen, sagte ich zu ihr: ‚Hier bin ich zu Hause. Ich bin hier zu Hause‘. Ich erkannte das Lager sofort wieder. Nun, es gibt natürlich die Baracken und all das nicht mehr, aber den Ort habe ich sofort wiedererkannt. ‚Ich bin hier zu Hause‘.“ Wenn ehemalige Häftlinge Lager besuchen, haben sie also sicherlich jeweils singuläre und unvergleichbare Reaktionen. Für alle anderen BesucherInnen solcher Gedenkstätten aber verkommt eine empathische Konzentration auf eine von derartigem Terror durchwirkte Geschichte ohne die fundamentale Erkenntnis der Unzulänglichkeit der eigenen Vorstellungskraft zu selbstmitleidigem Kitsch (Reck 2009, 172–173).

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Stadtlandschaften sind funktional stark differenziert und ändern sich schneller und grundsätzlicher als die peripheren Gegenden, in denen sich die Konzentrationslager meist befanden. Wer im urbanen Raum Gedenkstätten besucht, muss daher eine größere Imaginationsleistung aufbringen als die BesucherInnen der ländlichen Lager und Außenlager. Wenn KZ-Orte wie Ravensbrück oder Buchenwald vor allem durch eine Absenz des Vergangenen und die Sichtbarmachung dieser Absenz gekennzeichnet sind, werden Wahrnehmungen in bestimmte Richtungen gelenkt. Den Ort des KZ Columbia hingegen erfährt man als sinnlich stark überlagert: am Rande liegt eine vielbefahrenen Ost-West-Verkehrsader der Südperipherie von Berlins Zentrum. Streifenwagen verlassen häufig mit Sirene und Blaulicht das gegenüber liegende Polizeirevier. Der städtische Lärm lässt erst am Abend und in der Nacht nach, wenn das Gelände schon abgeriegelt ist. Abbildung 6.5: Das Weserflug-Lager am Columbia-Damm, Tempelhof

(Dez. 1943 oder Mitte Februar 1944, nach Bauzustand des Lagers zu schließen)121

Das Zwangsarbeitslager der Firma Weserflug liegt unter Beachvolleyball- und Baseball-Feldern, wobei in den Sommer- und Herbstmonaten Massen an Men121 Eine Datierung der Aufnahme in den Winter 1943–44 ist aufgrund der zwei am rechten Bildrand gerade noch wahrnehmbaren Baracken möglich. Nach Luftbildern der Royal Air Force wurden diese im Verlauf des Jahres 1943 aufgestellt, so dass das Foto aus dem Winter 1943–44 stammen muss. Die Untersuchungen von Paul Schlaak (2000) zum Berliner Wetter in der Nazi-Zeit – es liegt Schnee – deuten auf eine Datierung entweder in die erste Dezemberhälfte 1943 hin, oder ganz kurz vor Zerstörung der Baracken durch eine Brandbombe um Mitte Februar 1944. Aufnahme vom Dach des neuen Flughafenbaus nach Osten.

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schen mit allerlei Sportgerät wie Drachen, Rollschuhen und Skateboards auf das Feld strömen. Der Geruch des Grillens wabert aus dem Gelände herüber. Die Öffnung des Flughafen-Geländes für die Berliner Bevölkerung führte zu einer fundamentalen politisch-ökonomischen Umverteilung des Sinnlichen, die der Konzentration auf Örtliches abträglich ist und eine komplexe Ausgangsvoraussetzung für den Umgang mit Erinnerungsorten teils verbaut. Das Gefühl von historischer Authentizität kann an einem solchen Ort kaum entstehen. Dabei habe ich den heutzutage dominanten visuellen Sinn noch gar nicht einbezogen. Wie stark sich die Landschaft des Tempelhofer Feldes in dieser Hinsicht geändert hat, lässt sich anhand zweier Fotos des Tempelhof-Geländes nahe am Columbia-Damm entnehmen, wo sich das Weserflug-Lager befand (Abb. 6.5 und 6.6). Die Gegenüberstellung zeigt die Differenzen zwischen einem Zustand im Zweiten Weltkrieg und dem heutigen Flughafengelände. Man erkennt unschwer gewichtige Gegensätze, die unabhängig von formalen Merkmalen der Bilder bestehen: der ostensible Gegenstand des Nazi-Fotos Abb. 6.5 ist das Zwangsarbeitslager, auf dem dicht gedrängt Baracken und dazwischen vor allem Zäune sowie kleine, ad hoc erstellte Anbauten auszumachen sind. Das Bild suggeriert Enge und Abweisend-Unwirtliches. Abgrenzungen gibt es auch unter heutigen Umständen, doch sie trennen nicht Ausgeschlossene von der „Volksgemeinschaft“, sondern sind rein spielerisch auf das Sportlich-Agonale ausgerichtet. an diesem Ort der Feierabend- und Wochenendvergnügungen kann kaum ein Eindruck der Authentizität eines Ortes der Versklavung von Arbeitern und Arbeiterinnen aufkommen. Abbildung 6.6: Ansicht der Fläche des ehemaligen Weserflug-Lagers von Westen, Juni 2017

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Nun wäre der Wunsch nach Authentizität an Orten des „negativen Kulturerbes“ nicht verfehlt, sondern furchtbar. Wer will schon die damaligen Verhältnisse auch nur entfernt authentisch um sich haben? Grundsätzlich ist der Wandel vom KZ, KZ-Außenlager oder Zwangsarbeitslager zum Gedenkort zweifelsohne positiv zu bewerten. Auch Eva Fahidi und Ruth Klüger sind ja nicht darauf aus, die Orte so zu halten, wie sie in der Nazi-Zeit waren. Denn auch für Lager gilt, was Améry (1977, 63) über die Folter durch die SS schrieb: „Wer seinen Körperschmerz mitteilen wollte, wäre darauf gestellt, ihn zuzufügen und damit selbst zum Folterknecht zu werden.“ Fahidi und Klüger fragen aber berechtigterweise, wie denn jemand, der nie KZ- oder Zwangsarbeitszustände kennengelernt hat, in ästhetisch aufgehübschten Gedenkstätten das nachempfinden können soll, was sie selbst durchlebt haben. Auch hier treffen wir auf eine Aporie. Die Bedingung für das Erinnern ist die Zerstörung des zu Erinnernden.

Archäologie und „Incorporated Memory“ Im internationalen archäologischen Diskurs über Erinnerung spielt Paul Connertons How Societies Remember (1989) eine zentrale Rolle. Er unterscheidet zwischen „inscribed memory“ als Objekte, Texte und Monumente, die extern und bewusst Vergangenheit dokumentieren, und „incorporated memory“, welches aus dem Durchführen körperlicher Routinehandlungen im Umgang mit der Welt entsteht (Connerton 1989, 71–72). Archäologisch sind beide empirisch greifbar, obwohl „incorporated memory“ als Performanz nicht direkt, sondern nur aus den Affordanzen der Objektwelt erschließbar wird (Olsen 2010, 121–126). Eine dritte, von Connerton nur flüchtig gestreifte Art des Erinnerns besteht im Vergessen bzw. dem Auffinden des Vergessenen und besonders des Verdrängten. Freud war nicht umsonst stark an Archäologie interessiert und sprach von der Psychoanalyse immer wieder als einem Ausgraben des Unbewussten. Allerdings ist das Freud’sche „Ausgraben“ natürlich ein rein diskursiver, narrativer Akt, in der Archäologie hingegen eine körperliche – und damit verkörperte – Praxis. Ich gehe im Folgenden kurz auf diese drei Arten des Erinnerns im Modus eines Verhältnisses der Gegenwart zur Vergangenheit ein. Im Falle des Nationalsozialismus spielt gerade die dritte, die Vergessens- und Verdrängungsvariante des Erinnerns, eine enorme Rolle. Connertons „inscribed memory“ findet seinen Ausdruck in den oben beschriebenen Gedenkstätten, Denk- und Mahnmalen. Hier wird gezielt Erinnerung produziert, die unabhängig von den lebenden, jede kollektive Erinnerung tragenden Subjekten überdauern soll. Die Anstrengung der meisten Gedenkstät-

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ten richtet sich daran aus, diese Orte nicht nur als sachliche Geschichtsorte erfahrbar zu machen, sondern als Erinnerungsorte. Der Unterschied ist gewichtig und liegt vor allem an der einem Platz zugewandten inneren Einstellung der BesucherInnen. Denn „inscribed memory“ appelliert an zwei grundsätzlich unterschiedliche Annäherungsweisen, eine eher emotional-empathische und eine distanziert-rationale. Exemplarisch beschreibt dies Michael Shanks (2012, 99–101) in seinen Ausführungen zu britischen Reisenden und Geographen des 18. und 19. Jhs., wobei er zwischen „Chorographen“ und „Topographen“ unterscheidet. Für erstere ist das Verhältnis zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart eines Ortes von größter Bedeutung. Sie verwenden ihre ästhetischen Energien auf landschaftliches Detail, etwa in einer bis ins einzelne gehenden Beschreibung von Gesteinsarten, ihren visuellen Aspekten, aber auch ihrer Wetterbeständigkeit und der Eignung für das Bauen. Landschaftsbeschreibung besteht nicht im Abstrahieren auf eine zeitlose Gegenwart, sondern schließt Potenziale und Dynamiken ein. Die frühe Topographie hingegen interessiert sich nach Shanks für Landschaftsgeometrie und das rational Nachvollziehbare. Sie produziert daher ein objektivierend-diagrammatisches Verhältnis zur Landschaft, welches mit dem Einsatz der Photographie im 19. Jh. immer abstraktere Formen annimmt. Wissenschaften haben sich weit entfernt von Chorographie. Die abstrahierende Einstellung gegenüber Landschaften reicht heute über den akademischen Bereich hinaus bis weit in den Alltag: Google Earth ist das beste Beispiel für die visuelle Allmacht über einen geometrisierten Raum. Wissenschaftler wie Karl Schlögel (2003), die sich eines „chorographischen“ Zugangs und einer poetisch angehauchten Narration zum Raum befleißigen, werden gerade von KollegInnen aus dem Wissenschaftsbereich scharf kritisiert (s. Döring und Thiemann 2008, 20–24). Gedenkstätten sollten jedenfalls darauf vorbereitet sein, dass BesucherInnen mit topographischen als auch chorographischen Grundeinstellungen und Erwartungen kommen. Zurück zu Connertons Erinnerungsmodi. „Incorporated memory“ ist ein „Sediment“ des Alltagshandelns, welches in nicht-kognitiver und nicht-diskursiver Weise tradiert werden kann (Connerton 1989, 102–103). Dieser verkörperte Erinnerungsmodus wandelt sich als ein umfassender Zeithorizont mit den Sachumgebungen, nicht notwendig aber mit der politischen Geschichte. Nach Olsen (2010, 124) ist allerdings aus archäologischer Sicht in dieser Art des Erinnerns eine Schwachstelle festzustellen, da es gerade die Dinge selbst sind, die sogar über den Rahmen eines menschlichen Lebens hinaus das verkörperte Gedächtnis stabilisieren: er meint, die Dauer, das Verbleiben der Objekte, und damit des verkörperten Gedächtnisses insgesamt, werde vernachlässigt.

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Abbildung 6.7: Komplette Gegenstände aus Entsorgungskontexten in Tempelhof, datierend in die Nachkriegszeit: (a) U.S.-amerikanisches Soldaten-Essgeschirr; (b) Parker-Tintenfass; (c) „Bromo-Seltzer“ Flasche;

Die schon erwähnte Tempelhofer Abfallgrube und der als „trash point“ von der U.S. Air Force benutzte Feuerlöschteich nahe des ehemaligen LufthansaZwangsarbeitslagers bieten nun ein gutes Beispiel dafür, dass auch Olsens Fokus auf der fundamentalen Rolle der Objekte für das verkörperte Gedächtnis zu abstrakt und ahistorisch konzipiert ist. Zwar sind die Funde noch nicht im Detail und quantitativ ausgewertet, doch zeichnet sich schon jetzt ab, dass zwischen der Nazi-Zeit und der Nachkriegszeit trotz der Ähnlichkeiten etwa in konsumiertem Fleisch auch ein deutlicher Umschwung im Verhältnis zwischen Mensch und Ding auszumachen ist. Dieser besteht im Bereich des Entsorgungsverhaltens. Nach der Befreiung 1945 ist der Anteil vollständiger Objekte in Abfallkontexten wesentlich höher als davor. Zahnbürsten, halb gefüllte Tuben, Tintenfässer, teils noch Tinte enthaltend, unzählige komplette Haargel-Flaschen, Essgeschirre, Aschenbecher, aber auch ein kleiner, kobaltblauer Behälter für „Bromo-Seltzer“, eine „Medizin“ gegen Kater sich in den extrem fundreichen Abfallkontexten stammen alle aus der Nachkriegszeit (Abb. 6.7). Man mag dies oberflächlich für den Unterschied zwischen einer dem Krieg und der Knappheit angepassten Sparsamkeit einerseits und der Fülle des Friedens danach halten. Das wäre aber im Angesichte der Berlin-Krise, der allgemein hoch angespannten Situation von West-Berlin und des aufkommenden „Kalten Kriegs“ zu einfach. Vielmehr ist damit zu rechnen, dass Einweg-Verpackungen von Lebensmitteln und anderem in den U.S.A. schon seit den 1930er Jahren insgesamt häufiger als in Europa genutzt wurden. Insbesondere sind die Ursachen für ein sich änderndes Entsorgungsverhalten aber in der Lebensmittelverpflegung im Militär zu suchen. Wo Mitglieder der Wehrmacht nur dann an eine „Eiserne Ration“ kamen, wenn der Notfall ausbrach und die Offiziere den Verzehr erlaubten, beauftragte der Quartermaster des U.S. Militärs die Produk-

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tion von Einheitsrationen in riesigen Mengen. Das in Konservendosen gelieferte, einzeln verpackte, standardisierte Essen wurde massenhaft von unterschiedlichen Unternehmen in den U.S.A. produziert und für die Soldaten angeliefert, die mit der Zeit nicht nur an Lebensmittelverpackungen gewöhnt wurden, sondern ebenso an das Wegwerfen der Büchsen, des Plastiks und anderer Einpackreste. Die unbeabsichtigten Folgen dieser Militärverpflegung zeigen sich in einem allgemeinen gedankenlosen Entsorgungsverhalten, das uns in den Funden der Müllkontexte entgegentritt. Im Übergang von der Nazi- zur U.S.-Besatzungszeit finden wir also nicht nur die oben beschriebene Kontinuität, sondern auch eine sich rasch wandelnde Relation zwischen Menschen und Dingen, in diesem Falle spezifischer zwischen Militärangehörigen und Dingen. Das Dauerhafte an Objekten liegt nicht so sehr in ihrer Materialität, Kompaktheit oder Form (wie von Olsen insinuiert), sondern eben doch in den mit den Dingen befassten Menschen. Tatsächlich ändert sich mit Einweg-Produkten nicht unbedingt das Zusammenspiel von Eigenheiten der Dinge (wie Form, Farbe, Gewicht) und menschlichen Sinneswahrnehmungen, sondern es ändern sich Temporalitäten dieses Verhältnisses: von tendenziell dauerhafter Einmaligkeit zu kurzfristiger Serialität des Immergleichen. Dieser grundsätzliche Wandel ist nicht nur für eine Geschichte des Tempelhofer Feldes zur Mitte des 20. Jahrhunderts von Belang, sondern für Erinnerungsvorgänge über das Medium des Materiellen insgesamt. Neben den beiden von Connerton diskutierten Arten des Erinnerns besteht eine dritte Eine dritte im Vergessen des nicht Ausgelöschten. Die Grabungen auf dem Tempelhofer Feld bestätigten gesellschaftliches Vergessen, wenn AnwohnerInnen bei Führungen ihrer Verwunderung über die Geschichte des Ortes Ausdruck gaben. Auch etliche der in Berlin aufgewachsenen Studierenden, die auf der Ausgrabung mitarbeiteten, hatten vorher von den Lagern auf dem Feld nicht gehört. Dass es in Berlin und Umgebung Hunderte von Barackenlagern gab (s. Demps 1986; Kubatzki 2001), bleibt heute verborgen, zumal eine große Anzahl derartiger Orte wohl längst komplett zerstört ist. Dennoch finden immer wieder Ausgrabungen statt, wenn BürgerInnen oder auch Institutionen diese anstoßen, wie etwa auf dem Gelände von Zwangsarbeitslagern in Rudow oder Dreilinden (s. Ludwig 2014; Martin und Sjöberg 2011). Doch es geht nicht nur um Lager. Auch die schon erwähnte Entdeckung der wahrscheinlich durch das KaiserWilhelm-Institut für Anthropologie, Menschliche Erblehre und Eugenik vergrabenen Menschenknochen ist Teil dieser Geschichte (s.S. 161–174). Ein weiteres Beispiel sind die Grabungen an der Königstraße 50 in Berlin Mitte, wo im Jahre 2010 etliche bislang verschollene Skulpturen der Nazi-Ausstellung „Entartete Kunst“ des Jahres 1938 zutage kamen (Wemhoff 2012). Archäologie produziert

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eine ungeplante Erinnerung, plötzlich und unabsehbar zutage tretende Relikte aus der Vergangenheit, wobei aber diese fundamentale Unabsichtlichkeit umso stärker auf das Erinnern wirkt. Hier mag sich bewahrheiten, was Adorno in einem der letzten Briefe an Walter Benjamin schrieb: „Das Vergessen ist in gewisser Weise die Grundlage für beides, für die Sphäre der ‚Erfahrung‘ oder mémoire involontaire, und für den reflektorischen Charakter, dessen jähe Erinnerung selbst das Vergessen voraussetzt. Ob ein Mensch Erfahrungen machen kann oder nicht, ist in letzter Instanz davon abhängig, wie er vergisst“ (Adorno 1994, 417). Die Zusammenhänge mit Freuds Ideen zum Verdrängen und dem Hervorholen desselben aus dem Unbewussten sind unübersehbar (Werner 2015). Doch was heißt dies konkret für eine NS-Orte ausgrabende Archäologie? Wenn schon Berlin solch ein dichtes Netz an Orten hat, die an den Nazi-Terror erinnern, was wird dann aus den über 40.000 Lagern, die die Institutionen des Systems nach Schätzungen des U.S. Holocaust Museums angelegt hatten (Lichtblau 2013)? Wie wird die Zukunft dieser Vergangenheit aussehen? Werden diese Lager mit der Zeit alle ausgegraben? Staatsanwalt Hausner formulierte im Eichmann-Verfahren, es könne einen Erinnerungsüberschuss geben: „There is a maximum volume of noise that a human ear can take in; any louder explosion leaves us deaf. [...] There is a limited intensity of horrors that our minds can grasp; any further piling up of shocks fails to register – it makes us recoil and leaves us blank. We stop perceiving living creatures behind the mounting totals of victims; they turn into incomprehensible statistics.“ (Hausner 1966: 292)

Ähnlich, nur apodiktischer schreibt Harald Welzer, dass „der Erkenntniswert des einzelnen Falles inzwischen gegen null geht“ (Giesecke und Welzer 2012, 20; identisch: Welzer 2011). Konstatiert wird hier ein Zuviel an Vergangenheit und Erinnerung, wie dies schon 140 Jahre vor Welzer Friedrich Nietzsche diagnostiziert hatte (Nietzsche 1994 [1874]). Nietzsche äußerte sich allerdings vor dem Holocaust. Der Erkenntniswert des einzelnen Falles geht also nach Welzer gegen Null. Zwei äußerst merkwürdige Auffassungen stecken in diesem Satz. Erstens scheint es so, dass neue Daten im historischen (und archäologischen) Bereich wie Statistiken behandelt werden sollten. Wenn ein Archiv-Fund Einblicke in den Alltag des frühen 19. Jh. im thüringischen Kahla möglich machen sollte, ist das dann auch ein gegen Null gehender Erkenntniswert, weil es aus Thüringen schon ähnliche Dokumente gibt? Soll die nächste zufällig entdeckte römische Villa in der oberrheinischen Tiefebene weggebaggert werden, da wir deren genug andere Exemplare kennen? Es scheint, als solle in Geschichte und Archäologie das Re-

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dundanz-Prinzip eingeführt werden: was schon in ähnlicher Weise aus anderen Zusammenhängen bekannt ist, kann weg. Bislang war das Redundanzprinzip in den mit Vergangenheit beschäftigten Disziplinen grundsätzlich unwirksam, bevor nicht alle Quellen zumindest auf ihre jeweilige Relevanz untersucht waren. Umso beunruhigender ist es, dass Welzer dieses Prinzip ausgerechnet im Zusammenhang mit der Nazi-Zeit in die Diskussion bringt. Wohl mit der Ansicht, das Maß an Wissen und Forschung reiche jetzt. Letztlich spricht aus diesen Texten die Angst vor der Allgegenwart des Kollektivverbrechens, die er in statistischen Vokabeln zu vertuschen sucht. Auf einen zweiten Aspekt von Äußerungen dieser Art macht Norbert Frei aufmerksam, wenn er betont, dass „es [...] falsch [wäre], der von jeher gestellten Frage, was denn die NS-Forschung immer noch zu forschen habe und ob es nach 20, 30, 40 oder 50 Jahren nicht ‚endlich genug‘ damit sei, nun mit dem Hinweis auf eine neue Materialgrundlage begegnen zu wollen. Ein solches Hilfsargument käme der prosperierenden Forschung zur Geschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts bezeichnenderweise gar nicht in den Sinn“ (Frei 2009, 76).

Die Vergangenheit ist kein der Gegenwart äußerliches Phänomen, wie schon betont, sondern existiert auf multiplen Zeitebenen, so als materieller Rest in der Gegenwart oder als blitzartiges Aufscheinen aus anderen Zeiten. Unter anderem aber auch als unwiderruflich Geschehenes. Doch Forschung etabliert immer ein gegenwartsspezifisches Verhältnis zur Vergangenheit, so dass es im historischen Bereich aufgrund des dauernden Fortschreitens dieser Gegenwart kein „fertig geforscht“ geben kann. Welzers gesamte Herangehensweise ist angreifbar. Er spricht vom „Erkenntniswert des Einzelfalls.“ Dies ist der kalt berechnende soziologische Blick. Erkenntnis ist offensichtlich als „Wert“ kalkulierbar, und Einzelelemente der Erkenntnis sind gegeneinander abwägbar. Das setzt genau den vergleichenden Ansatz im Alltag voraus, den ich in Kapitel 5 bereits als für Kontexte vergangenen Leidens unangemessen kritisiert habe. Das Ganze formuliert Welzer, als ob ihn die Vergangenheit der Gesellschaft, in der er lebt, nicht tangiert, als ob eine radikal verdinglichende Einstellung im heutigen Umgang mit den Erniedrigungen der Ausgestoßenen das einzig Angemessene sei. Den Klagen der übersteigerten Menge an Erinnerung kann man nur entgegenhalten, dass Wissen durchaus Bewertungen kennt und einbeziehen muss, dass zu diesen aber ein Maß des Zuviel dezidiert nicht gehört. Ganz im Gegenteil. Die Frage, ob wir denn noch ein Zwangsarbeitslager in Berlin und Umgebung ausgraben müssen, ist prinzipiell und ohne jeden Zweifel zu bejahen. Denn

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jeder Ort der staatlich organisierten und persönlich mitverantworteten Ausbeutung – oder gar des potenziellen Verbrechens wie in Berlin-Dahlem (s.S. 166– 171) – muss erforscht werden. Zudem meine ich, solche Orte sollten auch nach einer Ausgrabung erfahrbar bleiben, ob als materielle Markierung mittels Informationstafeln, als mit einem Mahnmal symbolisierter Gedenkort, als „archäologisches Fenster“ im Boden oder auch nur als Webapplikation. Wer Spuren findet und absichtlich verwischt, betreibt Verheimlichung und aktive Komplizenschaft mit denen, die für die Spuren verantwortlich sind: die Nazi-Täter. Archäologische Spuren von Zwangsarbeit, Raub an ausgegrenzten MitbürgerInnen, deren Gefangenhaltung bis hin zu Mord sind Evidenz von Verbrechen. Deren Verjährung im juristischen Sinne ist mit einer Verjährung von Verantwortung nicht gleichzusetzen. In Deutschland ist fast jeder Ort, an den wir uns begeben können, eine crime scene, ein Tatort. Wer mit offenen Augen durch die Wälder Brandenburgs oder des hessischen Vogelsberg läuft, findet überall derartige Hinweise, von aufgelassenen Judenfriedhöfen über Entminungsschilder bis hin zu in Rüstungsfabriken umgewandelten Eisenbahntunneln. Als eines von unzähligen Beispielen sei der Galgenberg-Tunnel bei Freienseen im Vogelsberg genannt, wohin der Messtechnik-Konzern VDO aus Frankfurt-Heddernheim im Zuge der Bombenangriffe seine Produktion von Kreiselkompassen für Militärflugzeuge verlagerte. Mehr als 1000 sowjetische Zwangsarbeiter sperrte die VDO damals in einem Barackenlager am Rande des kleinen Dorfs Freienseen ein. Eine Baracke steht bis heute (Lang et al. 2008, 286). Kein Tal, kein Mittelgebirge, kein Fluss und keine Stadt ohne ihre Beteiligung an Ausbeutung und Erniedrigung und meist sorgfältig aus der Öffentlichkeit verdrängten Erinnerungen an diese (Jeggle 1994). Nicht nur die Massenmorde, auch die lokalen, scheinbar harmloseren Unterdrückungs- und Ausgrenzungsverhältnisse sind dunkel präsent, ihre Sichtbarmachung wird jedoch bis heute nicht gerade geschätzt. Wir treffen in solchen Zusammenhängen auf eine weitere Dimension von Erinnerungshegemonien räumlichen Charakters: die Erinnerungszentralisierung an einigen wenigen spezifischen Orten. Überall sonst kann man dann erleichtert sein, wenn das Gedenken räumlich so bequem an eine bestimmte Stelle delegiert wurde. Insofern ist Karl Markus Michels (1987) Vorwurf der „Topolatrie“ berechtigt. Es sind die Mechanismen der Zentralisierung von kollektivem Gedächtnis, die zur Sakralisierung von Orten führen, die ein ins Mythische zielendes Verhältnis zur geschichtlichen Vergangenheit hervorrufen, das undifferenziert und primär moralisch besetzt wird. Dabei bleibt das kritische, nuancierende Bewusstsein ausgeblendet. Auch für diese Zusammenhänge gilt, dass jedes Erinnern ein Vergessen ist. Konzentrierende, mit großem wissenschaftlichem Aufwand gestaltete Verortungen des Erinnerns bewirken großflächige Amnesie.

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Dagegen lässt sich ein dichtes, im Alltag sichtbares Netzwerk an Ausgrenzungs-, Ausbeutungs- und Erniedrigungsplätzen, an Zeichen für die Routen der Todesmärsche und Stellen eines alltäglich als legitim empfundenen Mordens durch SS, Polizeieinheiten oder Rüstungsindustrie nicht so leicht wegschieben. Diese Geschichte war überall, und man wird immer wieder auf Gunter Demnigs „Stolpersteine“ als ein ideales Vehikel für die Darstellung der Alltäglichkeit des Terrors verwiesen (u.a. Sommer 2007; Blatt 2012, 63–66). Doch sind die Steine auch in einem anderen Sinne von Bedeutung. Man sieht sie nämlich im Alltag oftmals nicht. Sie sind damit wie das Unbewusste und seine unterschwellig vorhandenen, aber verdrängten Erfahrungen, die plötzlich hervorbrechen können – um am nächsten Tag schon wieder unsichtbar zu bleiben. Nur die Einschreibung der kollektiven Verbrechen in den Alltag führt zu einem Erinnern, welches das Bewusstwerden der Allgegenwart der Opfer des Nationalsozialismus einschließt. Eine Einseitigkeit trägt dieses Netzwerk der Lokalerinnerung jedoch in sich: die Stolpersteine beziehen sich einzig auf die Opfer der Nazi-Zeit, sie sagen nichts über die Täter aus, die jüdische und Roma-Familien als auch andere abführten, zum Weggang zwangen oder diese Vorgänge unter Beifall zur Kenntnis nahmen. Insofern ist Hajo Funke zuzustimmen, wenn er meint, dass „in Deutschland [...] die Erinnerung an die ermordeten Juden Europas immer zunächst Erinnerung an die Tat sein [muss]“ (Funke 2000, 171; Hervorhebung im Orig.). Wir leben in einer Erinnerungslandschaft, die teilzentralisiert ist. An den großen Gedenkstätten wird sowohl an Opfer als auch Täter erinnert. Die dezentralen Elemente aber sind bislang ein Erinnerungsnetzwerk an die Entrechteten und Ausgegrenzten, das weiterhin die Allgegenwart der Täter verschweigt. Auch wo archäologische Sichtbarmachungen der großen Lager nicht unbedingt die Täter direkt benennbar machen, enthalten sie doch eine komplexere Erinnerung an Ausbeutung, Verschleppung und Mord als die Stolpersteine, deren unwidersprochen wichtige Erinnerungswirkung eine Anerkennung der Allgegenwart der Opferschicksale ist, die die Täter aber entkommen lassen. Was wäre, wenn wir eine andere Art Stolpersteine vor den Häusern der SS- und SA-Mitglieder, der mittleren und hohen NSDAP-Chargen und anderer Beiträger zum Unterdrückungsund Ausgrenzungsapparat verlegten, die auf deren Gewalt und Schandtaten aufmerksam machten? Oder sind Deutschland und andere in neuem Chauvinismus und Xenophobie versinkende Gesellschaften Europas nicht davor gefeit, solche personifizierten Erinnerungen an Täter gar ins Attraktive zu wenden? Nicht die Herstellung einer irgendwie authentischen Landschaft sollte das Ziel der Erinnerungsstätten sein. Historisch-erinnerungspolitische Differenzierung sollte eher an der Produktion eines Bewusstseins arbeiten, dass wir uns in von historischem Unrecht belasteten Landschaften bewegen. Die Geschichte

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Deutschlands ist unrettbar selbstvergiftet, und das trifft nicht allein auf einzelne Orte wie Buchenwald, Sachsenhausen, Dachau oder eben das Tempelhofer Feld zu, sondern auf Deutschland in toto als „Landschaft.“ Wohin drangen der Exklusionshass, Rassismus und die Volksgemeinschaftsüberheblichkeit nicht vor?

P OSITIONALITÄT UND DAS „U NBEHAGEN “

AN DER

E RINNERUNG

Kurz nach dem 11. September 2001 veröffentlichte Lynn Meskell einen Aufsatz mit dem Titel „Negative Heritage and Past Mastering in Archaeology“ (Meskell 2002). Darin reflektiert sie anhand der Zerstörungen zweier monumentaler Buddha-Figuren im Tal von Bamiyan in Afghanistan sowie der beiden Türme des World Trade Center in New York Erinnerungsmodi und deren Praktiken. Als die Taliban die Buddhas sprengten, sei ein Ort des unerwünschten, mithin negativen Kulturerbes ausradiert worden. Umgekehrt seien die leeren Nischen in Bamiyan für andere nunmehr ein Ort negativen Kulturerbes, „a permanent scar that reminds certain constituencies of intolerance, symbolic violence, loss“ (Meskell 2002, 561). Letztlich beschreibt Meskell negatives Kulturerbe als Orte und Landschaften, deren materielle Spuren dominanten Normen nicht entsprechen, und die daher „inherently disturbing“ bleiben (Meskell 2002, 566). Eine fundamentale Unterscheidung im Bereich des Kulturerbes übersieht sie allerdings, wenn sie die materiellen Aspekte der Vergangenheitsbewältigung in Deutschland, die Diskussionen über den Bau eines Memorials für die Opfer des World Trade Center 2001 und die gesprengten Buddha-Statuen in ein- und dieselbe „negative“ Kulturerbe-Kategorie steckt. Denn während Mullah Omar und seine Untertanen als auch die PlanerInnen in New York Kulturerbe als grundsätzlich affirmativ ansahen, ist die Diskussion um die sog. „Vergangenheitsbewältigung“ von einem kritischen Kulturerbe-Begriff getrieben. Der von Meskell übersehene gewichtige Unterschied liegt im spezifischen Verhältnis zwischen Heritage/Erinnerungskultur und gesellschaftlicher Identität. Praktiken des Erhalts von archäologischen und historischen Orten, des Baus von Gedenkstätten, aber auch der Zerstörung bestimmter Orte sind dann affirmativ, wenn sie bestehende Identitäten bestärken sollen: wenn die Opfer des 11. September als Helden gefeiert und das Afghanistan der Taliban als pur islamistische Gesellschaft konstruiert werden sollen. Ein kritischer Kulturerbe-Begriff geht von einer Dekonstruktion des gesellschaftlichen Selbstverständnisses aus. Kollektive Identität wird im Sinne eines solchen kritischen Kulturerbe-Begriffs hinterfragt und relativiert, nicht aber bestätigt. Reinhart Koselleck hat einmal über die Geschichte bemerkt,

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sie habe „nicht die Aufgabe, Identität zu stiften, sondern sie zu vernichten“ (Koselleck, zit. in Assmann 2013, 20). Dasselbe gilt auch für kritische Erinnerungspraktiken. Ulrike Jureits und Christian Schneiders (2010) „Unbehagen an der Erinnerungskultur“ befasst sich mit einer solchen kritischen Erinnerungskultur. Sie fragen, was passiert, wenn critical heritage dominant wird, und damit die Kritik selbst zu einem affirmativen Element des öffentlichen Diskurses verkommt. Sie sehen gerade den abwehrenden, anti-identifikatorischen Umgang mit der NaziVergangenheit als Problem, da er das gesamte Nachdenken über diese Zeit bestimme. Auch Aleida Assmann, von einer ganz anderen Seite als Jureit und Schneider kommend, konstatiert diesen Zustand. „Der Sieg ist die Niederlage“, schreibt sie zu dieser Entwicklung des Erinnerungsdiskurses fast sarkastisch (Assmann 2013, 68). Hinter Jureit und Schneiders Attacke (2010) steht jedoch eine komplexere, teils berechtigte, teils pauschalisierende Polemik. Auf theoretischer Ebene attackieren sie Aleida und Jan Assmanns Auffassung einer identitätsstiftenden Wirkung der Vergangenheit. Aleida Assmann beschreibe Erinnerungskultur und kollektive Identität als sich gegenseitig konstituierend, und dies sei problematisch. Tatsächlich erscheint in einem rezenten Werk Aleida Assmanns (2013) Identität letztlich als für den sozialen Zusammenhang notwendige kollektive Selbstdeutung. Gerade bei einer auf den Nationalsozialismus verweisenden Erinnerungskultur würde dies bedeuten, dass in Gedenkstätten vorgenommene Inszenierungen des Massenmords zu einer „neuen Form der Selbstbestimmung“ führen (Assmann 2013, 27–29). Dies würde die Opfer der Nazis zu Mitteln heutiger kollektiver Selbstfindung machen, in der Tat eine ethisch unzulässige Instrumentalisierung. Weiterhin konstruieren Jureit und Schneider aber einen Generationenkonflikt zwischen Nachkriegs- und 1968-er Generation, wobei sie verallgemeinernd schreiben, eine ganze Generation habe „bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit gemahnt und erinnert“, so dass das „inszenierte Übermaß an Sentimentalität und Pathos [...] zunehmend Erschöpfung, Langeweile und ein deutliches Unbehagen aus[lösten]“ (Jureit und Schneider 2010, 22). Diese und weitere Anwürfe, Behauptungen von „sinnentleerten Formen des öffentlichen Erinnerns“ und einer „erinnerungspolitischen Sackgasse“ (Jureit und Schneider 2010, 23) lesen sich leider allzusehr wie ein verspäteter Zuspruch zu Martin Walsers absichtlich entgleister „Friedenspreisrede“ des Jahres 1998. Auch Walser hatte ja mehr oder weniger geschickt verpackt behauptet, der Diskurs einer Erinnerung an Auschwitz sei eine „Drohroutine“, ein „jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel“, ein „Lippengebet“ (Walser 1998). Wo Walser oberflächlich und mit narzisstischer Wortwahl („zitternd vor Kühnheit“) anklagt,

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sieht Schneider einen Irrweg seiner gesamten eigenen Generation. Der Grund des sog. „Unbehagens“ an der Erinnerungskultur sei, dass „die 68er [...] sich mit den Opfern ihrer Eltern, insbesondere mit den Juden“ identifiziert und sich damit selbst als Opfer stilisiert hätten (Schneider 2012, 87). Jureit und Schneiders Kritik deutscher Erinnerungsdiskurse enthält also selbst die Prämisse des Identitären, nur eben nicht als soziale oder kulturelle Einheit wie bei Aleida Assmann, sondern als eher vage umrissene Generation, der sie pauschal unbewusste Identifizierungen unterstellen. Holzschnittartig behauptet Schneider, es sei „natürlich“, dass man sich mit seinen Eltern identifiziere, und wer dies nicht tue, leide notwendig an einer „gespaltenen Loyalität“ (Schneider 2012, 93–95). Diese angeblich verquere Seelenlage werde dann den Individuen der nächsten Generation aufgezwungen, wie sich an Namensgebungen der Kinder der 1968er Generation wie David, Judith oder Rebecca zeige. Sie seien gleichzeitig Ausdruck des „Kontrollverlusts über die eigene Phantasiewelt“ (Schneider 2012, 91). Abgesehen davon, dass die empirische Soziologie zur Namensgebung gerade für die 1970er Jahre einen Rückgang religiöser Namen für Neugeborene andeutet (Gerhards 2010, 50–52; Schaubild 3.1), ergibt sich auch die Frage, was denn dann von den unbewussten Identifizierungen einer Elterngeneration zu halten ist, die ihre Kinder Gudrun, Siegfried, Reinhard oder Gertrud nannten. Sind diese für Schneider „normal“? Dann könnte man auch fragen, wieweit Namensgebungen beispielsweise den von Schneider diagnostizierten Kontrollverlust auf Folgegenerationen übertragen. Schon der äußere Rahmen der Debatte, die Jureit und Schneider augenscheinlich provozieren wollen, ist nicht minder normativ als das Denken der Attackierten, der „68er.“ Statt ganze Altersklassen auf eine gemeinsame Ideologie zu verpflichten, und ihnen dann kollektiv ein paradoxes, entzweites Überich anzudichten, scheint mir eine flexibler gestaltete Art der Analyse des Standpunkt-Problems – um nichts anderes geht es in der Debatte – weitaus angemessener. Jede Beschäftigung mit Vergangenheit, ob eher im erinnerungspolitischen Lager oder als HistorikerIn, basiert auf einer durch Sozialisierung und viele andere Faktoren zustande gekommenen Perspektive. Während traditionellempirische Wissenschaft davon ausgeht, dass diese Spezifizität der Sicht auf das „Objekt des Wissens“ möglichst zu unterdrücken ist, haben Kulturanthropologie und Feminismus seit längerem gerade die Einbeziehung von Positionalität gefordert, da das Verhältnis zwischen Untersuchenden und Untersuchten ein sich wandelndes und sich gegenseitig konstituierendes sei. Linda Alcoff (1991), die diesen Begriff aufbrachte, zeigt, dass die Produktion von Wissen und die Position derjenigen, die in diesem Bereich tätig sind, miteinander zu denken sind. Wissenschaftliches Arbeiten solle in dem Sinne reflexiv sein, dass die Ausei-

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nandersetzung mit den „Anderen“ wie eine Zurückspiegelung auf die eigene Stellung in der Welt wirken kann, mithin auch als Selbstkritik. Im Zusammenhang mit den Themen dieses Buchs kommt diese Forderung derjenigen nach einer Anerkennungs-Einstellung bestimmten (vergangenen) Subjekten gegenüber nahe, wie ich sie verschiedentlich unter Bezug auf Axel Honneth thematisiert habe. Positionalität ist dabei nicht zu verwechseln mit „Perspektivität“, d.h. einer festen Position, von der aus Argumente formuliert werden, die sich meist in plattem „autobiographic posturing“ äußert (Bos 2003, 53). Vielmehr gehört dazu, wie Renato Rosaldo (1993, 7) in einem bekannten Aufsatz anmerkte, das „Re-Positioning“ im Zuge der wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Positionalität als Standpunkt, der im Produktionsprozess des Wissens eingenommen wird, erfordert für eine Archäologie des Dritten Reichs ein genaueres Nachdenken über drei unterschiedliche Facetten. Der Grund für diese komplexe Ausgangslage ist, dass Positionalität hier in Bezug auf ein diachrones Verhältnis reflektiert werden muss. Erstens geht es um die Ausrichtung auf bestimmte Personengruppen: Positionieren ist das Herstellen einer Relation zu jemandem in einem historischen Prozess, ob Opfer, Täter oder Außenstehende. Es handelt sich um eine Schwerpunktsetzung, die elementare Konsequenzen für das gesamte Geschichtsverständnis, aber auch für Dimensionen der archäologischen Praxis hat. Zweitens ist gerade im Falle der Nazi-Zeit zu überlegen, was projizierte Positionalitäten sind, die sich in der Frage äußern, „was hätte ich gemacht, wenn ich unter diesen Umständen gelebt hätte?“ Einerseits finden wir hier eine kontextuelle Autorückprojektion, andererseits die besonders problematische Imagination von potenziellen Positionen anderer. Drittens muss die Variabilität des Positionierens bedacht werden, besonders dort, wo multiple aus Evokation entstehende Szenarien in einen Diskurs eingebaut werden sollen, wie ich es für „Ortsgenealogien“ vorgeschlagen hatte (s.S. 223–226). Im folgenden erläutere ich diese Aspekte etwas näher. Gesellschaftlich hat sich seit der Zeit des Zweiten Weltkriegs eine deutliche Änderung der imaginierten Haltung gegenüber Subjekten der NS-Zeit entwickelt. Dabei muss vor allem die schon bemerkte Ambivalenz des „Opfer“Begriffs im Deutschen berücksichtigt werden. Opfer werden in Sprachen, die diese Begrifflichkeit dem Lateinischen entlehnen, unterschieden in „Opfer für eine Sache“ (sacrifice) und „Opfer von jemandem“ (victim) (Koselleck 1999, 223); wobei victim eindeutig eine Person denotiert, sacrifice – wie im Deutschen – sowohl Lebewesen als auch Sache bedeuten kann. Was die Erinnerung an die Nazi-Zeit anbelangt, so wird immer wieder ein Umschwung von Helden als Opfern zu „namenlosen Opfern“ diagnostiziert: Die Erinnerung führt von denen, die sich im Widerstand gegen das Nazi-Regime geopfert hatten – in der Regel

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Anhängern des 20. Juli und mithin Mitgliedern dessen, was unter dem Regime als „Volksgemeinschaft“ definiert war – hin zu den wehrlosen Opfern im Sinne des Begriffs „victim.“ Offensichtlich wird dies aber heute als unbefriedigend empfunden. Enzo Traverso setzt sich ein für ein Ende der „Humanitätsduselei, wo es keine Besiegten, sondern nur noch Opfer gibt. Diese Asymmetrie der Erinnerung, die Sakralisierung der vorher ignorierten Opfer und das Vergessen der einst idealisierten Helden“ sei von der Gegenwart und ihren Interessen mehr als von historischen Verhältnissen bestimmt (Traverso 2007, 12; Hervorhebung im Orig.). Auf die Opfer selbst bezogen meint Selma Leydesdorff (2011, 500), dass Überlebende auf ihre Kraft stolz sein sollten, die „eigene Identität“ unter zerstörerischen Umständen nicht verloren zu haben. Statt des Subjektivitätsverlusts und der Vernichtung, statt der Sprachlosigkeit angesichts des extremen Leidens sollte das Überleben als ein Positivum wieder mehr ins Zentrum der Überlegungen rücken. Auch Aleida Assmann (2013, 58) geht auf diesen Erinnerungswandel ein, den sie beschreibt als eine „folgenreiche Umperspektivierung von den Helden und Akteuren der Geschichte auf ihre namenlosen Opfer, deren Geschichten nun in Zeugnisberichten zum ersten Mal vielstimmig erzählbar und hörbar wurden.“ Aus diesem Interesse am Schicksal der Viktimisierten entwickelte sich eine erinnerungspolitische Relation, die Jureit und Schneider (2010; s.a. Jureit 2012, 25–34) als „Erinnerungsfigur des gefühlten Opfers“ verdammen. Sie beschreiben diese Einstellung als eine illusorische, emotional verankerte Identifizierung einer Generation der Täterkinder („die 68er“) mit den Opfern ihrer Eltern (Schneider 2012, 87). Um dies wissenschaftlich zu untermauern, wird als „grundlegende psychologische Erkenntnis“ behauptet, „wir alle denken und fühlen genealogisch“ (Schneider 2012, 86; Hervorhebung im Orig.). Hieraus wiederum werden bei dieser Generation der „68er“ Phantasien abgeleitet, nach denen die Missetaten der Elterngeneration „bei weitem die Realität übersteigen“ sollen. Das ist ein polemischer Vorwurf verdrehter Vergangenheitsrekonstruktion an eine große Gruppe. Schneider mag mit einer potenziellen „Gegenidentifizierung“ der sog. 1968er Generation mit den Opfern statt mit der eigenen NaziElterngeneration recht haben. Doch die in diesem psychologischen Tableau lässig eingeschobene Norm wäre dann die historische Entlastung der Massenmorde durch Mitglieder der Waffen-SS, Wehrmacht, durch Finanzverwalter und BDMFührerinnen. Als Normalität wird die Identifizierung mit den Eltern unterstellt, und faktisch begründete Verdachtsmomente werden als Hirngespinste einer opfersüchtigen Kollektivität abgetan. Setzt man diese Argumente in Bezug zu allgemeinen kulturanthropologischen Diskussionen um Positionalität, so fällt auf, wie sehr im Falle des „Unbehagens“ und der deutschen Debatte hierum eine Po-

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sitionalität nicht etwa als flexibel, als eine Repositionalisierung konstruiert wird, sondern als eine unverrückbar per Geburt und damit von außen zugewiesene Stellung. Die Kombination von Reflexion und dynamischer Positionalität im Umgang mit Anderen wird ersetzt durch eine kollektivpsychologisch begründete, schicksalhafte Verortung, der man nur unter Strafe der verfälschenden Phantasie entgeht, und deren Richtschnur ausgerechnet die biologisch verstandene Genealogie ist. Hatten wir nicht schon ausreichend derart determinierte Vergangenheitskonstruktionen? Nun sind Jureit und Schneider nicht die einzigen, die in diesem Felde einen psychologisch induzierten Erinnerungsrevisionismus betreiben. Jeggle (1994, 165) beklagte schon vor langer Zeit die „Hundert-Prozent Identifikation mit den Opfern“ als heuchlerische Besserwisserei. Ohne jegliche Zitate verlängert Gudrun Brockhaus diese Anklage und bescheinigt – wiederum „den 68ern“ – eine obsessive Beschäftigung mit Antisemitismus und die Existenz eines HassDiskurses gegen diejenigen, die „Empathie oder Nähe zu der Verbrechensgeschichte herzustellen versuchen“ (Brockhaus 2012, 114). Hier wird einem verständnisvollen Umgang mit Tätern, mindestens aber den sog. Mitläufern und Mitläuferinnen das Wort geredet, zu einer Zeit, in der weiterhin SS-Wachleute der Konzentrationslager vor Gericht stehen und Überlebende als ZeugInnen nach Deutschland reisen. Es wird Zeit, dass wir endlich Verständnis für die Täter aufbringen! Das ist eine recht offensichtliche Botschaft des „Unbehagen“Diskurses. „Die 68er“ (eine Verallgemeinerung, die gerne auch von reaktionären Intellektuellen wie dem AfD-ler Marc Jongen verwendet wird) haben achtlos ihre Elterngeneration en bloc verdammt, sich vergeblich bei den Opfern angebiedert und dabei eine ihnen nicht zustehende Identifizierungshaltung an den Tag gelegt, die weit kompromissloser als die der Überlebenden selbst war. Dieser von konkreten Zitaten weitgehend freie Vorwurf in den Schriften zum „Unbehagen“, mindestens so pauschal formuliert wie die angeblichen Handlungen der angegriffenen „68-er Generation“, hat durch Werner Konitzer eine entscheidende Differenzierung erfahren. Er argumentiert, man müsse zwischen der Identifizierung mit und der Orientierung an den Opfern unterscheiden (Konitzer 2012). Diese Orientierung ist keine „geliehene Identität“, wie Schneider behauptet. Gerade wenn man von seiner als „normal“ angesetzten Elternidentifikation ausgeht, ist die beschriebene Opferorientierung der sogenannten 68er nicht nur eine Kritik an einer vorhergehenden Generation, sondern notwendig ebenso eine Reflexion über die eigene Position. Ganz ähnlich wie Konitzer setzt Dominick LaCapra die Identifikation von einem „empathetic unsettlement“ im Verhältnis zu Opfern des Nazi-Systems ab:

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„It is dubious to identify with the victim to the point of making oneself a surrogate victim who has a right to the victim’s voice or subject position. The role of empathy and empathetic unsettlement in the attentive secondary witness does not entail this identity; it involves a kind of virtual experience through which one puts oneself in the other’s position while recognizing the difference of that position and hence not taking the other’s place. Opening oneself to empathetic unsettlement is [...] a desirable affective dimension of inquiry which complements and supplements empirical research and analysis.“ (LaCapra 2001, 78)

Aus diesen Überlegungen wird deutlich, dass eine aufmerksame Opferorientierung zu einer inneren Beunruhigung und Infragestellung von unreflektierten Grundhaltungen führt, und damit zu einer notwendig werdenden Repositionierung. Diese ist in der Tat stärker durchdacht als der common sense des Alltagssubjekts und nimmt gerade deshalb manchmal den Anschein des Rigorismus an. Ein zweites Problem der Positionalität im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus sind die zahlreichen Bemerkungen im Sinne von „Was hätte Person X getan, gehörte sie nicht zu denen, die aufgrund ihres Geburtsdatums die NaziZeit nicht mehr bewusst erlebten?“ Die polemische, willentlich Opfer beschämende Dimension dieser Projektionen trat in den Diskussionen in Anschluss an die Walser-Rede 1998 besonders deutlich hervor. So meinte der ehemalige Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi: „Allerdings müssten sich natürlich auch die jüdischen Bürger in Deutschland fragen, ob sie sich so sehr viel tapferer als die meisten anderen Deutschen verhalten hätten, wenn nach 1933 ‚nur‘ die Behinderten, die Homosexuellen oder die Roma in die Vernichtungslager geschleppt worden wären.“ (Dohnanyi, zit. in Rensmann 2000b, 74)

Der rhetorische Trick, den Dohnanyi in den Medien noch mehrmals wiederholte, besteht in der rückprojizierten, hypothetischen Einschließung der Opfer ins Täterkollektiv. Das Ziel ist dabei klar: jeden Unterschied zwischen Tätern und Opfern auf historische Kontingenz abzuschieben, und damit den rassistisch angetriebenen Massenmord als allgemein-menschlich zu normalisieren. Diese Strategie funktioniert gut genug, um tatsächlich eine entsprechende Selbstbefragung bei Überlebenden der KZs zu evozieren. So äußert zwar Lucien Duckstein „all the contempt in the world for the kapos who made more of their job than they needed to, and almost as much for the population behind them who had so opportunely shut their eyes,“ um dann aber anzuschließen:

374 | M ATERIELLE S PUREN DES NATIONALSOZIALISTISCHEN T ERRORS „But who knows? What if they had put me into a uniform as they did my friend Erich, who is two years my senior and who was in the Hitlerjugend? What if they had told me I belonged to the master race, told me the world was mine, and now forward march? I would perhaps have marched, there’s no knowing.“ (Kroh und Duckstein 1996, 54–55)

Warum werden Überlebende von solchen Selbstzweifeln geplagt? Der Hintergrund ist ein gesellschaftlicher Diskurs, der in diesem Falle auf einer hypothetischen flexiblen Positionalität beharrt und diese den Opfern in unverschämter Weise aufdrängt. Besonders infam äußerte sich Walser im Nachgang zu seiner Frankfurter Rede, als er pauschal an „Juden“ den Vorwurf richtete, sie könnten an Debatten um Verstrickung in Schuld gar nicht teilnehmen, da sie ja davor „bewahrt geblieben [seien, ...] mitzumachen“; sie seien aufgrund ihrer Verfolgung damals „auch im Urteil eingeschränkt.“ Anders als Dohnanyi versucht Walser nicht nur, die Opfer mit den Tätern gleichzusetzen, sondern das Verhältnis umzudrehen. Wer vor der Wahl stand, mitzumachen bzw. nicht mitzumachen, sei das eigentliche Opfer des „Dritten Reichs“ gewesen, nicht aber die Ermordeten und die wenigen Überlebenden. Eine atemberaubende Verdrehungslogik (Rensmann 2000b, 91). Die hypothetische Frage danach, wer sich in der Nazi-Zeit wie verhalten hätte, mag berechtigt sein, wenn man sie an sich selbst richtet. Das ethische Problem ist die Projektion auf andere, und erst recht auf diejenigen, die das Grauen der Lager überlebt haben. Bleibt man allerdings beim Selbst, so entsteht eine instabile Triangulation von unterschiedlichen, aber gleichzeitig zu erwägenden Positionen: die rückprojizierte Positionalität des „Was hätte ich getan?“, die voraussetzt, sich selbst potenziell sowohl im Täter- als auch im Opferbereich zu lokalisieren; weiterhin das Subjekt des „empathetic unsettlement“, also konkrete historische Opfer-Existenzen; und schließlich die heutige Positionalität. Da nun aber die hinter der Rückprojektion stehende Frage „Wie hätte ich mich verhalten?“ nicht beantwortbar ist, kann sie nur auf zwei Arten behandelt werden. Nach Norbert Frei stellt sich relativierender „Bekennermut der historischen Reflexion gerne in den Weg: ‚Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten hätte‘. In der Tat, das können wir nicht wissen, doch heißt das ja nicht, dass wir nicht wüssten, wie wir uns hätten verhalten sollen“ (Frei 2009, 25). Die hypothetische Position wird durch eine normativ-moralische Antwort aus dem Weg geräumt. In diesem Falle stabilisiert sich das Dreieck von Positionalisierungen schnell, denn die Relation meines in die Vergangenheit projizierten Selbst und der damaligen Opfer ist zweifelsohne eine des Unterstützensollens und damit des Wagnisses auch auf große Gefahren hin. Ein zweiter, eher zur Verunsicherung führender Umgang mit dieser Frage des „Was hätte ich getan?“ wäre, den Rahmen

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des eigenen Lebens zu analysieren und daraus auf tentative Antwort zu kommen. Ein offensichtlicher Parameter hierfür ist die Religion, ebenso einzubeziehen wären aber auch sexuelle Orientierung, Klassenzugehörigkeit, Gender, Bildungsstand und körperliche Gebrechen. Derartige Dimensionen eines jeweiligen gegenwärtigen Selbst können dann in die Vergangenheit projiziert werden, um über analoge Positionierungen zu reflektieren. Bei Berücksichtigung dieser Kriterien würde ich mich deutlich in die Richtung des Täterkollektivs gedrängt sehen, wenn auch ein Teil meines Selbst eine Selbstprojektion als Opfer zulassen könnte. Die ambivalenten Stränge einer solchen rückprojizierten Positionalität habe ich in einem der Evokationsszenarien über ein kleines Zahnrad aus Tempelhof darzulegen versucht (Abb. 4.11, S. 213–215). Letztlich führen derartige Rückprojektionen zur konfliktuellen Reflexion über sich selbst, denn man erkennt die Lage der Opfer ebenso wie eine mögliche eigene Handlungsweise. Auch bei diesen hypothetischen Positionalisierungen ist die Einbeziehung der Sicht der Überlebenden essenziell. Denn deren Positionalitätsfragen sind gänzlich andere als die gerade erörterten der üblichen Täter-Opfer-Dichotomie. Eugen Kogon etwa ruft uns auf, uns selbst als Opfer zu imaginieren: „Wie hätten Sie sich verhalten, Mann oder Frau, wenn Sie aus dem bergenden Karree von 10000 Menschen plötzlich herausgerufen, allen sichtbar auf einen Steinhaufen gestellt, nackt ausgezogen und dann ausgepeitscht worden wären? Hätten Sie gebrüllt, gewinselt oder mit blutig gebissenen Lippen geschwiegen? Wären Sie beim Rückweg in Dreck und Fetzen vor Scham über die erlittene Schmach vergangen oder hätten Sie auch den letzten Tritt eines SS-Stiefels, der Sie in die Häftlingsgemeinschaft zurückstieß, mit übermenschlicher, stolzer Härte verwunden?“ (Kogon 1946, 308–309)

Diese Frage scheint im Rahmen der Unbehagen-Debatte irrelevant zu sein, doch dies zeigt nur, dass wir in diesem Streit Gefahr laufen, die Vielfalt und Differenzierung des Erinnerungsdiskurses durch unzulässige Verallgemeinerungen zu verlieren: Opfer werden zur namenlos-undifferenzierten Masse. Erinnerung und die damit einhergehenden empathischen Verunsicherungen müssen konkret werden können – das ist genau die Forderung, die ich anhand der Evokationsszenarien zu verdeutlichen versucht habe. Ein dritter Aspekt der Positionalität steckt in den Ortsgenealogien, wie ich sie als angemessen für eine Archäologie der NS-Zeit vorgeschlagen habe. Wenn man für ein- und denselben Fundgegenstand mehrere unterschiedliche Möglichkeiten seiner Verortung in vergangenen Alltags- oder auch außerordentlichen Zusammenhängen imaginieren will, so ist die Basis für diese alternativen Konstruktionen eine unterdeterminierte Vergangenheit. Ein reines Offenhalten, das

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Insistieren auf einem Evokationspotenzial, das aber nicht spezifiziert wird, kommt weitgehend ohne Reflexivität über den eigenen Standpunkt aus. Jedoch zieht die Formulierung von konkreten Szenarien, erst recht von Alternativszenarien als möglichen Vergangenheiten immer auch eine Repositionalisierung nach sich. Das gilt insbesondere – wie etwa anhand des Handlampenrests aus Tempelhof aufgezeigt (s.S. 180–183; 230–232) – , wenn die Zentrierung sich in solchen imaginierten Szenarien von Tätern auf Opfer (oder umgekehrt) verschiebt. Das in solche Szenarien einfließende „empathetic unsettlement“ wäre fehlgeleitet, wenn es von der Vermutung Schneiders ausginge, die eigene Phantasie führe zu einer „übersteigerten Realität“ der Grausamkeit der Täter. Die bewusst verharmlosende Imagination ist der Weg in die Normalisierung des Nazi-Regimes, ein Weg, den auch Harald Welzer für seine Coca-Cola trinkenden HitlerUntertanen suggeriert, denn sie „zahlen Miete, gehen einkaufen, frühstücken und essen zu Mittag, treffen sich mit Freunden oder Verwandten, lesen Zeitungen oder Bücher und diskutieren über Sport und Politik“ (Giesecke und Welzer 2012, 28–29) – sie sind wie wir. Dieser Versuch, unsere Wesensgleichheit mit der Bevölkerung um 1930 und danach zu verdeutlichen, misslingt gründlich, weil er, statt zur Selbstkritik heute zu führen, eher im Stil einer Verharmlosung der Nazi-Gesellschaft daherkommt, insinuierend, mit dem Jahr 1933 habe sich im Leben der Durchschnittsdeutschen nichts geändert. Wie gering die von Welzer behauptete Alltagskontinuität war, sei anhand eines Berichts des Familienblatts der in die Pfarrfamilien-Kleinbourgeoisie gehörenden Familie Bernbeck aus dem Januar 1934 – kein Jahr nach Hitlers Machtübernahme – illustriert. Welzer (Giesecke und Welzer 2012, 35) zitiert als Rückhalt zu seiner Kontinuitätsthese Peter Longerich, der sich äußert über Strukturen „traditioneller sozialer Milieus, die sich gegenüber der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft behaupten konnten – also etwa innerhalb von Pfarrgemeinden“ (Longerich 2006, 26). Im Bernbeck’schen Familien-Mitteilungsblatt schreibt die Verfasserin Lotte Wahl (1934, 4–5) militärisch kurz: „Trauung durch Oberpfarrer von Kelbra nach dem von dem Paar gewählten Wort: ‚Sei getreu bis in den Tod‘. Zu beiden Seiten des Altars standen die acht SA-Führer mit zwei Fahnen. [...] In warmen Worten sprach der Geistliche zu seiner früheren Schülerin, sprach zu Ludwig von der Treue und Kameradschaft zu seinen SA-Leuten, von der Treue als dem hohen Gut deutschen Wesens.“ In der weiteren Beschreibung heißt es dann: „Danach überbrachte Obersturmbannführer Völker die Glückwünsche. [...] Als der Sekt im Glase schäumte, brachte Onkel Georg ein Sieg-Heil auf Vaterland und Führer aus. – Vergessen habe ich zu erzählen, dass in der Kirche eine Tante Ursels mit einer schönen und klangvollen Stimme sang.“

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Das hohle Pathos der Sprüche auf dieser Hochzeit zeigt, dass das Verhältnis des Bräutigams zu seiner zukünftigen Ehefrau mit dem zur Organisation der Nazischergen schon ein Jahr nach Machtwechsel komplett gleichgesetzt wurde. Er war mit der SA genauso verheiratet wie mit seiner Frau, man schwor sich gegenseitig jeweils „Treue zum Tode.“ Das Vergessen der Musik und ihre Erwähnung quasi als Anhängsel ist mehr als ein simpler Lapsus. Dieses „Vergessen“ hätte ja vor Druck im Text berichtigt werden können. Doch der explizite Einschub des Vergessens anderer Bräuche wie des kirchlichen Singens bei solchen Feiern fungiert als sprachliche Markierung einer Abwertung älterer Gepflogenheiten und gleichzeitig als fundamentale Aufwertung des offen Politischen im Privatbereich.122 Auf einer analytischeren Ebene habe ich zudem anhand der Diskurse von ehemaligen ZwangsarbeiterInnen und KZ-Insassen schon verdeutlicht, wie problematisch gerade die Vorstellung einer Kontinuität der Alltagsnormalität ist. Ganz im Gegensatz zu Welzers Vorstellungen haben wir gerade Ausnahmesituationen zu vergegenwärtigen, wenn wir uns den Verhältnissen aus dieser Zeit nähern, ob über Objekte oder andere Zeugnisse (Bernbeck 2015a). „Empathetic unsettlement“ schließt Mitglieder der Volksgemeinschaft nicht a priori als Ziel der Empathie aus. Jedoch muss diese Empathie weiterhin opferorientiert bleiben. Diejenigen aber, die eine NS-Normalität postulieren, entweder durch Verweise auf einen harmlosen Alltag oder durch die Behauptung, die Imagination übertreibe vergangene Gewalttaten, irren. Das Leben im Ausnahmezustand ist nur oberflächlich „normal.“ Wer die damaligen Zustände in Beziehung zu seiner heutigen Befindlichkeit setzen will, sollte berücksichtigen, dass die Dauergefahr bestand, aus dem scheinbaren Schutz der „Volksgemeinschaft“ in die absolute Ausgrenzung abzugleiten. Positionen beiderseits dieser schroffen Zweiteilung bei einer opferorientierten Grundhaltung zu imaginieren zieht notwendig ein Reflektieren und eine Verunsicherung des eigenen Standpunkts nach sich. Im Anschluss zeige ich, wo und wie Positionalisierungen (oft unbeabsichtigt) im wissenschaftlichen Handeln zutage treten. Hierfür gehe ich auf diskursive Handlungen und den praktischen Bereich archäologischen Ausgrabens separat ein.

122 Die Behauptung Welzers einer Alltagskontinuität wird natürlich auch durch die Abänderung der einfachsten Alltags-Sprachhandlung, des Grußes in ein „Heil Hitler“ konterkariert.

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Sprache und historische Genauigkeit Am 27. Juli 2012, einem sonnigen Freitagnachmittag, hatten wir eine erste Führung über die gerade begonnene Ausgrabung am Tempelhofer Feld organisiert, die Interessierte mit den neuen Funden bekannt machen sollte. Das Grabungsgelände lag am Rande des schattigen Teils des Parks. Nahebei sonnten sich Berlinerinnen und Berliner in Liegestühlen bei einem kühlen Bier auf einer Wiese, unter deren Oberfläche sich die Reste des Lufthansa-Zwangsarbeitslagers befanden. Wir hatten bis zum Zeitpunkt dieser Führung, drei Wochen nach Anfang der Ausgrabung, noch nicht allzu viel freigelegt. Leicht erkennbar waren jedoch dunkelgefärbte Flecken, die sich als Gräberreste aus dem Ersten Weltkrieg erwiesen, sowie Fundamente einer Baracke für ZwangsarbeiterInnen der Lufthansa. Am westlichen Ende des umzäunten Gevierts ragten zerbrochene graue Betonplatten eines Splitterschutzgrabens aus den ausgegrabenen Schichten. Die baulichen Umrisse des Ensembles waren also materiell wieder erfahrbar geworden, und damit auch ein Teil ihrer Geschichte. Ich erinnere mich gut, dass mir allein schon die Sichtbarmachung der Barackenreste ein Erfolg zu sein schien. Die regelmäßigen, tiefen Gruben der von den Nazis verlegten Gräber des früheren Garnisonfriedhofs sorgten für Überraschung. Sorgen machte ich mir vor allem um den großen Berg an Abraum, der dadurch entstanden war, dass ein Kleinbagger die Grasnarbe samt Humusschicht vorsichtig entfernt hatte; in diesem Erdaushub waren Reste von Backsteinen, dunkelgelb glasierte Scherben von Kachelöfen, stark verrostete Nägel, Glasscherben unterschiedlichster Arten und vieles andere. Waren dies nicht eventuell relevante Funde? Ich war also in meinen Vorstellungen über das Vorgehen auf der Ausgrabung durchaus verunsichert, als ich vor das Publikum trat und die bisherigen Ausgrabungsergebnisse erklärte. Ich hatte mir für diese erste Führung stichwortartige Notizen angefertigt, um auch auf potenzielle Fragen antworten zu können. Allerdings hatte ich mir über die sprachlichen Feinheiten keinerlei Gedanken gemacht. Ich war ja aus der universitären Lehre das freie Sprechen gewohnt. Der Andrang bei dieser über die Medien angekündigten ersten Führung war tatsächlich recht groß. Erfahrungen mit einer deutschen Öffentlichkeit, die sich für die Nazi-Vergangenheit interessiert, hatte ich bis dahin nicht. In der Gruppe von etwa 25 Personen befanden sich etliche Ältere, zwei Journalisten, die sich deutlich durch Mitschreiben und Kamera aus der Gruppe abhoben, sowie eine mir nicht weiter erinnerliche Vielzahl Anderer. Bei einem Überblick über das Gelände vom Dach eines kleines Kiosks schauten wir auf das mit einem Bauzaun eingegrenzte Grabungsgelände, wobei ich die Gesamtgröße der Baracken im Verhältnis zu dem kleinen archäologisch freigelegten Bereich betonte.

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Danach betraten wir das eingezäunte Geviert und ich schickte mich an, die lokalen Lebensverhältnisse anhand mir bekannter Dokumente und des gefundenen Materials zu beschreiben. Nach Lektüre von Ulrich Herberts Standardwerk zur Zwangsarbeit war mir klar, dass die NS-Elite ein großes Interesse an der Produktivität der im Rüstungsbereich tätigen ZwangsarbeiterInnen hatte. Als ich die Gruppe bat, mir zum halbzerstörten Splitterschutzgraben direkt westlich der Barackenreste zu folgen, erklärte ich, dieser sei als integraler Teil des Zwangsarbeitslagers zum Schutz vor Luftangriffen angelegt worden. Anders als bei Konzentrationslagern sei hier der Wille zur Erhaltung der oft speziell für Metallarbeiten ausgesuchten Zwangsarbeitskräfte seitens der Nazi-Bürokratie vorhanden gewesen. Dabei kam mir über die Lippen, die Lebensverhältnisse im Lager seien „unschön“ gewesen. Zwei Zuhörerinnen reagierten sofort aufbrausend auf dieses Adverb. Sie bemängelten zurecht, meine Wortwahl sei verharmlosend. Meine Ausführungen, so sagten sie, spielten die Repression herunter und bagatellisierten die historische Wahrheit. Dieser Einwurf geht mir bis heute nach. Wie ich erfuhr, hatten sich die beiden Frauen schon lange für eine öffentliche Auseinandersetzung mit der Geschichte des Tempelhofer Feldes engagiert, als ich noch gar nicht an eine Ausgrabung dort dachte. Sie hatten keinen speziell akademischen Hintergrund, sondern beurteilten ihr eigenes Wissen als auch meine Ausgrabungsführung aufgrund einer ihnen eingängigen Vorstellung über die Lebenswelt der Zwangsarbeit. Die Kritik an meiner gestelzten Sprache, damals wohl ängstlich um wissenschaftliche Sachlichkeit auch im Angesicht der Beschreibung von Ausbeutung und Erniedrigung bemüht, war nur zu angemessen. Sie verweist auf hierüber hinausreichende Probleme mit den Ausdrücken, welche wir im Alltag als auch in der Forschung über die Nazi-Zeit und aus ihr Bekanntes benutzen. Sprache und verbale Konventionen sind nach Maurice Halbwachs (1925, 111) ein eher „loser Rahmen“ der Erinnerung, „à la fois le plus élémentaire et le plus stable de la mémoire collective.“ Die Unzulänglichkeiten des Mediums Sprache, extreme Widerfahrnisse überhaupt zu erfassen, habe ich bereits erwähnt (s.S. 120–121). Hier treten sie uns nochmals in anderer Form entgegen. Sprache als primäres Mittel von Szenarien und Narrationen, mithin der Historiographie und des Weitertragens von Erfahrungen, produziert Sinn nicht erst im Bereich ganzer semiotischer Sequenzen. Auch einzelne Wörter wie eben „unschön“ oder die von Adorno so scharf kritisierten abstrakten Begriffe stehen in einem komplexen Verhältnis zur Realität, die sie erfassen sollen. Am deutlichsten werden diese Schwierigkeiten in der unüberlegt verwendeten Alltags-, aber auch der juristischen, politischen, religiösen oder wissenschaftlichen Sprache.

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In der Zeit direkt nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte in beiden Deutschland unter Intellektuellen die Auffassung vor, die gesamte deutsche Sprache habe durch die Nazis schweren Schaden davongetragen. Das zeigt sich vor allem in Victor Klemperers bekanntem Buch LTI – Notizbuch eines Philologen (LTI steht für „Lingua Tertii Imperii“; s.a. Klemperer 2007), im Wörterbuch des Unmenschen (Sternberger et al. 1957), aber auch in vielen Äußerungen von Autoren der Gruppe 47, insbesondere von Wolfdietrich Schnurre. Sprachliche Elemente wie „Schuss vor den Bug“, „Bombengeschäft“, „Volltreffer“ (Watt 2000, 431) und viele andere sind bis heute nicht verschwunden. Dass es andererseits Wissenschaftler gab, die ernsthaft den Ausdruck „bis zur Vergasung“ als pränazistisch reinwaschen wollten (Polenz 1968, 171) – was faktisch stimmen mag –, um ihn sozusagen aus der Assoziation mit dem Holocaust historisch auszugliedern, verwundert schon fast nicht mehr (s. Müller 2002). Selbst bei Klemperer als ehemals Verfolgtem wird die Macht der Sprache auf die Sprechenden so stark herausgestellt, dass man fast vermuten könnte, Sprechende würden dadurch in ihren Taten entlastet. Maurice Halbwachs geht in seiner Bestimmung des Gewichts der Sprache noch weiter, wenn er das kollektive Gedächtnis mit ihr fast gleichsetzt: „Il faut donc renoncer à l’idée que le passé se conserve tel quel dans les mémoires individuelles. [...] Les hommes vivant en société usent de mots dont ils comprennent le sens: c’est la condition de la pensée collective. Or chaque mot compris, s’accompagne de souvenirs, et il n’y a pas de souvenirs auxquels nous ne puissions faire correspondre des mots. Nous parlons nos souvenirs avant de les évoquer.“ (Halbwachs 1925, 377; Hervorhebung R.B.)

Tatsächlich sind Reflexionen über Sprache und Wörter gerade auch im Bereich einer Archäologie der Nazi-Zeit ein elementarer Aspekt. Schwierigkeiten treten nicht erst bei Führungen samt achtlos verwendeten Adverbien auf, sondern schon auf fundamentaler Ebene. Bei einem von Susan Pollock und mir organisierten ganztägigen Colloquium eines als „Archäologie der Nazi-Zeit“ angekündigten Treffens wurde ein erklecklicher Teil der Zeit auf die Frage verwendet, ob der Terminus „Nazi“ adäquat sei und man nicht besser „NS“ oder „Drittes Reich“ verwenden solle (Bernbeck und Pollock 2013a, 4). Tatsächlich wird in den historischen Wissenschaften in Deutschland weitestgehend der verschämt abkürzende Begriff „NS“ verwendet. Mir scheint im Verhältnis zur Alltagssprache ein Versuch der Neutralisierung vorzuliegen, denn „Nazi“ ist im Deutschen deutlich pejorativ bewertet. Nun verwendet die gesamte Englisch-sprachige Fachliteratur – inklusive der Originaldokumente der Nürnberger Prozesse (Ava-

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lon Project 2008) – die Begriffe „Nazi period“, „Nazi government“ usw. Sprache zeigt tatsächlich etwas an: ob man meint, den 12 Jahren Nazi-Diktatur gegenüber eine abstrakt-abbrevierende Begrifflichkeit gebrauchen zu müssen, die anscheinend wissenschaftliche Neutralität signalisieren soll. Ist Neutralität angemessen? Ich habe auf Friedländers Drängen verwiesen, das Gefühl der Fassungslosigkeit nicht zu verlieren, wenn man sich mit der Nazi-Zeit beschäftigt. „Der NS“, das „NS-System“ scheinen mir subtile linguistische Strategien, diese Fassungslosigkeit abzulegen und sich den Mantel der objektiven Wissenschaft umzutun. Es dürfte aus meinen gesamten Ausführungen deutlich geworden sein, dass eine Archäologie der Nazi-Zeit sich vor einer derartigen Selbstverortung hüten sollte. Das bedeutet aber ebenso wenig eine Verpflichtung auf eine bestimmte Begrifflichkeit. Ein anderes Problem mit der Sprache besteht in der Genauigkeit des Zuhörens. Nach den Erfahrungen mit Gesprächen, Interviews, Führungen und einer Gedenkveranstaltung im Rahmen der Grabungen auf dem Tempelhofer Feld bestätigt sich immer wieder, dass das genaue Zuhören eine unterentwickelte Fähigkeit vor allem im Journalismus ist. Das mag bei Schilderungen von Sportveranstaltungen und Nachbarschaftsfestivitäten unproblematisch sein. Wenn man aber über einen Ort berichtet, an dem vor nicht einmal 100 Jahren organisierte Ausbeutung, Folter und Mord herrschten, sind Genauigkeit und Sorgfalt ebenso wie in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung eine ethische Pflicht. „An estimated 10,000 inmates passed through Columbia [concentration camp] during its three-year lifespan. It was just one of around 3,000 forced laborer camps in Berlin alone. Bernbeck and Pollock maintain that Germans and others living in Berlin were well aware of these camps’ existence. They point to rare stories of compassion – borne out by evidence found during excavations – of Berliners passing shoes and supplies to the inmates through Columbia’s fences.“

Dieses Konglomerat fast wahllos zusammengewürfelter Informationsbruchstücke stammt von Michael Scaturro (2013) aus der Online-Ausgabe des Atlantic Monthly, sich auf ein Interview mit Susan Pollock und mir zur Archäologie auf dem Tempelhofer Feld stützend. Der Bericht kommt weitgehend ohne Bezüge zur materiellen Kultur aus, abgesehen von einem Foto mit zwei Studierenden im Ausgrabungsschnitt und einem Porzellanteller mit Hakenkreuz-Logo. Der Journalist fährt fort, „the site was discovered 30 years ago by two German scholars who wrote a book about it.“ Scaturros Text ist in zweierlei Hinsicht frappierend. Der Autor schreibt von einer „Entdeckung“ des KZ vor 30 Jahren, was so klingt, als ob der Ort und seine Geschichte tatsächlich vergessen worden seien. Diese

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leichtsinnige Sprache verwechselt Verdrängen und Vergessen, zumal Ermittlungsverfahren wegen der Morde im KZ Columbia in den 1960er Jahren angestrengt wurden, die aber nie zu einem Prozess führten (Schilde und Tuchel 1990, 85). Der Umgang mit der Geschichte und den materiellen Resten dieses Ortes ist auf jeden Fall weniger eine überraschend-erstaunliche Entdeckung als vielmehr ein beschämendes Wiedererinnern und schließlich Sichtbarmachen der unterdrückten Vergangenheit. Wesentlich wichtiger aber ist, dass wir Scaturro wohl trotz langer und intensiver Unterhaltung nicht verständlich machen konnten, dass es an ein- und demselben Ort, dem Flughafen Tempelhof, ein frühes Konzentrationslager gab, von den Nazis als „KL Columbia“ geführt, als auch große Zwangsarbeitslager unterschiedlicher Firmen. Dabei wurde das gesamte Gespräche im Hinterraum eines Cafés in voller Länge auf einem Handy aufgenommen. Wahrscheinlich wäre eine Ortsbegehung besser gewesen. Staatliche Repression durch Willkürhaft und Folter auf der einen Seite, Verschleppung und Entführung von Personen aus besetzten Gebieten als Ersatz für die im Krieg knappen Arbeitskräfte auf der anderen wären vielleicht nicht verwechselt worden. Schon durch die allwöchentlichen Führungen war uns deutlich geworden, dass bei vielen ZuhörerInnen die Jahre 1933 bis 1945 als ein negativ besetzter „Zeitblock“ wahrgenommen werden, der zudem, wie Walter Benjamin (1978, 984) dies für den Ersten Weltkrieg umschrieb, als ein „Blutnebel“ die kritische Perspektive auf historische Anbahnungen vor 1933 verschleiert. Wir wussten daher, wie wichtig Differenzierungen und das Aufzeigen historischer Entwicklungen zu als auch in den zwölf Jahren Nazi-Zeit sind. Wir wussten auch, wie sehr man im Falle Tempelhofs darauf hinweisen muss, dass das KZ Columbia und die Zwangsarbeitslager nicht gleichzeitig existierten. Dass die ersten Baracken für ZwangsarbeiterInnen nicht vor 1940 aufgebaut, das KZ aber offiziell am 5.11.1936 aufgelöst worden war (Georg et al. 2013, 108). Offensichtlich reicht auch eine klare Unterscheidung nicht aus, sondern man muss Differenzen überzeichnen, um verstanden zu werden. Leider ist dieselbe Verwirrung bezüglich der Institutionen des Machtmissbrauchs auf dem Tempelhofer Feld auch in der Fachliteratur anzutreffen (Sturdy Colls 2015, 272). Entweder müssen unsere Projekt-Darstellungen in dieser Hinsicht einen sehr viel radikaleren Darstellungseinschnitt machen oder die LeserInnen und HörerInnen sind von der oben genannten Topolatrie befallen, die Differenzierungen verdrängt. Auch andere sprachliche Versatzstücke üben ihren Einfluss aus. Begriffe wie „Ostarbeiter“ und „Volksgemeinschaft“ mögen auch vor 1933 zu finden sein (Wildt 2017: 51–78). Sie sind aber durch die Nutzung des Nazi-Regimes so belastet, dass sie heute nicht mehr ohne eine semiotische Einhegung durch Anfüh-

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rungszeichen verwendet werden können. Schon bei ganz sachlich orientierten Beschreibungen zeigt sich die ideologische Macht der Sprache. Versatzstücke und Sichtweisen des „Dritten Reichs“ fließen oft unbeabsichtigt in wissenschaftliche Texte ein, wovon ich mich keinesfalls ausnehmen möchte. In einem Sammelband zu Lagern will Ralph Gabriel die lebenszeitliche Problematik in Lagern beschreiben: „Nimmt man die Nutzungen der Zonen in den Blick, so zeigt sich, dass das Konzentrationslager nicht nur ‚Sterbensraum‘, sondern auch – zumindest für bestimmte Häftlinge und Häftlingsgruppen – ‚Lebensraum‘ war“ (Gabriel 2007, 213–214). „Lebensraum“ ist ein durch die gesamte Nazi-Sprache überaus belasteter Begriff. In Anschluss an Karl Haushofers Geopolitik und Hans Grimms unsäglichen, diese Ideen popularisierenden Roman Volk ohne Raum von 1926 entwickelten die Nazis ihre „Lebensraum im Osten“-Ideologie, um den Krieg gegen Polen und die Sowjetunion als eine Kombination von Genozid und Kolonialismus zu rechtfertigen. Wie absurd das Statement Gabriels der Lager als „Lebensraum“ ist, wird erst recht deutlich, wenn wir uns erinnern, dass Lager den Ausnahmezustand territorial festigen, dass sie das prototypische Gegenteil dessen sind, was in den geopolitischen Theorien der 1920er und 30er Jahre als vom Staat beanspruchter „Lebensraum“ erscheint (Minca 2006, 394– 397). Sie waren bestenfalls Überlebensräume. Weitere lapsus linguae sind weniger terminologisch als perspektivischgrammatikalisch bedingt. So heißt es in einer Beschreibung von Lagerbauten: „Die Innovativität der Baracke [lässt sich] in vier Stichworten beschreiben: Ortsungebundenheit, schnelle Verfügbarkeit, Nutzerfreundlichkeit und Multifunktionalität“ (Doßmann et al. 2007, 225). Einige dieser Kriterien (Ortsungebundenheit) mag man noch als auf jegliche historische Situation anwendbar begreifen. Wo aber ist „Nutzerfreundlichkeit“ einzuordnen? Soll das die Perspektive der Lagerinsassen erfassen? Dies kann bei einem Artikel, der sich um Konzentrationslager dreht, wohl kaum der Fall sein. Beschreibt man Baracken als ahistorische, quasi-abstrakte Bauform,123 geschieht genau das, wovor Adorno in seinen Bedenken gegen Begriffe warnt. Ein imaginiertes Wesen der Baracke wird vermeintlich als benutzerfreundlich erfasst, so dass „nur“ der Missbrauch in Lagern zur Verdrehung in eine „Nutzerfeindlichkeit“ führt. Nun haben Baracken kein Wesen, sie sind immer in historisch partikularen Konstellationen kon-

123 Doßmann et al. (2007, 220) setzen sich gegenüber dieser Möglichkeit explizit ab mit dem Hinweis, für Baracken habe sich „keine verbindliche, bauaufgabenspezifische Architekturtypologie ausgebildet.“

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textualisiert. Nutzerfreundlich sind sie nur für diejenigen, denen die Baracke ein Mittel ist, andere einzusperren.124 Perspektivisch ähnlich verdreht sind auch etliche Sätze in Wolfgang Sofskys Ordnung des Terrors, einem sprachlich ansonsten differenzierten Werk. „Das Organisationsproblem, vor dem die Bewacher [also die SS-Schergen, R.B.] standen, war nicht unkompliziert: Der beschränkte Lagerraum sollte optimal genutzt und gesichert sein“ (Sofsky 1997, 66). Der Satz enthält zumindest den Versuch, SS-Gedankengänge und zu lösende „Probleme“ zu verstehen. Dolf Sternberger (1987, 737) geht mit einer solchen Einstellung hart ins Gerichte, wenn er meint, „wer diesen Vorgang ‚Auschwitz‘ nicht allein darstellen, sondern zu verstehen unternähme, triebe die historische Teilnahme so weit, dass sie in virtuelle Mitschuld ausartete.“ Diese linguistischen Fallen haben oftmals eine große Vorsicht im Umgang mit Sprache zur Folge. Man möchte nicht ertappt werden, wie die Sprache mit einem spielt. Klemperer bemühte Schillers Zweizeiler Der Dilettant, um seine Position zu unterstreichen: „Sprache, die für dich dichtet und denkt“, bzw. die deinen unterschwelligen Antisemitismus und Rassismus zum Vorschein bringt. Die Unterdrückung genau dieses Effekts bezeichnet man heute als political correctness; er ist deshalb so verhasst, weil er das individuelle, aber auch das kollektive Unterbewusste plötzlich zum Vorschein bringt. Nicht umsonst wird in den Debatten um misslungene und gezielt provozierende Reden und Interviews (Philipp Jenninger im November 1988, Martin Walser im September 1998, Eva Herman im Oktober 2007) oft das „Es“ zitiert, welches aus diesen und anderen an solchen Disputen beteiligten Personen spricht. So schreibt Thomas Schmid (1998) über Martin Walser in offensichtlich nicht ironisch gemeinter Weise: „Weil er so nah am Quell des bundesdeutschen Wesens sitzt, spricht ‚es‘ zuweilen aus ihm“ (s.a. Heer 2014, 59, 62). Insgesamt ist Sprache mehr als jedes andere symbolische Kommunikationsmedium ein Instrument für Subjekte, um sich zu positionieren. Umgekehrt ist Sprache aber auch ein Urgrund der Subjektivierung selbst, wie Lacan (2015) deutlich macht. Wo die Umstände ein komplexes Verhältnis zwischen historischer Verantwortung, einer in Sprache verschüttet vorhandenen strukturellen Gewalt und dem Subjekt haben entstehen lassen, gibt es kein Entkommen mehr aus der Verpflichtung, gewissenhaft und behutsam mit ihr umzugehen. Nicht nur den Opfern des Nationalsozialismus gegenüber sind Reden wie die Walsers, erst recht aber die Auslassungen von Pegida, AfD und Neonazis verletzend. Sie tref-

124 Zu ähnlichen Textbeispielen auf Monumenten des Gedenkens, die Täter verschweigen, Juden immer noch zu Nichtdeutschen machen usw. s. Haß (1994).

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fen auch die Sprache selbst und damit die Verortungsstrukturen für heutige Subjekte insgesamt.

Ausgrabendes Erinnern Ein Topos der Rhetorik des „Unbehagens“ ist die angebliche Routine, die von Institutionen und ihren VertreterInnen beim Erinnern an die Nazi-Zeit an den Tag gelegt wird. In Fortsetzung von Walsers unsäglichem Begriff von Auschwitz als „Drohroutine“ und „Moralkeule“ wird betont, die Beschäftigung mit Faschismus sei „paranoid“ und „obsessiv“ (Brockhaus 2012, 108, 110), es handele sich um ein „nationales Erfolgs- und internationales Vorzeigeprojekt“ (Schmid 2012, 161), das gegen jeden gegenwärtigen Wandel resistent und ideologisiert worden sei. Giesecke und Welzer (2012) sprechen daher von einer notwendigen „Entrümpelung“ und „Renovierung“ der Erinnerung, wobei sie dafür plädieren, den Prozesscharakter der ohne aktive Entscheidungen erwirkten Teilnahme am Massenmord herauszustellen. Gedenkstätten mit ihrer Fokussierung auf die Opfer seien hingegen „schal geworden, petrifiziert und inhaltsleer“ (Giesecke und Welzer 2012, 19), langweilig und in einer Routine versunken, die einer geistlosen Frömmigkeit gleichkomme. Welzer hatte schon früher ähnliche Kritik geäußert, die auf Gegenwehr stieß: Schrader und Reichling (2011) konzedieren, dass die Kritik an Gedenkreden berechtigt sei. Die Fixierung auf den Schulunterricht als der heutigen Jugend unzeitgemäß und die pauschale Annahme, die Gedenkstätten verfolgten eine ähnliche Rhetorik, seien jedoch unverantwortlich einseitig. Auch Klaus Ahlheim machte jüngst auf den negierten Unterschied aufmerksam zwischen der ritualisierten, pflichtgemäßen Gedenkpolitik und einer vielfältigen Gedenkstättenpädagogik, in welcher Wissen, Empathie, Kritik und Emotion ihren Platz haben (Ahlheim 2014, 50–54). Erinnern in Gedenkstätten läuft nicht notwendig nur diskursiv ab, und ist auch nicht auf Bebilderungen in Foto und Film angewiesen. Gedenkstätten und andere Initiativen organisieren oft mehrtägige, manchmal auch länger andauernde Veranstaltungen für Jugendliche, zu denen auch Ausgrabungen gehören. In diesem Bereich stoßen wir zunächst auf ein weiteres Problem der Sprache. Denn solche Ausgrabungsinitiativen werden manchmal als „workcamps“ bezeichnet, wie etwa im Falle der Gedenkstätte des KZ Neuengamme. Auch einer Zeitung fiel auf, dass der modisch-englische Begriff aufgrund seiner Übersetzung ins Deutsche als „Arbeitslager“ vielleicht doch nicht ganz angemessen ist (Dittmann 2007). Von der Gedenkstätte Buchenwald wurde dieses Wort für die pädagogi-

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sche Arbeit ebenso verwendet wie von einer Initiative im KZ Uckermark (Rook 1995, 173; Antkowiak und Meyer 2005, 258). Davon abgesehen können Ausgrabungen aber sinnvoll mit Gedenken verknüpft werden. Die Freilegung von materiellen Resten schafft eine Aura des Entdeckens, die in anderen Zusammenhängen nicht so leicht zu erlangen ist. Hirte spricht von einer regelrechten „Gedenkstättenarchäologie“, einer „Alltagsarchäologie gegen Bewusstseinsschutt“ (Hirte 1999, 21–22, 24). Grundsätzlich setzt sich der Prozess des Erkundens der Vergangenheit in der Archäologie von anderen ähnlich gearteten Tätigkeiten wie der Archivrecherche durch die physische Aktivität als sinnlich erfahrbar ab. Die (manchmal anstrengende) körperliche Praxis hinterlässt unabhängig von der Zeitstellung des Ausgegrabenen persönliche Erinnerungen, die sich vom Alltag viel schärfer abheben als das Ansehen von Filmen, das Lesen historischer Werke oder eben die systematische Recherche im Archiv. Archäologisches Forschen ist immer auch eine verkörperte Erfahrung. Alles Forschen ist auf neue Erkenntnisse ausgerichtet und daher prinzipiell an Unvorhersehbarkeit orientiert, an einem sich im Forschen konstituierenden „epistemischen Ding“, wie weiter oben ausgeführt (s.S. 82–86). Das Vorgehen in der Formierung solcher Dinge soll in einer auf Standardisierung und Serialisierung fixierten Ökonomie allerdings soweit wie möglich eingehegt werden, so dass Routinen die Anzahl der Entscheidungen im Rahmen der explorativen Tätigkeiten minimieren (Shanks und McGuire 1996). Denn jede Entscheidung unterliegt subjektiven Anschauungen. Ich habe schon dargelegt, wie stark Apparate darauf angelegt sind, diese Prozesse zu objektivieren, etwa durch Einbeziehung der Fotografie in Ausgrabungsdokumentationen. Besonders die Landesdenkmalämter versuchen, durch standardisierte Verfahren das Vorgehen einzelner Ausgrabungsprojekte miteinander vergleichbar zu machen. Doch trotz aller Anstrengungen, routinisierte Verfahren zur Grundlage des Erkenntnisgewinns qua Ausgrabung zu machen, bleibt vor Ort eine fundamentale Unberechenbarkeit, eine Kontingenz des Offenlegens. Es stellt sich erst dann eine Art der epistemischen Beruhigung ein, wenn das gerade Freigekratzte oder Freigeputzte mit einem Namen versehen werden kann. Im deutschen Fachjargon heißt dies die „Ansprache“ von Funden und Befunden. Gegen diese Zielrichtung einer epistemischen Beruhigung argumentiert Ian Hodder, wenn er von „interpretation at the trowel’s edge“ spricht (Hodder 1999, 92–97). Demnach ist die Trennung von angeblich objektiver „Ansprache“ durch Auswahl einer in papiernen oder elektronischen Datensätzen festgelegten Kategorie einerseits und einer hierauf folgenden Interpretation andererseits falsch. Denn Interpretieren fange direkt beim Ausgraben an, ob wir dies wollen oder

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nicht (s. auch Bender et al. 1997). Jede angeblich objektive Datensammlung sei eine Einschränkung der Erkenntnisfähigkeit. Um es anders auszudrücken: weil grabende Tätigkeit wissende Praxis ist, sollte sie die sich im Verlauf des Freilegens bietenden Möglichkeiten der Interpretation produktiv nutzen statt sie auszuschalten. Das beinhaltet aber, um sinnvoll durchgeführt zu werden, die intensive Auseinandersetzung aller Grabenden mit vorhandenem Vorwissen als auch mit den alltäglichen Ausgrabungsergebnissen im gesamten Projekt. „The excavator should not be seen as a technician. The person excavating should have the fullest possible knowledge and the widest range of possible narratives. No one else can ever have the same opportunity to deal with the tension of interpretation and data“ (Hodder 1999, 103). Konfrontiert werden hier zwei Ausgangspositionen. Die eine idealisiert die bewusste Ausschaltung von Vorwissen als epistemologisch zweifelhaft und versucht sich in einem „view from nowhere“ (Nagel 1989), der Standpunktlosigkeit als wissenschaftlicher Idealvoraussetzung für Objektivität. Die andere, in der Kritischen Theorie und feministischen Schriften stark vertretene These verneint die Möglichkeit, sich überhaupt außerhalb des eigenen Intellekts und der eigenen Interessen zu setzen, um emphatisch eine explizite Selbstpositionierung zu fordern, die Bedingung für die Möglichkeit von Objektivität ist (Habermas 1973; Harding 1993). Wie schon anhand der Diskussion zur Positionalisierung deutlich geworden sein dürfte, scheint mir eine standpunktlose Sicht auf die Geschichte unangemessen. Wichtig an diesen zwei epistemologisch radikal divergierenden Ausgangspositionen ist das Potenzial für eine Routinisierung. „The view from nowhere“ entspricht der in den Naturwissenschaften dominierenden Vorstellung von Laborpraxis als intersubjektiv vermittelbar und daher objektivierbar. Die Insistenz auf Positionalisierung hingegen ermöglicht es „to bring forward interpretation to the moment of discovery, as far as that is possible. The more that excavators are surrounded by interpretive possibilities as they dig, the more they are able to interpret what they find, and the more equipped they are to test alternatives“ (Hodder 2010, 12). Diese Ansicht reduziert aber auch weitgehend den Versuch der Standardisierung. Hodders „Interpretation mit der Kelle“ bezieht sich zwar auf einen prähistorischen Ort in der heutigen Türkei, jedoch lässt sich das Prinzip der interpretierenden Grabungspraxis auch auf Orte des Nationalsozialismus ohne weiteres übertragen. Als eine Art des Erinnerns eröffnet dieses ergebnisoffene Ausgraben einen Ausweg aus der angeblich so formelhaften Praxis des Gedenkens, die vor allem Walser und Welzer, aber auch Jureit und Schneider beklagen. Denn Ausgraben ist geradezu anti-routiniert, da sich das Aufdecken von unbekannten Resten der Standardisierung weitgehend widersetzt. Bender et al. (1997) machen dies in einem ausführlichen Kommentar zu

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Fragen der Dokumentation im Prozess des Freilegens des bronzezeitlichen Ortes Leskernick in Cornwall deutlich. Dieser Frage nach der Ausgrabungspraxis als einer spezifischen Art des Erinnerns gehe ich im Folgenden anhand einer Befragung von Studierenden nach, die an der Ausgrabung in Tempelhof beteiligt waren. Es handelte sich um insgesamt sieben narrativ beantwortbare Fragen, die sich um die Motivation zur Teilnahme, um positive oder negative Aspekte der Ausgrabung und um Diskussionen mit Unbeteiligten über das Projekt drehten.125 Die 25 Antworten kommen von etwas mehr als der Hälfte der angeschriebenen Studierenden und produzieren an manchen Stellen große Übereinstimmung, während sich anderwärts Diskrepanzen ergeben. Statt die Repliken anhand der von mir formulierten Fragen zu erörtern, ziehe ich es vor, die Beschreibung des Ausgrabens als „praktische Praxis“ des Erinnerns in Tempelhof anhand der Antworten der Studierenden zu strukturieren. Für manche der StudentInnen war dies die erste Grabungsteilnahme überhaupt. Andere verglichen ihre Erfahrungen, und hierbei zeigt sich ein erster gewichtiger Unterschied zwischen dem Ausgraben moderner und antiker oder prähistorischer Kontexte. Denn: „Die Funde konnten sofort und ohne weitere Erklärung erkannt werden. Es benötigte nicht die ‚Übersetzungsarbeit‘ eines erfahrenen Archäologen, der sich mit der materiellen Kultur auskennt, weil die geborgenen Objekte für jeden von uns von alleine lesbar waren. Dass es sich dabei teilweise um Dinge gehandelt hat, die Stücken ähneln, die die eigenen Eltern von ihren Eltern geerbt haben, machte alles greifbarer und näher. Gefühlt wurde dadurch die Zeit ‚verkürzt‘, die seit dem 3. Reich vergangen ist, weil die Traditionslinien in die eigene Familie offenbar wurden.“

Der Umgang mit den Funden kann also einen Annäherungseffekt auf die Wahrnehmung temporaler Distanz haben. Dies steht quer zu den Behauptungen wachsender Entfremdung, die das oben erwähnte „Unbehagen“ über Erinnerungsmodi der Nazi-Zeit betrifft. Der Missmut über zu viel Gedenken scheint sich eher auf einen Personenkreis zu beziehen, der sich beruflich im historischen und/oder Gedenkstättenbereich mit der Nazi-Zeit befasst. Viele vergleichende Kommentare der Studierenden betreffen die Auffassung, eine „eigene Geschichte“ ausgegraben zu haben, was besonders bei den in Berlin selbst Aufgewachsenen weitere Konsequenzen haben kann:

125 Bei wörtlichen Zitaten wurden minimal Interpunktion und Orthographie verändert. Alle Zitate sind von den jeweiligen Studierenden zum Abdruck genehmigt worden.

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„Wenn man normalerweise neolithische Siedlungen ergräbt, sind die Bewohner eher etwas Abstraktes, zu welchem man keinen direkten Bezug hat. [...] Hier aber ging es um Menschen, die zur selben Zeit gelebt haben wie meine Urgroßmutter. [...] Dieser Unterschied war die ganze Grabungszeit über mental präsent. Seit ich ein kleines Kind war, kenne ich zum Beispiel das Denkmal in meinem Geburtsbezirk Köpenick. Eine steinerne Stele mit geschlossener Faust, welche der Köpenicker Blutwoche gedenkt. Dabei war mir zwar seit langem bekannt, dass es sich dabei um eine Verfolgungsaktion zu Beginn der NS-Zeit gehandelt hat, aber mehr auch nicht. Erst während der Grabung auf dem Tempelhofer Feld habe ich persönlich angefangen, zu recherchieren und mich mit der Geschichte und den Ereignissen der Köpenicker Blutwoche auseinander zu setzen.“

Solche über die Ausgrabung hinaus reichenden Konsequenzen werden auch an anderer Stelle erwähnt, wenn es etwa heißt, dass „mein Maß an Pazifismus [...] angesichts der Fundmunition spürbar gestiegen [ist]“; oder „die Ausgrabung mich dazu angeregt [hat], mit Zeitzeugen aus meinem Umfeld über ihre Erfahrungen zu sprechen.“ Ein Beitrag thematisiert direkt die Erinnerung an die Grabung, wenn es heißt: „Was die Arbeit für mich [...] nach drei Jahren immer noch interessant macht, ist die Möglichkeit, Erinnerungsorten mit einem anderen (vielleicht archäologischen?) Blick zu begegnen und zumindest theoretisch nicht nur ausgraben sondern auch gestalten zu können.“ Komplexe emotionale Bezüge zeigen sich auch in „dem Pflichtgefühl, die damaligen Missstände aufdecken zu müssen, und einer gewissen Schadenfreude darüber, dass wir die Täter damit entlarven und bloßstellen konnten. Zumindest wissen jetzt mehr Leute als vorher, dass die Lufthansa keine weiße Weste hat.“ Emotionen auf persönlicher Ebene sind jedoch keine allgemeine Einstellung unter den Befragten. Denn für manche gab es „nie das Gefühl, direkt meine eigene Vergangenheit auszugraben.“ Motivierend waren „eigentlich Neugier und Interesse, statt Gefühle wie Schuld, Scham, Trauer.“ Und: „Wenn persönliche Gegenstände zutage kamen, wie ein Rosenkranz in einem Splitterschutzgraben und ich mir über den/die BesitzerIn Gedanken gemacht habe, da hatte ich einen Moment der Traurigkeit. [...] Diesen ‚Versuch‘ des Nachempfindens habe ich auch bei anderen Grabungen, z.B. bei einer Bestattung eines Kleinkindes mit einem Perlenarmband. Nicht während des Ausgrabens, sondern bei der Dokumentation stelle ich mir vor, wie dieses Kind gestorben sein könnte.“

Zeitunterschiede zwischen Heute und ausgegrabener Epoche, ob Vorgeschichte oder Moderne, werden also nicht unbedingt als relevant empfunden.

390 | M ATERIELLE S PUREN DES NATIONALSOZIALISTISCHEN T ERRORS „A feeling of a ‚present past‘ is one that I had experienced at every dig I was part of and also in Tempelhof, [...] usually a subtle feeling, a kind of a hum in the background. For me, it’s part of the work routine, almost a work tool. Tempelhof was no exception to that. Actually, prior to the dig I did expect to feel differently or more strongly about the dig, but in fact I didn’t.“

Auch bewusste Strategien des Umgangs mit der Vergangenheit beim Ausgraben bzw. zu späteren Zeitpunkten werden erläutert: „Ich [beschäftige] mich meist erst nach der Arbeitszeit oder nachdem die Ausgrabung für mich abgeschlossen ist“ mit den emotionalen Aspekten. Eine andere Antwort erwähnt ebenfalls eine Zweiteilung grundsätzlicher Einstellungen. Trotz persönlicher Bezüge durch Vorfahren „[hatte ich] auf Tempelhof [...] einen ‚wissenschaftlichen‘, distanzierten Blick, so wie auf das, was ich in der Schule gelernt habe“, wobei dennoch eine gewisse Familiarität bescheinigt wird, die sich deutlich vom Bezug etwa zu „Gruben aus der Eisenzeit in Mitteldeutschland heraus[hebt].“ Eine andere Person kommentiert ebenfalls ihr „Gefühl des Unbehagens und der Empathie mit den Menschen, die an dem Ort Schreckliches erlebt haben. Während der Arbeit allerdings trat das in den Hintergrund und die Empfindung war dieselbe wie bei anderen Grabungen, da es für mich meine archäologische Arbeit war, die ich erledigt habe. Ich hatte das Gefühl, etwas mir Bekanntes auszugraben, jedoch mit einer Distanz. Erst nach jedem Arbeitstag habe ich reflektieren können, was das Ausgegrabene bedeutet. Das ist mir persönlich sehr nahe gegangen. Es ist etwas anderes, eine einfache Siedlung oder einen Friedhof auszugraben aus alter oder jüngerer Zeit als einen Ort der Gewalt.“

Rein archäologisch erscheinen Vergesellschaftungen von bestimmten Funden gerade aufgrund eines allgemein vorhandenen Hintergrundwissens der materiellen Kultur des 20. Jahrhunderts befremdend: „Wie es zum Beispiel geschehen konnte, dass ein einzelner Goldring inmitten von alten Tuben, Glassplittern und Spritzen weggeworfen wurde, ist mir bis heute schleierhaft.“ Derartige Beobachtungen sind kein Einzelfall: „Der Kontrast zwischen den Fundobjekten (Persönliches und Waffen) erschütterte mich im Nachhinein doch noch etwas.“ Funde haben auch die schon beschriebene Kraft des Evozierens. So lautet ein Kommentar: „Ich war immer sehr bedrückt, wenn ich sehr persönliche Gegenstände wie Kämme oder Teile von Spielzeug [...] in den Händen hielt. Ich habe mir versucht, die Besitzer vorzu-

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stellen und mich gefragt, welche Bedeutung dieser Gegenstand für diese Person vielleicht gehabt haben muss und aus welchen Gründen er nun dort gelandet ist, wo wir ihn gefunden haben.“

Die Dimension des Individuellen an den Funden wird besonders geschätzt, weil „an eine Person gebundene Gegenstände, also deren Personalisierung bzw. Individualisierung“ das Gefühl nach sich ziehen, „eine fremde und doch ganz persönliche Vergangenheit auszugraben.“ Der Eindruck entsteht also, dass sich den Grabungsteilnehmenden in den Funden aus Tempelhof Eigenheiten und Individuelles stärker offenbaren als in antiken Kontexten, und zwar trotz der industriellen Massenproduktion der Objekte. Allerdings war für Einzelne auch „der Großteil der Funde Schrott. [...] Die Befunde haben im Gegensatz dazu viel stärker gewirkt.“ Andere Studierende setzen Befunde und Funde in ein Verhältnis, welches dem entspricht, was ich an hier als Bezeugen angesprochen habe (s.S. 129 –139): „Die Befunde spiegeln die restriktiven Strukturen wider, mit denen die Inhaftierten konfrontiert waren. In den Funden findet sich ihre Individualität. Dies ist besonders wichtig, da eine Geschichtsschreibung sonst leicht objektivierenden Charakter erhält, in dem der Mensch, der dort so viel Leid erfahren hat, zur Statistik verkommt.“

Auch für andere Studierende verweisen Funde auf „Einzelschicksale“, und an einer Stelle wird bemerkt, dass „Alltagsgegenstände (der ZwangsarbeiterInnen, aber andererseits auch der Nazis) es [sind], die meine Aufmerksamkeit am meisten geweckt haben. Meiner Meinung nach sind sie in der Lage, der Geschichte und anonymen/namenlosen Individuen ein Gesicht zu geben. Die Figuren dieser Geschichte waren Einzelpersonen aus Fleisch und Blut, die Gegenstände besaßen oder jedenfalls benutzten während ihres Lebens im Lager. Oft ist es so, dass man durch archäologische Ausgrabungen – besonders wenn es um alte Zivilisationen geht – eher die Geschichte einer ganzen Gesellschaft/Zivilisation als die von Einzelpersonen nachvollziehen kann.“

Unter den Fragen, die ich gestellt hatte, lautete die abschließende, ob die Studierenden sich „anhand der Grabungen einigermaßen vorstellen können, was es bedeutet, in einem Zwangsarbeitslager zu leben.“ Dass diese Frage naiv und falsch gestellt war, zeigen fast alle Antworten hierauf. Eine lautete zum Beispiel: „Ich finde diese Frage ein wenig anmaßend, da ich denke, dass sich niemand auch nur im Geringsten vorstellen kann, wie es war, in einem Zwangsarbeitslager zu

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leben.“ Eine andere Person schrieb, dass das Gefundene „noch lange nicht reicht, sich in das Leben eines Zwangsarbeiters hinein zu fühlen“; „basically uninmaginable“ taucht als Formulierung ebenfalls auf. Die Frage selbst sei, so eine Zuschrift, „der falsche Ansatz an die Grabung: wir wollen ja nicht nacherleben, was damals passiert ist, sondern verstehen und gedenken.“ Das mag in teilweisem Gegensatz zu meinen hier angestellten Reflexionen stehen, zeigt aber damit auch, dass grundsätzliche Fragen zu Zielsetzung und Verständnis der Rolle der materiellen Reste aus der Nazi-Zeit dringend einer weiteren, sicher auch einer kontroversen Diskussion bedürfen. Ebenso wichtig sind Überlegungen zum Verhältnis zwischen Ausgraben und Interpretieren, wie sie Ian Hodder mit seiner „interpretation at the trowel’s edge“ thematisiert. So meint eine Replik, dass im Zustand der Ausgrabung eine Interpretation noch gar nicht möglich gewesen sei. Anderswo wird die Ambiguität archäologischer Quellen thematisiert, denn diese seien „zu vergleichen mit einem Indizienprozess, in dem kein Geständnis des Angeklagten vorliegt und als Beweismittel keine Tatzeugen oder entsprechende Urkunden herangezogen werden können“ (Hervorhebung im Orig.). Andererseits hat die Ausgrabung aber auch zu Gedanken über „alltägliche Abläufe innerhalb eines Zwangsarbeitslagers“ angeregt, auch wenn „das erfahrene Leid, das Unrecht, Eingeengtheit etc.“ unvorstellbar blieben. Die „Barackengrundrisse riefen [...] ein Gefühl der Unzulänglichkeit der Unterkunft“ hervor. Erwähnt werden auch „additional visual and textual evidence that give reference and context in such a site, and the small finds that complete the uncanonized parts that were left out of the story.“ Treffend wird die Ausgrabung als ein Vorgang des „rekonstruktiven Erinnerns“ beschrieben. Rekonstruktives Erinnern – diese Bezeichnung scheint mir eine kreative und passende Bezeichnung für die Tätigkeit des Ausgrabens in Lagern der Nazi-Zeit zu sein. Denn Ausgraben ist notwendig immer ein Aufdecken und damit auch ein Erinnern an Vergessenes. Gleichzeitig unterscheidet sich dieses von anderen Erinnerungsformen durch seine Bruchstückhaftigkeit, die sich schon auf dem Niveau der einzelnen Objekte manifestiert und nur dann zu Sinnzusammenhängen führen kann, wenn die Fragmente zu einem größeren Ganzen rekonstruiert werden. Die Praxis des Grabens zeigt als Faszinosum, „dass die Funde und Befunde so unmittelbar unter der Grasnarbe liegen.“ Das Ausgraben selbst als ein Entdecken wird damit als ein nicht routinisierter Vorgang thematisiert. „Besonders interessant fand ich Strukturen, die zuerst nicht direkt zu identifizieren waren. Sie immer weiter freizulegen und zu deuten hat mich sehr gereizt.“ Fachspezifische Erfahrungen fließen vergleichend ein, wenn es etwa heißt, „als ‚fundgeil‘ ausgebildeter ‚Orient-Archäologe‘ war die bedrückende Fundleere,

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die die Zwangsarbeiter_innen hinterließen, sehr beeindruckend. Ich empfand dabei durchaus Parallelen mit der Architektur im Jüdischen Museum.“ Manche handfeste Kritik an materiellen Arbeitsverhältnissen wird geäußert. Im ersten Jahr sei „die Bezahlung unglaublich schlecht“ gewesen, in der Tat ein Problem, wenn man bedenkt, dass die Dokumentation vergangener Ausbeutungsverhältnisse der Inhalt der Ausgrabung war. Eine irgendwie geartete Vergleichbarkeit der Arbeitsverhältnisse ist damit natürlich nicht intendiert. Auf einer allgemeineren Ebene wird das Ausgraben als Umgang mit vergangenen Subjekten in einer weiterführenden Reflexion problematisiert: „In der ‚Täterrolle‘ [befindet man sich] durch Wissen über die Vergangenheit und das daraus entstandene Verantwortungsgefühl, aber auch durch die ‚archäologische Tat‘, mit der man der Vergangenheit und ihren Menschen nicht nur seine je eigene Definition von Respekt auferlegt, sondern mit der man durch Bewerten, Sortieren und Klassifizieren von Objekten eventuell erneut eine Art Gewalt ausübt.“

Komplex sind manche Bemerkungen zum Augenblick des Findens und sprachlichen Alltagshandlungen. „Bei Objekten, die sehr gut erhalten waren, habe ich im ersten Moment ‚Geil!‘ gerufen, um im selben Moment mich für diesen Ausdruck zu schämen. Aber im Nachhinein weiß ich nicht, ob das so eine selbstauferlegte, künstliche ‚Pietät‘ war.“ Andere Kommentare zum diskursiven Umfeld auf der Grabung äußern Kritik daran, wie „locker mit dem Thema und der Ausgrabung umgegangen [wurde], was ich manchmal als unangebracht empfunden habe.“ Studierende zeigen sich besorgt, dass „in einem [ausgegrabenen] Kontext, in dem Gewalt gegenüber Schwangeren nicht die Ausnahme, sondern sogar die Regel war, Witze über Frauenarbeit“ gemacht wurden. Hier kommt zum Ausdruck, was Lucas (2001, 8) allgemein an Ausgrabungen kritisiert: Grabungsschnitte seien historisch „masculine space“ und bleiben es leider bis heute (s. a. Gero 1996). Auch „fremdenfeindliche Witze und Bemerkungen“ werden kritisiert, ebenso wie „eine allgemeine professionelle Unberührtheit bzw. auch Begeisterung für Nazi-Objekte [...], die das Gefühl eines persönlichen Fremdseins“ bei anderen Mitarbeitenden erzeugen konnten. Es wird in solchen Kommentaren deutlich, dass die Grabung strukturell in Probleme geriet. Ungenügende Auseinandersetzung mit der Vielzahl an Stimmen im Team kann nicht allein auf die technischen Anforderungen des Landesdenkmalamtes abgeschoben werden, die durchaus einen gewissen Zeitdruck und Erfolgszwang – etwas „Ansehnliches“ zu finden – erzeugten. Vielmehr bestand bei einigen, aber nicht allen Grabungsteilnehmenden der Anspruch, das Gedenken an diejenigen Personen zentral einzubeziehen, die diesen Ort als KZ-Häftlinge und ZwangsarbeiterInnen erfuhren.

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Gedenken sinnvoll zu integrieren gelang nicht, auf jeden Fall nicht ausreichend. Eine Bemerkung ist direkt auf den strukturell-praktischen Konflikt ausgerichtet: „Ich wusste, dass die Ausgrabungs- und Dokumentationsweise sich sehr stark an gegebenen Vorschriften orientiert, d.h. kaum flexibel ist. Aber ich glaube, das war mit ein Grund, warum ich es spannend fand, wie diese ‚unflexible‘ Grabungsweise nach Vorschrift in diesem Projekt umgesetzt wird.“ Die Erfahrung mit dem Tempelhofer Projekt lehrt, dass eine Grabung an einem solchen „Tatort“ nicht allein in der Arbeit des Freilegens und Dokumentierens der Befunde sowie der Aufnahme der Funde bestehen darf, sondern eine Komponente integrieren muss, die Grabungsergebnisse direkt der Diskussion um die Bedeutung des Erarbeiteten und dem kollektiv vorhandenen Vorwissen öffnet. Man mag dies als Forderung nach Hodders „interpretation at the trowel’s edge“ ansehen. Ein Kommentar geht darüber hinaus und regt direkt eine kommunikative Komponente an: „Auf der Grabung hätte ich mir aber viel mehr Platz für Reflexionen gewünscht, Gespräche darüber fanden (zumindest als ich dort gearbeitet habe) nicht statt und wurden auch [...] nicht angestrebt. Allgemein hätte ich mir viel mehr Plena und Erfahrungsaustausch gewünscht.“ Dagegen spielten bei einer anderen Ausgrabung im Mädchen-Konzentrationslager Uckermark die Kommunikation und das kritische Reflektieren eine Hauptrolle, gegenüber der Archäologie und materielle Reste sekundär blieben. Antkowiak und Meyer (2005, 266) beschreiben die Konsequenzen: „Um der Gefahr einer Identifizierung mit den Opfern bzw. dem Rückzug in die Subjektivität entgegenzuwirken, galt es, die Teilnehmerinnen aus diesem ‚emotionalen Raum‘ herauszuholen, d.h., die einfühlende Annäherung mit den methodischen Fragen an die Geschichte zu verknüpfen.“ Im Falle Tempelhofs war es wohl umgekehrt: wir hätten die Teilnehmenden mehr aus dem Raum der wissenschaftliche Objektivität herausholen und Empathie stärker in die Arbeiten eingliedern sollen. Die Intensität der Auseinandersetzung unterliegt jedoch nicht nur der Organisation einer Grabung und den externen Sachzwängen, sondern auch der individuellen Teilnahme der Studierenden. „I have not spent enough time on the excavation. I could not properly engage with finds and features, for example examining and contemplating a certain section, or making sense of the hundreds of small glass pieces or whatever [we] found in a certain pit.“ Dass eine solche Grabung letztlich dennoch Wirkungen hat, zeigen Kommentare, die sie mit dem Erfassen von Schulwissen vergleichen: „Nach der Schulzeit wollte ich wirklich lange Zeit nichts mehr über das Dritte Reich hören, da währenddessen das Thema hauptsächlich geprägt war vom Predigen bestimmter Daten. Durch die Ausgrabung am Tempelhofer Feld hat es für mich eine ganz neue Dy-

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namik bekommen und ich finde solche Grabungen umso wichtiger, je weniger Zeitzeugen darüber Auskunft geben können.“

Nationalsozialismus wird oft mit schulischer, moralisch untermalter Leistungskontrolle assoziiert (Messerschmidt 2012, 234). Diese Negativerfahrung kann u.a. durch Ausgrabungspraxis relativiert werden. Ähnliche Überlegungen klingen in einer weiteren Zuschrift an: „Es war spannend, die Funde und Befunde freizulegen, von denen ich so vieles zur Schulzeit nur gehört hatte, sie jedoch nie richtig ‚anfassen‘ konnte. Aus der ‚Theorie‘ wurde ‚Praxis‘. Die Distanz zwischen der Erzählung und der Wahrheit wurde so überbrückt.“ Eine solche Grabung kann auch generelle Eindrücke historischer Art bestätigen: „Only in the last few years have I grasped more clearly the striking depth and extent that the Nazi presence had on everyday life directly and indirectly. Tempelhof has reaffirmed this notion to me.“ Ich hatte unter anderem danach gefragt, auf welche Reaktionen die Grabung im Freundes- und Bekanntenkreis der Studierenden stieß. Hier bestand in einer Hinsicht weitgehende Übereinstimmung, nämlich der weitreichenden Unkenntnis über die Zwangsarbeit auf dem Feld. „Keinem von ihnen [war] klar, dass ein Zwangsarbeiterlager auf dem Flugfeld existierte. Von der Besatzung der Alliierten haben alle in mehr oder weniger großem Maße gewusst bzw. gehört.“ Auch die eigene Unkenntnis hierüber kommt in manchen Bemerkungen zum Ausdruck. In der Regel berichten die Studierenden zudem von großem Interesse seitens Außenstehender: „Die Neuzeitarchäologie wurde als viel legitimer eingeschätzt als andere Archäologien, die von den meisten als Prestige einer Gesellschaft [...] betrachtet werden.“ Oder: „In meinem persönlichen Umkreis waren die Reaktionen durchweg positiv bis hin zu sehr interessiert, wobei durchaus oft die Frage aufkam, warum ausgerechnet das Institut für Vorderasiatische Archäologie in Berlin ausgräbt.“ Interessant sind auch Gegenüberstellungen von Tempelhof und großen, bekannten Gedenkstätten. Denn „ich hatte das Gefühl, wenn es um Sachsenhausen oder andere Lager ging, haben sich diese Menschen [GesprächspartnerInnen, R.B.] eher davon distanziert als in ihrer Heimatstadt.“ Allerdings bekamen einige Studierende – trotz Unwissens seitens ihrer GesprächspartnerInnen über die Lager – „Neugierde und ein gewisses Unverständnis“ zu hören, „warum dort gegraben werden muss. Viele meiner Bekannten und Verwandten vertraten die Ansicht, dass ‚doch davon alles schon aus dem Geschichtsunterricht oder den Medien bekannt ist‘.“ Andere berichten, dass „nachforschende Fragen [...] nicht wirklich gestellt worden sind.“ Das jeweilige Umfeld wird auch in seinen internationalen Dimensionen kommentiert. So lautet eine Antwort,

396 | M ATERIELLE S PUREN DES NATIONALSOZIALISTISCHEN T ERRORS „die meisten Menschen [hätten] mit Unverständnis reagiert, oder, und das war in diesem Moment für mich schlimmer, haben [die Arbeit] nicht ernst genommen. [...] Allerdings hatte ich die Gelegenheit, im Sommer 2013 auf einer anderen Ausgrabung mit einem israelischen Archäologen darüber zu sprechen, und er war sehr positiv überrascht, dass solche Archäologie in Deutschland stattfindet.“

Die Einbindung in internationale Kontexte kann auch aufgrund drängender existenzieller Probleme zu relativem Desinteresse führen: „Those friends with more European cultural background were somehow not so interested in it [the excavation, R.B.], even those who were somehow political activists; those with Middle Eastern and oriental background are so devastated because of the Syria [crisis] and its unbelievable destruction and this issue [excavating Nazi period sites, R.B.] was not a priority for them.“

An mancher Stelle erscheint die Positionialität der Antwortenden explizit: „Es war ein Gefühl der Verantwortung. Als Enkel von Tätern gab es so die Möglichkeit, die deutsche Vergangenheit auszugraben und dadurch um weitere Geschichten ergänzen zu können. [...] Dies hat sich auch in Konfrontationen mit der Tätergeneration in meiner Familie wiedergespiegelt. Bei einem Projekt zur zeitgenössischen Archäologie [in Westasien] hatte ich dieses Gefühl nicht.“

Oder auch noch direkter: „My great-grandfather was in the SS. [...] I had to think about how the Nazis acted during the war, knowing my own family was involved. [...] But to be honest, these thoughts were not really any different than at other times.“ Weitere Studierende formulieren allgemeiner: „Heutige Großeltern haben diese Zeit erlebt. [...] Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die heutige ältere Generation zu dem Thema lieber schweigt.“ Andere kommen aus einem familiären Umfeld des Widerstands: „Mein Großvater, zum Beispiel, war während des 2. Weltkriegs ‚partigiano‘ (Partisan/Widerstandskämpfer) und kämpfte in Italien gegen das gleiche Regime, das das Zwangsarbeitslager auf dem Tempelhofer Feld errichtete. [...] Ich denke nicht, dass hier die zeitliche Entfernung den Unterschied macht, sondern eher das Bewusstsein, dass eine Zeit oder ein Ereignis das Leben meines Großvaters und damit auch die Geschichte meiner Familie und meine eigene aktiv und stark beeinflusst haben.“

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Nicht alle Perspektiven fallen so deutlich aus, denn es kann auch „politische Differenzen innerhalb der Familie“ gegeben haben, mit einem Teil der älteren Generationen als Gegner, einem anderen als Anhänger des Nazi-Regimes. Allgemeiner wird diese spezifische Grabung auch als politisierte Geschichtsarbeit angesehen. „Archäologische Arbeiten wie diese [sind] – unabhängig von den erbrachten Funden – ein politisch-emotionaler Akt von aktueller Relevanz [...], den durchzuführen oder zu unterlassen eine moralische Entscheidung der Folgegenerationen ist.“ Umgekehrt kommen manche Studierenden aus einem politisch aktiven Umfeld und sehen in der Ausgrabung eine Möglichkeit, wissenschaftlich-fachliche und derartige Interessen zu verbinden. „Ich hatte mich schon seit Beginn meines Studiums gefragt, ob es möglich wäre, Archäologie und politisches Engagement zu verbinden und sah in der Grabung eines Zwangsarbeiterlagers eine solche Möglichkeit.“ Eine andere Bemerkung geht in dieselbe Richtung: „Ich fand es eine sehr gute Möglichkeit, antifaschistisches Engagement auch auf Projekte in meinem Studium direkt anzuwenden. [...] Kein Mensch hat im Studium davor überhaupt erwähnt, dass es so etwas [wie eine NS-Archäologie, R.B.] überhaupt gibt.“ In etlichen weiteren Antworten werden heutige allgemeinpolitische und gesellschaftliche Verhältnisse einbezogen. „Dass sich Geschichte leider auch im Negativen wiederholt, zeigen historische wie rezente Beispiele zur Genüge (Stichwort AfD). Die Tendenz zur systematischen Unterdrückung einzelner Gesellschaftsgruppen (z.B. Verschärfung des Meldegesetzes, die vor allem Roma-Familien aus Südosteuropa [...] trifft), sehe ich in Deutschland leider nach wie vor gegeben.“ Diese Zeit „fassbar“ zu machen, hält eine andere Person für wichtig und setzt sich radikal vom o.g. Unbehagen aufgrund von Übersättigung ab, die angeblich mit Veranstaltungen und Gedenken an die Verbrechen des „Dritten Reichs“ verbunden ist: „Oftmals wird die ‚Nazi-Zeit‘ lieber totgeschwiegen und unter den Teppich gekehrt. In Anbetracht der aktuellen politischen Lage halte ich es für dringend erforderlich, dass darüber gesprochen und aufgeklärt wird.“ Auch migrantische Hintergründe kommen hier zur Sprache, wenn etwa eine Antwort betont, dass „ich [im Alltag] oft das Gefühl habe, die Gesamtheit der MigrantInnen vertreten zu müssen und dass ich dazu gedrängt werde, mich von etwas zu distanzieren. In diesem Kontext [der Grabung, R.B.] konnte ich [...] beobachten, dass einige TeilnehmerInnen ohne Migrationshintergrund in derselben Lage waren und nicht genau wussten, wie sie sich verhalten sollen. Für mich war es ein Gefühl der Freiheit, aber auch ein bisschen [die Einstellung des ] ‚seht Ihr jetzt, wie ich mich manchmal fühle‘.“

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Grundsätzlich geht es auch um die Wahrnehmung des Flughafens als Ort. „Da ich in der Gegend aufgewachsen bin und schon als Kind vom Flughafen Tempelhof geflogen bin [...], sehe ich das Gelände nun mit völlig anderen Augen.“ Auch Welzers oben erwähnte Auffassung, der Erkenntniswert des einzelnen Falls sei unerheblich, wird von den Studierenden nicht geteilt. „Es sind meist die kleinen, lokalen Ereignisse, die im Schatten von Auschwitz, Sachsenhausen oder Buchenwald übersehen werden.“ Die Relation zwischen heutiger Nutzung und derjenigen während des Nazi-Regimes wird als spannungsreich und teils als problematisch empfunden: „I came with my conception of a dark Nazi airport/aircraft labor camp but what I saw was a huge park with an altered identity. I felt a strange insistence on changing the use of this area. [...] For me, it was only erasing the history. [...] I was just shocked.“

Ganz ähnlich heißt es in einer anderen Antwort, „Je mehr freigelegt wurde, desto stärker wirkte der Kontrast zu dem Softballfeld nebenan, den Joggern und der gesamten Parkatmosphäre des Tempelhofer Flugfeldes heute. Nach Beendigung der Ausgrabung und dem Zuschütten der Schnitte hat sich für mich dieser Kontrast noch verstärkt.“ Deutlich wird hier, dass der Zustand des Feldes zum Zeitpunkt der Ausgrabung als unzureichend empfunden wird, da die Verbrechen des Nationalsozialismus weitgehend unsichtbar bleiben. Die Vielfalt der Antworten und die offensichtlich starken Impulse, die von einer solchen Ausgrabung ausgehen können, zeigen, wie sehr die Klagen über ein „Unbehagen“ wegen der Beschäftigung mit der Nazi-Zeit fehlgehen, wenn sie insbesondere heutige Jugendliche und junge Erwachsene als mehr oder weniger uninteressiert deklarieren und daraus einen Schluss auf eine stärkere Ausrichtung auf die Zukunft fordern. Natürlich ist zu bedenken, dass Studierende immer noch eine Elite in der Gesamtbevölkerung sind, und dass die an der Grabung Mitarbeitenden eine gezielte Auswahl unter diesen Studierenden darstellen, die generell stärker als andere an Vergangenheit interessiert sind. In den Antworten zeigt sich insgesamt eine Spannung, die zwischen den Polen von Empathie bzw. Opferorientierung auf der einen, Objektivität und Wissenschaftlichkeit auf der anderen schwankt. Vorwissen und Wissenskonstruktion stehen ebenfalls in einem prekären Verhältnis. Empathie als fundamentale Komponente im historischen und archäologischen Bereich wird oft – so etwa im dominanten Diskurs der deutschen Historiographie zum Nationalsozialismus – mit einem Hang zur Sakralisierung und Mythologisierung der Vergangenheit gleichgesetzt (s. Traverso 2007, 25–30) und gilt damit als Anzeichen mangelnder Kritikfähigkeit (Michel 1987). Bei be-

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stimmten Ausgrabungsprojekten mag es tatsächlich notwendig sein, die Faktenbasis des Archäologischen zu betonen, und auf der Notwendigkeit des kritischen Nachdenkens über Aufgefundenes im Verhältnis zu Vorwissen zu bestehen. Anlässlich von Forschungen im Jugendkonzentrationslager Uckermark, in dem Mädchen und junge Frauen inhaftiert worden waren, berichten Antkowiak und Meyer (2005, 266), ein Ziel sei es gewesen, die Relation zwischen je eigenen Vorstellungen und den „Kriterien der sog. historischen Objektivität“ zu prüfen (s.a. Theune 2013). Diese Notwendigkeit mag für die Aktivitäten einer „Gedenkstättenarchäologie“ insgesamt gelten, weniger jedoch für Grabungen wie die in Tempelhof, da letztere von äußeren Planungen veranlasst waren und dezidiert auf die allgemeine Feststellung der Existenz eventueller Bodendenkmale sowie auf wissenschaftliche Interessen hin ausgerichtet waren. Hier ist es eher so, dass die Empathie als ein elementarer Aspekt der Wissensgenerierung von Zeit zu Zeit ins Gedächtnis zurück gerufen werden muss, damit keine verdinglichende Grabungsroutine eintritt. Die Umfrage zeigt letztlich, dass das Ziel der praktischen Arbeit sein sollte, die materiellen Reste als gegenständliche, in standardisierter Weise dokumentierbare Tatbestände in einer produktiven Spannung zu halten mit einer der Empathie entspringenden Imagination. Je stärker ein ganzes Team nach einer der beiden Seiten neigt, desto mehr sollte die andere durch die Verantwortlichen betont werden. Kritisches Denken bedeutet nicht die Ausschaltung der Empathie, noch auch des Strebens nach Objektivität. Vielmehr geht es um die Bewusstmachung der gleichzeitigen Existenz und letztlichen Unvereinbarkeit beider im Alltag der Ausgrabungspraxis. Insgesamt scheint mir, dass die archäologische Praxis wohl eher der Gefahr einer Verdinglichung als einem Zuviel an Empathie erliegt. Denn aufgrund des gesamten Ansatzes der modernen Archäologie ist die Alltagsarbeit durchzogen von materiellen Befunden und Dingen, während die Identifizierung von Individuen etwa durch beschriftete Funde auch bei der Erforschung von Orten der Moderne äußerst selten ist. Mithin entsteht bestenfalls eine Empathie mit anonym Bleibenden, wie weiter oben erläutert (s.S. 152–155). Für eine Archäologie der Nazi-Zeit ist die von Welzer, Jureit, Schneider und anderen als so bedrohlich hingestellte Empathie mit den Opfern ein Scheinproblem. Das verächtliche Wort, dass „der Erkenntniswert des einzelnen Falls inzwischen gegen Null“ ginge (Giesecke und Welzer 2012, 20), nimmt sich nicht nur im Zusammenhang mit der Archäologie aus wie eine Absetzbewegung von einem differenzierten Umgang mit der Geschichte. Doch hat gerade die Archäologie das Potenzial, Nuancen und Details der alltäglichen Unterdrückung, Ausgrenzung und Vernichtung auf eine ortsspezifische Art und Weise aufzudecken,

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die uns weitere Fragen aufdrängt und, wie aus anderen Kapiteln dieses Buchs deutlich wird, eine schmerzliche Lücke des Unbeantwortbaren offenbart.

M EDIALISIERUNG DER E RINNERUNG IM F ILM Die Zukunft der Erinnerung wird nicht nur bestimmt von den Reden der PolitikerInnen und Kulturschaffenden, von Gedenkstättenaktivitäten und den Schriften und Praktiken der Wissenschaft. Öffentliche Medien greifen immer stärker in das erinnerungspolitische Feld ein. Eine Diskussion um die „Erinnerungskultur“ wäre daher unvollständig ohne das Eingehen auf die Rolle der Medien. Dieses Arbeitsfeld selbst hat seit kurzem eine solche Komplexität angenommen, dass ich nicht behaupten kann, den Bereich zu überschauen. Meine Kommentare und Beobachtungen haben daher zu einem guten Teil eher fragenden Charakter oder sie sind ausgerichtet auf Themen, die über reine Mittel-Zweck-Beziehungen der Medien im Dienste der Geschichtsdarstellung hinausgehen (Ipsen 2010, 175–176). Ich kommentiere hier zwei Aspekte, Film/Fernsehen und die elektronischen Medien. Dabei geht es mir einerseits um die oft geäußerten Klagen über eine durch Medien hervorgerufene Kritiklosigkeit, die sich auch auf den Erinnerungsdiskurs auswirken muss, und andererseits um das Potenzial der Medien, eine kritische Einstellung gerade zu fördern. Fangen wir diese Überlegungen mit einem Zitat Günter Anders’ zu einem Werk Arnold Schönbergs an, verbreitet durch ein veraltetes Medium: „Im Radio: ‚Ein Überlebender aus Warschau‘. Da konnte man lernen, was man nicht darf: nämlich das Unsägliche und unsingbar Grauenhafte in ein Konzertstück verwandeln. [...] Plaziert war die Aufführung zwischen Pollinis G-Dur Konzert und dem Feuervogel. Und wurde wie diese einhellig applaudiert. Niemals habe ich einen schändlicheren Applaus gehört: er war ein Wiedergutmachungsapplaus. Die Söhne der Mörder beklatschen die Leichen der von ihren Eltern Ermordeten. – ‚Kulturleben‘ nennt man so etwas.“ (Anders 1982, 69)

Der kurze Tagebucheintrag verdeutlicht, dass die Medienanalyse nicht bei Reflexionen über die jeweilige Form und Technik der Übermittlung von Informationen und Kunst stehen bleiben darf, sondern immer die spezifischen Reaktionen eines Publikums zentral einbeziehen muss, das in Tagen des Internet sowieso stark an der Produktion des Konsumierten beteiligt ist. Filme spielen in den Debatten um die Erinnerung an den Nationalsozialismus eine bedeutende Rolle, denn Doku-Fiktionen wie Holocaust oder Schind-

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lers Liste hatten einen weitaus größeren Einfluss auf die Bereitschaft, sich mit der Nazi-Zeit kritisch auseinanderzusetzen als alle Gedenkstätten-Arbeit, auch wenn sie von etlichen Überlebenden als verflachend eingestuft wurden. Die Geschichte der filmischen Auseinandersetzung mit Nazi-Massenmorden fängt aber schon vor Kriegsende mit einem Film zum Zeitpunkt der Befreiung von Majdanek durch die Rote Armee an und führt zum Film Die Todesmühlen, einem Zusammenschnitt von U.S.-Dokumentaraufnahmen aus Konzentrationslagern zum Zeitpunkt ihrer Befreiung (Eberle 2009, 178). Inhaltlich und ästhetisch von größerem Einfluss war aber Alain Resnais’ Nuit et brouillard von 1955 („Nacht und Nebel“; s. van der Knaap 2008), auch wegen der Einflussnahme der Bundesregierung im Jahr 1956, die die Teilnahme des Films beim Wettbewerb in Cannes verhinderte. Die Video-Aufnahmen von ZeitzeugInnen, wie sie seit den 1980er Jahren im Fortunoff-, Yad Vashem- und Spielberg-Archiv gesammelt werden, sind ein weiterer Anstoß, sich mit dem Medium Film in der Erinnerung an den Holocaust zu beschäftigen. In Ausstellungen werden solche Interviews oft zur Herstellung einer Atmosphäre der Glaubhaftigkeit und Authentizität verwendet. Wie jedoch de Jong (2010, 254) verdeutlicht, werden dadurch menschliche Schicksale rasch zum Aufmerksamkeit erheischenden, dennoch aber entsubjektivierten „bewegten Objekt.“ Das gilt besonders dann, wenn diese Interviews gekürzt werden, was nichts anderes bedeutet, als jemandem das Wort abzuschneiden, um konzise, von den KuratorInnen halb den Interviewten in den Mund gelegte Aussagen zu erhalten (Wagner 2013, 65–66). Wie sehr aber die Notwendigkeit besteht, ein allgemeines kritisches Bewusstsein den Medien gegenüber zu betonen, zeigt die Untersuchung von Rainer Gries über ZeitzeugInnen im Fernsehen. Er bezeichnet die Art, in der an Geschichte angelehnte Filme, meist Dokufiktion, seit etwa der Jahrtausendwende im deutschen Fernsehen gezeigt werden, als „Parahistorie“ (Gries 2012, 55–58), da in diesen Produktionen nicht mehr nur die Vorgänge rezenter Vergangenheit, sondern auch Aussagen von ZeitzeugInnen, die diese Vergangenheit als wahr absichern sollen, von SchauspielerInnen vorgetragen werden. ZeitzeugInnen, die lange ein Indiz für Authentizität und Wahrhaftigkeit gewesen waren, werden nunmehr selbst fiktionalisiert. Das geht so weit, dass eine tatsächliche Zeitzeugin in einer Talkshow von der Person, die sie gespielt hat, an die Wand geredet wird (Gries 2012, 49–51). Film als Medium spielt auch in der Archäologie eine zunehmende Rolle und wird an „Orten des Traumas“ eingesetzt. Zentrales Thema solcher Filme ist in der Regel die archäologische Praxis des Freilegens. So fertigte das VISTA Visualisierungsstudio in den zwei Jahren Ausgrabung auf dem Tempelhofer Feld einen fast 15-minütigen Dokumentarfilm über die Arbeiten an, der auch im

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Internet abrufbar ist (Boeckh 2014). Hierin wird der gesamte Prozess von Planung über Baggerarbeiten und langsames Freikratzen von Flächen bis zur tachymetrischen Aufnahme, dem Profilzeichnen und der Fundbearbeitung gezeigt. Die Thematik des Ausgrabens von Kontexten eines Zwangsarbeitslagers und eines ehemaligen Konzentrationslagers spielt durchaus eine wichtige, dennoch aber keine fundierende Rolle: man hätte einen solchen Film in ähnlicher Weise auch über die Ausgrabung einer frühmittelalterlichen Siedlung oder ein römerzeitliches Kastell herstellen können. Auf jeden Fall zeichnet sich der Film durch eine temporale Ehrlichkeit aus. Alle Einstellungen sind Echtzeit-Aufnahmen vom Grabungsalltag. Fernseh-Crews, die uns in Tempelhof ebenfalls aufsuchten, ließen diese Geduld der Verfolgung realer zeitlicher Vorgänge vermissen. Es wurde allzu offensichtlich, dass für TV-Kurzfilme nicht die tatsächliche archäologische Arbeit von Bedeutung ist, die langwierig und unspektakulär ist. Vielmehr gilt ihr Interesse dem, was als prototypisch-archäologisches Ereignis imaginiert wird: der Entdeckungsmoment nach einem Drama des Suchens, Aufdeckens und der Identifikation; zu beobachten etwa in dem ZDF-Film Böse Bauten (Papadopoulos et al. 2015). Nun sind Entdeckungen eines spektakulären Fundes oder einer erhellenden Befundlage in der Archäologie äußerst selten. Mehrfach machten wir die Erfahrung, dass TV-Teams es für eine solche Szene in Kauf nahmen, dass ein Objekt vergraben und wie zufällig (wieder-)gefunden wurde, dass also ein komplett fingierter Vorgang als tatsächliche Entdeckung ausgegeben wurde. Dies ist kein Dokumentarfilmen, sondern nur dessen Vortäuschung. Andere archäologische Filme mit NS-Themen, etwa eine Video-Dokumentation über die Grabungen von Caroline Sturdy Colls in Treblinka (Furneaux 2014), sind für Personen mit Grabungserfahrung leicht ebenfalls als gestellte „Dokumentationen“ identifizierbar. Gibt es andere, geeignetere Ansätze, Archäologie und Dokumentarfilm miteinander zu verbinden, ohne deren unterschiedlichen Temporalitäten zu verbergen, mithin ausdauernde, weitgehend ereignislose Grabungsroutine auf der einen Seite und Szenen, die ein Entdeckernarrativ treiben auf der anderen? Ich verlasse im Folgenden kurz den Rahmen einer Archäologie der Nazi-Zeit, um auf drei ungewöhnliche iranische Beispiele einzugehen, die meines Erachtens das große Potenzial des archäologischen Dokumentarfilms zeigen. Auf hintergründiggeschickte Weise wird etwa das temporale Spannungsverhältnis der langwierigen Grabungsarbeit ohne filmisch interessante Ergebnisse in einem Dokumentarfilm von Parviz Kimiavi mit dem Titel Tappehhaye Qeytariyeh (1969) einbezogen. Insgesamt entschleiert der Film den vermeintlich objektiv-wissenschaftlichen Ansatz der Erkenntnisgewinnung durch die Ausgräber eines Friedhofs im Teheraner Stadtteil Qeytarieh als Betrug. Die Darstellung nutzt eine unübliche

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Form des Dokumentarfilms und legt die Filmerei als gestellte Szenerie schon bei Filmbeginn für die ZuschauerInnen offen. Man sieht in Reih und Glied aufgestellte Schubkarren, und eine militärisch wirkende Gruppe von Ausgräbern begibt sich auf eine Trillerpfeife hin im Gleichschritt an die Arbeit. Diese ersten Einstellungen zeigen Archäologie als einen militarisierten Kampf gegen die Vergangenheit. Damit wird eine Darstellung wissenschaftlicher Realität, eigentlich ja ein Hauptziel von archäologischen Dokumentarfilmen, von vorne herein durch Ironisierung ausgeschlossen. Kimiavi verschafft sich hierdurch den Freiraum, nicht sklavisch den Ansichten der Wissenschaft zu folgen. Er zeigt nämlich Töpfe, die zunächst von gierig Suchenden in Gräbern freigelegt werden. Diese Objekte treffen sich in einem Grabungszelt wieder und fangen an, untereinander zu sprechen. Sie beklagen gegenseitig ihre nunmehr besiegelte Gefangenschaft. Wiederum ist der Tenor deutlich: Ausgrabung ist ein Raubzug, der Gegenständen ihre letzten Freiheiten entwendet. Sie werden dokumentiert, rekonstruiert, repräsentiert, eingesperrt. ArchäologInnen, so die Grundaussage hier, vergehen sich an dem, was sie ausgraben, erbeuten und töten es. Dabei wird Gegenständen eine Lebensgeschichte, eine Sequenz von wechselnden Kontexten, ja ein Handlungspotential zuerkannt, wie dies auch in der „Materiality“Diskussion der Archäologie der Fall ist. Archäologie ist ein Krieg der Gegenwart mit der Vergangenheit, könnte die zentrale Aussage des Films lauten. In der unhinterfragt „ent-deckenden“ Bloßstellung der Vergangenheit vergehen wir uns rücksichtslos gegen ein potenziell vorhandenes Recht auf Intransparenz derer, deren Spuren wir offenlegen. Dieses Recht wird heutzutage nur in Datenschutz-Diskursen reflektiert, sollte aber ebenso bei Aktivitäten in Betracht gezogen werden, die Vergangenheit erforschen, wie auch von studentischen Mitarbeitenden in Tempelhof schon als bedenkenswert erwähnt worden. Zurückhaltung wird – schärfer formuliert – von Neil A. Silberman auch für Treblinka und die Ausgrabungen dort angemahnt: der hier schon erwähnte Film der Smithsonian Institution über die Ausgräberin Caroline Sturdy Colls sei „ghastly, voyeuristic entertainment“, das zudem die Holocaustleugner auf den Plan rufe. Im musealen Bereich lassen sich ähnlich entrüstete Kommentare zur voyeuristischen Dimension mancher filmischer Inszenierungen finden. So schrieb Philip Gourevitch über einen Teil der Ausstellung des gerade eröffneten United States Holocaust Memorial Museum: „Peepshow format. Snuff films. Naked women led to execution. People are being shot. Into the ditch, shot, spasms, collapse, dirt thrown over. Crowds of naked people. Naked peope standing about to be killed, naked people lying down dead. [...] Street beating. The gun, the smoke, the figure crumbles. Naked corpses. Naked women dragged to death.

404 | M ATERIELLE S PUREN DES NATIONALSOZIALISTISCHEN T ERRORS Shooting. Screaming. Blackout. The film begins again“ (Gourevitch 1993, zitiert in Cole 1999, 156).

Wenn Ausgraben eine unautorisierte Aneignung des Lebenslaufs der Dinge samt dahinterstehender Personen ist, so hat diese Tätigkeit also eine direkte Parallele im Film, und besonders im Dokumentarfilm. ArchäologInnen benutzen Schaufel, Hacke, Papier und andere Arbeitsmittel so, wie FilmemacherInnen Kameras verwenden: als Waffe im ungleichen Kampf mit einem machtlosen Gegenüber, das vielleicht lieber vergessen bleiben wollte. Genauso wie die Ausgrabenden gewalttätig gegen das im Boden Verdeckte einschließlich potenzieller Überreste menschlicher Körper vorgehen, ist Ablichten von Menschen ein Überwältigungsakt, nach Susan Sontag „soft murder“ (1977, 15). Georg Stefan Troller (zitiert in Schadt 2002, 52) nennt die DokumentaristInnen Menschenfresser. Der Mensch verkommt ihnen zum aneignenswerten Motiv. Aus Leben wird ein visuell interessantes totes Gebilde. Der respektlose Prozess einer solchen Aneignung zerstört gleichzeitig jedes potentielle persönliche Verhältnis zwischen zwei Menschen durch Dazwischenschaltung des technologischen Mediums Kamera. Ebenso zerstört die archäologische Inbesitznahme von Altertümern von vorne herein jede Möglichkeit, ein ungezwungenes Verhältnis zu diesen zu entwickeln - etwa im Sinne, dass man sie verschenkt, zwecks Nutzung repariert, verschönert. Auch hier herrscht eine an Gewalt grenzende Respektlosigkeit. Der archäologische Film ist dann auf zweierlei Weise ein Gewaltakt. Sein Inhalt ist ein Diebstahl, nämlich die bildlich eingefangenen, zu Filmobjekten verkommenden ArchäologInnen; diese wiederum werden dabei gezeigt, wie sie die Vergangenheit an sich reißen, ohne sich um deren Eigenleben zu kümmern. Für die meisten DokumentaristInnen scheint allerdings die leblose Welt der archäologischen Dinge wenig Relevanz zu haben, so dass bei archäologischen Filmen die Tendenz natürlich ist, sich den mit dieser Welt verbundenen Menschen, den ArchäologInnen zuzuwenden. Wer sich auf diesen Aspekt des archäologischen „Vergangenheitsraubs“ konzentriert, macht aus den Menschen, den Notwendigkeiten der Profession folgend, Motive, die „glaubwürdig“ zur Sprache kommen müssen – wobei Ungekünsteltheit die Hauptrolle für Dokumentarfilme spielen soll (Schadt 2002, 44–49). Dennoch: wie auch immer die Kamera-Anwesenheit zu überspielen versucht wird, können weder die DokumentaristInnen aus ihrer instrumentellen Haltung herauskommen, deren Ziel es ist, einen Film zu machen, noch wird den AkteurInnen die Möglichkeit gegeben, „authentisch“ zu sein, denn das Kameraauge verwandelt Handlungssubjekte notgedrungen in Rollen Spielende. Die ArchäologInnen, Leute, die sich die Vergangenheit als Objekt gesucht haben, über das sie sich hermachen, werden nun-

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mehr selbst verdinglicht, denn sie sind für die DokumentaristInnen nichts als mehr oder minder qualitätvolles Filmmaterial. Auf Archäologie im Fernsehen übertragen, bedeutet dies eine gnadenlose Wirtschaftlichkeitsrationalität, die sich im Stolz auf hohe Einschaltquoten als „Qualitätsmerkmal“ niederschlägt (s. Taylor 2007, 190–192). Archäologische Dokumentarfilme sind zudem in doppelter Weise zeitliche Relationen. Filminhalte stellen in der Regel ArchäologInnen bei der Arbeit dar, beinhalten also ein temporales Verhältnis Vergangenheit – (gefilmte) Gegenwart. Worauf es hier ankommt, ist die Gewichtung dieser Zeiten. Wie im oben erwähnten Film über Tempelhof des VISTA-Studios wird besonders im archäologischen Serienfilm für das Fernsehen, etwa in Gisela Graichens Filmen für die Serie „Terra X“, der Schwerpunkt auf die Gegenwart gelegt, und die Vergangenheit existiert nur als lebloses Material, dessen Ertrotzung aus den Fängen der Erde als Macht des modernen Menschen über die Natur gefeiert wird. Immerhin kann, wie Kimiavis Film über Qeytarieh zeigt, das Medium Dokumentarfilm dazu dienen, sich selbst in Frage zu stellen. Kann der Dokumentarfilm, statt sich auf ausgrabende Personen zu stürzen, auch die Vergangenheit selbst in ihrer einstigen Lebendigkeit zum Thema haben? Dies ist ein sehr viel schwierigeres Unterfangen. Der meistgewählte Weg des Einbezugs der Vergangenheit, auch in den Grabungs-Dokumentarfilmen über Tempelhof beschritten, ist derjenige, die ArchäologInnen selbst ihre Interpretationen vortragen zu lassen. Damit bleibt die Vergangenheit ein beobachtetes Objekt, dessen filmische Belebung letztlich allein in Gesten, Gesichtszügen und Worten der WissenschaftlerInnen besteht. Wo sind die Leidenden und die Handelnden eines Gestern? Im Falle der NS-Zeit gibt es die Möglichkeit, Szenen aus nationalsozialistischen „Dokumentarfilmen“ selbst einzusetzen; so verfährt der o.g. Film Böse Bauten. Dass diese Szenen reine Propaganda sind, muss in derartigen Kurzzitaten als Wissen vorausgesetzt werden. Der Film der Smithsonian Institution über Treblinka benutzt 3D-Rekonstruktionen, um die räumlichen Verhältnisse aufzuzeigen. In der Regel bleibt die Darstellung menschlicher Schicksale im archäologischen Dokumentarfilm unterentwickelt. Wie ich in anderen Zusammenhängen dieses Werks klarzumachen versuche, ist ein wirklich gesichertes Wissen über Lebensvorgänge auch nur ganz selten mit archäologischen Mitteln erreichbar. Die filmischen Werke zielen eher auf das, was ich als Bürgschaftscharakter der Dinge bezeichnet habe (Kapitel 3), weniger auf mit ihnen assoziierte vergangene Lebenszusammenhänge. Ein wichtiger Grund liegt in der Darstellung der filmischen Gegenwart. Denn in solchen Werken wird der Schwerpunkt entweder auf schon erarbeitetes Wissen gelegt oder auf ein Nichtwissen, welches zielsicher durch Entdeckungen verkleinert und beherrscht wird. Die Offenheit des Nichtwissens, eine Ratlosigkeit, die zeitlich vor der Möglich-

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keit einer epistemisch beruhigenden „Ansprache“ liegt, ist filmisch unattraktiv. Wir hören vielleicht in solchen Filmen Fragen nach der Herkunft von bestimmten Funden, nach dem vollständigen Plan eines fragmentarisch erfassten Bauwerks oder nach der Bedeutung eines beschrifteten Objekts. „Entdecken“ wird im Film ein gezielter Vorgang mit voraussehbar positivem Erkenntnisende, eine Karikatur der praktischen Realität mit ihren zahlreichen epistemischen Sackgassen. Ein anderes Vorgehen ist möglich, und ich verdeutliche das Potenzial hierzu wiederum an einem iranischen Dokumentarfilm zur Archäologie. Asheghi von Parvaneh Masoumi zeigt einen Grabungswächter, einen alten Sonderling, der uns als ZuschauerInnen auf einem langen Gang durch die Ruinenstadt Takht-e Soleiman seine imaginierten Erlebnisse mit der Vergangenheit erzählt. Denn die Kamera kann nicht sehen, was der Grabungswächter sieht. Er führt durch zerborstene Mauern, ist aber in seinem Narrativ in Gegenwart Jahrhunderte alter Könige und ihres Trosses, er beschreibt antike Rituale, als ob sie gerade abliefen und sieht geschmückte Pferde, wo die Kamera nur ein Trümmerfeld unter blauem Himmel aufzeichnen kann. Der Film selbst führt also keine pseudoantiken, täuschenden Figuren in anachronistischem Gewand auf, es werden keine gestellten „ZeitzeugInnen“ bemüht, keine Attrappe ruiniert das, was unwiederbringlich Ruine ist. Die Vergangenheit ersteht nicht in einem „lückenlosen Gefüge der Verdoppelung der Realität“, welches nach Adornos Vorurteil (1980, 186) in jedem Film die Wahrheit in filmische Lüge verwandelt. In ingeniöser Weise überschreitet dieser Film die Grenzen der Kamera. Mehrere Perspektiven werden ineinander verschränkt: die abgelichteten archäologischen Reste als Objekte mit Zeugnischarakter; der erzählende Grabungswächter als modernes Lebewesen in der toten Stadt, ebenfalls visuell erfahrbar; und seine zwanglos geschichtliche Zeiten überspringende Erzählung, die die Mauerreste vervollständigt – in diesem Falle zu glanzvollen Bauten; gleichzeitig grenzt sein Diskurs den alten Mann aus unserer Gegenwart aus und versetzt ihn mitten in die Vergangenheit. Die Sprache ist das Hauptelement dieses Films, nicht die Bilder. Diese Bild-Ökonomie baut auf einem Prinzip auf, das sich von Lessings „Laokoon“ (1766) bis zu Lacan, Debord und Derrida zieht: auf dem Vorzug des Wortes gegenüber dem Bild (s. Jay 1993). Dies steht in scharfem Gegensatz zur postmodernen Allgegenwart der Bilder, bewegt oder im Stillstand. Heute hat die mit dem Visuellen verbundene Imagination die Schrift soweit überholt, dass das „lesende Erleben“ der Vergangenheit angehört. Asheghi zeigt auf, dass das erzählte Epos, dass Oralität durch den Film und andere Medien, die bewegte Bilder einsetzen, wieder stärker als zu Zeiten der Schriftdominanz in den Vordergrund rücken kann. Für Orte der Nazi-Zeit ist allerdings ein Caveat angebracht.

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Denn der frei imaginierende Erzählfluss kann nur dann als Grundlage für einen Dokumentarfilm dienen, wenn die Fiktionalität eines solchen Narrativs in einen historisch abgesicherten Rahmen gesetzt wird, und wenn faktische und fiktionale Szenen klar erkennbar voneinander getrennt sind. Das liegt an der Erwartungshaltung des Publikums, Wahrheiten vorgeführt zu bekommen, eine Haltung, deren (Ent-)Täuschung sich der wissenschaftliche Diskurs insgesamt nur unter der Gefahr der Delegitimierung leisten kann (Piccini 2007, 226–231; Pollock 2015, 280–281). Die Form des Films als Darstellungsmedium ist nicht nur aufgrund der Bildinhalte relevant für Geschichte, und insbesondere die der Moderne. Denn die bewegten Bilder haben selbst eine starke Auswirkung auf unsere kollektive Zeitwahrnehmung, die wiederum auf die „Medienzeit“ rückstrahlt (Großklaus 2004, 163–168). Die lineare Zeit der Narration mag immer noch viele Kinofilme dominieren, jedoch kann das Medium selbst die Auflösung dieser Zeitlichkeit und damit eine über die traditionellen historischen Inhalte hinausgehende formale Problematik der Geschichtlichkeit thematisieren. Deleuze unterscheidet in seinen Schriften zur Filmgeschichte traditionellere Bewegungsbilder und ZeitBilder, wobei Letztere die Zeit selbst zum Inhalt haben, markiert in einer Form, die er „Zeitkristall“ nennt (Deleuze 1996b, 95–131). In diesen filmisch konzipierbaren „Kristallen“ tritt die real vergehende und die virtuell erinnerte Zeit in einer neuen, nicht mehr diachron gestalteten Form auf – sie wird räumlich. Dies trifft auf einen weiteren iranischen Dokumentarfilm zu, der durch seinen experimentellen Charakter hervorsticht und das Potenzial des Mediums Film für die Archäologie nochmals von ganz anderer Seite verdeutlicht. In Jaam-e Hasanlou (1960) wird ein einziger archäologischer Fund gezeigt, ein Goldbecher, der 1958 in Hasanlu im Westiran gefunden worden war. Mohammad Reza Aslani löst in seinem Film über diesen Becher lineare Zeit auf. Nicht nur das, er verwendet die Nahaufnahme zweier alternierender Bilder, ein nackter Körper eines Mannes und das Goldgefäß von Hasanlu. Dadurch schafft Aslani den Raum als Element der Wahrnehmungsorientierung ab. Die Haut eines nackten Körpers und das Goldgefäß sind radikal dekontextualisiert und nehmen für Zuschauende eine äquivalente Position ein: bildfüllend und jeweils von so knapper Entfernung aufgenommen, kann das Auge ihnen nicht entkommen, sie aber auch nicht ganz fassen, da die Kameralinse sich weigert, das ganze Subjekt/Objekt zu zeigen. „Die Großaufnahme ist keine Vergrößerung, auch wenn sie eine Größenveränderung impliziert; sie ist eine absolute Veränderung“, schreibt Deleuze zu diesem Effekt (Deleuze 1996a, 134). Der Film verdeutlicht ein Paradox der Nähe zum Gegenstand ohne Verstehen desselben, was das archäologische Verhältnis zur Geschichte recht gut fasst.

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Mit einfachen Mitteln produziert dieser Film einen bemerkenswerten Publikumseffekt: die Goldschale von Hasanlu vergisst man nicht so schnell. Sie wird in unsäglicher Eindringlichkeit buchstäblich „vor Augen geführt.“ Die Nahaufnahmen machen das gesamte Bild zum Lacan’schen „Fleck“, zu dem, was das visuell beobachtende „Ich“ beherrscht durch einen Blick aus der Welt des Anderen heraus, vom Bildschirm nämlich (McGowan 2003, 29). Die Großaufnahme produziert diesen Effekt, der beängstigend wirkt, gesteigert durch die Alternierung der Schale mit einem menschlichen Körper. Peter Weibel (2004, 220– 222) beschreibt den Umbruch, der mit der Entstehung der mobilen Bildflut einhergeht, als Ortlosigkeit des Bildes, als den Wechsel von seiner Nah- zur Fernwirkung. Nirgends ist die Loslösung der Bilder von einer singulären Räumlichkeit besser exemplifiziert als im Film, und Jaam-e Hasanlou ist ein Versuch, diesen filminhärenten Blick mit filmischen Mitteln selbst zu untergraben. Der raumlose Zuschauerblick, erpicht auf Übersicht, wird unbarmherzig der unentrinnbaren räumlichen Nähe des Repräsentierten unterworfen. Wenn Aura eine „einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie uns sein mag“, ist (Benjamin 1974a), dann versetzt Aslanis Film uns ins Gegenteil, eine dauerhafte Nähe, so fern diese auch scheinen mag. Das Sichtbarmachen kleiner Unebenheiten menschlicher Haut wird dabei gleichgesetzt mit den Ziselierungen des archäologischen Objekts. Jaam-e Hasanlou verwirft zudem alle Ansprüche auf historische Exaktheit, der Film zersetzt die lineare Zeit, indem er die Sinnlosigkeit der Unterscheidung „vergangen-gegenwärtig“ drastisch vor Augen führt. Auf der Schale sehen wir einen zweirädrigen Streitwagen und andere Szenen, doch Aslani lenkt unsere Aufmerksamkeit besonders auf eine Figur, die zwischen zwei Männern offensichtlich von diesen malträtiert wird. Entsprechend Aslanis Prinzipien muss das Publikum, um die Bildfolge zu verstehen, mit den Ohren sehen. Denn die Nahaufnahmen sind unterlegt mit Worten über das Martyrium des Sufi Mansur alHallaj aus dem Jahre 922, einer Rede Hitlers, spätmittelalterlicher Musik und Einstreuungen über Jesus. Was hier thematisiert wird, ist Geschichte insgesamt als Leidensgeschichte. Die dazwischengeschalteten menschlichen Hautpartien erlauben nur eine Deutung: die Geschichte menschlicher Gesellschaften ist Tortur, und diese ist eingeschrieben schon in die körperliche äußere „Schale“ des Menschen, wie golden auch immer sie glitzern mag. Es geht also hier nicht um einen Film, der vergangenes Geschehen wiederzugeben vermeint, wie dies etwa in Schindlers Liste der Fall ist. Noch auch handelt es sich um ein Narrativ des Entdeckens archäologisch manifestierter Geschichte, die in Flashbacks oder mit ähnliche Mitteln in die archäologische Arbeit integriert wird. Als Publikum des Films findet man sich im Zentrum eines Traumas, das in seinen realen Zügen

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aber unsichtbar und unmitteilbar bleibt, das letztlich nur als Allusion und Assoziation in Musik und Zitat erfahrbar wird.

V ERGANGENHEIT UND E RINNERUNG IM ELEKTRONISCHEN Z EITALTER „Das kollektive Gedächtnis ist immer ein mediales Gedächtnis“, behauptet Götz Großklaus (2004, 148). Das Internet und die digitale Welt haben neben traditionellen Medien, zu welchen man auch den Film zählen kann, Potenziale und Grenzen des Erinnerns, die in ihren vollen Auswirkungen noch unerschlossen sind. Man muss sich nur die Kommentare von Intellektuellen zu diesem Phänomen betrachten, um die Bandbreite der Einschätzungen zu erfassen: absolut enthusiastisch äußern sich die einen (z.B. Serres 2013), grundsätzlich pessimistisch die anderen (z.B. Han 2013, 2014). Sicherlich aber lassen sich Linien ziehen zwischen Hans etwas flacher Fundamentalkritik und einem kurzen aber extrem einflussreichen Text Deleuzes, seinem „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“ (Deleuze 1993, 254–262). Deleuze analysiert einen historischen Umbruch von einer auf Disziplin aufbauenden Gesellschaft hin zu einer neuen Machtkonstellation. Heute werden die Individuen nicht mehr prinzipiell durch die Institutionen wie Schule, Krankenhaus, Universität oder Gefängnis zugerichtet, sondern erfolgreich durch eine sich allmählich aus der Sichtbarkeit zurückziehende politische Macht angehalten, sich selbst zu kontrollieren. Die uneingeschränkte Datensammelei der U.S.-amerikanischen NSA ist dabei nur ein rezent aufgedeckter staatlicher Aspekt des neuen Gesellschaftszustands. Längst haben Unternehmen diese staatlichen Stellen überholt. Die Kette der Umwandlung der Individuen in KonsumentInnen durch auf die Person gezielt ausgerichtete Werbung und die Nutzung der elektronischen Daten des Kaufs zu ihrer weiteren Lenkung wird weitgehend von den Betroffenen hingenommen, da der Widerstand hiergegen eine fast nicht zu leistende Alltagsaufmerksamkeit dem Konsumieren gegenüber erfordern würde. Zudem wird Konsum allgemein nicht als bedrohlich angesehen: er ist ja vorgeblich unpolitisch und besteht aus einer Kette von Internet-Suche – dokumentiertem Website-Ansehen – Interesse zeigen – potenziellem Kauf – mehr personengerechter Werbung. Nicht mehr die Produktion von Begehren per Werbung für den gesteigerten Absatz ist Ziel der InternetMechanismen, sondern das Überwachen der Konsumierenden zur gezielten automatischen Kaufverleitung. „The marketing of goods becomes more and more a DIY [do-it-yourself, R.B.] job, and the resulting servitude becomes more and more voluntary“ (Bauman und Lyon 2013, 125). Der Effekt ist „scheinbare

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Freiheit bei vollständig kontrollierter Bewegung. Das Kontrollregime beruht nicht mehr auf Einschließung und Stillstellung, sondern auf Beweglichkeit und Mobilisierung“ (Kammerer 2008, 132). Aber steht dem nicht als Positivum die „Demokratie des Wissens“ gegenüber (Serres 2013, 56)? Ein großer Teil dessen, was früher in wenigen Zeitschriften in Fachbibliotheken an wissenschaftlichen Diskursen erreichbar war, kann heute leicht aus dem Internet heruntergeladen werden. Dennoch ist die Hoffnung auf eine „Wissensgesellschaft“ und die Behauptung zunehmender „Kompetenz“ durch im Internet auffindbares Wissen eine verfehlte, idealistische Annahme – ebenso wie die gegenteilige elitäre Ansicht, Information sei „kumulativ und additiv, während die Wahrheit exklusiv und selektiv“ sei (Han 2013, 56). Serres verwechselt Information mit Wissen, Han gleicht Wissen an den Anspruch zur Wahrheit an. Eine mittlere und weniger apodiktische Position nimmt der digitale Insider Geert Lovink ein, wenn er weithin fehlende Urteilsfähigkeit gegenüber den Inhalten als auch den Mechanismen des Internets konstatiert, und damit auch einen Mangel an kritischem Denken, dem aber abgeholfen werden könne (Lovink 2012, 92). Was sind die Auswirkungen dieser allgemeinen sozialen Konstellation auf die Möglichkeiten, mit digitalen Mitteln an die Nazi-Vergangenheit zu erinnern? Einerseits entsteht heutzutage gerade aufgrund der zunehmenden Virtualisierung der Lebenswelt eine neue Faszination mit dem Konkret-Materiellen einer analogen Welt. Ob diese Faszination, die sich im Interesse an Museumsaustellungen zeigt, zu tiefergründigen Auseinandersetzungen mit der Materialität des Vergangenen führt, muss derzeit unbestimmt bleiben. Mischformen von Materiellem und Digitalem entwickeln sich rapide, und die online zur Verfügung stehenden Interviews mit Überlebenden und ehemaligen ZwangsarbeiterInnen eignen sich besonders als pädagogische Mittel (s. A. Assmann und Brauer 2011, 97–101; Apostolopoulos und Pagenstecher 2013). Solche digitalen Medien sind auch im Gedenkstättenbereich und an archäologischen Orten nutzbar. Huhtasaari und Müller (2015) nennen mehrere Vorteile des Einsatzes von Apps oder ähnlicher Mittel: das Navigieren und Orientieren an unübersichtlichen oder weitläufigen Orten, die potenziell große Menge an Zusatzinformation, die einfach zur Verfügung gestellt werden kann, und die geringen Unterhaltskosten, wenn ein System einmal aufgebaut ist. „Was heißt eigentlich digitales historisches Lernen?“, fragen die AutorInnen aber am Schluss ihrer Überlegungen und beantworten diese Frage nicht, sondern hegen sie ein, indem sie Spielerisches wie etwa Quizfragen und Gewinnspiele als zwar motivierend für Jugendliche, aber nicht zu Empathie führend beschreiben.

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Die Grabungen auf dem Tempelhofer Feld waren nun ebenfalls Ziel eines solchen digital-spielerischen Herangehens an die Geschichte. Der Verein past [at] present erarbeitete ein Geocaching, welches sich um die in der Ausgrabung aufgedeckten Orte dreht, die nach den Arbeiten aus Erhaltungsgründen wieder zugeschüttet wurden und daher nicht mehr sinnlich erfahrbar sind. Geocaching als eine GPS-basierte Suche nach versteckten Objekten kann Wissen um Geschehnisse etwa auf dem Tempelhofer Feld spielerisch erfahrbar machen, zumal es sich um eine Multi Cache-Version handelt, bei der mehrere Ziele angelaufen werden müssen, bevor man zum „Final“ gelangt. Die Struktur des Suchens wird bei solchen Projekten genutzt, Jugendlichen die Bedeutung historischer Orte, wie eben der Zwangsarbeitslager des Tempelhofer Feldes auf spielerische Weise nahe zu bringen (Wolrab und Hühne 2014). An diesem Projekt ist einerseits bemerkenswert, dass Suchen, nicht aber Finden die Aktivitäten dominiert, ein Verhältnis zweier grundsätzlicher Praktiken, welches auch für die Tätigkeiten am Bildschirm selbst zutrifft. Damit aber übt das Geocaching als reale Handlung formal in die Bildschirm-Mentalität des permanenten virtuellen Suchens mit ein, und damit in einen Zustand, der das Verweilen bei Suchergebnissen geringer bewertet als die Suche selbst. Aber „ist Suchen wirklich wichtiger als Finden? Warum ist die Durchsuchbarkeit solch ein zentrales Organisationsprinzip geworden?“ (Lovink 2012, 171–172). Wo im Suchen-Finden-Prozess ist der Erwerb historischen Wissens angesiedelt, und wie wird er von den am Geocaching Partizipierenden eingestuft? Aufgrund der Neuigkeit dieser Art spielerischen Lernens fehlen Evaluationen. Mir scheint es etwas bedenklich, die Leiden der Geschichte zu einem Mittel für den homo ludens werden zu lassen, noch dazu, wenn das versteckte Ziel des Versteckspiels eben dieses Lernen historischer Hintergründe ist. Weitaus problematischer sind aber die seit 2015 möglichen ludischen Erlebnisse in einer „erweiterten Realität.“ Während ich dieses Buch schreibe, erscheinen mit „Pokémon Go“ virtuelle, in die physische Realität eingepasste Taschenmonster, denen Spielende nachjagen – nicht nur in Parks und Städten, sondern zunächst auch in Konzentrations- und Vernichtungslagern, Auschwitz inklusive (Fersch 2016). Auch Stolpersteine wurden als „Pokestops“ benutzt. In solchen virtuellen Spielen wird gezielt eine Erinnerungsatmosphäre von Orten zerstört und die Aufmerksamkeit vom Tod auf das Erhaschen kleiner digital produzierter Gratifikationen umgelenkt. Andere Anwendungen digitaler Mittel im Kontext der Erinnerungskultur bestehen darin, an Gedenkorten zahlreiche und komplexe historische Zeugnisse zur Verfügung zu stellen, von Akten über alte Fotos bis hin zu Reden und Film. Für Zwangsarbeit in Berlin existiert eine Webapplikation, die auf die vielseitigen Materialien und das Archiv der Berliner Geschichtswerkstatt zurückgreifen kann

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(Czerwiakowski et al. 2014). Matthias Findeisen (2015) hat für die Ausgrabungen auf dem Tempelhofer Feld den Plan einer Webapplikation erarbeitet, die z.B. bei einem Gang über die Ausgrabungsflächen die im Untergrund vorhandenen Baustrukturen der ehemaligen Zwangsarbeitslager sichtbar machen könnte. Die digitalisierten Grabungspläne sind im Prototyp anklickbar. Die in den jeweiligen Befunden geborgenen Dinge sind mit weiteren Angaben erschließbar und bildlich erfahrbar. Das Ganze kann potenziell in einem Taschenformat auf Mobiltelefonen angesehen werden und berücksichtigt damit ebenfalls die notwendige Mobilität für das benutzende Publikum. Die praktische Umsetzung des Vorschlags steht allerdings noch aus. Ungebremster Enthusiasmus ist angesichts einer allgemeinen Datenschwemme und der Versuchung, möglichst viele Funde erfahrbar zu machen, aber auch hier nicht angebracht. Wie sollen die App-BenutzerInnen mit den vielen digitalen Verästelungen sinnvoll umgehen? Haben wir, welchen Alters auch immer, die entsprechende Medienkompetenz, um uns durch Datenmengen auf einem Handy oder Tablet vor Ort zu wühlen, ohne zu vergessen, wo wir uns körperlich befinden? Wie entwickelt sich das Verhältnis zwischen den drei Aspekten einer virtuellen Bildschirmwelt, einer physischen Anwesenheit und einer in der realen Umgebung imaginierten Vergangenheit? Verschmelzen heutige Realität und Vergangenheitsvorstellungen, oder nähern sich die virtuelle und die Welt des Nationalsozialismus in einer derartigen Dreiecksbeziehung aneinander an? Was sind die Auswirkungen der immer deutlicher sich abzeichnenden Internet-induzierten „interest-based communities“, die aus immer selektiveren sozio-digitalen Kontakten Gleichgesinnter entstehen? Führt dies zu einer Sprachlosigkeit und gar „Balkanisierung“ der virtuellen, und tendenziell damit auch der realen gesellschaftlichen Zusammenhänge (Simanowski 2008, 225–226)? Und was sind die Konsequenzen für ein historisches und erinnerndes Verständnis für eine grundsätzlich andere Zeit, für Erfahrungen, die über heutige Horizonte weit hinausreichen? Überschätzen wir die Unfähigkeit, sich im digitalen Zeitalter mit der gefahrenvollen Welt ehemaliger Zwangsarbeit und der lebensbedrohlichen Situationen in der Verfolgung auseinanderzusetzen? Was die zur Verfügung stehenden Informationen angeht, so meinen Czerwiakowski et al. (2014), „angesichts der auf nur einige Minuten begrenzten Aufmerksamkeitsspanne mach[e] nur eine strikte Auswahl die zu vermittelnden Inhalte überhaupt rezipierbar.“ Das betrifft nicht nur eine sich mit elektronischen Mitteln erinnernde Öffentlichkeit, denn die Öffnung der Archive durch Digitalisierung und Retro-Digitalisierung bringt auch für die HistorikerInnen eine neue Datenflut mit sich (Haber 2013). Auf der Seite der Geschichtswissenschaft ergibt sich potenziell durch Big Data und das Text Mining eine (Rück-)Wende hin

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zur Quantifizierung und dem Abstrakten (Guldi und Armitage 2015), die sich negativ auf fundamental mit dem Historischen verschränkte Phänomene wie Empathie und das narrative Element der Geschichte auswirken. Der gerade für die Geschichte des 20. Jhs. komplexe Zustand einer starken gegenseitigen Beeinflussung von Erinnerung und historischen Narrativen könnte durch eine Hinwendung zur angeblich objektiven Datenanalyse entkoppelt werden. Historische „Erkenntnisse“ erkalten im Griff von Big Data zur Schnittmenge von algorithmisch zu ermittelnden kleinsten gemeinsame Nennern. Es ist unter diesen Umständen äußerst schwierig, eine Einschätzung über die Zukunft der Erinnerung abzugeben. Diese wird nicht allein von der um sich greifenden Macht der digitalen Medien bestimmt sein, jedoch wird das sich rasch verschiebende Verhältnis der realen „Dinge“ und virtuellen „Undinge“ hierbei eine wichtige Rolle spielen (Flusser 1993, 80–88). Diese zwei Welten sind schon längst ineinander gewachsen, wobei wir aber mit der oben erwähnten erweiterten Spieler-Realität einen neuen Grad der Hybridisierung des Realen und des Virtuellen erleben. Bei allem Wohlwollen der digitalen Welt gegenüber ist im Gedächtnis zu behalten, dass es sich beim derzeitigen Internet großenteils um eine „konzerngesteuerte Online-Realität“ handelt, deren Ziel in der Vermarktung möglichst vieler „Dinge“ und „Undinge“ aufgrund massiver Datenanalyse der Aktivitäten der NutzerInnen besteht (Lovink 2012, 175–176). Am Ende kommen Touristen ist der Titel eines Films, der das komplexe Geflecht zwischen Überlebenden, dem Verwaltungsapparat, den Guides sowie den BesucherInnen der Gedenkstätte Auschwitz darstellt und uns vor Augen führt, wie weit fortgeschritten die Verdinglichung dieses Ortes schon ist (Thalheim 2007). Erinnerung als Ware und Entertainment, als touristisches „Must-See“ ist der Alptraum einer jeden Gedächtniskultur der Nazi-Zeit. Man solle die Cafés und Buchläden in Gedenkstätten abschaffen, um der Disneyfizierung zu entgehen, meint Tim Cole (1999, 110–112). Im Gegensatz zu dieser an einer materiellen Welt orientierten Kritik steht Zygmunt Baumans Warnung vor der postmodernen „Adiaphorisierung“: die Digitalisierung der Realität verschärfe die Trennung einer historisch fundierten Verantwortungsethik von gesellschaftlichen Prozessen, Geschichtserleben eingeschlossen. Am Ende steht auch hier eine Aporie. Denn wäre die Abtrennung der Konzentrationslager, der Gedenkstätten und der Orte ehemaliger Unterdrückung und Zwangsarbeit aus dem heutigen voyeuristischen Beschleunigungsregime samt digitaler Begehrenserzeugung erfolgreich, so verwandelten sie sich in nichts weiter als „Zeitoasen“ (Kaschuba 2004, 247): das ehemalige Nazi-Lager als Fluchtort vor der postindustriellen Realität.

7. Epilog

Archäologie ist nicht allein ein „rückwärts“ blickendes Fach, sondern hat auch eine Gegenwart und Zukunft. Abschließend umreiße ich absehbare und sich weniger deutlich abzeichnende Tendenzen einer Archäologie der Nazi-Zeit. Wird der immer schneller ablaufende gesellschaftliche Wandel den bedrückenden Aspekten zeitgeschichtlicher Archäologie ein Ende bereiten? Oder, im Gegenteil, gewinnt die Neuzeit-Archäologie und damit eine Beschäftigung mit den materiellen Resten der Nazi-Zeit in einer virtuell angereicherten Welt erst recht an Faszination? Wird die zunehmende Mobilität der Weltbevölkerung zur gänzlichen Abschaffung einer Ethik historischer Verantwortung führen? Sind die derzeit zunehmenden Nationalismen und identitären Rhetoriken gar Vorboten eines neuerlichen Zeitalters der sozialen und kulturellen Ausgrenzung?

Z UKÜNFTIGE P RAXIS Absehbar ist zumindest in Deutschland eine mehr oder weniger rasche Zunahme von Ausgrabungen in Lagern, an Produktionsorten und auf Schlachtfeldern der Nazi-Zeit. Im Boden verborgen liegen Grausamkeitsbeweise, die die Öffentlichkeit auf unheimliche Art faszinieren. Wir stoßen in der Regel unbeabsichtigt auf sie, oder sie brechen selbst urplötzlich hervor. In Kapitel 3 hatte ich auf die Ausgrabungen an der Bibliothek meiner eigenen Universität aufmerksam gemacht, die unerwartete Hinweise auf die Geschichte des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie (bzw. seiner Nachfolgerin, der Max-Planck-Gesellschaft) zutage förderten (s.S. 160–174). Noch während der Korrekturlesung für diesen Band erweiterten sich aufgrund neuerlicher Nachgrabungen die Einsichten in diese Befunde erheblich (Pollock und Cyrus 2017). Unter anderem zeigen diese Untersuchungen, dass man noch bis in die 1960er Jahre oder später menschliche Überreste, die bei Bauarbeiten gefunden worden waren, schlicht in einer mit

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Steinen gefüllten Grube am Ort „entsorgen“ konnte. Wie viele derartige Befunde auch heute noch bei Bauarbeiten verstohlen aus dem Weg geschafft werden, bleibt zwar im Dunkeln. Es lässt sich dennoch voraussagen, dass die Aufmerksamkeit und das Interesse der Öffentlichkeit an solchen Funden mittlerweile soweit gewachsen sind, dass ein stillschweigendes Beseitigen mit dem Risiko eines späteren Skandals behaftet ist. Die Gesetzgebung gerade in den „neuen“ Bundesländern und das von der Bundesrepublik ratifizierte „Valetta-Abkommen“ von 1995 behindern zunehmend das heimliche Entfernen von neuzeitlichen archäologischen Zeugnissen (Theune 2012, 164–165). Das Interesse an materiellen Überresten der ehemaligen Zwangsarbeitslager, KZ-Außenlager und anderer derartiger Orte hat auch mit Ausstellungen und anderen öffentlichen Darstellungen von Grabungsergebnissen zugenommen, so dass auch proaktiver Schutz weit mehr als früher gewährleistet sein wird (Klei et al. 2011). Die letzten Prozesse gegen SS-Mitglieder werden derzeit noch geführt. Das Ende der Verfolgung der Täter lässt sich aber absehen. Umso wichtiger wird dann die Rolle der Materialität als Bürgschaft für die Verbrechen der „Volksgemeinschaft“, wobei man natürlich keine Eindeutigkeiten und Beweise für Taten im engeren juristischen Sinne erwarten darf. Ursache-Wirkungsverbindungen sind komplex und in der Regel nur indirekt analysierbar. Eyal Weizman (2014, 27) bezeichnet diese Zusammenhänge als „field causalities“ und schreibt: „They challenge contemporary ways of understanding violence because they demand a shift in explanatory models and structures of causation. [...] The analysis of armed conflict can no longer conform to the model of criminal law, that seeks to trace a direct line between the two limit figures of victim and perpetrator. [...] Establishing field causalities requires the examination of force fields, causal ecologies, that are nonlinear, diffused, simultaneous, and involve multiple agencies and feedback loops. [...] Field causality is a useful frame for describing forms of violence that are not ruptural, but rather slow and continuous, without clear beginnings and ends – those which might be considered to constitute an endless war defined by the permanent clash of multiple forces.“

Eine Archäologie der Nazi-Zeit wird eher in diesem Bürgschaftsmodus arbeiten, als dass sie Tagesereignisse offenlegt und TäterInnen post mortem überführt, auch wenn dies in Ausnahmefällen möglich sein sollte. Dennoch ist auch eine Multiplikation von professionell organisierten, durchgeführten und ausgewerteten Grabungen aus mehreren Gründen problematisch. Einmal ist bislang nicht genügend ausgebildetes Personal vorhanden, welches mit der großen Zahl an Funden interpretatorisch adäquat umgehen könnte. Im Gegenteil, stärkere Selektion einzuliefernder Funde und Kritik am Akkumulie-

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ren von Objekten werden im archäologischen Diskurs oft als Priorität betrachtet (Karl 2016, 61–65; Rieckhoff 2016, 144–147). Diese Ideen stehen den in diesem Buch geäußerten Ansichten diametral entgegen, werden aber vor allem von Seiten der in Grabungsfirmen und Denkmalsämtern Tätigen vorgebracht (s. Bernbeck und Pollock 2013a, 10–11). Die Quantität der Funde kann verringert werden, wenn vor allem nicht-invasive Methoden angewandt werden, etwa Geomagnetik und Bodenradar (GPR), wie von Sturdy Colls (2015, 93–96) propagiert. Auch gegen dieses Verfahren habe ich trotz aller Vorteile für den Denkmalschutz Einwände, denn es gleicht der Konstruktion historischer Narrative aus den Metadaten der Archive, etwa Karteikarten, Buchtiteln und Stichwörtern. Nun wird in Deutschland in der Regel sowieso nur dann ausgegraben, wenn Bauvorhaben einen Ort zu zerstören drohen oder wenn Renovierungsvorhaben und Ausstellungsplanungen in KZ-Gedenkstätten wie Sachsenhausen zu Ausgrabungen führen. Viel seltener, aber angemessener sind die als forschendes Gedenken geplanten Projekte (s. Antkowiak und Meyer 2005; Hirte 1999, 21–22), da sie in die rationale wissenschaftliche Arbeitsweise affektive Komponenten und Empathie bewusst eingliedern. Mehr Projekte werden auch immer stärker die Frage nach der Darstellung von Ergebnissen für die Öffentlichkeit mit sich bringen. Diejenigen Orte sind von besonderem Interesse, welche den Unterschied zwischen Tätern und Opfern ins Zentrum rücken, wobei ein angemessener Umgang nicht einfach ist. Buchenwald, Sachsenhausen, Ravensbrück und die „Topographie des Terrors“ mitten in Berlin zeigen gestalterische Parallelen, die zu einer „GedenkstättenÄsthetik“ zusammenfließen (Faust 2016, 59–60). Diese wird in Zukunft wohl dazu beitragen, unsere heutige Zeit zu charakterisieren – nicht etwa die Zustände, derer wir mit diesen Stätten vielleicht gedenken wollen. „Jede Gestaltung bedingt eine Gestimmtheit des Ortes“, meint Faust (2016, 60). Doch kann man mittlerweile selbst Stimmungen wie ein Getränk oder eine Dienstleistung zum allfälligen Konsum produzieren? Unterliegen Stimmungen nicht vielmehr persönlichen Hintergründen und äußeren Umständen wie Wetter, Temperatur und anderem? Cornelia Siebeck schreibt über einen Besuch in Buchenwald an einem nebligen Novembermorgen, dass gerade „die Unsichtbarkeit des gegenwärtigen Ortes [...] den Raum für historische Imagination [öffnet]“ (Siebeck 2011, 69). Der neugierige Blick reicht nicht mehr aus, vielmehr sind es für Siebeck der behinderte Blick und die durch besondere Umstände stimulierten nicht-visuellen Sinne, die außergewöhnliche Stimmungen hervorrufen und daher zu unerwarteten Erfahrungen führen können. Umgekehrt kann man daraus auch schließen, dass dem Erinnern etwas im Wege steht: die materielle Gestaltung der Gedenkstätten. Denn Stimmungen sind nicht benennbare, emergente, dem Planen und

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Design, ja sogar der Beschreibung entzogene Affekte, wie Frederic Jameson mit Bezug auf Heidegger meint (Jameson et al. 2016, 152). Das Aporetische am Umgang mit den Verbrechensorten der Nazi-Zeit besteht darin, dass ihre Ästhetik zum Zwecke der Aufrechterhaltung von Erinnerung dieselbe zerstört. Der Versuch, die „Gestimmtheit eines Ortes“ herzustellen, ist nicht nur die Folge materieller Vereinheitlichung eines Gedenkstättendesigns, sondern mindestens ebenso sehr das Ergebnis einer angelernten Praxis visuellen Konsums mit entsubjektivierender Konsequenz. „The tourist is interested in everything as a sign of itself, an instance of a typical cultural practice: a Frenchman is an example of a Frenchman. [...] All over the world the unsung armies of semioticians, the tourists, are fanning out in search of the signs of Frenchness, typical Italian behaviour, exemplary Oriental scenes, typical American thruways, traditional English pubs.“ (Culler 1989, 155)

Das bedeutet auch: der jeweilige Einzelfall des Konzentrationslagers wird als Typus desselben betrachtet. Fataler noch: einzelne, etwa in Photographien abgelichtete und besichtigbare KZ-Häftlinge verwandeln sich im Tourismusblick in exemplarische Opfer bar jeden persönlichen Schicksals. Bis zu einem gewissen Grad können Ausstellungen durch den Fokus auf Einzelschicksale solchen Tendenzen entgegenwirken, mit dem hochproblematischen Zusatzeffekt des Verschweigens der Schicksale Anderer. Die durch eine Nazi-Archäologie entstehenden alt-neuen Orte des Terrors müssen sich also auf eine permanente, schwierig umzusetzende Abwehr der Versuchung von Abstraktion und Verallgemeinerung vorbereiten. Das gilt auch für einen Konflikt mit den FunktionalisiererInnen, die die Nazi-Zeit auch zur politischen Legitimation von Krieg und Gewalt heranziehen wollen wie der ehemalige Außenminister Joschka Fischer. Ruth Klüger formuliert das so: „Wir erwarten, dass Ungelöstes gelöst wird, wenn man nur beharrlich festhält an dem, was übrig blieb, dem Ort, den Steinen, der Asche. Nicht die Toten ehren wir mit diesen unschönen, unscheinbaren Resten vergangener Verbrechen, wir sammeln und bewahren sie, weil wir sie irgendwie brauchen.“ (Klüger 1992, 70, Hervorhebung im Orig.)

Derartige Probleme bedürfen intensiver Auseinandersetzung, wie sie vor allem ein universitärer Kontext bieten könnte, da hier unterschiedlichste akademische Ausrichtungen und Interessen vertreten sind. Hierfür müsste eine weiter gefasste Archäologie der Moderne im Hochschulbereich verankert werden. In einem solchen Fach wären grundsätzliche Fragen wie der Status der Dinge, die Ethik des

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Interpretierens, aber auch Neuzeitgeschichte und die Vielfalt ihrer Methoden und Quellen, Anerkennungstheorien, die Lektüre von Photographien und natürlich archäologische Auswertungsstrategien zu integrieren. Mein Ziel in den vorausgehenden Kapiteln war, die Komplexität dieser Fragen und deren Verschränkung für ein kurzes und extremes Zeitalter der Unmenschlichkeit aufzuzeigen. Meine Ausführungen können nur ein kleiner Beitrag zu einer längeren und notwendig kontroversen Auseinandersetzung mit den Schwierigkeiten und immer wieder auftretenden Aporien einer solchen Archäologie sein. Hierbei ist Ergebnisoffenheit ein fundamentales Element. In anderen Ländern, allen voran in den U.S.A. und Großbritannien, ist eine „zeitgeschichtliche“ Archäologie ein etabliertes Fach (s. Harrison und Schofield 2010; Graves-Brown, Harrison, und Piccini 2013; González-Ruibal 2013; de León 2015). Doch genau die universitäre Verankerung, die die Beschäftigung mit den materiellen Resten der Nazi-Zeit bestärken soll, trägt in sich auch den Keim der Zerstörung solchen Engagements. Denn ganz im Gegensatz zum grundgesetzlich verbrieften Prinzip der Wissenschaftsfreiheit verengt das institutionell-universitäre Umfeld heutzutage oft durch Anforderungen der Kultusbürokratie eine potenzielle Vielfalt der Entwicklung. Der sogenannte „Bologna-Prozess“, welcher Europa-weite Studienstandards einführen und das Studium abkürzen soll, hat zu beengenden Präzisierungen und universitärer Verschulung geführt. Das Aufstellen von strikt einzuhaltenden Lehrplänen statt eines freien Studierens würde sich natürlich auch auf die Potenziale neu entstehender Fächer auswirken. Denn curriculare Vorgaben führen zu starker inhaltlicher Systematisierung und zur Einrichtung von LernAbfolgen. Wie kann aber Lehre für eine historische Epoche systematisiert werden, deren hervorstechendstes Merkmal für unzählige Betroffene die grundsätzliche, wiederholt hier thematisierte Sinnlosigkeit ist? Ist also die Akademisierung einer Archäologie der Moderne ein erstrebenswertes Ziel, trägt die Umsetzung doch erhebliche Risiken falsch verstandener Systematisierung des Nichtsystematisierbaren in sich. Die historischen, aber auch die archäologischen Wissenschaften werden immer mehr durch mediale Verarbeitungen – vielleicht besser als Vermarktungen zu bezeichnen (s. Milev 2011, 38–58) – auf das Interesse der Öffentlichkeit hin ausgerichtet. Parallel hierzu entwickelt sich gerade in Fächern wie der Archäologie eine citizen science (Finke 2014; Jung 2015). Historie ist keine Frage der rein wissenschaftlichen Darstellung mehr, sondern wird teils vom Publikum selbst in neuen Formen praktiziert, teils in Form von Doku-Fiktionen im Fernsehen, Talkshows und Spielfilmen einer größeren Öffentlichkeit nahegebracht. Die Wissenschaften müssen daher über das traditionelle Studium der Vergangenheit hinaus auch immer die medial gesteuerten Relationen zwischen Gegenwart und

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Vergangenheit kritisch im Auge behalten (Assmann 2013, 33–41). Sind die Geschichtswissenschaften noch sehr TV-fixiert (z.B. Kansteiner 2012), so wird die Zukunft neben dem uns bekannten Internet weitere neue Formen einer „Realität“ mit sich bringen, was die jeweils parallel vorhandenen Einstellungen zur Materialität verschieben dürfte (s. Boellstorff 2016). Das hat auch Folgen für die Einschätzung der Verlässlichkeit der Mittel, aus denen eine Vergangenheit sich in ihrer Relation zur Gegenwart speist. Wieviorka (2006, 83) fasst dies so: „Every era finds a different material support for testimony: paper, videotape, court of justice, documentary. Even when the story remains identical in its factual components, it is shaped by collective considerations, by the circumstances surrounding the act of bearing witness.“ Jedoch geht es nicht allein darum, dass auch schon die Bewertung unterschiedlicher Quellen einer Geschichte samt deren eigenen Kontingenzen unterliegt. Denn die physischen und virtuellen Realitäten bringen in der heutigen Konsumwelt zweierlei mit sich, den Zwang zum Spektakel durch Dauerveränderung im Rahmen einer Aufmerksamkeitsökonomie (Franck 2005) und die gegensätzliche Tendenz der Suche nach Stillstand und Sicherheit, nach einer „Zone der schwankungsfreien Werte“ (Milev 2011, 33), die sich in Nostalgie äußert. Auch Orte lassen sich konsumieren, weshalb man sie möglichst oft umgestaltet. Kein Museum kann heute mehr ohne temporäre Ausstellungen überleben, im Gegenteil: die Dauerausstellungen sind oft degradiert zu einem kaum wahrgenommenen Hintergrund, während die kurzfristigen Ausstellungen Grund für Hype und Gespräche sind. Die Kombination von Spektakel und Nostalgie zeigt sich jedoch am gnadenlosesten in TV-„Dokumentationen“, die voyeuristischem Schauder Vorschub leisten und gleichzeitig eine sichere Distanz vom vergangenen Geschehen vermitteln. Typisch hierfür ist der skandalöse Film „Nazi War Diggers“ des National Geographic Channel. Nach scharfen Protesten von BerufsvertreterInnen der Archäologie aus dem Programm des U.S.-Fernsehkanals genommen, wurde der Film Anfang 2016 in Großbritannien unter dem Titel „Battlefield Recovery“ gezeigt (s. Brockman 2014). Die Schändung von im Krieg Gestorbenen – egal welcher Seite – wird in diesem Film mit größtmöglicher visueller Effekthascherei verbunden, bleibt aber als eine abstoßende Karikatur der „Archäologie“ immer im sicheren Abstand zu tatsächlicher Gefahr. Leider ist dieses Machwerk keine Einzelerscheinung. Eine Archäologie der Moderne, die in weiten Teilen eine Archäologie der kollektiven Gewalt des kurzen 20. Jahrhunderts sein müsste, kann sich nicht mit dem Blick zurück bescheiden. Neben Voyeurismus, der Leid in Spektakel transformiert, sind derzeit fundamentale Tendenzen zu einer großflächigen Ausgrenzungspolitik in vielen Ländern der Welt zu beobachten, die diese Verhältnisse

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wiederspiegeln, weshalb die Beschäftigung mit der Nazi-Zeit unter solchen Umständen keinesfalls im vermeintlich objektiven Elfenbeinturm verbleiben kann.

G ESCHICHTLICHE M ATERIALITÄT , M INORITÄTEN UND M IGRATION Von der sich um 1980 entwickelnden Globalisierung profitiert Europa immens. Der raschen Intensivierung der transnationalen Bewegungen von Kapital, Information, internationalisierten ExpertInnen und Gütern folgte etwas später ein sich an den nationalen Grenzen vorbei drückendes globales Prekariat, getrieben von Entwicklungsarmut und kriegerischen Konflikten in den Ländern, die sich durch Verschuldung zwangsweise der Globalisierung anschlossen. Aus solchen Ländern des Südens migrierten viele in der Hoffnung auf mehr Wohlstand in die profitierenden nördlicheren Regionen. Eine Zunahme von Bevölkerungsgruppen mit „migrantischem Hintergrund“, wie das in hilfloser Weise im Deutschen heißt, war schon weit früher gesucht worden und etablierte sich mit den „Gastarbeitern“ der Vorwendezeit in West-Deutschland. Mit der Globalisierung stieg der Anteil an ImmigrantInnen in einer ersten Phase in den 1990er Jahren schnell an. Seit Sommer 2015 kommen zudem immer mehr Menschen auf der Suche nach Asyl und Exil. Die Folgen für das Geschichtsverständnis eines Kollektivs sind in ihrer Komplexität noch nicht abzusehen. Ich gehe daher nur auf zwei Konsequenzen ein: das Wiederauftauchen nationalistischer, xenophober Diskurse samt chauvinistischer Stimmungsmache und das komplexe Verhältnis zwischen migrantischen Gruppen und dem Phänomen der historischen Verantwortung. „Geographie des Zorns“ betitelte Arjun Appadurai (2009) seinen im Jahre 2006 geschriebenen Essay, der aus heutiger Sicht geradezu prophetisch erscheint. Wo immer man sich in Europa und darüber hinaus umsieht, herrschen Fremdenfeindlichkeit, Angst vor Minderheiten, kulturelle Überheblichkeit bis zu massenweise virtuell verbreiteten Hasstiraden vor. Brandanschläge auf Asyleinrichtungen und gewalttätige Angriffe auf „fremd“ Aussehende werden zwar in Deutschland derzeit noch von fast allen traditionellen politischen Parteien zurückgewiesen, doch der gleichzeitige Ruf nach schnellerer Abschiebung von kriminellen Asylsuchenden und dem Einsatz der Bundeswehr bei Krisenfällen der inneren Ordnung zeigen allzu offensichtlich, auf welche Weise viele PolitikerInnen Ursache-Wirkungsmechanismen konstruieren. Bedenkliche und geradezu groteske Diskussionen um das Tragen von Kleidung, man denke nur an Kopftuch-, Burka- und Burkini-Verbote, tragen zur Stereotypisierung von Men-

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schen bei, die im Kollektiv als „Andere“ wahrgenommenen werden. Nach Anschlägen erscheinen Gedankenspiele zur „Vorratshaltung im Krisenfall“, eine politische Panikproduktion, die auf nicht sehr subtile Weise Assoziationen zwischen den Asylsuchenden, Gewalt und Krieg hervorruft. Das Schüren kollektiver Angst wird zudem alltäglich verbal weiter getrieben durch Forderungen nach der Ausrichtung aller an einer imaginären „Leitkultur“ und dem Ruf nach verschärfter Überwachung, bis eines Tages die entsprechenden Minderheiten pauschal als nicht mehr tragbar erscheinen. Kollektive, die solche Bedrohungsdiskurse für sich selbst konstruieren, bezeichnet Appadurai (2009, 68) als „aggressive Identitäten“, die der Meinung sind, „zum Zwecke ihres eigenen Überlebens auf die Auslöschung einer anderen Gemeinschaft angewiesen zu sein“, wobei „aggressive Identitäten [...] fast immer Mehrheitsidentitäten sind.“ Mehrheitschauvinismus, wie Appadurai dies auch nennt, schlägt irgendwann in eliminatorische Ideologie samt potenziellen mörderisch-praktischen Konsequenzen um. Es ist schwer zu ertragen, dass xenophobe Parteien nicht einmal 100 Jahre nach dem Ende des Nazi-Regimes in fast allen Ländern Europas einen zweistelligen Anteil bei den Wahlen erreichen. Die Flüchtenden und Asylsuchenden werden begrüßt mit dem Wunsch nach einem scharfen Ausgrenzungsregime. In Deutschland will gar die AfD den Begriff „völkisch“ wieder „positiv besetzen“ (Kellerhof 2016; Wildt 2017: 114–120). Vor kurzem erinnerten Rothberg und Yildiz (2011, 33) an den Streit um Hans Haackes Kunstwerk mit dem Titel „Der Bevölkerung“ (s.a. Huyssen 2003b). Dieser in einem Lichthof des Berliner Reichstagsgebäudes befindliche Schriftzug bezieht sich auf die 1915 am Reichstag angebrachte Giebelinschrift „Dem deutschen Volke.“ „Der Bevölkerung“, in derselben Schrifttype wie die ursprüngliche Inschrift gehalten, setzt sich bewusst vom nicht unproblematischen Begriff „Volk“ mit seinen Abstammungsassoziationen ab und schließt alle in einem politisch verfassten Raum Lebenden ein, also auch alle Flüchtlinge und Durchreisenden. Damit wird auch die Herder’sche Idee einer Übereinstimmung von Kultur, Sprache und politischer Einheit kritisiert, die meist unausgesprochen hinter unsäglichen Exklusionsbegriffen wie der „Leitkultur“ steht. An den rechtsradikalen „Identitären“ lässt sich die verquere Idee einer „Reinheit“ des Kulturgedankens leicht zeigen. So heißt es in einer Zuschrift zu einem Interview mit dem AfD-Rechtsaußen Björn Höcke in der rechtsextremistischen Zeitschrift Sezession im Net: „Der Begriff jüdischchristliche Kultur oder christlich-jüdisches Abendland ist eine Phrase. Er ist ein Kadaver. Zu unser aller Glück haben wir keine jüdische Kultur. Bereits die Gründer des Christentums haben die Wurzeln zum Judentum rigoros gekappt. Als dann die christliche Idee über seine [sic] Phasen der Hellenisierung, Romanisierung und Germanisierung Eingang in Europa fand, wurden weitere jüdische

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Elemente verworfen. Anders ist es im Islam. Der arabische Gott wurde nahezu 1:1 aus dem jüdischen geklont“ (Anonymus und Höcke 2014). Die verwirrte Chronologie des Textstücks zeigt zunächst, dass das Wissen um die westasiatische Herkunft vieler Elemente der sog. „christlich-abendländischen Kultur“ nicht abgestritten wird (oder werden kann). Daher greift man zur Ausschließung aller jüdischen Einflüsse – wie schon von Zygmunt Bauman in NaziZusammenhängen analysiert und hier in Kapitel 5 zur Sprache gekommen (S. 271) – auf Vegetationsmetaphern des Wurzelkappens zurück, um auf platt antisemitische Weise eine scheinbar bereinigte Kultur zu postulieren. Exemplarisch zeigt sich an diesem Zitat zudem die giftige Mischung von altem Antisemitismus und neuer Islamophobie durch die angebliche, wiederum biologisch („Klon“) metaphorisierte große Ähnlichkeit beider Religionen. Zu wenig Aufmerksamkeit schenkt man seit der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten einer signifikanten Verschiebung des rechten Exklusionsdiskurses. Waren traditionell „die Türken“ Zielscheibe rechtslastiger, xenophober Ideen, so hat sich dieser in den 1990er Jahren und erst recht seit dem 11. September 2001 auf „den Islam“ und „die Muslime“ verlagert. Das Pauschalurteil, Asylsuchende seien sozusagen grundsätzlich islamisch, erlaubt dann – im Gegensatz zu den oben zitierten antisemitisch-rechtsextremistischen Hetzereien – eine etwas moderatere Xenophobie, die eine undifferenzierte Identifizierung von Deutschen als der „jüdisch-christlichen Tradition“ zugehörig behauptet (s. dazu Bruckstein Çoruh 2010). Der Effekt der unterschiedlichen, aber immer von pauschalisierenden Vorurteilen getriebenen Abgrenzungsdiskurse ist, wie man heute europaweit besichtigen kann, auf Seiten von Flüchtlingen und durchaus auch von Familien, die vor Jahrzehnten für Arbeit im Ausland angeworben wurden, eine Abwendung von ihrer deutschen Lebenswelt und gleichzeitig oftmals eine Art Renationalisierungsprozess im Emigrationskontext. Leute mit migrantischem Hintergrund identifizieren sich – teils trotz Übernahme einer deutschen Staatsbürgerschaft – aufgrund der Erfahrung des Ausgeschlossenseins wieder stärker mit ihrem Herkunftsland. Der Germanist Andreas Huyssen (2003a, 149) fasst diese Situation vielleicht etwas zu apodiktisch so zusammen: „When civilizations clash, the space for diasporic thinking, transnational exchange, and cultural hybridity shrinks.“ Identitätsfokussierte Diskurse schaukeln sich hoch und zeitigen zwei Wirkungen. Die vom Primat der Identität Überzeugten richten sich im Alltagshandeln nach dem, wovon sie reden, was die Situation weiter verschärft. Und die Vorstellung eines Ethnonationalismus, einer auf Herder zurückgehenden essentialistischen Auffassung eines Staates als kulturell, religiös und sprachlich einheitliches Gebilde gewinnt wieder an Boden. Genau an dieser Stelle muss eine den Nationalsozia-

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lismus erforschende Archäologie mehr sein als eine Rekonstruktion des Gewesenen und auch als eine intensive Beschäftigung mit Opfern der Vergangenheit. Schließlich war die Nazi-Zeit der mörderische Exzess des biologisch gewendeten Ethnonationalismus. Welzers grundsätzliche Analyse, dass die Auseinandersetzung mit diesen 12 Jahren auch Reflexionen über das Phänomen der Ausgrenzung im Allgemeinen enthalten müsse (Giesecke und Welzer 2012, 38–48), ist daher im Ansatz richtig, so kritisch man seine an Edutainment orientierten Ideen zu einer praktischen Umsetzung auch sehen mag. Allerdings ist dieser aus der derzeitigen politischen Konstellation entstehende Zwang zu einer Funktionalisierung der Nazi-Geschichte tragisch. Weil er bedeutet, dass wir im Kollektiv nicht einmal aus einer unmittelbaren Geschichte zu lernen bereit sind, deren Handelnde uns noch teilweise persönlich bekannt sind. Zudem aber liegt die Tragik in der Instrumentalisierung selbst, die einen hier wiederholt geforderten Aufbau eines Verhältnisses der Anerkennung zu den Opfern der Nazi-Zeit ausgesprochen erschwert. Wer Fundobjekte, Photographien und Gedenkstätten von Opfern der Nazi-Verbrechen als Mittel für einen außerhalb ihrer selbst liegenden, durchaus gut gemeinten Zweck sozialer Vermittlung einsetzt – bzw. sich gezwungen fühlt, dies zu tun –, riskiert eine nochmalige Verdinglichung der Opfer. Der einzig akzeptable Umgang mit diesem Paradox besteht darin, die archäologische Praxis auch da, wo sie zur Abwehr von zunehmenden Ausgrenzungsideologien dient, in ein diachrones Anerkennungsverhältnis den NaziOpfern gegenüber einzubetten. Um es in den Begrifflichkeiten Axel Honneths zu fassen: nur so kann die verschärft bestehende Gefahr einer kompletten Verdinglichung, die „Anerkennungsvergessenheit“, vermieden werden. Und genau hiervor kann die reflektierte und gleichzeitig Empathie-durchdrungene Auseinandersetzung vor allem mit dem Alltag der Nazi-Zeit warnen. Huyssen (2000, 36–37) ist noch ausgesprochen optimistisch, wenn er meint, dass die Universalisierung von Erinnerungsprozessen auch durch die Aufmerksamkeit den Opfern gerade des Nazi-Systems gegenüber zu einem neuen Fokus auf Menschenrechte geführt hat. Dies scheint der kritischen Geschichtsbetrachtung einen allzu großen Einfluss zu gestatten, und der Optimismus der Jahrtausendwende ist in Keenans (2014, 42) Ansichten zu den heute lauernden Gefahren verflogen: „Here is a proposition that seems, strangely, to be at once empirically trivial but also philosophically risky: we are not self-evidently human. Arguing for one’s rights, or against their violation, is ultimately reducible to claiming that one belongs to the human community, that one’s status is human. But the argument needs to be made – it does not go with-

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hout saying. [...] It is not guaranteed by anything but other humans, and they are not good at guarantees.“ (Keenan 2014, 42)

Keenan weist auf die historische Kontingenz des Zugestehens von Menschenrechten hin. Menschen sind es, die Geschichte machen, und in dieser Tätigkeit lassen sie einen Diskurs über das Menschsein erstehen, dessen permanenter Wandel als ewige Bedrohung verstanden werden muss, die jederzeit in Richtung von Abtrennung und Ausgrenzung treiben kann. Die funktionalisierte Archäologie der Nazi-Zeit, wenn sie denn als solche betrieben werden muss, sollte an dieser Stelle eingreifen und die materielle Evidenz für die radikale Ausgrenzung und ihre Konsequenzen herausstellen. Die andere Seite der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse ist die zunehmende Migration, ob nun durch ökonomische Globalisierung oder durch die mit ihr verbundenen Kriege hervorgerufen. In vielen der Länder, die die Nazis einst beherrschten, wächst der Anteil von Bevölkerungsteilen mit einer Herkunft aus dem westasiatischen Raum, leider in einem zunehmend feindseligen gesellschaftlichen Klima.126 Das aber lässt ein weiteres Problem im Umgang mit der Nazi-Zeit entstehen. Welche Einstellung werden Generationen von Menschen gegenüber der Nazi-Diktatur annehmen, die erst Jahrzehnte danach in dieses Land kamen? Diese Frage spielt naturgemäß in Kreisen, die Gedenkstättenarbeit betreiben oder in entsprechenden Museen beschäftigt sind, eine erhebliche Rolle, ebenso natürlich in Schulen. Eine Hauptschwierigkeit scheint dabei zu sein, dass der Bezug zur NS-Vergangenheit im Sinne eines an Verantwortungsethik orientierten Umgangs aufgezogen wird. Dies wird so ausgelegt, dass in einer flexiblen postmodernen Gesellschaft signifikante Gruppen, die rezent zugewandert sind, von den Anliegen eines mit Scham und Gewissensbissen besetzten Verhältnisses zur „eigenen“ Geschichte ausgeschlossen bleiben. Damit würde die historische Erinnerungsarbeit samt einer potenziell zugehörigen Archäologie heutzutage genau das erreichen, wovor sie eigentlich warnt: Ausgrenzung, noch dazu von Gruppen, die aufgrund kultureller Eigenheiten im öffentlichen Diskurs peripheralisiert werden. Der weiterreichende Hintergrund hierfür ist ein insgesamt problematisches Geschichtsverständnis. Historie als „deutsche“ Historie verweist nach dieser verkürzten Ansicht allein auf eine essentialistisch verstandene Abstammungs-

126 Dass Migration nichts Neues ist, dass etwa im 19. Jahrhundert innereuropäische Ost-West-Migrationen stattfanden, oder dass die politisch-kulturelle Lage im Elsass immer wieder zu Migrationen Anlass gab, will man nicht wahrhaben, wenn Immigration heute als Bedrohung in Medien und politischen Reden dargestellt wird.

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gemeinschaft. In der professionellen Geschichte wird letztere reifiziert durch die fatale Mode, „Erinnerungsorte“ als bestimmend für einen nationalen Rahmen des Selbstverständnisses anzusehen, wobei „Ort“ metaphorisch verstanden wird und somit auch Personen, Ereignisse oder Objekte bezeichnen kann. Monumentale mehrbändige Zusammenstellungen dieser Art (z.B. Nora 2005; François und Schulze 2001) grenzen jedes diasporische Geschichtsverständnis a priori aus und unterstreichen die dominante Ideologie von Geschichte als ethno-nationales Narrativ. Dagegen werden ehemals Ausgegrenzte wie die jüdischen Deutschen in solchen Bänden teils individuell eingeschlossen, teils kommen sie zumindest noch als Ermordete vor. Doch Analysen zu den Beiträgen etwa einer türkischstämmigen Arbeiterklasse zur globalisierten Hybridkultur in Deutschland sucht man in diesen Sammelbänden vergeblich. Die historischen Werke zu Erinnerungsorten sind Werkzeuge der Abtrennung, sie dienen in ihrem beredten Schweigen insbesondere auch der Hypostasierung eines nicht integrierbaren Anderen. Es wäre unverantwortlich, Nazi-Geschichte und deren archäologische Reste im Rahmen dieser Logik abzuhandeln. Hier gilt Foucaults Wort (2009, 197), dass das produzierte Wissen „innerhalb seines Erkenntnisprozesses die eigene Genealogie zu ergründen“ habe. Eine Nazi-Geschichte oder -Archäologie hat den nicht leicht zu realisierenden Anspruch, die Dimension des Massenverbrechens der ideologisch vereinheitlichten „Volksgemeinschaft“ aufzudecken. Doch indem sie dieses tut, indem sie auf das ehemalige rabiate und für die betroffenen Minderheiten notwendig völlig unverständliche Aberkennen der Zugehörigkeit zu einem gesellschaftlichen Kollektiv verweist, muss sie verhindern, dass die Art, wie dieser Verweis vonstatten geht, selbst wiederum Aberkennungen der Zugehörigkeit produziert. Die politische Dimension von Geschichte und Archäologie führt also zu der schwer zu bewältigenden Aufgabe, „einerseits die national exklusive Besetzung von Erinnerung zu überwinden und andererseits dabei nicht das Bedürfnis nach kollektiver Entlastung von einer historischen Verantwortung zu bedienen“ (Messerschmidt 2012, 229). Dan Diner hält diesen Konflikt für unlösbar. Die „Volksgemeinschaft“ war ein sich über Abstammung zusammenphantasierendes Kollektiv, eine „imagined community“, die einen rassistischen Essentialismus zur Grundlage hatte. Die Nachfahren dieser vorgestellten Gemeinschaft tragen eine besondere historische Verantwortung für diese Verbrechen. Wenn nun aufgrund der Immigration, deren zukünftige Zunahme Diner wohl realistisch sieht, die Zusammensetzung der Bevölkerung sich ändert, so muss sich auch die Vergangenheit eines immer noch national definierten Kollektivs notwendig umfassend ändern. Da MigrantInnen ganz andere Erinnerungen und Vergangenheiten mitbringen, wird bei Integration der gemeinsame historische Horizont von Alteingesessenen

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und neu Hinzugekommenen notwendig chronologisch verkürzt. Denn, so Diner, der Partizipationswille der Immigrierten könne nicht ohne schwerwiegende Konsequenzen unterbunden werden, ende allerdings in einem Verlust an zeitlicher Tiefe der als relevant betrachteten Geschichte, wenn nicht in historischer Vergessenheit (Diner 1998, 301). Letztlich ist Diners Argument selbst beeinflusst von einem ethnischen Essentialismus, der davon ausgeht, dass der migrantische Hintergrund eine vollständige Eingliederung in die ältere Geschichte einer Gesellschaft verunmöglicht. Man kann, so Diner, seine Vergangenheit nicht ablegen wie einen Hut oder gar eine neue annehmen. Diese Ansicht ist geprägt von einem Diskurs über das „kollektive Gedächtnis“, der sich auf Ideen zurückführen lässt, die man bei Aleida und Jan Assmann, Pierre Nora und Avishai Margalit bis zu Maurice Halbwachs findet. In diesem Diskurs wird zwar manchmal auf die gegenseitige Konstituierung von individuellen und sozialen Gedächtnisleistungen verwiesen. Insgesamt zeichnet er sich aber dadurch aus, dass das kollektive Gedächtnis der Rahmen, le cadre social, und damit der Ausgangspunkt aller grundsätzlichen Überlegungen zur gesellschaftlichen Wirkung von Vergangenheit ist. Dazu gehört insbesondere das „kulturelle Gedächtnis“, welches von Jan Assmann (1992, 48–56) als weitgehend ausgehandelt und materialisiert in Monumenten und Archiven beschrieben wird. Diese konzeptuelle Ausgangslage stimmt mit den dominanten gesellschaftlichen Vorstellungen über eine Kongruenz zwischen kultureller Identität und Erinnerung (einschließlich Geschichte) überein. Diese problematische Vorstellung ist so tief im westlichen Selbstverständnis verankert, dass an diesem Punkt eigentlich das dringend notwendige Verfahren der Ideologiekritik eingesetzt werden müsste. Doch dem ist nicht so. Immerhin gibt es Infragestellungen (Erll 2011). Sie gehen allerdings meist von der Auseinandersetzung mit konkreten Alternativen aus, von alltäglichen Erinnerungspraktiken etwa. Hierfür kann Rothberg und Yildiz’ (2011) Beschreibung der Aktivitäten der „Stadtteilmütter“ in Berlin-Neukölln als exemplarisch gelten. In diesem Beispiel aus der Alltagspraxis zeigt sich, dass sich Migrantinnen ohne weitgespannte Bildung durchaus mit geschichtlichen Epochen auseinandersetzen, die nichts mit ihrer persönlichen Lebenserfahrung zu tun haben müssen. Es wäre dennoch falsch, einen generalisierten „diasporischen Zugang“ zum Holocaust oder zur Nazi-Zeit konstruieren zu wollen und diesen von einem eher traditionellen abzusetzen, wie es Huyssen (2003a) andeutet. Denn dazu sind die rezent nach Deutschland Gekommenen selbst zu vielfältig (Bodemann und Yurdakul 2005, 443). Die Archäologie der Nazi-Zeit kann in der gegenwärtigen komplizierten gesellschaftlichen Lage und den schärfer werdenden Spannungen eine wichtige

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Rolle auch für die nach 1950 in Deutschland Angekommenen einnehmen. Archäologie kann dazu beitragen, aus dem auf die Nation Deutschland fokussierten Diskurs über die Jahre 1933–1945 einen „antinationalen“ Gedenkdiskurs zu machen (Schacht 2012). Ich habe zwar selbst immer wieder – allgemein formulierend – darauf hingewiesen, dass eine national definierte „Volksgemeinschaft“ die Exkludierten malträtierte, folterte und mordete. Schnell wird bei solchen Aussagen vergessen, dass dies immer an konkreten Orten geschah. Betroffen waren spezifische, potenziell benennbare Opfer, und das Ganze wurde durchgeführt von individuell oft identifizierbaren Personen. Die Archäologie mit der ihr eigenen störrischen Konkretheit bleibt eine jeweils ortsbezogene, auf diese Konkretheit deutlichen Bezug nehmende Angelegenheit. Daher sind rhetorische Allgemeinplätze, wie sie der staatliche Erinnerungs- und Bewältigungsdiskurs oft hervorbringt, in einer weit unterhalb des nationalen Rahmens angesiedelten Interpretation von Befunden und Funden wirkungslos. Daher auch erweist sich „der konkrete Ortsbezug [...] als wesentliches didaktisches Mittel, um sich Geschichte anzueignen“ (Knoch 2011), und zwar zunächst ganz unabhängig von jeweiligen nationalen, kulturellen oder religiösen Zugehörigkeitsgefühlen. Ein weiteres Element im Umgang mit der Vergangenheit ist die Relation zwischen Wissen und Affekt. Die Moderne hat eine fast ubiquitär vorzufindende Einstellung des Stolzes auf eine imaginierte Kollektivgeschichte hervorgebracht, die andere affektive Bindungen wie Scham, Trauer oder Abscheu kaum erlaubt und allenfalls der Gleichgültigkeit Raum lässt. Die historischen Wissenschaften sind die Informationsquelle für diese Gefühle, und oft wird das Verhältnis von Sachlichkeit versus Affekt im Verhältnis zur Vergangenheit geglichen mit Geschichte versus Erinnerungskultur. Auf archäologisches Arbeiten trifft diese Zweiteilung jedenfalls nicht zu. Die Ausgrabungspraxis steht notwendig alltäglich vor einem Ent- und Aufdecken sowie der Frage, was die zutage gekommenen Funde bedeuten. Die Fragilität und Ambivalenz allen Wissens zeigt sich in diesem Vorgang in ungewöhnlich anschaulicher Weise. Nimmt man die oben zitierten Studierendenaussagen als Grundlage (s.S. 388–400), so ist ein Schwanken zu bemerken zwischen einer Einstellung der Sachlichkeit im Streben nach objektiven Kenntnissen über die Prozesse, die die Bodenreste zu dem gemacht haben, was wir vorfinden, und einer von Empathie getriebenen Motivation für die Suche selbst. Sachlichkeit fokussiert auf Materialität als Quelle und Bürgschaft. Gleichermaßen können sachliche und empathische Einstellungen aber der Weg zu einem Anerkennungsverhältnis zur Vergangenheit sein, wie wiederum anhand des Status der Dinge als Bürgen, besonders aber anhand des Begriffs der Evokation hier ausführlich erläutert. Solche Haltungen samt deren Motivationen sind grundsätzlich frei von nationalen oder Abstammungshintergründen. Eher

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schon ist Archäologie für alle Beteiligten notwendig ein „entdeckendes Lernen“ (Cerny 2010). Unterschiedlich bleibt hingegen die historische Verantwortung da, wo Individuen Vorfahren haben, die als TäterInnen direkt in die Gräuel der Nazi-Zeit involviert waren, oder wenn sie von Opfern abstammen. Dies ist allerdings eine Zusatz-Dimension der Verantwortung, nicht aber die Basis für ein Geschichtsverhältnis.

ZU

DEN

G RENZEN

MORALISCHER

G EMEINSCHAFTEN

Einer Archäologie der Nazi-Zeit geht es nicht allein darum, „Leiden beredt werden“ zu lassen, wie Adorno sich ausdrückte. Dies wäre eine zu abstrakte Kategorie. Denn „suffering [...] is not a raw datum, a natural phenomenon we can identify and measure, but a social status that we extend or withhold. We extend or withhold it depending largely on whether the sufferer falls within our moral community“ (Morris 1997, 40). Man kann dies auch anders formulieren: Leidende, die ohne eigenes Zutun in diesen Zustand geraten, nehmen wir schnell als Märtyrer wahr, wenn wir sie als Teil unserer Kollektivität, als Mitglieder innerhalb einer uns gleichgestellten moralischen Gemeinschaft wahrnehmen. Erscheinen sie aber als „uns nicht Zugehörige“, bleibt ihr Leiden außerhalb dessen, was wir als Gefährdung eines Lebens wahrnehmen. Sie reihen sich ein in die „nicht Betrauerbaren“, wie Judith Butler (2009, 13–15) sie nennt, erst recht natürlich, wenn sie als „Feinde“ betrachtet werden.127 Eine erschreckende Lehre aus der Hitlerzeit ist, wie radikal, schnell und mit welchen „Gründen“ eines besinnungslosen Rassismus sich eine sozial vermeintlich stabil verankerte humanistische Moral in eine mörderische Mentalität verwandeln konnte (Gross 2010, 237–257). Dies führt zum zentralen philosophischen Problem der Reichweite einer „moral community“ sowie der Frage nach möglichen Grenzen unserer Empathie. Dieses Thema liegt schon Kants Spätschrift zur Anthropologie zugrunde (Kant 1983), die zwar nach ihrem Erscheinen zunächst geringe Auswirkungen hatte, heutzutage aber, im Zeitalter des Posthumanismus, vielfach diskutiert wird. Wie definieren wir heute eine „moralische Gemeinschaft“? Haben wir nur Sorge um das Wohl anderer Menschen zu tragen, ihnen gegenüber moralische Verpflichtungen, oder vielleicht auch (anderen) Tieren gegenüber, da sie – worauf der Postspeziesismus verweist – ebenso wie der Mensch leidensfähig sind? Oder

127 Bei Nachrichten über Selbstmordanschläge werden die Täter oftmals nicht unter den Toten mitgerechnet. Selbst eine Verneinung des Lebens wird dann verneint.

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umgekehrt, ist der Zirkel der Moralverpflichtungen weit kleiner als die gesamte Menschheit, da wir uns nicht um jede und jeden sorgen können, deren Leiden uns in den Medien nahegebracht wird (s. dazu Boltanski 1993)? Haben gar ausgerechnet Aufklärung, Vernunft und andere philosophisch-ethische Prinzipien eine Situation entstehen lassen, in der die „Grenze der moralischen Welt [...] innerhalb der Gattung der Menschen [verläuft]“ (Stemmer 2000, 283)? Technische Verfahren und die Entwicklung hybrider Lebewesen führen dazu, dass sich derzeit vor allem die Umwelt- und biomedizinische Ethik mit dieser Frage beschäftigen (Warren 2002; Schlüns und Voget 2008), auch wenn sich die meisten Reflexionen hierüber traditionell in der Philosophie finden. Sind Tiere, gar Wasser und Steine Teil einer Gemeinschaft, deren Gleichstellung mit den Menschen allein das Überleben der Spezies Mensch sichern kann (s. Partridge 2002)? In die Archäologie dringen solche Ideen indirekt über fachliche Neuausrichtungen wie die symmetrische und die relationale Archäologie ein, wie Harris (2013) anschaulich erläutert. Interessant an diesen Diskursen ist, dass neben einer Mitwelt von Lebewesen und Dingen auch zukünftige Lebensformen, in der Regel menschliche Generationen, als Teil unserer moralischen Gemeinschaft intensiv diskutiert werden. Seit den ersten Tagen des „Club of Rome“ um 1970 und der Wirtschaftswachstumskritik seines Reports über die Limits to Growth (Meadows et al. 1972) hält der Streit um Nachhaltigkeit und die Kritik an der kurzsichtigen Politik kapitalistischer Naturausbeutung an. Zukünftige Generationen werden als Teil unserer moralischen Gemeinschaft thematisiert, da wir die Verantwortung für deren (Über-)Lebensmöglichkeiten tragen (Golding 1972; Gardiner 2002). Ein stark verengter zeitlicher Horizont heutigen wirtschaftlichen und politischen Handelns trägt aus dieser Sicht radikale Züge der menschenverachtenden Ausgrenzung, denn es ist einem solchen instrumentellen Denken anscheinend weitgehend egal, wie das Leben in hundert oder mehr Jahren auf der Erde potenziell noch aussehen kann. Erstaunlich ist, dass die temporale Ausdehnung einer moralischen Gemeinschaft einseitig als zukünftige reflektiert wird, nicht aber als vergangene. Bündig fasste Horkheimer in dem schon zitierten Brief (s.S. 319) an Walter Benjamin zusammen: „Das vergangene Geschehen ist geschehen und abgeschlossen. Die Erschlagenen sind wirklich erschlagen“ (Horkheimer, in Benjamin 1982, 588–589), während Benjamin auf der Unabgeschlossenheit des Leidens in der Menschheitsgeschichte insistierte. Ich habe an etlichen Stellen dieses Buchs darauf verwiesen, dass gerade die Nazi-Jahre, unter deren Eindruck dieser Briefwechsel entstanden war, eine Einstellung wie diejenige Horkheimers heutzutage unmöglich machen, und habe die Konsequenz daraus als die Notwendigkeit diachroner Anerkennungsverhältnisse thematisiert (s.S. 23–26; 159 –160; 319–321). In

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der Begrifflichkeit der moralischen Gemeinschaft gefasst: nicht nur unsere gegenwärtige massive Zerstörung der natürlichen Ressourcen ist eine gewissenlos verübte Gewalt an zukünftigen Generationen und damit eine metatemporale Verantwortungslosigkeit, sondern das bewusste Distanzieren gegenüber der in der Vergangenheit verübten Gewalt und das Verschließen vor den unerfüllten Ansprüchen vergangenen Leidens spiegeln diese Zurückweisung von Affiziertheit und Verantwortung in umgekehrter diachroner Dimension. Eine grundsätzliche Einsicht, die aus der Beschäftigung mit der Materialität der nationalsozialistischen Jahre entsteht, ist die Unabgeschlossenheit und Individualität des Leidens. Wie kann aber der Einschluss der damals Verfolgten in eine historisch-temporal erweiterte moralische Gemeinschaft begründet und vollzogen werden? Eine prinzipielle Voraussetzung ist zunächst, dass die objektivistische Sicht auf die Geschichte in Frage gestellt werden muss (s.S. 293– 295). Eine ausführliche Diskussion und Kritik der objektivistischen Sicht auf vergangene Subjekte findet sich in den 1960er Jahren in Hans-Georg Gadamers (2010 [1960]) Wahrheit und Methode, sowie in Axel Honneths Kommentar hierzu (2003). Diese Auseinandersetzung ist wesentlich abstrakter in ihren Begrifflichkeiten und differenzierter als der Disput zwischen Benjamin und Horkheimer. In Gadamers Wahrheit und Methode wird das ideale Verhältnis zum Vergangenen als intersubjektives herausgestellt, quasi als Dialog zwischen den Zeiten, „denn [die Überlieferung ist] ein echter Kommunikationspartner, mit dem wir ebenso zusammengehören wie das Ich mit dem Du“ (Gadamer 2010, 364). Wirkliche Kommunikationspartner müssen sich aber gleichberechtigt begegnen. Das tun sie nach Gadamer nur, wenn das „Du“ dem „Ich“ in der Begegnung aufgrund seiner Andersartigkeit und der Unmittelbarkeit des Verhältnisses Überraschungen – einschließlich Überraschungen über das eigene Sein des „Ich“ – zufügen kann. Dieser als fundamental gesetzte Erfahrungscharakter der Intersubjektivität wird dann bei Gadamer auf diachrone Verhältnisse angewandt. Wie Honneth (2003, 51–59) anschaulich ausführt, setzt Gadamer drei Stufen von Intersubjektivität an, die einen jeweils höheren Anerkennungsgrad zwischen „Ich“ und „Du“ (bzw. in Gadamers Worten zwischen „Historiker“ und „Überlieferung“) darstellen, und immer näher an die Überraschungserfahrung als Anforderung an wirkliche Intersubjektivität herankommen. Eine den oder die Andere(n) in präexistierende Kategorien einordnende Einstellung kann niemals zu einem gleichartigen Verhältnis führen und verstellt aufgrund der kategorialen Vorurteile jede Möglichkeit der Unvorhersehbarkeit in der Begegnung mit Anderen/der Vergangenheit. Die Vergangenheit selbst bleibt hierbei Objekt des Wissens. Dies ist es, was Honneth an anderer Stelle (2014) als Verdinglichung ausführlich geistesgeschichtlich herleitet. An das Ideal eines wirklichen Verste-

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hens näher heran kommen Relationen, bei denen die Reflexion über andere deren Position einbezieht. Dieses anerkennende Reflektieren wird von Gadamer mit dem herkömmlichen historischen Bewusstsein gleichgesetzt und als unzureichend kritisiert. Denn die Konstituierung des „Ich“ durch Andere wird eingeebnet, so dass diese Einstellung letztlich darauf abzielt, „der Vergangenheit gleichsam Herr zu werden“ (Gadamer 2010, 366). Ähnlich meint auch Hartman über KünstlerInnen, die sich mit dem Holocaust beschäftigen, „dass der intellektuelle Teil des Bewusstseins uns stets in die Position eines Betrachters oder Dabeistehenden [...] versetzt. Dies ist eine äußerst unbehagliche Position, denn sie liefert uns [...] der Besorgnis [aus], nicht genügend Empathie zu empfinden“ (Hartman 2000, 43). Nochmals in Gadamers Worten: Der Einfluss des „Du“ auf das „Ich“ bzw. der Vergangenheit auf die Gegenwart wird unzureichend berücksichtigt. Für Gadamer gibt es eine dritte Stufe der diachronen Beziehung, die er als wirkliche Anerkennung wertet. Diese öffnet sich den Auswirkungen auf Andere/die Vergangenheit ohne jede Einschränkungen, wobei Reflexion zu diesen Einschränkungen gehören soll. Diese Stufe setzt er mit einem „wirkungsgeschichtlichen Bewusstsein“ gleich (Gadamer 2010, 367–368). Honneth (2003, 60–70) äußert zwei hauptsächliche Kritiken an Gadamers Theorie des wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins. Erstens behaupte Gadamer fälschlich, dass Reflexivität ausschließlich Distanz schaffe, und zweitens sei das ganze Gedankengebäude der Intersubjektivität auf dem Modell des Dialogs, mithin von zwei Personen aufgebaut, statt die Komplexität sozialer Netze in Betracht zu ziehen. Tatsächlich ist das Postulat der absoluten Unmittelbarkeit und Reflexionslosigkeit vor allem vom Standpunkt der Umsetzung aus unhaltbar. Denn das Eingehen auf vergangene Subjekte erfordert neben Anerkennen immer den Aspekt des Kennens und Wissens. Auf die Realitäten der Materialität der Nazi-Lager bezogen: Die gefundenen Dinge können und dürfen nicht in gänzlich offener Manier auf das gegenwärtige Bewusstsein einwirken, wie etwa bei einer „unwillkürliche Evokation“, sondern benötigen einen Rahmen der über Reflexion erlangten Sachkenntnis, der dem evokativen Gehalt nicht etwa angegliedert ist, sondern diesem notwendig vorgängig ist, der Kern einer „willkürlichen Evokation“ (s.S. 184–186). Honneths Kritik der angestrebten Reflexionslosigkeit in Gadamers Modell ist an diesem Punkt also, wenn von der praktischen Seite betrachtet, auf jeden Fall berechtigt. Dennoch scheint mir Gadamers Auffassung einer Dialogstruktur für eine Theorie der diachronen Anerkennung angemessen. Es handelt sich schließlich um (wirkungs-)geschichtliches Bewusstsein und damit um eine bipolare Beziehung, auf allgemeiner Ebene um die Beziehung zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Genau hier befindet sich aber ein Problem, welches Honneth

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in seiner Kritik Gadamers nicht ausreichend differenziert. Denn im historischen (und archäologischen) Umgang mit der Vergangenheit setzen beide die Kenntnis des Rahmens mit der „Übernahme eines Standpunkts des unparteilichen Dritten“ gleich (Honneth 2003, 66), denken Anerkennen und Kennen oder Reflektieren aber als gleichzeitig. Die (berufliche) Praxis der Herstellung eines diachronen Anerkennungsverhältnisses besitzt aber selbst notwendig eine zeitliche Tiefe, bestehend aus dem Erlangen von Kenntnissen durch Suchen, Graben, Lesen Archivrecherche usw. Damit ist in die Produktion (wirkungs-)historischen Bewusstseins immer auch eine interne Diachronie eingebaut. Kennen muss dem Anerkennen im historisch-archäologischen Bereich notwendig vorgeschaltet sein. Es ist genau die Wende vom Verhältnis der Kenntnis der Vergangenheit zum Anerkennen vergangener Subjekte, die das verhindert, was Honneth als „Anerkennungsvergessenheit“ beschreibt. Und diese zeitliche Sequenz erlaubt dann auch, das Anerkennen selbst als ein dialogisches Verhältnis zu begreifen, da das Wissen des „unparteilichen Dritten“ nur noch als vorgängiger Hintergrund relevant ist, der eine „Kennensvergessenheit“ verhindern muss, um Honneths Logik entsprechend abzuwandeln. Die Dialogstruktur diachroner Anerkennung kann also durchaus aufrecht erhalten werden, wobei wir dann aber auf eine weitere Schwierigkeit bei Gadamer stoßen, der das Verhältnis zu vergangenen Verhältnissen konstant als Relation zu einer „Überlieferung“ beschreibt und sagt, „sie ist Sprache, d.h. sie spricht von sich aus wie ein Du. Ein Du ist nicht Gegenstand, sondern verhält sich zu einem“ (Gadamer 2010, 364, Hervorhebung im Orig.). Damit verallgemeinert er die Vergangenheit als einen pauschalisierten, auf Sprache reduzierten Zeithorizont und trennt explizit die Subjekte der sprachlichen Äußerungen von ihnen selbst ab. Mein Ausgangspunkt aber waren – genau umgekehrt – die Subjekte, und zwar insbesondere die leidenden Subjekte, deren Schicksal sich oftmals gerade nicht in Sprache, erst recht nicht in geschriebene Sprache umsetzte. Die grundlegende Dialogstruktur der diachronen Anerkennung mag bei Gadamer ja durchaus überzeugend angesprochen sein, nicht jedoch die Idee davon, wer denn die Kommunikationspartner dieses Dialogs sein sollen. Im Sinne einer temporalen Erweiterung der „moralischen Gemeinschaft“ ist dabei eben nicht an textliche Überlieferung, sondern zuallererst an menschliche Subjekte zu denken. Solche philosophischen Überlegungen gehen also durchaus in Richtung einer diachronen Anerkennungsrelation, ja, Gadamer postuliert sogar, dass die dominant erscheinenden synchronen zwischenmenschlichen Anerkennungsverhältnisse auf diachronen beruhen (Gadamer 2010, 302–303). Um diese allerdings im archäologischen Bereich wirksam werden zu lassen, muss das Repertoire der Interpretationsmodi von Dingen beträchtlich erweitert werden. Denn die archäolo-

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gische Materie ist zwar eine Externalität, ein Mittel, jedoch sollte man sie als mehr oder weniger breite Straße zu historisch Anderen ansehen, die man dort antreffen kann – nicht als „die Überlieferung“, nicht auch als „die Roma“ oder „die Opfer“, sondern als das je einzelne, aus dem Schatten tretende Leben in seinem uneingelösten Anspruch auf Gerechtigkeit. Wie weit in die Vergangenheit führt diese Straße? Traditionell scheinen ArchäologInnen wenig gewillt zu sein, Anerkennung und Intersubjektivität als einen Modus des Vergangenheitsbezugs in Betracht zu ziehen. Sie verbleiben lieber auf dem Niveau des Objektivismus. Doch wie wir gesehen haben, ist diese Einstellung für eine Archäologie der Nazi-Zeit auf jeden Fall unbefriedigend und ethisch höchst bedenklich. Notgedrungen ergibt sich aus dieser Einsicht die Frage, ob nicht das Anerkennungsverhältnis auf sehr viel frühere Zeiten ausgedehnt werden müsse. Zudem wäre zu überlegen, ob es Grenzen für eine solche diachrone Relation gibt, und wie diese begründet sein könnten. Keinesfalls kann es sich etwa um methodisch definierte Grenzen handeln, etwa die Schwelle vom traditionell als Historisch Verstandenen zum Prähistorischen, wie man aus Gadamers Schriftfixierung schließen könnte. Die mangelnde Dichte des Wissens als der Anerkennung vorgängige Rahmen mag in vielen Fällen ein Anerkennungsverhältnis heute noch unmöglich machen. Doch dieser Einwand des „Wir wissen noch nicht genug“ ist gleichzeitig eine ethisch bedenkliche Ausrede, die Anstrengung des Anerkennens auch für einen neolithischen Ort im Kaukasus oder eine frühe Besiedlung in Neukaledonien gar nicht erst zu unternehmen und lieber im sicheren Gehäuse der wissenschaftlichen Verdinglichung zu bleiben. Eine weitere Angelegenheit ist die Motivation für die alle zeitlichen Grenzen überschreitende Forderung nach diachroner Anerkennung. Geschichte und Archäologie sind, wie Walter Benjamin in seinen geschichtsphilosophischen Thesen so deutlich kritisierte, allzu oft Siegergeschichten. Das liegt allein schon daran, wer am ehesten die Möglichkeiten hat, Spuren an die Nachwelt zu hinterlassen, in der Regel nämlich diejenigen, die die Macht haben, sich selbst zu verewigen und die Lebenszeichen anderer zu verwischen. Diese Siegergeschichten schreiben sich selbst in die Zukunft fort. Daher mahnt Benjamin, wir seien für unsere eigene Zukunft eher auf das „Bild der geknechteten Vorfahren“ angewiesen als auf das „Ideal der befreiten Enkel“ (Benjamin 1992b, 149). Die diachrone Anerkennung ist also in doppelter Hinsicht mit politischen Vorgaben dafür befrachtet, worauf sich dieses gegenwartsüberschreitende Verhältnis beziehen soll: die Verlierer, die Opfer, dezidiert die der Vergangenheit. Das hat die Konsequenz eines notwendigen Nachdenkens über das, was man als „nachgängige Verantwortung“ für Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Untergang bezeichnen mag. Bei einer wirklich offenen Einstellung der Vergangen-

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heit gegenüber muss diese Verantwortung unerträglich, ja erdrückend scheinen, unabhängig von unserer aktuellen Stellung in der Welt. Denn im Angesicht des Wissens um vergangenes Leiden und des Imperativs der Anerkennung verschwinden zeitliche, räumliche und jegliche anderen Gründe für unsere moralische Unzuständigkeit.



Zur Entstehung dieses Buches

Dieses Buch hat eine lange und komplexe Vorgeschichte. Ich kann hier nicht alle Aspekte aufzählen, die an der Entstehung beteiligt waren. Bestimmte intellektuelle Stationen, manche davon lange zurückliegend, sind mir nach wie vor intensiv gewärtig. Teils habe ich diese in kleinen Einschüben im Text verdeutlicht, unter anderem was ein Aufwachsen in den angeblich linken 1960er Jahren in einer bildungsbürgerlichen Familie in einer deutschen Kleinstadt betrifft. Entscheidend für mein Interesse am hier behandelten Thema aber war der direkte Kontakt mit Lagerhaft und Kriegsgefangenschaft. Dies war zum ersten Mal im Jahre 1991 während meiner Tätigkeiten als Übersetzer für das International Committee of the Red Cross (ICRC) in Afghanistan der Fall. Dieselbe Organisation führte mich nach dem 11. September 2001 aus den U.S.A. dorthin zurück. In den Jahren 2002 bis zu meinem Dienstantritt im Jahr 2009 an der Freien Universität Berlin konnte ich dank der großzügigen Unterstützung damaliger KollegInnen am Department of Anthropology der Binghamton University viele Male mit einer kleinen Gruppe des ICRC im Gefangenenlager Guantánamo tätig werden, mit dem Ziel, als unabhängige Organisation die Einhaltung der Genfer Konventionen zu überwachen. Mir steht nicht an, den Erfolg dieser Aktivitäten zu beurteilen, jedoch war ich mir bereits damals der fatalen Geschichte des ICRC im Nazi-Kontext durchaus bewusst (s. Ben-Tov 1990; Moorehead 1998, 329–470). Bei den Besuchen in Guantánamo und Afghanistan habe ich zudem jedes Mal Lektüre mitgenommen, die in irgendeiner Weise mit meiner Arbeit dort zu tun hatte. So habe ich Giorgio Agambens Homo Sacer und Was von Auschwitz bleibt sowie die Erstfassung von Axel Honneths Verdinglichung dort gelesen. Wie in den folgenden Kapiteln deutlich werden dürfte, habe ich einerseits keinerlei Verständnis für etwaige Gleichsetzungen zwischen Guantánamo und Konzentrationslagern der Nazis, sehe auf der anderen Seite aber bei einzelnen Aspekten hochproblematische Linien der Kontinuität. Insgesamt hat mich diese Lektüre aufgrund des beklemmenden Arbeitskontexts sehr viel stärker be-

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einflusst als anderswo Gelesenes. Mein Standpunkt gegenüber etlichen in diesem Buch erörterten Themen hat sich damals wohl aus dem eigentümlichen Zusammentreffen von praktischer Tätigkeit in einer humanitären Organisation und der Lektüre dieser Schriften mit entwickelt. Die Ausgrabungen in Tempelhof und an anderen Orten des 20. Jahrhunderts haben einen erklecklichen Teil meiner intellektuellen Energie in den letzten Jahren beansprucht – zu viel für einen „vorderasiatischen Archäologen“, wie manche meiner KollegInnen vielleicht meinen. Unterstützung für dieses Interesse kam dennoch auch aus dem akademischen Bereich. Ich danke Stefan Burmeister, Matthias Findeisen, Svend Hansen, Barbara Hausmair, Heinrich Härke und Claudia Theune für Interesse am Thema und das Lesen von Teilen des Manuskripts. Barbara Hausmair unterzog dankenswerter Weise den gesamten Text einer unerlässlichen ausführlichen Kritik. Carolin Bierschenk vom transcript Verlag war eine wichtige Hilfe. Frau Dr. Karin Wagner, Leiterin des Landesdenkmalamts Berlin, war und ist eine begeisterte Unterstützerin der Ausgrabungen in Tempelhof, ebenso wie Herr Manfred Kühne von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz. Karoline Georg und Kurt Schilde waren behilflich mit Materialien über das KZ Columbia. Ebenso erhielt ich Unterstützung von Isaac Gilead, Thomas Kersting, Randy McGuire, Michael Meyer, Andreas Nachama, Florian Weiß, Matthias Wemhoff und Michael Wildt. Die an den diversen Ausgrabungskampagnen Beteiligten haben natürlich einen ganz essentiellen Anteil am Zustandekommen dieses Werks. Für Mitarbeit und konstruktive Kritik danke ich besonders Edward Collins, Beatrix Nordheim, Verena Schwartz, Maria Theresia Starzmann und Jan Trenner. Die meisten der hier verwendeten Fotografien stammen von Jessica Meyer. Ihre Illustrationen bereichern nicht nur dieses Buch, sondern ihr einfühlsamer Blick in die Sachwelt der Lager lässt Unterdrückung und Gewalt an mancher Stelle deutlicher werden als viele Worte. Bei Formatierungsarbeiten waren mir Barbara Huber und Arnica Keßeler unerlässliche und zuverlässige Hilfen. Diskussionen mit und Werke von Ella Littwitz haben mir gezeigt, dass Kunst eine Interpretationsmacht hat, die weit über die Mittel der trockenen Wissenschaft hinausreichen kann. Studierende, die an der Ausgrabung teilnahmen, kommen in Kapitel 6 (S. 388 – 400) gesondert, aber ohne Namensnennung ausführlich zu Wort. Ihr kritischer Enthusiasmus, ob in Arbeitszusammenhängen oder Seminaren war und ist für ein ernsthaftes und intellektuell herausforderndes Arbeitsklima unersetzlich. Die Anfangsinitiative zu dem Tempelhofer Ausgrabungsprojekt aber geht auf den „Förderverein zum Gedenken an NS-Verbrechen auf und um das Tempelhofer Feld“ und Beate Winzer zurück, denen hiermit herzlich gedankt sei.

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Ich habe acht Monate an diesem Buch arbeiten können, an einem kongenialen Ort weit entfernt vom akademischen Berufsalltag, weit weg auch von Deutschland. Ich kann dem National Humanities Center im Research Triangle, North Carolina, für die Schaffung von außergewöhnlich konstruktiven Arbeitsumständen gar nicht genug danken, ganz besonders den Bibliothekarinnen Brooke d’Andrade und Sarah Harris. Ich bedanke mich zudem bei allen Fellows, mit denen ich Fragen und Probleme meiner Arbeit tagein, tagaus besprechen konnte. Unter diesen möchte ich besonders Owen Flanagan, Béatrice Longuenesse, Colleen Lye, Jane Newman, Paul und Lynn Otto, Jack Sasson sowie Danny und Judy Walkowitz nennen. Doch alle geographische Entfernung nutzt nichts. Ich habe mich in meinem Office im beschaulichen North Carolina oft gewundert, dass HistorikerInnen der Nazi-Zeit kaum je über das Deprimierende des Themas klagen, an dem sie arbeiten. Ich kann jedenfalls die Bücher von Primo Levi oder Ruth Klüger, Saul Friedländer oder Christopher Browning nicht ohne emotionale Folgen lesen – wohl auch aus dem nagenden Zweifel, nicht zu wissen, wie ich unter den damaligen Umständen gehandelt hätte. Für den notwendigen Zuspruch und unbedingten Rückhalt, die zur Durchführung und Beendigung dieses Textes notwendig waren, gemischt mit Kritik an seinen Unschärfen und Widersprüchen, danke ich zuallererst Susan Pollock.



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Einzelplan in Rolle  März 1942. Allgemeiner Geländeplan mit Einzeichnung von Baracken Bundesarchiv Koblenz NS6/334 (sog. „Normalschrifterlass“ des Kanzlers Bormann) Bundesarchiv Berlin Akte R4606/4891 (Bauantrag und Pläne der Lufthansa für „3 Wohnbaracken und 1 Ausländerwirtschaftsbaracke“) Akte R4606/4916 (Bauantrag vom 15.7.1942 auf Erweiterung des Zwangsarbeitslagers der Weser Flugzeugbau GmbH samt Plänen) Landesarchiv Berlin B Rep.058, Nr. 11047 (Aussage Johannes Lukowski gegen den SS-Mann Karl Fitzner)

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1.1: Lage des Flughafens im städtischen Umfeld Berlins; Google Earth, Bearbeitung Barbara Huber | 27 Abb. 1.2: Foto des Militärgefängnisses und späteren KZ Columbia, Zustand 1897; Landesarchiv Berlin/Waldemar Titzenthaler, F Rep. 290 Nr. II12403 | 29 Abb. 1.3: Kriegerdenkmal auf dem Columbia-Friedhof (Berlin-Tempelhof) von Franz Dorrenbach; Foto des Verfassers | 30 Abb. 1.4: Alter Flughafen aus den 1920er Jahren, von Süden fotografiert; Postkarte im Besitz des Verfassers | 32 Abb. 1.5: Splitterschutzgraben im Lufthansa-Lager mit bei Planierung des Geländes nach dem Krieg zerdrückten Oberkanten der Fertigbauteile; Foto: Landesdenkmalamt Berlin (Jan Trenner/Edward Collins) | 36 Abb. 2.1: Rechnung über 25 ½ Arbeitsstunden polnischer Zwangsarbeiter für Arbeiten an der Startbahn im Bereich eines Lagers der „Weser Flugzeugbau GmbH“; Ordner THF 706, BFG-Archiv | 45 Abb. 2.2: Russische Kriegsgefangene und abgebrannter Ortsteil von Newel, heute Weißrussland, Juli 1941; Foto im Besitz des Verfassers | 58 Abb. 2.3: Rückseite eines Fotos mit der Aufschrift „22.VII.41. Russendurchbruch bei Newel. Tote Kommissarin“; Foto im Privatbesitz des Verfassers | 60 Abb. 2.4: Skizze des Militärgefängnisses und späteren KZ Columbia; Plan mit Einzeichnungen der Fotostandpunkte Karl-Otto Kochs; Geländeplan nach einer Vorlage aus dem Archiv der BFG, modifiziert durch den Verfasser, Realisierung Arnica Keßeler | 68

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Abb. 2.5: Schwarze und weiße gerillte Steinzeugfliesen aus dem Bereich des KZ Columbia, Herstellung zwischen 1890 und 1896, „Utzschneider & Jaunez Thonwaaren-Fabrik“, Saargemünd-Zahna; Foto Jessica Meyer/Landesdenkmalamt Berlin ) | 72 Abb. 2.6: Grundriss-Zeichnung des Ostflügels des KZ Columbia, Erdgeschoss; Ordner THF 669, BGF-Archiv | 75 Abb. 2.7: (a) Ziegelmauer der Treppenwange aus dem KZ-Hof; Foto: Landesdenkmalamt Berlin (Jan Trenner/Edward Collins); (b) Nahaufnahme eines Ziegels mit dem Stempel „Loepten“; Foto Jessica Meyer/Landesdenkmalamt Berlin | 77 Abb. 2.8: Aufsicht des Eingangs in einen Splitterschutzgraben im Bereich des Lufthansa-Zwangsarbeitslagers, Tempelhofer Feld; Foto: Landesdenkmalamt Berlin (Jan Trenner/Edward Collins) | 88 Abb. 2.9: Derselbe Eingang wie in Abb. 2.8, mit Modifikation zur fotografischen Entästhetisierung; Foto: Landesdenkmalamt Berlin (Jan Trenner/Edward Collins); Modifizierung Barbara Huber | 89 Abb. 2.10: Zwei Fotografien einer selbstgefertigten Aluminium-Plakette mit kleinen Bohrungen; Foto Jessica Meyer/Landesdenkmalamt Berlin | 91 Abb. 2.11: Die drei Verweisungsmodi von Dingen; Entwurf des Verfassers, Realisierung Arnica Keßeler | 95 Abb. 2.12: a) Scheibe eines Sauerstoffdruckanzeigers für Flugzeugcockpits, Fl. 30496; b) Teil einer elektrischen Brechkupplung für Flugzeuge, Fl. 27560; c) Schukostecker der Firma Berker, Produktionsdatum 1935; Fotos Jessica Meyer/Landesdenkmalamt Berlin | 103 Abb. 2.13: Aufsicht der Standspur der Fassadenmauer des KZ Columbia mit dem Fassadenknick in der Bildmitte; Foto: Landesdenkmalamt Berlin (Jan Trenner/Edward Collins) | 105 Abb. 2.14: Folgen eines Bombenabwurfs im Winter 1943-44 für das Zwangsarbeitslager „Richthofen“ am Columbia-Damm; Luftbild der Royal Airforce vom 20.2.1944; Wiedergabe mit Genehmigung von NCAP/ncap.org.uk, File NCAP_ACIU_J_0357_4050 | 106 Abb. 3.1: Brosche aus einem Splitterschutzgraben im Zwangsarbeitslager der Firma Weserflug, Berlin-Tempelhof; Foto Jessica Meyer/Landesdenkmalamt Berlin | 135

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Abb. 3.2: Dural-Marken aus dem Splitterschutzgraben im Zwangsarbeitslager der Weserflug, Tempelhof; Foto Jessica Meyer/Landesdenkmalamt Berlin | 139 Abb. 3.3: Baracken 6 bis 8 im Lager der Weserflug am Columbia-Damm mit eingezeichnetem Ausgrabungsschnitt; Foto: Hintergrund: Luftbild der Royal Air Force. NCAP/ncap.org.uk, File NCAP_ACIU_E_0138_ 4094; Eintragungen Jan Trenner/Edward Collins (Landesdenkmalamt Berlin) | 142 Abb. 3.4: Grabungsstelle des Weserflug-Lagers, an der Barackenreste vermutet aber nicht mehr vorhanden waren; Foto: Landesdenkmalamt Berlin (Jan Trenner/Edward Collins) | 143 Abb. 3.5: Drei „dog tags“ von Mitgliedern der U.S. Air Force, Flughafen Tempelhof, aus einem Feuerlöschteich; Foto Jessica Meyer/Landesdenkmalamt Berlin | 149 Abb. 3.6: Geschirr des Hotel Excelsior vom Alten Flughafen Tempelhof; obere Reihe: zwei Teile einer Vorlegeplatte; unten links: flacher Teller; unten rechts: Aschenbecher; Foto Jessica Meyer/Landesdenkmalamt Berlin | 151 Abb. 3.7: Medaillon aus Baracke 8, Tempelhof; Foto Jessica Meyer/Landesdenkmalamt Berlin | 155 Abb. 3.8: Aluminium-Deckel einer Dublosan-Kondomdose aus dem Bereich der Weserflug-Zwangsarbeitslager für sowjetische und französische Kriegsgefangene, Berlin-Tempelhof; Foto Jessica Meyer/Landesdenkmalamt Berlin | 158 Abb. 3.9: Ausschachtungen und Aufmauerung des Kellergeschosses des Henry Ford-Baus der Freien Universität Berlin, Sommer 1958; Freie Universität Berlin, Universitätsarchiv, Fotosammlung | 167 Abb. 3.10: Profil einer 1,80 m tiefen Grube (Nr. 5 auf Abb. 3.11) in BerlinDahlem, Grundstück des ehemaligen KWIA; Foto: Landesdenkmalamt Berlin (Georg Cyrus) | 170 Abb. 3.11: Luftbild des Henry-Ford-Baus (unten rechts) und der Zentralbibliothek (unten links) der Freien Universität Berlin mit sechs Gruben; Google Earth, Bearbeitung Barbara Huber | 172

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Abb. 4.1: Foto und Zeichnung des Reflektortrichters eines Handscheinwerfers, Weserflug-Zwangsarbeitslager, Tempelhofer Feld; Foto Jessica Meyer, Zeichnung Beatrix Nordheim (Landesdenkmalamt Berlin) | 180 Abb. 4.2: Plan der Berliner Flughafengesellschaft (BFG) für Wachrundgänge auf dem Flughafen Tempelhof, Nov. 1941 bis Sept. 1942; BFGArchiv, Ordner 862 | 182 Abb. 4.3: Schematische Wiedergabe der zeitlichen Relationen von Evokationsgegenständen; Entwurf des Autors, Realisierung Arnica Keßeler | 184 Abb. 4.4: Duchamp, Marcel (1887˗1968) Network of Stoppages, 1914. New York, Museum of Modern Art (MoMA). Oil and pencil on canvas, 58 5/8' x 6' 5 5/8' (148.9 x 197.7 cm). Abby Aldrich Rockefeller Fund and gift of Mrs. William Sisler. Acc. n.: 390.1970. © 2017. Digital image, The Museum of Modern Art, New York/Scala, Florence | 188 Abb. 4.5: Der Kugelschreibertyp für Gefangene in Guantánamo; Foto des Verfassers | 191 Abb. 4.6: „Skilcraft“-Kugelschreiber, Fund aus einer Planierschicht nahe der Baseball-Felder am Flughafen Tempelhof; Foto Jessica Meyer/Landesdenkmalamt Berlin | 194 Abb. 4.7: Arm einer Porzellanpuppe aus einem Feuerlöschteich am Tempelhofer Flughafen; Foto Jessica Meyer/Landesdenkmalamt Berlin | 196 Abb. 4.8: Blechdose aus dem Bereich des Weserflug-Zwangsarbeitslagers, Tempelhofer Feld, Berlin; Foto Jessica Meyer/Landesdenkmalamt Berlin | 202 Abb. 4.9: Puppenarm der Abbildung 4.7 aus anderer Perspektive; Foto Jessica Meyer/Landesdenkmalamt Berlin | 210 Abb. 4.10: Rest eines Flaschenöffners aus dem Bereich der Baracke 6, Zwangsarbeitslager der Weserflug, Tempelhofer Feld; Foto Jessica Meyer/ Landesdenkmalamt Berlin | 212 Abb. 4.11: Zahnrad, Fund in einem Feuerlöschteich, Tempelhofer Feld; Foto Jessica Meyer/Landesdenkmalamt Berlin | 213 Abb. 4.12: (a) unten rechts: silberne Mitropa-Kuchengabel (Herstellung 1929) aus einer Grube nahe des Alten Flughafens; (b) großes Bild: dieselbe Gabel, Griffunterseite mit Nutzungsspuren; Foto Jessica Meyer/Landesdenkmalamt Berlin | 236

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Abb. 4.13: Oben: Das „fliegende Mitropa-Restaurant“, die Junkers G 38; mit freundlicher Genehmigung des Archivs Bernd Junkers; unten: das Mitropa-Restaurant am Flughafen Tempelhof, ca. 1935; Postkarte im Besitz des Verfassers | 237 Abb. 4.14: Kupferner und beinerner Ehering aus dem Bereich von Baracke 8, Zwangsarbeitslager der Weserflug, Tempelhofer Feld; Foto Jessica Meyer/Landesdenkmalamt Berlin | 239 Abb. 4.15: Schnecke eines Saiteninstruments aus den Schichten unter Baracke 17 des Tempelhofer Weserflug-Lagers; Foto Jessica Meyer/Landesdenkmalamt Berlin | 240 Abb. 4.16: Luftbild der Royal Air Force (RAF) vom 6.9.1943, neues Flughafengebäude links im Bild; Wiedergabe mit Genehmigung von NCAP/ncap.org.uk, File NCAP_ACIU_E_0138_4094 | 246 Abb. 4.17: Weserflug-Baracken und -Montagehallen im Flughafen Tempelhof, Lufthansa-Baracken und -Montagehallen; Plan des BFG-Archivs, Ordner 862 | 247 Abb. 5.1: Plan der Baracke 13 des Weserflug-Lagers in Tempelhof; BFGArchiv, Ordner 811 | 261 Abb. 5.2: Plan von Camp 1, Guantánamo Bay, 2003, Buchstaben A bus I bezeichnen jeweils einzelne Baracken („blocks“); Umzeichnung nach https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Map_of_camp_delta_from _%22Camp_Delta_Standard_Operating_Procedure%22.jpg (open ac cess file) | 261 Abb. 5.3: Containerunterkünfte in Wünsdorf-Waldstadt, Herbst 2015; mit Genehmigung der Firma Jokeair; https://www.google.de/search?q=w%C3%B Cnsdorf+waldtadt+jokeair&client=firefox-b&source=lnms&tbm=isc h&sa=X&ved=0ahUKEwit5LzGj8PUAhXJKFAKHR0dDWAQ_AU ICygC&biw=1267&bih=753#imgrc=UO_9qq-vQ-5ABM: | 262 Abb. 5.4: Reichsarbeitsdienstlager nahe Bad Salzschlirf am Ostrand des Vogelsbergs; Postkarte im Besitz des Verfassers | 269 Abb. 5.5: Skizze des Weserflug-Zwangsarbeitslagers am Columbia-Damm; Bundesarchiv BArch R4606/4916 | 277

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Abb. 5.6: Schnitt 17 der Ausgrabung auf dem Tempelhofer Feld mit unterbödig verlaufendem Stacheldraht, der zwei Baracken im für „russische Männer“ ausgewiesenen Bereich trennte; Foto: Landesdenkmalamt Berlin (Jan Trenner/Edward Collins) | 281 Abb. 5.7: (a) Zwei ineinander verschmolzene Emailleschüsseln; (b) und (c): Innenseite und Boden von verbrannten Exemplaren der PorzellanSuppenteller des Sets „Schönheit der Arbeit“; Foto Jessica Meyer/ Landesdenkmalamt Berlin | 285 Abb. 5.8: „Agency“ in Giddens’ Strukturationstheorie und in Gells Auseinandersetzung mit Kunst; Entwurf des Autors, Realisierung Arnica Keßeler | 291 Abb. 5.9: Das Verhältnis von Gesellschaft und Subjekt nach Adorno; Entwurf des Autors, Realisierung Arnica Keßeler | 295 Abb. 5.10: (a) Regal mit Funden in der „Mülltonnenwaschanlage“, Tempelhofer Feld; Foto Jessica Meyer/Landesdenkmalamt Berlin; (b) Ausstellung am Herzliya-Museum nahe Tel Aviv, Israel: „What there is/What is there?“; Ella Littwitz, Jaffa, Israel | 304 Abb. 5.11: Schloss und Schlüssel, Puppenarm; 3D-Scans von Funden vom Tempelhofer Feld, in der Installation „What there is /What is there?“; mit freundlicher Genehmigung von Ella Littwitz, Jaffa, Israel | 305 Abb. 5.12: (a) Rosenkranz-Fragment in umgebendem Boden; (b) dasselbe Fragment, in Annäherung an ursprüngliche Form ausgelegt; (c) dasselbe Fragment, gerade ausgelegt; Foto Jessica Meyer/Landesdenkmalamt Berlin | 309 Abb. 6.1: Schriftzug „Tempelhofer Freiheit“; nach den Design-Vorlagen der Tempelhof Projekt GmbH | 336 Abb. 6.2: Blumen am Bauzaun des KZ Columbia, Sommer 2013; Foto Susan Pollock | 338 Abb. 6.3: Ausgrabungsteam im Sommer 2013 am Zwangsarbeitslager der Weserflug vor einem Kunstwerk von Robert Montgomery; Foto: Landesdenkmalamt Berlin (Jan Trenner/Edward Collins) | 341 Abb. 6.4: Profil aus der Umgebung einer Speisebaracke nahe des LufthansaZwangsarbeitslagers am „Alten Flughafen“; Landesdenkmalamt Berlin (Foto und Fotoentzerrung Edward Collins) | 346

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Abb. 6.5: Das Weserflug-Lager am Columbia-Damm, Tempelhof; nach F.Herbert Wenz 2006, S. 137 | 357 Abb. 6.6: Ansicht der Fläche des ehemaligen Weserflug-Lagers von Westen, Juni 2017; Foto des Verfassers | 358 Abb. 6.7: Komplette Gegenstände aus Entsorgungskontexten in Tempelhof, datierend in die Nachkriegszeit: (a) U.S.-amerikanisches SoldatenEssgeschirr; (b) Parker-Tintenfass; (c) „Bromo-Seltzer“ Flasche; Foto Jessica Meyer/Landesdenkmalamt Berlin | 361

Der Verfasser hat sich um Einholung aller Bildrechte bemüht. Da die Urheber und Urheberinnen nicht in allen Fällen eindeutig auszumachen waren, werden Ansprüche nach Geltendmachung vom Verfasser erstattet.

ABDRUCKGENEHMIGUNG G EDICHTE „Hände“, aus: Nelly Sachs, Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Herausgegeben von Aris Fioretos, Band 1: Gedichte 1940-1950. Herausgegeben von Matthias Weichelt. © Suhrkamp Verlag Berlin 2010. | 211 „Echoes“, Tafel am Tempelhofer Feld; mit freundlicher Genehmigung von Robert Montgomery | 341

Tabellenverzeichnis

Tab. 2.1: Umlauf-Zeiten einer Rechnung der Firma Gresitza, Luftwaffe Tempelhof und Weserflug | 51 Tab. 2.2: Zellengrößen (in m) im KZ-Columbia | 77 Tab. 3.1: Fundstellen von 27 Duralmarken, dreistellige Nummern und ein Versuch, Nichtwissen explizit zu machen | 137 Tab. 4.1: Zu- und Abnahme der Barackenzahlen im Weserflug-Lager am Columbia-Damm, Berlin-Tempelhof | 244 Tab. 5.1: (a) Vergleich einiger formaler Charakteristika von Baracken/Blocks/ Containern in einem Zwangsarbeitslager (Tempelhof, 1943), einem Hochsicherheitsgefängnis (Guantánamo, 2003) und einem Flüchtlingslager (Wünsdorf, Zustand 2015); (b) Umsetzung von Tabelle 5a in einen Ähnlichkeitskoeffizienten | 264 Tab. 5.2: Verteilung von Porzellan-Tellern mit dem Stempel „Schönheit der Arbeit“ in den Baracken 6 bis 8 des Lagers der Weserflug GmbH in Tempelhof | 284 Tab. 5.3: Rosenkranz-Fragmente und ihre Einordnung in die Gesamtstruktur des Gegenstands | 310 Tab. 6.1: Vergleich dreier Tierarten in den Fauna-Assemblagen der Grube 41 am Alten Flughafen in Tempelhof | 347

Geschichtswissenschaft Torben Fischer, Matthias N. Lorenz (Hg.)

Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945 2015, 494 S., kart. 34,99 E (DE), 978-3-8376-2366-6 E-Book PDF: 34,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-2366-0

Debora Gerstenberger, Joël Glasman (Hg.)

Techniken der Globalisierung Globalgeschichte meets Akteur-Netzwerk-Theorie 2016, 296 S., kart. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3021-3 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3021-7

Alban Frei, Hannes Mangold (Hg.)

Das Personal der Postmoderne Inventur einer Epoche 2015, 272 S., kart. 19,99 E (DE), 978-3-8376-3303-0 E-Book PDF: 17,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3303-4

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Geschichtswissenschaft Manfred E.A. Schmutzer

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Pascal Eitler, Jens Elberfeld (Hg.)

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Thomas Etzemüller

Auf der Suche nach dem Nordischen Menschen Die deutsche Rassenanthropologie in der modernen Welt 2015, 294 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3183-8 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3183-2

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