Marxismus - Leninismus: Geschichte und Gestalt [Reprint 2020 ed.] 9783110848045, 9783110050226


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German Pages 232 [236] Year 1962

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Marxismus - Leninismus: Geschichte und Gestalt [Reprint 2020 ed.]
 9783110848045, 9783110050226

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UNIVERSITÄTSTAGE 1961

VERÖFFENTLICHUNG DER FREIEN U N I V E R S I T Ä T

BERLIN

MARXISMUS - LENINISMUS G E S C H I C H T E U N D GESTALT

WALTER

DE G R U Y T E R

& CO.

/

BERLIN

VORMALS G. J. GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG • J. GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG • GEORG REIMER • KARL J. TRÜBNER • VEIT & COMP.

1961

Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. O h n e ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen.

INHALTSVERZEICHNIS DIETER

HENRICH:

K a r l Marx als Schüler Hegels OSSIP K .

FLECHTHEIM:

M a r x und die Sozialdemokratie H.-J.

GUSTAV A . WETTER

WERNER

69

MEDER:

Die Entwicklung der sowjetischen Staats- und Rechtstheorie RICHARD

51

PHILIPP:

Wandlungen der Sowjethistoriographie WALTER

32

SJ:

Mensch und N a t u r beim jungen Marx und im Diamat

89

LANGE:

Das Problem der Objektivität im Recht

104

BORINSKI:

Erziehung und Bildung in der Sowjetunion MAX

20

LIEBER:

Der Leninismus als philosophisches System

FRITZ

5

116

BRANDT:

Einige Grundfragen medizinischer Forschung in der Sowjetunion . . 1 2 9 HEINZ MÜLLER-DIETZ :

Die Situation des Arztes in der Sowjetunion MARCEL

Marxismus und JURIJ

Atheismus

160

STRIEDTER:

Persönlichkeit und Kollektiv im Sowjetroman der Gegenwart . . . . JÜRGEN

RÜHLE:

D i e Rolle des Theaters in der sowjetischen Gesellschaft

WOLFGANG

C.

169 185

FÖRSTER:

Strukturen der Sowjetbetriebe in Theorie und Praxis KARL

143

REDING:

203

THALHEIM:

Grundsätze und Methoden der Entwicklungsplanung im Sowjetsystem 217

KARL MARX ALS SCHÜLER HEGELS Von D i e t e r

Henrich

Die Absicht dieses Vortrages ist eine historische. Er soll dazu beitragen, die Beziehungen des Marxismus zu Hegel zu klären. Von der Aufgabe, die Weise zu kritisieren, in der Marx an da$ System Hegels angeknüpft hat, sieht er ganz ab. Dazu wäre es nötig, auf Hegel selbst einzugehen, und das würde die für einen so kurzen Vortrag ohnehin schwierige Problematik bis zur Verwirrung komplizieren. Als anerkannt gilt: Es ist unmöglich, das Werk von Karl Marx zu verstehen, ohne sein Verhältnis zu Hegel zu bestimmen. Zu einer Zeit, als er sich davon keine günstige Wirkung versprechen konnte, hat er selbst bekannt, Schüler Hegels zu sein, und ihn einen ,großen Denker' genannt. Die Bemerkung von Engels entspricht der Wahrheit, daß er und Marx fast die einzigen gewesen seien, die an der von Hegel entdeckten Methode der Wissenschaft festgehalten haben in einer Periode, die sich ganz von Hegel entfernt hatte. Deshalb war auch der ursprünglich politische Versuch, im letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts unternommen, die sozialistische Partei auf eine andere Grundlage als die der marxistischen Revolutionstheorie zu stellen, mit dem Unternehmen verbunden, die hegelianischen Implikationen des Marxismus zu kritisieren. Ebenso ausgemacht ist es aber, daß das Problem, Marx in eine bestimmte Beziehung zu Hegel zu bringen, noch eine andere Seite hat. Noch mehr als seine Schülerschaft liegt nämlich seine Entgegensetzung gegen Hegel offen zutage. So hat es in der Geschichte der Interpretation von Marx auch nicht an Stimmen gefehlt, die dem Marxismus im Namen Hegels das Recht einer Berufung auf ihn bestritten. Sie erklärten ihm, er sei, in unsauberer Gestalt, schon genau das, wozu ihn die reformistische Kritik erst umwandeln wollte, nämlich Empirismus, wenn auch ein von dogmatischer Vormeinung gesteuerter. In diesen beiden Formen der Kritik sind Momente aus Marxens Selbstauslegung übernommen. Gewöhnlich werden sie zusammengebracht mit Hilfe eines Bildes, das von ihm selbst gebraucht worden ist: Man sagt, Marx habe eine ,Umkehrung' der Theorie Hegels vollzogen. Hegel selbst hatte einmal davon gesprochen, daß dem natürlichen Bewußtsein, das zur philosophischen Wissenschaft nicht vorbereitet und bereit ist, deren Gehalt als verkehrte Welt erscheine. Um die Wahr5

heit und die richtige Perspektive dieser Welt einzusehen, müsse es gelehrt und genötigt werden, sich auf den Kopf zu stellen, — das heißt f ü r Hegel auf das reine Denken. Marx hingegen meint, der verrückte Anblick der Wahrheit, den die Philosophie; dem natürlichen Bewußtsein bietet, sei nicht durch dessen Verstellung, sondern durch eine Verrückung der Philosophie selbst zu erklären. Und deshalb werde ihre Wahrheit nur dann einleuchten, wenn man die Philosophie und ihre Methode aus dem Kopfstand in ihre rechte Stellung ,umstülpe'. Nicht auf dem Kopf, das heißt f ü r Marx mit den Beinen auf der Erde stehen. Angewendet auf Hegels Philosophie meint er damit, daß sie den rechten Gehalt, nämlich die vernünftige Analyse der Wirklichkeit, und die rechte Form, nämlich das dialektische Verfahren, in einer unförmigen und unwirklichen Gestalt entwickelt habe. Es komme nun darauf an, den wahren Grund beider in der Erfahrung aufzusuchen. Diese Rede von der Umkehrung der Hegeischen Philosophie, eine Rede übrigens, die selbst die Sprache Hegels spricht, darf nicht f ü r mehr gelten als für ein Bild und die Anzeige eines Problems. In ihr ist noch nicht zu erkennen, ob überhaupt und wie sich Hegel als einer solchen Umkehrung zugänglich erweist und welche Züge seine Lehre annimmt, wenn sie auf verkehrter Grundlage aufruht. In ihr wird weiter, und dies vor allem, noch nicht zu verstehen gegeben, kraft welcher Notwendigkeit sie sich dieser Umkehrung unterziehen muß und in welchem Sinn sie nachher noch als Theorie in der Nachfolge Hegels zu erkennen ist. Seit Jahrzehnten wollen die Interpreten des Werkes von Karl Marx dies verständlich machen, ohne aber bisher dabei zu einem Ende gekommen zu sein. In neuerer Zeit hat diese Aufgabe, die zunächst eine systematische ist, einen neuen, den biographischen Aspekt erhalten. Das, was Marx die Umkehrung Hegels nannte, ist nämlich nicht das Resultat einer Forschung, die ihren Ursprung in der Konfrontation mit Sachverhalten der Erfahrung hat. Sie ist der Prozeß der Entwicklung eines Werkes, das in ständiger Beziehung auf die Probleme zustande gekommen ist, die Marx von Hegel vorgegeben waren. Der junge Marx, formal Student der Berliner juristischen, in Wahrheit aber der philosophischen Fakultät, hat sich zunächst gegen Hegels Einfluß gewehrt. Dies System schien ihm monumental und grotesk zugleich zu sein. Dennoch war es die Erfahrung seiner Studienzeit, daß jeder Versuch, ihm zu entrinnen, ihn immer fester an es kettete, so daß er es schließlich als die ,jetzige Weltphilosophie' anerkennen mußte. (8)1 Seine Erfahrung verband ihn mit der Überzeugung derer, die selbst noch Hörer Hegels gewesen und denen seine Lehre nicht Monument einer schon vergehenden, sondern Aufgang einer neuen Welt gewesen war. Der Schritt über Hegel hinaus konnte nicht an ihm vorbei, sondern nur durch ihn hindurch 6

und auf seinen Grund zur Wahrheit führen, von der Marx und seine Freunde allerdings meinten, daß sie noch ausstehe. Der Weg, dessen Anfang durch diese Erfahrung bezeichnet ist, gliedert sich deutlich in zwei Abschnitte. Und die Marxismusinterpretation in Ost und West ist damit befaßt, sie gegeneinander abzusetzen. Der zweite beginnt mit dem kommunistischen Manifest, dem frühesten Dokument der im Inhalt und auch im Stil voll entfalteten Lehre. Der erste schließt die verschiedenen Phasen der Auseinandersetzung mit Hegels Weltphilosophie ein, während der zweite durch ein beiläufigeres und oftmals ironisch-distanziertes Verhältnis zu Hegel gekennzeichnet ist, das Marx nur noch gelegentlich auf ihn als auf seinen Lehrer Bezug nehmen läßt. N u n gibt es zwei Klassen von Interpretationen, die sich darin unterscheiden, wie sie das Verhältnis der beiden Wegabschnitte von Marxens philosophischer Entwicklung beurteilen. Die orthodoxe Darstellung des Ostens beruft sich auf Selbstzeugnisse, die besagen, daß die erste Wegstrecke für Marx nur Selbstverständigung und Befreiung von fossilen Resten idealistischer Begrifflichkeit gewesen sei, eine Befreiung zur Wissenschaft, die zwar von Hegel wesentliches übernommen habe, aber aus dem Zusammenhang mit ihm grundsätzlich herausgetreten sei. N u r der zweite Wegabschnitt habe Dokumente genuin marxistischen Denkens hervorgebracht. Dagegen wollen viele im Westen erschienene Interpretationen zeigen, daß Marxens eigentliche Motive in den Manuskripten seiner ersten Entwicklungsphase aufgesucht werden müssen. Die späteren Publikationen seien teils nur die ökonomische Ausarbeitung einer inzwischen halb vergessenen Theorie, — teils aber, sofern sie offenbar vom frühen Werk abweichen, seien sie Mißverständnisse und Simplifizierungen, die vor allem von Engels verschuldet worden sind. Sie müßten rückgängig gemacht werden, wenn man die marxistische Philosophie in einer besseren Gestalt als in der Versteinerung einer Parteidoktrin sehen und verwirklichen will. Rückgang auf den jungen Marx, das ist in dieser letzten, durchaus politisch gemeinten Absicht die Forderung der marxistischen Opposition gegen Lenin und den Stalinismus, das ist die Parole von Ernst Bloch und seinen Schülern, der französischen Marxisten außerhalb der Partei und vieler polnischer, ungarischer und jugoslawischer Intellektueller. Bei dem Versuch, in ein nicht von politischen Fragen befangenen Verhältnis zum Problem der Entwicklung von Karl Marx einzutreten, zeigt es sich nun, daß beide Interpretationen den wahren Sachverhalt verzeichnen. Beide kommen sie nicht aus, ohne in diesem Entwicklungsgang einen Bruch anzunehmen. Auf der einen Seite wird er dargestellt als eine Entdeckung, welche die Schülerschaft zu Hegel beendet, auf der anderen als ein Abfall oder doch als eine größere Entfernung von

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zuvor schon erreichter Einsicht. Es ist nicht schwer, den unhistorischen Charakter beider Interpretationen zu erkennen. Gerade die Theorien bedeutender Köpfe von der Konsequenz, die auch Karl Marx eignet, lassen sich stets nur dann durchsichtig machen, wenn man zu keinem Zeitpunkt absieht von dem Ausgang, den sie genommen haben. Auch die Unzulänglichkeiten und offenen Probleme, die in ihnen verblieben sind und im Falle von Marx verbleiben müssen, können allein aus dieser Beziehung aufgeklärt werden. In ihr wird die Kontinuität einer Entwicklung und die historische Dimension eines Werkes sichtbar, das selbst schon Geschichte gemacht hat. Es soll und kann nicht bestritten werden, daß sidi in Marxens Denken und in seinem Verhältnis zu Hegel eine wesentliche Wandlung vollzogen hat. Es wird aber bestritten werden müssen, daß sie den Charakter eines Umbruches hat. Daraus folgt einmal, daß es unzulässig ist, von der Beziehung der Theorie, die heute dialektischer Materialismus heißt, auf Hegel als auf ihren Ausgang zu abstrahieren. Von ihr abzusehen bemüht sich die Marxinterpretation der östlichen Parteien. Daraus folgt weiter, daß es keine überzeugende Möglichkeit gibt, dieser Theorie eine Lehre des jungen Marx entgegenzusetzen. Daß Marx nur als Schüler von Hegel zu interpretieren ist, kann, wie sich von selbst versteht, nicht heißen, er sei im Grunde Nachfolger und Adept geblieben. Das Bild von der ,Umkehrung' der Hegeischen Philosophie hat, als Anzeige, seinen Wahrheitswert. Aber Schülerschaft besagt mehr als Nachfolge. Der Schüler eignet sich die Meinung des Lehrers nicht an, indem er sich in ihr bewegen und sie imitieren lernt. Ein Lehrer ist uns der, der Antwort gibt auf unsere eigenen Fragen und der uns befähigt, sie besser zu stellen. Ohne ihn hätten wir nicht so gefragt, wie wir es nun tun. Der gute Schüler stellt aber Fragen, die der Lehrer selbst sich nicht vorgelegt hat. In ihnen macht er das Ganze dessen zum Problem, was ihm als Wahrheit gelehrt worden ist. So ist einer Schüler gerade dann, wenn er der Lehre nicht folgt, sofern nur seine ,Unfolgsamkeit' daraus entsteht, daß er dem Lehrer begegnet ist. Der gute Schüler ist gegen den Lehrer er selbst, aber nichts ohne ihn. Nicht anders und mehr noch als für Katheder und Schulbank gilt dies für den Traditionszusammenhang der Philosophie, es gilt auch für das Verhältnis von Marx zu seinem Lehrer Hegel. Die These, die in diesem Vortrag, wenigstens in einem Umriß, begründet werden soll, kann deshalb so formuliert werden: Zwar gibt es eine Wandlung im Entwicklungsgang von Karl Marx. Nichtsdestoweniger ist sein Weg in ungebrochener Kontinuität derselbe geblieben, so sehr, daß jene Wandlung und ihr Resultat als die Konsequenz seines Beginns verstanden werden müssen. Nun ist aber dieser Beginn durch zwei Momente bestimmt: Durch einen Einwand gegen Hegel und durch 8

das unbeirrbare Festhalten an einem hegelschen Gedanken. Jener Einwand entspricht dem Bild von der Umkehrung, dieses Festhalten dem, daß sie eine Umkehrung der Philosophie Hegels ist. Mit dem einen ist Marx in die Reihe der Kritiker Hegels getreten, mit dem anderen ist er dennoch einer seiner konsequentestens Schüler geblieben. Unter seinen Freunden, die Hegel überwinden wollten, war Marx der beste Hegelianer. Frühe Abweichungen von der späten Lehre sind der Folgerichtigkeit seines Weges zum Opfer gefallen. Marx* Einwand gegen Hegel enthält in seiner ursprünglichsten Form noch nichts für ihn Spezifisches. Er besagt: Das System der Philosophie hat Hegel wohl abgeschlossen. Es ist ihm wirklich gelungen, das Ganze dessen, was ist, in Begriffe zu übersetzen und in Verstehen aufzulösen, den Gedanken von der Notwendigkeit der Vernunft als Grund der Welt zu fassen. Damit ist die bisherige Philosophie in ihr Ende gekommen. Marx meint aber, es bleibe noch eine Einseitigkeit zurück, wenn die Philosophie das Vernünftige in der Wirklichkeit nur in der Gestalt des Begriffes faßt. Wenn Hegel sagt, die Vernunft im Seienden komme in der Philosophie zu ihrer eigentlichen Existenz, so ist damit zugleich zugegeben, daß sie solches Bewußtsein wohl im Begriff der Wissenschaft, nicht aber in der Wirklichkeit selbst besitzt. Das Vernünftige muß also noch durch die Philosophie verwirklicht werden. Nun wird mit diesem Einwand gegen Hegels Lehre von der Versöhnung des Bewußtseins und der Wirklichkeit eine Differenz gekehrt, von der Hegel geglaubt hatte, es sei sein eigentliches Verdienst, sie überwunden zu haben. Karl Marx ist sich darüber wohl im klaren gewesen. Seine Kritik an Hegel geschieht im Namen von dessen eigenem Prinzip. Es aufgeben würde heißen, hinter seine Leistung zurückfallen. Diese Leistung ist der Gedanke der Vermittlung der Gegensätze zur Einheit, der Vermittlung vor allem auch des Gegensatzes von Begriff und Wirklichkeit. Das Grundargument der ursprünglichen marxistischen Kritik ist, daß diese Vermittlung in Wahrheit nicht zu erreichen ist zwischen einer bestehenden Wirklichkeit und einer nur theoretischen Philosophie. Hegel überwinden wollen bedeutet für sie, eine Kritik an der Einseitigkeit des theoretischen Begriffs durchzuführen, ohne das Prinzip der Einheit von Begriff und Wirklichkeit preiszugeben. Denn es erreicht zu haben, macht das unverlierbare Verdienst von Hegels Weltphilosophie aus. Karl Marx steht also schon am Beginn seines Weges vor der Aufgabe, zwei Gedanken fugenlos miteinander zu verbinden: Die Einsicht in das Ungenügen der nur theoretischen Form von Hegels Philosophie mit der Einsicht, dennoch Philosophie und Welt, Begriff und Wirklich-

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keit in einer Einheit von jener Struktur zu denken, die zum ersten Male von Hegel entwickelt worden ist. Bald sollte es sich als sehr schwierig erweisen, diese Aufgabe zu lösen. Es bestehen nicht wenige Gründe für die Vermutung, daß sie unlösbar ist. Aber es ist die Leistung von Karl Marx als Denker, daß er an ihr unbeirrt festgehalten hat und daß er es verstand, sie energischer als seine Freunde in ihre Konsequenzen zu entfalten. Fragt man sich, was eigentlich das Spezifische des philosophischen1 Gehalts der marxistischen Theorie sei, so wird man als Antwort geben müssen: Die Verbindung dieser beiden Probleme. Marx hat in den Jahren bis zum Erscheinen der ,Deutsch-Französischen Jahrbücher' eine Reihe wesentlicher Anregungen erhalten. Wenn man seine Pariser Manuskripte in ihre Elemente auflöst, so findet sich unter ihnen nicht eines, das nicht einem anderen seiner Weggefährten zugeschrieben werden müßte. Aber es wäre doch falsch, Marx einen Eklektizismus vorzuwerfen. Denn es ist gerade das Eigentümliche seines Versuches, daß er in eine innere Verbindung bringt, was bei den anderen nur als isolierter Gedanke erschienen war. So wenig es Hegels Bedeutung mindert, daß in seinem Werk Fichte und Schelling zusammengebracht worden sind, so wenig läßt sich Karl Marx auf Bruno Bauer, Ludwig Feuerbach und Moses Heß reduzieren. Die Verbindung der beiden Probleme, Aufhebung des reinen Begriffs und Bewahrung der Einheit von Begriff und Wirklichkeit, machen Marxens kritische Schülerschaft gegenüber Hegel aus. Sie soll nun zunächst näher dargestellt werden in ihrer Auswirkung auf die vier Stufen der Entwicklung seiner Gedanken, die allesamt Konsequenzen aus seiner anfänglichen Problemstellung sind. Dann soll der Sinn der Rede von der Umkehrung an einem Beispiel der reifen Hegelkritik von Marx erläutert werden. Die Stufen in der Entwicklung des Theoretikers Marx lassen sich nicht immer zeitlich, wohl aber logisch eindeutig voneinander unterscheiden. In der Orientierung an unserer These ist es darüberhinaus möglich, ein Gesetz anzugeben, unter dem der Fortschritt von dem jeweils einen zum anderen Standpunkt steht. Es lautet so: Marx hat auf allen Stufen seiner Entwicklung einen neuen Gedanken aufgenommen. Er hat ihn sich deshalb zu eigen gemacht, weil er ein Element zur Lösung seines Ausgangsproplems enthielt. Aber er hat zugleich und unmittelbar gegen jeden von ihnen zweierlei ins Spiel gebracht: Zum einen das Prinzip der Einheit von Wirklichkeit und Begriff, zum anderen alle die Gedanken, welche er zuvor schon aus anderer Quelle entnommen und gegen Hegel zur Geltung gebracht hatte. Im frühen Werk von Marx wird immer der neue Gedanke zum Moment in einem Ganzen durch eine doppelte Umdeutung: Er wird in 10

Verbindung gebracht mit Hegels Identitätsprinzip und mit dem Inbegriff der bisherigen linken Hegelkritik. Von ihr wird gesagt, sie habe an jenem Prinzip fälschlich nicht festgehalten. Das ist im Einzelnen aufzuzeigen. a) Als Mitglied des Berliner Doktorclubs bewegte sich Marx im Umkreis der kritischen Philosophie von Bruno Bauer. In ihr haben sich die Gesichtspunkte der Religionskritik von Strauß und der Philosophie der Tat des polnischen Grafen Cieszkowski vereinigt. Es war Bauers Meinung, daß Hegels Werk sich vollenden wird, wenn es nicht nur die Welt vernünftig interpretiert, sondern die Notwendigkeit selbst ins Werk setzt, daß die Welt vernünftig werde. In der Aktion, die die Welt verändert, gibt die Theorie ihre Reinheit auf und ist als Tat Vernunft und Wirklichkeit in einem. Die angemessene Form solcher T a t ist aber die Kritik, zunächst die Kritik der Religion, dann der bestehenden Verhältnisse im preußischen Staat, der seiner Bestimmung ohne die Praxis der Philosophie nicht gerecht werden kann. ,Ohne durch das Feuer der Kritik gegangen zu sein, wird nichts in die neue Welt, die nahe herbeigekommen ist, eingehen können'. 3 Marx hat immer an dem Gedanken festgehalten, die Philosophie vollende sich erst in der Praxis. Am eindringlichsten formuliert findet sie sich aber schon in seiner Dissertation. ,Die Philosophie, die zur Welt sich erweitert hat, wendet sich gegen die erscheinende Welt. So jetzt die Hegeische.' (12/3) .Begeistert mit dem Trieb, sich zu verwirklichen, tritt (sie) . . . in Spannung gegen anderes . . . Was innerliches Licht war, wird zur verzehrenden Flamme.' (17) ,Allein die Praxis der Philosophie ist selbst theoretisch. Es ist die Kritik, die die einzelne Existenz am Wesen . . . mißt.' (16) Und noch in den Thesen über Feuerbach heißt es, die Philosophie müsse die Welt verändern als revolutionäre, und das heißt als praktisch-kritische Tätigkeit (339). Und doch hat Marx der Kritik Bauers zu keiner Zeit bescheinigt, eine zureichende Verwandlung des Problems von Hegel zu sein. Denn f ü r sich allein genommen f ü h r t sie in einen Widerspruch mit Hegels Prinzip, daß das Wahre das Ganze ist. Sie selbst erscheint als Ausdrude des Gegensatzes von Begriff und Wirklichkeit, den sie doch Hegels Philosophie des Geistes vorwerfen will. Als eine der Wirklichkeit gegenüberstehende Macht läßt sie die Philosophie zur Kritik werden. Marx folgert deshalb: So notwendig es ist, die Philosophie in der kritischen Tat zu vollenden, so notwendig ist es audi, die kritisierende Vernunft nicht als eine autonome Potenz gegenüber der Wirklichkeit aufzufassen. Das bedeutet einmal, daß die Philosophie, die sich gegen die unwahren Verhältnisse kritisch wendet, sich selbst als das komplementäre Produkt dieser Verhältnisse auffassen muß. Das bedeutet weiter, daß sie in der Kritik ihre Form aufgeben muß, reine Philosophie zu 11

sein. ,So ergibt sich die Konsequenz, daß das Philosophisch-Werden der Welt zugleich ein Weltlich-Werden der Philosophie, daß ihre Verwirklichung ihr eigener Verlust, daß, was sie nach außen bekämpft, ihr eigener innerer Mangel ist'. (17) Die kritische Philosophie, kritisch gegen ihren Widerpart, verhielt sich unkritisch zu sich selbst, indem sie von den Voraussetzungen der Philosophie ausging. Sie glaubte, die Philosophie verwirklichen zu können, ohne sie aufzuheben*. (215) Deshalb ist Bruno Bauer auch nicht zu einer konkreten Kritik von Hegels Philosophie gelangt. So hat er sich, da er doch Hegel in einer Philosophie der Tat verwirklichen wollte, als ein schlechter Schüler Hegels erwiesen. Das Ergebnis seines Hinausgehens über ihn war ,ein völlig kritikloses Verhalten zur Methode des Kritisierens' (249). b) Trotz dieser Unterscheidung von Bauer ist es offenkundig, daß auf der ersten Stufe der Entwicklung von Marx seine Verbindung der Philosophie der Tat mit Hegels Einheitspostulat noch ein bloßes Programm geblieben ist. Es mußte nun der Grund der Entzweiung von Philosophie und Welt und die Möglichkeit ihrer kritischen Entgegensetzung in der Welt selbst aufgewiesen werden. Die wirkliche Einheit der beiden war durch die Kritik an der Einseitigkeit des kritischen Standpunktes noch nicht in den Blick gebracht. Durch die Philosophie der Tat Hegel aufheben konnte nur heißen, diese Philosophie als ein notwendiges Moment im Ganzen der Wirklichkeit begreifen. Mit diesem Programm ist Marx vor die Notwendigkeit gelangt, für den Gegensatz von Begriff und Welt ein anderes Subjekt als den Hegeischen Geist anzugeben, das aber die Funktion erfüllt, den Gegensatz von Bewußtsein und Wirklichkeit in sich aufzuheben. Im System des Leninismus steht der Begriff der Materie an dieser Stelle in einer Eindeutigkeit, die sich bei Marx selbst nicht findet. Für ihn war es Ludwig Feuerbach, der ihm die Mittel in die Hand gab, die Position Bruno Bauers mit konkreteren Ergebnissen zu verlassen. Zumindest für die Religion bot Feuerbadi für Marx das Beispiel einer Kritik, die eine bessere Grundlage hat als die selbstgenugsame oder die praktisch gewordene reine Idee. Er hatte den Versuch gemacht, einen anderen Begriff von der Wirklichkeit aufzustellen, in der jede Form einer vermeintlich autonomen Theorie ihre Grundlage hat. Für sich genommen ist dieser Begriff denkbar einfach und im Vergleich mit Hegel primitiv zu nennen: Der Mensch ist sinnliches Wesen und hat das Fundament seines Daseins in der Natur. Zugleich aber ist er ein Wesen, das unter dem Gesetz lebt, sich mit anderen zu verbinden und an ihnen sich seiner selbst bewußt zu werden. Solange er seine Bedürfnisse nicht befriedigen kann und solange sein gemeinsames Leben mit anderen mißlingt, projiziert er die ersehnte Welt, die ihm versagt ist, in das Schattenreich des Begriffs. 12

Marx hat diese Theorie begeistert begrüßt, aber nur als ein Moment in einem Ganzen, das Feuerbach selbst verschlossen blieb. Er stellte gegen sie Hegels Einheitsgedanken. Und er hielt gegen sie zugleich die Wahrheit der kritischen Philosophie aufrecht, an der er, für sich genommen, kein Genügen fand. Er argumentiert deshalb so: Feuerbach besitzt keinen umfassenden Begriff von Wirklichkeit. So kann er die Bedingungen der Entzweiung zwischen Begriff und Welt nicht aufdecken. Und er kennt nicht das tätige-kritische Wesen des Menschen. Deshalb kann er die Bedingungen nicht angeben, unter denen die Entzweiung des Menschen mit seinem wahren Wesen in der Tat aufgehoben werden kann. Feuerbachs Begriff des sinnlich-natürlichen Wesens Mensch ist zu arm, er bestimmt den Begriff der Wirklichkeit nicht konkret. So heißt es in den Thesen über Feuerbach: ,Das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum'. Und ,daß die weltliche Grundlage sich von selbst abhebt und sich ein selbständiges Reich in den Wolken fixiert, ist aus der Selbstzerrissenheit dieser weltlichen Grundlage zu erklären' (340). In solchen Wendungen erkennt Marx zwar Feuerbachs Begriff der Wirklichkeit an. Aber er bringt innerhalb seiner gegen ihn Hegels Gedanken zur Geltung, es müsse sich eine Erkenntnis der Identität von Begriff und Wirklichkeit erreichen lassen. Diese Identität erhält hier die Form einer vollständigen Erkenntnis des Begriffes aus seinen wirklichen Bedingungen. Des weiteren heißt es in diesen Thesen, Feuerbach habe die menschliche Sinnlichkeit nicht in ihrer tätigen Form erfaßt (329). Denn der Begriff der Praxis, der einzig angemessene Begriff von der Aufhebung der reinen Theorie, habe in Feuerbachs Wirklichkeit keinen Ort. ,Feuerbach, mit dem abstrakten Denken nicht zufrieden, will die Anschauung; aber er faßt die Sinnlichkeit nicht als praktische menschsinnliche Tätigkeit' (340). Damit erklärt Marx, auch der Gedanke der kritischen Philosophie Bauers müsse eingehen in einen Begriff von Wirklichkeit, der uns den Gegensatz von Begriff und Welt verständlich machen soll. So wirken Hegels Identitätsprinzip und die bisherige Leistung der linken Hegelkritik zusammen bei der Umwandlung von Feuerbachs Anthropologie zur zweiten Stufe der Entwicklung von Karl Marx. c) Die beiden weiteren Schritte, die Marx auf dem Wege zu seiner reifen Theorie gegangen ist, brauchen nun nur noch angegeben zu werden. Zureichend wird man sie verstehen, wenn man sie als konkrete Folgerungen aus jenem Begriff der Wirklichkeit auffaßt, in den schon die Elemente der Kritik Bauers und der Anthropologie Feuerbachs aufgenommen worden sind. Sein dritter Schritt führt Marx dazu, die Philosophie der Tat 13

mit einem humanitären Sozialismus zu verbinden. In ihm steht er unter dem Eindruck der Erfahrungen seiner politischen Tätigkeit bei der ,Rheinischen Zeitung' und unter dem der Schriften von Moses Heß. Aber es ist wichtig, sich deutlich zu machen, daß die politische Theorie von Marx bei ihm als Lösung eines philosophischen Problems erscheint und ohne es nicht voll verständlich wird: Auf seinem zweiten Standpunkt hatte sich die Notwendigkeit ergeben, die wirklichen Bedingungen der wirklichen Entzweiung des menschlichen Wesens zu erkennen, um sie dann in wirklicher Aktion aufzuheben. Nun erscheint für Marx das Gesetz des Privateigentums als die Ursache f ü r die Entzweiung des Lebens in reinen Begriff und unvernünftige Wirklichkeit. Die politische Bewegung des Sozialismus aber ist ihre Überwindung, die einzige wirkliche Philosophie der Tat. Sie ist es, die die Kritik von der Denunziation des Bestehenden zur wirklichen Aktion zu bringen vermag. Aber auch der Sozialismus von Heß trägt noch Reste des Mangels der kritischen Philosophie in sich und entspricht deshalb noch nicht dem aus seiner verkehrten Welt zur Wirklichkeit gebrachten Hegel. Denn Heß ist im Grunde noch moralistisch gesonnen. Er faßt die Entfremdung des Menschen in der Welt des Privateigentums nicht allein aus ihren Bedingungen, sondern nur von der Seite ihrer Unmenschlichkeit auf. Das zeigt aber, daß er sie nicht immanent, gemäß dem Postulat Hegels, sondern wie die Kritik Bruno Bauers vom j e n seitigen Standpunkt' aus analysiert. Zu einer immanenten Interpretation ist Marx erst nadi der Lektüre früher Arbeiten von Friedrich Engels gekommen. Mit ihrer Hilfe hat er im vierten Schritt seiner Entwicklung die ökonomische Geschichtsauffassung erreicht. Sie gilt ihm hinfort als die Lösung seines Problems, das wahre Prinzip Hegels mit der Notwendigkeit der Aufhebung seines Systems zu verbinden. Der historische Materialismus ist also keineswegs aus sich begründet. In der konkreten Gestalt, die sie angenommen hat, ist Marx' Theorie nur als das Resultat des Weges zu begreifen, aus dem sie hervortrat. Die Evidenz, welche sie für Marx selbst allezeit besaß, ist daraus zu verstehen, daß sie ihm als Ergebnis und als Lösung eines Problems erscheinen konnte, das seine ganze Entwicklung bestimmt hat. Sie war ihm zugleich die angemessene Verbindung Hegels mit den ernstzunehmenden Argumenten der Kritik, die auf ihn folgte. Deshalb haben alle seine ökonomischen Arbeiten den Charakter der nachträglichen Begründung einer Wahrheit, die zuvor schon für unumstößlich gesichert gilt. Der Blick des Ökonomen Marx, der sich in den Büchern des britischen Museums vergrub, war geschärft und begrenzt zugleich durch die längst vollzogene Konsequenz des Philosophen in der Nachfolge Hegels. Ihm hat die politische Ökonomie nur gedient, 14

Lösung des Rätsels zu sein, warum Begriff und Wirklichkeit sich entzweien, Lösung also des Rätsels auch von einer entfremdeten Weltgestalt der Philosophie. Es mag nützlich sein, noch einmal den Weg der philosophischen Genesis des Marxismus zu überblicken: Karl Marx ging, aus von Hegels Philosophie einer Erkenntnis des Inbegriffs dessen, was überhaupt ist. Er hatte nicht im Sinn, gegen sie die Probleme früherer philosophischer Systeme wieder auferstehen zu lassen. Er wollte nur die Einseitigkeit, die in Hegels System noch verblieben schien, auflösen im Sinne seines eigenen Prinzips. So wendete er sich zunächst Bauers Kritik zu, die aber den Anspruch der Philosophie der Tat nicht einlöst, sondern in polemischen Abstraktionen verharrt. Sie sollte deshalb durch die verbesserte Philosophie der Wirklichkeit und des wirklichen Menschen ergänzt werden, die Feuerbach entwickelt hat. Aber auch sie bleibt noch abstrakt und mit dem Gegensatz der Wirklichkeit behaftet, indem sie von den wirklichen Bedingungen alles verarmten und falschen Bewußtseins absieht. Moses Heß erst hilft den Zusammenhang der Philosophie der Tat mit der kritischen Anthropologie in der sozialistischen Praxis begreifen. Ihre theoretische, nicht nur moralisierende Aufklärung findet sie aber im ökonomisch-historischen Materialismus. Der ökonomisch-historische Materialismus proklamiert nun sich selber als die vollzogene Umkehrung der Philosophie Hegels. Aber jene Umkehrung ist nichts, was dieser Philosophie von außen geschehen sein soll. Sie gibt sich als ihre eigene Konsequenz. Marx ist der Meinung, das Prinzip, das Hegel in der Konstruktion aus reinen Begriffen sich bewähren lassen wollte, könnte folgerichtig nur durchgeführt werden in einer Theorie von den Gesetzen der Wirklichkeit und ihrer Entzweiung in bloßes Bewußtsein und verkehrte Welt. Von Hegel aus gesehen erscheint der Marxismus zwar als eine naturalistische Theorie, die sich in den Aporien der Philosophie vor Kant verfängt. H a t man aber den Weg der philosophischen Entwicklung von Karl Marx verfolgt, so kann man verstehen, wieso er wenigstens für sich zu der Meinung kommen konnte, seine materialistische Position sei der vollendete Hegel selbst. Dieser Uberzeugung zufolge ist auch die Kritik, die Marx an Hegels System übt, eine solche, die dessen eigenen Systemgedanken ins Feld f ü h r t gegen seine unvollkommene Realisation. Dies wird am deutlichsten in einer Analyse, der Marx die Hegeische Philosophie des Staates unterzieht. Sie scheint Marx das offene Geheimnis der ganzen Methode Hegels zu sein; und das deshalb, weil sie es ist, in der das System des absoluten Wissens einerseits wohl den Begriff als das Wesen der bestehenden Wirklichkeit erklärt. Da es aber seine eigene Konsequenz in der Philosophie der Tat nicht zieht, muß es andererseits wider Willen selbst eingestehen, daß sein Staat nicht der wirkliche Begriff, sondern nur der 15

Ausdrude einer begrifflosen, unvernünftigen Wirklichkeit ist. So k o m m t es in einen Widerspruch mit sich selbst, der aber nicht zufällig, sondern nicht zu vermeiden ist auf seinem Standpunkt, der mit einer Einseitigkeit behaftet bleibt. Hegels Rechtsphilosophie ist nach dem triadischen Schema aufgebaut. In ihr ist im System der Sittlichkeit, der wirklich gewordenen Freiheit, die Familie die erste Stufe der ungetrennten Einheit der Unterschiede, die sich in der zweiten, der bürgerlichen Gesellschaft, einander entgegengesetzten. Ihre Versöhnung wird dann, bei Wahrung ihrer Differenz, im vernünftigen Staat erreicht. Dieses Schema hat es Hegel erlaubt, in den Paragraphen über die bürgerliche Gesellschaft eine erstaunliche Modernität zu erreichen. In ihr sind die meisten Züge der marxistischen Gesellschaftskritik schon voll ausgebildet. Nach Hegel zerstört die bürgerliche Gesellschaft durch die zufällige Willkür und das subjektive Belieben ihrer Glieder sich selbst, macht die Befriedigung der wesentlichen Bedürfnisse vom Zufall abhängig und bietet das Schauspiel ebenso der Ausschweifung wie des Elends und des beiden gemeinschaftlichen physischen und sittlichen Verderbens dar (§ 185). In ihr kann nur von der subjektiven Selbstsucht, nämlich vom Streben nach Gewinn, ein Beitrag zur Befriedigung aller erwartet werden (§ 199). Eine allgemeine Leitung ist notwendig, um die gefährlichen Zuckungen und die Dauer des Ausgleichs in den Kollisionen der industriellen Produktion wenigstens abzukürzen und zu mildern (§ 236). Vermögen und Bestehen der Familie sind einer nicht beherrschbaren Abhängigkeit unterworfen (§ 238). Das Herabsinken einer großen Masse unter das Maß einer gewissen Subsistenzweise bringt das Proletariat hervor, das Hegel den ,Pöbel' nennt. Es führt zugleich zu größerer Leichtigkeit, unverhältnismäßige Reichtümer in wenige Hände zu konzentrieren (§ 244). Weder durch öffentliche Arbeiten noch durch öffentliche Wohlfahrt kann die bürgerliche Gesellschaft ihr Problem einer verarmten Masse lösen. Sie ist bei dem Ubermaße des Reichtums nicht reich genug, dem Ubermaß der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern (§ 245). Selbst Lenins Theorie vom Imperialismus als eine Konsequenz kapitalistischer Produktion, die Marx selbst nicht kennt, findet sich in Hegels Rechtsphilosophie schon voll entwickelt (§ 246). Nicht nur in seinem systematischen Problem, sondern auch in seinen konkreten Analysen ist also Marx ein Schüler Hegels gewesen. Hegels Rechtsphilosophie zufolge soll die Zerrissenheit der bürgerlichen Gesellschaft im Vernunftstaate aufgehoben werden. Er ist es, der ihre Gegensätze schlichtet und der ihren Mitgliedern, trotz ihrer Besonderheit, das Bewußtsein substantieller Einheit gibt. Diese Theorie unterzieht Marx einer radikalen Kritik (20-149). In ihr will er zeigen, daß auch in den Einzelheiten Hegels Theorie über den Staat nicht 16

vermag, seinen Bürgern eine Existenz jenseits der Antagonismen der Gesellschaft zu vermitteln. Vermöchte er dies, so wäre er der Gesellschaft eigentliche Substanz, in die sie sich auflöst als eine nur vorläufige und unwahre Existenz seiner selbst. In Wahrheit aber ist der Staat Hegels nur eine Folge und Funktion der Zerrissenheit der Gesellschaft. In der Terminologie der Logik des Urteils gefaßt ist er also nicht ihr Subjekt, sondern vielmehr ihr Prädikat. Die Idee des vernünftigen Staates wäre die der praktischen Auflösung der Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft. Hegels Staat ist aber nur der Begriff von ihrer Unwahrheit, zugleich genommen als die Sanktion ihrer faktischen Existenz. Das Verhältnis von Gesellschaft und Staat ist also in doppelter Hinsicht umzukehren: In Hegels konkreter Theorie ist der Staat, der Lehre entgegen, abhängig gemacht vom Leben einer entfremdeten Gesellschaft. Seinem Begriffe nach aber ist Staat Sittlichkeit, die sich vollendet hat, also nicht Rechtfertigung und Milderung, sondern U m wälzung bestehender Verhältnisse, sofern sie unvernünftig sind. Diese Kritik der Staatsphilosophie von Hegel ist für Marx das experimentum crucis auf die Frage, ob es notwendig und möglich sei, das gesamte System Hegels umzuwenden und auf seinen wahren Boden zu stellen. Gibt man den Begriff, hier die Idee des Staates, als Grund der Vernunft in der Wirklichkeit an, so bringt man nicht mehr hervor, als eine Apologie unvernünftiger Wirklichkeit. Die richtige Forderung, die diesem Versuch zugrundelag, war die, Denken und Sein müßten als Einheit verstanden werden. Durch sein Experiment hat Marx sich aber in der Meinung bestätigt gesehen, daß man ihr nur im Ausgang von der anderen Seite entsprechen kann, von der Seite der Wirklichkeit. Die besten Wendungen in Marx' polemischer Sprache sind eine Folge dieser Umkehrung des Verhältnisses von Staat und bürgerlicher Gesellschaft, von Subjekt und Objekt in der Philosophie Hegels: Bauers Theorie von der Herrschaft der Religion über den Menschen ist ihm nichts anderes als eine verkappte Form der Religion der bestehenden Herrschaft (186), seine Kritik ist ihm nur eine Leidenschaft des Kopfes: sie muß aber zum Kopf der (wirklichen) Leidenschaft werden (210), die Waffe der Kritik ist durch die Kritik der Waffen zu ersetzen (216). Es wurde aber betont, daß Hegel umkehren für Marx nicht heißt sein Prinzip aufgeben. Das Gegenteil ist der Fall und die Umkehrung ist selbst eine Folge davon, daß im Ungenügen an Hegel doch dessen Grundgedanke festgehalten worden ist: Das Prinzip einer wissenschaftlichen Erkenntnis der Einheit von Denken und Sein. Dies Prinzip liegt auch noch dem Gegensatz zwischen Hegels Philosophie der absoluten Idee und dem marxistischen Materialismus zugrunde. Sein ganzer An2

U n i v c r s i t ä t s t a g e 1961

17

spruch geht in die Theorien von Marx ein, noch ehe sie konkret entwickelt worden sind. Daraus erklären sich die vielen Schwierigkeiten, vor denen marxistische Theoretiker seit langem und bis heute unverändert stehen, mit der wohl vergeblichen Hoffnung auf Abhilfe in der Zukunft. Wir haben die Gründe dargestellt, die Marx dazu bestimmt haben, es für gewiß zu halten, daß der Fortschritt zur Wahrheit allein auf seinem Weg gefunden werden könne. Diese Gründe machen es uns möglidi, ihn zu verstehen. Sie zwingen uns nicht, ihm zu folgen. Es ist nicht ausgemacht, ob jene Elemente in Hegels Theorie, an denen Marx festhalten wollte, eine Umkehrung erlauben und überstehen. Solche Elemente sind unter anderen die dialektische Methode, der Begriff der Notwendigkeit, ja der Gedanke der Einheit von Denken und Sein selbst. Es scheint, daß sich der Marxismus bei der Umkehrung, die Hegel voraussetzen will, in Probleme verstrickt, von denen er gehofft hatte, schon Hegel habe sie für ihn gelöst; so vor allem in das Erkenntnisproblem. Nun haben viele Interpreten versucht, den Schwierigkeiten der späten Theorie vor allem des sowjetischen Diamat-Systems durch einen Rückgang auf den jungen Marx zu entgehen. Und es ist wahr, nirgends zeigt sich dieser Denker in so sympathischer und so subtiler Gestalt wie in der unmittelbaren Konfrontation mit Hegel zur Zeit seiner Entwicklung. Dennoch ist es eine Illusion und ein vergeblicher Versuch, mit der Hilfe seiner frühen Schriften den reifen Marx zu kritisieren. Es hat sich gezeigt, wie sie in verständlicher und unumgänglicher Konsequenz zur späten Theorie führen. Das Resultat der Begründung der These, die unserer Untersuchung zugrunde lag, lautet: Wenn die reife Gestalt der marxistischen Philosophie nicht gehalten wird, so muß zugleich die Problemstellung unhaltbar sein, die zu ihr geführt hat. Es ist deshalb auch nicht erlaubt, den Humanismus des jungen Marx für eine Position zu erklären, die in sich ruhen könnte. Zwei Parolen sind es, mit denen sich die kommunistische Opposition im Namen des Humanismus auf den jungen Marx berufen hat: Die eine spricht die große Erfahrung des Sozialismus in unserem Jahrhundert aus: ,Die Herrschaft des Menschen über den Menschen ist keineswegs überwunden mit der Revolutionierung der ökonomischen Ordnung'. Die andere zieht aus ihr eine Folgerung für die rechte Parteipolitik: ,Es gilt das Gesetz der Adaequation von Mittel und Ziel; der Humanismus darf nur auf menschliche Weise verwirklicht werden.' Aber aus Marx lassen sie sich beide nicht begründen. Das wird am schlagendsten daran deutlich, daß sie beide schon von Marxens Weggenossen Arnold Ruge gebraucht worden sind. Ruge aber wendet sie gerade gegen den jungen Marx, um die Schwächen seiner Theorie und auch seines pole18

mischen Stiles ins Licht zu stellen. In einem Brief Ruges über Marx heißt es: ,Der humane Inhalt muß auch human zum Vorschein kommen. Würde nur endlidi Ernst gemacht aus unserer Gährung und die Gefahr auf beiden Seiten eine Lebensgefahr!' das heißt aber als die Gefahr unseres Lebens erkannt 4 . Die Kritik an Marx, die sich auf den jungen Marx beruft, ist also in Wahrheit die Kritik der linken hegelschen Schule an ihm und an der Konsequenz, zu der er sich selbst mit Recht getrieben sah. Erst diese Konsequenz weist Marx als Denker von Energie und Bedeutung aus, wozu sie auch immer geführt haben mag. Das Treibende in ihr aber war sein Ausgang von Hegels Prinzip und seine ebenso beharr liehe Kritik an der vermeintlichen Einseitigkeit seiner Realisierung. Die Einsidit in die Folgerichtigkeit seines Weges ist keine Apologie für sein Ziel. Sie kann jedoch dazu dienen, uns besser zu verständigen über den Gegenstand einer Kritik an ihm. Dieser Gegenstand ist sein Anfang, Marxens Schülerschaft zu Hegel in dem nun angegebenen bestimmten Sinn. Er ist für uns und unsere Universität mehr als nur ein Problem des Begriffs. Aber er ist auch dies und zu Beginn nur dies gewesen. So haben wir uns ihm zu stellen, ohne es uns dabei leicht zu machen.

Anmerkungen : 1

Zahlen in Klammern beziehen sich im Folgenden auf die Seitenzahlen von Karl Marx, ,Die Frühschriften', Stuttgart 1953, Paragraphen in Klammern auf Hegels Rechtsphilosophie.

2

Zur philosophischen Entwicklung von Marx, von der hier allein die Rede ist, finden sich besonders bemerkenswerte Untersuchungen bei Konrad Bekker, ,Marx' philosophische Entwicklung, sein Verhältnis zu Hegel', Diss. Basel 1940, und bei Auguste Cornu, Karl Marx und Friedrich Engels, Bd. 1., Berlin 1954 (franz. Paris 1955).

3

Br. Bauer, Die Judenfrage, 1843, S. 2. Arnold Ruges Briefwechsel und Tagebuchblätter, hrsg. v. P. Nerrlich, Berlin 1886, S. 396.

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MARX U N D DIE S O Z I A L D E M O K R A T I E Von O s s i p

K.

Flechtheim

„Der Prophet gilt nichts im eigenen Lande" — dieses Wort hat sich an demjenigen, den man oft nicht ganz zu Unrecht mit den alttestamentarischen Propheten verglichen hat, in der Tat bitter bewahrheitet. K o m m t man heute in die alte Bischofsstadt Trier, so muß man sich nach dem Geburtshaus ihres großen Sohnes durchfragen. Die Fremdenverkehrswerbung hält es jedenfalls nicht f ü r angebracht, den Touristen auf die Geburtsstätte des Begründers des proletarischen Sozialismus hinzuweisen. In der erhitzten Atmosphäre der Weimarer Republik stand Marx noch im Mittelpunkt der großen politischen und geistigen Kontroversen, 1922 konnte Thomas Mann die Begegnung von Marx und Hölderlin fordern und erwarten — heute hat man Marx einfach links liegen gelassen — höchstens eine schmale Schicht von Intellektuellen etwa an den Universitäten und Evangelischen Akademien liest und diskutiert ihn noch. Lebte Karl Marx heute in Bonn, er würde sich gewiß fremd fühlen — aber auch in der sogenannten Karl-Marx-Stadt wäre er wohl kaum heimisch. Die SPD hat sein Geburtshaus in Trier als Museum eingerichtet, die S E D beruft sich ständig auf ihn. Die weiteren Vorträge in dieser Reihe werden wohl zeigen, wie wenig die stalinistische und nach-stalinistische Wirklichkeit der Sowjetunion oder gar der sog. „ S B Z " oder sog. „ D D R " mit der Vision von Marx und Engels identisch ist. Wir können uns jetzt hier auf den Politiker Marx und seinen Einfluß in der Sozialdemokratie von heute beschränken. Nehmen wir das Ergebnis bereits vorweg: Die heutige Praxis der SPD ebenso wie ihre Theorie, wie sie etwa im Godesberger Programm ihren vorläufig letzten Niederschlag gefunden hat, werden sich als entschiedene Abkehr von Marx erweisen. Dabei hatte der Mann, der nach 1849 nie mehr in seiner Heimat wirken sollte, Zeit seines Lebens die größten Hoffnungen auf Deutschland gesetzt. So resümierte bereits 1844 der 25jährige Doktor der Philosophie seine Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie selber wie folgt: „ D i e einzig praktisch mögliche Befreiung Deutschlands ist die Befreiung auf dem S t a n d p u n k t d e r Theorie, welche den Menschen f ü r d a s höchste Wesen des Menschen erklärt. . . . In Deutschland kann k e i n e A r t der Knechtschaft gebrochen werden, ohne j e d e A r t der Knechtschaft z u brechen. D a s gründliche Deutschland kann nicht revolutionieren, ohne von G r u n d aus zu revolutionie-

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ren. D i e E m a n z i p a t i o n des Deutschen ist die E m a n z i p a t i o n des Menschen. D e r K o p f dieser E m a n z i p a t i o n ist die Philosophie, ihr H e r z d a s Proletariat. D i e Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die A u f h e b u n g des Proletariats, d a s Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie. Wenn alle inneren Bedingungen erfüllt sind, wird der deutsche A u f erstehungstag verkündet werden durch das Schmettern des gallischen H a h n s . "

klassischen Beruf zur sozialen Revolution besitzt, wie es zur politischen unfähig ist. Denn wie die Ohnmacht der deutschen Bourgeoisie die politische Ohnmacht Deutschlands, so ist die Anlage des deutschen Proletariats — selbst von der deutschen Theorie abgesehen — die soziale Anlage Deutschlands . . . Erst in dem Sozialismus kann ein philosophisches Volk seine entsprechende Praxis, also erst im Proletariat das tätige Element seiner Befreiung finden." U m ein halbes Jahrhundert später setzte der alte Engels immer noch seine Hoffnungen vor allem auf die deutsche Sozialdemokratie, die mittels des allgemeinen Wahlrechts die Mehrheit erobern und so den Sieg des Sozialismus in Deutschland ermöglichen! sollte. Wir wissen heute, daß alles ganz anders gekommen ist. Die einzige Massenbewegung, die sich in Deutschland im 20. Jahrhundert voll durchsetzen konnte, erwies sich als die totale, nihilistisch-konterrevolutionäre Perversion des Sozialismus. Sie siegte im Zeichen des Kampfes gegen Marx und den Marxismus! Doch bevor das tragische Schicksal des marxistischen Sozialismus in Deutschland behandelt wird, sei zunächst einmal kurz der Kern der Marxschen Theorie und Praxis angedeutet. Ich verzichte dabei bewußt darauf, die bleibenden Leistungen der Marxschen Wirtschafts-, Gesellschafts- oder Geschichtsanalyse auch nur zu erwähnen. Ich beschränke midi hier darauf, den vielschichtigen und manchmal widerspruchsvollen Sozialphilosophen, Nationalökonomen und Politiker Marx auf einen einzigen Wesensgrusid zu reduzieren. Als solcher bietet sich allein die Vision der totalen Revolution für Marx. Er, der bis zu seinem Tode vor allem radikaler Revolutionär geblieben ist, sah seine Zeit als die große Wende an. Sein System entstand in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts unter dem atmosphärischen Druck der sich ankündigenden Revolution, als die junge bürgerliche Gesellschaft durch eine ihrer ersten großen Totalkrisen hindurchging. Damals formte sich das Denken von Marx und Engels nicht so sehr im Kampf mit den besonderen Beschränktheiten und Widrigkeiten des deutschen Vormärz; beide sahen von vornherein in den Zuständen in Deutschland die aufs äußerste zugespitzte Form der für die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft und Kultur überhaupt typischen allgemeinen Entmenschung und Entfremdung. 21

Marxens Denkansatz war von vornherein dialektisch-antithetisch: Seine optimistische Vision entzündete sich an dem unvorstellbar rasdien Anwachsen der industriellen Produktivkräfte, an den Verheißungen der Technik und Wissenschaft, an der fortschreitenden Rationalisierung und Modernisierung des ganzen Lebens. Dieser ungeheure Fortschritt vollzog sich aber vor einem unvorstellbar düsteren Hintergrund. Wie er es selber später formulierte, scheint in unseren Tagen „jedes Ding mit seinem Gegenteil schwanger zu gehen". Das Proletariat, das wie Atlas die ganze neue Industriewelt auf seinen Schultern trug, sah kaum einer so deutlich in seinem ganzen Elend, in seiner grenzenlosen Ausgebeutetheit, Heimatlosigkeit und Entmenschung. Es war nur noch Objekt jener Institutionen, die seit Jahrhunderten und Jahrtausenden allen Klassengesellschaften als Eckpfeiler gedient hatten: Die Kirche und der Staat, die auf dem Erbrecht basierende Familie und das Privateigentum, die ursprünglich vom Menschen geschaffen worden waren, um ihm zu helfen, waren längst zu lebenbedrohenden Engpässen geworden. Im Kapitalismus zementierten sie die Klassenherrschaft einer Bourgeoisie, die täglich mehr zum Hemmschuh der Entwicklung wurde. Der Proletarier, der kein Eigentum besaß, der keine echte Familie gründen und ernähren konnte, der vom Staat niedergehalten und von der Kirche mit Illusionen abgespeist wurde, konnte sich nur emanzipieren, wenn er diese überlebten Institutionen radikal abschaffte. Ausgegangen war Marx bei seiner Gesellschafts- und Kulturkritik bekanntlich zunächst von der Kritik der Religion. Da aber Marx in der Religion nur die Widerspiegelung einer unvollkommenen Gesellschaft sah, so verwandelte sich für ihn „die Kritik der Religion alsbald in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik, die Kritik des Himmels in die Kritik der Erde". Der theologischen Phase folgt daher schon früh die ausgesprochen politische Phase, in der sich Marx mit dem bürgerlichen Staat auseinandersetzt. Diese Kritik gipfelt in der sogenannten ökonomisch-materialistischen Theorie, in deren Mittelpunkt die „Aufhebung" der politischen Ökonomie, des Eigentums und des Kapitals steht, während die Kritik der Familie vielleicht nicht zufällig ganz fragmentarisch bleibt und eigentlich erst später von Engels in seinem Werk „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates" schärfer in Angriff genommen wird. Nicht erst das „Kapital" dient dem Nachweis, daß das kapitalistische Privateigentum den Keim der Selbstzerstörung in sich trägt. Bereits im „Kommunistischen Manifest" von 1848 hatten Marx und Engels erklärt, daß die Kommunisten ihre Theorie in dem e i n e n Ausdruck „Aufhebung des Privateigentums" zusammenfassen könnten. Die Überwindung des Privateigentums blieb das Ziel a l l e r theoretischen und praktischen Bemühungen von Marx und Engels: Sie war aber auch stets 22

das Symbol f ü r die Abschaffung aller anderen Institutionen der Unterdrückung und Entfremdung. Natürlich wollte Marx nicht die menschlichen Triebe und Bedürfnisse negieren, die die Basis f ü r diese Institutionen bildeten. Den Platz erstarrter Institutionen würde der endlich freigewordene Mensch einnehmen, der seine Verhältnisse in einem schöpferischen Prozeß rational formen würde. An die Stelle von Kirche und Staat sollte die solidarische Gemeinschaft mit ihrer freien Selbstverwaltung treten, an die Stelle des Privateigentums das Gemein-Eigentum, an die Stelle der bürgerlichen Familie, die nur neben dem Ehebruch und der Prostitution existierte, die freie Partnerschaft gleichberechtigter Geschlechter. Hielten Marx und Engels bis zum Schluß ihres Lebens an dieser großen Vision von der klassen- und herrschaftslosen Gesellschaft fest, so haben sie auch immer wieder betont, daß dieses Ziel nur erreicht werden konnte in einem epochalen Umbruch, dessen Träger nur das klassenkämpferische Proletariat sein konnte. Fand sich in den früheren Klassengesellschaften „eine mannigfache Abstufung der gesellschaftlichen Stellungen" und hatte der „bald versteckte, bald offene Kampf" je nach Lage der Dinge entweder mit „der revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft" oder mit „dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen" zu enden vermocht, so muß nun im Kapitalismus, wo sich nur noch zwei Klassen gegenüberstehen und das Proletariat „die ungeheure Mehrzahl" umfaßt, dieses siegen. Für Marx handelt es sich bei dieser Entwicklung um einen naturnotwendigen immanenten Vorgang: „Die Arbeiterklasse", schreibt er, „hat keine Ideale zu verwirklichen, sie hat nur d i e Elemente der neuen Gesellschaft in Freiheit zu setzen, die sich bereits im Schoß der zusammenbrechenden Bourgeoisiegesellschaft entwickelt haben". Der a u g e n b l i c k l i c h e Bewußtseinszustand der Arbeiter ist dabei nicht entscheidend. Marx vertraut blind auf die historische Entwicklung, die das Proletariat immer klassenbewußter und revolutionärer machen wird: „Es handelt sich nicht darum", verkündet er siegessicher, „was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen v o r s t e l l t , es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird. Sein Ziel und seine geschichtliche Aktion ist in seiner eigenen Lebenssituation, wie in der ganzen Organisation der heutigen bürgerlichen Gesellschaft sinnfällig, u n w i d e r r u f l i c h vorgezeichnet". Nach Marx ist es einfach unvermeidlich, daß „die Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse" zunimmt. Die dumpfe Gegnerschaft muß allerdings bewußt gemacht werden — das ist die entscheidende Aufgabe der sozialisti23

sehen Theorie und Praxis. „Daß man die Welt", hatte er schon sehr früh postuliert, „ihr Bewußtsein inne werden läßt, daß man sie aus dem Traum über sich selbst aufweckt, daß man ihre eigenen Aktionen ihr erklärt", — darin besteht die Hauptaufgabe dessen, was man nach Freud fast „soziale Psychoanalyse" nennen möchte! „Nie kann allerdings die Waffe der Kritik" „die Kritik der Waffen" ersetzen, „die materielle Gewalt muß gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift". So wird das revolutionäre Klassenbewußtsein des Proletariats zum Funken, der das Pulverfaß der bürgerlichen Klassengesellschaft in die Luft sprengt. Zur vollen Reife gelangt jedoch das zunächst von der kapitalistischen Ausbeutung selbst geformte und dann von der Marxschen Theorie durchleuchtete Klassenbewußtsein des Proletariats erst in der revolutionären A k t i o n . Die proletarische Revolution wird so zur dritten Stufe im Revolutionierungsprozess des Proletariats und sie erfüllt eine eminent erzieherische Funktion f ü r den Arbeiter selber. Marx hatte bereits in der „Deutsdien Ideologie" erklärt, „daß sowohl zur massenhaften Erzeugung dieses kommunistischen Bewußtseins wie zur Durchsetzung der Sache selbst eine massenhafte Veränderung der Menschen nötig ist, die nur in einer praktischen Bewegung, in einer Revolution vor sich gehen kann; daß also die Revolution nicht nur nötig ist, weil die herrschende Klasse auf keine andere Weise gestürzt werden kann, sondern auch, weil die stürzende Klasse nur in einer Revolution dahin kommen kann, sich den ganzen alten Dreck vom Halse zu schaffen, um zu einer neuen Begründung der Gesellschaft befähigt zu werden." Und nach der Revolution von 1848 kann sich Marx nicht genug daran tun, den Arbeitern die Länge und Schwere des Weges auszumalen: „Ihr habt 15, 20, 50 Jahre Bürgerkriege und Völkerkämpfe durchzumachen, nicht nur um die Verhältnisse zu ändern, sondern um Euch selbst zu ändern und zur politischen Herrschaft zu befähigen . . . " Als Marx seine Revolutionstheorie in den vierziger Jahren entwickelt hatte, war er davon ausgegangen, daß im Gegensatz zu den Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts die Revolution des 19. Jahrhunderts nicht mit dem Sieg der Bourgeoisie enden würde, sondern durch das Eingreifen des Proletariats weitergetrieben werden könnte zur sozialistischen Revolution und zur Diktatur des Proletariats. Die „permanente Revolution" bildete schon f r ü h einen wesentlichen Bestandteil der politischen Konzeption von Marx und Engels, die 1848 sogar bereit waren, gegen die doktrinär-kleinbürgerlichen Sozialisten mit dem radikalen Kommunismus eines Auguste Blanqui eine Einheitsfront zu bilden. Das grundstürzende Ziel der Revolution wird 24

dann klassisch formuliert in der „Ansprache der Zentralbehörde an den Bund der Kommunisten" vom März 1850: „Es ist unser Interesse und unsere Aufgabe, die Revolution permanent zu machen, solange, bis alle mehr oder weniger besitzenden Klassen von der Herrschaft verdrängt sind, die Staatsgewalt vom Proletariat erobert und die Assoziation der Proletarier nicht nur in einem Lande, sondern in allen herrschenden Ländern der ganzen Welt so weit vorgeschritten ist, daß die Konkurrenz der Proletarier in diesen Ländern aufgehört hat, und daß wenigstens die entscheidenden produktiven Kräfte in den Händen der Proletarier konzentriert sind. Es kann sich für uns nicht um Veränderung des Privateigentums handeln, sondern nur um seine Vernichtung, nicht um Vertuschung der Klassengegensätze, sondern um Aufhebung der Klassen, nicht um Verbesserung der bestehenden Gesellschaft, sondern um die Gründung einer neuen."

1852 erklärte in einem Brief an Weidemeyer Marx emphatisch, es gebühre ihm nicht das Verdienst, die Existenz oder den Kampf der Klassen entdeckt zu haben. Bekanntlich haben Marx und Engels betont, daß der Klassenkampf als M o t o r der Geschichte schon von englischen Sozialökonomen und französischen Historikern entdeckt worden sei: E r — Marx — habe vielmehr nur den Nachweis erbracht: „1. daß die Existenz der Klassen bloß an bestimmte, historische Entwicklungskämpfe der Produktion gebunden sei; 2. daß der Klassenkampf notwendig zur Diktatur des Proletariats führe; 3. daß diese Diktatur selbst nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft bilde". Und zwanzig Jahre später postuliert er wieder in seiner Kritik am Gothaer Programm: „Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andere. Der entspricht auch eine politische Ubergangsperiode, deren Staat nichts anderes sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats". Wenn Marx in den vierziger und fünfziger Jahren von Revolution sprach, meinte er damit zweierlei: Einmal den radikalen Ubergang von einer — der bürgerlich-kapitalistischen — Gesellschaftsordnung zu einer total anderen — der proletarisch-sozialistischen; zum zweiten aber auch einen gewaltsamen Massenaufstand und blutigen Bürgerkrieg nach dem Vorbild der klassischen bürgerlichen Revolution, insbesondere nach dem der großen Französischen Revolution. Damals steckte die moderne politische Demokratie in ihren Kinderschuhen — die Politik der gewaltlosen Aktion und des passiven Widerstandes war noch ganz unbekannt. So war für den Revolutionär Marx die revolutionäre Gewalt das vornehmste Gegenmittel gegen die uralte Unterdrückung der Massen durch die irrationalen Obrigkeiten. Kein Wunder, daß Marx leicht der Versuchung erlag, die Gewalt der aufbegehrenden Klasse romantisch zu verklären. In einer Polemik gegen Bruno Bauer

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feiert er die Revolution als einen „jüngsten T a g " , dessen „Morgenrot der Widerschein brennender Städte am Himmel ist, wenn unter diesen himmlischen Harmonien die Melodie der Marseillaise und Carmagnole mit obligatem Kanonendonner an sein Ohr schallt und die Guillotine dazu den Takt schlägt, wenn die verruchte Masse 9a ira, 5a ira brüllt und das Selbstbewußtsein vermittels der Laterne aufhebt". U n d während der Revolution von 1848 bekennt er sich angesichts des „Kannibalismus der Konterrevolution" ausdrücklich dazu, „daß es ein Mittel gibt, die mörderischen Todeswehen der alten Gesellschaft, die blutigen Geburtswehen der neuen Gesellschaft abzukürzen, zu vereinfachen, zu konzentrieren, nur ein Mittel — den revolutionären Terrorismus." Den Terroristen Marx müssen wir also wohl den Gegnern der Demokratie konzedieren — dem Totalitarismus jeder Spielart steht Marx auch dann weltenfern durch seine kompromißlose Ablehnung jeder Duplizität und jedes Betruges, jeder Täuschung und jeder Lüge. In ihrer Hoffnung auf die „permanente Revolution" wurden Marx und Engels immer wieder bitter enttäuscht. Nirgends folgte die proletarische Revolution der bürgerlichen — ja, nach dem Scheitern der 48er Revolutionen begann in Europa später eine Epoche der friedlichen Reformen und der „Revolutionen von oben". Während solange selbst die bürgerliche Demokratie in der Alten Welt so gut wie nicht existent war, Marx daran zweifelte, daß sich die Bourgoisie auch nur eine bescheidene Zeitspanne werde selbst regieren können, zeigen sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die bescheidenen Anfänge bürgerlicher Demokratie in Westeuropa. Gleichzeitig wächst die Arbeiterbewegung in die Breite — so schwach die 1. Internationale auch war, verglichen mit dem Kommunistenbund erschien sie als Massenbewegung! Marx und Engels werden nun in ihrer Haltung zur bürgerlichen Demokratie unsicher. Sie beginnen jetzt stärker zwischen den verschiedenen Ländern zu differenzieren. Während sie keinen Zweifel daran lassen, daß autokratisch-obrigkeitsstaatliche Systeme nur auf dem Wege einer echten Massenrevolution beseitigt werden können, wird nun immerhin die Möglichkeit erörtert, daß in demokratischen Ländern wie den U S A und England, wo es kein stehendes Heer und keine Bürokratie gebe, ja auch in Holland und Frankreich — dort „wo die Volksvertretung alle Macht in sich konzentriert, wo man verfassungsmäßig tun kann, was man will, sobald man die Majorität des Volkes hinter sich hat", „die alte Gesellschaft friedlich in die neue hineinwachsen könne" (dies die Worte von Engels!). Hier öffnet sich aber — das sehen wir rückblickend sehr klar! — ein Riß im Marxschen System, der das ganze Gebäude ins Wanken bringt. Ist der Weg zum Sozialismus nicht überall derselbe, so wird die Einheit der internationalen Arbeiterbewegung fraglich. Und ändert sich nicht 26

mit dem Weg audi das Ziel? Hierzu gibt es ein kluges Wort von Lassalle in seinem „Franz von Sickingen": »Das Ziel nicht zeige, zeige auch den Weg.

Denn so verwachsen ist hienieden Weg und Ziel, Daß eines sidi stets ändert mit dem andern Und andrer Weg auch andres Ziel erzeugt."

J e länger und friedlicher der Weg erschien, um so leichter konnte das Proletariat, selbst dort wo es ein revolutionäres Klassenbewußtsein erlangt haben sollte, dieses wieder verlieren, und ein kompromißbereites Proletariat konnte das ursprüngliche Ziel — die radikale U m wälzung der bürgerlichen Welt — aus dem Auge verlieren. Und gerade das ist ja eingetreten: In dem Maße, wie der Kapitalismus in den alten Industrieländern sozialer wurde, wie sich dort die Lage der Arbeiter verbesserte, wie die Arbeiterbewegung einflußreicher und vermögender wurde, kurz, die Arbeiter nun doch mehr zu verlieren hatten als nur ihre Ketten, ist ihr Wille zur revolutionären Umgestaltung schwächer geworden. Der Bourgeoisie war im 17., 18. und 19. Jahrhundert in einigen entscheidenden Ländern der große revolutionäre Durchbruch gelungen — in den alten Industrie-Demokratien wurde das Gros des Proletariats „reformistisch", „konformistisch", „konservativ", längst bevor, um Marx zu zitieren, „die alte Politik umgestürzt" und „die neue Organisation der Arbeit begründet worden war." Selbst dort, wo „der Arbeiter die politische Gewalt in die H a n d " bekam, haben sich die Arbeiterregierungen auf Reformen beschränkt. Man mag darüber streiten, ob diese Reformen z. B. in Eangland schon als echte Strukturreformen zu gelten haben; von einer totalen Neuordnung der Gesellschaft im Sinne von Marx wird man auch dort nicht sprechen können. In allen demokratischen Staaten ist der Einfluß der sozialistischen Bewegung sowohl zeitlich wie sachlich bisher ein beschränkter geblieben. Überall haben hier die Arbeiterparteien im Rahmen parlamentarisdi-pluralistischer Systeme gewirkt, die immer wieder den Wechsel von bürgerlichen und Arbeiterregierungen kennen. Selbst wenn wir darin die Anfänge einer „revolution by consent" im Sinne von Harold J . Laski sehen wollen, so bleibt es doch zweifelhaft, ob sich Marx je mit einer so langsamen und widersprüchlichen Zickzack-Entwicklung zufrieden gegeben hätte. Daß er und Engels auch später noch an dem Begriff der „Diktatur des Proletariats" festhielten, deutet eher darauf hin, daß sie immer noch von einem definitiven uind umfassenden Ubergang der Macht von einer Klasse auf die andere träumten. Die Frage, ob Marx und Engels den englischen und skandinavischen Weg zum Sozialismus dem jugoslavischen und polnischen vorgezogen hätten, kann kaum beantwortet 27

werden — vielleicht hätten sie beide Varianten schließlich doch faute de mieux akzeptiert. Doch zurück zu Deutschland! Die deutsche Sozialdemokratie, die erst nach der 48er Niederlage der Demokratie entstanden ist, ist in ihrer Führung und Mehrheit wohl kaum je „marxistisch" — jedenfalls nicht im Sinne der total-revolutionären und radikalen Konzeption Marxens! — gewesen. Die für das Wilhelminische Kaiserreich so typische Legierung von bürgerlichen und vorbürgerlichen Institutionen und Kräften führte dazu, daß sich die SPD lange nicht zu entscheiden brauchte, ob sich ihre Opposition nur gegen den Wilheminiscben Klassenstaat oder gegen den Klassenstaat und die Klassengesellschaft schlechthin richtete. Wie inzwischen G. A. Ritter, Schorske und Matthias im einzelnen nachgewiesen haben, setzte der Prozeß der „Verbürgerlichung" und „Nationalisierung", der „Verbürokratisierung" und Integrierung der sozialistischen Arbeiterbewegung in die kapitalistische Umwelt schon bald nach dem Fall des Sozialistengesetzes 1890 recht kräftig ein. Bereits 1909 konnte Sombart ironisch-resigniert die Frage stellen: „Was sollte Marx heute in der Redaktion der Neuen Zeit oder gar der Sozialistischen Monatshefte, was sollte Lassalle im Reichstag anfangen! Ob orthodox, ob revisionistisch, aus der alten Sekte der Utopisten, Revolutionäre und Prinzipienreiter ist die große Partei der Opportunisten und Akkomodisten geworden." Rückblickend können wir für unsere Zwecke drei Strömungen in der SPD unterscheiden: Auf der Linken eine nicht ausschließlich, aber doch stark von Marx und Engels inspirierte revolutionär-sozialistische Richtung, in der Mitte ein radikal-demokratisches Lager und auf der Rechten eine sozialpolitisch-gewerkschaftlich orientierte von Bürokraten und Managern geprägte Gruppe, die politisch indifferent oder konformistisch ist und weitgehend die jeweilige Verfassungswirklichkeit akzeptiert. Kompliziert wird die Lage dadurch, daß jede dieser Richtungen, insbesondere aber die Rechte, zeitweilig eine Ideologie und Phraseologie benutzte, die ihrer wahren Natur nicht entsprach: In der Vergangenheit hat man sich oft der Kautskyschen Version des Marxismus bedient, heute dagegen bevorzugt man die neoliberale Sprache der Formaldemokratie. Die dritte „opportunistisch-akkomodistische" Strömung hat ihren ersten großen welthistorischen Sieg am 4. August 1914 erfochten: Im Augenblick, da der Kaiser bereit war, sein Wort von den „vaterlandslosen Gesellen" zurückzunehmen und der Sozialdemokratie eine ähnliche Position einzuräumen, wie sie die anderen Parteien hatten, war die Rechte in der SPD, die nun mit Ebert und Scheidemann die Führung übernahm, bereit, auf den Boden des status quo zu treten und sich mit einem sozial orientierten Obrigkeitsstaat abzufinden, falls 28

nur noch einige Schönheitsfehler wie das Dreiklassenwahlrecht beseitigt würden. Den sogenannten „Kaisersozialisten" lag wenig an einer durdigreifenden Demokratisierung Deutschlands — von einer sozialistischen Umwälzung ganz zu schweigen. Kein Wunder, daß ihnen die Novemberrevolution höchst ungelegen kam. Mit der formalen Demokratie von Weimar haben sie sich dann allerdings angefreundet — schien sie doch einen günstigen Boden für sozialpolitische Verbesserungen der Lage der Arbeitnehmer zu bilden. Die revolutionären Sozialisten erschienen ihnen dagegen mehr denn je als „Anarchisten" oder „Bolschewisten" — und diese Einschätzung schien den Tatsachen umso eher zu entsprechen, als die Linke in der Tat nach 1918 großenteils unkritisch den russischen Bolschewismus als Modell akzeptiert hat. Das radikaldemokratische Lager aber — vorübergehend mit tonangebend in der U S P D — wurde bald im Kampf zwischen der Rechten und der Linken zerrieben. Die in der SPD verbliebenen nicht-leninistischen revolutionären Sozialisten und radikalen Demokraten sind im Lauf der Zeit immer weiter zurückgedrängt worden. Unter ihrer „opportunistisch-akkomodistischen" Führung stand die SPD allen großen Krisen, die gerade Deutschland immer wieder trafen, ähnlich hilflos gegenüber wie die bürgerlichen Demokraten und Liberalen. 1918/19, 1920, 1923, 1932/33, 1945/46 sind Beispiele für epochale Niederlagen und Katastrophen der Sozialdemokratie. Nicht zufällig konnte eine von Konservativen und Reformern geführte Massenpartei wie die SPD erst in der Defensive ihr Bestes leisten, so etwa 1920 beim Kapp-Putsch, 1933 bei der Verfolgung durch Hitler, 1948/49 bei der Blockade Berlins. N u r auf dem Tiefpunkt der Niederlage — wie etwa nach 1933 und nach 1945 —~ konnten die Sozialisten in der Sozialdemokratie ihrer marxistischen Kritik Gehör verschaffen — aber immer nur zeitweilig. Heute scheint der Wandlungsprozeß der SPD zum Abschluß zu kommen. Von Marx ist keine Spur geblieben — 1959 hatte ihn der erste Entwurf eines Grundsatzprogramms noch erwähnt — im Godesberger Programm ist sein N a m e endgültig getilgt. Die SPD erscheint jetzt in ihrer Führung und Mehrheit als eine bürgerlich-sozialliberale Reformpartei, die ehrlich alle sozial-revolutionären Experimente ablehnt. Noch ist sie stärker als die anderen Parteien der Bundesrepublik eine Mitglieder- und Funktionärspartei — es zeichnet sich aber auch schon bei ihr ein Trend zur Wähler-, Patronage- und Führerpartei ab. In absolutem Gegensatz zu Marx bekennt sie sich zur traditionellen Form und Struktur der Familie und des Privateigentums, des Staates und der Kirche, die allerdings von gewissen „undemokratischen" und „unsozialen" Aspekten gereinigt und so „reformiert" werden sollen. An die Stelle der Marxschen radikalen Kritik ist damit die Hinnahme 29

und Verteidigung der sog. „westlichen" Gesellschaft und Kultur mit ihren Kerninstitutionen getreten. Noch gibt es allerdings marxistische und andere Sozialisten in der SPD, die die bestehende Gesellschaftsordnung grundsätzlich ablehnen — ihre Zukunft ist aber höchst ungewiß. Die Zeit erlaubt uns nicht, auf die Gründe dieser Entwicklung einzugehen. Es seien nur einige Ursachen, die zum Teil untereinander zusammenhängen, aufgezählt. Die Zäh- und Langlebigkeit eines SozialKapitalismus, der immer wieder — nach dem Preis sei hier nicht gefragt! — Krisen überwunden hat und in Westeuropa erst heute in sein Reifestadium einzutreten scheint; die Schwäche der Arbeiterbewegung, die sich nie vom Einfluß der herrschenden Institutionen, Verhaltensweisen und Ideen freizukämpfen vermocht hat und sich ähnlich wie andere Bewegungen bereits in einem frühen Entwicklungsstadium selber institutionalisierte, verbürokratisierte und verbürgerlichte; die Gegnerschaft zum stalinistischen „Marxismus-Leninismus", der sowohl als Bürgerschreck wie aber auch als vitale Bedrohung aller unabhängig demokratisch-sozialistischen Bestrebungen zur Polarisierung der Welt in zwei Lager (,Hie Kommunismus, hie Kapitalismus') beisteuert; das besonders große Gewicht all dieser Faktoren in der Bundesrepublik von heute, die entgegen der Erwartung von Marx der autokratischen Tradition Deutschlands verhaftet geblieben ist und so trotz ihrer geographischen Lage nicht zu einer Brücke zwischen „West" und „Ost", vielmehr zu einem exponierten Brückenkopf des „Westens" gegen den „Osten" geworden ist, so daß es heute als ein Gebot der Realpolitik erscheint, den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen und durch Anpassung an die vorherrschenden Verhaltensweisen und Denkformen zu Wahlerfolgen zu gelangen — schließlich aber auch die Antiquiertheit und Irrealität mancher Grundannahmen von Marx, wie etwa der von der Permanenz der Revolution oder dem sich revolutionierenden Klassenbewußtsein des Proletariers, ja die Einseitigkeit und Widersprüchlichkeit seiner dialektischen Methode selbst und die sich immer mehr entleerende Ideologiehaftigkeit eines zum Fatalismus erstarrenden Vulgär-Marxismus haben das ihre dazu beigetragen, daß die SPD Marx über Bord geworfen hat. Daß sie dabei allerdings nicht über Marx hinaus, vielmehr unter Verschüttung auch mancher echter Erkenntnisse bei Marx, wie z. B. der von der Bedrohtheit, Krisenhaftigkeit und Vergänglichkeit unserer Gesellschaft, hinter ihn zurückgegangen und hier und da auf die von ihm selber so verachteten Lehrformeln einer z. T. illusionären kleinbürgerlichen Demokratie zurückgegriffen hat, gehört zur Tragik dieser Zeit und dieses Landes. Das heißt nicht, daß nicht eine von manchem wirklichen Ballast befreite SPD tagespolitische Erfolge in der Bundesrepublik zu erzielen vermag. 30

Ob sie aus dieser so begrenzten neuen Sicht heraus aber jemals die großen Fragen Europas und der Welt in den kommenden unvorstellbar dynamischen Jahrzehnten theoretisch wird bewältigen können, ist eine andere Frage. Was die grundlegende Konzeption einer Partei anlangt, scheint mir heute erst recht das Wort Rathenaus aus dem Jahre 1919 zu gelten: „Eine Partei, die das Bestehende verteidigt, ist unschöpferisch und unfruchtbar; doppelt in einer Zeit, die sich neu gebiert." Marx hat selber mit seinen Überspitzungen und Halbwahrheiten unbewußt und ungewollt dazu beigetragen, daß er in seinem Heimatland heute wie ein toter Hund oder willkommener Prügelknabe behandelt wird. Die deutsche Arbeiterbewegung wird auch wohl kaum je wieder praktisch oder theoretisch die Rolle der Vorhut der Weltgeschichte spielen, die Marx ihr zugedacht hatte. Andererseits dürfte in der Tat jener Teil der Menschheit, auf den wir lange herabgesehen haben, der aber heute im Aufbruch begriffen ist und der mehr und mehr das Gesicht der Welt von morgen prägen wird, an manche Ansätze von Karl Marx anknüpfen. Sollte die Menschheit überleben, so wird man eines fernen Tages vielleicht in mancher Schule und Universität jenseits der Meere und Berge in Städten, die heute noch nicht einmal existieren, eines zornigen und eifernden Deutschen aus der alten Bischofsstadt gedenken, dessen Vorstellung von Freiheit, um an das Motto dieser Universität anzuknüpfen, für uns vielleicht zu viele Züge der Unfreiheit trägt, dessen Sinn für Gerechtigkeit nicht einfach mit dem von Ihnen und mir identisch sein mag, dessen Streben nach Wahrheit aber so leidenschaftlich und aufopfernd war, daß es allen heute und in Zukunft noch als Vorbild dienen kann.

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DER LENINISMUS ALS PHILOSOPHISCHES SYSTEM Von H.-J.

Lieber

Als philosophisch-systematische Aussage über Mensch, Gesellschaft, Geschichte, Welt und Erkenntnis f o r m t sich der Leninismus nicht ohne eine intensive Bemühung um die Verarbeitung und Weiterbildung der von Marx und Engels konzipierten theoretischen Position. War diese Position einerseits, soweit sie primär auf Marx zurückging, vor allem geschichtlich-politische Theorie der gesellschaftlichen Revolution mit dem Ziel einer Gestaltung von Vernunft in der Gesellschaft derart, daß mit der Revolution Theorie als bloße Theorie sich überwinden und Einheit von Theorie und Praxis, als Humanität in Gedanke und Tat sich herstellen sollte; und war diese Position andererseits, soweit sie auf Engels zurückging, durch den Versuch gekennzeichnet, die am Begriff des Menschen und der Idee seiner Freiheit orientierte Theorie der geschichtlich-sozialen Revolution durch eine Ontologie zu begründen, die die Revolution zum Gestaltungsgesetz alles Seienden überhaupt erklärte, so war der Leninismus, wollte er von dieser in sich durchaus nicht einheitlichen Position aus eben gerade einheitlich weiterdenken, gezwungen, nicht nur revolutionäre Theorie der Geschichte u n d revolutionäre Ontologie zu sein, sondern beides zur Einheit eines philosophischen Aussagesystems zusammenzufügen und aus ihm zu begründen. Der Leninismus als philosophisches System ist der Versuch, diese weder von Engels noch von seinen westeuropäischen sozialistischen Epigonen hinlänglich geleistete Aufgabe radikal und entschieden in Angriff zu nehmen und zu meistern. Er ist nicht zuletzt deshalb ein systematisches Gebilde, selbst wenn man zugestehen muß, daß viele Schriften Lenins durch je aktuelle Anlässe verursachte Gelegenheitsschriften sind und den Charakter solcher Schriften an sich tragen: vorläufig, sporadisch, ad hoc gezielt. Indem das denkerische Bemühen Lenins sich dieser skizzierten Aufgabe zuwandte, blieb jedoch der kontinuierliche Bezug auf Marx und Engels nicht ungebrochen, sondern offenbarte in sich Gebundenheit an eine geistige Tradition spezifisch russischer Provenienz. War diese Gebundenheit einmal und gleichsam hintergründig eine solche an die durch den Begriff principjal'nost' gekennzeichnete Geisteshaltung der russischen Intelligenz, die nach eigener Aussage einiger ihrer Repräsentanten, etwa Berdjaew, einen absoluten theoretischen Dogmatismus unter Überspielung jeder wie auch immer gearteten, an einem 32

Begriff von Aufklärung sich orientierenden Kritik unmittelbar praktisch nahm, so war die erwähnte Gebundenheit vordergründig eine solche eben an diesen naiven Pragmatismus, nach dem jedwede Theorie Anweisung zum Handeln ist und sich darin erschöpft. Gerade die Begegnung der russischen revolutionären Intelligenz mit der Marx'schen Position steht von Beginn an unter einer solchen pragmatischen Perspektive, womit diese Intelligenz freilich selbst schon im Ansatz hinter Marx zurückfällt, hatte doch dieser seit seiner philosophischen Selbstverständigung in den Jugendschriften permanent um einen Begriff von Praxis gerungen, der diese nicht als bloße Anwendung von praxisvorlaufender Theorie zu bestimmen suchte. Wo Marx um eine Uberwindung der Dualität von Theorie und Praxis sich mühte, indem er diese Dualität als Signum einer Situation der Entfremdung nachzuweisen suchte, da ist diese Dualität von Theorie und Praxis ein konstitutives Element für die Aneignung der Marx'schen Position durch die russische Intelligenz. Der Leninismus bildet hierin keine Ausnahme, sondern erhebt diesen Pragmatismus gleichsam ins Systematische. Der skizzierte Sachverhalt wird zunächst von entscheidender Bedeutung für die Aneignung der politisch-revolutionären Theorie im engeren Sinne, also dem historischen Materialismus, ohne freilich darauf beschränkt zu bleiben. Grundlegend dafür ist zunächst die realpolitische Situation der revolutionären Intelligenz in Rußland gegen Ende des vorigen Jahrhunderts. Als das narodnicestvo, die Bewegung der Volksfreunde, mit seinem revolutionären Voluntarismus und Terrorismus sich angesichts der unter Alexander III. einsetzenden scharfen Reaktion, wie auch angesichts verbreiteten Unverständnisses bei dem von ihm angesprochenen Volk, praktisch zur politischen Ohnmacht oder doch Erfolglosigkeit verurteilt sah, war die Begegnung vieler Angehöriger dieser Bewegung mit den Gedanken von Marx gleichsam der Beginn einer neuen revolutionären Besinnung und Konzeption. Indem man — zumeist in der Emigration — die Marx'schen Gedanken kennenlernt und sich dabei vor allem durch gewisse ökonomischdeterministische Passagen angesprochen fühlt, erscheint der Mißerfolg des narodnicestvo und seines Terrorismus nicht mehr als etwas mehr oder minder Zufälliges, sondern als bedingt durch Mißverständnis und Fehleinschätzung der ökonomischen Gesetze politischer und sozialer Revolution. Marx' Werk selbst — mit seiner Konzeption der ökonomischen Determinanten geschichtlich-sozialer Entwicklung, des ideologischen Überbaues, des Klassenkampfes, der revolutionären Rolle und Mission des Proletariats — wurde gemäß eines solchen Verständnisses dann zugleich zum neuen und verbindlichen Evangelium der Revolution und des revolutionären Kampfes. 33 3

U n i v e r s i t ä t s t e g e 1961

Das heißt: für diese revolutionäre Intelligenz in Rußland, die in einer Situation des Scheiterns oder doch der Erfolglosigkeit ihrer bisherigen Aktionen nach einer neuen revolutionären Selbstverständigung suchte, blieb Marx nicht der radikalkritische Analysator der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer inneren Antagonismen, sondern wurde er zum Demonstrator einer universalhistorisch gültigen Entwicklungsgesetzlichkeit der Geschichte und zum darin gründenden Propheten konkreter revolutionär-politischer Aktion. Es ist hier nicht die Frage zu untersuchen, ob und in welchem Sinne etwa durch ein solches Begreifen Marxens die in seinem Werk nicht restlos gelöste Spannung zwischen politisch-revolutionärem Aktivismus und radikal-kritischer Analyse als Element der verändernden Aufklärung nicht durch die russische Intelligenz eindeutig und einseitig im Sinne eines revolutionären Aktivismus gelöst wurde. Von Bedeutung für die systematische Entfaltung zunächst der politisch-philosophischen Konzeption des russischen Marxismus und dann auch des Leninismus war etwas anderes: Wollte man — gleichsam in positi vis tisch-pragma tischer Manier — auf der wissenschaftlichen Erkenntnis universalgeschichtlich-gültiger Entwicklungsgesetzlichkeiten, als welche man Marx' Lehre nahm, Rezepte für die konkrete, politisch-revolutionäre Aktion, also den handelnden Eingriff in die Gesellschaft ableiten, dann mußte die politischsoziale Situation Rußlands, in die hinein man agieren wollte, kritisch mit jenen ökonomisch-sozialen Bedingungen konfrontiert werden, die gemäß dem Werk von Marx als unabdingbare Voraussetzungen eines sich in der proletarischen Revolution gegen sich selbst wendenden Kapitalismus erkannt waren. Eine solche Konfrontation aber mußte sachnotwendig zu dem Eingeständnis führen, daß Rußland unmittelbar und für absehbare Zeit für eine proletarische Revolution als Voraussetzung einer sozialistischen Gestaltung der Gesellschaft nicht reif war. Seiner — trotz gewisser Anfänge bürgerlich-kapitalistisch-industrieller Produktion — im Grunde vorbürgerlichen Staats- und Gesellschaftsstruktur fehlte ja gerade jener entfaltete und profilierte Klassenantagonismus zwischen Bürgertum und Proletariat, der — zum Bewußtsein des Proletariats gelangt — nach Marx der proletarisch-revolutionären Aktion allein die geschichtliche Wirkmächtigkeit zu verleihen vermochte. War aber die sich zu Marx bekennende russisch-revolutionäre Intelligenz zu solcher kritischen Einsicht gezwungen, dann gab es für sie eigentlich nur e i n e verbindliche Alternative: entweder gilt der geschichtsdeterministisch verstandene Marx auch für die Entwicklung Rußlands, so daß dieses eine westeuropäische Entwicklung durchzumachen oder vielmehr zunächst nachzuholen hat, oder aber Rußland 34

kann aufgrund seiner eigenen geschichtlich-sozialen Voraussetzungen einen eigenen Weg zum Sozialismus gehen, dessen Gestalt dann freilich mit den von Marx vorgegebenen politisch-revolutionären Kategorien nicht hinreichend zu bestimmen war. Daß für die russische revolutionäre Intelligenz diese Alternative zunächst bestimmend werden konnte, hat seinen ideellen Grund in der Tradition dieser Intelligenz selbst. Von Alexander Herzen, dem Initiator des narodnicestvo über Bakunin, Cernysevskij und Tkacev bis hin zu den radikalen narodniki der endenden siebziger Jahre ist dieser Intelligenz ein Glaube gemeinsam: daß Rußland in Anknüpfung an die kollektivistische Eigentumsordnung der Dorfgemeinde, des mir, einen eigenen von Westeuropa unterschiedenen Weg zu einem bäuerlichgenossenschaftlichen Sozialismus werde gehen können. Obwohl dieser Glaube zweifellos einer Idealisierung und Romantisierung der mirVerfassung entsprang, so war er doch für die ersten russischen Marxisten noch so attraktiv, daß Vera Zasulic 1881 in einem Brief an Marx um eine verbindliche Auskunft über die These vom eigenen russischen Weg zum Sozialismus bitten konnte. So kurz Marxens Antwort auf diese Anfrage ausfällt, er hat sie sich nicht leicht gemacht. Schon anläßlich seiner Studien über Indien und China war er auf die Fragen einer revolutionär-sozialistischen Gesellschaftsgestaltung in Ländern mit ausgeprägter Agrarstruktur gestoßen. Und wie seine umfangreichen Entwürfe zu einem Antwortschreiben an V. Zasulic zeigen, hat er sich anläßlich ihres Briefes erneut ausführlich mit diesem Problem auseinandergesetzt. In seiner Antwort, die dann ähnlich auch in der Ausgabe des Kommunistischen Manifestes von 1882 wiederholt wird, beschränkt Marx seine Analysen über Möglichkeiten und Voraussetzungen einer revolutionär-sozialistischen U m gestaltung der kapitalistischen Gesellschaft eindeutig auf Westeuropa und gesteht zu, daß das mir zur Grundlage einer gesellschaftlichen Erneuerung Rußlands werden könne, die der westeuropäischen sozialen Revolutionierung korrespondiere. Freilich knüpft er diese positive Antwort an drei Bedingungen: die Dorfgemeinde müsse noch lebenskräftig und nicht schon im Zerfall begriffen sein, sie müssen von allen etatistischen und sonstigen Begrenzungen und Fesseln befreit werden und ihre politisch-revolutionäre Befreiung müsse in Korrespondenz zu einer europäisch-proletarischen Revolution stehen. Auf diese Antwort Marxens wäre hier kaum hinzuweisen, hat sie doch in ihrem Inhalt für die geistige und politische Formierung des russischen Marxismus keine beachtenswerte Rolle gespielt. Interessant ist dieser ganze Vorgung vornehmlich wegen der Reaktion der ersten russischen Marxisten auf Marxens Auskunft. Und diese Reaktion vermag, so scheint es, die an den Beginn der Ausführungen gestellte These 3'

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vom pragmatisch-revolutionär-aktivistischen Verständnis der Marx'?chen Lehre zu bestätigen. Wo nämlich, wie aus dem Brief der Zasulic ersichtlich, die russischen Marxisten eine Antwort erwarteten, die von ihnen so oder so als konkrete Aktionsdirektive hätte verstanden werden können, da gab Marx eine bedingungsanalytische Auskunft als kritischer Theoretiker. Und nicht nur dies: die von ihm nicht näher präzisierte revolutionäre Befreiung des mir oder der obscina von den erwähnten Fesseln wurde von der Ergänzung durch eine erfolgreiche westeuropäische Revolution in einem so starken Maße abhängig gemacht, daß die russischen Marxisten darin eine entscheidende Begrenzung der ihnen möglichen revolutionären Aktivität erblicken mußten. Was sie von Marxens Antwort erwarteten, das gerade also bot er ihnen nicht. Ihre Reaktion war daher auch, jene Passagen in Marxens Antwort aufzugreifen und ernst zu nehmen, in denen er lediglich im Konjunktiv von der Lebensfähigkeit der obscina sprach. Unter geistiger Führung von Plechanov verlegten sich die Versuche einer an Marx orientierten revolutionären Selbstverständigung eben darauf, den schon beginnenden Verfall der obscina wie den ebenso schon beginnenden Aufbau einer kapitalistischen Produktion und das Anwachsen eines Industrieproletariats in Rußland zu beweisen. In der Tat war es das geistige Wirken Plechanovs, das den sich geistig wie politisch formierenden russischen Marxismus schließlich auf das Bekenntnis zum europäischen Weg Rußlands festlegte. Aber Plechanov tat das, so will es scheinen, nicht nur, um aus der sicher zutreffenden Einschätzung der russisch-bäuerlichen Mentalität als einer konservativen ein für alle mal mit der tradierten mir-Romantik aufzuräumen, sondern vor allem, um aufgrund einer solchen Situationsanalyse breiteren Raum zu gewinnen f ü r eine unmittelbar mögliche und als sinnvoll erscheinende politisch-revolutionäre Aktion. Diese konnte dann freilich nur eine solche Stützung der liberal-bürgerlichen Revolutionierung der bestehenden vorbürgerlichen Autokratie sein. Hatte in Rußland nämlich, nach Plechanovs Ansicht, die Entwicklung zum industriellen Kapitalismus schon begonnen, dann bestand der einzig mögliche Weg nach vorn in der bürgerlichen Revolution. Erst im Rahmen der Konsolidierung ihrer politischen Errungenschaften — das blieb dabei der verbindliche Glaube — würden sich die Klassengegensätze zwischen Proletariat und Bourgeoisie so profilieren, daß auch hier der Kampf um die sozialistische Revolution beginnen könne. Was also für die russischen Revolutionäre auf der Grundlage einer übersteigert deterministischen Aneignung Marxens als Ziel unmittelbarer politischer Aktion zur Debatte stand, das war das zwar als begrenzt und vorläufig gedachte, aber doch für eine längere Zeit als 36

notwendig angesehene revolutionäre Kampfbündnis des marxistisch aufgeklärten Proletariats mit der politisch-revolutionären Bourgeoisie. Und in dieser Situation einer an der Möglichkeit unmittelbarer, politisch-revolutionärer Aktion vornehmlich orientierten Selbstverständigung der russischen Marxisten unter Führung Plechanovs beginnt nun im Denken und Handeln Lenins der sogenannte Leninismus zunächst als politische Philosophie systematisch Gestalt zu gewinnen. In der radikalen Bekämpfung der politischen Konzeptionen des narodnicestvo mit Plechanov durchaus einig und von dem westeuropäischen Weg Rußlands vorerst gleichermaßen überzeugt, lehnt Lenin doch das ökonomisch-deterministische Verständnis der Marx'schen Theorie mit Entschiedenheit ab und zwar wiederum wegen seiner Konsequenzen f ü r die politische Aktion. Zwar sei es gewiß, daß auch in Rußland zunächst eine bürgerliche Revolution stattfinden und sich der Kapitalismus ausbreiten müsse; dennoch gäbe es schon jetzt, d.h. in der noch vorbürgerlichen-revolutionären Phase der Entwicklung, eine politisch-revolutionäre Aufgabe f ü r das Handeln der sozialistischen Partei, die eben darin bestehe, bei dem Proletariat jene radikal-klassenkämpferisdie Bewußtheit zu erzeugen, ohne die es nicht zur revolutionären Aktionseinheit werde. Die proletarische Revolution sei zwar gewiß, aber komme nicht von selbst, sondern sie setze ein klassenbewußtes Proletariat voraus, das ihr Träger sei, das sich in Rußland bisher kaum gebildet habe und das auch auf keinen Fall weder durch ein fatalistisches Geschichtsverständnis noch durch Aktionsbündnisse mit dem Bürgertum der Chance und Notwendigkeit eines Umbruchs seiner revolutionären Impulse in eine einheitliche Aktion beraubt werden dürfe. Mag diese Argumentationsweise Lenins, wie sie sich in seinen ersten Publikationen in der Iskra abzuzeichnen beginnt, zunächst durchaus auf die spezifisch russischen Verhältnisse zugeschnitten sein und somit als Beitrag zu einer internen Auseinandersetzung der russischen Marxisten zu gelten haben, was sich in ihr bekundet, wird schließlich zum Fundament einer einen allgemeinen Geltungsanspruch f ü r die sozialistische Bewegung überhaupt erhebenden politischen Philosophie der revolutionären Selbstbefreiung des Proletariats. Das wichtigste Dokument für diese politische Philosophie des Leninismus ist zweifellos die aus dem Jahre 1902 stammende Schrift mit dem bezeichnenden Titel: „Was tun?" — Alle späteren Schriften Lenins, von „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritt zurück" über „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution" bis hin zu „Staat und Revolution" dürfen als Explikation und Konkretisierung der in der frühen Schrift entwickelten politischen Philosophie gelten. Mag auch in dieser Schrift die interne Auseinandersetzung mit verschiedenen Richtungen im russischen Marxismus der äußere Anlaß 37

gewesen sein und im Vordergrund stehen, mag Lenin sich in seinen Konzeptionen der Parteiorganisation und -aktion wieder offen und bewußt Gedankengängen radikaler narodniki zubekennen, die in den Schriften etwa eines Necajev und Tkacev entwickelt worden waren, seine Aussage bleibt in ihrem Anspruch nicht auf die russische Situation beschränkt. Im Gegenteil: indem er seine Argumente auf die grundlegende Auseinandersetzung mit Bernstein und dem Revisionismus bezieht und von dort her abzusichern sucht, indem er für sie in Anspruch nimmt, die Erfahrungen der Entwicklung der sozialistischen Bewegung in den westeuropäischen Ländern kritisch ausgewertet und angeeignet zu haben und indem er schließlich dem russischen Proletariat dann, wenn es sich seinem Konzept entsprechend verhalte und organisiere, die Erfüllung einer avantgardistischen Mission gegenüber dem internationalen Proletariat überhaupt zuspricht, geriert er sich als Konzeptor einer umfassenden Philosophie politisch-sozialistischer Revolution. Für diese politische Philosophie der proletarischen Revolution aber ist und bleibt fortan eine grundlegende Unterscheidung von Bedeutung: die Unterscheidung zwischen dem „spontanen" und dem „bewußten" Element in der Gestaltung der Revolution und zwischen dem Proletariat als „Masse der Proletarier" und dem Proletariat als klassenkampfbewußter, revolutionärer Einheit. Lenin ist soweit Marxist, daß er dem Proletariat auf Grund der geschichtlichen Entwicklungsgesetzlichkeit ein Gravitieren zum Sozialismus hin zuerkennt. Aus eigener Kraft, spontan, gelangt aber das Proletariat nach Lenin immer nur zu einer gewerkschaftlichen Einstellung und Organisation, sein Bewußtsein bleibe reformistisch und tradeunionistisch, im Mittelpunkt des Verhaltens und der politischen Aktion stehe der Kampf um die Verbesserung von Arbeits- und Lohnbedingungen. Insofern als sich dieser Kampf jedoch im Rahmen der bestehenden kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung abspiele, im angezielten Kompromiß diese Ordnung recht eigentlich sanktioniere, und nicht negiere, stelle das Proletariat auf Grund seiner Lage aus sich heraus zwar eine revolutionäre Potenz, nicht aber schon eine revolutionäre Realität und Macht dar. Erfolg und Vollzug der Revolution hängen eben nach Lenin gar nicht primär von der Klassenlage, sondern vielmehr von der Klassenbewußtheit ab. Erst in der Einheit einer radikal kämpferischen, die Existenz des politisch-sozialen Gegners total negierenden Klassenbewußtheit formiert sich das Proletariat als revolutionäre Klasse. Ist die Klasse der Proletarier spontan zur Erringung eines solchen, ihre Einheit als Klasse konstituierenden Bewußtseins nicht befähigt, so resultiert daraus die Aufgabe einer breit angelegten Aufklärungsarbeit unter 38

den Massen des Proletariats mit dem Ziel revolutionärer Bewußtseinserhellung. In der Beantwortung der Frage, wem nun diese f ü r die Revolution notwendige Aufklärungsarbeit als Aufgabe obliegt, entwickelt Lenin seine weithin bekannten Ansichten über Funktion, Charakter und Organisation der bolschewistischen Partei. Wenn die erste Voraussetzung der Revolution und ihres Erfolges die proletarische Bewußtheit und wenn der Kernpunkt dieser Bewußtheit die Bedingungslosigkeit des Klassenkampfes ist, dann muß die vordringlichste Aufgabe einer proletarischen Partei darin bestehen, aus der Masse der zahlreichen, aber ungegliederten, ausgebeuteten Arbeiter überhaupt erst einmal eine einheitliche Klasse zu bilden, das heißt, das Proletariat zu einer Einheit zu formen. Eben deshalb kann diese Partei auch nicht das ganze Proletariat umfassen, sondern muß in einer kleinen, zentral gelenkten Führungsgruppe bestehen, deren Mitgliedschaft strengen Auswahlprinzipien und einer scharfen Kontrolle ihrer revolutionären Bewußtheit unterliegt. N u r diese zur Führung im revolutionären Kampf berufene Partei kann den Erfolg der Revolution garantieren. Die Aufgabe einer sozialistischen politischen Partei ist der bedingungslose politische Kampf gegen die herrschende Klasse mit dem Ziel ihrer totalen Vernichtung. Ihr Ziel ist und bleibt also nach Lenin die totale gesellschaftliche Revolution: das Mittel dazu ist der schonungslose Ideologieverdacht, und der zu beschreitende Weg besteht in der Gründung und Organisation einer Partei der Berufsrevolutionäre, die in der Übergangsphase der Diktatur des Proletariats auch zur Führung berufen sei und alles Recht auf ihrer Seite habe. Es ist hier nicht der Ort, die Differenzierungen dieser Theorie bis zu dem Buch „Staat und Revolution" und bis zu den programmatischen Äußerungen während der Revolutionszeit, sowie die Bedeutung dieser Theorie f ü r den Vollzug der Revolution, f ü r das Verhältnis zwischen Bolschewiki und Sowjets und f ü r Lenins Vorstellung einer „demokratischen" Diktatur, eines demokratischen Zentralismus zu erörtern. Für uns handelt es sich um die Konsequenzen, die sich aus der Theorie vom Führungsanspruch einer parteilich organisierten proletarischen Avantgarde f ü r die Lehre einer notwendigen Einheit von Theorie und Praxis ergeben. Sie bieten sich von selbst an: da die Spontaneität, die Eigengesetzlichkeit des ökonomisch bestimmten Geschichtsprozesses die Revolution zwar vorbestimmt, aber das Proletariat als Gesamtheit der Proletarier auf Grund der sich nicht ebenso spontan herstellenden Einheit von sozialem Sein und Bewußtsein nur virtuell eine revolutionäre Kraft darstellen, wird das Bewußtsein für Lenin zum primären Gestaltungs- und 39

Vollzugselement der Revolution. Auch für diese These kann sich Lenin formal noch auf Marx berufen, hatte doch dieser davon gesprochen, daß das Bewußtsein selbst zur materiellen Gewalt wird, wenn es die Menschen ergreift. Aber gerade dieser Marxsche Satz wird im Denken Lenins zur Grundlage der Legitimation des Führungsanspruches der proletarischen Avantgarde, denn das Ergreifen der Massen durch die revolutionäre Bewußtheit ist eben nicht spontan sich herstellende Identität von Aktion und Reflexion, sondern es ist Ergebnis einer zielgerichteten politisch-sozialen Aufklärung der Massen. Insofern als diese Aufklärung f ü r Lenin nicht Selbstaufklärung des Proletariats sein kann, fällt sie als Aufgabe zielbewußter und gesteuerter Aktion jener besonders revolutionsbewußten Avantgarde des Proletariats anheim, in der sich der geschichtlich-revolutionäre Auftrag des Proletariats und sein Bewußtsein gleichsam inkarniert. Das aber bedeutet: von einer ursprünglichen Identität von Bewußtsein und Aktion kann nach Lenin eigentlich nur in bezug auf die proletarische Avantgarde, d.h. aber konkret: in bezug auf die Partei der Bolschewiki gesprochen werden. In den Händen der Partei verwandelt sich demzufolge die Funktion der Theorie, sie wird zum Instrument einer steten revolutionären Aktivierung der Massen. Ohne die Partei gelangt das Proletariat weder zum Bewußtsein seiner historischen Mission, noch zu einer diese Mission erfüllenden Aktion. Es ist die Partei, die die geschichtlich notwendige und geforderte Einheit von Theorie und Praxis recht eigentlich erst schafft, ohne sie und ihre Aktivität ist diese Einheit im umfassenden Sinne nicht möglich. So findet das Proletariat eben nur durch die Partei in Bewußtsein und Aktion zu seiner eigenen geschichtlichen Wahrheit. Es mag von hier aus verständlich werden, wieso die Lehre einer notwendigen Einheit von Theorie und Praxis bei Lenin in der bekannten Forderung einer bedingungslosen Parteilichkeit des Denkens kulminiert, und warum sich für Lenin Parteilichkeit und Wahrheit das Bewußtsein nicht ausschließen, sondern im Gegenteil gegenseitig bedingen, ja sogar identisch sind. Manifestiert sich die Wahrheit der Geschichte auf Grund der sikizzierten Gedankengänge in der theoretisch profilierten Aktion der Partei, so ist die Bindung des Bewußtseins an die Partei mit logischer Konsequenz der einzige Garant einer Wahrheit des sozialen Seins und Bewußtseins des zur Erfüllung der Geschichte und seiner eigenen Aufhebung berufenen Proletariats. Ist schon durch diese Gedanken, die zweifellos über ad hoc Konzeptionen politischer Aktion hinaus ins Grundsätzliche weisen, mit aller Radikalität eine politisch-pragmatische und auch voluntaristische Komponente in die Marx'sche Gedankenwelt hineingebracht, die mit dessen Versuch einer dialektischen Fassung des Verhältnisses von 40

Theorie und Aktion sicher nur noch entfernt zusammenstimmt und auch mit Marxens eigener Argumentation gegen die sogenannte Fraktion Willich-Schapper aus dem Jahre 1852, daß nämlich niemals der bloße Wille anstelle der wirklichen Verhältnisse zum Triebrad der Revolution gemacht werden dürfe, zumindest kritisch anzugehen wäre, so ist unter unserem Aspekt, der aus der Frühschrift Lenins die Ansätze zu einer systematischen politischen Philosophie herauszuheben sucht, etwas anderes von entscheidender Bedeutung. Wenn es nämlich als das Strukturprinzip totalitärer Ideologien überhaupt gelten darf, daß sie mit einem missionarischen Volksbegriff arbeiten, der jeden Pluralismus der Sozialgruppierung schon als Abfall von der Volkseinheit zu deklassieren in der Lage ist, daß sie weiterhin in diesem Volksbegriff die Spannung zwischen Potenz des Volkes zur Erlangung seiner Mission als Wahrheit des völkischen Seins einerseits und Unvermögen zur Verwirklichung dieser Potenz andererseits auf eine solche Weise einbauen, daß nur in der Identifikation mit einer berufenen Führungselite das Volk sich selbst in seiner Wahrheit und Mission zu verwirklichen und zu erfüllen vermag, — wenn also die Identifikation von Führungs- und Volkswille Kern und Ziel totalitärer Ideologie ist, dann ist gerade eine solche politische Philosophie totaler Identifikation im Werk Lenins ausgeprägt und bleibt für den von ihm sich herleitenden Leninismus bestimmend. Diesen Sachverhalt unterstreicht nicht zuletzt der ebenfalls schon in der erwähnten Frühschrift Lenins enthaltene Gedanke, daß die organisierte Avantgarde des Proletariats, indem sie es durch ihre Führung zu seiner eigenen geschichtlichen Wahrheit in Bewußtsein und Aktion bringe, zugleich im Namen des ganzen Volkes und für das Volk tätig sei; ein Gedanke, der Lenins grundsätzlichen Antiparlamentarismus ebenso bekundet, wie seinen neuen Parteibegriff, der eben in der totalen politischen Identifikation des pars pro toto ausmündet; ein Gedanke schließlich, der dann in „Staat und Revolution" zur vollen Entfaltung gelangt. Wenn Lenin sich dabei in „Staat und Revolution" darum bemüht, von den Marx'schen Wertungen der Pariser Kommune aus seinen Gedanken einer die Gewaltenteilung wie den Parlamentarismus überwindenden Räterepublik zu begründen, so kann er sich formal durchaus auf Marx berufen. Der politisch-philosophische Gehalt seiner Deduktionen ist jedoch ein anderer, als bei Marx und weist ausgeprägt in die Richtung der erwähnten ideologischen Identifikationen. Indem es sich für ihn darum handelt, die radikale Herrschaft einer aufgeklärten Avantgarde über die unaufgeklärte Masse der Proletarier auch und gerade innerhalb der Sowjets als allein reale Gestalt einer Herrschaft eben dieser Massen auszugeben und zu demonstrieren, gipfelt sein Werk in dem Selbstverständnis totaler, zentralistischer Diktatur 41

als totaler Demokratie, ein Selbstverständnis, das den Kern des politisch-philosophischen Leninismus bildet. Das Verdikt Marxens gegen Bakunin und Necaev aus den Jahren 1872/73, daß nämlich das Proletariat um seiner selbst willen niemals und durch niemand zum bloß chaotischen Material für die bewußte Bearbeitung und Formung durch „Meister" und „Priester" der Revolution degradiert werden dürfe, trifft damit auch Lenin in seiner Konzeption, und zwar nicht so sehr wegen der Unterscheidung zwischen dem spontanen und dem bewußten Element des Proletariats, die man im Ansatz auch bei Marx finden kann, als vielmehr eben wegen der Abgrenzung einer aufgeklärten Elite gegen eine unaufgeklärte Masse. Gerade diese Konzeption läßt das Marx'sche Vertrauen auf die in Aktion umschlagende kritische Selbstaufklärung des Proletariats gründlich hinter sich. Der sich nicht zuletzt auch in dieser Elitentheorie Lenins ausdrückende Voluntarismus zeitigt freilich seine realpolitische Konsequenz wiederum totalitärer Prägung: je mehr es gelingt, den gerade auch in bezug auf das Volk missionarischen Proletariatsbegriff, die in ihm enthaltene Spannung von Sein und Sollen oder Potenz und Aktus und die daraus abgeleitete Identifikation von Führungswille und Volkswille verbindlich zu machen, um so eher gelingt die reale politische Entmachtung dessen, was faktisch Volk heißen kann. Realpolitische Entmachtung des faktischen Volkes im Zuge seiner missionarischen Verklärung und Identifikation mit einer seine Wahrheit inkorporativ darstellenden Elite, dies drängt sich als Konsequenz des politisch-philosophischen Leninismus auf. Jedoch ist Lenin in seinem Denken bei einer pragmatisch-politischen Philosophie der Geschichte und Gesellschaft nicht stehengeblieben, sondern hat sie durch eine umfassende Ontologie und Erkenntnistheorie, den eigentlichen dialektischen Materialismus, überhöht. Das im Mittelpunkt seines Denkens stehende Postulat einer Einheit von Theorie und Praxis läßt es jedoch nicht zu, diesen Sachverhalt lediglich als zufällige, äußerliche oder akzidentelle Bestimmung seiner geistigpolitischen Existenz zu begreifen. Der Interpret ist vielmehr gerade da gezwungen, hintergründige Motivationen aufzuspüren, die es gestatten, den inneren Zusammenhang von Theorie und Praxis der Politik, Ontologie und Erkenntnistheorie zu begreifen. Ein solches Begreifen der strukturellen Verbundenheit von Politik, Ontologie und Erkenntnistheorie ist dabei von Lenin selbst gefordert, steht es für ihn doch unbezweifelbar fest, daß nur die umfassende Philosophie des dialektischen Materialismus die Wahrheit politischrevolutionärer Selbstverständigung und Aktion garantiert. Lenin erweist sich damit als ein getreuer Anhänger der philosophischen Versuche Engels', die ja auch darin gipfeln, den historischen Materialismus 42

Marxens durch eine ontologisdie und erkenntnistheoretische Verallgemeinerung umfassend philosophisch zu fundamentieren. Im Mittelpunkt dieser Versuche Engels stand dabei bekanntlich das Bemühen, die Dialektik — verstanden als Kampf der Gegensätze — als Gestaltungsprinzip alles Seienden und zumal auch der Natur nachzuweisen, und die These einer Abhängigkeit des Bewußtseins vom Sein zu einem übergreifenden sowohl ontologischen als auch erkenntnistheoretischen Postulat auszuweiten. Konkret war er dabei auf die Problemstellungen eines an den Naturwissenschaften seiner Zeit orientierten Materialismus hingewiesen. Er mußte die Thesen seines dialektischen Materialismus als mit den Ergebnissen naturwissenschaftlicher Erkenntnis vereinbar nicht zuletzt deshalb zu beweisen suchen, weil Eugen Dühring gerade diese Möglichkeit bestritten hatte und damit nicht ohne Einfluß auf die Führung der Berliner Sozialdemokratie geblieben war. Engels war die Lösung dieser Aufgabe — wenn auch unvollkommen — dadurch gelungen, daß er zunächst eine nicht ontologisdi-materialistische, sondern erkenntnistheoretisch-realistische Definition der Materie vorlegt, diese dann jedoch Zug um Zug mit Bestimmungen einer dialektisch-materialistischen Ontologie anreichert und schließlich Forschungsergebnisse der zeitgenössischen Naturwissenschaften gemäß den vorgegebenen Deutungsschematismen seines dialektischen Materialismus interpretiert. Lenin ist durch sein rückhaltloses Bekenntnis zur geistigen Einheit von Marx und Engels, historischem und dialektischem Materialismus, zwar an die von Engels vorgegebenen ontologischen und erkenntnistheoretischen Postulate gebunden, er kann sich jedoch mit ihrer einfachen Annahme oder Übernahme nicht begnügen. Die Problemsituation der Naturwissenschaften hat sich gegenüber den Zeiten der Engelsschen Konzeptionen nicht nur radikal geändert, sondern dahin zugespitzt, daß die Naturwissenschaft selbst im Zuge der Entdeckung der energetischen Struktur des Atoms an der Gültigkeit des Materiebegriffes zu zweifeln begannen. Die These vom „Verschwinden der Materie" steht nicht zufällig im Mittelpunkt der naturwissenschaftlichphilosophischen Diskussion seiner Zeit. Die Deutschen Mach und Avenarius zogen in ihrer empiriokritizistischen Philosophie daraus die Konsequenz, indem sie behaupteten: die Welt ist dem erkennenden Menschen zunächst und unmittelbar in der Empfindung gegeben. Alle Begriffe, mit denen wir uns gemeinhin verständigen, sind nichts anderes als Zeichen für solche unmittelbaren Empfindungen und Empfindungszusammenhänge. Sie sind gleichsam nichts anderes als gedankliche Symbole, die der Verständigung unter den Menschen dienen und diese Verständigung erleichtern, die aber in der Wirklichkeit selbst keine Entsprechung haben. 43

Und man behauptet nun, daß die Ausbildung solcher Begriffe und die Formulierung von Naturgesetzen im Leben wie in der Wissenschaft ein Prozeß sei, der darin seine Grundlage habe, daß der Mensch sich um eine Ersparnis seiner Gehirntätigkeit, um eine Ökonomie des Denkens bemühe. Wenn also schon alle Erkenntnis sich auf Empfindungen und Empfindungszusammenhänge zurückführen lasse, so sei doch die Begriffsbildung für den Menschen notwendig und seine eigentliche Erkenntnisleistung. Denn Erkennen ist eigentlich nichts anderes als Ordnung der Empfindungen mit den Mitteln des Begriffes zum Zwecke einer möglichst einfachen Verständigung und einer möglichst großen Ersparnis der Geistestätigkeit. Die Leistung des wissenschaftlichen Denkens also beruht vor allem in einer Vereinfachung der Verständigung zwischen den Menschen über ihre Empfindungsinhalte. Wie immer man die Leistung dieser Philosophie f ü r die Lösung der naturwissenschaftlichen Problematik heute einschätzen mag, es ist nicht zu verkennen, daß der in ihr enthaltene Nominalismus jeder materialistischen Ontologie eigentlich den Boden entzog. Dennoch wäre der Kampf Lenins gegen diese Philosophie in der Schärfe, in der er von ihm geführt wird, kaum verständlich, wenn nicht der Empiriokritizismus zum philosophischen Standort auch einer Gruppe von Bolschewiki geworden wäre, die unter Führung von Bogdanow stand, und wenn nicht gerade diese Gruppe von den Grundlagen dieser Philosophie aus auch zu einer von Lenin unterschiedenen Revolutionstheorie gelangt wäre. Bogdanow greift den Empiriokritizismus auf und formt ihn dahingehend aus, daß Erkenntnis nichts anderes sei, als Organisation von Empfindungselementen. Insofern jedoch als uns die Wirklichkeit nur in Empfindungen vermittelt ist, ist sie als erkannte Wirklichkeit Produkt dieser organisierenden Tätigkeit. Ihre Objektivität gründet in der sozialen Ubereinkunft über die Begriffe als Organisationsprinzipien. Philosophie als Lehre von der Wirklichkeit und ihre Erkenntnis wird demzufolge zur Organisationswissenschaft, zur Tektologie. Und daraus ergeben sich dann auch nach Bogdanow Konsequenzen f ü r die politisch-revolutionäre Theorie. Wenn Marx gefordert hatte, die Philosophie habe die Welt zu verändern, so glaubt Bogdanow dieser Forderung mit seiner Organisationswissenschaft gerecht zu werden. Wie das Denken ein Organisieren von Erfahrungselementen ist, so ist überhaupt jede menschliche Tätigkeit schlechthin eine organisierende. Der Sinn jeder Organisation liegt in der Herstellung von Gleichgewichtszuständen zwischen den verschiedensten gegeneinander gerichteten Kräften. Jedes einmal errungene Gleichgewicht jedoch kann immer wieder erneut dadurch gestört werden, daß Kräfte auftreten, die in dem bisherigen Gleichgewichtszustand nicht 44

gebunden waren. In diesem Sinne wird ihm dann der Kampf um das Gleichgewicht nicht nur zum obersten Prinzip menschlich organisierender Tätigkeit, sondern auch zum Entwicklungsgesetz der Welt und der Geschichte. Dialektik ist nach Bogdanow ein Kampf um die Aufhebung von Gleichgewichtsstörungen, die sich aus dem Gegeneinander verschieden gerichteter Kräfte ergeben. Das Bewußtsein ist dann nicht nur eine ideologische Widerspiegelung bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern es ist — und das ergibt sich aus der Bedeutung, die Bogdanow der organisatorischen Erfahrung für die Gesellschaftsgestaltung zuerkennt — selbst die entscheidende gesellschaftsgestaltende Kraft. Das hat dann auch ganz bestimmte Konsequenzen für seine Gesellschafts- und Revolutionstheorie. Für Bogdanow ist die Aufspaltung der Gesellschaft in Klassen nicht primär das Ergebnis des unterschiedlichen Besitzes an Produktionsmitteln, sondern des unterschiedlichen Besitzes an organisatorischer Erfahrung. Die herrschende Klasse ist für ihn die Klasse der Produktions-Organisatoren. U n d der Weg zur Aufhebung der sozialen Klassengegensätze, zur Herstellung des sozialen Gleichgewichtes, ist daher auch ein anderer als Marx meint. Es k o m m t nicht so sehr auf die Sozialisierung des Eigentums an, auf die Überführung der Produktionsmittel in die Hand der Arbeiterklasse, sondern es k o m m t auf eine Sozialisierung der organisatorischen Erfahrung an, darauf also, daß das Proletariat zum Erwerb einer solchen Erfahrung befähigt wird und an den Schlüsselstellungen teilgewinnt, von denen aus die Gesellschaft organisiert wird. Hieraus ist ersichtlich, wie Bogdanow von einer neuen philosophischen Grundlegung des Marxismus aus auch zu einer abweichenden Revolutionstheorie gelangt, die nicht mehr entschieden an dem Gedanken des bedingungslosen Klassenkampfes festhält. Diese hier nur skizzierte, durch eine vom dialektischen Materialismus abweichende Philosophie begründete Revolutionstheorie Bogdanows ist der Schlüssel zum Verständnis von Lenins Bemühungen um die Grundlegung des dialektischen Materialismus angesichts einer gegenüber Engels veränderten naturwissenschaftlichen Problemsituation. Es erweist sich nämlich, daß politische Notwendigkeiten, daß Postulate der Revolutionstheorie die Ausarbeitung des dialiktischen Materialismus durch Lenin begründen. Der philosophische Gedanke, der in dem so entstehenden Werk Lenins seine Darstellung findet, entfaltet sich nicht genuin an einer philosophischen Problemsituation, die ihn zur kritischen Bewährung aufruft. E r stellt sich vielmehr pragmatisch in den Dienst eines revolutionären Wollens, das in seiner Tendenz und Legitimierung sich als durch die veränderte naturwissenschaftlich-philosophische Problemsituation gefährdet ansieht. Die Philosophie hat sich daher auch hier, d.h. in der Behandlung 45

einer neuen, nicht unmittelbar politischen, sondern naturwissenschaftlich geprägten Problemsituation — gemäß der postulierten Einheit von Theorie und Praxis — als Element einer Gestaltung und Legitimierung der politisch-revolutionären Praxis zu bewähren. In der Ausarbeitung einer so gearteten Philosophie beginnt Lenin bezeichnenderweise nicht mit ontologischen Definitionen, sondern mit erkenntnisrelationalen, da er argumentiert: der Begriff Materie meint lediglich den Sachverhalt, daß es ein vom Bewußtsein unabhängig existierende Außenwelt gibt, die allem Bewußtsein vorgegeben, auf die es hingewiesen, von der es im Erkenntnisvollzug abhängig ist. Materialismus also erscheint gleichbedeutend mit Realismus. Lenin sucht diese Behauptung durch eine Unterscheidung zwischen einem philosophischem und einem naturwissenschaftlichen Materiebegriff zu sichern und zu stützen. Der naturwissenschaftliche Begriff der Materie enthält, so meint Lenin, inhaltlich bestimmte Aussagen über die Eigenschaften des Seienden. Was die Naturwissenschaften jedoch über die besondere Gestalt dieses Gesetzes und damit über die inhaltlich besonderen Eigenschaften der Materie im einzelnen aussagen, ist abhängig von den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln der experimentellen Gegenstandszergliederung und Gegenstandsbeobachtung. Wie sich die Erkenntnismethoden der Naturwissenschaften ständig wandeln und zunehmend verfeinern, so wandelt sich fortschreitend auch unser Wissen um die besonderen Bestimmungen und Eigenschaften der Materie. Das aber bedeutet: der naturwissenschaftliche Materiebegriff ist nicht absolut, sondern nur relativ auf den geschichtlichen Erkenntnisfortschritt gültig. Hier gibt es grundsätzlich kein endgültiges und fertiges Wissen von der Materie. Anders verhält es sich jedoch nach Lenin mit dem philosophischen Materiebegriff. Er enthält keine besonderen Eigenschaftsbestimmungen der Materie, sondern nur die grundsätzliche Behauptung darüber, daß es eine unabhängige vom erkennenden Bewußtsein bestehende Wirklichkeit gibt, auf die alles Erkennen zugeordnet ist. Im philosophischen Sinne sei der Begriff der Materie nur eine Kategorie, das heißt, eine für das Denken verbindliche Aussageweise zur Bezeichnung der objektiven (bewußtseinsunabhängigen) Wirklichkeit der Welt und ihrem grundsätzlichen Vorrang vor allem Erkennen. N u r an diese Grundauffassung über das Verhältnis des Erkennens zum Gegenstand sei der philosophische Materialismus gebunden. Die Bedeutung dieser Begriffsunterscheidung liegt auf der Hand: Lenin ist nicht gezwungen, den Erkenntnisfortschritt in den Naturwissenschaften zu leugnen, und er hat dabei zugleich die Chance, die f ü r seine politische Theorie so eminent wichtige Behauptung einer durchgängigen Abhängigkeit des Bewußtseins vom Sein als umfassend 46

gültig aufrechtzuerhalten, denn, das ist der Sinn der Unterscheidung: keine Einzelwissenschaft vermag die Geltung der These von einer dem Bewußtsein vorgegebenen, objektiven Wirklichkeit außer Kraft zu setzen. Die Wissenschaft tangiert hier die Philosophie nicht. Konsequent zu Ende gedacht, würde das freilich zugleich bedeuten, daß sich die realistische Philosophie jeden Versuch einer eigenen Aussage über die Struktur des Seins versagen müßte, sondern dabei vom Erkenntnisfortschritt der Einzelwissenschaften abhängig wäre. Zu solchen Konsequenzen kann sich Lenin — wieder aus Gründen der politischen Position — nicht entschließen, denn f ü r die politische Aktion ist die Annahme einer dialektischen Struktur des materiell bestimmten geschichtlichen Seins konstitutiv. Soll gemäß den Intentionen von Enggels, denen sich Lenin anschließt, diese politische Aktion durch eine umfassende Philosophie ontologisch gestützt werden, dann ist es notwendig, die zunächst erkenntnisrealistische Begriffsbestimmung der Materie inhaltlich — und zwar unabhängig von den Resultaten der Einzelwissenschaften — so anzureichern, daß die Dialektik, verstanden als Kampf der Gegensätze, als Grundbestimmung der Materie, des bewußtseinsunabhängigen Seins, erscheint. In der Tat hat Lenin Zug um Zug — beginnend mit dem schon erwähnten philosophischen Hauptwerk und aufgipfelnd in seinen philosophischen Heften — die zunächst eingenommene, realistische Position zu einer eben dialiktischmaterialistischen Ontologie um- und ausgeformt. Gleichviel, ob man sich zur näheren Kennzeichnung dieser systematisch entfalteten Ontologie des Leninismus an die 16 Thesen zur Dialektik bei Lenin, die 4 Thesen bei Stalin oder die wieder stärker auf Lenin und sogar Engels zurückgreifenden 3 Thesen des neuen Lehrbuchs „Grundlagen der marxistischen Philosophie" hält, als Kern der dialektisch-materialistischen Ontologie wird folgendes gelten dürfen: die Materie ist nicht etwas rein Stoffliches, sondern trägt die Differenzierung von Stofflichem und Nicht-Stofflichem als Gegensatz in sich. Der Kampf zwischen diesem potentiell in der Materie enthaltenen Gegensatz ist die Antriebskraft einer Selbstbewegung der Materie, deren Verwirklichungsform die Entwicklung vom Anorganischen über das Organische zum Bewußtsein, verstanden als Umschlag von Quantität in Qualität, ist. Gerade die von solcher Ontologie ausgesagte sogenannte dialektische Struktur also soll begründen, daß und warum die Materie. der verschiedenen, in hierarchischer Ordnung zueinanderstehenden Existenzweisen fähig ist. Wäre schon von hier aus zumindest die Korrespondenz von Ontologie und politischer Theorie zu demonstrieren, insofern als eben das Moment der Revolution als Fundament jedweden Fortschritts durch die genannten Prinzipien der Dialektik ontologisch abgesichert erscheint, 47

so reicht doch dieser Zusammenhang weiter und vollendet sich in einer der Ontologie zur Seite stehenden Erkenntnistheorie. Die systematische Ausbildung einer Erkenntnistheorie im dialektischen Materialismus ist dabei gleichsam von der erkenntnisrealistischen Grunddefinition der Materie her geformt. Sie muß als realistische Abbild- oder Widerspiegelungstheorie sein, und sie ist es auch. Aber sie ist doch zugleich mehr, als naiver Realismus und zwar vermöge ihrer Gebundenheit an die dialektische Ontologie. Postuliert nämlich die dialektische Ontologie vermöge ihres Gesetzes vom Kampf der Gegensätze und dem Umschlag von Quantität in Qualität die hierarchische Ordnung in den Existenzweisen der Materie, also die Identität des Materiellen in der Verschiedenheit seiner Daseinsformen, dann muß in der Materie eine Potenz zu ihrer eigenen Bewußtwerdung, gleichsam eine Anlage zum Bewußtsein — wie Lenin formuliert — angenommen werden. Ist aber der Verwirklichungsort solcher Bewußtwerdung der Materie der Mensch, dann ist Bewußtwerdung der Materie identisch mit ihrer Menschwerdung, und die dem Menschen eigene Erkenntnis bewußtseinsunabhängiger Realität ist eigentlich Selbsterkenntnis der Materie als Widerspiegelung niederer Existenzformen der Materie in einer höheren. In der Tat scheint mir — zumindest in dem Buch „Materialismus und Empiriokritizismus" — der zunächst vorherrschende erkenntnistheoretische Realismus hintergründig auf einen solchen, man ist fast geneigt, zu sagen, Hegelianismus, zu verweisen. Zumindest überspielt ein durch die Dialektik geprägter pluraler Monismus den vordergründigen dualistischen Realismus. Aber auch darin vollendet sich der Leninismus noch nicht als philosophisches System. Gerade vermöge seiner ontologischen Begründung der Erkenntnistheorie formt sich diese konsequenterweise zu einem Pragmatismus aus. Ist nämlich die Bewußtwerdung der Materie in ihrer Menschwerdung real, und ist Menschwerdung als Prozeß andererseits nicht mit der Genese des Einzelmenschen als Bewußtseinsträger erschöpft, so muß sich die Entwicklung der Materie nach ihrer Menschwerdung in der sozialen Entfaltung des Menschen fortsetzen. Erkenntnis der bewußtseinsunabhängigen Realität durch den Menschen hat sich demzufolge in der Dienstbarkeit für solche soziale Entfaltung des Menschen zu bewähren und erweist darin ihre Wahrheit. Lenin gibt deshalb konsequenterweise als einzig gültiges Wahrheitskriterium der Erkenntnis die Praxis an, versucht dadurch gemäß seiner Konzeption einer Einheit von Theorie und Praxis die Dualität von Subjekt und Objekt im Erkenntnisprozeß zu überwinden und bestimmt die Praxis schließlich genauer als Experiment, Industrie und Klassenkampf. Gerade das aber verlangt abschließend eine genauere Beachtung. 48

Es erweist sich nämlich, daß unter Praxis jenes Handeln zu verstehen ist, durch das sich der Mensch mit den Mitteln der Experimente, der Technik und Industrie planvoll einer Beherrschung der N a t u r zuwendet, diese Natur seinen selbst gesetzten Zielen entsprechend gestaltet und sie sich somit dienstbar macht. Wahr ist das Erkennen, das sich in diesem naturgestaltenden und- verändernden Handeln bewährt. Zugleich wird der Mensch durch ein solches Erkennen und Handeln frei, eben weil er sich die Natur unterwirft und ihr nicht mehr blind ausgeliefert ist. Die Praxis, in der sich eine Erkenntnis als wahr zu erweisen hat, ist also hiernach zunächst jenes auf Naturbeherrschung abzielende Handeln, das sich in der Technik, Industrie und Wirtschaft seine planvolle Ordnung gibt. Mit anderen Worten: die Arbeitsordnung des Menschen ist als Inbegriff der Praxis Kriterium der Wahrheit des Erkennens. Diese konkrete Bestimmung dessen, was Lenin unter Praxis versteht, weist aber auf diese Weise zugleich darauf hin, daß er in seiner Erkenntnistheorie nicht bei einem beliebigen philosophischen Pragmatismus stehenbleibt, sondern ihn mit seinem politischen Pragmatismus zur Einheit verschmilzt — ja sogar verschmelzen muß. Ist die Praxis erst einmal als technisch industrielle Arbeitsordnung bestimmt, dann ist sie zugleich — nach dem Grundgedanken des historischen Materialismus, also der politisch-revolutionären Theorie — als sozial-politische Praxis bestimmt. Die Art, in der der Mensch seine auf Naturbeherrschung abzielende Arbeit ordnet, ist ja, so meint Lenin im Anschluß an Marx, immer auch Grundlage seiner umfassenden Gesellschaftsordnung und seines gesellschaftlichen Bewußtseins. Die Befreiung des Menschen von der Natur durch ihre technisch-industrielle Beherrschung ist allein d a n n in einem umfassenden Sinne f ü r den Menschen wahr, wenn sie ihn zugleich sozial befreit und das heißt, wenn sie im Dienst der Errichtung einer klassenlosen, sozialistischen Gesellschaft steht. Den Weg zur Errichtung dieser klassenlosen Gesellschaft aber habe wissenschaftlich allein gültig die Philosophie des dialektischen Materialismus gewiesen. N u r sie bestehe daher auch die Bewährungsprobe in der gesellschaftlichpolitischen Praxis. Das bedeutet einmal: jede Philosophie, die für ihre Aussagen und Erkenntnisse den Geltungsgrad wissenschaftlicher Wahrheit und Objektivität in Anspruch nehmen will, ist gezwungen, sich zum dialektischen Materialismus zu bekennen, für ihn Partei zu ergreifen. N u r eine solche bewußt parteiliche Philosophie besteht die gesellschaftlich-politische Bewährungsprobe und ist damit wahr. Das bedeutet aber weiter zugleich, daß nicht nur die Philosophie parteilich sein muß, sondern auch jedes um gegenständliche Wahrheit und Objektivität bemühte einzelwissenschaftliche Erkennen. N u n wenn sich die Wissenschaften eindeutig an die Philosophie des dialektischen Materialismus 49 4

U n i v e r s i l ä t s t a g e 1961

binden, entgehen sie der Gefahr, einer falschen Gesellschaftsordnung dienstbar und damit Hilfemittel für eine soziale Unterdrückung des Menschen zu werden. Und da eine falsche Gesellschaftsordnung notwendig auch eine falsche Philosophie als Inbegriff einer umfassenden Weltorientierung erzeugt, verbürgt auch nur der dialektische Materialismus als w a h r e Philosophie der w a h r e n Gesellschaft den Wissenschaften den einzigen Zugang zur w a h r e n Erkenntnis der Welt. N u r er weist sowohl den Philosophen als auch dem Wissenschaftler den richtigen Weg zur Wahrheit und Erkenntnis. U n d da man f ü r die Wahrheit Partei ergreifen muß, muß man nach Lenin auf dem Boden des dialektischen Materialismus stehen. Die schon in der politischen Philosophie Lenins postulierte Identifikation von Wahrheit und Parteilichkeit ist damit eben durch solche ontologisdi begründete Erkenntnistheorie zu einem systematischen Abschluß gebracht. Parteilichkeit ist jedoch nicht nur Parteinahme für eine bestimmte philosophische Position, die sich als solche kritischer Reflexion noch stellen müßte, sondern sie ist bedingungslose Parteinahme für eine politische Institution und Identifikation mit ihr, die sich — wie es heute heißt— als „Inkarnation des Marxismus-Leninismus" begreift, als „Marxismus-Leninismus in Aktion". —

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M E N S C H U N D NATUR BEIM J U N G E N U N D IM D I A M A T Von Gustav A. W e t t e r

MARX

S. J.

Auf dem XII. Internationalen Kongreß für Philosophie äußerte sich ein führender Sowjetphilosoph in einer Unterhaltung gelegentlich des Empfanges beim Bürgermeister von Venedig dahingehend, daß vielleicht keine gesellschaftliche Strömung der heutigen Zeit die Rolle des Geistigen so in den Vordergrund gestellt habe, wie gerade der Kommunismus. Und mir persönlich gegenüber, der ich als katholischer Geistlicher erkenntlich war, fügte er die Bemerkung hinzu: „Wir haben nicht weniger Märtyrer als ihr". Für manche, die mit der Sowjetideologie nur oberflächlich bekannt sind, mag ein solcher Ausspruch wohl eine Überraschung bedeuten. Steht der Sowjetismus nicht auf dem Boden einer materialistischen Weltanschauung? Wie kann er da den Menschen als geistiges Wesen sehen und seiner Geistigkeit noch dazu eine solche überragende Bedeutung beimessen? Kann denn ein Materialist im Menschen etwas anderes sehen, als eine Art Maschine, deren gesamte Tätigkeit letztlich auf chemisch-physikalische Vorgänge zuriickführbar ist? Wird man dank der Kybernetik nicht bald imstande sein, die menschliche Bewußtseinstätigkeit durch die Menschmaschine zu ersetzen? Die Sowjetideologie lehnt, wie vielen von Ihnen bekannt sein dürfte, einen sogearteten Materialismus als Vulgärmaterialismus und Mechanizismus ab und will ihn durch einen „dialektischen" Materialismus ersetzen, der innerhalb des Materialismus auch für das spezifisch Menschliche wieder R a u m schaffen will. Diese Feindschaft dem Mechanizismus gegenüber geht soweit, daß man in der Sowjetunion ursprünglich die Kybernetik energisch bekämpfte. U n d wenn man in der Einschätzung ihr gegenüber nun eine radikale Kehrtwendung vollzogen hat und ihren Wert und Nutzen neuerdings anerkennt, so legt man dennoch gegen das Ansinnen gewisser Vorkämpfer dieser jungen Wissenschaft im Westen Verwahrung ein, die glauben, daß man die gesamte menschliche Bewußtseinstätigkeit einmal restlos wird auf Automaten übertragen können. Diese Feindschaft dem Mechanizismus gegenüber und das Bestreben, eine der Eigenart des Menschlichen mehr gerecht werdende Form von Materialismus zu finden, hat innerhalb der marxistischen Philosophie 4'

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ihre Geschichte und ihre Problematik, die uns in den weiteren Ausführungen beschäftigen soll. 1. M e n s c h u n d N a t u r b e i m j u n g e n

Marx

Es ist interessant, daß die Feindschaft der marxistischen Philosophie dem mechanischen Materialismus gegenüber schon auf den jungen Marx selbst zurückgeht. Marx unterscheidet zwei Traditionen im französischen Materialismus: Die eine leitet er von Descartes her und läßt sie in die französische Naturwissenschaft einmünden. Es ist die Tradition des mechanischen Materialismus. Für diesen hat Marx nicht viel übrig; er sieht ihn als „menschenfeindlich" an. Ihn interessiert vor allem die zweite Linie, nämlich der „mit dem Humanismus zusammenfallende" Materialismus. Diesen leitet er von Bacon von Verulam und von Locke her und läßt ihn über Condillac und Helvetius in den Sozialismus und Kommunismus einmünden. Bezeichnend für das, was Marx selbst unter dem Begriff „Materie" versteht, ist das Lob, das er dem Bacon'schen Materiebegriff spendet. Bacon fasse die Bewegung der Materie nicht nur als mechanische und mathematische auf, sondern mehr noch „als Trieb, Lebensgeist, Spannkraft, als Q u a l — um einen Ausdruck Jakob Böhmes zu gebrauchen — der Materie"; so birgt bei Bacon der Materialismus noch „die Keime einer allseitigen Entwicklung in sich. Die Materie lacht in poetischsinnlichem Glänze den ganzen Menschen an". 1 Anders sieht es bei Hobbes aus, den Marx in die Tradition des mechanischen Materialismus einreiht: „Die Sinnlichkeit verliert ihre Blume und wird zur abstrakten Sinnlichkeit des Geometers. Die physische Bewegung wird der mechanischen oder mathematischen geopfert. . . . Der Materialismus wird menschenfeindlich" 2 . Wie die von Bacon hergeleitete materialistische Tradition für Marx mit dem Humanismus zusammenfällt und zum Sozialismus und Kommunismus führt, wird aus jenen Elementen deutlich, die bei Condillac und Helvetius auf Marx Eindruck machen. Der Sensualismus von Locke erhält hier eine soziale Dimension. Bei Condillac gefällt Marx der Gedanke, daß nicht nur die Bildung der Ideen, sondern auch schon die sinnliche Empfindung „Sache der Erfahrung und Gewohnheit sei", und daß demnach „von der Erziehung und den äußeren Umständen . . . die ganze Entwicklung des Menschen" abhänge 3 . Noch deutlicher wird der Bezug des Materialismus auf das gesellschaftliche Leben bei Helvetius. Es sind hier dessen Lehren vom wohlverstandenen persönlichen Interesse als Grundlage aller Moral, von der natürlichen Gleichheit der Menschen auf Grund ihrer Intelligenz, vom Zusammenhang zwischen der geistigen Entwicklung der Menschheit und der Entwicklung der In52

dustrie, von der natürlichen Güte des Menschen und von der Allmacht der Erziehung, die Marx herausgreift. Den Bezug all dieser Gedanken zum Sozialismus und Kommunismus stellt Marx folgendermaßen her: „Wenn der Mensch aus der Sinnenwelt und der Erfahrung in der Sinnenwelt alle Kenntnis, Empfindung etc. sich bildet, so kommt es also darauf an, die empirische Welt so einzurichten, daß er das wahrhaft Menschliche in ihr erfährt, sich angewöhnt, daß er sich als Mensch erfährt. Wenn das wohlverstandene Interesse das Prinzip aller Moral ist, so kommt es darauf an, daß das Privatinteresse des Menschen mit dem menschlichen Interesse zusammenfällt. Wenn der Mensch unfrei im materialistischen Sinne, das heißt frei ist, nicht durch die negative Kraft, Dies und Jenes zu meiden, sondern durch die positive Macht, seine wahre Individualität geltend zu machen, so muß man nicht das Verbrechen am Einzelnen strafen, sondern die antisozialen Geburtsstätten des Verbrechens zerstören und jedem den sozialen Raum für seine wesentliche Lebensäußerung geben. Wenn der Mensch von den Umständen gebildet wird, so muß man die Umstände menschlich bilden. . . . " 4 . Was Marx an dem mechanischen Materialismus — wie überhaupt an allem früherem Materialismus, den Feuerbachschen mit eingeschlossen — auszusetzen hat, ist vor allem, daß die Natur hier für den Menschen nur Gegenstand der Anschauung ist; sie steht ihm rein äußerlich gegenüber, sie könnte aber auch ganz gut ohne ihn auskommen. Marx jedoch kann die N a t u r nicht ohne den Menschen denken, wie er auch den Menschen nicht ohne die Natur verstehen kann. Was zunächst den Menschen betrifft, so ist dieser f ü r Marx in zweifacher Weise auf die N a t u r hingeordnet: sie ist ihm Gegenstand seines Bedürfnisses, sofern der Mensch der Naturgegenstände bedarf zur Nahrung, Kleidung, Wohnung usw. Sie ist ihm aber des weiteren notwendiges Betätigungsfeld für seine Wesenskräfte im Arbeitsprozeß. In der Arbeit sieht Marx, im Anschluß an Hegels Dialektik von Herr und Knecht, ein echt dialektisches Verhältnis von Mensch und N a t u r wirklich werden. Pro-duzieren bedeutet nach Marx, daß der Mensch etwas, was er vorher in sich trug, aus sich heraussetzt und in der Natur gegenständliche Wirklichkeit werden läßt. In einer bekannten Stelle des ersten Bandes des Kapitals vergleicht Marx die Bautätigkeit des Menschen mit der der Biene und stellt fest: „was . . . den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut" 5 . Der Mensch entäußert also in dieser seiner Produktionstätigkeit ein Element seines Wesens und legt es in das Produkt seiner Tätigkeit. In seiner früheren Schrift „Nationalökonomie und Philosophie" faßt Marx diese Konzeption noch „materialistischer". Dort ist es nicht eine Idee, die der Mensch in 53

der Arbeit aus seinem Kopfe heraussetzt und im Produkt gegenständliche Wirklichkeit werden läßt. Vielmehr sind es dort seine „wirklichen, gegenständlichen Wesenskräfte", die der arbeitende Mensch „durch seine Entäußerung als fremde Gegenstände setzt" 8 . Ob nun die Entäußerung so oder so aufgefaßt werde, immer trifft es aber zu, daß der Mensch erst auf dem Wege über diese Entäußerung von Elementen seines Wesens wahrhaft Mensch wird, indem er in der Arbeit sein eigenes Leben produziert. Gerade darin liegt für Marx der entscheidende Unterschied zwischen Mensch und Tier und somit das Wesen des Menschen. Während nämlich das Tier in unmittelbarem Zusammenhang mit der Natur das vorfindet, was es zum Leben benötigt, muß sich der Mensch erst selbst seine Lebensmöglichkeit schaffen. Das, was der Mensch jeweils ist, ist immer das Resultat seiner eigenen Tätigkeit. Dies gilt allerdings, wie weiter unten noch ausführlicher zu zeigen sein wird, in erster Linie nicht vom individuellen Menschen, sondern vom „Menschen" im gesellschaftlichen Sinne. So verwirklicht sich also im Produktionsprozeß ein echt dialektisches Verhältnis zwischen Mensch und Natur. Auf dem Wege der Selbstentäußerung gelangt der Mensch zu seiner Selbstverwirklichung. Mit dieser im Wesen des Menschen selbst grundgelegten Dialektik überlagert sich nun im Denken des jungen Marx eine zweite Form von Dialektik, die nicht mehr im Wesen des Menschen selbst, sondern in einem kontingenten historischen Faktum ihren Ursprung hat. Es ist dies die aus dem Privateigentum und der Arbeitsteilung resultierende „Entfremdungsdialektik". Infolge des Privateigentums an Produktionsmitteln wird das Produkt der menschlichen Arbeit nicht Eigentum des unmittelbaren Produzenten, d. h. des Arbeiters, sondern wird in Gestalt des Kapitals zu einer ihm äußeren und feindseligen Macht. Deswegen kann erst die Abschaffung des Privateigentums durch die sozialistische Revolution zur vollendeten Selbstverwirklichung des Menschen führen. Jedoch können wir dieser Linie in unserem Zusammenhang nicht weiter nachgehen. Wie also Marx den Menschen nicht ohne die N a t u r denken kann,, so kann er andererseits auch die N a t u r nicht ohne den Menschen denken. U n d dies ist nun in unserem Zusammenhang von ganz besonderer Wichtigkeit. Für Marx wäre die Natur ohne den Menschen sinnlos, d. h. letztlich nichts. Das wird deutlich an dem, was Marx über die Industrie sagt. Die Industrie, in der eine Humanisierung der N a t u r vor sich geht, ist für Marx nicht nur „exoterische Enthüllung der menschlichen Wesenskräfte", sondern zugleich auch Offenbarwerden des wahren Wesens der Natur, die sich als „wahre anthropologische N a t u r " zeigt; deswegen stehen für Marx auch Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte nicht äußerlich hintereinander oder nebeneinander, sie 54

bilden vielmehr eine innere Einheit, sofern die Menschheitsgeschichte „ein wirklicher Teil der Naturgeschichte, des Werdens der Natur zum Menschen" ist7. So kommt es auch, daß Marx die Materie mit einer Reihe echt menschlicher Züge ausstattet, daß er bei ihrer Beschreibung zu einer geradezu poetisch anmutenden Ausdrucksweise Zuflucht nimmt: er schreibt ihr Trieb, Lebensgeist, Spannkraft zu und läßt sie in „poetisch-sinnlichem Glänze" den Menschen „anlachen" und scheut nicht einmal davor zurück, bei dem Mystiker Jacob Böhme seine Terminologie zu entlehnen. Dabei ist izu beachten, daß Marx, wo er den Menschen in ein solches dialektisches Verhältnis zur Natur setzt, immer an den gesellschaftlichen Menschen denkt: „Das menschliche Wesen der Natur ist erst da für den gesellschaftlichen Menschen"8, denn erst vom gesellschaftlichen Menschen läßt sich sagen, daß das, was er jeweils ist, immer das Resultat seiner eigenen Tätigkeit darstellt. Deswegen ist erst die Gesellschaft „die vollendete Wesenseinheit des Menschen mit der Natur, die wahre Resurrektion der Natur, der durchgeführte Naturalismus des Menschen und der durchgeführte Humanismus der Natur" 9 . Auf Grund der Entfremdungsdialektik gelangt Marx dann dazu, diesen beiden Synonymen Naturalismus und Humanismus ein drittes an die Seite zu stellen, den Begriff Kommunismus. Erst wenn durch den Kommunismus das Privateigentum aufgehoben wird, kann die „Selbstentfremdung" des Menschen überwunden werden, und es wird eine wirkliche Aneignung des in das Produkt der Arbeit entäußerten Wesens des Menschen möglich. „Dieser Kommunismus ist als vollendeter Naturalismus = Humanismus als vollendeter Humanismus = Naturalismus; er ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreits zwischen dem Menschen mit der Natur, und mit dem Menschen. . . . Er ist das aufgelöste Rätsel der Geschichte und weiß sich als diese Lösung" 10 . Aus all dem wird ersichtlich, wie Marx seinen Materialismus versteht. Er will ihn nicht im Sinne des „menschenfeindlichen" mechanischen Materialismus verstanden wissen, der der Sinnlichkeit der Materie „ihre Blume" raubt und ihr nur eine durch die Mathematik, Geometrie und Mechanik faßbare Sinnlichkeit belassen will. Für Marx bedeutet Materialismus jedoch Wesenseinheit von Mensch und Natur, Zusammenfallen von Naturalismus und Humanismus, was alles in unserer durch das Privateigentum verderbten kapitalistischen Welt nur durch den Kommunismus verwirklicht werden kann. Diese dialektische Einheit von Mensch und Natur findet zwar ihre exoterische Enthüllung in der Geschichte, und zwar durch die Industrie, sie liegt jedoch dieser ihrer Enthüllung in der Zeit ontisch irgendwie schon voraus. Es ist jedoch die Frage, ob diese Konzeption noch Materialismus genannt werden kann. Wenn nämlich das eigentliche Wesen der Natur 55

ein „menschliches Wesen" sein soll, und wenn die Natur ohne den Menschen sinnlos und daher letztlich nichts ist, so würde sich daraus ergeben, daß der Mensch der Natur in überzeitlicher, d. h. idealer Weise auch damals schon präsent war — gewissermaßen als ihre Entelechie —, als es noch keinen historischen Menschen gab und die Geschichte noch ausschließlich Naturgeschichte war. Mit der Annahme einer solchen überzeitlichen idealen Präexistenz des Menschen wird aber der Boden eines philosophischen Materialismus verlassen. Materialismus bedeutet ja, die an Raum und Zeit gebundene Materie im Sinne der Physik und Chemie als grundlegende Wirklichkeit aufzufassen. Eine ideale Präexistenz eines Teiles dieser Materie vor seinem Auftreten in der Zeit ist hier ausgeschlossen. So gab denn Marx gelegentlich auch ausdrücklich zu, daß dieser sein Naturalismus und Humanismus „sich sowohl von dem Idealismus, als dem Materialismus unterscheidet" und behauptete, daß er „ihre beide vereinigende Wahrheit" ist 11 . 2. M e n s c h u n d N a t u r

im

Diamat

In ihrer weiteren Entwicklung wurde also die materialistische Philosophie notwendigerweise vor die Entscheidung gestellt, entweder an der Dialektik Marxscher Prägung oder am Materialismus festzuhalten, oder aber, wenn sowohl der Materialismus, wie auch die Dialektik beibehalten werden soll, die Dialektik in einer Weise umzuprägen, daß sie auch auf die Natur ohne den Menschen anwendbar ist. Engels hat hier eindeutig zugunsten des Materialismus, der von der Materie im Sinne der Physik und Chemie ausgeht, Position bezogen. Wenn wir hier diese Weiterentwicklung der marxistischen Philosophie an den Namen Engels knüpfen, so wollen wir damit die Frage nicht entscheiden, ob Marx Zeit seines Lebens auf jenem oben dargelegten Verständnis von Materialismus und Dialektik beharrte, oder ob er sich in späteren Jahren ebenfalls jenem Standpunkt näherte, den wir nun im Anschluß an Engels darlegen wollen. Wir beziehen uns hier deshalb vor allem auf Engels, weil er in seinen Schriften (vor allem handelt es sich hier um die Schriften „Ludwig Feuerbach", „Anti-Dühring" und „Dialektik der N a t u r " ) diese neue Form von Materialismus besonders entwickelte. Auch Engels will den medianischen Materialismus durch einen dialektischen überwinden. Das zwang ihn nun zu einer neuen Fassung der Dialektik. Sie bedeutet für ihn nicht mehr Selbstverwirklichung auf dem Wege der Selbstentäußerung, sondern einfach eine auf inneren Gegensätzen beruhende, zu neuen und höheren Daseinsweisen führende, N a t u r und Geschichte in gleicher Weise umfassende Evolution. Im einzelnen formulierte er dann die drei bekannten Gesetze der materialistischen Dialektik: das Gesetz von der gegenseitigen Durchdrin56

gung der Gegensätze, das Gesetz vom Umschlagen der Quantität in Qualität und das Gesetz von der Negation der Negation. Diese Engels'sche Fassung der materialistischen Dialektik ist auch heute noch für den sowjetischen dialektischen Materialismus maßgebend. Für die Uberwindung des „menschenfeindlichen" mechanischen Materialismus sind besonders die ersten beiden Engels'schen Gesetze von Bedeutung, vor allem das Gesetz von der gegenseitigen Durchdringung der Gegensätze, das letztlich die Erklärung für alle Bewegung und Entwicklung in der Welt enthalten soll. Für die Mechanik liegt die Quelle der Bewegung in einer äußeren Einwirkung: ein Ding setzt sich in Bewegung, wenn es von außen einen Stoß bekommt. Der philosophische Mechanizismus will nun alle Veränderung in der Welt dadurch erklären, daß er sie letztlich auf solche mechanische Bewegung von irgendwelchen Elementarteilchen zurückführt. Der dialektische Materialismus erhebt dagegen Einspruch, er will den mechanischen Bewegungsbegriff durch einen besseren, den dialektischen ersetzen. Nach dem genannten Gesetze von der gegenseitigen Durchdringung der Gegensätze oder, in der heutigen Terminologie, nach dem Gesetz von der Einheit und dem Kampf der Gegensätze, ist die Quelle der Bewegung letztlich im Vorhandensein innerer „Widersprüche" zu suchen. Damit sind nicht formallogische Widersprüche gemeint. Sie sind vielmehr im Sinne von „dialektischen Widersprüchen" zu verstehen, d. h. im Sinne von entgegengesetzten, einander ausschließenden Seiten in einer Erscheinung, die sich jedoch auch gegenseitig bedingen und im Rahmen der gegebenen Erscheinung nur im gegenseitigen Zusammenhang existieren können. Auch das zweite Gesetz der materialistischen Dialektik, das Gesetz vom Umschlagen der Quantität in Qualität, zielt auf eine Überwindung des mechanischen Materialismus ab. Es wendet sich gegen dessen Auffassung, daß alle Erscheinungen in der Welt, auch Leben und Bewußtsein, letztlich auf rein physikalisch-chemische Vorgänge zurückgeführt werden können. Dagegen lehrt der dialektische Materialismus, daß es in der Welt niedrigere und höhere Bereiche gibt und daß die Gesetzmäßigkeiten der höheren, etwa die biologischen Gesetzmäßigkeiten, nicht einfach auf die in den niederen Bereichen obwaltenden physikalisch-chemischen Gesetzmäßigkeiten zurückzuführen sind. Zum Auftreten dieser höheren Erscheinungen kommt es dadurch, daß an gewissen Knotenpunkten der Entwicklung vorausgehende quantitative Veränderungen durch einen Sprung zu einer qualitativen Veränderung führen. Während es sich bei der quantitativen Veränderung um eine bloße Zunahme oder Abnahme, um eine Steigerung oder ein Schwächerwerden einer Seite oder einer Eigenschaft an dem sich verändernden Gegenstand handelt, hört bei einer qualitativen Verände57

rung das Ding auf, das zu sein, was es bisher war und wird zu etwas anderem. Die wichtigsten Qualitätssprünge im Evolutionsprozeß der Welt vollzogen sich in der Entstehung des Lebens und in der E n t stehung des menschlichen Bewußtseins. In unserem Zusammenhang ist vor allem dieser zweite dialektische Ubergang von Bedeutung, den es nun etwas genauer zu betrachten gilt. Im menschlichen Bewußtsein scheint eine neue Qualität auf, die es vorher in der Welt nicht gab. Es handelt sich jedoch nicht nur um das Erscheinen irgendeiner neuen Qualität. Wenn sich Wasser in Dampf verwandelt, so ist das für den dialektischen Materialismus auch schon eine qualitative Veränderung, ebenso wenn Atome verschiedener Elemente eine chemische Verbindung eingehen. Beim Übergang von der tierischen psychischen Tätigkeit zum menschlichen Bewußtsein handelt es sich jedoch um einen qualitativen Übergang von ganz besonderer Art. Hier tritt nicht nur irgendeine neue Qualität auf, sondern eine Qualität höherer Ordnung, eine neue und höhere „Bewegungsform der Materie", um den Fachausdruck des dialektischen Materialismus zu gebrauchen. „Höher" bedeutet hier ein solches Neues, dessen Eigenschaften und Verhaltensweisen nicht restlos auf die Eigenschaften und Verhaltensweisen des Niedrigeren zurückzuführen sind. Wenn Atome verschiedener Elemente sich zu einer chemischen Verbindung zusammenschließen, so können die Eigenschaften und die Verhaltensweisen dieser Verbindung restlos aus den Vorgängen in den Elektronenschalfn der Atome, die in diese Verbindung eingingen, abgeleitet werden. Wenn aber Kohlenstoff und Wasserstoff, zusammen mit anderen Elementen, in einen lebenden Organismus eingehen, so reagieren sie wohl auch innerhalb des Gesamtzusammenhanges des Organismus weiter nodi entsprechend den chemischen Gesetzen, denen sie sonst unterliegen. Nichtsdestoweniger sind hier diese ihre Verhaltensweisen überhöht und in einen neuen, übergreifenden Gesamtzusammenhang gestellt, nämlich in den Lebensprozeß des Gesamtorganismus. Diese Lebensprozesse bestehen zwar restlos aus chemischen Reaktionen. Nichtsdestoweniger verwirklicht sich in diesen chemischen Reaktionen etwas, was durch die Chemie allein schon nicht mehr erklärbar ist: nämlich das geordnete Zusammenspiel einer Unmenge von chemischen Einzelreaktionen in einer ganz einzigartigen und komplizierten Anordnung in R a u m und Zeit, die auf ein ganz bestimmtes Ziel gerichtet ist: etwa die Regeneration eines verletzten Organs oder überhaupt die ständige Selbsterhaltung und Selbsterneuerung des Gesamtorganismus. Ähnlich verhält es sich nach Auffassung des dialektischen Materialismus auch mit dem Aufstieg von der biologischen Bewegungsform der Materie in die nächsthöhere, die sogenannte soziale Bewegungsform der Materie, die mit dem Auftreten des menschlichen Bewußtseins erreicht wird. Audi 58

die menschliche Bewußtseinstätigkeit ist gebunden an psychologische, und daher auch chemisch-physikalische Prozesse. Nichtsdestoweniger erschöpft sich die Psychologie nicht in der Physiologie, sie enthält noch ein auf die Physiologie nicht zurückführbares Element. Unter Bewußtsein versteht der dialektische Materialismus einen vielschichtigen Prozeß, der verschiedene psychische Tätigkeiten in sich schließt, etwa: die Empfindung, Wahrnehmung, Vorstellung, das begriffliche Denken, das Gefühl und den Willen. Dieses sogeartete Bewußtsein definiert er als „Produkt", „Funktion" und „Eigenschaft" der hochorganisierten Gehirnmaterie. Es ist von den rein biologisch-physiologischen Prozessen nicht nur irgendwie qualitativ verschieden; die offizielle Sowjetphilosophie vertritt ganz energisch die Auffassung, daß das Bewußtsein überhaupt etwas Unmaterielles darstellt. Das Organ der Bewußtseinstätigkeit ist etwas Materielles, nämlich das Gehirn. Die physiologischen Prozesse, an welche die Bewußtseinstätigkeit gebunden ist, sind ebenfalls noch etwas Materielles, wir sind imstande, die elektrischen Ströme zu messen, die bei dieser Tätigkeit in den Nervengeweben und im Gehirn entstehen. Die Empfindung, die Wahrnehmung, der Gedanke jedoch sind etwas Unmaterielles. „Auch im vollkommensten Mikroskop kann man keinen Gedanken sehen, nie und nirgends kann man einen Gedanken wiegen oder mit dem Lineal messen" 12 . Diese Wesensbestimmung des Bewußtseins verstrickt jedoch den dialektischen Materialismus in ausweglose Schwierigkeiten. Wie ist eine solche „unmaterielle Eigenschaft der Materie" überhaupt denkbar? Wie kann die Materie etwas Unmaterielles als ihr Produkt hervorbringen? Wie kann etwas Unmaterielles Funktion der Materie sein? Um dieser Schwierigkeiten Herr zu werden, versucht der dialektische Materialismus nach der Feststellung des spezifischen Unterschiedes zwischen Materie und Bewußtsein, dieses andererseits doch wieder möglichst an die Materie heranzurücken. Er will dies dadurch erreichen, daß er das Bewußtsein als einen Sonderfall unter dem allgemeineren Begriff „Widerspiegelung" subsumiert, die in der einen oder anderen Form in allen Bereichen der Materie anzutreffen ist. Die niedrigste und einfachste Form von Widerspiegelung ist in der physikalischen Widerspiegelung gegeben, wenn etwa ein Körper in einem Spiegel oder auf einer Wasseroberfläche gespiegelt wird. Auf dem Gebiet der Chemie entsteht mit dem Auftreten von Eiweißkörpern eine neue, schon beträchtlich höhere Art von Widerspiegelung, die Empfindlichkeit, die sich in der heftigen Reaktion der Eiweißmoleküle auf äußere Einwirkungen kundtut. Die niedrigste biologische Form von Widerspiegelung ist die schon den Einzellern eigene Reizbarkeit. Bei höheren Lebewesen werden eigene Zellengruppen ausgebildet, deren Aufgabe es ist, 59

die Reize aufzunehmen und in irgendeine Erregung umzusetzen; man spricht dann von Erregbarkeit. Auf einer noch höheren Entwicklungsstufe bildeten sich diese Zellengruppen zum Nervensystem aus. Im Zusammenhang damit entsteht auch eine noch höhere Form der Widerspiegelung in Gestalt der Reflexe. Eine ganz besondere Bedeutung kommt nun in unserem Zusammenhang den sogenannten „bedingten" Reflexen zu. Ihre Erforschung ist die eigentliche Leistung des bekannten russischen Physiologen Pawlow, der dafür schon 1904 als erster Russe den Nobelpreis bekam. Was versteht Pawlow unter solchen bedingten Reflexen? Wenn ein Hund ein Stück Fleisch aufschnappt und beginnt Speichel auszusondern, so ist dies ein unbedingter Reflex. Diese Speichelaussonderung kann aber nicht nur durch unmittelbare Berührung der Zunge mit dem Futter ausgelöst werden, sondern auch durch den bloßen Anblick oder den Geruch des Futters, sogar durch Faktoren, die an sich nichts mit der Nahrungsaufnahme zu tun haben, z. B. durch ein Glockenzeichen, vorausgesetzt, daß die Fütterung oftmals mit dem Anblick oder dem Geruch des Futters oder mit dem Ertönen eines Glockenzeichens gekoppelt war. Biologisch gesehen kommt diesen bedingten Reflexen die Bedeutung von Signalen günstiger oder ungünstiger Lebensbedingungen zu. Blieben sich nämlich die Umweltsbedingungen immer gleich, so würden die unbedingten Reflexe für den Organismus genügen; der Organismus fände immer an der Stelle, an der er sich befindet, das zum Leben Notwendige vor, und schädliche, ihn gefährdende Faktoren würden an dieser Stelle nie auftreten. Da sich aber die Umweltsbedingungen ständig ändern, bedarf der Organismus einer Einrichtung, die ihn befähigt, förderliche Faktoren aufzusuchen, wenn er mit ihnen nicht in direktem Kontakt steht, und gefährliche Faktoren, deren ungünstige Wirkung er einmal erfahren hat, auch dann schon zu fliehen, wenn sie nicht schon in seine unmittelbare Nähe gelangt sind. Die bedingten Reflexe sind es nun, welchen nach Pawlow die Rolle solcher „Signale" zukommt. Sie sind dem Organismus nicht angeboren, wie die unbedingten Reflexe, sondern werden im Laufe seines individuellen Lebens erworben und befähigen ihn, gewissermaßen aus der Erfahrung zu lernen. Sie sind dem Menschen und dem Tier gemein. Die Gesamtheit aller bedingten Reflexe bildet das sogenannte „erste Signalsystem". Ausschließliches Prärogativ des Menschen ist aber das sogenannte zweite Signalsystem, bestehend aus gehörten oder gesehenen Worten. Dieses zweite Signalsystem ist eine neue, höhere, vom ersten Signalsystem wieder qualitativ verschiedene Form der Widerspiegelung. Das Wort wirkt hier aber nicht seiner visuellen oder akustischen Seite nach, wie die Signale des ersten Signalsystems, sondern seinem Inhalte nach. Man kann zwar auch beim Tier eine Reaktion auf ein Wort erreichen. In 60

diesem Falle aber wirkt das Wort nur seiner akustischen Seite nach, etwa wenn ein Hund auf einen bestimmten Zuruf reagiert; es handelt sich in diesem Falle um einen einfachen bedingten Reflex. Erst wenn das Wort seiner inhaltlichen Seite nach eine Rolle zu spielen beginnt, wird es zu einem Element des zweiten Signalsystems. Durch diese ihre inhaltliche Bedeutung erst werden sie zu Zeichen oder Signalen dieser oder jener Körper oder Erscheinungen, die ihrerseits wieder die Rolle von Signalen innerhalb des ersten Signalsystems spielen. Pawlow nennt deshalb das Wort „Signal der Signale"; das Ertönen eines Glockenzeichens z. B. ist Signal für die Anwesenheit der Nahrung. Das Wort „Glocke" ist dann das Signal dieses Signales. Mit dem Auftreten des zweiten Signalsystems ist nun das für die menschliche Bewußtseinstätigkeit Entscheidende und Charakteristische verbunden. Als ein erstes Charakteristikum nennt der dialektische Materialismus die Befähigung zur Abstraktion. Wohl soll es auch auf der Stufe des bedingten Reflexes schon etwas wie eine Abstraktion geben, sofern nämlich im Signal ein Gegenstand oder eine Erscheinung erfaßt wird, die gegenwärtig in keiner Weise auf die Sinnesorgane einwirken, und sofern ein und dasselbe Signal unter verschiedenen Bedingungen oder zu verschiedenen Zeiten verschiedene Gegenstände oder Erscheinnungen vertreten kann; so kann z. B. das Glockenzeichen einmal als Signal für die Fütterung, ein andermal als Signal für Schläge, die den H u n d erwarten, fungieren. Mit dem Auftreten des zweiten Signalsystems wird aber die Abstraktion auf eine qualitativ höhere Stufe erhoben, und zwar auf die Stufe, die eigentlich gemeint ist, wenn von Abstraktion die Rede ist. Das Wort, als Signal der Signale, vertritt nämlich nicht notwendig eine bestimmte Erscheinung, sondern es kann oft eine große Anzahl von Gegenständen bezeichnen, die zwar in den Einzelheiten verschieden sind, in ihren wesentlichen Eigenschaften aber übereinstimmen. Gerade mit dieser Eigenart des Wortes hängt die dem Menschen eigene Form von psychischer Tätigkeit zusammen, das Bilden von Begriffen und das theoretische Denken. Eine weitere Eigenart der menschlichen psychischen Tätigkeit ist durch den spezifischen Charakter des zweiten Signalsystems bedingt; es ist dies ihr „bewußter" Charakter. Dadurch, daß ein im ersten Signalsystem widergespiegelter Gegenstand nun durch ein neues Signal, das Wort, signalisiert wird, dadurch soll es nach Auffassung des dialektischen Materialismus zu etwas Bewußtem werden und dieser bewußte Charakter stellt den hauptsächlichsten Unterschied zwischen menschlicher Bewußtseinstätigkeit und tierischer psychischer Tätigkeit dar. Deswegen sdireibt der dialektische Materialismus nur dem Menschen Bewußtsein zu. Nach all den Ausführungen sehen wir nun schon deutlicher, wie 61

der dialektische Materialismus das Wesen des Bewußtseins faßt und sein Verhältnis zur Materie versteht. Es handelt sich um eine eigenartige Zweieinheit. Materie und Bewußtsein bilden eine Einheit, sofern Bewußtsein nie ohne Materie auftreten kann, sofern es ein Produkt, eine Funktion und Eigenschaft der hochorganisierten Materie darstellt, sofern es nur eine unter vielen anderen Formen von Widerspiegelungen darstellt. Sie sind jedoch nicht eins, sofern Bewußtsein etwas Unmaterielles darstellen soll. Es fragt sich nun, wie es zur Entstehung dieses Bewußtseins kam. Der dialektische Materialismus macht dafür zwei Hauptfaktoren verantwortlich: den gesellschaftlichen Arbeitsprozeß und die Sprache. Nach Engels war es die Arbeit, die den Menschen geschaffen hat. Der Umwandlungsprozeß des Tieres in den Menschen begann, als in grauer Vorzeit eine zum Stammbaum des Menschen gehörende Tierart die aufrechte Haltung annahm. Dadurch wurden die vorderen Gliedmaßen frei, und dieses Lebewesen begann nun, Naturgegenstände als Werkzeuge zur Nahrungsbeschaffung und zur Verteidigung zu verwenden. Desweiteren wurden diese Gegenstände eigens dazu angefertigt, und dies bedeutete die eigentliche Menschwerdung des Tieres. Der so entstandene Urmensch verhielt sich schon auf eine grundsätzlich andere Weise zur N a t u r als das Tier. Das Tier paßt sich rein passiv der N a t u r an und verwendet das, was ihm die N a t u r in fertigem Zustand darbietet. Der Mensch aberwirkt aktiv auf die N a t u r ein und paßt sich diese seinen Bedürfnissen an. Dieses neue Verhalten des Menschen der N a t u r gegenüber führte auch zu einem neuen Verhalten der Menschen untereinander, da sie durch die gemeinsame Arbeit zu einem engeren gegenseitigen Zusammenschluß geführt wurden. Das brachte desweiteren die Notwendigkeit einer vollkommeneren Verständigung mit sich, als es die auch dem Tiere eigenen unartikulierten Laute gestatteten. Es vervollkommnete sich der Kehlkopf und der Mensch lernte einen Laut nach dem anderen zu artikulieren und Wörter zu bilden. Die Ausbildung der Sprache führte auch zur Weiterentwicklung des menschlichen Gehirns, die schon durch die aufrechte Haltung eingeleitet worden war, und bedingte die Entwicklung des menschlichen Denkens. Demnach waren der gesellschaftliche Arbeitsprozeß und die Spradie die entscheidenden Faktoren, die die Menschwerdung bewirkten. 3. S c h w i e r i g k e i t e n der d i a 1 ek t i sc h - m a t e r i a 1 i s t i s c h e n P o s i t i o n Wir haben oben gesehen, daß die Behandlung des Verhältnisses von Mensch und N a t u r durch den jungen Marx zur Alternative geführt hatte: entweder hält man am Materialismus fest, dann aber wird die 62

Dialektik unmöglich, was notwendigerweise einen Rückfall in den mechanischen Materialismus bedeutet, oder aber man hält an der Dialektik fest, dann aber muß man allem Materialismus Lebewohl sagen. Der heutige dialektische Materialismus glaubt eine Lösung gefunden zu haben, die es gestattet, an beiden Gliedern dieser Alternative festhalten zu können: einerseits an einem echten Materialismus, andererseits aber auch an der Überwindung des mechanischen Materialismus durch die Dialektik. Dem Materialismus will diese Lösung dadurch treu bleiben, daß hier die Materie eindeutig als primär und das Bewußtsein als sekundär aufgefaßt wird; dieses entsteht zeitlich nach der Materie, entsteht aus der Materie, und einmal entstanden, ist es auch immer in seinem Sein abhängig von der Materie. Den mechanischen Materialismus will diese Lösung überwinden, sofern hier das Bewußtsein in seinem Wesen als eine neue und höhere „Qualität" und sogar als etwas Unmaterielles erscheint, und sofern hier das Entstehen des Bewußtseins nicht auf dem Wege einer rein quantitativ verlaufenden kontinuierlichen Entwicklung erreicht wird, sondern durch einen dialektisch verlaufenden Entwicklungsprozeß, in dem es auch zur Unterbrechung der Kontinuität und deren Überbrückung durch einen dialektischen Sprung kommt. Was ist nun zu dieser Lösung zu sagen? Erreicht sie wirklich das sich gestellte Ziel? Wir wollen die Frage in zwei Teilen behandeln: Zunächst soll es um die Erklärung des Wesens des Bewußtseins gehen und dann :um die Erklärung seines Entstehens. Was die Frage nach dem Wesen des Bewußtseins betrifft: Der dialektische Materialismus betrachtet es als „Produkt", „Funktion" und „Eigenschaft" der Materie, so aber, das es dennoch etwas Unmaterielles darstellt. Hier beginnt die Kalamität schon damit, daß der dialektische Materialismus diese drei Begriffe gewissermaßen als Synonyme ohne irgendwelche gedankliche Verbindungen aneinanderreiht. Offenbar aber ist ein Produkt etwas anderes als eine Funktion und sowohl Produkt wie auch Funktion sind wieder etwas anderes als eine Eigenschaft. Wir müssen also so vorangehen, daß wir prüfen, ob das Bewußtsein in irgendeins dieser drei hier genannten Verhältnisse zur Materie gesetzt werden kann. Kann das Bewußtsein eine Eigenschaft der Materie sein? Dies würde bedeuten, daß die Materie unmaterielle Eigenschaften besitzt, was eine contradictio in adiecto ist. Kann man das Bewußtsein als Funktion der Materie auffassen? Auch hier gelangen wir vor eine Unmöglichkeit. Was ist eine Funktion? Man spricht von der Funktion eines Beamten oder von der Funktion eines Organes. In diesem Sinne versteht man darunter nicht irgendeine Tätigkeit, sondern die spezifische Tätigkeit, für die ein Beamter bestellt oder ein Organ gebaut ist. Die spezifische 63

Tätigkeit eines Organs entspricht aber immer der spezifischen Eigenart des Organs. Wenn ich mit dem Auge nur sehen und nicht riechen kann, so liegt der Grund darin, daß nur diese Art von Tätigkeit der spezifichen Eigenart des Auges entspricht. "Wollte man aber das unmaterielle Bewußtsein als Funktion der Gehirnmaterie ansehen, so wäre dies eine größere Ungereimtheit, als wenn jemand mit seinem O h r sehen wollte. Aus dem gleichen Grunde kann das Bewußtsein auch nicht ein Produkt der Tätigkeit der Gehirnmaterie darstellen. Wie nämlich immer eine Entsprechung zwischen der Natur eines Organes und seiner Tätigkeit bestehen muß, so muß ebenfalls immer eine solche Entsprechung zwischen der Tätigkeit und dem Resultat der Tätigkeit vorhanden sein. Wenn ich eine Niederschrift von Schillers „Glocke" erhalten will, genügt es nicht, daß ich einen Affen auf einer Schreibmaschine herumtippen lasse, sondern ich muß einen Menschen, der dieses Gedicht kennt, an die Schreibmaschine setzen. Noch ein anderer Punkt der dialektisch-materialistischen Erklärung des Wesens des Bewußtseins macht Schwierigkeiten. Es ist der Versuch, den Abstand zwischen Materie und geistigem Bewußtsein dadurch zu überbrücken, daß man das Bewußtsein als eine unter vielen anderen Formen von Widerspiegelung auffaßt und die Widerspiegelung allen Bereichen der Materie zuordnet. Um Mißverständnissen vorzubeugen sei bemerkt, daß es uns hier jetzt nicht um die Frage geht, ob das Bewußtsein mit Recht als eine Art von Widerspiegelung bezeichnet werden kann und ob es in den verschiedenen Bereichen der* Materie auch andere Arten von Widerspiegelung gibt. Es geht uns hier vielmehr darum, daß die Anlage dieser Beweisführung als durchaus mechanizistisch zu bezeichnen ist. Sie tendiert nämlich dahin, den dialektischen Sprung von der Materie in das unmaterielle Bewußtsein in eine Reihe kleinerer Sprünge zu zerlegen und dadurch den Abstand zwischen Materie und Bewußtsein immer geringer werden zu lassen, bis man ihn schließlich in eine kontinuierliche Kette kleinster Mutationsschritte zerlegt hat, durch die die Kluft zwischen Materie und unmateriellem Bewußtsein geschlossen ist. Eine solche Erklärung des Verhältnisses von Materie und Bewußtsein könnte jedoch jeder Mechanizist ohne die geringste Schwierigkeit mitvollziehen. Will man jedoch die Tendenz zur Verminderung des Abstandes zwischen Materie und Bewußtsein mittels einer lückenlosen Kette kleinster Mutationsschritte aus dieser Erklärung entfernen und konsequent an der durch den Sprung überbrückten Diskontinuität zwischen Materie und Bewußtsein festhalten, so ist nicht einzusehen, wie dieser Sprung dadurch verständlicher werden soll, daß anstelle eines einzigen Sprunges deren sechs oder sieben angesetzt werden. Die gleiche mechanistische Grundtendenz liegt nun der Lösung zu64

gründe, die der dialektische Materialismus auf den zweiten Teil des hier zur Diskussion stehenden Problems des Verhältnisses von Materie und Bewußtsein gibt, nämlich auf die Frage nach der Entstehung des Bewußtseins. Was wir oben gehört haben über die von den Bäumen auf die Erde herabgestiegenen Affen, die nun die frei gewordenen vorderen Gliedmaßen benutzten, um sich Arbeitswerkzeuge zu verfertigen, deren Gehirn durch die aufrechte Haltung sich besser entwickeln konnte, die im Arbeitsprozeß begannen, sich mit anderen Individuen enger zusammenzuschließen, die dadurch zur Ausbildung der Sprache gedrängt wurden usw., all dies könnte wiederum ohne die geringste Schwierigkeit von jedem mechanistisch orientierten Anthropologen mitgemacht werden. Der dialektische Materialismus würde sich dann von einer mechanistisch orientierten Theorie nur dadurch unterscheiden, daß er an irgendeiner Stelle dieser Kette die Etikette „neue Qualität" aufklebt. Die Frage nach der Entstehung der menschlichen Bewußtseinstätigkeit läuft letztlich auf die Frage nach dem Entstehen des menschlichen Gehirns hinaus, da ja das Bewußtsein Produkt, Funktion und Eigenschaft gerade der hochorganisierten menschlichen Gehirnmaterie sein soll. Daraus würde sich zunächst schon einmal ergeben, daß auch zwischen der Gehirnmaterie des Menschen und der Gehirnmaterie hochentwickelter Tierarten ein qualitativer Unterschied bestehen müßte. Ich bezweifle jedoch, ob ein Physiologe dieser Auffassung zustimmen würde. Jedoch wollen wir diesen Aspekt des Problems den Physiologen überlassen, und uns der Frage zuwenden, ob die vom dialektischen Materialismus angeführten Ursachen, die das Entstehen des menschlichen Bewußtseins erklären sollen, einer Kritik standhalten. Diese Faktoren sind, wie wir sahen, die gesellschaftliche Arbeitstätigkeit und die Ausbildung der Sprache. Was nun die Sprache als Ursache der Entstehung des Denkens betrifft, so liegt hier evident eine Verwechslung von Ursache und Wirkung vor. Dieser Prozeß der Ausbildung der Sprache soll so vor sich gegangen sein: Der Zusammenschluß vieler Individuen im Arbeitsprozeß stellte diese vor die Notwendigkeit einer regeren und engeren Kommunikation, er brachte sie dahin, daß sie, wie Engels sich ausdrückt, „einander etwas zu sagen hatten". Dieses Bedürfnis führte dazu, daß die ursprünglichen unartikulierten Laute des Affen immer differenzierter und artikulierter wurden, daß sich der Kehlkopf umbildete und dadurch die Sprache entstand. Wie wir sehen, geht diesem ganzen Prozeß der Ausbildung der Sprache schon die Tatsache voraus, daß diese Vorfahren des Menschen „sich etwas zu sagen hatten". Der Inhalt, der Begriff geht voraus, und er ist es, der sich seinen Ausdruck im Worte schafft. Es ist nicht so, daß der Mensch zuerst seine Ausdrucksmittel differenzierte und dann diese mit einem neuen Inhalt füllte und

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Universitätstage 1961

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dadurch sein Denken differenzierte, sondern umgekehrt: zuerst drängt sich ihm ein neuer Denkinhalt auf, der dann nach seinem Ausdruck sucht und daher die Ausdrucksmittel differenziert. Es ist also nicht die Sprache, die das Denken erzeugt, sondern der schon vorhandene Gedanke, der sich in der Sprache seine Ausdrucksmöglichkeiten schafft. Es bleibt somit der gesellschaftliche Arbeitsprozeß als alleiniger Faktor, der die Entstehung der menschlichen unmateriellen Bewußtseinstätigkeit bedingte. Aber auch diese Lösung hält einer Kritik nicht stand. Sie läßt entweder die entscheidende Frage unbeantwortet, oder aber man erhält wiederum einen Zirkelschluß, in welchem das zu Erklärende in der Erklärung bereits vorausgesetzt wird. Das Entscheidende der menschlichen Arbeit zum Unterschied von der tierischen Tätigkeit liegt ja nach marxistischer Auffassung in einem aktiven, bewußten, Ziele setzenden Einwirken auf die Natur mit Hilfe von eigens dazu verfertigten Arbeitswerkzeugen. Marx selbst war es, der diesen Unterschied mit aller nur wünschenswerten Deutlichkeit in dem schon zitierten Passus aus dem „Kapital" herausstellte, wo er die Tätigkeit der Biene mit der Tätigkeit eines menschlichen Baumeisters vergleicht. Hier stellt sich aber die folgenschwere Frage: Was führte unsere Vorfahren zu dieser entscheidenden Veränderung in ihrem Verhalten der Natur gegenüber, daß sie eines Tages begannen, das zum Leben Nötige nicht mehr mit Hilfe von fertig vorgefundenen Gegenständen, sondern mit Hilfe eigens dazu verfertigter Arbeitswerkzeuge zu produzieren? Diese Frage bleibt ungelöst, oder aber, wenn wieder der gesellschaftliche Arbeitsprozeß die Lösung darstellen soll, wird das zu Erklärende bereits in der Erklärung vorausgesetzt. Die Herstellung von Arbeitswerkzeugen bedeutet ja Hinordnen von Mitteln auf die Erlangung von Zielen. Das in der Wirklichkeit noch nicht existierende Ziel existiert schon im Kopfe, d. h. in der Denktätigkeit des Verfertigers der Mittel und bestimmt seine Tätigkeit. Das setzt aber in dem Verfertiger der Werkzeuge die Möglichkeit voraus, etwas noch nicht Existierendes geistig schon vorwegzunehmen, setzt also ein geistiges Erkenntnisprinzip voraus. Die Entstehung des Bewußtseins wäre somit Resultat der Arbeit als bewußtem, Ziele verfolgendem Einwirken auf die Natur. Dazu kommt noch eine letzte entscheidende Schwierigkeit. Wir sahen, daß der dialektische Materialismus die These vertritt, daß zwischen der tierischen, rein physiologisch bedingten psychischen Tätigkeit und der menschlichen, nicht mehr rein physiologisch bedingten Bewußtseinstätigkeit ein qualitativer Unterschied besteht. Es ist nun die Frage, wie kann das menschliche Bewußtsein als höhere Bewegungsform der Materie aus den niederen Bewegungsformen entstanden sein? Es kann doch niemand etwas geben, was er nicht hat. Das spontane Hervorgehen des Höheren aus dem Niederen würde einen Verstoß gegen das 66

Kausalitätsprinzip bedeuten, da der im Höheren vorgefundene „Überschuß" im Niederen nicht seine adäquate Ursache finden kann. Der dialektische Materialismus steht aber ansonsten auf dem Boden der Anerkennung der Allgemeingültigkeit der Kategorie der Kausalität. Die Lösung dieser Schwierigkeit sieht der dialektische Materialismus in der Dialektik. Die neue, höhere Qualität des menschlichen Bewußtseins ist nicht nur Resultat des „Wirkens" der vorausgehenden physikalisch-chemisch-physiologischen und sonstigen „Ursachen", sondern überdies noch das Resultat der Dialektik. Im Lichte des Gesetzes von der Einheit und dem Kampf der Gegensätze ist das Auftreten des Neuen nicht — oder wenigstens nicht zur Gänze — kausal als „Wirkung" aus „Ursachen" herzuleiten, sondern dialektisch aus dem Wirken des „Widerspruches" bzw. des Kampfes der Gegensätze. In unserem konkreten Beispiel ist nach dieser Auffassung das Auftreten des Bewußtseins nicht ausschließlich als Wirkung der vorausgehenden physikalischchemisch-physiologischen Ursachen aufzufassen; all diese Ursachen werden gewissermaßen „überhöht" durch das in ihnen sich auswirkende, alle Wirklichkeit durchwaltende Gesetz der Dialektik. Nach diesem aber ist es letztlich der Widerspruch, der die Welt in Bewegung setzt. Dazu ist aber zu sagen, daß eine solche Auffassung eine reale Negativität voraussetzt, die zwar auf dem Boden der Hegeischen Philosophie aufscheint, die aber unmöglich wird, nach der von Marx und Engels vollzogenen Umkehrung Hegels. In einer, der kausalen entgegengesetzten dialektischen Erklärung des Werdens erscheint als Triebkraft für das Auftreten einer neuen Bestimmtheit nicht das „Wirken" einer „Ursache", sondern die Negativität, d. h., wie Hegel es in klassischer Weise formulierte, „daß etwas in sich selbst, und der Mangel, das Negative seiner selbst, in einer und derselben Rücksicht ist. Die abstrakte Identität mit sich ist noch keine Lebendigkeit, sondern daß das Positive an sich selbst die Negativität ist, dadurch geht es außer sich und setzt sich in Veränderung" 13 . Nun kann aber eine solche Negativität einen realen, in der Wirklichkeit selbst vor sich gehenden Entwicklungsprozeß nur dann auslösen, wenn auch sie selbst als real aufgefaßt wird, gewissermaßen als ein „seiendes Nichtsein". Nun kann aber das Nichtsein schlechthin nicht sein. Ich kann es zwar denkend erfassen, in der Wirklichkeit selbst aber kann es schlechthin kein Nichtsein geben. Dieses ist also eine auschließliche Denkkategorie. Erst wenn ich, wie dies in der Hegeischen Grundvoraussetzung der Fall ist, Denken und Sein identifiziere, wenn ich die Wirklichkeit selbst in ihrem innersten Wesen als Idee ( = Identität von Denken und Sein) auffasse, erst dann wird das Nichtsein aus einer Denkkategorie automatisch auch zu einer Realkategorie. Nun rühmt sich aber der dialektische Materialismus, die Hegeische Dialektik auf den Kopf, bzw. vom Kopf, auf dem

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sie bei Hegel stand, auf die Füße gestellt zu haben, indem die Wirklichkeit in ihrem innersten Wesen nicht mehr als Idee, sondern als Materie aufgefaßt wird. In der Entwicklung der Materie erscheint aber das Denken erst auf einer sehr späten Entwicklungsstufe. Denken und Sein sind also nicht mehr identisch, und damit wird auch die Voraussetzung hinfällig, eine reale Negativität in der Wirklichkeit ansetzen zu können. Das Auftreten des Neuen kann demnach nicht mehr dialektisch erklärt werden. Wenn der dialektische Materialismus die Dialektik als einen Kampf von Gegensätzen versteht, so können diese Gegensätze nur als Ursachen fungieren, die in ihrem Kampf miteinander nicht mehr bewirken können, als sie alle zusammengenommen sind und haben. Somit fällt der dialektische Materialismus nun notwendig in eine kausale Erklärung des Werdens und der Entwicklung zurück, und eine spontane Höherentwicklung zu etwas prinzipiell Neuem und Höherem bleibt philosophisch ungeklärt. * U m dem menschenfeindlichen mechanischen Materialismus zu entgehen, hatte Marx für einen mit dem Humanismus zusammenfallenden Materialismus optiert, der die Natur in ein dialektisches Verhältnis zum Menschen setzte. Diese Verlegung der Dialektik in den Materialismus hatte jedoch den Materialismus gesprengt und ihn vor die Entscheidung gestellt, entweder die Dialektik ohne Materialismus, oder den Materialismus ohne Dialektik beizubehalten. U m dieser fatalen Alternative zu entgehen, war der spätere dialektische Materialismus gezwungen, den Begriff Dialektik so umzuprägen, daß sie auch in der Natur alleine Platz hat. N u n hat es sich aber herausgestellt, daß eine solche Dialektik aufhört, Dialektik zu sein und daher nicht imstande ist, die Materie über sich selbst emporzuheben und den Menschen in seiner Naturüberlegenheit zu begründen. Somit erreicht den dialektischen Materialismus von heute das Schicksal, das Marx vom Materialismus abwenden wollte: er fällt notwendigerweise in den mechanischen Materialismus zurück und wird menschenfeindlich. Anmerkungen : Karl M a r x : Die Heilige Familie. In: Die Frühsdiriften. Stuttgart 1953. S. 330. 3 A.a.O., S. 332. Ebenda. * A.a.O., S. 333 f. 5 Karl M a r x : Das Kapital. I. Hamburg 1922. S. 140. 6 Karl Marx: Nationalökonomie und Philosophie. In: Frühsdiriften. Stuttgart 1953. S. 273. n Ebenda. * A.a.O., S. 244 f. * A.a.O., S. 237. 1 0 A.a.O., S. 235. 1 1 A.a.O., S. 273. 1 2 Grundlagen der marxistischen Philosophie. Dietz Verlag Berlin 1960. S. 169. 1 3 G . W . F. Hegel: Wissenschaft der Logik. II. Sämtliche Werke, Jubiläumsausgabe, IV. S. 547. 1

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WANDLUNGEN DER SOWJETHISTORIOGRAPHIE Von W e r n e r

Philipp

In all den 40 Jahren ihres Bestehens hat die Sowjethistoriographie von sich behauptet, in Einzelforschung und grundsätzlicher Interpretation nur die als Einheit verstandene Geschichtslehre von Marx, Engels und Lenin konsequent angewendet und damit die historische Wahrheit, d.h. den richtigen Zugang zur Vergangenheit, ihre schöpferische Verbindung mit der Gegenwart und ihre einheitliche Darstellung, gefunden zu haben. „ N u r Marx hat das Gesetz der weltgeschichtlichen Entwicklung entdeckt, nur Marx hat gezeigt, daß — ungeachtet aller Vielgestaltigkeit und Widersprüchlichkeit der historischen Entwicklung, diese ein einheitlicher, gesetzmäßiger Prozeß ist . . . Die Erforschung des historischen Prozesses, der Entstehung, der widersprüchlichen Entwicklung, des Verfalls und Endes aller vorsozialistischen Formationen, das Studium des Charakters und der Besonderheit des Klassenkampfes in den verschiedenen antagonistischen Formationen — das ergibt die solide Grundlage für das wissenschaftliche Verständnis der Bestrebungen und Tätigkeit der Masse der Menschen, dieser eigentlichen Schöpfer der Geschichte". Diese Formulierung aus dem Jahrgang 1960 der führenden und offiziellen historischen Zeitschrift „Geschichtfragen" 1 steht für beliebig zu vermehrende ähnliche Formulierungen und hätte auch im Anfang der 20er Jahre so gebraucht werden können. Eine solche Geschlossenheit der Kontinuität, die nicht nur im kommunistischen Herrschaftsbereich, sondern oft auch jenseits seiner Grenzen anziehend wirkt, besteht jedoch nur insofern, als jegliche über die Fakten hinausgehende Aussage noch immer durch einen Bezug auf Marx, Engels oder Lenin gerechtfertigt und gesichert werden muß. Innerhalb dieses auch heute gültigen Rahmens hat aber die Sowjethistoriographie Wandlungen durchgemacht, die vier Abschnitte erkennen lassen: 1. der Ausbau der Sowjethistoriographie im Glauben an den weltrevolutionären Neuanfang, 1917-1929; 2. die Umwandlung der Sowjethistoriographie in ein Instrument zur Rechtfertigung des Sowjetstaates, 1929-1946; 3. die zeitweise Auflockerung der sowjethistoriographischen 1

Voprosy Istorii =

Dog-

V I 1960, 1, 74.

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matik im Rahmen bzw. in Ablehnung des Stalinschen Dirigismus, 1946-1957; 4. die Aktivierung der Sowjethistoriographie als Erziehungsfaktor f ü r die nachrevolutionäre Generation und als Abwehrfaktor gegen die niditkommunistische Geschichtsdeutung, seit März 1957. Lenin übernahm die geschichtstheoretischen Ansätze von Marx, die schon durch Engels' vereinfachende Äußerungen überdeckt worden waren. Lenin berief sich zwar immer wieder auf die Lehre von Marx, nach der ja der Mensch der Notwendigkeit einer objektiven Entwicklung der Produktionsmittel unterworfen, aber f ü r die tätige Freisetzung einer zur Ausformung drängenden neuen Produktionsstufe verantwortlich ist. Jedoch hat Lenin die sich aus der Verklammerung von Notwendigkeit und Entscheidung für den Menschen ergebende Spannung aufgelöst. Das geschah nicht durch einen neuen geschichtstheoretischen Entwurf Lenins, sondern durch sein politisches Tun. Lenins große politische Entscheidung bestand darin, daß er die besondere russische Situation von Anfang an f ü r revolutionsreif hielt und im Laufe der Zeit immer schärfer die Auffassung Plechanovs und der sozialdemokrtaischen Mehrheit als revisionistisch verwarf, die — entsprechend der Sicht der westeuropäischen Sozialdemokraten — das Heranreifen der objektiven Entwicklung für notwendig hielt, d.h. die Entstehung eines kapitalistischen Rußlands, dessen Bourgeoisie die Autokratie besiegen werde, um dann selbst vom Proletariat überwunden zu werden. Lenin hatte bereits in seiner Schrift „Zwei Taktiken" (1905) die von Westeuropa abweichende, noch nicht für eine proletarische Revolution reife Situation Rußlands mit ihren „asiatischen" Bedingungen klar gesehen, eine bürgerliche Revolution bejaht, aber um sofort zu einer proletarisch-bäuerlichen Diktatur vorzustoßen, in deren Rahmen dann erst die Veränderungen vorgenommen werden sollten, die in westeuropäischen Ländern das Bürgertum von sich aus geschaffen hatte. Die geschichtliche Eigenart Rußlands, wie sie sich in der politischen Lage präsentierte, wurde dabei richtig gesehen, aber gemessen am Marxschen Entwicklungsschema zugunsten der unmittelbaren Verwirklichung der fernen Zukunft voluntaristisch entwertet: die erste Entwicklungsstufe — Ausbau des Kapitalismus — soll in der zunächst zu verwirklichenden zweiten Entwicklungsstufe — proletarische Diktatur — nachgeholt werden. So formulierte Lenin in bezug auf die Volksbildung bezeichnenderweise noch 1923 („Über unsere Revolution"): „Wenn zur Schaffung des Sozialismus eine bestimmte Kulturhöhe des Volkes notwendig ist . . . warum sollen wir dann nicht zuerst damit beginnen, auf revolutionärem Wege die Voraussetzungen f ü r diese bestimmte 70

Kulturhöhe zu erobern und erst dann, auf der Grundlage der Arbeiterund der Bauerndiktatur und der sowjetischen Gesellschaft, an das Einholen der anderen Völker gehen?" In diesem voluntaristisch-revolutionären Vorgriff, der weitgehend der Tradition der vormarxistischen Opposition in Rußland entspricht, zeigt sich die Eigentümlichkeit des bolschewistischen Geschichtsbildes. Alles Denken und Handeln war von dem Willen erfüllt, die Revolution herbeizuführen, die die große Wende in der Menschheitsgeschichte bringen würde, die Befreiung des Menschen von der bisherigen Klassenstruktur der Geschichte. Der Glaube daran, in einer einzigen gewaltigen Anstrengung die eigentliche Geschichte beginnen, durch das Zerschlagen der historisch entstandenen Fesseln den Menschen sich selbst zurückgeben, in Rußland die Revolution f ü r die ganze Welt entfachen zu können, begründete die düstere Größe der bolschewistischen Revolution. Sie gelang 1917 — war das nicht der Beweis dafür, daß der Sprung in die Freiheit möglich sei? Eine säkularisierte eschatologische Gewißheit erfüllte Lenins Gesinnungsgenossen und rechtfertigte alle Opfer und Tränen und alles Blut und Grauen der Bürgerkriegsjahre. Freilich, einer echten Transzendierung des Geschichtlichen durch das Hereinbrechen eines Übergeschichtlichen ist hier — abweichend von einer lebendigen Religiosität — niemals das Wort geredet worden; der Sprung in die Freiheit meinte im Bolschewismus den Sprung in eine innergeschichtliche, vom Menschen bestimmte Freiheit. Der Unterschied ist wichtig genug: ein echter eschatologischer Glaube, jenseits der Zeit begründet, erlischt nicht in ihrem Verlauf; der utopische Glaube hingegen muß im Laufe der Zeit zu einer idealistischen Hoffnung verblassen, seine Nichterfüllung muß Hoffnungslosigkeit erregen. Der utopische Charakter der Vorstellung Lenins wird in seiner am Vorabend der Revolution von 1917 veröffentlichten Schrift „Staat und Revolution" in vielen Einzelheiten besonders deutlich, wenn auch Lenin mit der Formulierung der historischen Erwartung sehr vorsichtig ist. Er möchte nicht über deren negative Forderung, Zerschlagung des bestehenden Staates, hinausgehen. Es besteht jedoch kein Zweifel darüber, daß in zeitgenössischen Gedichten und Plakaten, Theaterstücken und pädagogischen Versuchen der Glaube an die unmittelbar bevorstehende Neuordnung der Menschheit in überzeugender, alles Elend erst erträglich machender Kraft lebendig war. Wenn auch Lenin inmitten der allgemeinen Hoffnung auf die Bildung des neuen Menschen, vorzüglich im Hinblick auf die Errichtung der endgültigen menschlichen Ordnung als besonders nüchtern erscheint, so leben doch auch er und seine Gesinnungsgenossen in einem Geschichtsbild, in dem die Gegenwart so von der Zukunft Struktur und Sinn erhält, daß die Gegenwart der Zukunft unterworfen und die Vergangenheit bedeutungslos gemacht wird. 71

Das zeigt sich nun deutlich in der Geschichtswissenschaft der zwanziger Jahre, die inhaltlich und organisatorisch von dem Historiker Pokrovskij bestimmt war. In ihr sprach sich deutlich die allgemeine Überzeugung aus, daß der Sowjetmensch keine Verantwortung und Bindung gegenüber der russischen Vergangenheit habe. In seiner „Geschichte Rußlands" wird eine breite Darstellung erst dem Aufkommen der revolutionären Bewegung gewidmet, als Vorgeschichte zur eigentlichen, von der Oktoberrevolution an zu datierenden Geschichte. Der Eigenart früherer Epochen und erst recht der Eigenart früherer geistiger Bewegungen wird keine Anerkennung gezollt. Das religiöse Tun und die politische Intention, das künstlerische und literarische Schaffen hat gleichfalls keine selbständige Bedeutung; sie sind bloße Abspiegelungen und Beiwerk des eigentlichen historischen und d.h. bei Pokrovskij des ökonomischen Prozesses. Folgerichtig erfuhr nur er allein eine wissenschaftliche Bearbeitung; die Geschichte der staatlichen Institutionen und der Außenpolitik, die Geistesgeschichte und die Kirchengeschichte, die Biographie und Historiographie blieben unberücksichtigt. Die russische Geschichte kam weniger zur Darstellung, als daß sie zur Illustrierung des ökonomisch verstandenen Geschichtsbildes Marxens gebraucht wurde. Weltgeschichtliche Zusammenhänge blieben unerörtert, da sich ja nur in der russischen Geschichte die weltgeschichtliche Lösung anbahnte. Die Vergangenheit, immer an der Zukunftserwartung der Gegenwart gemessen, verwandelte sich in einen wenig differenzierten Mythos. So wurden in einer kurzschlüssigen Weise die historischen Persönlichkeiten als Handlanger der Grundbesitzer und vor allem des Handelskapitals abgetan. So verdankt die Geschichtswissenschaft dem Historiker Pokrovskij die Veröffentlichung der geheimsten außenpolitischen Pläne der Zarenregierung aus der Zeit des 1. Weltkrieges, da hier die Überzeugung, die Vergangenheit habe mit der Gegenwart im Hinblick auf die Zukunft nichts zu tun, eine solche überraschend weitgehende Preisgabe ermöglichte. So ließ man den Geschichtsunterricht in den Schulen konsequenterweise fast völlig im politischen Unterricht aufgehen, da es sich ja nicht lohnte, sich angesichts des unmittelbar bevorstehenden Beginns der eigentlichen Geschichte mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Im Lichte der aus der Zukunft scheinenden Sonne war die Vergangenheit nur zum Schatten der Gegenwart geworden. Das bolschewistische Geschichtsbild der zwanziger Jahre zeigte hierbei den Menschen in Rußland losgelöst von einer wertlosen Vergangenheit der Selbstverfremdung und erfüllt von der revolutionär erzwungenen Zukunft eines Menschentums in Freiheit und Selbstübereinstimmung. Zugleich läßt dieses Geschichtsbild ein Sendungsbewußtsein entstehen, denn Rußland hat auf seinem besonderen Wege früher den Ansatz dessen erreicht, was 72

auch für den Rest der Menschheit als Ziel und Sinn ihrer geschichtlichen Entwicklung angenommen wird. Bis 1929 arbeiteten die marxistischen Historiker zusammen mit bürgerlichen Historikern aus der vorrevolutionären Zeit, wie ja auch auf künstlerischem und pädagogischem Gebiet bürgerliche Kräfte bis zu diesem Zeitpunkt wirken durften. Einmal waren sie notwendig als Fachleute und Lehrmeister, sodann war man sich der unmittelbar bevorstehenden Generalentscheidung auf dem politisch-wirtschaftlichen Gebiet gewiß, die zwangsläufig die Veränderung auf kulturellem Gebiet bewirken würde. Im Grunde war der Glauben lebendig, der Mensch werde nach seiner Befreiung von den Fesseln des Staates und der Tradition natürlicherweise die richtigen Einsichten und Handlungen vollziehen. Ein neuer Abschnitt begann wie im allgemeinen so auch für die Historiographie mit der Verwirklichung des „Sozialismus in einem Lande" unter Stalins Führung. Hatte man bisher in der Hoffnung auf die bald hereinbrechende endgültige und menschheitsgültige Zukunft gewissermaßen die russische Gegenwart übersprungen, so richtete man sich jetzt in ihr ein. Die kommunistische Gesellschaftsordnung wird ein fernes Ideal, die revolutionäre Übergangsordnung der proletarischen Diktatur verwandelt sich in den Sowjetstaat. U n t e r Berufung auf seine notwendige Verteidigung gegen die Angriffe der kapitalistischen Staaten wird jetzt die aristokratische Parteiführung der Berufsrevolutionäre durch die monarchische des Parteiführers ersetzt. Gleichzeitig wird jegliche Tätigkeit der Gesellschaft, auch jegliche kulturelle Tätigkeit, einer intensiven staatspolitischen Kontrolle und Vereinheitlichung unterworfen und der Bestätigung, Propagierung und Verherrlichung „des Führers" und seines Regimes dienstbar gemacht. Das wirkt sich auch sofort auf die Geschichtsschreibung aus. 1928 hatte man sich noch anläßlich des gemeinsamen Auftretens marxistischer und nichtmarxistischer Historiker auf dem Berliner Historikerkongreß der geübten Toleranz gerühmt, seit 1929 wurden die bürgerlichen Historiker in Rußland verfolgt und zugleich die Kontakte zur ausländischen Wissenschaft unterbunden. Es begann eine lange Zeit der Isolation, in der die Historiker nicht wagten, ausländische Forschungen zur russischen Geschichte zu berücksichtigen. Diese Entwicklung wurde noch unter Pokrovskij eingeleitet, der zwar bei seinem Tode 1932 ein Staatsbegräbnis erhielt, kurz zuvor aber den ersten Angriffen ausgesetzt war. Im August 1934 nun wurde er und seine Schule in einem allerhöchsten Partei-Ukas, in einer von Stalin, Kirov und Zdanov unterzeichneten Verurteilung eines Geschichtsschulbuches, aufs schärfste als Vertreter eines Vulgärmarxismus verurteilt. Diese dirigistische Stellungnahme, 1936 an besonders offizieller Stelle im Mitteilungsblatt der Akademie der Wissenschaften veröffentlicht, wirft 73

Pokrovskij und seinem Schülerkreis vor allem folgendes vor: Er habe die marxistische Geschichtstheorie mechanisch über die Geschichte gestülpt, anstatt in der konkreten geschichtlichen Entwicklung den Klassenkampf aufzuspüren. Er habe kurzschlüssig die geschichtlichen Ereignisse direkt aus den wirtschaftlichen Voraussetzungen abgeleitet; er habe die relativ fortschrittlichen Bewegungen in den einzelnen Epochen nicht als solche herausgestellt; er habe eine russische Geschichte, keine Geschichte Rußlands geschrieben, d.h. die Geschichtsverläufe der nichtrussischen Völker unberücksichtigt gelassen und Rußland nicht in die Weltgeschichte einbezogen. 1937 lobt eine Regierungskommission bei der Beurteilung neuer Schulbücher f ü r Geschichte, das „anstelle abstrakter soziologischer Schemen bei der Darstellung geschichtlicher Ereignisse die historisch-chronologische Folge gewahrt, die Beurteilung der wichtigsten historischen Ereignisse gegeben sowie die Aufzählung der grundlegenden historischen Fakten und die Charakteristik der geschichtlich bedeutsamen Persönlichkeiten" vermittelt worden sei. Der Hinweis auf diese für uns selbstverständlichen Dinge, war ein Zeichen für eine Richtungsänderung der Geschichtsschreibung, die sich wissenschaftlich wie populär wieder der konkreten Vergangenheit zuwenden konnte, natürlich im marxistischen Rahmen. Zum Beweis einer neuen Wertschätzung der Vergangenheit erschienen in den führenden Fachzeitschriften sofort Artikel über die relative Bedeutung der Einführung des Christentums in Rußland, der Regierungszeit Ivans IV. und der Reformen Peters d. Gr. und über andere Themen, die unter Pokrovskij nicht hätten untersucht werden können. Der Nachdruck wurde jetzt darauf gelegt zu zeigen, wie sich in Rußland die Gegenwart gesetzmäßig aus der Vergangenheit entwickelt habe. Gleichzeitig wurde ganz allgemein die Liebe zur Vergangenheit als Voraussetzung für einen kräftigen Sowjetpatriotismus gepflegt; es war die Zeit der großen Helden- und Schlachtenfilme, Alexander Nevskij, Suvorov, Peter d. Gr. u.a., künstlerisch banale Bilderbogen, die aber den Stolz auf die Macht und Größe des eigenen Volkes und seiner Führer in der Vergangenheit wecken sollten. Als ein groteskes Beispiel für die Plötzlichkeit des Umschwungs sei auf Tarles Arbeiten über den Krieg von 1812 verwiesen: 1936 veröffentlichte er seine Biographie „Napoleon", in der die militärische Verteidigung Rußlands als unzulänglich, der Krieg als unpopulär, ja ein Aufstand der bäuerlichen Massen als möglich bezeichnet wurde. 1938 erschien sein Buch „Napoleons Angriff auf Rußland 1812", wo der Krieg von 1812 als ein Krieg des opferwilligen und heldenmütigen Volkes, die ausweichende Taktik Kutuzovs als militärische Weisheit glorifiziert wurden, ohne Angabe von Gründen f ü r den überraschenden Wechsel in der Beurteilung. Der zweite Weltkrieg hat dann bekanntlich den patriotischen Zug in der sowjetischen Geschichts74

Schreibung verstärkt. Indem man sich intensiv der Vergangenheit zuwandte und ihre Eigenart jetzt gelten lassen und sie nicht wie Pokrovskij nach einem ökonomischen Schema zuschneiden wollte, wurde man ihrer Mannigfaltigkeit gerechter. Eine zeitliche oder gegenständliche Beschränkung der Themen entfiel; alle Epochen, insbesondere die Frühzeit, alle, auch geistige Bewegungen wurden wieder Gegenstand der Historiographie. Das gilt insbesondere für Quelleneditionen, aber auch f ü r Untersuchungen. Die jeweilige Epoche, die besondere soziale Gruppe, der einzelne Mensch wurde besser gewürdigt. Besonders wurde in Rechtfertigung der Führerrolle Stalins die Einwirkung der Persönlichkeit auf die Geschichte immer stärker herausgestellt und ihre Rolle weit über Plechanov, geschweige denn Pokrovskij hinaus in ausdrücklichen Formulierungen erstmalig anerkannt und betont, freilich nicht im Sinne eines Individualismus, sondern im Sinne eines Genie- und Heroenkultes. — Mit alledem war eine bedeutsame Verlagerung des Geschichtsbildes eingeleitet worden; die Vergangenheit erfuhr als Wurzelboden der Gegenwart eine erneute Wertschätzung, in dem Maße, in dem die eschatologische Gewißheit abklang. D e r Sowjetbürger sollte sich und seine Zeit als Glied einer langen und ehrwürdigen Entwicklung verstehen, die an Gehalt und Alter der Geschichte anderer Kulturvölker ebenbürtig war. Die Vergangenheit diente der Festigung des Selbstbewußtseins in der Gegenwart, insbesondere dem Nachweis, daß die sowjetrussische Gegenwart die fortschrittlichste Phase in der Weltgeschichte wäre. Die Rechtfertigung der Gegenwart als notwendiges Ergebnis der Vergangenheit war Aufgabe der Historiker geworden. Angesichts der furchteinflößenden scharfen Parteikontrolle bemühten sich die Historiker, ihre Aussagen durch ein ständiges Zitieren auch beiläufiger, o f t recht willkürlich aus dem Zusammenhang gelöster Äußerungen der Klassiker des Marxismus-Leninismus abzusichern. D a bei erreichten Lobhudeleien gegenüber Lenin, vor allem gegenüber Stalin ein unerträgliches Ausmaß; direkte Äußerungen dieser beiden Genien des Marxismus zur Geschichte erhielten zugleich den Charakter eines unangreifbaren Dogmas. Der politische Druck ließ viele Historiker nach Ausweichgebieten suchen, was der Quellenedition und der Textkritik, auch der bis dahin vernachlässigten älteren und der „vaterländischen" Geschichte zugute kam. T r o t z aller Reglementierungen erfuhr die Sowjethistoriographie in ihrer zweiten Periode eine Ausweitung hinsichtlich der Forschungsgegenstände, eine beträchtliche Vermehrung des Stoffes und eine im Vergleich mit der ersten Periode größere Differenzierung der Forschungsarbeit. Die Erforschung der Geschichte Rußlands stand absolut im Mittelpunkt, ihre Auflösung in einzelne nationale Geschichtsverläufe, zu der Stalin selbst ermuntert hatte, 75

unterblieb aber angesichts der Erfahrungen des zweiten Weltkrieges, die Stalin die einende Kraft des Russentums, „des führenden Volkes der Sowjetunion", preisen ließ. Je konkreter und detaillierter man die Vergangenheit bearbeitet, um so schwieriger mußte die Anwendung des marxistisch-leninistischen Geschichtsschemas für die russische Geschichte werden. Der dritte Abschnitt der sowjethistoriographischen Entwicklung wurde durch eine große, 1946-1954 in der Zeitschrift „Geschichtsfragen" durchgeführte Diskussion über die Periodisierung der russischen Geschichte eingeleitet. Eine ähnliche, freilich abstrakter geführte Diskussion hatte 1929-1934 die Ablösung der Pokrovskij-Schule begleitet; damals wurde zwar ihre unmarxistische Behauptung, das Handelskapital bilde eine besondere — und zwar zeitlich sehr ausgedehnte — sozial-ökonomische Formation, verworfen und das Fehlen der Sklavenhalterei f ü r Rußland konstatiert, aber man war zu keiner allgemeinen, der Sache und dem marxistischen Schema zugleich entsprechenden Periodisierung gelangt. Von lähmender Wirkung war vor allem die selbstverständlich zu respektierenden Äußerungen Lenins geblieben, nach denen in Rußland der Feudalismus vom 11. Jh. bis 1861 gedauert habe. Da man einerseits diese riesige Periode beibehalten mußte, andererseits aber als Historiker mit ihr praktisch nicht arbeiten konnte, mußte man sie unterteilen, um so den immer deutlicher hervortretenden Besonderheiten der einzelnen Zeitabschnitte der russischen Geschichte irgendwie gerecht zu werden. In den 1946 begonnenen, vor allem zwischen 1949 und 1951 sehr intensiv geführten Diskussionen über die Abgrenzung der Epochen in der russischen Geschichte und über ihre epochestiftenden Kräfte beteiligten sich fast alle Sowjethistoriker. Mit Erstaunen mußte man feststellen, daß die endlich einmal gewährte Diskussionsfreiheit sofort ein leidenschaftliches, kritisches und kühnes Gespräch hervorrief. Es zeigte sich, daß keine einheitliche, eindeutig aus dem Marxismus gewonnene Vorstellung hinsichtlich der geschichtlich tragenden Kräfte lebendig war. Wichtig ist, 1. daß eine Fülle von zwar überwiegend marxistisch-leninistisch-stalinistisch untermauerter, aber doch sehr verschiedener grundsätzlicher Ansichten geäußert wurde, die auch gelegentlich über die marxistische Bannmeile hinausführten, 2. daß theoretische Äußerungen jetzt mit historischen Fakten konfrontiert wurden, 3. daß dem Uberbau, insbesondere den staatlichen und nationalen Kräften, mit Nachdruck eine große Bedeutung zugewiesen wurde. Die Redaktion der „Geschichtsfragen" stellte 1951 abschließend fest: „Die Diskussionsteilnehmer sprachen sich einmütig gegen die Versuche aus, die Perioden innerhalb der sozial-ökonomischen Formationen nach Erscheinungen einzuteilen, die ausschließlich ökonomischer Art sind und zur Basis gehören" (VI 1951, 3). Bazilevic hatte zu diesem Punkte 76

in der Diskussion geäußert: „Wenn sich die Geschichte nur auf die Vorwärtsentwicklung der Produktionsweisen reduziert, so würde die Geschichte des einen Volkes der des anderen Volkes so ähnlich sein wie ein Tropfen Wasser dem anderen. Indes ist die historische Wirklichkeit von unendlicher Vielfalt, sie schafft verschiedene Verbindungen der Elemente des historischen Prozesses, die — obwohl sie die bestimmende Bewegungstendenz nicht zu verändern vermögen — ihm doch ein eigentümliches, ein einmaliges Gepräge geben. Darum weist der historische Prozeß, obgleich allgemeinen Gesetzmäßigkeiten unterworfen, nationale Besonderheiten auf" (VI 1949, 11). Von der materiellen Basis entfernte sich wohl am weitesten Smirnov, der vorschlug, die Staatsform in ihrer jeweiligen Entwicklung der Periodisierung zugrundezulegen, weil nur in der Behauptung des Staates und der Auflehnung gegen ihn sich der „wirkliche", „gesamt-nationale" Klassenkampf zeige (VI 1950, 12, 87). Der Staat wird also verstanden als Ausdruck der Klassenkampfsituation, aber es bleibt eben doch dabei, daß die russische Geschichte im einzelnen nach der jeweiligen Staatsreform gegliedert und damit dem Staat eine besondere Bedeutung zugeschrieben wird. Diese Auffassung ist zwar als bürgerlich, aus der rechtshistorischen Schule stammend in der redaktionellen Schlußzusammenfassung zurückgewiesen worden, taucht aber sogar als eine Teilmöglichkeit in ihr wieder auf. Die „Mehrheit der Diskussionsteilnehmer" sah mit Lenin im Klassenkampf den „wirklichen Antrieb der Geschichte". Aber auch hier schränkt das abschließende Resümee der Redaktion ein: „Allerdings müssen die Historiker vor dem Versuch gewarnt werden, die Erscheinungen des Klassenkampfes als die einzigen und universellen Marksteine des Geschichtsprozesses innerhalb einer sozial-ökonomischen Formation anzusehen. Im Verlauf der allgemeinen vaterländischen Geschichte fand der Entwicklungsstand der Produktivkräfte und der Produktionsverhältnisse in verschiedenen Etappen auf verschiedenartige Weise konkreten Ausdruck. Im einzelnen Falle war es ein Aufschwung und Ausbruch des Klassenkampfes, im anderen die Verankerung seiner Resultate in den Staatsformen, Gesetzen und Verfassungen, im dritten schließlich die Widerspiegelung sozial-ökonomischer Prozesse im Bewußtsein der Menschen. Der Überbau, einmal auf die Welt gekommen, — sagt Stalin — wird zu einer gewaltigen aktiven Kraft, trägt aktiv dazu bei, daß seine Basis ihre bestimmte Form annimmt und sich festigt, trifft alle Maßnahmen, um der neuen Ordnung zu helfen, der alten Basis und den alten Klassen den Rest zu geben und sie zu beseitigen. — Wenn man nun noch berücksichtigt, daß der Ablauf der allgemeinen vaterländischen Geschichte — und von ihr ist ja hier die Rede — nicht allein von inneren Faktoren abhängt, sondern in gewissem 77

Ausmaß auch von Erscheinungen außenpolitischer Art, so wird es ganz klar, daß Versuche, die Geschichte nach streng einheitlichen und universell gültigen Marksteinen einteilen zu wollen, zu keinem positiven Resultat führen können(!). Zu diesem Schluß sind im Grunde alle Diskussionsteilnehmer gelangt . . ." (VI 1951, 3, 55/56). Hier ist eine Weite des Blickes f ü r die bestimmenden Kräfte in der Geschichte gewonnen, die sich kaum noch als marxistisch bezeichnen läßt. Die Diskussion hat 1952 den Protest der Partei hervorgerufen: so wie einst bei Pokrovskij die Basis, sei jetzt der Überbau einseitig und übermäßig betont worden. Die Diskussion habe Verwirrung in den wissenschaftlichen Kader bewirkt. Aber es kann kein Zweifel sein, daß diese über Jahre sich hinziehende Diskussion nur mit der Billigung Stalins möglich gewesen war. Anders als Lenin hat sich Stalin o f t direkt über Geschichte geäußert: er hat dabei die Bedeutung der Persönlichkeit in der Geschichte unterstrichen und der nationalen Eigenart das Wort geredet. Abweichend vom marxistischen Geschichtsschema hat er ferner 1913 und 1921 für die osteuropäischen Vielvölkerstaaten Österreich und Rußland behauptet, daß der äußere Druck (Türken und Tataren) hier einen Staat unter Führung eines der Völker habe entstehen lassen, bevor die innere Einheit und Reife erreicht worden war, eine Abweichung, die in der Debatte sehr heftig diskutiert wurde. Schließlich weisen die letzten Sätze der Zusammenfassung der Diskussion auf Stalins Briefe über die Linguistik, „Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft", hin. Die Kernaussage dieser Briefe besteht darin, daß sich die Sprache unabhängig von der Entwicklung in Klassenkämpfen aus Kräften des ganzen Volkes entwickelt habe, d. h. Stalin erkennt an, daß es für einzelne Erscheinungen des menschlichen Lebens eine historische Enfaltung jenseits der Klassenbindung nach eigener Gesetzmäßigkeit gibt. Die Empfehlung dieser Schrift ist das letzte Wort in der gesamten Diskussion, was man nur so deuten kann, daß f ü r die Geschichte überhaupt die Möglichkeit von Entwicklungen in Abweichung vom Klassenkampfschema gegeben ist. In den letzten Jahren der Herrschaft Stalins, etwa seit 1951, ist auch entsprechend seinem etatistischen Denken eine Neubelebung und Neufassung des staatlichen Prinzips in der Historiographie nachweisbar. Die von ihm eingeleitete Rehabilitierung der Vergangenheit Rußlands mußte in Widerspruch zu der von Lenin und Pokrovskij propagierten These vom Zarenstaat als einem „Gefängnis der Völker" geraten. Wenn Stalin, zunächst auch dieser Auffassung verhaftet, anfänglich die wissenschaftliche Bearbeitung der nationalen Vergangenheit eines jeden Volkes in Rußland empfahl, so waren ihm, wie schon erwähnt, die politischen, den staatlichen Zusammenhang der Sowjetunion gefährdenden Konsequenzen einer solchen nationalen Geschichtsschreibung mit 78

ihren Nationalhelden spätestens im zweiten Weltkrieg deutlich geworden. Der Ausweg aus dem Dilemma lag in dem Hinweis darauf, daß die Einverleibung nichtrussischer Völkerschaften in den russischen Staat, bei allen mit ihr verknüpften Härten, diesen Völkern die Segnungen einer höheren, eben der russischen Kultur, vermittelte. Zugleich blieben sie davor bewahrt, in den Machtbereich anderer imperialistischer Mächte zu geraten, in deren Rahmen sich keine so starke, zukunftsträchtige revolutionäre Bewegung entwickelt hatte wie in Rußland. Vom Endziel der Geschichte her ergab sich die eigentliche Rechtfertigung der Inkorporation: unter der Führung des „großen Bruders", des revolutionären Russentums, sicherten sich diese nichtrussichen Völker die Teilhabe an der Erringung und an dem Genuß der ersten sozialistischen Ordnung. Von diesem Gesichtspunkt wurde nunmehr die Expansion des russischen Staates in einzelnen Untersuchungen neu und positiv bewertet als das geringere Übel gegenüber einem Verharren in Rückständigkeit oder einem falschen geschichtlichen Anschluß. Auch diese Wendung war ein Einfluß des stalinistischen Dirigismus, bedeutete aber zugleich die Aufhebung eines historischen Tabus der 20er Jahre. So hat seit Kriegsende Stalins Initiative eine Auflockerung auf dem historischen Gebiet bewirkt, wie sie sich auch auf den anderen wissenschaftlichen Gebieten gezeigt hatte. Daran ändert die Tatsache nichts, daß schließlich der Fortgang der Diskussion noch unter Stalin die Sorge der Parteileitung wachrief. Die Entthronung Stalins wurde im Februar 1956 auf dem 20. Parteikongreß ausgesprochen, und schon das Märzheft der Zeitschrift „Geschichtsfragen" brachte eine erste Anwendung der Beschlüsse auf die Sowjethistoriographie. Nach Aufzählung der Verfälschungen der Geschichte der Kommunistischen Partei durch die ungebührliche Herausstellung Stalins — „als ob nur Stalin allein die Theorie entwickeln und vorwärtsbringen könne" — gipfelt der Leitartikel der Redaktion in allgemeinen Forderungen, die natürlich für die Sowjethistoriker überhaupt Gültigkeit haben sollten: es wurde von ihnen eine neue Arbeitsweise verlangt, die frei von Persönlichkeitskult sein sollte, abgelöst von „allheilenden Anweisungen" und von „Direktivartikeln", an die sich die Historiker inzwischen so gewöhnt hätten, eine Arbeitsweise, die auf Kollektivarbeit mit freiem Meinungsaustausch und schöpferischer Diskussion aufbauen sollte. „Ernste wissenschaftliche Forschung" wurde verlangt, systematische Heranziehung aller Quellen, Respektierung der Fakten, Auseinandersetzung auch mit den historischen Erscheinungen, die der Entwicklung der Partei abträglich gewesen waren (VI 1956, 3 ff. u. 4, 195). Mit alledem schien eine gründliche Besinnung auf echte Wissenschaftlichkeit eingeleitet zu sein, natürlich immer im Rahmen des Marxismus. In den folgenden Heften der „Geschichtsfragen" spürt 79

man nicht nur das beflissene Umschwenken — etwa in der nun wieder einsetzenden Leninverherrlichung — sondern auch ein Aufatmen, vom verfälschenden Druck befreit zu sein — etwa in der Kritik an Ausgaben bolschewistischer Memoiren, in denen parteikritische Äußerungen oder Anerkennung der revolutionären Leistung einzelner Nichtbolschewisten ausgelassen worden waren oder etwa im Bemühen um eine gerechte Beurteilung der „Volksfreunde" oder Plechanows oder anderer nichtbolschewistischer Erscheinungen der revolutionären Bewegung Rußlands. Der politische Kampf gegen den Persönlichkeitskult fand natürlich seinen historiographischen Niederschlag vor allem in der Parteigeschichte, wo die Leistung der Partei selbst und ihres Führerkollektivs wieder ins Zentrum gerückt wurde. Daneben wurde an zwei bedeutenden historischen Figuren der Kampf gegen den Persönlichkeitskult exemplifiziert, an Ivan IV., dem gewaltigen und gewalttätigen Autokraten des 16. Jahrhunderts, und an Samil', dem religiösen und politischen Führer des Kaukasus im jahrzehntelangen Kampf gegen die russische Expansion im 19. Jahrhundert. Bereits im Mai 1956 wurde im Geschichtsinstitut der Akademie „Uber die Beurteilung der Tätigkeit Ivans des Schrecklichen" sehr heftig diskutiert (VI 1956, 9, 195) Sie erfuhr im ganzen jetzt eine negative Beurteilung, aber es wurde auch darauf hingewiesen, daß auch eine negative Beurteilung der Person des Zaren allein nicht aus dem Bannkreis des Persönlichkeitskultes herausführe, was nur durch die Berücksichtigung ihrer historischen Bedingungen geschehen könne. Es folgte ein Aufsatz „Gegen die Idealisierung der Tätigkeit Ivans IV." (VI 1956, 8, 121), in dem vor allem als Produkt des Stalinkultus die 2. Auflage der bekannten Vipperschen Monographie (1942, 1. Aufl. 1922) angegriffen wurde, die Ivan IV. als „den Führer der Völker und den großen Patrioten", als „einen der größten Diplomaten der Geschichte aller Zeiten" bezeichnet und die blutigen Taten des Herrschers als notwendig gerechtfertigt hatte, womit auch Stalins Autokratie gerechtfertigt worden war. Aber auch die solideren Forschungen Smirnovs und Bachrusins wurden jetzt einer Kritik unterzogen. Die Opricnina Ivans IV., sein Versuch einer autokratischen Umbildung des Reiches durch staatlich organisierten Terror, wurde an anderer Stelle nunmehr als Ausfluß der Tyrannei, als eine überflüssige „Zerstörung der Produktivkräfte" des Landes charakterisiert (VI 1956, 9, 71). Anstelle der „bekannten Idealisierung" des Herrschers (VI 1956, 6, 149) wurde die Anerkennung der Klassenbedingtheit, aber auch die der Unmoral seines Handelns verlangt. Eine einheitliche Betrachtungsweise dieser historischen Persönlichkeit oder der historischen Persönlichkeit überhaupt wurde nicht gewonnen. — Im März 1956 wurde nun auch die Rechtfertigung Samil's versucht 80

(VI 1956, 3, 75), dessen Freiheitskampf durch die unter Stalin gewonnene Deutung der Inkorporation nichtrussischer Völker in das russische Reich als reaktionäre Bewegung abgestempelt worden war. Jetzt wurde der Hinweis versucht, seine Bewegung wieder als eine Volksbewegung hinzustellen, seine Bemühung um auswärtige Hilfe und sein diktatorisches Vorgehen aus der Situation zu rechtfertigen. Auch in Ausführungen, die reaktionäre Elemente in der von Samil' vertretenen Frömmigkeit anerkannten und seine lastende Gewaltherrschaft über die Bevölkerung zugaben, hieß er abschließend bezeichnenderweise: „Ungeachtet dessen trug der Kampf der Bergvölker gegen den Zarismus einen progressiven Charakter. Es war ein Kampf um Freiheit und Unabhängigkeit" (VI 1956, 7, 72). Im Januar 1957 wurde die Rechtfertigungskampagne für die §amil'-Bewegung vom Dagestaner Gebietskomitee der KP offiziell gebilligt (VI 1957, 1, 195), obwohl noch im Dezember 1956 eine ungemein scharfe Verurteilung des Müridentums veröffentlicht worden war als „feudal-religiöse Bewegung mit proenglischer und protürkischer Orientierung", die „nichts Fortschrittliches, nichts Demokratisches" enthalten hätte (VI 1956, 12, 72). Nicht nur im Zusammenhang mit der Persönlichkeit Samil's sondern ganz allgemein, auch z.B. im Hinblick auf die Zentralasiatischen Gebiete brach die Diskussion über die Inkorporierung nichtrussischer Völker wieder auf. Wenn auch weiterhin ihre Inkorporierung als Einbeziehung in eine höhere Entwicklungsstufe anerkannt wurde, so wurden ihre eigenen Voraussetzungen, Leistungen und politischen Besonderheiten jetzt verständnisvoller beurteilt, ihr Freiheitskampf vom Odium einer reaktionären Gesinnung befreit und als ein an sich positiv zu bewertendes nationales Freiheitsstreben anerkannt. Eine Reihe von umfangreichen Kritiken galt einer anderen Frage, die seit jeher f ü r die Geschichtsschreibung in Rußland von Bedeutung gewesen war, der Frage des westeuropäischen Einflusses auf die russische Entwicklung. Unter Stalin war dieser Einfluß in einem Chauvinismus grotesken Ausmaßes geleugnet worden, insbesondere war alles freiheitlich oppositionelle Denken als ausschließlich russischer Herk u n f t charakterisiert worden. Jetzt wurde die Forderung nach einer gewissenhaften Feststellung dieses Einflusses erhoben, vor allem im Hinblick auf das sozialpolitische Schrifttum, schon um den Anteil eigentlich russischer Ideen sicherzustellen. Diese Kritiken wandten sich vor allem gegen die bisherige fahrlässige oder verfälschende Bearbeitung des Schrifttums im 18. und 19. Jahrhundert. So entspann sich an verschiedenen Gegenständen der Forschungen eine Diskussion, die bereit war, die Komplexheit historischer Erscheinungen ernstzunehmen und die Quellenaussagen wahrzuhaben. In ihrer Lebhaftigkeit erinnerte die Diskussion an jene der Spätjahre Stalins. 81 6 Universitätstage 1961

Sie war noch durchaus im Anfangsstadium einer Aufsatzpolemik, als sie genau nach einem Jahr, im März 1957, durch einen Beschluß des Zentralkomitees der Partei abgebrochen wurde. Die Zeitschrift „Geschichtsfragen", in der wiederum die Auseinandersetzung stattgefunden hatte, wurde der mit der Partei eng verbundenen Akademie der Wissenschaften direkt unterstellt und das Redaktionskollegium neu zusammengesetzt. Es veröffentlichte sofort, noch in der Märznummer 1957, die außerordentlich scharfen Vorwürfe der Partei gegenüber den Historikern: 1. Verstoß gegen die marxistisch-leninistischen Prinzipien der Parteilichkeit und gelegentliches Abgleiten in bürgerlichen Objektivismus, 2. ein entstellendes Neuaufgreifen von Fragen, „die längst entschieden sind und keinerlei Zweifel hervorrufen", 3. ein liberales Kommentieren der Parteipolitik als Fehlinterpretation der Beschlüsse des 20. Parteitages, 4. Vernachlässigung einer wissenschaftlichen Bearbeitung und Auseinandersetzung mit den revisionistischen Strömungen innerhalb der internationalen proletarischen Bewegung, 5. eine falsche Bewertung der Politik der imperialistischen Mächte. Dieser Vorwurf wurde gleichzeitig an einzelnen Beispielen konkretisiert. Schon, daß die Bolschewisten während der Revolution von 1905 als „die konsequenteste, aber nicht die einzige Kraft des revolutionär-demokratischen Lagers" bezeichnet worden war, wurde jetzt als objektivistische Verdrehung gerügt. Ein Aufsatz, der korrekt die Zusammenarbeit von Bolschewisten und Menschewisten im damaligen Petersburger Arbeiterdeputiertenrat geschildert hatte, wurde als verwerfliche Rehabilitierung der Menschewisten bezeichnet. Interessant ist auch, daß mit besonderer Entrüstung ein Verfasser getadelt wurde, der Stalins Stellungnahme im März und April 1917 mit der Kamen'evs und Zinov'evs gleichermaßen kritisch beurteilt hatte: „Auch bei Anerkennung der ganzen Schwere der von Stalin begangenen Fehler ist es unmöglich, seine Tätigkeit nur durch das Prisma dieser Fehler zu sehen." Das sei eine Verfälschung, Verdrehung der Parteigeschichte, ein Ausfluß von subjektivistischer, d. h. bürgerlich-objektivistischer Sicht. Objektivistisch ist auch jetzt wieder die Anerkennung der geistigen Einflüsse des Auslands auf Rußland in dem nun einmal nachweislich großen Umfange, objektivistisch ist jede Einschränkung hinsichtlich des fortschrittlichen Charakters der Einverleibung nichtrussischer Völker in den russischen Staatsverband. — Als Beispiel f ü r die mangelhafte Darstellung des Kampfes gegen den Revisionismus wurde auch das Fehlen irgendeiner Bearbeitung der ungarischen Gegenrevolution von 1919 und 1956 nachgewiesen, eine ähnliche Vernachlässigung wurde hinsichtlich der Erforschung der sowjetischen Außenpolitik für Frieden und Sicherheit der Völker hervorgehoben. — Aus allen diesen Äußerungen (VI 1957, 3, 3 ff.) spricht die tiefe Beunruhigung der Partei darüber, daß die Sowjethistoriographie 82

der Parteikontrolle entgleiten, daß sie vor allem das klare Bild einer seit jeher nachweisbaren Führungsfunktion der Bolschewisten innerhalb der revolutionären Bewegung auflösen könnte. Die Partei griff ein, als sich auch nur die ersten Versuche einer problemoffeneren und sachgerechteren Historiographie in den Ansätzen abzeichneten. Die Partei akzeptierte natürlich die Reduzierung der Bedeutung der historischen Persönlichkeit auf die eines bloßen Ausdruckes einer progressiven, sozialen Gruppe; im übrigen aber verbat die Partei ein neuerliches Infragestellen des von Stalin im Hinblick auf den Sowjetpatriotismus und die Führungsrolle der russischen Bolschewisten harmonisierten Geschichtsbildes. Bis auf dieForderung nach einer historiographischen U n termauerung der tagespolitisch so bedeutsamen Abwehr des zeitgenössischen Revisionismus und der die Geschichte hemmenden imperialistischen Umtriebe eröffnete die Verlautbarung der Partei keine neuen Perspektiven für die Historiker. Die Rückkehr zum Dirigismus äußerte sich zunächst in einer neuerlichen Verflachung der historiographischen Erörterung, in der Wiederherstellung einer gradlinigen parteipolitischen Interpretation und in einer beträchtlichen Verlagerung der Arbeiten auf die Fragen der russischen und ausländischen proletarischen Bewegung und der Geschichte der neuzeitlichen Außenpolitik. Sehr viel schärfer noch ist die Bindung der Geschichtsschreibung an die politische Arbeit der Partei seit dem 21. Parteitag geworden. In direktem Bezug auf ihn nennt der im Februar 1959 veröffentlichte Jahresplan der Geschichtswissenschaftlichen Abteilung der Akademie (VI 1959, 2, 199) als vordringliche Aufgaben: 1. die Erstellung von Arbeiten, die die Durchführung des sozialistischen Aufbaus allgemein bekanntmachen, 2. die gründliche Erforschung des Übergangs vom Sozialismus zum Kommunismus, 3. den Kampf um die Reinheit der marxistisch-leninistischen Theorie, 4. die wissenschaftliche Kritik des Revisionismus und der bürgerlichen Ideologie. Diesen Aufgaben entsprechend wurden folgende „Forschungsrichtungen" festgesetzt: 1. die Geschichte des sozialistischen Aufbaus in der SU, 2. die Geschichte und Kulturgeschichte der sozialistischen Länder Europas und des Ostens, wobei der Aufbau der Volksdemokratien und die Eröffnung ihrer Beziehungen zur S U im Mittelpunkt stehen, 3. die neueste Geschichte der Länder Asiens und Afrikas, wobei der Zerfall der imperalistischen Kolonialherrschaft besonders zu berücksichtigen sein wird, 4. die Geschichte der kapitalistischen Länder in der Epoche der allgemeinen Krisis des Kapitalismus, wobei insbesondere auf die Geschichte des 2. Weltkrieges und die neueste Geschichte der kapitalitischen Entwicklung Europas, Amerikas und Japan verwiesen wird, 5. die Geschichte und Kulturgeschichte der Völker der SU von den Anfängen bis zur Sowjetzeit; sie berücksichtigt als erste Forschungsrichtung auch ältere Epo-

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chen, wobei aber die Hälfte des Themenkreises auf die Entstehung des Kapitalismus, auf die Außenpolitik im imperialistischen Zeitalter und auf die Voraussetzung der Oktoberrevolution entfällt, 6. die Geschichte der vorkapitalistischen Gesellschaft, Genesis und Entwicklung des Kapitalismus im Ausland, also frühe Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 7. die Geschichte des gesellschaftlichen Denkens, worunter hier nur gemeint ist: Grundfragen marxistisch-leninistischer Ethik und Kunsttheorie, Geschichte der Religion und des Atheismus und Geschichte der Geschichtswissenschaft. Der Schwerpunkt der geplanten Arbeiten liegt also in der Sowjetepoche und der Epoche des Kapitalismus, nur wenig Raum bleibt f ü r Mittelalter und Frühzeit; als Territorium nimmt die Sowjetunion zusammen mit den Volksdemokratien den weitaus größten Raum ein. Neu ist die nachdrückliche Einbeziehung der Geschichte Asiens und Afrikas. — Neu ist aber vor allem etwas anderes: aus diesem vorgegebenen Themenkreis, der bei all seinem Umfang schon eine Einengung bedeutet, darf sich ein Forscher nicht seinen Gegenstand selbst erwählen, vielmehr soll gerade die individuelle Anforderung einzelner Mitarbeiter zugunsten einer Konzentration auf die wichtigsten, und das heißt: von oben ausgewählten Problemen vermieden werden. Es werden erstmalig Wissenschaftsräte gebildet, die die Arbeit der einzelnen Disziplinen untereinander abstimmen sollen, und darüber hinaus soll die historiographische Arbeit im ganzen Land koordiniert werden. Es ist wohl nicht übertrieben zu sagen, daß eine solche durchgreifende Planung, eine solche Einordnung des Forschers und Einengung seiner Initiative unter Leitung und Kontrolle der Akademie auch in der Sowjetunion etwas Neues darstellte. Der Sinn dieser „Erfassung" der wissenschaftlichen Tätigkeit wird klar genannt: die Geschichtswissenschaft soll eine gewichtigere Rolle als bisher bei der Förderung des kommunistischen Bewußtseins spielen, bei der Förderung „der Gefühle für den proletarischen Internationalismus" und des Sowjetpatriotismus — d. h. die Geschichtswissenschaft hat sich in das parteipolitische Erziehungsprogramm als ein — sehr hochwertiger — Faktor einzuordnen, keineswegs aber als Vermittler politischer Bildung durch historische Erkenntnis. In gleichzeitigen Diskussionen im Plenum der Geschichtswissenschaftlichen Abteilung der Akademie (VI 1959, 6, 157) wurde das Ziel fast gleichlautend formuliert. Die historischen Einsichten von der Gesetzmäßigkeit der Gesellschaftsentwicklung sollen f ü r die kommunistische Erziehung der Werktätigen lebendig gemacht und die unsterbliche revolutionäre Tradition dargestellt werden. Nachdrücklich wird auf die Notwendigkeit einer Entlarvung der bürgerlichen Historiographie und einer Intensivierung der eigenen historiographischen Kenntnisse und Methoden verwiesen. Eine enge Zusam84

menarbeit aller Gesellschaftswissenschaftler soll die Bedürfnisse des Sowjetstaates und der Partei hinsichtlich der Analyse der wichtigsten Prozesse im eigenen System und außerhalb von ihm befriedigen. Hier wird der Individualismus der Historiker sogar als drohende Gefahr und als Zersplitterung von Kräften und Mitteln bezeichnet und die Bildung von Arbeitsgruppen zur Abfassung von Kollektiv-Monographien beschlossen. Ausdrücklich wird die Herstellung von populärwissenschaftlichen Abhandlungen befürwortet. Auch der Siebenjahrplan des Geschichtsinstituts der Akademie (1959—1965) steht unter der gleichen Forderung (VI 1959, 10, 174). Durch die Bemühung der Historiker soll die historisch-heroische Vergangenheit des Sowjetvolkes ein machtvolles Mittel der kommunistischen Erziehung der Masse werden und der Aufrechterhaltung und Entwicklung der revolutionären Traditionen, des Sowjetpatriotismus und des proletarischen Internationalismus dienen. In ermüdender Gleichförmigkeit formulieren auch alle nachgeordneten wissenschaftlichen Gremien und Institute den Zweck ihrer Arbeitsvorhaben in ähnlicher Weise. Im Januar 1960 rügte das Zentralkomitee der Partei erneut in einer Verlautbarung „Über die Aufgaben der Parteipropaganda unter den gegenwärtigen Bedingungen" die Gesellschaftswissenschaftler: „Viele Wirtschaftswissenschaftler, Philosophen, Historiker und andere wissenschaftliche Arbeiter haben nicht die Elemente des Dogmatismus überwunden, sie haben keine kühne und schöpferische Einstellung zum Leben bekundet, zu einer Erfahrung des Kampfes der Massen, sie haben nur schwach die aktuellen theoretischen und praktischen Fragen bearbeitet und blieben oft einer veralteten und unfruchtbaren Problematik verhaftet." Dieser Tadel blieb jedoch nicht unwidersprochen. In der Märzsitzung des Moskauer Gesellschaftswissenschaftlichen Aktivs (VI 1960, 5, 190) wandte sich besonders R y b a k o v energisch gegen die Beschränkung auf Gegenwartsfragen — auch die entfernteren Perioden seien im Kampf mit den feindlichen Ideologien wichtig. Auch dürfe der Kampf um die Gemüter nicht nur mit Hilfe der Sputniki und Mondraketen geführt werden, sondern auch mit Hilfe der Bücher der Historiker und aller anderen Vertreter der Gesellschaftswissenschaft. Auch die Antwort der „Geschichtsfragen" (VI 1960, 6, 3) auf die Parteirüge war eine Rechtfertigung der Historiker unter Hinweis auf die geleistete Arbeit, keineswegs eine Selbstanklage; auch hier wurde gefordert, man dürfe ältere Perioden nicht reaktionären Kräften überlassen. — Auch wird gewiß oft die allgemein beflissene Annahme der Parteiforderungen nur ein Deckmantel für die Weiterführung der Arbeit im bisherigen Sinne sein, aber zweifellos ist zur Zeit der Druck auf die Sowjethistoriographie und die ihr auferlegte Kontrolle ungewöhnlich stark. 85

Die Entwicklung seit 1957 ist also gekennzeichnet durch eine sich offensichtlich noch verstärkende Unterordnung der Historiographie unter die unmittelbare Parteiarbeit. Im Mittelpunkt steht die Einbeziehung des Auslandes und die Massenerziehung im Innern. Sehr handgreifliche politische Gründe, die ohne weiteres einsichtig sind, lassen eine gewaltige Ausweitung der Historiographie auf die außereuropäischen Länder erwarten. Kenntnisvermittlung und Propaganda verschmelzen hier zu einem Anliegen. Daneben wird eine große Beunruhigung spürbar über die ansteigende Beschäftigung des Auslandes mit der Anwendung der marxistisch-leninistischen Theorie auf die konkrete Geschichte in der Sowjethistoriographie. U m die ausländische Kritik in diesem Punkt abzuwehren und um Einfluß auf sie nehmen zu können, verlangt man mehr Informationen über die ausländische Wissenschaft und den Ausbau persönlicher Kontakte mit ihr. — H i n sichtlich der Verwendung der Historiographie für die Massenerziehung in der Sowjetunion scheinen geschichtstheoretische Auseinandersetzungen zurückzutreten — es ist, als wolle man sie nicht aufrühren. Hingegen soll die Lehrtätigkeit bis zu propagandistischen Exkursionen ausgeweitet werden, wobei übrigens der atheistischen Aufklärung ein immer größerer Raum gewährt wird. Die letzte Begründung für das Einschalten der Historiker in die Massenerziehung liegt m. E. in einer gelegentlich zitierten Bemerkung Chruschtschows auf dem 21. Parteitag ( V I 1960, 5, 195): „Unsere junge Generation ist nicht durch jene große Schule des Lebens und des Kampfes gegangen, die der älteren Generation auf erlegt wurde. Die jungen Leute kennen nicht die Schrecken und die N ö t e der vorrevolutionären Zeit und können nur durch Büdher eine Vorstellung von der Ausbeutung der Werktätigen gewinnen. Deshalb ist es überaus wichtig, daß unsere junge Generation die Geschichte des Landes, des Kampfes der Werktätigen um ihre Befreiung kennt." Damit ist das zentrale Problem der gegenwärtigen politischen Situation in der Sowjetunion überhaupt beschrieben, das hinter all den Bemühungen der Partei steht, nämlich das Fehlen einer letzten, selbstverständlichen Verpflichtung der jungen Generation. Die Zukunft strahlt keine so prägende Kraft aus, wie es die profan-eschatologische Gewißheit der 20er Jahre getan hat. Gewiß ist man von der Fortschrittlichkeit des Sozialismus und vom Endsieg des Kommunismus überzeugt, aber schon das ausdrückliche Betonen der Gesetzmäßigkeit der Entwicklung zeigt an, daß man sich um die Lebendigkeit dieser Überzeugung bemühen muß, weil die Verwirklichung des Kommunismus weiterhin aufgeschoben bleibt. Die Vergangenheit aber bietet keine echte Abgrenzung zur Gegenwart, da man dort wie hier nur dieselbe Gesetzmäßigkeit auffinden darf, denselben Menschen als Produkt der Abspiegelung der zeitgenössischen 86

Ideologie. Die Versuche, durchzustoßen zur Eigentümlichkeit einer Epoche, zur jeweiligen historischen Besonderheit des Menschen, sind im Keim erstickt worden. Dadurch wird die Geschichte langweilig und mit ihr auch die Gegenwart. Vielleicht entzündet sich einmal wieder ein zukunftsweisender Missionsgedanke an der Arbeit in den Ländern außerhalb des Sowjetbereiches, aber was Chruschtschow an sinnstiftender K r a f t als Ausweg anbietet, ist die in der Historiographie eindeutig zu konservierende Erinnerung an die heroische, revolutionäre Vergangenheit. Wenn ihre Ergebnisse aber selbstverständlich geworden sind, ja durch die ersten Leistungen der neuen Generation bald überholt sein werden, wird die Vergangenheit immer mehr zum pietätvoll betrachteten Museumsstück herabsinken müssen, falls man ihre lebensspendende K r a f t einer echten Abgrenzung weiterhin unterbindet. Auch bei uns ist die Zukunft in großem Außmaß leer von einer heilsbezogenen Gewißheit, auch bei uns wird Geschichte weithin unfruchtbar betrieben, ohne ein gegenwartsbezogenes Geschichtsbewußtsein zu erwecken, und auch bei uns bemüht man sich, als eine Ersatzlösung Traditionen zu bewahren oder gar zu schaffen. Eine einmal eingetretene Indifferenz kann nicht durch einen Rückgriff auf Werte überwunden werden, die zeitlich vor ihr existieren. Wie jeder Konservativismus, der nicht aus einer selbstverständlichen, im Zentrum einer Gesellschaft hervorströmenden Tradition lebt, muß sich auch der sowjetrussische Konservativismus eines Tages als ein dünnes und falsches Gehäuse erweisen. In bezug auf die Sowjethistoriographie kann man auch jetzt die oft ausgezeichnete, umsichtige und quellenkritische Veröffentlichung und Beschreibung von Material nur rühmend und dankend hervorheben; die Aussagen über die Geschichte haben freilich auch jene unfruchtbare Langeweile, die aus der gleichförmigen, auferlegten Betrachtungsnorm erwachsen muß. Die Vielfalt der historischen Erscheinungen, der Spannungsreichtum in jeder einzelnen von ihr bleibt den Sowjethistorikern verschlossen. Die immer umfangreicher werdende Darlegung von differenzierendem Material wird die vorgeschriebene Einordnung für die Historiker immer schwieriger und lästiger machen. Der geforderte (und geförderte) Kontakt mit dem Ausland wird immer gebieterischer eine Auflockerung verlangen, und die Bereitschaft, eine gewährte Diskussionsfreiheit gründlich auszunutzen, erwies sich bis jetzt immer wieder als lebendig. Wie lange kann man die Bevormundung der Historiker und anderer Geisteswissenschaftler aufrechterhalten? Wie oft kann man die Historiographie in Zickzackkurven dirigieren, ohne nicht eine völlige Indifferenz heraufzubeschwören? Lenin hat durch seinen voluntaristischen Vorgriff 1917 die Revolution als politische Entscheidung durchgesetzt. Das Überspringenwollen der geschichtlichen Situation hat sich erst als Enttäuschung an der Uto87

pie, dann als staatsparteilicher Dirigismus gerächt. Die aus der Sowjethistoriographie ablesbare Geschlossenheit ist eine scheinbare: sie entspricht keinem echten historischen Selbstverständnis, das aus eigener philosophischer und historiographischer Bearbeitung der Geschichte erwachsen wäre, sondern es handelt sich um eine von der Partei als dem angeblichen Träger der historischen Wahrheit vorgegebene Lehrmeinung. Wir haben weder Anlaß, das Geschichtsbild der Sowjethistoriographie zu bewundern, noch es zu fürchten, so lange wir nicht behaupten, die Wahrheit über die Stellung des Menschen in der Geschichte zu besitzen, sondern sie immer wieder neu, unter kritischer Berücksichtigung der eigenen zeitgeschichtlichen Bindung zu realisieren trachten, und so lange wir nicht selbst aus der damit gegebenen Spannung in eine bloße Faktenerstellung oder in eine reine Spekulation oder in einen sicherheitsversprechenden Konservativismus entfliehen.

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DIE E N T W I C K L U N G DER SOWJETISCHEN STAATS- U N D RECHTSTHEORIE Von W a l t e r

Meder

Wer sich mit der sowjetischen Staats- und Rechtstheorie wissenschaftlich auseinandersetzen will, muß die Tatsache berücksichtigen, daß es sich bei dieser Theorie nicht um ein statisches, sondern um ein dynamisches Lehrgebäude handelt, d. h. um ein Lehrsystem, dessen Grundbegriffe und Grundthesen im Laufe der verflossenen Jahre und Jahrzehnte wesentliche Veränderungen erfahren haben, wobei diese Veränderungen im geistigen Uberbau entsprechend der Basis- und Überbau-Lehre des dialektischen und historischen Materialismus als kausal determinierte Wirkungen jener Veränderungen gedeutet werden können, die im Bereich der sogenannten Basis, d. h. auf dem Gebiet der technischen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse, eingetreten sind. Im folgenden sollen diese Feststellungen durch einige Beispiele aus der Entwicklungsgeschichte der kommunistischen Staatsund Rechtstheorie erläutert werden. Nach der Lehre von Marx und Engels sollte der Zusammenbruch des Kapitalismus und der Ubergang zum Sozialismus in hochentwickelten Industriestaaten und nicht in unterentwickelten Ländern beginnen. Marx und Engels vertraten nämlich die Auffassung, die für den Zusammenbruch der kapitalistischen Herrschaftsordnung und für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaftsordnung erforderlichen Voraussetzungen seien nicht in unterentwickelten Ländern, sondern nur in Ländern mit einer hochentwickelten Industrie und einer zahlenmäßig starken Arbeiterklasse anzutreffen. Abweichend von dieser Auffassung lehrte dagegen Lenin, um seine Revolution in Rußland ideologisch zu begründen und theoretisch zu rechtfertigen, daß der Sturz der kapitalistischen Herrschaftsordnung und die Errichtung einer Diktatur des Proletariats in einem unterentwickelten Land leichter möglich sei und daher dort früher beginnen müsse, als in den hochentwickelten Industriestaaten; denn in einem unterentwickelten Land sei die wirtschaftliche Macht der Kapitalistenklasse und daher auch die politische Widerstandsfähigkeit dieser Klasse gegenüber den Umsturzversuchen der Partei des Proletariats wesentlich schwächer, als in Staaten mit einer hochentwickelten Industrie. Nach der Lehre von Marx und Engels waren theoretisch zwei ver89

schiedene Möglichkeiten des Uberganges von der kapitalistischen zur sozialistischen Gesellschaftsordnung denkbar: 1. die Möglichkeit des gewaltsamen Umsturzes; und 2. die Möglichkeit des legalen Uberganges der Macht nach den Spielregeln der formellen Demokratie. In Anlehnung an diese Auffassung der Klassiker des Marxismus stellten die Vertreter des evolutionären Sozialismus in Westeuropa den Gedanken in den Vordergrund, daß sich der Ubergang von der kapitalistischen zur sozialistischen Gesellschaftsordnung ausschließlich in den legalen Formen der freiheitlichen Demokratie vollziehen solle. Abweichend von der Lehre der Klassiker des Marxismus und abweichend von den Auffassungen der evolutionären Sozialisten vertrat Lenin dagegen den Standpunkt, daß der Sturz des Kapitalismus in einem unterentwickelten Land nicht auf dem Wege einer legalen Verfassungsänderung durch Mehrheitsbeschluß, sondern nur gewaltsam durch eine aktive Minderheit herbeigeführt werden könne, da die Mehrheit der Bevölkerung in einem unterentwickelten Land nicht aus Angehörigen der Arbeiterklasse bestehe, sondern aus Kleinbauern, die sich nicht ohne Zwang entschließen würden, sich von ihrer halbkapitalistischen Lebensweise zu trennen. Einen besonders wichtigen Bestandteil des von Lenin entwickelten Lehrsystems bildete der Gedanke, daß die Partei des Proletariats zwar in einem unterentwickelten Land die Macht leichter erobern könne, als in den hochentwickelten Industriestaaten, daß jedodi der Aufbau einer vollsozialistischen Gesellschaftsordnung, d. h. einer Gesellschaftsordnung, in der sämtliche Produktionsmittel als Großbetriebe im Eigentum der Gesamtheit zusammengefaßt sind, nicht in einem unterentwickelten Land, sondern nur in hochentwickelten Industriestaaten zum Abschluß gebracht werden könne, d. h. in Ländern, in denen die technischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse den hierfür erforderlichen Reifegrad erreicht hätten. Von dieser Auffassung ausgehend lehrte Lenin, daß die in einem unterentwickelten Land zur Macht gelangte Partei des Proletariats, wenn sie den Aufbau einer vollsozialistischen Gesellschaftsordnung zum Abschluß bringen wolle, gezwungen sei, die Machtergreifung im unterentwickelten Land als Sprungbrett für eine baldige Eroberung der hochentwickelten Industriestaaten zu betrachten, so daß ein Gleichgewicht und eine friedliche Koexistenz zwischen kapitalistischen und kommunistischen Staaten nicht von längerer Dauer sein könne. Der entsprechend diesem Grundgedanken des weltrevolutionären Leninismus unternommene Versuch der Sowjetrepublik Rußland, über Polen und die baltischen Staaten nach Westen vorzudringen, erwies sich im Jahre 1920 als undurchführbar. Der Realist Lenin sah sich gezwungen, die Politik des Kriegskommunismus im Jahre 1921 auf-

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zugeben und sich mit der Tatsache einer zeitweiligen Koexistenz von kapitalistischen und kommunistischen Staaten abzufinden. Unter Berücksichtigung dieser Tatsachen entwickelte Stalin im Jahre 1924 abweichend von dem ursprünglichen Grundgedanken des weltrevolutionären Leninismus in seiner Theorie vom Sozialismus in einem Land und vom provisorischen Gleichgewicht die Auffassung, daß die Partei des Proletariats nach der Machtergreifung in einem unterentwickelten Land auch ohne Eroberung der hochentwickelten Industriestaaten die Möglichkeit habe, den Aufbau einer vollsozialistischen Gesellschaftsordnung in dem bisher unterentwickelten Land durchzuführen und zum Abschluß zu bringen. Dieses Ziel sei, so lehrte Stalin, dadurch erreichbar, daß die Partei des Proletariats nach der Machtergreifung durch Industrialisierung des bisher unterentwickelten Landes und durch Zwangskollektivierung seiner Landwirtschaft jene technischen, wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen herbeiführen könne, die nach der Lehre von Marx und Engels für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaftsordnung unumgänglich seien. Die Lehre Stalins von der Möglichkeit des Aufbaus einer vollsozialistischen Gesellschaftsordnung in einem bisher unterentwickelten Land lief also darauf hinaus, daß Stalin es als durchführbar bezeichnete, den großen technischen Sprung von der mittelalterlichen Agrargesellschaft zum neuzeitlichen Industriestaat, für den die westlichen Länder in den Formen des Privatkapitalismus immerhin mehrere Jahrhunderte benötigt hatten, nunmehr in dem unterentwickelten Land Rußland mit den Machtmitteln des kommunistischen Staates in einigen wenigen Jahrzehnten nachzuholen. U m dieses Ziel erreichen zu können, mußte Stalin bemüht sein, zwei Voraussetzungen sicherzustellen. Erstens mußte er ein Gleichgewicht und eine friedliche Koexistenz zwischen kapitalistischen und kommunistischen Staaten f ü r einen längeren Zeitabschnitt anstreben; und zweitens mußte er f ü r einen gleichfalls sehr langen Zeitabschnitt den Konsum der breiten Massen niedrig halten und der Bevölkerung der Sowjetunion ein Höchstmaß an Opfern und Leistungspflichten auferlegen, um den gesamten Uberschuß der Produktion für die Industrialisierung des Landes und damit für die Vergrößerung der wirtschaftlichen und politischen Macht des Staates verwenden zu können. Sowohl die Politik der friedlichen Koexistenz als auch die Politik der Leistungssteigerung und der Drosselung des Konsumniveaus der breiten Massen bedurfte der theoretischen und ideologischen Rechtfertigung. Die theoretische Begründung f ü r seine auf ein langfristiges Gleichgewicht und auf eine friedliche Koexistenz mit den kapitalistischen Staaten gerichtete Außenpolitik lieferte Stalin mit seiner im Jahre 1924 entwickelten Theorie vom provisorischen Gleichgewicht, die als das

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außenpolitische Gegenstück zu der Theorie vom Sozialismus in einem Land bezeichnet werden kann. In seiner Theorie vom provisorischen Gleichgewicht vertrat Stalin abweichend von dem ursprünglichen Grundgedanken des weltrevolutionären Leninismus die Auffassung, daß eine friedliche Koexistenz zwischen kapitalistischen und kommunistischen Staaten zwar nicht für ewige Zeiten, aber doch für einen verhältnismäßig langfristigen Zeitraum möglich und wünschenswert sei. Es unterliegt keinem Zweifel, daß dieser Gedanke insofern ehrlich gemeint war, als die Sowjetunion für die Durchführung ihres inneren Aufbauprogramms eine Friedensperiode von mehreren Jahrzehnten benötigte und erstrebte, so daß die Sowjetregierung wohl kaum im Jahre 1939 die militärischen Maßnahmen gegen ihre westlichen Nachbarstaaten begonnen hätte, wenn sie damals nicht durch das Verhalten Hitlers zu einer Änderung ihrer bisherigen, auf die Erhaltung des Status quo gerichteten Außenpolitik gezwungen worden wäre. Die Entbehrungen und Leistungspflichten, die der Sowjetstaat seiner Bevölkerung auferlegte, um die Industrialisierung des bisher unterentwickelten Landes und die Zwangskollektivierung seiner Landwirtschaft durchführen zu können, versuchte Stalin in der Weise zu begründen, daß er dem Begriff des Sozialismus einen neuen Inhalt gab. Nach der Lehre von Marx und Engels war unter Sozialismus ein Zustand wirtschaftlicher und sozialer Gleichheit zu verstehen, der mit den Methoden einer vollständigen Entprivatisierung der Produktionsmittel bewirkt werden sollte. In Anlehnung an Marx und Engels betrachtete auch Lenin ein Höchstmaß wirtschaftlicher und sozialer Gleichheit als das wesentliche Merkmal einer sozialistischen Gesellschaftsordnung. Eine wirtschaftliche und soziale Differenzierung nach dem Leistungsprinzip wollte Lenin nach dem Siege der proletarischen Revolution allenfalls in engen Grenzen und nur für eine kurzfristige Ubergangszeit fortbestehen lassen. Abweichend von Marx, Engels und Lenin lehrte dagegen Stalin, Sozialismus sei seinem Wesen nach nicht ein Zustand wirtschaftlicher und sozialer Gleichheit, sondern ein Zustand wirtschaftlicher und sozialer Differenzierung nach dem Leistungsprinzip. Dieses der Leistungssteigerung dienende Prinzip der Differenzierung werde erst nach vielen Jahrzehnten oder Jahrhunderten, wenn die Produktionssteigerung zu einem Güterüberfluß geführt habe, allmählich durch das Gleichheitsprinzip einer kommunistischen Gesellschaftsordnung abgelöst werden können. Mit der Umdeutung des Begriffs der sozialistischen Gesellschaftsordnung durch Stalin war eine Veränderung und Weiterentwicklung der kommunistischen Lehre über den Zweck der Vergesellschaftung der Produktionsmittel im sozialistischen Staat verbunden. Nach der Lehre von Marx, Engels und Lenin sollte die Vergesellschaftung der Produk92

tionsmittel durch Beseitigung aller wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten das größtmöglichste Glück der größtmöglichsten Zahl von Menschen gewährleisten. Bereits in den ersten Jahren nach der kommunistischen Revolution in Rußland machte sich zwar ein offensichtlicher Widerspruch zwischen Theorie und Praxis bemerkbar; aber im Prinzip hat Lenin an dem eudaimonistischen Gleichheitsgedanken der Klassiker des Marxismus festgehalten und die Verwirklichung dieses Gedankens als ein in absehbarer Zukunft realisierbares Nahziel betrachtet. Nach der Lehre Stalins hatte die Vergesellschaftung der Produktionsmittel im sozialistischen Staat dagegen weder einen Zustand wirtschaftlicher und sozialer Gleichheit herbeizuführen noch das größtmöglichste Glück der größtmöglichsten Zahl von Menschen in absehbarer Zukunft sicherzustellen, sondern zunächst lediglich der Produktionssteigerung und dem Ausbau des Produktionsapparats zum Zweck einer Vergrößerung der wirtschaftlichen und politischen Macht des Staates zu dienen. Der etatistische Machtgedanke in der Staatslehre Stalins, der den Sowjetstaat immer mehr als Selbstzweck anzusehen begann, führte Ende der dreißiger Jahre zu einer parteiamtlichen Weiterentwicklung der marxistischen Lehre über das Absterben des Staates. In seiner bekannten Streitschrift „Anti-Dühring" hatte Engels die Auffassung vertreten, daß die Funktionen des Staates sich nach der Entmachtung und Vernichtung der bisherigen Ausbeuterklassen auf die Verwaltung der Produktionsmittel und auf die Lenkung der Produktionsprozesse beschränken würden, daß die Beseitigung der bisherigen Klassengegensätze jede Anwendung von Macht und Gewalt entbehrlich machen werde, daß die Tätigkeit des Staatsapparats somit auf die Anwendung nichthoheitlicher Mittel beschränkt sein würde und daß in diesem Sinne von einem Absterben des Staates die Rede sein könne. Dagegen waren in der Sowjetunion nach der Vernichtung der bisherigen Ausbeuterklassen keinerlei Anzeichen für ein derartiges Absterben des Staates erkennbar. Der Herrschaftsapparat des Sowjetstaates war Ende der dreißiger Jahre stärker und mächtiger und die Anwendung staatlicher Machtmittel war despotischer denn je. Aus diesem Grunde sah sich Stalin veranlaßt, die von Engels entwickelte Lehre über das Absterben des Staates zu revidieren. Auf dem XVIII. Parteikongreß der K P d S U im März 1939 erklärte Stalin, der Staat werde auch nach der Vernichtung der bisherigen Ausbeuterklassen nicht absterben können, sondern als ein mit Herrschermacht und Zwangsgewalt ausgestatteter Hoheitsapparat zur Abwehr der ihm vom Ausland her drohenden Gefahren fortbestehen müssen, solange er sich in einer kapitalistischen Einkreisung befände. Bereits Lenin hatte abweichend von Engels die Auffassung vertreten, 93

daß das Absterben des Staates, d. h. die Umwandlung des staatlichen Hoheitsapparates in einen nichthoheitlichen Apparat erst dann beginnen könne, wenn die bisherigen Ausbeuterklassen nicht nur in Rußland, sondern in allen oder in den meisten Ländern der Welt entmachtet und vernichtet sein würden. Hierbei war Lenin jedoch von der Vorstellung ausgegangen, daß die Entmachtung und Vernichtung der bisherigen Ausbeuterklassen in allen Ländern der Welt im Laufe einer verhältnismäßig kurzen Zeitspanne realisierbar sein würde. Von dieser Voraussetzung ausgehend hatte Lenin den von Engels vertretenen Standpunkt beibehalten, daß das Absterben des Staates nach der Vernichtung der bisherigen Ausbeuterklassen als ein erreichbares und erwünschtes Nahziel zu betrachten sei. Abweichend von Lenin betrachtete Stalin, dem die Macht des Sowjetstaates zum Selbstzweck geworden war, eine Entmachtung des Staates durch das sogen. Absterben weder als ein in naher Zukunft erreichbares noch als ein anzustrebendes Ziel. Das langfristige Weiterbestehen kapitalistischer Staaten neben dem sozialistischen Sowjetstaat war daher für Stalin nicht nur eine Realität, die sich in absehbarer Zeit nicht beseitigen ließ, sondern auch eine willkommene Rechtfertigungsgrundlage für das Fortbestehen der Macht des eigenen Staates. Wenn es keine kapitalistische Einkreisung, d. h. keine kapitalistischen Staaten gegeben hätte, wäre Stalin paradoxer Weise gezwungen gewesen, sie zur Rechtfertigung des eigenen Staates zu erfinden. Auch die Auffassungen der sowjetischen Staatstheorie über das Verhältnis zwischen Staat und Volk haben im Laufe der verflossenen Jahrzehnte überaus weitreichende Veränderungen erfahren. Nach den Vorstellungen Lenins sollte der sozialistische Sowjetstaat, der sich als Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken bezeichnete, ein internationaler Staat zu sein, in dem keines seiner vielen Völker eine hegemoniale Stellung einnehmen und der sich allmählich durch den Hinzutritt immer neuer Sowjetrepubliken zum Weltstaat des internationalen Proletariats entwickeln sollte. Im Gegensatz zu Lenin war dagegen Stalin bemüht, die Sowjetunion zu einem Nationalstaat neuen Typs werden zu lassen, in dem dem russischen Volk und der russischen Sprache gegenüber den übrigen Völkern und Sprachen dieses Staates eine hegemoniale Stellung eingeräumt wurde. Die staatstheoretische Begründung dieser neuen Konzeption begann bereits im Jahre 1934, als in einer gemeinsamen Verordnung des Zentralkomitees der KPdSU und der Regierung der U d S S R den sowjetischen Historikern die Instruktion erteilt wurde, sie sollten die Geschichte Rußlands nicht mehr, wie bisher, als eine Geschichte von Klassenkämpfen, sondern statt dessen als eine Geschichte der großen nationalen Abwehrkämpfe des russischen Volkes gegenüber den Aggressionsversuchen ausländischer Eroberer betrachten. 94

Während des zweiten Weltkrieges und in den ersten Jahren der Nachkriegszeit wurde von der politischen Führung des Sowjetstaates unter Anknüpfung an die Traditionen der russischen Geschichte der Gedanke in den Vordergrund gestellt, daß dem russischen Volk und der russischen Sprache eine führende Stellung innerhalb der sowjetischen Völkerfamilie zu sichern sei. Nach ihrem Verfassungsrecht blieb die Sowjetunion zwar ein internationaler Staat, aber in ihrer Verfassungswirklichkeit wurde sie immer mehr zu einem Staat, in dem das russische Volk und die russische Sprache eine hegemoniale Stellung innehaben. Um die führende Stellung des russischen Volkes und der russischen Sprache innerhalb der Sowjetunion nicht zu gefährden, verzichtete die Sowjetregierung darauf, diejenigen Länder, die nach dem zweiten Weltkrieg unter sowjetische Herrschaft gelangt waren, gemäß der Weltstaatsidee Lenins als Sowjetrepubliken in die Sowjetunion unmittelbar einzugliedern. Hierbei war die sowjetische Staatstheorie bemüht, das der monistischen Weltstaatsidee Lenins nicht ganz entsprechende Nebeneinanderbestehen der Sowjetunion und der sogen. Volksrepubliken theoretisch durch den Hinweis darauf zu rechtfertigen, daß die Volksrepubliken sich noch im Stadium des allmählichen Überganges vom Kapitalismus zum Sozialismus befänden, so daß sie für eine Umwandlung in Sowjetrepubliken und für eine staatsrechtliche Angliederung an die Sowjetunion noch nicht den erforderlichen Reifegrad erreicht hätten. Besonders charakteristisch für die Entwicklung der kommunistischen Staatstheorie ist die Tatsache, daß der Staatsbegriff in dieser Theorie einen sehr erheblichen Begriffswandel erfahren hat. Nach der Lehre von Marx und Engels war der Staat ein Herrschaftsapparat zur Ausbeutung der einen Klasse durch die andere. Diese von den Klassikern des Marxismus formulierte Begriffsbestimmung des Staates beruhte auf der Prämisse, daß für alle Staaten das Merkmal der Ausbeutung der einen Klasse durch die andere gegeben sei. Dieses Merkmal verlor jedoch seine Allgemeingültigkeit, nachdem durch die proletarische Revolution ein Staat entstanden war, der es als sein Ziel bezeichnete, die bisherigen Ausbeuterklassen zu vernichten und den Zustand der Ausbeutung der einen Klasse durch die andere zu beseitigen. Wenn die sowjetische Staatstheorie auch dieses neue Gebilde als Staat betrachten wollte, konnte sie die Staatsdefinition von Marx und Engels, die schlechthin jeden Staat als Herrschaftsapparat zur Ausbeutung der einen Klasse durch die andere bezeichnet hatte, nicht unverändert aufrechterhalten. Aus diesem Grunde gelangte Lenin zu einer neuen Begriffsbestimmung des Staates, indem er den Staat nicht nur als Apparat zur Ausbeutung der einen Klasse durch die andere, sondern allgemeiner als Apparat zur Beherrschung der einen Klasse durch die 95

andere bezeichnete. Auf Grund dieser abgewandelten Begriffsbestimmung konnte zwischen zwei grundsätzlich verschiedenen Staatstypen unterschieden werden: 1. dem Ausbeuterstaat, den man als einen Apparat zur Ausbeutung der einen Klasse durch die andere deutete; und 2. dem Nicht-Ausbeuter-Staat, den man als einen Apparat zur Vernichtung der bisherigen Ausbeuterklassen und zur Schaffung einer klassenlosen Gesellschaft betrachtete. Nachdem die ehemaligen Ausbeuterklassen in der Sowjetunion vernichtet waren, erwies sich auch die von Lenin formulierte Begriffsbestimmung des Staates als zu eng. Denn wenn es nach der Vernichtung der bisherigen Ausbeuterklassen im neuen Staat angeblich, wie die sowjetische Staatstheorie behauptete, den Zustand der Beherrschung der einen Klasse durch die andere nicht mehr gab, konnte dieser neue Staat nur als ein Staat bezeichnet werden, falls in der Staatsdefinition zum Ausdruck gebracht wurde, daß nicht jeder Staat ein Apparat zur Beherrschung der einen Klasse durch die andere sei. Aus diesem Grunde gelangte die sowjetische Staatstheorie in der Mitte der dreißiger Jahre zu einer neuen Definition des Staatsbegriffes, indem sie den Staat nicht nur als einen Apparat zur Ausbeutung oder zur Beherrschung der einen Klasse durch die andere, sondern allgemeiner als einen Apparat zum Schutz der Interessen der herrschenden Klasse bezeichnete, wobei das Interesse der herrschenden Klasse nach dieser im Wesentlichen auch heute noch gültigen Staatsdefinition des Stalinismus entweder, wie im Ausbeuterstaat, auf die Ausbeutung der beherrschten Klassen oder, wie im Staat der Diktatur des Proletariats, auf die Niederhaltung und allmähliche Vernichtung der ehemaligen Ausbeuterklassen oder endlich, wie im sozialistischen Staat, auf den Ausbau der Grundlagen einer klassenlosen Gesellschaft und auf den Ausbau der Abwehrpositionen des sozialistischen Staates gegenüber den sogen, klassenfeindlichen Kräften des Auslandes gerichtet sein kann. Aus der Tatsache, daß sich die kommunistische Staatstheorie im Laufe der verflossenen Jahrzehnte wiederholt vor die Aufgabe gestellt sah, neue Erscheinungformen der kommunistischen Staatsgestaltung begrifflich zu erfassen, haben sich seit Marx und Engels sehr erhebliche Veränderungen auf dem Gebiet der kommunistischen Staatstypenlehre ergeben. Die Staatstheorie von Marx und Engels unterschied lediglich zwischen drei verschiedenen Staatstypen, nämlich dem Sklavenhalterstaat, dem Feudalstaat und dem kapitalistischen Staat, denen die vorstaatliche Urgesellschaft und die nachstaatliche sozialistische Gesellschaft als Gesellschaftstypen ohne Staat gegenübergestellt wurden. Im Unterschied zu der Staatstheorie von Marx und Engels unterschied Lenin bereits zwischen fünf verschiedenen Staatstypen, nämlich dem Sklavenhalterstaat, dem Feudalstaat, dem kapitalistischen Staat, dem Staat der 96

Diktatur des Proletariats und dem vollsozialistischen Staat, denen er die vorstaatliche Urgesellschaft und die nachstaatliche kommunistische Gesellschaftsordnung als Gesellschaftstypen ohne Staat gegenübergestellt wissen wollte. Im Unterschied zu der Staatstheorie Lenins unterscheidet die im Wesentlichen auch heute noch als gültig anerkannte Staatstheorie des Stalinismus zwischen sieben verschiedenen Staatstypen, nämlich dem Sklavenhalterstaat, dem Feudalstaat, dem kapitalistischen Staat, dem Staat der Diktatur des Proletariats in den Formen des Sowjetsystems, dem Staat der Diktatur des Proletariats in den Formen der sogen. Volksdemokratie, sowie dem sozialistischen Staat und dem kommunistischen Staat, denen die vorstaatliche Urgesellschaft und die nachstaatliche kommunistische Gesellschaftsordnung als nichtstaatliche Gesellschaftstypen gegenübergestellt werden. In der älteren sowjetischen Staatstypenlehre wurden f ü r den Unterschied zwischen der sozialistischen und der kommunistischen Gesellschaftsordnung vier Merkmale als wesentlich bezeichnet. Erstes Merkmal: In der sozialistischen Gesellschaftsordnung hat der Unterschied zwischen körperlicher und geistiger, städtischer und ländlicher Arbeit noch erhebliche Bedeutung f ü r die Sozialstruktur, so daß sich zwar nicht mehr antagonistische Klassen, wohl aber noch sogen, befreundete Klassen und Bevölkerungsgruppen, wie die Arbeiterschaft, die Kollektivbauernschaft und die Intelligenz gegenüberstehen. In der kommunistischen Gesellschaftsordnung verwischt sich dagegen der Unterschied zwischen den verschiedenen Arten der Arbeit und zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Zweites Merkmal: In der sozialistischen Gesellschaftsordnung gibt es zwei Arten der Vergesellschaftung der Produktionsmittel und dementsprechend zwei verschiedene Erscheinungsformen des gesellschaftlichen Eigentums, nämlich das Staatseigentum und das genossenschaftliche Eigentum. In der kommunistischen Gesellschaftsordnung gibt es dagegen nur eine Art der Vergesellschaftung der Produktionsmittel, so daß nur eine Erscheinungsform des gesellschaftlichen Eigentums übrigbleibt. Drittes Merkmal: In der sozialistischen Gesellschaftsordnung gilt das Prinzip der wirtschaftlichen und sozialen Differenzierung nach dem Grundsatz „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung". In der kommunistischen Gesellschaftsordnung wird dagegen die wirtschaftliche und soziale Differenzierung nach dem Leistungsprinzip durch den Grundsatz ersetzt „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen". Viertes Merkmal: Für die sozialistische Gesellschaftsordnung ist das Fortbestehen des Staates und des Rechts, für die kommunistische Gesellschaftsordnung dagegen das Absterben des Staates und des Rechts charakteristisch, wobei unter dem Absterben des Staates und des Rechts nach der sowjetischen Staats- und Rechtstheorie eine Entwicklung zu

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U n i v e r s i t ä t s t a g e 1961

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verstehen ist, in der der hoheitliche Apparat des Staates sich in einen nichthoheitlichen Apparat und das System der durch staatlichen Zwang garantierten Rechtsnormen sich in ein System von Konventionalregeln, die freiwillig erfüllt werden, verwandelt. In der neueren sowjetischen Staatstypenlehre werden von den soeben erwähnten vier Merkmalen nur die erstgenannten drei als wesentlich für den Unterschied zwischen der sozialistischen und der kommunistischen Gesellschaftsordnung anerkannt. Denn auf Grund der Lehre Stalins über die kapitalistische Einkreisung hat sich die Auffassung in der sowjetischen Staatstheorie allgemein durchgesetzt, daß die Einrichtungen des Staates und des Rechts audi in der kommunistischen Gesellschaftsordnung fortbestehen müssen, solange die sogen, kapitalitische Einkreisung andauert. Gewisse Meinungsverschiedenheiten innerhalb der neueren kommunistischen Staatstheorie bestehen dagegen über die Frage, ob das Staatseigentum oder das genossenschaftliche Eigentum als die einzige Erscheinungsform des gesellschaftlichen Eigentums in der kommunistischen Gesellschaftsordnung übrigbleiben würde. Während die sowjetische Staats- und Rechtstheorie der Auffassung zuzuneigen scheint, daß sich das genossenschaftliche Eigentum allmählich in Staatseigentum verwandeln wird, wird sowohl in Jugoslawien als auch in China die Lehrmeinung vertreten, daß das Staatseigentum allmählich durch genossenschaftliches Eigentum verdrängt werden wird, wobei allerdings zwischen dem jugoslawischen Prinzip der Arbeitergenossenschaften und dem chinesischen Prinzip der Volkskommunen ein sehr erheblicher Unterschied im Hinblick auf die Stellung besteht, die Jugoslawien einerseits und China anderseits den Genossenschaftsmitgliedern einräumen wollen. In ähnlicher Weise, wie der Staatsbegriff in der kommunistischen Staatstheorie, hat auch der Rechtsbegriff in der sowjetischen Rechtstheorie im Laufe der verflossenen Jahre und Jahrzehnte einen erheblichen Begriffswandel erfahren. Nach der von Stutschka in den ersten Jahren nach der kommunistischen Revolution in Rußland entwickelten soziologischen Rechtstheorie ist das Recht nicht als ein System von Rechtsnormen, sondern lediglich als ein System von Rechtsverhältnissen zu betrachten, wobei die Rechtsverhältnisse nach dieser Theorie als die Form, die wirtschaftlichen Beziehungen dagegen als der Inhalt der gesellschaftlichen Machtverhältnisse aufgefaßt werden. Nach der von Reissner in Anlehnung an den bürgerlichen Rechtstheoretiker Petrazicki entwickelten psychologischen Rechtstheorie ist für die Begriffsbestimmung des Rechts die Unterscheidung zwischen dem intuitiven und dem positiven Recht von besonderer Bedeutung. Als intuitives Recht bezeichnet Reissner das Rechtsbewußtsein, wobei er entsprechend dem marxistischen Klassenstandpunkt hervorhebt, daß jede 98

Klasse ihr eigenes durch ihre besondere Klassensituation geprägtes Rechtsbewußtsein habe. Als positives Recht bezeichnet Reissner dagegen das intuitive Recht der herrschenden Klasse, das mit den Machtmitteln des Staates positiviert, d. h. für alle Klassen verbindlich gemacht werde. Nach der von Wyschinski in den dreißiger Jahren entwickelten und im Wesentlichen auch heute noch in der Sowjetunion als gültig anerkannten normativen Rechtstheorie ist das Recht dagegen als ein System von Normen zu betrachten, die zum Schutz der Interessen der herrschenden Klasse vom Staat als dem Machtapparat dieser Klasse entweder geschaffen oder zugelassen werden und deren Erfüllung durch die Zwangsgewalt des Staates gewährleistet wird. Eine für die Entwicklung der sowjetischen Rechtstheorie hochbedeutsame Problemstellung ist die Auseinandersetzung über die Frage, ob und in welchem Umfang die Gerichte und Verwaltungsbehörden des Sowjetstaates an die Vorschriften des Rechts gebunden sind. In den ersten zwei Jahrzehnten nach der kommunistischen Machtergreifung in Rußland sind nacheinander vier verschiedene Theorien zur Beantwortung dieser Frage entwickelt worden: 1. die in der Periode des Kriegskommunismus von 1917 bis 1921 herrschende Lehre vom revolutionären Rechtsbewußtsein; 2. die in der Periode der Neuen ö k o n o mischen Politik von 1921 bis 1928 herrschende Lehre von der revolutionären Gesetzlichkeit; 3. die in der Periode der Rekonstruktion des Sozialismus von 1928 bis 1936 entwickelte Lehre vom sozialistischen Rechtsbewußtsein; und 4. die in der Periode der Stabilisierung des Sozialismus seit 1936 als gültig anerkannte Lehre von der sozialistischen Gesetzlichkeit. Durch das sowjetrussische Justizdekret No. 1 wurde Ende 1917 bestimmt, daß die Vorschriften der vorrevolutionären Gesetze nur insoweit anzuwenden seien, wie sie nicht zum revolutionären Rechtsbewußtsein des neuen Staates im Widerspruch ständen; und durch das sowjetrussische Justizdekret No. 3 wurde Ende 1918 die noch radikalere Bestimmung geschaffen, daß die Vorschriften der vorrevolutionären Gesetze überhaupt nicht mehr anzuwenden seien. In allen Fällen, in denen durch das Verbot der Anwendung alter Gesetze und durch das Fehlen neuer Gesetze Lücken in der Rechtsordnung entstanden, sollten die Gerichte und Verwaltungsbehörden nach revolutionärem Rechtsbewußtsein tätig werden. Nach der Lehre vom revolutionären Rechtsbewußtsein bedeutete dies, daß die Gerichte und Verwaltungsbehörden berechtigt waren, beim Fehlen einer gesetzlichen Regelung nach freiem Ermessen zu handeln. Die Anwendung der Lehre vom revolutionären Rechtsbewußtsein führte in den ersten Jahren nach der kommunistischen Machtergreifung zu zahlreichen Willkürmaßnahmen örtlicher Instanzen. Diese handelten vielfach nicht nur in Fällen, in

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denen die Rechtsordnung Lücken hatte, sondern auch in Fällen, in denen der neue Staat bereits neue Gesetze erlassen hatte, unter Verletzung des geltenden Rechts nach eigenem Gutdünken. Die Sowjetregierung und die sowjetische Rechtstheorie sahen sich daher schon bald nach der kommunistischen Machtergreifung dazu veranlaßt, die Lehre vom revolutionären Rechtsbewußtsein fallen zu lassen und durdi die Lehre von der revolutionären Gesetzlichkeit zu ersetzen. Diese Lehre besagte, daß alle örtlichen Instanzen an die Vorschriften der Gesetze des neuen Staates gebunden seien und daß sie beim Vorhandensein von Lücken in der Rechtsordnung diesbezügliche Richtlinien von den übergeordneten Instanzen einzuholen hätten. Nach dem Ende der Neuen ökonomischen Politik stellte sich die Sowjetregierung auf den Standpunkt, daß die Vorschriften der während der Neuen ökonomischen Politik erlassenen Gesetze und Gesetzbücher zum Teil als veraltet zu betrachten seien. Aus diesem Anlaß wurde die Lehre vom sozialistischen Rechtsbewußtsein entwickelt. Diese Lehre besagte, daß die Zentralbehörden des Staates und im Einvernehmen mit den übergeordneten Stellen auch die örtlichen Instanzen berechtigt und verpflichtet wären, von den Vorschriften geltender Gesetze abzuweichen, wenn diese Vorschriften zwar formell noch nicht aufgehoben seien, sich jedoch nach Auffassung der Zentralbehörden des Staates nicht mehr im Einklang mit den Grundsätzen der neuen Sozialisierungspolitik befänden. Die Anwendung der Lehre vom sozialistischen Rechtsbewußtsein führte besonders in den Jahren der Zwangskollektivierung von 1929 bis 1935 zu zahlreichen Willkürmaßnahmen. Erst nach dem Inkrafttreten der Verfassung der UdSSR vom 5. Dezember 1936 wurde die Lehre vom sozialistischen Rechtsbewußtsein endgültig aufgegeben und durch die Lehre von der sozialistischen Gesetzlichkeit ersetzt. Die Lehre von der sozialistischen Gesetzlichkeit besagt, daß alle Gerichte und Verwaltungsbehörden an die Gesetze und an die Verordnungen mit Gesetzeskraft gebunden sind. Hierbei ist jedoch zu beachten, daß die Vorstellungen der sowjetischen Rechtstheorie über die Hierarchie der Rechtsquellen sehr erheblich von den Vorstellungen des westlichen Rechtsdenkens abweichen. In der Sowjetunion können nämlich Verfassungsgesetze durch einfache Gesetze und Gesetze durch Verordnungen derogiert werden, ohne daß dies als eine Verletzung des Prinzips der sozialistischen Gesetzlichkeit angesehen wird. In der Regierungszeit Stalins war die Effektivität des Prinzips der sozialistischen Gesetzlichkeit verhältnismäßig gering. Es kam damals häufig vor, daß die obersten politischen Führungsorgane den nachgeordneten Partei" und Verwaltungsbehörden gesetzwidrige Anordnungen erteilten. In der Periode des Nachstalinismus ist die Effektivität des Prinzips der 100

sozialistischen Gesetzlichkeit erheblich vergrößert worden. Die Fälle, in denen die obersten politischen Führungsorgane den nachgeordneten Partei- und' Verwaltungsbehörden gesetzwidrige Anordnungen erteilen, sind seltener geworden; und durch die Justizreform von 1958 hat die Rechtssicherheit in der Sowjetunion eine erhebliche Verbesserung erfahren. Während die sowjetische Rechtstheorie in der Regierungszeit Stalins von der Auffassung beherrscht wurde, es sei die Hauptaufgabe des Rechts, die Interessen des Staates vor Rechtsverletzungen der Untertanen und der örtlichen Funktionäre zu schützen, ist in der Periode des Nachstalinismus der Gedanke in den Vordergrund gestellt worden, daß das Recht die Aufgabe habe, nicht nur die Interessen des Staates, sondern auch die Interessen des Einzelnen zu schützen und den Schutz der Staatsinteressen mit dem Schutz der Rechte und Interessen des Einzelnen in harmonischer Weise zu verbinden. In der Regierungszeit Stalins galt die Auffassung, daß die Interessen des Einzelnen nur insoweit als schutzwürdig zu betrachten seien, wie der Staat durch die Leistungen des Einzelnen einen unmittelbaren Nutzen und Vorteil habe. In der Periode des Nachstalinismus wird dagegen anerkannt, daß die Rechte und Interessen des Einzelnen in gewissen Fällen auch dann schutzwürdig sind, wenn sich hieraus für den Staat kein unmittelbarer Nutzen oder Vorteil ergibt. Die Wirkungen dieser neuen Auffassung sind u. a. in den Vorschriften des neuen Pensionsgesetzes der UdSSR, in der Liberalisierung des sowjetischen Agrar- und Arbeitsrechts und in der veränderten Stellung der sowjetischen Staatsanwaltschaft erkennbar. Während die Staatsanwaltschaft als Hüter der sozialistischen Gesetzlichkeit in der Regierungszeit Stalins ihre Hauptaufgabe in dem Schutz des Staates vor Rechtsverletzungen Einzelner zu sehen hatte, hat sich die Staatsanwaltschaft in der Nachstalinzeit allmählich immer mehr in ein Instrument des Schutzes der Rechte Einzelner vor Rechtsverletzungen staatlicher Funktionäre verwandelt. In ähnlicher Weise, wie die sowjetische Rechtstheorie im allgemeinen, hat auch die sowjetische Völkerrechtstheorie in den letzten Jahren und Jahrzehnten eine Weiterentwicklung erfahren, die in mancher Hinsicht zu einer Annäherung der kommunistischen an die westliche Völkerrechtsauffassung geführt hat, während auf anderen Gebieten auch heute noch erhebliche Unterschiede zwischen der westlichen und der östlichen Völkerrechtsauffassung fortbestehen. Es würde an dieser Stelle zu weit führen, jene zahlreichen Sachgebiete darzustellen, in denen nach dem gegenwärtigen Entwicklungsstand eine grundsätzliche Übereinstimmung zwischen westlicher und kommunistischer Völkerrechtsauffassung besteht. In den folgenden Ausführungen kann daher lediglich gezeigt werden, welche von der westlichen Völkerrechtsauffassung abweichen101

den Lehrmeinungen für die Entwicklung der sowjetischen Völkerrechtstheorie besonders charakteristisch sind. Während Lenin die Möglichkeit dauernder völkerrechtlicher Beziehungen zwischen Staaten verschiedenen Typs überhaupt nicht anerkennen wollte, entwickelte Korowin in seiner Schrift „Das Völkerrecht der Übergangszeit" 1923 die Auffassung, daß in der Regel nur wirtschaftliche und technische Beziehungen, nicht dagegen politische Beziehungen zwischen Staaten verschiedenen Typs für eine völkerrechtliche Normierung geeignet seien und daß die Geltung völkerrechtlicher Normen zwischen Staaten verschiedenen Typs von der jeweiligen Interessenlage abhängig sei. Als eine Änderung der f ü r die Gültigkeit eines Vertrages relevanten Interessenlage bezeichnete Korowin u. a. die Änderung der Gesellschaftsordnung eines der am Vertrag beteiligten Partnerstaaten. Wenn sich seine Gesellschaftsordnung geändert habe, habe der Vertragspartner das Recht, sich nicht mehr an den Vertrag gebunden zu betrachten. Durch diese These war Korowin bemüht, für die Nichtanerkennung der Verpflichtungen des Russischen Reiches durch die Sowjetregierung eine theoretische Rechtfertigungsgrundlage zu konstruieren. Abweichend von Korowin vertrat Paschukanis Ende der zwanziger und zu Beginn der dreißiger Jahre den Standpunkt, daß nicht nur wirtschaftliche und technische, sondern auch politische Angelegenheiten einer völkerrechtlichen Normierung durch Verträge zwischen Staaten verschiedenen Typs zugänglich seien, falls übereinstimmende Interessen dieser Staaten eine derartige Normierung als erwünscht erscheinen lassen. Aber noch stärker als Korowin stellte Paschukanis die Auffassung in den Vordergrund, daß die Geltung von Verträgen zwischen Staaten verschiedenen Typs von der Interessenlage abhängig sei und daß die Vertragspartner an einen Vertrag nicht mehr gebunden seien, wenn die Interessenübereinstimmung aufgehört habe zu bestehen. Nach dem Eintritt der Sowjetunion in den Völkerbund im Jahre 1934 wurde die Lehre von Paschukanis als ideologische Abweichung bezeichnet und durch die Lehre von Litwinow und Wyschinski ersetzt, in der hervorgehoben wurde, daß die Sowjetunion die von ihr abgeschlossenen Verträge vorbehaltlos als f ü r sich verbindlich anerkenne. Jedoch hat die Sowjetregierung auch später, z.B. 1939 gegenüber ihren westlichen Nachbarstaaten, 1944 gegenüber Bulgarien, 1945 gegenüber Japan und 1949 gegenüber China, ein ähnliches Verhalten angewandt, wie es von Paschukanis empfohlen worden war. Die Entwicklung der sowjetischen Völkerrechtstheorie nach dem zweiten Weltkrieg beruht auf der Lehre von der Souveränität des Einzelstaates. Diese Lehre geht von der Auffassung aus, daß die Souveränität des Einzelstaates in einer Periode des Nebeneinanderbestehens 102

von kapitalistischen und kommunistischen Staaten ein unumgängliches Mittel sei, um die Staaten der in der Minderheit befindlichen Staatengruppe vor einer Majorisierung durch die Staaten der in der Mehrheit befindlichen Staatengruppe zu schützen. Unter Berufung auf dieses Prinzip forderte und erhielt die Sowjetregierung ein Vetorecht im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Unter Berufung auf dieses Prinzip weigert sich die Sowjetunion, von einigen Ausnahmen abgesehen, die Verbindlichkeit internationaler Gerichte und Schiedsgerichte anzuerkennen. Und unter Berufung auf dieses Prinzip hat sich die Sowjetregierung bisher konsequent geweigert, der Errichtung eines arbeitsfähigen Kontrollapparats als Voraussetzung für eine kontrollierte Abrüstung zuzustimmen. Wer die theoretische Begründung dieser ablehnenden Einstellung näher kennt, wird über den Mißerfolg der bisherigen Abrüstungsverhandlungen nicht überrascht gewesen sein und wird auch kaum die Hoffnung haben können, daß in absehbarer Zeit der Abschluß eines allgemeinen Abrüstungsabkommens Zustandekommen wird. Die Untersuchung der Frage, wie in dieser Situation des Wettrüstens dennoch eine friedliche Koexistenz zwischen Ost und West gewährleistet werden kann, ist vielleicht eine der vornehmsten Aufgaben der Ostforschung in den Ländern der freiheitlichen Demokratie.

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DAS PROBLEM DER OBJEKTIVITÄT IM RECHT Von R i c h a r d

Lange

Das Thema „Objektivität im Recht" ist so weit gespannt, daß ich von vornherein versuchen muß, es etwas einzuschränken. Zum Teil gelingt das ohne weiteres dadurch, daß ich mich auf mein Fachgebiet beschränken darf, weil da die Krisen und Dramen der Rechtsidee gewissermaßen mit der Eindringlichkeit eines Seismographen aufgezeichnet werden. Das kommt übrigens in der Gegenwart darin zum Ausdruck, daß überall auf dem Globus das Strafrecht in einer R e f o r m und Evolution, zum Teil auch in radikalem Umsturz begriffen ist. Die Auseinandersetzung zwischen dem Leviathan Staat und dem einzelnen und seiner Freiheitssphäre ist fast überall zu kritischer Zuspitzung gediehen. Zu einem anderen Teil aber ist die besondere Besichtigung des Strafrechts in unserem Zusammenhang deshalb nötig und dringend anzuraten, weil sie uns von vornherein davor bewahrt, in billiger Schwarzweiß-Malerei den Osten und den Westen einander gegenüber zu stellen, im Gegenteil durchaus Veranlassung zur Selbstkritik gibt. Denn in fast allen westlichen Staaten ist seit Jahren ein immer beängstigenderer Anstieg der Kriminalität festzustellen; bei uns nicht ganz so dramatisch wie in anderen Ländern des Westens, aber doch auch in einer nicht mehr zu beschönigenden Weise. Die östlichen Statistiken dagegen rühmen sich, daß in ihren Ziffern eine beträchtliche, von Jahr zu Jahr spürbarer werdende Abnahme der Kriminalität zum Ausdruck kommt; mindestens ist eine entsprechende Zunahme wie im Westen nicht nachweisbar. Bei aller Skepsis gegenüber den östlichen Methoden der Statistik muß das zugegeben werden. Es ist klar, daß das vom Osten propagandistisch ausgebeutet wird. So hat der zonale Justizminister Hilde Benjamin in einer der letzten grundsätzlichen Stellungnahmen erklärt: „Wenn wir uns gegenwärtig noch mit bestimmten Erscheinungen der Kriminalität beschäftigen müssen, so liegt dies darin begründet, daß bestimmte imperialistische Abenteurerkreise eine Aggression gegen die D D R und andere sozialistische Länder planen, diese durch Spionage- und Sabotagetätigkeit vorzubereiten suchen, daß die Unmoral des Imperialismus in die D D R in bestimmten Umfang ausstrahlt und daß auch bei einem Teil der Bürger der D D R nodi solche Reste alten Denkens vorhanden sind, die unter bestimmten Voraussetzungen zu Verbrechen führen." Dieser letzte Passus 104

ist der interessanteste und der grundsätzlichste. „Wir haben" — so heißt es hier weiter — „in der D D R bereits beachtliche Erfolge im Kampf gegen die Kriminalität erreicht. Die Zahl der festgestellten Straftaten sank von 500 445 im Jahre 1946 auf 186 138 im Jahre 1958 und weiter auf 156 970 im Jahre 1959. An diesem wesentlichen Rückgang der Kriminalität wird sichtbar, daß die neuen sozialistischen Produktionsverhältnisse und der damit verbundene Anstieg des Lebensstandards des gesamten werktätigen Volkes dem Verbrechen den Nährboden entzogen haben". Das ist ältester Marx. Entscheidend sind die Produktionsverhältnisse, und eine Parallele dazu ist die Kriminalität. „Der Rückgang der Kriminalität ist zugleich ein Ausdruck der Festigkeit der Arbeiter- und Bauernmacht und des moralischen Bewußtseins der Bevölkerung. Er spiegelt auch die wirksame Arbeit aller Straforgane wieder." Das ist nun aber der Realismus der Macht und nicht mehr die theoretische Grundlage. „In Westdeutschland" — so geht es weiter — „geschehen in einem Monat mehr Straftaten als in der D D R im ganzen Jahr. Vergleicht man die Kriminalität auf je 100 000 Einwohner so stehen 904 Straftaten in der D D R 3 547 Verbrechen in der Bundesrepublik gegenüber." „Insgesamt", heißt es dann schließlich, „ging auch die Jugendkriminalität in der D D R in den letzten Jahren zurück, allerdings langsamer als die der Erwachsenen". Um das gleich mit ein paar Worten auf den Boden der Tatsachen zurückzuführen, so ist — auch wenn wir davon ausgehen, daß die statistischen Ziffern nicht frisiert sind — leicht zu sehen, daß hierin massive Fehlerquellen stecken. Zunächst einmal wird ein Drittel der Kriminalitätsziffer in der Bundesrepublik und in Berlin von den Verkehrsstraftaten eingenommen. Und die Motorisierung in der Zone ist im Vergleich zu Westdeutschland so bescheiden, daß eine Kriminalitätsursache, die bei uns zahlenmäßig ungeheuer zu Buche schlägt, hier von vornherein wegfällt. Ein zweites wesentliches Fehlermoment ist sehr wahrscheinlich, daß ein großer Teil der kleinen oder kleineren Kriminalität, die bei uns vor den Strafgerichten erscheint und sich also in den Ziffern des Vergleichs niederschlägt, jetzt in der Zone auf einem außergerichtlichen Wege durch die sogenannten Betriebs- oder Gesellschafts- oder Kameradschaftsgerichte erfaßt wird und jedenfalls in der Justizstatistik dann nicht mehr sichtbar wird. Allein diese beiden Fehlerquellen reichen schon aus, um jene Zahlen entscheidend zu revidieren, wobei übrigens der riesenhafte Erfolg, der in dem Abstieg von 500 000 im Jahre 1946 auf 156 000 im Jahre 1959 zum Ausdruck kommen soll, nur scheinbar ist. Im Jahre 1946 ging in den Wirren und der staatlichen Anarchie der unmittelbaren Nachkriegszeit eine ungeheure Welle des Verbrechens durch Deutschland; man kann dieses Jahr überhaupt nicht mit den Jahren 1958 und 1959 105

vergleichen. A m interessantesten aber an diesen Ziffern ist das Eingeständnis, daß die Jugendkriminalität nicht so stark zurückgegangen sei wie die Erwachsenenkriminalität. Wenn die Prämisse, von der alle diese Zahlen ausgehen, wirklich richtig wäre, daß nämlich der neue Mensch aus dem sozialistischen Bewußtsein, das ihn geschaffen hat, von selbst das Rechte tut und nicht mehr kriminell wird, dann müßte doch die Jugend, die seitdem herangewachsen ist, die in immerhin 15 Jahren beinahe rein kommunistisch aufgezogen wurde, weit weniger als die Erwachsenen kriminell werden, die noch mit dem imperialistischen Gift in den Adern zur Welt gekommen sind. Die kriminogenen „Überreste alten Denkens" sind bei den Erwachsenen naturgemäß wesentlich stärker als bei der Jugend. Darauf läuft doch alles drüben hinaus, in der neuen Generation die neue Gesinnung, das neue Denken zu züchten. D a sich gerade hier der Beweis zeigen müßte, ist allein schon die im Vergleich zu der der Erwachsenen langsamere Verbesserung der Jugendkriminalität ein sehr deutlicher Gegenbeweis. Sie sehen, diese scheinbar handfesten Ziffern zerbröckeln, sobald man ihnen mit ein paar kritischen Gesichtspunkten zu Leibe geht. Dennoch haben wir keine Veranlassung, zu triumphieren. Denn selbst wenn die Kriminalität dort nicht so erfolgreich bekämpft wird wie es zunächst schien, so ist sie doch wahrscheinlich erfolgreicher bekämpft worden als bei uns. Wir dürfen uns auch nicht scheuen, hier Vergleiche mit der nationalsozialistischen Zeit heranzuziehen; auch der Nationalsozialismus hatte nicht unbeträchtliche Erfolge im Kampf gegen das Verbrechertum. So sehr wir gegenüber propagandistischen Zuspitzungen der damaligen Verbrecherstatistiken mißtrauisch sein müssen: es bleibt immer noch genug übrig an unleugbaren Erfolgen. Wir tun also besser dran, uns mit einer anderen Grundeinstellung auszurüsten als daß der freiheitliche Staat des Westens der Kriminalität besser gewachsen sei als der totalitäre Staat. Wir tun besser daran, zuzugeben oder zum mindesten die Möglichkeit einzuräumen, daß zu dem hohen Preise, der für die Freiheit gezahlt werden muß, eben auch die Zunahme der Kriminalität infolge nicht genügend energischer Bekämpfung gehört. Das Dumme ist nur, daß diesen Preis allein die anständigen Leute bezahlen müssen. Die Schwächung des Rechtes da, wo es den Rechtsbrecher bekämpfen soll, nimmt man eben nicht ungestraft vor. Und umgekehrt, wenn die Mittel, die wir ablehnen und verabscheuen,, rücksichtslos und aus Prinzip mit eingesetzt werden, dann ist eben auf Kosten der Freiheit ein mehr oder weniger fragwürdiger, aber statistisch doch greifbarer Erfolg zu erzielen. Justizterror schreckt ab, wie jeder Terror abschreckt, und Friedhofsruhe ist auch eine Art von Ruhe. Wir tun also gut daran, Licht und Schatten hier nüchtern zu verteilen, gerade weil wir wissen, unter welches Gestirn wir das Recht, 106

das Strafrecht insbesondere, gestellt sehen wollen. Wir müssen uns darüber klar werden, daß die großen Entscheidungen des Rechtes immer Entscheidungen zwischen Szylla und Charybdis sind und daß die Vorstellung des ununterbrochenen Fortschritts zum eindeutig Besseren reine Illusion ist. Das hat das bisherige Scheitern mancher radikaler Reformbestrebungen und -Ansätze im Westen gezeigt. Wenn hier von Objektivität im Recht zu reden ist, so verstehen wir unter „Objektivität" — ich halte mich an den Sprachgebrauch der philosophischen Wörterbücher — die „Fähigkeit, etwas objektiv zu betrachten, das sachliche und sachgemäße, auf das Wesen der Gegenstände oder Sachverhalte gerichtete Denken und Forschen, unter möglichster Ausschaltung des nur Subjektiven." „In den Geisteswissenschaften läßt sich dieses Ideal nicht erreichen" damit also auch im Recht nicht, „da hier die Tatsachen und Sachverhalte als solche, die objektiv feststellbar sind, nicht das Wesen der Wissenschaft erschöpfen, sondern die Deutung und das Verstehen ihres Sinnes hinzukommen, die von dem jeweiligen Standpunkt und der geistigen Beschaffenheit der Forschers abhängig sind. Hier muß die Objektivität des Forschers darin bestehen, daß er darauf verziehet, in seinen Gegenstand bewußt etwas hineinzutragen, was seinen oder den Wünschen anderer entspricht sowie in dem Willen zur Redlichkeit, zur Wahrhaftigkeit, zur Gerechtigkeit und zur Überwindung und Ausschaltung persönlicher und anderer Interessen". Nach herrschender Lehre und entsprechend dem Lebenssprachgebrauch ist Objektivität zu unterscheiden vom Objektivismus, „der Uberzeugung" — wiederum nach dem philosophischen Wörterbuch — „daß es objektive Werte und Wahrheiten gibt, die vom Subjekt unabhängig sind", im Gegensatz zum Subjektivismus. Wir müssen, wenn wir Objektivität und Objektivismus hier einführen, einen Oberbegriff haben, der beides umfaßt; wir wollen ihn die objektiven Elemente nennen und fassen damit zugleich auch den Gegenbegriff zum Recht, der letzten Endes in dem Begriff der Willkür zu finden ist. An dieser Stelle können wir eigentlich — so scheint es auf den ersten Blick — schon aufhören. Denn Objektivität wie Objektivismus werden von der Rechtsdoktrin der Zone und überhaupt des Ostens prinzipiell abgelehnt. Objektivismus wird nach dem Liebknecht'schen VolksFremdwörterbuch in der Zone als „falsche Denkmethode" verdammt. Und daß die Objektivität nicht Sache der Rechtstheorie der Zone ist, kann man ebenfalls aus beliebigen Zitaten jederzeit entnehmen. So wenn Sie etwa in der offiziellen Schrift des Justizministeriums über Gericht und Rechtsprechung in der D D R hören: „Das Gericht muß in jeder Entscheidung darauf achten, wie sich das Urteil auf die Festigung der Arbeiter- und Bauernmacht auswirkt. Wir sprechen davon, daß das Gericht parteilich für die Sache der Arbeiter- und Bauernmacht 107

eintritt; wenn das Gericht parteilich entscheiden will, m u ß es die politischen Grundsätze der Partei der Arbeiterklasse richtig verarbeiten". Wiederum aber können wir leider nicht ein leuchtendes Gegenbild des Westens u n d der Entwicklung seiner Rechtsidee aufrichten u n d d ü r f e n schon deshalb nicht voreilig die Akten schließen. D e n n die Rechtsidee scheint in ihrer Geschichte auf dem Wege oder vielmehr im Abstieg von den objektiven Elementen zu einer immer weiteren Subjektivierung, einer allmählichen Auflösung objektiver Substanzen zu sein. An ihrem Beginn steht der Monolith des christlichen Naturrechts. Hier wird das Recht unmittelbar aus dem göttlichen Gebot abgeleitet. Dadurch wird es nicht n u r mit einer schlechthin unangreifbaren u n d einzigartigen Legitimität ausgestattet, sondern es werden damit zugleich auch alle Konflikte zwischen religiösen, ethischen, sittlichen u n d rechtlichen N o r m e n von vornherein ausgeschaltet oder doch ihre Entscheidung durch eine eindeutige R a n g o r d n u n g der Werte leicht u n d geradezu selbstverständlich gemacht. Dieses Naturrecht zerbrach mit dem Ausgang des Mittelalters und mit der Reformation. Die Wiederbelebung in säkularisierter Form hat allerdings gewaltige Auswirkungen gehabt und zunächst einmal die N e u schöpfung des Völkerrechtes unter H u g o Grotius zuwege gebracht, aber doch die Weiterentwicklung des abendländischen Rechtes nicht über das 18. Jahrhundert hinaus tragen können. Denn der Versuch, ein Recht more geometrico — wie man es damals unternahm — mit Geltung f ü r alle Zeiten und alle Völker zu konstruieren, mußte wegen seiner Geschichtslosigkeit scheitern. Dessen wurde man sich im Zeitalter des Historismus bewußt. Allerdings trat zu Anfang des 19. Jahrhunderts im deutschen Idealismus noch einmal eine gewaltige Geistesmacht zur Objektivierung von Staat und Recht auf. An die Stelle des christlichen Naturrechts und des mathematisierten Naturrechts traten die großen Konzeptionen Kants und Hegels. Hegels Identifizierung von Recht und Staat mit dem objektiven Geist hat die deutsche Entwicklung im Strafrecht bis in unser geltendes Strafgesetzbuch hinein im Sinne einer objektiven Fundierung beeinflußt. Aber im übrigen Bereich, namentlich dem des bürgerlichen Rechtes, setzte sich die Relativierung, die der Historismus mit sich brachte, im Siegeszug der historischen Rechtsschule durch. Das vorläufige Ende war der Gesetzespositivismus, so paradox das zunächst klingt. D e n n die historische Schule leugnete die Legitimation, zum mindesten ihrer Zeit, zur Gesetzgebung ü b e r h a u p t u n d erkannte n u r das Gewohnheitsrecht, den Ausdruck des still waltenden Volksgeistes, als legitime Rechtsquelle an. Auf der anderen Seite aber war mit dem raschen Eintritt in das Zeitalter der Industrie u n d des internationalen Handels die Kodi108

fikation des Zivilrechts, geführt vom Wirtschafts- und Handelsrecht, ein zwingendes Bedürfnis geworden. D a diese Kodifikationen aber vom historischen Standpunkt aus gesehen illegitim waren — sie waren ja nur gemachtes, künstliches Recht, der Volksgeist verirrte sich in diese Räume überhaupt nicht — so mußte dieses neu gemachte Recht seine Legitimation in sich selbst finden und auf sich selbst beschränken. Die Qualität des Apparates wurde aus diesem Grunde mit der Rechtsqualität immer mehr identifiziert. Und das ist es, was wir im guten und schlechten Sinne unter Begriffs-Jurisprudenz zu verstehen haben, was zugleich den Laien so abstößt an dem Gebäude unserer Rechtsordnung und der Art ihrer Anwendung. Wir sind auch als Juristen heute geneigt, einen negativen Akzent auf diesen Begriff zu setzen. Es darf aber nicht vergessen werden, daß die hohe Schule der Rechtstechnik in dieser Epoche das Recht erst zu dem glänzenden und allseitig verwendbaren Mechanismus machte, der erforderlich war, um die ungeheure Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung im Massenund Industriezeitalter zu bewältigen. Inzwischen ist dieser Bau bis in seine Fundamente erschüttert worden. Das weiß man nicht nur in den Kreisen der Fachleute; denn die Erschütterung setzte ein mit dem Rammstoß der radikalen sozial-revolutionären Forderungen. In ihnen suchte sich die Gerechtigkeit ein neues Ventil. Das Ziel war nicht mehr die Ubereinstimmung mit den göttlichen Geboten, auch nicht mehr der Einklang mit dem kategorischen Imperativ oder der Vernunft des objektiven Geistes, sondern die Erfüllung der sozialen Postúlate der Zeit. Diese Strömung war es, die das Rechtsgebäude unterspülte. Es mutet uns heute geradezu fossil an, wenn der größte Vertreter der Begriffsjurisprudenz, Windscheid, noch im Jahre 1884 erklärte, ethische, politische oder volkswirtschaftliche Erwägungen seien nicht Sache des Juristen als solchen. In der T a t konnte ein so substanzloser Rechtspositivismus trotz seines hohen Ordnungswertes einem Zeitalter nicht mehr genügen, das von sozialen Umwälzungen geschüttelt und dessen geistiges Weltbild vom Siegeszug der Naturwissenschaften geprägt wurde. Und so ist die Etappe, die in unsere Gegenwart im Westen hineinführt, in der Geschichte der Rechtsidee gekennzeichnet einmal durch die schon erwähnten sozialen Strömungen, zum anderen aber durch naturalistische Tendenzen aller Art. Für diese ist der Positivismus von Comte charakteristisch, der soziologisch, psychologisch, zum Teil auch biologisch unterbaut war. Das berühmte Dreistadiensystem des theologischen, des metaphysischen und nunmehr des positivistischen Zeitalters ließ einen neuen Positivismus, nidit mehr den des Gesetzes und der Rechtstechnik, sondern den der soziologischen Tatsachen, in die Rechtswissenschaft seinen Einzug halten. So sieht etwa einer der größten Juristen dieser Epoche, Rudolf von 109

Ihering, das Recht ganz materialistisch als Ausdruck der staatlichen Zwangsgewalt, die Strafe wird von ihm als sozialer Medianismus aufgefaßt, der mit Straftarif und Strafdruck arbeitet. Dieser Auslaugung der eigentlichen Substanz der Rechtsidee entspricht im öffentlichen Recht das gefährliche Wort Georg Jellineks von der normativen Kraft des Faktischen. Danach gibt das Recht nicht mehr Maß, sondern nimmt Maß an den Tatsachen und vor allen Dingen an den Mächten. Wohin das führt, brauche ich Ihnen heute nicht mehr auseinanderzusetzen. Wir sehen ferner in einzelnen Gebieten, namentlich dem Arbeitsrecht und dem Sozialrecht, eine völlige Umstellung der Person des Richters in der Rechtsordnung, indem er vielfach nicht mehr das Recht zu finden und anzuwenden, sondern einen sozialen Kompromiß zu schließen sucht oder doch dazu gedrängt wird. Der Richter wird zum Sozialbeamten. Diese Gefahr ist heute erkannt, aber keineswegs behoben. So sehen wir seit dieser philosophiefernen Zeit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die ihre Ausstrahlungen bis in unsere Gegenwart hineinschickt, überall eine weitgehende Verdünnung der Rechtsidee. Wir haben, auch seitdem es mit dem Anfang des 20. Jahrhunderts zu einer philosophischen Neubesinnung kam, eine wirkliche Rechtsphilosophie noch nicht wieder begründen können. Man muß sie geradezu für noch nicht wieder möglich erklären. Neu-Kantianismus und Neu-Hegelianismus haben letzten Endes nur episodenhaften Charakter gehabt. Auch die Phänomenologie ist inzwischen im wesentlichen wieder abgelöst worden durch die Existenzphilosophie. Und diese wendet sich von der sozialen Sphäre zum mindesten in ihrem Ansatz, aber auch in ihrem Ausbau bis heute bewußt ab. Jaspers etwa formuliert in aller Schroffheit: „als soziales Ich bin ich nicht ich selbst". Sie werden jetzt verstehen, wenn ich sage: darauf läßt sich keine Rechtsphilosophie gründen. Die bisherigen Versuche von juristischer Seite sind jedenfalls nicht überzeugend. So kommt einer der scharfsinnigsten Beobachter der Ideengeschichte, Wieacker, in seiner Privatrechtsgeschichte der Neuzeit zu dem resignierten Schluß, daß es zwar heute wieder Rückwege zur Gerechtigkeit gibt, daß sie aber nach dem Zusammenbruch aller großen rechtsphilosophischen Systeme nur noch im subjektiven Rechtsgewissen des Einzelnen zu finden sind. Und Sie werden auch verstehen, weshalb ich vorhin sagte: der Weg der Rechtsidee durch die Geschichte erscheint als ein Weg vom objektiven Element, vom Objektivismus, zum Subjektivismus und zu den subjektiven, individualisierenden, auseinanderfallenden Meinungen. Allerdings ist das, wie ich glaube, nicht der letzte Punkt, an dem der Westen angelangt ist. 110

Wir wollen aber diesen Weg nicht weiter verfolgen, sondern uns dem Osten zuwenden. Wir kennen alle die Leugnung der Reditsidee durch Marx. Für ihn gibt es nur eine Rechtsideologie in dem abwertenden Sinne, den er von vornherein diesem Wort mitgegeben hat, d.h. ein Lehrsystem, das Ideen vorgibt, wo es sich in Wahrheit um handfeste Interessen handelt und das mit den angeblichen Ideen nur jene Interessen tarnen will. Die klassischen Sätze bei Marx lauten: „Die Gesamtheit der Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Uberbau erhebt." „Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt." Diese Thesen werden immer wieder ins Zentrum gerückt, obwohl sie auch im Osten keineswegs mehr selbstverständlich sind, wie wir gleich sehen werden. Daß die Sätze so nicht stimmen, läßt sich historisch sehr leicht nachweisen. Namentlich Max Weber hat in seiner Religionssoziologie schlagende Gegenbeweise gegeben. Schon die Tatsache, daß etwa in England einerseits und auf dem Kontinent andererseits, während sich in beiden Gebieten die Industriegesellschaft in gleicher Weise entwikkelte, radikal verschiedene Rechtssysteme bestehen blieben, zeigt, daß es mit dem Überbau als automatischem Reflex der Produktionsverhältnisse nicht stimmen kann. Aber so einfach dürfen wir uns wiederum die Widerlegung von Marx nicht machen. Denn in seinem letzten Anliegen ging es ihm nicht um das Verhältnis von Wirtschaft und Recht, sondern um den Menschen selbst. Hier liegt die wirkliche Radikalität des Marxismus, hier auch der zunächst so geheimnisvolle Grund dafür, daß die Stoßkraft der kommunistischen Revolution noch fortgedauert hat, nadidem schon so viele Einzelstücke der Theorie und Prophetie widerlegt worden waren. Unerschüttert von diesen Schlägen blieb die Vorstellung, das Bild des Menschen, der unter dem Kapitalismus mit seiner Ausbeutung des Menschen durch den Menschen sich selbst entfremdet sei, müsse befreit und wiederhergestellt werden. „Das Proletariat kann nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen" ist der Kernsatz bei Marx, der in diese tiefere Schicht zielt. An solche Vorstellungen ließ sich die quasi-religiöse Erlösungsidee im sozialen Gewände anknüpfen, die heute noch mit der chiliastischen Vision der klassenlosen Gesellschaft als einer Gemeinschaft der auf Erden Glückseligen immer wieder Menschen, die die Praxis des Kommunismus nicht kennen, zu faszinieren vermag. Wir dürfen allerdings, wenn wir hier so interpretieren, nicht außer acht lassen, daß Marx selbst solche Schwärmereien durchaus fern 111

lagen. Sein englischer Biograph Sir Isaja Berlin sagt dazu: „Die Manuskripte der zahlreichen Manifeste, Kundgebungen und Aktionsprogramme, unter die Marx seinen Namen gesetzt hat, zeigen noch heute die Federstriche und scharfen Randbemerkungen, mit denen er jeden Hinweis auf ewige Gerechtigkeit, auf das Ideal der Gleichheit, auf die Rechte des Einzelnen oder der Völker, auf die Gewissensfreiheit usw. auszumerzen suchte. Er betrachtete diese Ideen als sinnlose Heucheleien." Für Marx selbst war der Nachweis naturwissenschaftlicher Gesetzlichkeit der vorausgesehenen und versprochenen gesellschaftlichen Entwicklung der Nerv, und die russischen Fortsetzer und Umgestalter seiner Lehre haben diesen Kern des Marxismus-Leninismus in allen ihren radikalen Neuerungen doch immer festgehalten. So spricht etwa Stalin betont von dem Bewegungsgesetz der Geschichte, das man nicht zu unrecht als eine Art Formelgott bezeichnet hat: Macht auf Erden kann offenbar, um auf den Menschen zu wirken, nicht ohne Berufung auf eine ewige Macht bestehen. Diese ewige Macht ist für den kommunistischen Atheismus das Naturgesetz, das in seinen Augen auch das Gesetz für die Entwicklung der Gesellschaft ist. Von der Glaubwürdigkeit dieser Verheißung hängt die faszinierende Wirkung des Kommunismus und damit der eigentliche Kern des sozialen Erlösungsglaubens ab. Von daher müssen wir es verstehen, daß Dogmenstreitigkeiten mit einem Fanatismus ausgefochten werden, der an die Intensität religiöser Kämpfe erinnert. Der Kommunismus ist dabei in einer sehr prekären Lage. Denn die fundamentale Tatsache, mit der er sich auseinandersetzen muß, ist, daß anstelle des allmählichen Absterbens von Staat und Recht eine Entwicklung einsetzte, die zu einer völligen Verrechtlichung aller Lebensbereiche und zu einem nie erlebten Allstaat, eben dem totalitären Staat neuester Prägung geführt hat. Diese Entwicklung konnte man auch im Vollbesitz der Macht nicht einfach unerklärt stehen lassen. Man mußte sich mit ihr auseinandersetzen, denn sonst wurden die Glaubenssätze fragwürdig. Das ist der Grund, weshalb sich in der Epoche des Stalinismus — des triumphierenden Kommunismus — eine grundstürzende Veränderung der marxistischen Lehre vom Verhältnis des Rechtes und des Staates zur Wirtschaft vollzogen hat. In Stalins Linguistikbriefen wird Marx auf den Kopf gestellt wie einst Marx seinerseits von Hegel meinte, dieser habe die Welt auf den Kopf gestellt. Das Recht ist keineswegs mehr bloßer Reflex der ökonomischen Entwicklung, sondern wird zum aktiven gestaltenden Faktor der Entwicklung, zum Hebel des Fortschrittes. Stalin scheut nicht davor zurück, zu behaupten, daß ein angebliches Naturgesetz, eben das Gesetz der gesellschaftlichen Entwicklung, in dem einen Anwendungsfall gilt, nämlich für die bür112

gerliche Revolution des 19. Jahrhunderts, im anderen aber nicht, nämlich für die proletarische des 20. Jahrhunderts. Man findet bei ihm folgende Äußerung: „Wir sind f ü r das Absterben des Staates, wir sind jedoch gleichzeitig f ü r die Verstärkung der Diktatur des Proletariats, die die stärkste, mächtigste Staatsgewalt ist, die je bestanden hat; höchste Entwicklung der Staatsmacht zur Vorbereitung der Bedingungen für das Absterben der Staatsmacht. So lautet die Marxistische Formel. Ist das widerspruchsvoll?" fragt Stalin selbst und antwortet: „Ja, das ist widerspruchsvoll, doch ist dieser Widerspruch lebensmächtig, und er spiegelt durchaus die marxistische Dialektik wider." Mit diesem Zauberkunststück wird der Widerspruch zwar zugegeben, aber zugleich als Beweis f ü r die Richtigkeit der Lehre erklärt, weil er eben Stadien der dialektischen Entwicklung darstelle. Aber es ist klar, daß man auf die Dauer so die gegenwärtige Entwicklung nicht als Erfüllung der Theorie glaubhaft machen konnte. Deswegen hat sich in der Ära Chruschtschow eine neue radikale Wandlung des Verhältnisses von Staat und Recht zum Leben im Marxismus überhaupt angebahnt. Man mußte dem Volk etwas bieten, was den allmählichen Ubergang zur klassenlosen Gesellschaft zu demonstrieren schien. Das sind die Kameradschafts- und Gesellschaftsgerichite, die jetzt auch in1 der Zone Eingang gefunden haben. Damit ist aber zugleich ein offener und geradezu tödlicher Selbstwiderspruch aufgebrochen. Auf der einen Seite steht die Vorstellung vom mächtigen Zwangsapparat des Staates, der alle Kräfte einspannt, schon um die Durchführung der 5- oder 7-Jahrespläne zu gewährleisten. Hauptvertreter dieser Richtung ist in der Zone das Justizministerium. Auf der anderen Seite aber finden wir neuerdings in der Partei der Zone wie der UdSSR die Vorstellung, daß das chiliastische Zeitalter doch allmählich anfangen müsse anzubrechen und daher die Staatsfunktionen durch die Gesellschaft, also etwa die Betriebe, die Nachbarschaft, das Dorf usw. zu übernehmen seien. Diese Auffassung ist von dem Chefideologen des Kommunismus, Suslow, im vorigen Jahr sogar schon propagandistisch ausgebeutet worden. „In den bürgerlichen Staaten werden die Unterdrückungsorgane ständig verstärkt, der Apparat wächst immer mehr an. Genau das Gegenteil geschieht im Sozialismus. Die Zwangsfunktionen des sozialistischen Staates werden immer mehr eingeengt, indem die gesellschaftlichen Selbstverwaltungsorgane, zum Beispiel die Kameradschaftsgerichte, an die Stelle der Strafjustiz, des Staatsanwalts und des Richters treten." Das ist der vorläufige Stand der Entwicklung der kommunistischen Rechts- und Staatsidee. Die Probleme der objektiven Elemente im Recht haben sich in diesem Stadium bei einer Auseinandersetzung unter den Justizfunktionären der Zone im vorigen Jahr gezeigt. An der zu113 8

Universitätstage 1961

nächst rein technisch anmutenden Frage, ob zwischen Rechtsnorm und Verwaltungsanweisung unterschieden werden müsse, ialso zwischen Rechtsnorm im Sinne einer allgemein verbindlichen N o r m und der Verwaltungsanweisung im Sinne eines einmaligen Rechtsbefehls, hat sich ein Streit entzündet, der sogar Ulbricht auf den Plan rief. Ulbricht sanktionierte die These, daß beides nicht unterschieden werden dürfe. Die Gegenmeinung, die von namhaften Zonenjuristen vertreten worden war, gehe von abstrakten Normen und Prinzipien aus. Der typisch sozialistische Wesenszug der Auffassung vom Recht dagegen sei eine ständige Entwicklung im Sinne cjes gesetzmäßigen Geschichtsablaufs. Das sozialistische Recht ist danach der konzentrierte Ausdruck der sozialistischen Staatsmacht, die Konkretisierung ihrer Wege auf den einzelnen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens. Das Recht hat nichts Bleibendes und in diesem Sinne Objektives, sondern ist immer die dem jeweiligen Stand der Durchsetzung der objektiven Gesetzmäßigkeiten und des politischen Bewußtseins der Werktätigen entsprechende Organisationsform. Damit wird dem Recht interessanterweise dodi wieder ein objektives Element gegeben, allerdings nicht im Sinne der Eigengesetzlichkeit, sondern gerade umgekehrt im Sinne eines automatischen Anschlusses an die Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung, namentlich eben des Staatsapparates selber Der Hauptvertreter dieser These, Professor Polak in Leipzig, sagt andererseits: „Das Recht kann seinem Wesen nach niemals bloße Abspiegelung oder Reflektierung von Produktionsprozessen sein." Das ist genau das Gegenteil von dem, was Marx in jenem Grundlagenzitat über das Wesen von Staat und Recht sagte. In der stalinistischen Konzeption von Recht und Staat, die in der Zone zur Zeit doktrinärer als in Rußland verfochten wird, ist buchstäblich die Gegenthese zum ursprünglichen Marxismus erreicht. Ziehen wir für die objektiven Elemente des Rechtes im Osten das Fazit, so ergibt sich: die Rechtstheorie hat seit Stalin gegenüber Marx einen völligen Sinnwandel erfahren und ist unter Chruschtschow in neuer radikaler Umgestaltung begriffen, um wenigstens die Morgenröte der anbrechenden klassenlosen Gesellschaft zu zeigen. Unberührt von all dem aber blieb die bewußte Ablehnung der Objektivität als des Willens zur Wahrheit und Gerechtigkeit und zur Ausschaltung von Interessen. Vielmehr bekennt man sich jetzt ganz offen zur Manipulierung sowohl der Tatsachen wie der Theorie je nach der politischen Zweckmäßigkeit. Was für die bürgerliche Revolution galt, gilt keineswegs für die proletarische, obwohl doch angeblich auch die Entwicklung der Gesellschaft in naturwissenschaftlichen Abläufen stattfindet. Mit der Objektivität verneint man auch den Objektivismus, nämlich die Uberzeugung, daß es objektive Wahrheiten und Werte gibt, die vom Subjekt unabhängig 114

sind. Jede irgendwie geartete Eigengesetzlichkeit und Eigenwertigkeit des Rechtes wird abgelehnt, nur daß es jetzt nicht mehr ein bloßer Reflex der Produktionsverhältnisse ist, sondern ein Reflex der Staatsmacht, ein Hebel zur weiteren Entwicklung, die vom Staat und seinen Machtzentren, also letzten Endes dem Zentralkomitee der Partei, ausgeht. Wohl aber bezieht man in die angenommene objektive Gesetzlichkeit der gesellschaftlichen Entwicklung das Recht mit ein, eben als technisches Instrument dieser Entwicklung. Es gibt keine Normen im Sinne bindender allgemein gültiger Gegegebenheiten, sondern es gibt nur Justizpolitik, d. h. unbedingte Anpassung der Rechtsanwendung an das im jeweiligen Stadium der sozialen Dynamik nach Ansicht der Partei Erforderliche und Opportune.

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ERZIEHUNG UND BILDUNG IN DER SOWJETUNION Von F r i t z

Borinaki I

Das Endziel des Kommunismus ist nach Lenin die Abschaffung des Staats. Er meint damit die Abschaffung „jeder organisierten und systematischen Gewalt, jeder Gewaltanwendung gegen Menschen überhaupt." Lenin ist überzeugt, daß mit dem Hineinwachsen des Sozialismus in den Kommunismus jede Notwendigkeit der Gewaltanwendung und Unterordnung verschwinden werde, — daß die Menschen „sich gewöhnen werden, die elementaren Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens ohne Gewalt und ohne Unterordnung einzuhalten." Dabei beruft er sich auf Engels: „Um dieses Element der Gewohnheit zu betonen, spricht Engels eben von einem neuen Geschlecht, das ,in neuen, freien Gesellschaftszuständen herangewachsen, imstande sein wird, den ganzen Staatsplunder von sich abzutun'", — „jedes Staatswesen", so fährt Lenin fort, „auch das demokratisch-republikanische". („Staat und Revolution"). „Gewöhnung der Menschen", „Einhalten von Grundregeln des Zusammenleben", ein „in neuen, freien Gesellschaftszuständen herangewachsenes Geschlecht", — hier tritt neben die politisch-wirtschaftlichen Fundamente des kommunistischen Ziels das Element der Erziehung. Wenn wir uns in dieser Vortragsreihe, die die Geschichte und Gestalt des Marxismus-Leninismus behandelt, mit der Erziehung und Bildung in der Sowjetunion befassen, so müssen wir zunächst fragen, welche Rolle die Erziehung im theoretischen System spielt, welchen Inhalt und welche Bedeutung sie bei den klassischen Lehrmeistern des MarxismusLeninismus hat. Zunächst Karl Marx! W i r können die Rolle der Erziehung bei Marx nicht verstehen ohne den dialektischen Materialismus. Es gibt bei ihm keine autonome Pädagogik, die nach eigenem Gesetz und aus eigener Einsicht auf Menschen wirkt, — eine solche Autonomie würde ihm utopistisch und liberal erscheinen —. Auch die Erziehung gehört in den ideologischen Überbau. Mit ihm ist sie bedingt durch die ökonomische Struktur der Gesellschaft, mit ihm ist sie in einer Epoche der sozialen Umwälzung revolutionären Veränderungen unterworfen. Aber die Revolution weist ihr auch, wie allen Stücken des Uberbaus, eine eigene Rolle zu, und deshalb gehört zu den Sofortmaßnahmen der siegreichen Arbeiterrevolution ein schulpolitischer Programmpunkt, der lautet: „öffentliche 116

und unentgeltliche Erziehung aller Kinder. Beseitigung, der Fabrikarbeit der Kinder in ihrer heutigen Form. Vereinigung der Erziehung mit der materiellen Produktion usw. usw." („Kommunistisches Manifest"). — Man liest über diesen letzten Punkt des revolutionären „Sofortprogramms" von Marx und Engels leicht hinweg. Er mag blaß und unbedeutend erscheinen neben so handfesten revolutionären Forderungen wie: „Expropriation des Grundeigentums", „Abschaffung des Erbrechts", „Zentralisation des Kredits in den Händen des Staats". Und dennoch steckt in diesen Sätzen das revolutionäre Schulprogramm des Kommunismus, das heute im Osten neue, aktuelle Bedeutung erlangt hat. Denn was besagen sie? Lassen wir den ersten Satz über die „öffentliche, unentgeltliche Erziehung für alle" fort, denn er ist nicht spezifisch marxistisch, er war 1848 die gemeinsame Forderung aller entschiedenen Demokraten! "Wenn dann aber „Beseitigung der Fabrikarbeit der Kinder in ihrer heutigen Form" und „Vereinigung der Erziehung mit der materiellen Produktion" verlangt wird, so stehen wir auf revolutionärem Neuland: auf demj Boden des kommunistischen, polytechnischen Erziehungsprinzips. — Marx ist kein absoluter Gegner der Kinderarbeit. Er lehnt sie natürlich „in ihrer heutigen Form", als Ausbeutung billiger Arbeitskraft, ab. Aber er nennt an anderer Stelle die Tendenz der modernen Industrie, Kinder und Jugendliche zur Mitwirkung an der Produktion heranzuziehen, „progressiv, heilsam und rechtmäßig". In seiner Kritik am Gothaer Programm der deutschen Sozialdemokraten (1875) wendet er sich ausdrücklich gegen ein absolutes Verbot; der Kinderarbeit. Gewiß müsse der Schutz der Jugend gesetzlich gesichert werden- Wenn aber dieser sozialpolitische Schutz garantiert sei, dann sei vom Standpunkt des Sozialismus nichts gegen die frühzeitige manuelle Arbeit von Kindern einzuwenden, dann sei eine „frühzeitige Verbindung produktiver Arbeit mit Unterricht eines der mächtigsten Umwandlungsmittel der heutigen Gesellschaft." — Im „Kapital" wird festgestellt, daß aus dem Fabriksystem „der Keim der Erziehung der Zukunft" entsprossen sei, — eine Erziehung, die „für alle Kinder über einem gewissen Alter produktive Arbeit mit Unterricht und Gymnastik verbinden wird, nicht nur als eine Methode der Steigerung der gesellschaftlichen Produktion, sondern als die einzige Methode zur Produktion vollseitig entwickelter Menschen." Was unter diesen „vollseitig entwickelten Menschen" zu verstehen ist, hat F. E n g e l s bereits 1847 in seinen „Grundsätzen des Kommunismus" dargelegt. — Er schreibt: die planmäßig von der ganzen Gesellschaft betriebene Industrie setzt Menschen voraus, „deren Anlagen nach allen Seiten hin entwickelt sind, die imstande sind, das ganze System der Produktion zu überschauen". Die heutige Arbeitsteilung muß und 117

wird verschwinden, und die Erziehung wird die Jugend „das ganze System der Produktion" durchlaufen lassen und damit dem Bedürfnis der Gesellschaft und der persönlichen Neigung der Jugendlichen gerecht werden. So wird die kommunistische Gesellschaft den Menschen den einseitigen Charakter nehmen, „den die jetzige Teilung der Arbeit ihnen aufdrückt", und sie wird ihren Menschen „Gelegenheit geben, ihre allseitig entwickelten Anlagen allseitig zu betätigen." Aber zurück zum „Kapital" und zu Karl Marx! Er fährt fort: Die große Industrie mache es „zu einer Frage von Leben und Tod, die Ungeheuerlichkeit einer elenden, für das wechselnde Exploitationsbedürfnis des Kapitals in Reserve gehaltenen disponiblen Arbeiterbevölkerung zu ersetzen durch die absolute Disponibilität des Menschen für wechselnde Arbeitserfordernisse, — das 7*«7individuum, den bloßen Träger einer gesellschaftlichen Detailfunktion, durch das total entwickelte Individuum, für welches verschiedene gesellschaftliche Funktionen einander ablösende Betätigungsweisen sind." Praktisch aber hat Marx schon 1866 vorgeschlagen: in der erstrebten Zukunftsgesellschaft solle jedes Kind „vom 9. Jahr an ein produktiver Arbeiter werden." Die Jugend zwischen 9 und 17 Jahren solle in drei Klassen eingeteilt werden. Die 9—12jährigen sollen täglich zwei Stunden in einer Werkstelle oder im Haus arbeiten, die 13—15jährigen 4 Stunden, die 16 und 17jährigen 6 Stunden! „Mit der Einteilung der Kinder und jungen Personen von 9—17 Jahren in drei Klassen sollte ein allmählicher und progressiver Lehrlauf der geistigen, gymnastischen und polytechnischen Erziehung verbunden sein." (Instruktionen an die Delegierten des provisorischen Generalrats . . . ). Soweit M a r x und E n g e l s ! Wenn wir die Begründung und Funktion ihrer „polytechnischen Erziehung" betrachten, so finden wir sowohl soziologische wie anthropologische Motive. Die neue Erziehung soll ein Mittel zur „Umwandlung der Gesellschaft", eine „Methode zur Steigerung der gesellschaftlichen Produktivität" sein. Sie soll helfen, die Arbeitsteilung der Klassengesellschaft, die elementare Scheidung von Hand- und Kopfarbeit, zu überwinden. Mit dieser Arbeitsteilung soll aber auch die einseitige Spezialisierung menschlicher Anlagen und Betätigungen überwunden werden. Die neue Erziehung ist „die einzige Methode zur Produktion vollseitig entwickelter Menschen". Das „total entwickelte Individuum" soll an die Stelle des „Teilindividuums" treten, das „bloßer Träger einer gesellschaftlichen Teilfunktion" ist, — und dieses total entwickelte Individuum wird imstande sein, die verschiedenen gesellschaftlichen Funktionen zu erfüllen. Die neue Erziehung der kommunistischen Gesellschaft soll den Neigungen der jungen Menschen entsprechen und zugleich die Bedürfnisse der Gesellschaft befriedigen. Aber was geschieht im Falle des Konflikts, — wenn persönliche Neigung und gesellschaftliches Bedürfnis einander widersprechen? 118

Ein solcher Konflikt paßt nicht in die Vollkommenheit der kommunistischen Gesellschaft. Betrachten wir die Theorie Lenins. Schon vor der Oktoberrevolution ist Lenin für die Verbindung des Unterrichts in der Schule mit der produktiven Arbeit eingetreten. Allerdings ist in seiner grundsätzlichen Schrift „Staat und Revolution" von Erziehung wenig die Rede. Am Vorabend der Revolution stehen bei ihm die Ziele und Mittel der Politik und Wirtschaft im Vordergrund. Der revolutionäre Faktor Erziehung wird nur angedeutet. Er steckt aber in der „Gewöhnung". Von ihr ist mehrfach die Rede, und zwar dort, wo vom Übergang vom Kommunismus und von den Voraussetzungen der „höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft" geprocben wird. "Wir haben zu Anfang eine solche Stelle zitiert. Ebenso widhtig ist eine andere, wo getreu nach Marx das berühmte Leitwort für den Kommunismus ausgegeben wird: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen." Dieser Satz steht in der Marxschen Kritik am Gothaer Programm der deutschen Sozialdemokratie. Hier macht Marx die „höhere Phase" des Kommunismus von bestimmten Voraussetzungen abhängig: Das Individuum darf nicht mehr der Arbeitsteilung unterworfen sein, der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit muß verschwunden, die Arbeit selbst zum ersten Lebensbedürfnis geworden sein, — mit der „allseitigen Entwicklung der Individuen" müssen auch die Produktionskräfte gewachsen sein. Wir wissen aber bereits, daß diese allseitige Entwicklung der Individuen für Marx und Engels eine notwendige Aufgabe künftiger Erziehung ist. Lenin fügt hinzu: „Der Staat wird dann völlig absterben können, wenn die Gesellschaft den Grundsatz: ,jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen' verwirklicht haben wird, d.h. wenn die Menschen sich so an das Befolgen der Grundregeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens gewöhnt haben werden und ihre Arbeit; so produktiv sein wird, daß sie freiwillig nach ihren Fähigkeiten arbeiten werden." Gewöhnung an die Grundregeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens in der kommunistischen Ordnung, Überwindung des Gegensatzes von körperlicher und geistiger Arbeit, Erhebung der Arbeit zum ersten Lebensbedürfnis, allseitige Entwicklung der Individuen, — das sind nicht mehr Forderungen der politischen Ökonomie, sondern Mittel und Ziele einer Pädagogik, die einem entsprechenden anthropologischen Menschenbild zugeordnet ist. Man will zum Primat der Arbeit, zur Gewöhnung an bestimmte Grundregeln des kommunistischen Zusammenlebens und zur Allseitigkeit des Individuums erziehen. Für diese Erziehung aber gilt nunmehr das polytechnische Prinzip. — Betrachten wir die politisch-pädagogische Praxis Lenins nach der Oktoberrevolution. Der Rat der Volkskommissare unter seiner Leitung 119

erläßt am 16. 10. 1918 eine Verordnung, die die einheitliche Arbeitsschule einführt. Hier wird die „produktive Arbeit" zur „Grundlage des schulischen Lebens" erklärt. Sie soll nicht als bloßes Mittel zum materiellen Unterhalt dienen, sie soll auch nicht nur eine zweckmäßige Unterrichtsmethode sein, sondern sie ist die notwendige Vorbereitung auf die künftige produktive gesellschaftliche Tätigkeit in der kommunistischen Gesellschaft. Sie soll den Schüler „mit den verschiedenartigsten Formen der Produktion bis zu den höchstentwickelten hinauf vertraut machen." Als im folgenden Jahre das neue Programm der Kommunistischen Partei veröffentlicht wurde (1919), forderte Lenin den „allgemeinbildenden und polytechnischen Unterricht (d.h. Bekanntschaft mit Theorie und Praxis in allen Hauptzweigen der Produktion)". Die Durchführung dieser Forderung wird dann freilich durch die Wirklichkeit des revolutionären Rußland erheblich erschwert, ja zum Teil unmöglich gemacht. Es kommt die Phase der N.E.P.-Politik. Lenin muß nicht nur in Staat und Wirtschaft einen „strategischen Rückzug" antreten. Aber er gibt das Ziel nicht auf. Auf dem Gebiet der Schulpolitik engt er seine Grundsätze auf die Sektoren der Wirtschaft ein, auf denen die Sozialisierung voranschreitet: die Elektrizitätswirtschaft und die Sovchosen der Landwirtschaft. So soll von den Schülern verlangt werden: Kenntnis der Grundbegriffe der Elektrizitätslehre und des Plans zur Elektrizifierung der R.S.F.S.R., Grundlagenkenntnisse der Landwirtschaft, Besuche der Schüler in Elektrizitätswerken und Sovchosen. II Hiermit zur praktischen* Entwicklung des Erziehungs- und Bildungswesens in der Sowjetunion. Die Zeit ist knapp. Deshalb muß ich mich auf einige Hauptlinien der praktischen Entwicklung beschränken, die Theorien der Sowjetpädagogik herauslassen und die Entwicklung zunächst bis zum Jahr 1958 führen, um zum Schluß noch kurz die neue Schulreform zu behandeln. Die ersten 40 Jahre der sowjetischen Erziehung- und Schulgeschichte bieten ein bewegtes Bild. Man kann nicht ganz von vorn, auf einer „tabula rasa" beginnen. Man steht auf Trümmern und kämpft um die nackte Existenz. Diese Jahre des „Kriegskommunismus" bieten ein Bild von Mangel und Not, von Improvisationen und Experimenten, von pädagogischer Hingabe und bürokratischer Enge. Vor allem hat man das Analphabetentum der Massen und anarchische Tendenzen in der Jugend zu überwinden, — inmitten von Not und Verwirrung, mit viel zu wenig Schulen, viel zu wenig Lehrmitteln, viel zu wenig Lehrern, gestützt auf eine fragwürdige pädagogische Theorie. — Man hat sogleich den Kampf gegen das Analphabetentum 120

aufgenommen und 1918 alle Menschen zwischen 8 und 50 verpflichtet, lesen und schreiben zu lernen. Aber wie sollte diese Verpflichtung verwirklicht werden? Es fehlte an den notwendigen Mitteln f ü r den Bau von Schulen und die Ausbildung von Lehrern. Da sprang die Rote Armee ein. Beim Militär lernte man lesen und schreiben, und der Soldat, der in sein Dorf zurückkehrte, sollte — schlecht und recht — zum LaienLehrer werden. Erst 1930 war man so weit, daß man die allgemeine Schulpflicht einführen konnte. Sie galt nun aber für alle Völker der Union, — auch für den bisher so weit zurückgebliebenen Osten. Die ersten Jahre -waren Jahre der Improvisation und des Experiments. Wir kennen Makarenkos großartigen Versuch mit verwahrloster Jugend in seiner Gorki-Kolonie. Er k ä m p f t mit Schwierigkeiten, die sich nicht nur aus der abnormen Situation junger Verwahrloster ergeben: der materiellen Not, dem Mangel an geeigneten Lehrern und Erziehern, dem Fehlen einer geeigneten pädagogischen Theorie, dem Bürokratismus der Erziehungsbehörden. Makarenko hat seinen Kampf gegen Vorurteil und Unverständnis, gegen falsche Auslegungen der westlichen Reformpädagogik und gegen einen einseitigen Psychologismus mit zäher Kühnheit geführt und mit Bitterkeit geschildert. Er hat bis zu seinem T o d e (1939) in diesem Kampf gestanden. In den ersten 10 Jahren mußte das Erziehungswesen zurückstehen neben den dringendsten Aufgaben der wirtschaftlichen und politischen Sanierung. Als dann aber 1928 mit Stalins erstem Fünf jahresplan und der Einführung der allgemeinen Kollektivierung auf dem Lande eine sozialistisch geplante Aufbaupolitik einsetzte, erhielt die Erziehung grundlegende Bedeutung. Da konnte man sich freilich nicht lange bei Versuchen aufhalten. Man brauchte so schnell, so breit und so zuverlässig wie möglich ein solides Wissen in der wirtschaftenden Bevölkerung. Die polytechnischen Versuche und der Gesamtunterricht wurden weitgehend aufgehoben. Die Lernschule verdrängte die allgemeinbildende Arbeitsschule. Die traditionellen Fächer wurden wieder eingeführt, — mit strengen, detaillierten Arbeits- und Studienplänen, mit vielen Zensuren und Prüfungen, mit einer weit vorangetriebenen Spezialisierung, mit starker Betonung der naturwissenschaftlichen Fächer u n d einer strengen Lehr- und Arbeitsdisziplin. Der geistreiche, neuen Ideen geöffnete, literarische Lunatscharski wurde durch Bubnow, einen ehemaligen General, ersetzt. Lehrerbildung und Hochschule wurden seit 1930 schnell erweitert. Die Zahl der Anstalten und Studenten verdoppelte sich in weniger als. 10 J a h ren. In der neuen Verfassung (1936) legte der a. 121 das Recht der Bürger auf Bildung fest und führte aus: „Dieses Recht wird gewährleistet durch die allgemeine Grundschulpflicht, durch die Unentgeltlichkeit der Bildung, einschließlich der Hochschulbildung, durch das System staat-

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licher Stipendien für die überwiegende Mehrheit der Hochschüler, durch Erteilung des Schulunterrichts in der Muttersprache, durch Organisierung unentgeltlicher technischer und agronomischer Ausbildung der Werktätigen in den Betrieben, in den Sowjetwirtschaften, den Maschinenund Traktorentationen und den Kollektivwirtschaften." — Nunmehr kann man von einem geschlossenen System des sowjetischen ßildungswesens sprechen. Es beginnt mit der Vorschulerziehung (Kindergarten) für die Kinder zwischen 3 und 7 Jahren. Die Kindergärten unterstehen der Kontrolle und Planung des Staates. 1959 gingen über 4 Millionen Kinder in die Kindergärten. Die Methodik betont das Spiel und die Verbindung mit dem nützlichen Leben. Die Methoden des Westens, Fröbel und Montessori, werden als „abstrakt" und lebensfern abgelehnt. Dann folgt die Grundschule (4 Jahre), deren Lehrer bisher, d. h. bis Ende 1958, auf besonderen „mittleren" Anstalten (mittleren Fachschulen) ausgebildet wurden. Im Kriege würde die Schulpflicht auf 9 Jahre erweitert, so daß die „unvollständige Oberschule" zur Normalschule wurde. Nach 7 Jahren wurde eine Abgangsprüfung in 11 Fächern abgelegt. Ihr Bestehen berechtigte entweder zum Eintritt in die 8. Klasse der Oberschule oder in eine mittlere Fachschule (Technikum, Lehrerseminar, Heilgehilfen-Anstalt). Die Oberschule umschloß 10 Jahrgänge (7—17) und sollte später auf 11 erweitert werden. Die Zahl ihrer Schüler hat sich zwischen 1933 und 1938 verzehnfacht. (140 000 — 1 400 000) Damals waren 5 1 , 6 % Mädchen! Allerdings wurde 1943 die Koedukation in den Oberklassen aufgelockert, um auf die besondere Eigenart von Jungen und Mädchen in diesem Alter Rücksicht zu nehmen und ein möglichst gleichartiges „Schülerkollektiv" zu erzielen. — In der letzten Klasse wurden 9 Fächer unterrichtet, wobei der Werkunterricht ganz weggefallen, war. Von den 32 Wochenstunden (6 Schultage!) waren 16 den mathematisch-naturwissenschaftlich-technischen Fächern gewidmet, — außerdem den Leibesübungen 5 Stunden, so daß 11 Stunden für die „Geisteswissenschaften" blieben. 1943 wurde, unter dem Druck der Kriegsverhältnisse, ein neuer Typ der Oberschule eingeführt, dessen Schüler vom 5. bis 10. Schuljahr bereits volle Arbeit im Betrieb leisteten und zusätzlich noch an Abenden oder in entsprechenden Schichten den normalen Unterricht erhielten (Schulen der Arbeiter- und Landjugend; 18 Stunden in der Woche). Schließlich die Hochschulen! 1914 gab es 91 Hochschulen in ganz Rußland, davon 9 Universitäten (112 000 bzw. 35 000 Studenten). 1939 bestanden 750 Hochschulen. Davon waren 20 Universitäten. Auf den Universitäten werden vor allem Wissenschaftler und Forscher ausgebildet; zum guten Teil auch die Lehrer der Oberschulen, aber selten 122

nur noch Juristen und Mediziner. Fast jede Unionsrepublik hat nun mehr mindestens eine eigene Universität. Auch bei den Universitäten liegt das Schwergewicht auf den Naturwissenschaften. So hat die Universität Kasan unter ihren 7 Fakultäten eine physikalisch-mathematische, eine chemische, eine biologische, eine geologische, und daneben auch eine historisch-philologische, eine geographische und eine juristische Fakultät. 1959 gab es in der Sowjetunion 40 Universitäten und 726 Fachhochschulen. Von diesen Fachhochschulen waren ca. 200 Technische Hochschulen und ca. 200 Pädagogische Institute. Die Fachhochschulen dienen speziell der beruflichen Ausbildung. Hier dauert das Studium normalerweise 4—5 Jahre. Die Spezialisierung ist zum Teil weit vorangetrieben. Es gibt eigene Hochschulen für Fischerei, Erdölindustrie etc. Die Hochschulen haben meistens eine übersichtliche Größe behalten. Im allgemeinen kommen 500 bis 600 Studenten auf eine Hochschule. — Noch einige Worte über die Zulassung zum Studium und über die Examina! Bis Ende 1958 war die Voraussetzung f ü r das Studium entweder eine abgeschlossene zehnjährige Oberschulbildung oder der Besuch einer mittleren Fachschule, ergänzt durch drei Jahre Berufspraxis. Jeder aber, der zum Studium zugelassen werden wollte, mußte eine strenge Aufnahmeprüfung ablegen. Er wurde in russisch und russischer Literatur, in einer modernen Fremdsprache und in zwei Fächern, die der Fachhochschule entsprachen, geprüft. Die Studienpläne waren (und sind) genau vom Ministerium vorgeschrieben. Das ganze Studium steht unter der scharfen Kontrolle eines strengen Prüfungswesens. In jedem Semester werden mehrere Examina abgelegt. Da man möglichst viel Arbeitskräfte in der Produktion behalten will, hat das Abend- und Fernstudium in der Sowjetunion steigende Bedeutung erlangt. Aber auch diesen Studierenden wird das Prüfungswesen nicht erspart. Die Examina werden am Ende eines jeden Semesters mit der gleichen Strenge durchgeführt; allerdings wird für ihre Vorbereitung großzügig Urlaub gewährt. Im Winter 1958/59 studierten über 2 Millionen Studenten an den Universitäten und Hochschulen der Sowjetunion, davon 213 000 Studenten an den 40 Universitäten. Ca. 50 °/o der Studierenden benutzten die Wege des Fern- und Abendstudiums. Das Normalstatut vom 5. 9. 1938, das im wesentlichen heute noch für die sowjetischen Universitäten und Hochschulen gilt, macht diesen zur Aufgabe: „Kader heranzubilden, die fähig sind, wissenschaftliche und technische Vorrangstellungen einzunehmen, dazu ausgestattet mit den Kenntnissen des wissenschaftlichen Sozialismus, bereit, das sowjetische Vaterland zu verteidigen und der Sache des Aufbaus der kommunistischen Gesellschaft restlos ergeben." — 123

Neben den Abgangsprüfungen stehen die wissenschaftlichen Examina. Es gibt nur zwei Grade: den „Kandidaten" und den „Doktor". Neben den Universitäten haben nur wenige Fachhochschulen ein Promotionsrecht. Es werden bei der Promotion hohe Anforderungen gestellt. Es findet eine recht ernsthafte Disputation statt. Der Doktorand muß seine Dissertation gegen drei offizielle Opponenten verteidigen. Über das Ergebnis entscheiden sodann drei Instanzen: der Gelehrtenrat der Fakultät, die Sachverständigenkommission beim Ministerium und schließlich die Oberste Attestkommission des Ministeriums. Es besteht also ein System scharfer und sorgfältiger Siebung. Dennoch hat vor einem Jahr das Hochschulministerium in einer Verordnung die zu große Milde bei der Abnahme der wissenschaftlichen Examina kritisiert und eine strengere Durchführung verlangt. — Abschließend möchte ich versuchen, die wesentlichen Züge des Erziehungssystems der Sowjetunion, so wie es sich zwischen 1930 und 1958 entwickelt hat, kurz zusammenzufassen. Es besteht die Einheitsschule: jeder Schüler soll die Möglichkeit haben, bis zur obersten Klasse der Oberschule, der 10. Klasse, und bis zu den Hochschulen aufzusteigen, wenn er dazu befähigt und geneigt ist. Es gibt keine „Sackgassen" in der schulischen Entwicklung. Das Schulwesen wird weitgehend vom Staat, und da wieder im wesentlichen von der zentralen Macht der Sowjetunion, gelenkt. Das gilt auch für den Kindergarten und für die Universität. Der starke Einfluß der zentralen Staatsgewalt zeigt sich z. B. bei der Aufstellung der Lehr- und Studienpläne, bei den Prüfungen und bei den wissenschaftlichen Examina sowie bei der Ernennung der Lehrer und der Hochschulprofessoren. Unverkennbar ist auch der totalitäre Charakter. Schon im Statut der Kindergärten heißt es: „Der Kindergarten ist eine staatliche Einrichtung zur gesellschaftlichen, sowjetischen Erziehung der Kinder von 3 bis 7 Jahren . . ." (§ 1) Im § 3e) wird vom Kindergarten gefordert, er solle „die Liebe zum Sowjet-Vaterland, zu seinem Volk, zu seinen Führern und zur Roten Armee entwickeln." Dieser total politische Zug geht durch das ganze Schulwesen, durch die Jugendorganisationen, bis hin zur Universität mit ihrem Pflichtstudium des Marxismus-Leninismus. Totalitär ist auch das Prinzip der wissenschaftlich-weltanschaulichen Bildung, das hinter allem Spezialismus steht, sowie die Grundsätze „der Verbindung mit der Arbeit", des Erziehungskollektivs und der Disziplin, wie sie Makarenko vertreten und durchgesetzt hat. Im August 1943 wurden 20 Schulregeln veröffentlicht, die für sämtliche Schüler aller Schultypen gelten. Da wird u.a. vom Schüler gefordert, er müsse „sich hartnäckig und beharrlich Wissen aneignen, um ein gebildeter, kultureller Bürger zu werden und dem Sowjet-Vaterland viel Nutzen

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zu bringen." Man verlangt Fleiß, Aufmerksamkeit, Pünktlichkeit, Sauberkeit, widerspruchslosen Gehorsam in der Schule; Ehrerbietung gegen Schulleiter und Lehrer in und außerhalb der Schule; Hilfsbereitschaft gegenüber alten Leuten, Kranken und in der Familie, schließlich gutes Benehmen und verantwortliches Ehrgefühl: „Keine groben Ausdrücke und Schimpfworte gebrauchen, nicht rauchen. Nicht gegen Geld Karten spielen." (Regel 14). Jeder Schüler soll „auf die Ehre seiner Schule und seiner Klasse ebenso wie auf die eigene bedacht sein." (Regel 20). III Als die Zahl der Studenten und Absolventen der sowjetischen Hochschulen ständig wuchs, wurde der Westen nervös; — und als schließlich der Sputnik von den Sowjetrussen in den Weltraum gesandt wurde, empörten sich große Teile der öffentlichen Meinung der USA gegen das nun zu weich und spielerisch erscheinende Bildungssystem ihres Landes. Umso überraschender war es, als bald darauf, im Laufe des Jahres 1958, in der Sowjetunion eine breite öffentliche Diskussion über die Schwächen des eigenen Schulsystems und die Notwendigkeit einer gründlichen sowjetischen Schulreform einsetzte. Was war geschehen? Zunächst: man hatte — entgegen den Erwartungen und Wünschen der Beobachter im Westen — die Ideologie des Ubergangs von der sozialistischen zur kommunistischen Gesellschaft keineswegs aufgegeben. Zu dieser Ideologie gehört aber, wie wir eingangs zeigten, die polytechnische Erziehung. Im Lehrbuch der politischen Ökonomie, das noch zu Lebzeiten Stalins entstand und im Herbst 1954 veröffentlicht wurde, heißt es, die kommunistische Erziehung der Werktätigen, die den neuen Menschen erziehen solle, dem die Arbeit das erste Lebensbedürfnis sei, sei von größter Bedeutung für den Ubergang zum Kommunismus. Dabei beruft man sich auf die Beschlüsse des 19. Parteitags (1952). Zu dem ideologischen Motiv kamen wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Gründe hinzu. Die bisherige allgemeine Schulbildung reichte nicht mehr aus für die gesteigerten Anforderungen der modernen Industrie. Zu gleicher Zeit staute sich eine stets wachsende Zahl von Oberschul-Absolventen vor den Toren der Hochschulen, — und eine wachsende Zahl von Eltern und Jugendlichen begannen, die körperliche Arbeit als minderwertig, ja als deklassierend anzusehen. Mit diesen Argumenten hat Chruschtschow im April 1958 eine Campagne für die polytechnische Schulreform begonnen, nachdem bereits seit Jahren Schule und Wissenschaft durch weitgreifende Ver125

suche die Reform vorbereitet hatten. Man führte eine lebhafte öffentliche Diskussion, die ganze Seiten der offiziellen Zeitungen füllte. Audi Bedenken der Wissenschaftler, Eltern und Lehrer kamen zur Geltung (Überlastung; Aufsplitterung der wissenschaftlichen Arbeit). Dennoch wurde die R e f o r m vom Obersten Sowjet beschlossen und am 24. 12. 1958 als Gesetz unter dem langen Titel „Uber die Festigung der Verbindung der Schule mit dem Leben und über die weitere Entwicklung des Volksbildungssystems im Lande" verabschiedet. Im Artikel 1 des Gesetzes heißt es: „Die Hauptaufgabe der sowjetischen Schule ist die Vorbereitung der Schüler auf das Leben, auf die gesellschaftlich nützliche Arbeit, die weitere Hebung des Niveaus der allgemeinen und polytechnischen Bildung, die Schulung gebildeter Menschen, die sich in den Grundlagen der Wissenschaften gut auskennen, die Erziehung der Jugend im Geiste der tiefen Achtung vor den Prinzipien der sozialistischen Gesellschaft, im Geiste der Ideen des Kommunismus." Es wird nunmehr statt der siebenklassigen die achtklassige Pflichtschule eingeführt. Sie soll das „Grundlagenstudium der Wissenschaften" mit der polytechnischen Bildung und der Arbeitserziehung verbinden. Erst nach ihr setzt die vollständige Oberschulbildung ein, die nach den notwendigen Prüfungen zur Hochschule führt. Für diese Oberschule gibt es drei Grundtypen: 1. die Schule der Arbeiter- und Landjugend (3 Jahre Dauer; sogenannte Abend-bzw. Schicht-Oberschule) mit verkürzter Arbeitszeit im Betrieb; 2. die allgemein bildende polytechnische Arbeitsoberschule. Sie dauert drei Jahre, erteilt Produktionsunterricht und vermittelt sowohl Oberschulbildung wie Berufsausbildung f ü r die Arbeit in einem Zweige der Volkswirtschaft oder Kultur; sie schließt mit einem „Gesellenstück" ab; 3. die mittlere Fachschule, wo Absolventen der Achtklassenschule eine allgemeine und spezielle Oberschulbildung erhalten. Außerdem ist durch das Gesetz ein weiterer energischer Ausbau des Fern- und Abendstudiums vorgesehen; ebenso sollen aber auch die Schulinternate und die Tagesschulen zielbewußt vermehrt und erweitert werden. — Die Durchführung der Reform hat im Herbst 1959 begonnen. Sie soll in fünf Jahren durchgeführt sein. Das Gesetz rechnet damit, daß nunmehr die Lehrerbildung erheblich verstärkt und angehoben werden muß. Die Lehrer aller Schulzweige sollen in Zukunft auf der Universität bzw. dem Pädagogischen Institut ausgebildet werden. Diese Reform wurde sogleich in der Sowjetverfassung verankert. Der Art. 121 wurde verändert. Sein Absatz 2 hat nunmehr folgende Fassung: „Dieses Recht wird gewährleistet durch den allgemeinverbindlichen achtjährigen Unterricht, durch eine breite Entfaltung der mitt126

leren polytechnischen Bildung, der berufstechnischen Bildung, der mittleren Spezialbildung und der höheren Bildung auf der Grundlage der Verbindung des Unterrichts mit dem Leben und mit der Produktion, durch jedwede Entfaltung des Abend- und Fernunterrichts, durch die Unentgeltlichkeit aller Formen des Unterrichts . . . " .

IV Ich komme zum Schluß. Das System des Marxismus-Leninismus ist in seiner Totalität eine ernsthafte Herausforderung für den Westen. Zu dieser Totalität gehört auch das Erziehungswesen. Angesichts einer solchen Herausforderung darf die Wissenschaft sich nicht der sachlich gebotenen Entscheidung entziehen. Sie darf sich aber auch nicht den offenen Blick dadurch verbauen, daß sie im eigenen Wert- und Denksystem befangen bleibt oder gar versucht, der totalitären Ideologie durch die Entwicklung einer Anti-Ideologie zu begegnen. Wir sind nicht gewillt, die Autonomie des Menschen der Allmacht einer Partei, eines Systems oder einer Ideologie zu opfern. Wir wollen Menschen erziehen und bilden, die in der modernen Welt der Technik und der Massenorganisation ihre menschliche Würde und Selbstbestimmung bewahren. W i r wissen um die Bedeutung der Arbeit, der konstruktiven Aufgabenstellung und der gesellschaftlichen Wirklichkeit für die Wirklichkeit der Erziehung. Wir werden deshalb das Experiment der polytechnischen Erziehung mit dem Ernst und der Offenheit verfolgen und studieren, die ihnen zukommen. Dabei sind — wie überhaupt bei der Beobachtung und Beurteilung des „Experiments des Bolschewismus" — drei Momente zu unterscheiden : 1. Das „Experiment des Bolschewismus" ist auf dem Boden der Sowjetunion, ihrer Geschichte, ihrer Völker erwachsen. Es ist deshalb historisch-geographisdi begrenzt und läßt sich nicht ohne weiteres auf andere Völker und Länder übertragen. 2. Freilich steht hinter diesem Experiment als mächtige Triebkraft eine internationale Ideologie, die Weltgeltung beansprucht. Wir müssen diese Ideologie ernst nehmen, wenn wir der Wirklichkeit gerecht werden wollen. Sie fordert uns zur grundsätzlichen Kritik, aber auch zur Selbstkritik heraus, — und diese Selbstkritik darf nicht übersehen, daß ein formalistisch-absolutes Autonomiedenken dem Menschen und der Gesellschaft in der modernen Welt nicht gerecht wird und daß auch in der freien Welt des Westens die Mächte der Technisierung und Funktionalisierung den Menschen in seiner Freiheit und Würde bedrohen. 127

3. Schließlich gibt es heute ein pragmatisches Element der Erziehungsproblematik, das über alle Gegensätze der gesellschaftlichen Systeme hinweg f ü r alle modernen Völker gilt. Man kann den Menschen nur dann zur Bewältigung der technischen Welt erziehen und bilden, wenn man ihn rechtzeitig und in rechter Weise auf die Möglichkeiten und Gefahren dieser Welt vorbereitet. Das Doppelproblem der Beziehungen zwischen PersonGruppe-Gesellschaft und zwischen Arbeit-Beruf-Bildung ist heute dem Bildungswesen aller modernen Völker aufgegeben. Indem wir dieses Problem in Treue gegen den Menschen und in Offenheit gegenüber der Welt zu lösen suchen, tragen wir an unserem Platz, dazu bei, die Herausforderung des Ostens zu beantworten und die menschliche Freiheit im Wandel der Zeit zu bewahren.

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EINIGE G R U N D F R A G E N MEDIZINISCHER FORSCHUNG IN DER SU. Von Max

Brandt

Das Ringen um ein medizinisches Weltbild ist seit Hippokrates immer rege geblieben und in den einzelnen Zeitepochen verschieden gelöst worden. Es ist daher verständlich, daß auch in der Sowjetunion nach der Oktoberrevolution solche Bestrebungen neuen Auftrieb erhielten und sich nach den Anschauungen von M A R X und L E N I N ausrichteten. J a , die Oktoberrevolution wird in der Sowjetunion direkt als der Sieg des dialektischen Materialismus gefeiert. In dem auf dem X X I . Kongreß der K P im Februar 1959 angenommenen 7-Jahresplan findet sich aus die Forderung C H R U S C H T S C H O W S einer „schöpferischen Zusammenarbeit von Philosophen und Naturforschern, um den Ansturm bürgerlicher Ideen und Anschauungen nach den Weisungen L E N I N S erfolgreich bekämpfen zu können." Ein Kommentator dieses Ausspruchs,, FROLOV, weist darauf hin, daß der Westen die Wichtigkeit dieser Frage längst erkannt hätte und erwähnt in diesem Zusammenhang das bekannte Werk W E T T E R S über den Diamat. „Die Aufgabe echter Marxisten besteht nach L E N I N darin, die Entdeckungen bürgerlicher Gelehrter aufzunehmen, zu überarbeiten und von ihrer reaktionären Tendenz zu befreien; sie müssen unsere Linie hineinarbeiten und die Anschaungen der feindlichen Klassen bekämpfen!" Die Reaktion auf diesen Appell C H R U S C H T S C H O W S war die Einberufung einer theoretischen Konferenz zum 50jährigen Jubiläum von L E N I N S Schrift über Materialismus und Empiriokritizismus im Mai 1959, an welcher Philosophen, Biologen und Mediziner teilnahmen. Hier wurden in Vorträgen die wichtigsten Grundsätze des Diamat herausgestellt: Realität der Materie als einheitliches Ganzes, Eigenbewegung — ihre Grundeigenschaft, Weiter- und Höherentwicklung in Sprüngen, Qualität aus Quantität, dialektische Überwindung von Widersprüchen, Parteilichkeit der Wissenschaft, Gradmesser für die Wahrheit ist die Praxis und das Ziel — die Beherrschung der Natur! Nach einem Jahr, am 22. IV. 60, bot die Wiederkehr von L E N I N S 90. Geburtstag den medizinischen Zeitschriften Gelegenheit, auf eine andere Theorie LENINS, die Abbildoder Widerspiegelungs-Theorie einzugehen, worauf wir später noch zurückkommen werden. Charakteristisch für die Entwicklung einer Theorie der Medizin auf materialistisch-dialektischem Boden ist nach ADO, bekannter Pathophy-

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Universitätstage 1961

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siologe am II. Moskauer Med. Institut, korrespondierendes Akademiemitglied, die kritische Einstellung verschiedener sowjetischer Physiologen und Pathophysiologen westlichen Konzeptionen gegenüber. Die Zellularpathologie V I R C H O W S sei wohl im Vergleich mit den damaligen Theorien ein „Goldfond der Wissenschaft" gewesen (zu STALINS Zeiten wurde sie 1950 als idealistisch und pseudowissenschaftlich gebrandmarkt). Sie ist jedoch einseitig, was man ebenfalls von der Molekulartheorie SCHADES (1926), von den SEYLEschen und EPPiNGERschen Anschauungen und anderen Konzeptionen behaupten kann. Auch über den Konditionalismus in der Medizin, wie er bei R I C K E R , H A N S E M A N N und V E R W O R N in Erscheinung trat, haben sich kritisch S A C H A R O V , A N I C K O V und andere geäußert: hier seien die Begriffe der Ätiologie und Pathogenese nicht scharf genug gegeneinander abgegrenzt worden. Die Versudie, eine neue Theorie der Medizin auf dem Boden des dialektischen Materialismus zu errichten, sind bisher nicht über eine kritische Stellungnahme zu einzelnen Fragen gekommen: Spezifität pathologischer Prozesse, ihre Beziehungen zur Physiologie, örtliches und Allgemeines in der Pathologie, Allergie und Immunität, Krise in der Endokrinologie. Weitere Arbeiten versuchen, das allgemeine Gesetz der dialektischen Entwicklung — den Übergang quantitativer Veränderungen in qualitative — zu untermauern und das physiologische Maß mit den pathologischen Äußerungen in Einklang, zu bringen. Als Beispiele führt ADO die Thesen—Antithesen an: Jugend— Alter, physiologische Leukozytose—Eiterung, Zellvermehrung—Geschwulstwachstum, physiologisches Maß der Gegenäußerung—pathologische Zerstörungsprozesse, Adaptationsprozesse ontogenetisch und phylogenetisch betrachtet. Alles Aufgezeigte bildet die erste Etappe in der sowjetischen Medizintheorie — das Auffinden der grundlegenden Gesetze der Dialektik in der Medizin; sie sind zusammengefaßt von G. P. S A C H A R O V in seiner „Methodologie der Pathologie" 1935 ersdiienen. Die zweite Etappe ist die Einführung des PAVLOVschen Gedankengutes in die Sowjetmedizin. Als Vorläufer dieser Weiterentwicklung sind die Arbeiten A. D. SPERANSKIJS aus den Jahren 1930—1935 anzusehen, die zusammengefaßt in seinem, auch im Westen viel gelesenen und diskutierten Werk „Grundlagen der Theorie der Medizin" 1934 erschienen sind (ins Deutsche von R O Q U E S erst 1949 übersetzt). Die Grundlage dieses Werkes beruht auf der Vorstellung, daß jegliche Krankheit den Gesamtkörper trifft und durch Veränderungen im Nervensystem eine Basis f ü r den Krankheitsverlauf erst schafft. Diese Erscheinung, als Neurodystrophie bezeichnet, setzt Veränderungen auch im biophysikalisch-chemischen Zustand der Gewebe und ist somit Glied einer Reizkette, die verschiedene Abwehrreaktionen hervorruft. Durch eine große Anzahl sinnreicher Versuche ist diese „organisierende Rolle des Nervensystems in der Pathologie" von SPERANSKIJ untermauert worden. Es war die Tragik S P E 130

RANSKIJS, daß, als sein W e r k im W e s t e n anerkannt wurde, er auf der T a g u n g 1 9 5 0 der A k a d e m i e der Wissenschaften gemeinsam mit der A k a demie der med. Wissenschaften (PAVLOV-Tagung) bereits einen scharfen T a d e l erhielt: er hätte den Einfluß der Großhirnrinde a u f das N e r v e n system im Sinne PAVLOVS ungenügend berücksichtigt und seine eigenen Erfolge übermäßig betont. S o wurde es in den letzten J a h r e n um SPERANSKIJ S t i l l .

D i e Sowjetunion wird v o n ADO als das klassische L a n d der Theorie vom Nervismus gefeiert; die anderen L ä n d e r hätten gewisse Scheuklappen v o r und betrachteten krankhaftes Geschehen zu einseitig. S o habe sich die K o n z e p t i o n SELYES v o n der h y p o p h y s ä r - a d r e n a l e n Regulierung als viel zu eng erwiesen und müsse jetzt auch das hypothalamische Gebiet mit einbezogen werden. U n d t r o t z d e m k a n n SELYE nicht beanspruchen, eine T h e o r i e der Medizin aufgestellt zu haben, da „keineswegs sämtliche Reaktionsarten im komplizierten Organismus v o n ihr e r f a ß t w e r d e n . " Solches sei jedoch bei PAVLOV der F a l l : „Es ist unrichtig zu behaupten, daß die T h e o r i e der Sowjetmedizin, die sich jetzt im Lichte der L e h r e PAVLOVS entwickelt, ein erstarrtes D o g m a , mechanisch v o n Sowjetpathologen und Ä r z t e n übernommen, sei. I m Gegenteil, diese Entwicklung ist ein komplizierter schöpferischer Prozeß, dessen Grundlage das dialektische Gesetz der Einheit und des K a m p f e s der Gegensätze bildet!" I m Augenblick bedarf es noch einer umfangreichen A n a l y s e verschiedener Prozesse, bevor m a n zu einer Synthese schreiten kann. J e d e K r a n k h e i t ist in dialektischer Sicht eine Einheit eines schädlichen, die K r a n k h e i t begünstigenden nervösen Prozesses mit einer zweckmäßigen Schutzfunktion des N e r vensystems. Alle diese geschilderten Versuche, die Vielfalt der N a t u r in enge R a h m e n einer T h e o r i e hineinzuzwängen, kommen einem doch sehr unrealistisch, ja gelegentlich gesucht einseitig v o r . Dieselben F r a g e n w e r den ja auch im W e s t e n diskutiert, lebhaft erörtert und verschieden gedeutet, ohne endgültig gelöst zu werden. Aber auf der erwähnten P a v l o v T a g u n g 1 9 5 0 wurde dieser Gordische K n o t e n durch Mehrheitsbeschluß durchtrennt. H i e r wurde beschlossen: 1. der dialektische Materialismus soll künftighin die Grundlage jeglicher medizinischer Forschung sein; 2. die Zellularpathologie VIRCHOWS ist als unwissenschaftlich und idealistisch anzusehen; 3. an ihre Stelle tritt die neue Zellenlehre der Frau LEPESINSKAJA über die Entstehung von Zellen aus nichtzelliger lebender Substanz; 4. sämtliche Gebiete der Medizin haben sich nach den Grundanschauungen PAVLOVS auszurichten. Entsprechend diesen Thesen sind alle medizinischen L e h r bücher umzuarbeiten. Verschiedene verdienstvolle Forscher mit abweichenden Ansichten wurden gemaßregelt. Als Beispiel für die damals herrschende M e t h o d e und Sprache sei folgendes Z i t a t dem Archiv der Pathologie (Bd. 12, 1 9 5 0 ) entnommen: „Die

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hartnäckige und zielstrebige Forscherin, Erneuerin der Wissenschaft, kühn mit vorhandenen Dogmen und Traditionen brechende O . B . L E P E S I N S K A J A , hat eine wertvolle Gabe der Sowjetwissenschaft gebracht und noch unübersehbare Perspektiven der Forschung eröffnet. Als bolschewistische Gelehrte, deren Forschungen sich ständig auf die allumfassende Theorie des dialektischen Materialismus gründen, hat sie nichtzellige Formen des Lebens entdeckt und durch glänzende Untersuchung der Zellenentwicklung aus lebender Substanz eine neue Grundlage f ü r die marxistischleninistische Erkenntnistheorie gegeben. Im Licht der neuen Entdeckungen müssen die bisherigen Vorstellungen über Entzündung, Regeneration und das bösartige Wachstum umgearbeitet werden. Dies ist ein niederschmetternder Schlag gegen V I R C H O W und M O R G A N - W E I S S M A N N . " Schon G O E T H E hat behauptet: „Eine falsche Hypothese ist besser als gar keine; aber wenn sie sich befestigt zu einer Art Glaubensbekenntnis, w o r a n niemand zweifelt, welches niemand untersuchen darf — so ist dieses eigentlich das Unheil, woran ]ahrhunderte leiden." Auf der PAVLOV-Tagung w u r d e auch die Theorie von Frau L E P E SINSKAJA über Entstehung von Zellen aus nichtzelliger Substanz, obgleich unbewiesen, als Axiom hingestellt und als willkommene Grundlage im Sinne des dialektischen Materialismus über die Ansichten L Y S E N K O M I C U R I N S über Vererbung erworbener Eigenschaften verwendet. W e n n Zellen aus einer formlosen, lebenden Substanz entstehen, so ist die Rolle der Chromosomen und Gene bei der Vererbung fragwürdig. Insbesondere handelt es sich um die Strukturfrage des Zellkerns während der Interkinese. Auf diesem Gebiet ist in letzter Zeit eine große Zahl von Arbeiten erschienen, mit denen sich M A K A R O V in einem Artikel „Neue D a t e n über den Bau und die Eigenschaften des Zellkerns" auseinandersetzt. Danach vertritt eine ganze Reihe von Forschern die Ansicht, daß der interkinetische Kern strukturlos sei. Das Gen-Problem hat sich in letzter Zeit insofern verschoben, als man die Erbanlagen („Erbinformation") in d i e D R N S - M o l e k ü l e verlagert. Diese bestehen aus einer zweifachen langen Kette von vier Bausteinen (Adenin, T h y m i n , Guanin und Zytosin) in verschiedener Anordnung. Die Zahl der möglichen Kombinationen ist 4 1000 — eine unvorstellbare Zahl, die die Gesamtzahl der Atome im Sonnensystem übersteigt! Die MicuRiN'sche Lehre abstrahiert von einem Träger der Vererbung und spricht nur von einer Erbeigenschaft mit eigenem Stoffwechseltyp. Ein in einer Kapsel im Körper eingebetteter Erbstoff, der von dort aus den Gesamtkörper steuert, selbst sich jedoch nicht weiter entwickelt, wird vom D i a m a t als idealistisch abgelehnt. Diese Vorstellung sei auch metaphysisch, weil sie innerhalb eines einheitlichen Körpers etwas Autonomes postuliert und mechanistisch, weil sie das Biologische auf Physikalisches und Chemisches zurückführt. 132

Wir sehen aber auch, daß einige sowjetische Genetiker zur klassischen Genetik wieder zurückfinden. In einem Artikel P E T R O V S „Zur Frage des materiellen Wesens der Korpuskulargenetik" lesen wir, „daß die Lehre vom materiellen Wesen der Vererbung (Gene) der strengen Kritik durch die Zeit standgehalten hat". Er ist auffällig, daß in einer Fußnote die Redaktion des Journals vermerkt: „Der Artikel wird gedruckt auf Beschluß der Präsidialkommission der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. Die Redaktion ( N U Z D I N u. a.) ist der Meinung, daß der Artikel nicht dem gegenwärtigen Stand der Frage entspricht." — Während die Sowjetrussen seit 1939 die internationalen Genetiker-Kongresse boykottierten, erschienen sie in größerer Zahl 1958 zum X. Internationalen Genetiker-Kongreß in Montreal (Kanada). Nach dem Referat von G L U S C E N K O überprüfen die Korpuskulargenetiker ihre Ausgangsposition von der Konstanz der Chromosomen. Vererbung sei eine Wiederholung der gleichen Stoffwechselformen und nicht gleicher Teilchen (Gene) in Generationen. C. L I N D E G R E N (USA) sieht die Z u k u n f t der Genetik in einer Verbindung des Micurinismus mit dem von idealistischen Schlacken befreiten Morganismus. Ähnliche Anschauungen vertritt in der Sowjetunion D U B I N I N . Auch der Präsident des Kongresses B O Y E S (Kanada) erklärte: „Die Konzeption vom Gen als etwas Unveränderlichem wird einer Überp r ü f u n g unterzogen. Die Genetiker sind heute der Ansicht, daß das Gen plastisch ist und sich verändern kann." Das Prinzip der Veränderlichkeit bot dem Moskauer Chirurgen D E M I C H O V die theoretischen Grundlagen zu kühnen Versuchen auf dem Gebiet der Transplantation, über die kurz berichtet werden soll. Er hat bei H u n d e n Herzüberpflanzungen durchgeführt. Ein zweites H e r z wurde neben dem vorhandenen implantiert und die großen Gefäße miteinander verbunden. (Für Gefäßnähte wurde eine von Ingenieur V. F. Gudov konstruierte „Nähmaschine" mit Erfolg verwendet.) Solche Tiere konnten 2V2 Monate am Leben erhalten werden. Ermutigt durch diese Versuche hatte D E M I C H O V schließlich das H e r z mit beiden Lungen entfernt und von einem anderen H u n d die entsprechenden Organe in die Brusthöhle verpflanzt. Dieser H u n d hat nur 6 Tage gelebt. Der Ersatz des Herzens allein, ohne Herausnahme der Lungen, ist jedoch bedeutend schwieriger. Solche Tiere konnten nur einige Stunden nach dem Eingriff am Leben erhalten werden, wobei einige physiologische Fragen einer näheren Analyse unterzogen wurden. Weiterhin berichtet D E M I C H O V über Transplantation beider Nieren, wobei die Tiere aus dem urämischen Zustand gebracht werden konnten und die Operation 19 Tage überlebten. Schließlich sind auch beide Nebennieren im Zusammenhang mit der Aorta und der unteren Hohlvene in die Aorta und die Hohlvene eines anderen Hundes eingenäht worden. 133

D E M I C H O V hat sich um die Chirurgie der Organ-Überpflanzung auch weiterhin ständig bemüht und hat im Dezember 1958 in Ost-Berlin in der Arbeitsstelle für experimentelle Kreislaufchirurgie unter Assistenz eines deutschen und eines russischen Arztes einen Hundekopf mit Hals und Vorderpfoten einem anderen größeren H u n d e in den Nacken implantiert (Operationsdauer ca. 5 Stunden). Diese Operation ist am 14. 1. 1959 im Ostdeutschen Fernsehen übertragen worden. Von dem kleineren Spenderhu,nd wurde der Kopf mit Schultern und Vorderpfoten abgetrennt und dem Empfängertier in der Schultergegend angesetzt. Die Operationswunden verheilten glatt, und einige Tage später sah man den zweiköpfigen Empfängerhund wach und offenbar funktionstüchtig. Das Transplantat bewegte spontan die Augen, den Kopf und die Vorderpfoten. Ein Stück Brot, das dem überpflanzten Kopf vorgehalten wurde, löste bei beiden Köpfen einen Speichelfluß aus. Ohne zu prüfen, wie lange das zweiköpfige Tier lebensfähig bleiben würde, wurde nach 6 Tagen der aufgesetzte Kopf wieder entfernt, um den Empfängerhund zu erhalten.

Wenn noch vor ein paar Jahren D E M I C H O V S Hundeversuche als eine Art „physiologischer Spielerei" erschienen, so kann man nach seinen jüngsten Erfolgen seine Prognose „bald wird das Problem der Übertragung von Organen auch beim Menschen f ü r längere Funktionszeit positiv gelöst sein", nicht unbeachtet lassen! Das schwierigste Problem in dieser Frage ist die Überwindung der Gewebs- und Organ-Inkompatibilität (Unverträglichkeit), dem im Dezember 1957 in Leningrad eine Konferenz gewidmet worden ist (die nächste sollte 1960 stattfinden). Die zweite internationale Konferenz auf diesem Gebiet hat im April 1958 in London stattgefunden und im September 1958 eine ähnliche Konferenz in der Tschechoslowakei. Die Bestrebungen gehen dahin, eine immunologische Annäherung des Empfängers zum Spender durch Zellinjektionen oder Rö-Bestrahlungen zu versuchen. Gelegentlich sind Hemmungen der Immunkörperbildung („biologische Lähmung") erzielt worden. Man muß zugeben, daß die Anregungen auf diesem Gebiet zum großen Teil den russischen Forschern gebühren. Audi auf dem Gebiet der Blutersatzstoffe und der Bekämpfung agonaler Zustände haben die Russen, insbesondere NEGOVSKY, sich durch intraarterielle ¡Injektionen gegen den Blutstrom große Verdienste erworben: durch Reizung der Gefäßreceptoren der Aorta gelingt ;es, das Kreislaufzentrum im Gehirn reflektorisch zu aktivieren und den „klinischen T o d " wieder aufzuheben. Wir müssen uns nun mit den Anschauungen P A V L O V S befassen. I . P. P A V L O V , nach B E H R I N G und K O C H 1 9 0 4 Nobelpreisträger der Medizin für seine bekannten Untersuchungen zur Physiologie des Magens und der Speicheldrüsen, hat bereits 1903 auf dem Physiologenkongreß in Madrid einen Vortrag über „experimentelle Psychologie und Pathologie 134

am Tier" gehalten und dabei das Reflex-Prinzip erwähnt, welches auf das Buch des russischen Physiologen SECENOV „Reflexe des Gehirns" (1863) zurückgeht. Die psychische Speichelsekretion beim Anblick von Speisen brachte P A V L O V auf den Gedanken, sie als objektiven Test f ü r psychische Zustände zu verwenden. „Im Grunde interessiert uns im Leben nur eins", — meint P A V L O V in seiner Nobelpreisrede — „sein psychischer Inhalt. Sein Mechanismus war und ist f ü r uns noch in tiefes Dunkel gehüllt. Alle Hilfskräfte des Menschen, wie Kunst, Religion, Literatur, Philosophie und Geschichtswissenschaft taten sich zusammen, um Licht in dieses Dunkel zu bringen. Der Mensch verfügt aber noch über eine gewaltige Macht — über die N a t u r wissenschaft mit ihren streng objektiven Methoden. Sie führen, wie wir wissen, jeden T a g zu großen Erfolgen." Wir sehen ihn nun rastlos auf dem eingeschlagenen Wege fortschreiten, zwischen unbedingten (angeborenen, konstanten, arteigenen) und bedingten (erworbenen, inkonstanten, individuellen) Reflexen unterscheiden. Es wird ihre quantitative Analyse (Gesetz der Stärke) erarbeitet, die verschiedenen Arten von Erregung und Hemmung untersucht. Er spricht von einem „Reflexbogen", der durch äußeren Reiz von Receptoren bewirkt, über Nerven zu analysierenden Zellen der Hirnrinde f ü h r t und von dort aus über den Subcortex Reaktionen auslöst. Schließlich kommt P A V L O V zu der Überzeugung, daß die ganze Hirnrinde einen Analysator darstelle, in dem temporäre Verbindungen hergestellt werden und der mit einem beweglichen Mosaik oder Schaltbrett verglichen wird. Seit 1928 beschäftigte sich P A V L O V auch mit der Genetik der höheren Nerventätigkeit, wobei für dieses Gebiet ein besonderes Institut eingerichtet wurde. Er spricht die Vermutung aus, daß einige der neugebildeten bedingten Reflexe später durch, Vererbung in unbedingte verwandelt werden. Pathologische Störungen in der höheren Nerventätigkeit, wie Neurosen, Schizophrenie u.a. führen P A V L O V auch in die Klinik von BOTKIN. Hier entsteht die PAVLOVsche Typenlehre (Künstlertyp — Vorherrschen des 1. Signalsystems, Denkertyp — Vorherrschen des 2. Signalsystems). Hören wir P A V L O V selbst: „In der sich entwickelnden Tierwelt haben die Mechanismen der Nerventätigkeit auf der Stufe des Menschen an Umfang außerordentlich zugenommen. Für ein Tier wird die Wirklichkeit in den Großhirnhemisphären fast ausnahmslos durch Reize und deren Spuren, die unmittelbar auf die speziellen Zellen der verschiedensten Receptoren des Organismus einwirken, signalisiert. Das ist das, was auch wir als Eindrücke, Empfindungen und Vorstellungen von unserer Umwelt empfangen, von der allgemeinen natürlichen wie von unserer sozialen Umwelt, ausgenommen nur das gesprochene und geschriebene Wort. Es ist jenes das erste Signalsystem der Wirklichkeit, das wir mit den Tieren 135

gemeinsam haben. Das W o r t aber bildet ein zweites, nur uns eigenes Signalsystem; es ist das Signal der primären Signale. Es unterliegt jedoch keinem Zweifel, d a ß die Grundgesetze, die f ü r die Arbeit des ersten Signalsystems aufgestellt wurden, auch f ü r das zweite gelten müssen, denn es handelt sich bei dieser Arbeit immer um das gleiche N e r v e n gewebe." „Das Gehirn des Menschen ist also eine Kombination des tierischen Gehirns mit einem menschlichen Anteil in Form des Wortes. Beim Menschen beginnt dieses zweite Signalsystem zu überwiegen. U n t e r gewissen ungünstigen Bedingungen, bei Schwächen des Nervensystems, k a n n wieder diese phylogenetische Teilung des Gehirns Zustandekommen." „Zwischen unserer Physiologie der höheren Nerventätigkeit in Form der Lehre v o n den bedingten Reflexen und der Psychologie ist zweifellos eine enge Berührung hergestellt worden. W i r beschäftigen uns mit ein u n d demselben Gegenstand. Aber w ä h r e n d unsere Vorstellungen und Begriffe exakt begründet u n d v o m S t a n d p u n k t der Sache aus nahezu u n bestreitbar sind, ist es bei den anderen nicht so." In den letzten Lebensjahren hat sich P A V L O V auch mit der Frage der Verschmelzung des Objektiven mit dem Subjektiven befaßt. „Als Bestandteil der N a t u r stellt jeder tierische Organismus ein kompliziertes, in sich abgerundetes System dar, dessen innere K r ä f t e sich in jedem Augenblick mit den äußeren K r ä f t e n der U m w e l t im Gleichgewicht befinden. Je komplizierter der Organismus, desto feiner u n d vielseitiger sind seine Gleichgewichtselemente. Somit ist das Leben der einfachsten bis zu den kompliziertesten Organismen eine lange Reihe verwickelter, schließlich bis zur Vollkommenheit führender Gleichgewichtsbestrebungen zur U m w e l t . " „Es k o m m t die Zeit, da eine mathematische Analyse auf naturwissenschaftlicher Grundlage in einer großartigen Gleichungsformel alle diese Gleichgewichtsbestrebungen, darunter auch die des Menschen, umfassen w i r d . " In seinem Todesjahr 1936 fing P A V L O V an, auch Affen-Versuche zu unternehmen und beschäftigte sich mit der Frage der Alterungserscheinungen von bedingten Reflexen. Somit w a r die Lehre von den bedingten Reflexen bei P A V L O V S T o d nicht beendet, aber es eröffneten sich „große potentielle Möglichkeiten zur Weiterforschung auf diesem neuen n a t u r wissenschaftlichen Gebiet" (MAJOROV). Nach P A V L O V S T o d w u r d e die Lehre der bedingten Reflexe durch B Y K O V weiter zu einer kortiko-viszeralen Physiologie ausgebaut, indem besonders die von inneren Organen ausgehenden Reize (Interoceptoren) näher untersucht wurden. Dadurch gewinnt man die Möglichkeit, als Zeichen bedingter Reflexe neben dem PAVLOVschen klassischen Speichelfluß und motorischen Reaktionen auch Reflexe innerer Organe, wie H a r n 136

absonderung, Blutdruck, Puls, Atmungsfrequenz, diemische Blutzusammensetzung; u.a. zu benutzen. Umgekehrt kann man annehmen, daß im Experiment bei Störung der höheren Nerventätigkeit sich verschiedene Veränderungen morphologischer Art im Organaufbau abzeichnen könnten. ORBELI, Schüler und Nachfolger PAVLOVS, meint, daß P. in jeder Beziehung reiner Naturwissenschaftler blieb. Im Verlauf seiner Arbeit hat er kein einziges Mal den Versuch gemacht, Fragen seiner Lehre aus der Sicht eines der bestehenden philosophischen Systeme zu erklären. Die Lehre von den bedingten Reflexen ist streng naturwissenschaftlich, absolut empirisch, entwickelt worden nach bestimmten physiologischen Untersuchungsmethoden in der Anwendung auf ein Material — das Gehirn —, welches Objekt naturwissenschaftlicher Forschung sein muß. Infolgedessen lassen sich die gewonnenen Ergebnisse erkenntnistheoretisch in ganz verschiedenem Sinne erklären und verwerten. Diese Idee der Neutralität der Wissenschaft wurde auf der PAVLOV-Tagung 1950 schwer gerügt, ja ORBF.LI soll sogar behauptet haben, daß die bewußte Anwendung der Dialektik nur demjenigen vonnöten sei, dem es an „Fingerspitzengefühl des Forschers'' fehle. Diese Ansicht bekräftigte O R B E L I dadurch, daß der dialektische Materialismus erst entstanden sei, nachdem die Naturwissenschaft bereits ihren richtigen Weg gefunden hätte. Die Beschlüsse dieser Tagung verurteilten neben O R B E L I auch die Abweichungen anderer hervorragender Forscher ( A N O C H I N , B E R I T A S V I L I , auch SPERANSKIJ), die, wie in Schauprozessen der Stalinzeit, zu Selbstkritiken gezwungen waren- Hauptankläger war B Y K O V , der PVALOVS Verdienste der T a t eines Kopernikus gleichsetzte und nochmals die Ansichten V I R C H O W S , VERWORNS, Johannes MÜLLERS und SHERRINGTONS als erledigt erklärte. PAVLOVS Theorie der Universalität der Gleichgewichtstendenz in der N a t u r zeigt durchaus Analogien mit der LENiNschen Abbild-Theorie, die wir eingangs erwähnten.

Auch PAVLOV spricht von einer langen Kette adaptativer Erscheinungen bei Ausbildung der höheren Nerventätigkeit, von einer Gleichgewichtsreaktion lebender und toter Materie auf Erscheinungen der Umwelt. „Eine konsequente Naturwissenschaft soll nur die Beziehungen der Naturerscheinungen zu den Antwortreaktionen des Organismus feststellen — das Gleichgewicht zwischen Objekt und Umwelt untersuchen", sagt PAVLOV, während LENIN dem Materialismus ebenfalls die entscheidende, aber noch ungelöste Frage des Verhältnisses zwischen unbelebter und belebter empfindenden Materie zur Weiterforschung stellt. „Der Gegensatz von Materiellem und Ideellem ist nicht absolut, sondern relativ. Der bedingte Reflex ist gleichzeitig eine physiologische und eine psychologische Erscheinung. Jedoch ist eine Verschmelzung von Sub137

jektivem mit Objektivem nicht statthaft." PAVOLV spricht vom „Auflegen eines psychischen Musters auf ein physiologisches Grundgewebe." Nach der „Zweiseitentheorie" FECHNERS könnte man den konkaven und konvexen Aspekt einer Kreislinie zum Vergleich heranziehen. Bereits zu Lebzeiten PAVLOVS hat es auch direkte Auseinandersetzungen mit westlichen Forschern (W. K O E H L E R , SHERRINGTON) gegeben, nicht nur auf den verschiedenen, auch von PAVLOV besuchten internationalen Kongressen. So besitzen wir aus dem Jahre 1 9 3 2 einen Artikel PAVLOVS „Antwort eines Physiologen dem Psychologen". Hier setzt er sich besonders mit einem Buch LASHLEYS über Gestaltspsychologie („Basic neuromechanism in behaviour") auseinander, in dem die Reflex-Theorie PAVLOVS mehr als ein Hindernis denn ein Fortschritt bei der Erforschung zerebraler Funktionen bezeichnet wird. PAVLOV vermißt bei LASHLEY die Anwendung seiner drei Grundsätze bei Untersuchungen der höheren Nerventätigkeit: Determinismus, Einheit von Analyse und Synthese, Einheit von Struktur und Dynamik. Etwas resigniert meint PAVLOV: „Ich empfinde ein gewisses Unbehagen jeder Theorie gegenüber, die den Anspruch erhebt, alles das zu umfassen, was unsere subjektive Welt darstellt. Ich kann aber eine Analyse dieser Erscheinungen nicht ablehnen, um ein Verständnis in einzelnen Punkten zu erlangen." Auch ENGELS meint: „Wir werden einmal experimentell das Denken auf molekulare und chemische Bewegungen im Gehirn zurückführen können. Wird aber dadurch das Wesen des Denkens erschöpft?" Der Berliner Physiologe T R E N D E L E N B U R G hat 1 9 3 7 , also ein Jahr nach PAVLOVS Tod, zu dessen Lehre von den Leistungen des Großhirns Stellung genommen. Er ist von der Fülle der exakten Beobachtungen überwältigt und bedauert es, daß PAVLOV nicht rückschauend eine zusammenfassende Übersicht über sein Werk hinterlassen hat. — Nach v- UEXKÜLL läßt „erst die Meinung des Forschers, die das Beobachtete gewaltsam in Wesentliches und Unwesentliches trennt, Wissenschaft entstehen." Aber auch PAVLOV war sich dieser Schwierigkeit bewußt: 1 9 2 3 hält er es für unvermeidlich, sein Material nur in historischer Folge wiederzugeben, da er „keine Möglichkeit habe, gegenwärtig an allen Punkten der Forschung zu verallgemeinernden und endgültigen Schlußfolgerungen zu kommen." PAVLOV ist nach T R E N D E L E N B U R G kein einseitiger Materialist, aber er überbewertet den Einfluß der nur physikalisch ausgerichteten Naturforschung für die Erfassung der gesamten Lebenserscheinungen. „Ihm liegt es nicht, die Grenzen der Erkenntnis zuzugeben, er stürmt in seinem hohen Alter in bewundernswertem Schwung weit über das Ziel hinaus." Der psychopkysische Zusammenhang ist nach T R E N D E L E N B U R G unlösbar, jedoch ist der psychophysische Parallelismus als Arbeitsstandpunkt möglich. PAVLOV versucht zu einseitig dieTheorie zuvereinfachennndxemuck138

lässigt dabei das Ganze: Begriffe wie „Reizgestalt" und „Reizmelodie" spielen bei ihm keine Rolle, N e r v e n - und Geisteskrankheiten sind nach P A V L O V nur quantitative Störungen der höheren Nerventätigkeit. Der psychische Reflexbogen soll eine ins physiologische übersetzte Assoziationspsychologie ein. Diese Anschauung ist jedoch durch die Ganzheitsbetrachtung in der Gestaltspsychologie überwunden. Über die Lehre PAVLOVS und die Reflexe der Großhirnrinde wurde auf einem nach Moskau im Oktober 1958 einberufenen internationalen Colloquium über EEG der höheren Nerventätigkeit diskutiert. Es nahmen an dieser Aussprache die bedeutendsten Forscher auf diesem Gebiet aus den USA (Magoun, Brazier, Morell), Italien (Moruzzi), Frankreich (Gastout) teil, Deutschland w a r jedoch nicht vertreten. Im Mittelpunkt der Aussprache stand das aufsteigende retikuläre System und sein Einfluß auf die Großhirnrinde. Nach G A S T O U T ist der Schließungsort der bedingten Reflexe im Gegensatz zu P A V L O V in dieses System zu verlegen. Das Colloquium f a n d in einer freundschaftlichen Atmosphäre statt und es wurde angeregt, ein internationales Jahr für Gehirnforschung, ähnlich dem geophysikalischen, durchzuführen. Als Gradmesser der Weiterentwicklung der Sowjetmedizin können die alljährlich stattfindenden Tagungen der Akademie der Medizinischen Wissenschaften dienen. W ä h r e n d auf der V I I I . T a g u n g im Dezember 1953 noch bemängelt wird, d a ß die Entlarvung der fehlerhaften Konzeption ausländischer PAVLOV-Kritiker sehr lau gehandhabt wird, die befohlene Umarbeitung der Lehrbücher im Sinne von Frau Lepesinskaja noch nicht durchgeführt sei und die Erziehung der Mitarbeiter im marxistisch- leninistischen Geist vernachlässigt wird, befaßt sich, die I X . T a g u n g (März 1955) schon kritisch mit der falschen A n w e n d u n g der PAVLOVschen Methoden der Schutzhemmung als Heilschlaf in der Klinik. Jegliche Dogmatisierung in der Wissenschaft sei schädlich, die Arbeit der Akademie in den letzten Jahren ohne eine Kritikmöglichkeit sei wertlos gewesen: es hat gemangelt an einer schöpferischen Erforschung physiologischer Probleme, statt dessen hätte man bloße Zitat« großer Physiologen vernommen. N u n kommen die 1950 gemaßregelten Physiologen (ORBELI, ANOC H I N u.a.) wieder zu W o r t ; auch der eifrigste Verfechter der P A V L O V Lehre, BYKOV, muß zugeben, d a ß noch verschiedene Unklarheiten über ihre A n w e n d u n g in der Klinik bestünden. Der Akademie-Präsident BAKULEV faßte die Aussprache dahin zusammen, daß nun ein Fundament f ü r eine gegenseitige Verständigung der verschiedenen Ansichten in der Wissenschaft gelegt worden ist. Fast zur gleichen Zeit w u r d e die „neue Zellenlehre" von Frau L. auf einem Zellforscher-Kongreß in Leningrad zu Grabe getragen: Frau L. u n d ihre Anhänger hatten es vorgezogen, nicht zu erscheinen, sondern nur eine schriftliche Erklärung einzuschicken. Die Deutungen Frau L.s seien 139

„phantastisch" und konnten nur unter Verletzung des Prinzips der Kollektivität wissenschaftlicher Forschungen entstehen, ja die Akademie sei selbst an dieser Lage nicht unschuldig. Jetzt war es auch Zeit, zu einer Rehabilitierung V I R C H O W S zu schreiten, wozu die Jahrhundertfeier der Zellularpathologie 1956 Veranlassung gab. Dies geschah durch DAVYDOVSKIJ, Vizepräsident der AmW, unter dem Motto L E N I N S „historische Verdienste werden nicht danach beurteilt, was geschichtliche Personen für die Forderungen der Neuzeit geleistet haben, sondern danach, was sie Neues in bezug auf ihre Vorgänger gebracht haben." „VIRCHOWS Lehre hat viele Jahrzehnte eine progressive Rolle gespielt. Die Grundgedanken der Zellularpathologie tragen wohl die Zeichen ihrer Zeit und sind daher nur eine relative Wahrheit, aber sie sind die Stufen der großen Leiter, über die die Menschheit zu den Höhen der Erkenntnis des heutigen Tages gestiegen ist." Auch um eine andere Größe aus S T A L I N S Zeit ist es still geworden — E S wäre fehlerhaft, die L Y S E N K O S c h e Schule für die einzig mögliche Forschungsrichtung auf diesem Gebiete zu halten; sie befasse sich mit einem bestimmten Lieblingsthema, ignoriere aber zahlreiche unumstößliche Tatsachen. Monopolisierungstendenzen der Wissenschaft müssen unterbunden werden. Im November 1 9 5 6 wurde L Y S E N K O als Präses der Agrar-Akademie abgesetzt. Auf der X . und X I . Tagung 1956 und 1957 herrscht schon eine sachliche Atmosphäre: Es werden eigene Fehler zugegeben und es wird beanstandet, daß die eigene Arzneimittel-Industrie hinter dem Ausland zurückgeblieben sei. Es sei auch höchste Zeit, den Kontakt mit dem Ausland wieder aufzunehmen, wobei auch Zusammenfassungen eigener Arbeiten in Fremdsprachen, vorwiegend Englisch, gebracht werden sollen. Es wurde ein 10-Punkte-Programm für die künftige medizinische Forschung aufgestellt, wobei an erster Stelle die Forderung erhoben wird, die medizinischen Erfahrungen der gesamten Welt zu berücksichtigen und gleichzeitig auch die Erfolge der Sowjetunion dem Auslande mitzuteilenDabei sind jedoch auch in Zukunft die marxistisch-materialistischen Methoden in der medizinischen Forschung zu verwenden. Die Auflagen medizinischer Schriften sind viel zu klein und werden daher schnell vergriffen: So ist die zweite Ausgabe der Medizinischen Enzyklopädie in 35 Bänden auf 75 000 Eremplare festgesetzt worden, es liegen aber bereits 90 000 Bestellungen vor. Die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges auf medizinischem Gebiet, ebenfalls ein 35bändiges Standardwerk, auf gutem Papier gedruckt, ist längst vergriffen. Eine Dezentralisation der Wissenschaft soll angestrebt werden und wichtige Institute auch in die Provinz verlagert werden: So besteht das Projekt, in Sibirien ein wissenschaftliches Zentrum zu errichten. Es melden sich aber leider nur wenige Wissenschaftler zur Übersiedlung aus der europäischen SowjetLYSENKO.

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union nach Asien. 80 °/o der Akademiemitglieder befinden sich in Moskau oder Leningrad; auch dieser Zustand wird als ungesund empfunden. Die Akademie bedarf der Auffrischung durch junge Mitarbeiter, wie überhaupt die Frage des wissenschaftlichen Nachwuchses auch in der Sowjetunion große Sorge bereitet. Vielleicht darf hier noch über die Planung der medizinischen Forschung in der Sowjetunion für die nächsten sieben Jahre (1959—1965) kurz berichtet werden. Die Forschungsplanung geht auf einen Befehl des Gesundheitsministers vom 22. Januar 1957 zurück, in dem das Präsidium der Akademie beauftragt wurde, einen Plan zu entwerfen, die wissenschaftlichen Untersuchungen zu koordinieren und den gegenwärtigen Entwicklungsstand der Medizin und der Naturwissenschaften auch im Ausland zu berücksichtigen. An der Ausarbeitung des Planes waren neben dem Präsidium der Akademie auch die 46 „Problem-Kommissionen" (insgesamt ca. 600 Personen), die Vorstände der 42 Hauptforschungsinstitute und die medizinischen Beiräte der Gesundheitsministerien der Unionsrepubliken beteiligt. Der Plan wurde auch in sog. „Ausfahrtstagungen" der Akademie in den peripheren Teilen der Sowjetunion (Riga, Baku, Taskent, Transkaukasien und Mittelasien) erörtert und war Hauptthema der XII. Akademie-Tagung 1958 in Minsk. Die Gesamtzahl der Probleme wurde auf 46 festgesetzt, die ihrerseits in 286 Probleme unterteilt sind. Als wichtigste Probleme werden bezeichnet: Erforschung der Krankheiten des Herz-Gefäßsystems Rheumatische Leiden Das Krebsproblem Ausrottung der Tuberkulose bis 1965. Auch zeitweilig vernachlässigte Gebiete (morphologische Untersuchungen, Genetik und Konstitutionsforschung) sollen wieder stärker bearbeitet werden. Die Problemkommission unter Vorsitz von Z U K O V - V E R E Z N I K O V hat 30 Forschungsinstitute beauftragt, sich mit 87 verschiedenen Problemen auf dem Gebiet der Vererbungslehre und der menschlichen Pathologie zu befassen. Der weltberühmte in der Stalinaera von Lysenko stark angefeindete und 1942 im sibirischen Exil verstorbene Genetiker V A V I LOV ist wieder unter die Klassiker eingereiht worden, seine Werke werden in 6 Bänden herausgegeben. Besonders wichtig für das große Reich sind Akklimatisationsprobleme und damit zusammenhängende geopathologische Fragen. Ein neues Gebiet ist die Gerontologie (Altersforschung), ein entsprechendes Institut unter der Leitung N . N . G O R E V S ist der Akademie angegliedert worden. Audi die Geschichte der Medizin darf nicht vergessen werden. Die marxistisch-leninistische Weltanschauung soll weiter gepflegt werden. 141

Das Ziel der medizinischen Forschung in der SU ist nach den Worten des Akademie-Präsidenten BAKULEV, möglichst bald den ersten Platz im Weltmaßstabe einzunehmen! Dies sollte auch ein Ansporn für den Westen sein. Aber auf wissenschaftlichem Gebiet gilt auch heute noch ein Ausspruch K. E. von BAERS: „Die Wissenschaft ist ewig in ihrer Quelle, unermeßlich in ihrem Umfang, endlos in ihrer Aufgabe, unerreichbar in ihrem Ziel!"

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DIE SITUATION DES ARZTES IN DER SOWJETUNION Von H e i n z

Müller-Dietz

Die folgenden Ausführungen sollen eine Ergänzung zu den Referaten über die Grundlagen des Marxismus-Leninismus und über die sowjetische medizinische Forschung sein und einen Einblick in die praktische Anwendung dieser Lehren vermitteln, in die Praxis des Arztes, der in der Sowjetunion nicht nur eine soziale, sondern eine sozialpolitische Funktion zu erfüllen hat. Über die Situation des Arztes in der Sowjetunion zu berichten, ist aus verschiedenen Gründen nicht ganz einfach, wenn man nicht selbst als Arzt Arbeitserfahrungen in jenem Lande sammeln konnte. Die Schwierigkeiten liegen einmal in den Quellen. Die russische Fachliteratur und die Tagespresse werden zensiert; sie vermitteln kein objektives Bild der Verhältnisse. Wir müssen versuchen, durch Vergleiche und die Erfassung der Untertöne auch die Kritik an den offiziellen Darstellungen herauszuholen. Viel schwerer noch ist es aber für den westlichen Betrachter, sich in die Hintergründe einzufühlen, vor denen sich das Leben und Arbeiten des sowjetischen Arztes — wie wohl jedes Staatsbürgers — abspielen. Diese Hintergründe werden geprägt durch die Begriffe Staat, Gesellschaft und Partei. Jeder dieser Begriffe soll hier für einen vielschichtigen Komplex von Faktoren stehen. So bedeutet der „Staat" die Zentralisation, die Planung und die Bürokratie. Die „Gesellschaft" deutet auf die Vormacht des Kollektivs, das den Arzt trägt und kontrolliert. Hinter dem Begriff „Partei" verbirgt sich der ganze Komplex der ideologischen Beeinflussung und des politischen Druckes. Alle drei Komponenten bringen eine weitgehende Einschränkung der persönlichen Freiheit des Arztes mit sich. Nach der Oktober-Revolution wurden alle medizinischen Einrichtungen, Krankenhäuser, Kurorte und die pharmazeutische Industrie enteignet. Die Verwaltung und das Personal dieser Institutionen, einschließlich aller Ärzte und des Heilhilfspersonals, übernahm der Staat. Damit wurden alle Ärzte und Zahnärzte zu Staatsangestellten. Staatliche Organe entscheiden seitdem über Arbeitsbedingungen, Gehälter, Beförderungen und beeinflussen die Wahl des Arbeitsplatzes. Es gibt in der Sowjetunion keine 143

Ärzte mehr, die hauptberuflich in freier Praxis tätig sind; es gibt nur ärztliche Arbeitsnehmer, die verplant, eingesetzt, kommandiert und beaufsichtigt werden. Das wiederum führte zu einer Verlagerung des moralischen Inhalttes der ärztlichen Arbeit: Als Angestellter eines sozialistischen Staates ist der Arzt nicht mehr nur seinem Berufsethos und seinem Gewissen verantwortlich für sein Tun, sondern sein höchstes Ziel soll die Mitwirkung am Aufbau des Sozialismus sein. Die Aufgabe des sowjetischen Arztes ist es, die Kämpfer für den Kommunismus und die Produktionskräfte der sozialistischen Wirtschaft gesund zu erhalten und ihre Leistungsfähigkeit zu steigern. Diese Bemerkung mußte ich vorausschicken, weil jedes Detail ein falsches Vorzeichen erhält, wenn man diese Abhängigkeit und Zielsetzung der ärztlichen Tätigkeit in der Sowjetunion nicht berücksichtigt. Ich werde versuchen, einige Probleme der praktischen ärztlichen Arbeit und die Diskrepanz zwischen der idealisierten Theorie und der alltäglichen Praxis aufzuzeigen. Das soll keine Polemik werden. Wir sind uns klar darüber, daß die Sowjetunion seit 191/ auch im Bereich des Gesundheitsschutzes erstaunliche Erfolge erzielt hat. Aus einem der rückständigsten Länder Europas ist ein Staat geworden, der in den allgemeinen Indices des Gesundheitszustandes, in der Säuglingssterblichkeit zum Beispiel, in der durchschnittlichen Lebenserwartung und in der allgemeinen Sterblichkeitsrate, den Anschluß an die hochentwickelten Länder Mittel- und Westeuropas gefunden hat. Diese Erfolge sollen keineswegs bagatellisiert werden. Sie sind innerhalb eines so kurzen Zeitraums wahrscheinlich nur in einem autoritär regierten System mit einem zentralisierten, staatlich gelenkten Gesundheitsdienst möglich. Zum Verständnis des Milieus, in dem der sowjetische Arzt wirkt, darf ich zunächst versuchen, in großen Zügen die Funktionsweise und die Eigenarten des sowjetischen Gesundheitsdienstes zu umreißen. Dann werde ich kurz den Entwicklungsgang der sowjetischen Mediziner schildern und die Zahl der Ärzte diskutieren. Dabei gehe ich auf spezielle Fragen ein: auf die praktischen Arbeitsmöglichkeiten, auf das Verhältnis zum Kranken, auf die soziale Stellung des Arztes und auf seine Abhängigkeit von den gesellschaftlichen und politischen Kräften. Natürlich kann ich damit nur einige Stichworte geben, ohne alle Aspekte hier zu erschöpfen. Die Grundlagen des sowjetischen Gesundheitsschutzes sind die zentrale Lenkung und Planung durch den Staat, die Kostenfreiheit der medizinischen Versorgung und die Betonung der Prophylaxe. Die Verwaltung des Gesundheitswesens ist hierarchisch aufgebaut. An ihrer Spitze steht das Gesundheitsministerium der Union, das gegenüber den Gesundheitsministerien der einzelnen Republiken weisungsberechtigt 144

ist. In den R e p u b l i k e n verbreitert sich die P y r a m i d e nach u n t e n durch die Gesundheitsverwaltungen der Länder, Gebiete, Städte u n d Kreise. Dieser A u f b a u l ä u f t der Gliederung des administrativen A p p a r a t e s genau parallel. Die Verantwortlichkeit u n d die Initiative der unteren Dienststellen sind in dieser F o r m des „bürokratischen Z e n t r a l i s m u s " fast ausgeschaltet. D e r große A p p a r a t arbeitet recht schwerfällig; er bietet aber die Voraussetzung f ü r die zentrale Planung und L e n k u n g . V o n den kleinsten Einheiten der Peripherie wird regelmäßig der Bedarf an Personal, Krankenbetten, Medikamenten und Ausrüstungsgegenständen z u m Z e n t r u m gemeldet, d o r t koordiniert u n d mit dem großen Volkswirtschaftsplan in E i n k l a n g gebracht. D a r a u s gewinnt m a n die G r u n d l a g e f ü r die Aufschlüsselung des Gesundheitsbudgets, f ü r den N u m e r u s clausus der Lehranstalten und f ü r die V e r s t ä r k u n g bestimmter Sektoren des Gesundheitsschutzes in Abhängigkeit v o n der lokalen Situation und den Bedürfnissen der Wirtschaft. In gleicher Weise werden alle Forschungsvorhaben an den Instituten, Kliniken und Lehrstühlen v o n der Zentrale g e p r ü f t , koordiniert und gebilligt. Diese A u f g a b e ist v o r k u r z e m der A k a d e m i e der Medizinischen Wissenschaften übertragen worden, dem „ G e n e r a l s t a b " f ü r die medizinische F o r schung. Die A k a d e m i e hat einen Siebenjahresplan f ü r die Forschung aufgestellt, der die Gewähr bietet, daß Zeit u n d Geld nur f ü r ideologisch erwünschte und wirtschaftlich erstrangige Projekte verbraucht werden. Dieses System der zentralen L e n k u n g und Planung m a g seine Vorteile haben; es zwingt aber den Einzelnen, sich streng dem Planschema unterzuordnen, u n d verbietet die Freiheit v o n Forschung und Lehre, wie wir sie verstehen. Ich erwähnte, daß es die freie ärztliche Praxis als Zelle der ärztlichen Versorgung in der Sowjetunion nicht m e h r gibt. D i e Arbeit, die bei uns der praktische A r z t leistet, hat in der Sowjetunion das T e a m einer Poliklinik oder eines A m b u l a t o r i u m s auf dem L a n d e ü b e r n o m m e n . D a s ganze L a n d ist aufgeteilt in ärztliche Sprengel mit 4 — 6 0 0 0 Seelen, die v o n einer zentralen Einheit, bestehend aus einem kleinen K r a n k e n haus mit Poliklinik und einer Hygiene- u n d Seuchenstation, versorgt werden. D e r Sinn der organisatorischen Z u s a m m e n f a s s u n g verschiedener Versorgungssysteme liegt darin, daß ein A r z t seine Patienten sowohl ambulant wie auch stationär betreuen und gleichzeitig noch hygienische K o n t r o l l a u f g a b e n in seinem Bezirk durchführen soll. Für dieses V e r f a h r e n einen sinnvollen Dienstplan zu finden, ist auch den Russen bisher noch nicht gelungen. Bei der täglichen Arbeitszeit von höchstens 6V2 Stunden, zu der die sowjetischen Ä r z t e verpflichtet sind, erwies es sich technisch als unmöglich, daß ein A r z t an jedem T a g auf allen drei Gebieten — Station, Poliklinik u n d Bezirk — tätig ist. Daher wurde ein Turnussystem eingeführt, mit dem allerdings

10 Universitätstage 1961

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wieder die Kontinuität der ambulanten und klinischen Behandlung nicht gewahrt bleiben konnte. Trotzdem soll sich die Fusion der stationären und offenen Abteilungen bisher sehr gut bewährt haben. Ein wichtiges Feld in der Tätigkeit des Bezirksarztes ist die Dispensaire-Betreuung. Das Dispensaire ist der institutionelle Ausdruck für die prophylaktischen Bestrebungen in der sowjetischen Medizin. Der Begriff ist nicht ganz leicht zu definieren, da er innerhalb der sowjetischen Aera einen Bedeutungswandel durchgemacht hat. Während er früher nur für eine Einrichtung, eine Anstalt, gebraucht wurde, bezeichnet man jetzt vorwiegend eine Methode damit. Sie besteht in der Zusammenfassung prophylaktischer und therapeutischer Maßnahmen, in der systematischen Beobachtung und im Studium der Arbeits- und Lebensbedingungen im Sinne krankheitsbegünstigender Faktoren. Ihre Ziele sind die Beseitigung schädlicher Umwelteinflüsse auf die Gesundheit einer bestimmten Personengruppe, die Gewähr f ü r die richtige körperliche Entwicklung, die Verhütung von Erkrankungen und Invalidität durch entsprechende vorbeugende, kurative und Fürsorge-Maßnahmen. Dispensaires sind zunächst nur f ü r einige Krankheitsformen, zum Beispiel Tuberkulose, Geschlechtskrankheiten, Tradiom, oder für bestimmte Bevölkerungsgruppen, wie Jungarbeiter oder Sportler, eingerichtet worden. Diese selbständigen Dispensaires bestehen auch noch heute, und sie sind sogar um einige Fachgebiete — Krebs, Kreislauferkrankungen u. a. — erweitert worden; das Fernziel ist aber die systematische Dispensaire-Betreuung der gesamten gesunden und kranken Bevölkerung mit Hilfe des Poliklinik- und Bezirkssystems. Daher gehören zur Außenarbeit der den Krankenhäusern angeschlossenen Polikliniken auch das aktive Aufsuchen von Früherkrankungen in Form von Vorsorge-Reihenuntersuchungen und die nachgehende Fürsorge bei den aus der klinischen Behandlung Entlassenen. Wir haben hier also eine Art doppelter Sicherung: auf der einen Seite die systematisch organisierte Versorgung der Bevölkerung nach dem territorialen Prinzip, auf der anderen Seite die Erfassung, Beobachtung und Behandlung besonders gefährdeter Bevölkerungsgruppen oder besonders gefährlicher Krankheiten. Ein wichtiges Instrument der Prophylaxe ist die Gesundheitserziehung, die in der Sowjetunion zum täglichen Brot aller Mediziner gehören soll. Nicht nur die Ärzte und das mittlere Personal, sondern auch schon die Studenten sind verpflichtet, einen bestimmten Teil ihrer Arbeitszeit mit medizinisch-belehrenden Vorträgen oder Gruppengesprächen zu verbringen. In diesem umfangreichen Projekt werden alle publizistischen Mittel eingesetzt: Presse, Rundfunk, Film, Vorträge, Schaukästen und „Gesundheitsecken" in den Warteräumen und die 146

neuen Volkshochschulen f ü r Gesundheit. Bei dem bekannten Lerneifer der Russen sind diese Bestrebungen sicherlich von großem Wert, und sie haben den Vorzug, daß sie von Fachleuten mit einiger Sachkenntnis und Verantwortung durchgeführt oder überwacht werden, wenn sie natürlich auch in erster Linie dem Lob der sowjetischen Medizin dienen. Der Mittler zwischen dem kranken Sowjetbürger und seinem Arzt ist die staatliche Sozialversicherung. Sie umfaßt als Pflichtversicherung alle staatlichen, kommunalen und privaten Arbeitnehmer, d. h. die gesamte werktätige Bevölkerung. Mit den Versicherungsprämien wird der Versicherte nicht direkt belastet; die Beiträge sind ausschließlich von den Arbeitgebern zu zahlen. Indirekt wirken sich diese Abgaben natürlich auf die Güter- und Dienstleistungspreise aus, f ü r die der Verbraucher dann doch aufzukommen hat. Die Verwaltung der Sozialversicherung, des Versicherungsetats und die Verteilung der Leistungen liegen ganz in den Händen der Gewerkschaften. So kommt es zum Beispiel, daß über die Durchführung eines Heilverfahrens die letzte Entscheidung nicht beim Arzt, sondern bei einem aus Gewerkschaftsfunktionären bestehenden „Versicherungsrat" des Betriebes liegt. Die soziale Sicherheit, die die staatliche Sozialversicherung mit ihrer kostenfreien Versorgung dem Sowjetbürger bietet, gehört zweifellos zu den Vorzügen des Systems. Sie muß aber doch von den Kranken durch die Unterordnung unter einen umfangreichen bürokratischen Apparat mit zahllosen Kontrollen und Pflichtuntersuchungen und unter einen gewissen Mißbrauch, den der Staat gelegentlich mit den Versicherungsleistungen treibt, erkauft werden. Mit dem Mißbrauch meine ich zum Beispiel die Zuerkennung unterschiedlich hoher Leistungen als Druck auf die Arbeitsproduktivität oder die Bevorzugung von Gewerkschaftsmitgliedern und Bestarbeitern bei einigen Leistungen. In diesem kurzen Uberblick über das sowjetische Gesundheitswesen ist schon das breite Spektrum der ärztlichen Aufgaben angedeutet. Wie werden nun die künftigen Ärzte auf die Erfüllung dieser Aufgaben vorbereitet? Der Drang der sowjetischen Jugend zum Arztberuf ist nicht so stark wie zu den technischen Berufen; die Zahl der Bewerber liegt aber doch alljährlich weit über der Zahl der freien Plätze. Jährlich werden nach einem Aufnahme-Examen etwa 25 000 neue Medizinstudenten zugelassen. Das Studium erfolgt in der Regel in einem der 80 selbständigen, aus dem Universitätsverband herausgelösten Medizinischen Institute, die den Gesundheitsministerien unterstehen. Das Volksbildungsministerium der Union koordiniert aber noch die Lehrpläne und Examensordnungen und bestimmt über die Besetzung der Lehrstühle. Die Medizinischen Institute sind f ü r die möglichst frühzeitige Spe10'

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zialisierung in drei Grundfakultäten aufgeteilt: eine therapeutische, die den Allgemeinpraktiker mit vorwiegend internistischen Kenntnissen ausbildet, eine pädiatrische für spätere Kinderärzte und eine sanitärhygienische für die Ausbildung der Hygieniker, Epidemiologen und der Organisatoren des öffentlichen Gesundheitsdienstes. Außerdem gibt es noch stomatologische und pharmazeutische Fakultäten. Jedem Lehrstuhl steht ein Ordinarius vor, der nicht, wie bei uns, berufen wird, sondern sich um die freie, ausgeschriebene Stelle bewirbt. Die Stellen im Lehrkörper und in den Forschungsinstituten werden ausgeschrieben, wenn sie effektiv vakant sind. Außerdem findet aber alle fünf Jahre ein „ K o n k u r s " statt, an dem sich auch der bisherige Stelleninhaber beteiligen kann. Jeder Lehrstuhl ist so reichlich mit Assistenten versehen, daß im Durchschnitt auf zehn Studenten ein Angehöriger des Lehrkörpers entfällt. Wir dürfen hier jedoch nicht die Quantität mit der Qualität verwechseln. Vor zwei Jahren waren von den Inhabern der Lehrstühle, also den Ordinarien, nur 54 % habilitiert, 39 °/o promoviert, während 7 °/a keinen akademischen Grad besaßen 1 . Ursprünglich war das sowjetische Medizinstudium nach dem deutschen Vorbild aufgebaut. Im Laufe der Sowjetzeit hat es viele Reformen durchgemacht. Geblieben ist die Unterteilung in einen vorklinischen und einen klinischen Teil, die zusammen fünf Jahre umfassen. Darauf folgt im 6. Studienjahr die „Subordinatur", d. h. eine praktischpoliklinische Ausbildung und zugleich eine weitere Spezialisierung in einem der drei Grundfächer: Innere Medizin, Chirurgie oder Geburtshilfe und Gynäkologie. In den Ferien haben die Studenten nur einmal ein zweimonatiges Praktikum zu absolvieren, das unseren Famulaturen in konzentrierter Form entspricht. Jeder Studienjahrgang wird in „akademische Gruppen" zu je 15—25 Personen eingeteilt, die unter der Leitung eines Assistenten die Grundeinheit bei den Praktika und Übungen bilden. Die Gemeinschaft der Gruppe soll dem Studenten die Familie ersetzen. Hier soll er lernen, nur noch im Kollektiv zu denken, und hier soll er sich — das wird von den Russen recht offen ausgesprochen — jeder Neigung zum Individualismus entwöhnen. Die meisten Studenten erhalten ein Stipendium, das nach Studienjahren und Leistung gestaffelt ist und von den Ergebnissen der Zwischenprüfungen nach jedem Semester abhängig gemacht wird. N u r in Ausnahmefällen kann bei durchschnittlichen Leistungen auch die wirtschaftliche Lage eines Studenten für die Gewährung des Stipendiums berücksichtigt werden. Studiengebühren werden seit 1956 nicht mehr erhoben. Von den auswärtigen Studenten wird ein. großer Teil in institutseigenen Gemeinschaftswohnheimen untergebracht. Das ist bei der Wohnraum-Knappheit und den hohen Zimmermieten in russischen 148

Städten sicherlich eine Erleichterung. Andererseits bieten diese Sammelunterkünfte die Möglichkeit, die Studenten zu beaufsichtigen und sich gegenseitig beobachten zu lassen, sie auch in den arbeitsfreien Stunden zu „erfassen" und ihre Freizeit zu „organisieren". Ein Charakteristikum des Studiums in der Sowjetunion ist die strenge Reglementierung und Kontrolle der Studenten. Sie reicht vom obligatorischen Vorlesungsbesuch mit Anwesenheitslisten über die zahlreichen Zwischenprüfungen bis zu Hausaufgaben, die — wie auch die Beteiligung an den Übungen — zensiert werden. Die akademische Freiheit in unserem Sinne gibt es nicht; an ihre Stelle ist die „Kollektiverziehung" getreten. Diese Erziehung durch die Gemeinschaft bedeutet einerseits, daß zu den Aufgaben der Hochschule nicht nur die fachliche Unterweisung, sondern ebensosehr auch die charakterliche und politische Bildung gehört. Andererseits werden alle Kreise, mit denen der Student in seiner Ausbildung in Berührung kommt, das heißt also Professoren, Partei, Assistenten und Studienkollegen, für die Entwicklung und Leistung des Einzelnen verantwortlich gemacht. Bei dem rein schulischen Charakter dieses Studiums besteht die Gefahr, daß die medizinische Hochschule zu einem — wie es die Russen nennen — „medizinisch-handwerklichen Technikum" wird. Zugunsten des speziellen Fachwissens wird die synoptische Kenntnis der gesamten Medizin und ihre Stellung in den Wissenschaften vernachlässigt. Die Ausbildung vermittelt dem Studenten gerade so viel handwerkliches Können und Fachwissen, wie er braucht, um in der komplizierten Maschinerie des Gesundheitsdienstes irgendwo ein kleines Rädchen zu sein. Die Aufgaben unserer Hochschulen, die Studenten neben dem Fachwissen logisches Denkvermögen und die Fähigkeit zu lehren, selbständig zu urteilen und zu entscheiden, ist in der Sowjetunion nicht opportun. Nach dem 12. Semester legt der Student das Staatsexamen in zwölf Fächern ab, von denen das wichtigste die „Gesellschaftswissenschaft" ist, also die Grundlagen des Marxismus-Leninismus und die Politökonomie. Die kleineren Fächer werden nach den Semestern geprüft, in denen sie gelesen wurden. Dann erhält der Student das Diplom des Arztes und das Recht, in seinem erwählten Spezialgebiet tätig zu sein. Seinen künftigen Arbeitsplatz darf sich der junge Arzt jedoch nicht selbst aussuchen. Der Staat verlangt als Gegenleistung für die Studienmöglichkeit und das Stipendium, daß der Jungarzt sich den Direktiven des Planes beugt und wenigstens drei Jahre lang dort arbeitet, wo er am dringendsten benötigt wird. Naturgemäß sind die meisten ärztlichen Stellen in abgelegenen ländlichen Gegenden und in den Brachlandgebieten Sibiriens und Asiens frei, so daß es bei der jährlichen Platzverteilung wegen des gewaltigen Kulturgefälles zwischen Großstädten 149

und dem flachen Lande stets zu Enttäuschungen und offenem Ungehorsam kommt 2 . N u r eine kleine Elite hat die Möglichkeit, die wissenschaftliche Laufbahn einzuschlagen. Diese Studenten können nach einer dreijährigen Aspiranturzeit an einem Lehrstuhl oder einem Forschungsinstitut zum Kandidaten der Medizin und später — mit entsprechenden wissenschaftlichen Veröffentlichungen — zum Doktor der Medizin promoviert werden. Sie bilden das Nachwuchsreservoir für die leitenden Stellen in Forschung und Lehre. Ich will aber auf diese kleine Gruppe nicht näher eingehen, sondern bei dem Gros, bei dem typischen behandelnden Arzt bleiben. In der Sowjetunion gibt es heute für je 10 000 Einwohner 18 Ärzte. Die Russen sagen, ihr Land nehme damit in der absoluten und relativen Versorgung mit Ärzten den ersten Platz in der Welt ein. Stimmt das wirklich oder wird hier Wert mit Masse aufgewogen? Diese Zahl, 18/10 000, ist einer der großen Propagandaschlager der Russen; man hört sie bei jeder Gelegenheit. Ich möchte daher etwas näher darauf eingehen und dabei einige Probleme der ärztlichen Tätigkeit aufzeigen. Mit 18/10 000 liegt die Sowjetunion weit über der Bundesrepublik mit etwa 15 und den U S A mit 14/10 000. Wir können diese Zahl jedoch reduzieren. 2 i °/o aller Ärzte in der Sowjetunion arbeiten nicht am kranken Menschen 3 . Sie sind in der reinen Forschung und Lehre beschäftigt, oder sie haben hygienische Aufgaben als Sanitätsärzte, Epidemiologen, Bakteriologen und im hygienischen Überwachungsdienst; sie arbeiten in der Gesundheitsverwaltung oder als Laboranten, Statistiker und Gerichtsmediziner. Auch die eng spezialisierten Zahnärzte möchte ich hier einbeziehen. Damit sinkt das Verhältnis der wirklich mit der Untersuchung und Behandlung Kranker befaßten Ärzte auf 14/10 000. Natürlich kann man diese Zahl nicht der ebenso hohen nordamerikanischen Relation gleichsetzen, denn auch in den vergleichbaren Angaben westlicher Länder sind die nicht ärztlich tätigen Mediziner enthalten. Aber bei uns sind leider nicht so viele Planstellen für Fachkräfte in Forschung und Lehre vorhanden — zur Zeit umfaßt dieses Kontingent in der Sowjetunion 33 000* — und wir haben keinen so aufgeblähten Verwaltungsapparat, der zahlreiche Ärzte absorbiert. Das Paradoxon ist jedoch, daß trotz dieser immer noch sehr hohen Indices in der U d S S R zum Teil akuter Ärztemangel herrscht. Das betrifft vorwiegend die ländlichen Gebiete, aber auch die städtischen Polikliniken. Aus Leningrad wurde noch 1960 von Wartelisten berichtet, in die sich die Kranken eintrugen, die einen Facharzt in einer Poliklinik aufsuchen wollten 5 . In der Russischen Sowjetrepublik waren vor wenigen Jahren, als das Verhältnis immerhin schon 15/10 000 betrug, 150

über 1000 Sprengelkrankenhäuser und 620 Landambulatorien ohne einen Arzt; sie wurden nur von Feldsdieren geleitet 6 ; das sind, in unserer Klassifikation, gute, erfahrene Oberpfleger. Wir müssen auch daran denken, daß der Unionsdurchschnitt große Schwankungen in den Republiken verdeckt. Tadzikistan und Weißrußland zum Beispiel haben nur 10—11 Ärzte auf 10 000 Einwohner, Georgien dagegen zählt 30 7 . Katastrophal aber sind die Zustände auf dem Lande. Obwohl über die Hälfte der sowjetischen Bevölkerung, genau 56,6 %>, auf dem Lande wohnt, arbeiten in ländlichen Gebieten im Unionsdurchschnitt nur 1 3 , 4 % der Ärzte 8 . (Diese Angaben sind 3—4 Jahre alt; sie dürften sich inzwischen aber nicht wesentlich geändert haben.) Das ist der Durchschnitt. In kleineren Maßstäben sind die Relationen noch eindrucksvoller. Die Russische Sowjet-Republik hatte 1957 zwar einen Durchschnitt von 16,3/10 000; diese Zahl verschiebt sich aber bei der Differenzierung in Stadt und Land: In den Städten gab es für je 10 000 Einwohner 28,9 Ärzte, auf dem Lande dagegen nur 3,4 9 . Moskau und Leningrad weisen demgegenüber Zahlen von 63 und 53 Ärzten pro 10 000 auf*. Die Beispiele für diese Disproportionen ließen sich noch beliebig vermehren. Wie ist das zu erklären? Wie ist das in einem Lande möglich, in dem die ärztlichen Arbeitsnormen auf Minuten und zehntel Patienten genau geplant werden? Schuld daran trägt zunächst einmal das Plansystem selbst. In den letzten Jahren sind zahlreiche neue Polikliniken und Krankenhäuser eröffnet worden, für die offenbar nicht genügend Ärzte eingeplant worden waren. Gleichzeitig soll aber die Arbeitszeit generell verkürzt werden, und auch die Praxis der Doppelarbeit soll eingeschränkt werden. Dazu muß ich erklären, daß die Stellenpläne der Gesundheitseinrichtungen fachärztliche Planstellen in Bruchzahlen vorsehen. Ein typischer Sprengel mit 4000 Seelen soll durch genau 6,3 Ärzte, besser gesagt, ärztliche Planstellen, versorgt werden. Diese Zahl setzt sich zusammen aus: Eineinhalb Internisten, einem Pädiater, je einem halben Geburtshelfer und Gynäkologen, Chirurgen und Tuberkulosearzt, je einem viertel Facharzt für Augenleiden und für Haut- und Geschlechtskrankheiten, je 0,2 Otologen und Neurologen und 1,4 Zahnarzt. Die Gesamtzahl aller Planstellen, also einschließlich der Hygieniker, Pathologen, Sportärzte usw., liegt für 10 000 Einwohner in den Städten theoretisch bei 42, in der Regel sind von diesen Stellen 37—39 besetzt. Praktisch gibt es in den Städten jedoch nur 28 Ärzte pro 10 000 der Bevölkerung. Daher arbeiten viele Ärzte auf mehr als einer Planstelle, natürlich bei entsprechend höherem Einkommen. Diese Praxis scheint überhandgenommen und zu Mißbräuchen geführt zu haben; sie soll daher nur noch in Ausnahmefällen zulässig sein 1 ". Auch das führt 151

zu einem erhöhten Bedarf an Ärzten, während der Neuzugang von den Hochschulen schon sechs oder sieben Jahre vorher, ohne Rücksicht auf diese unvorhergesehenen Bedarfssteigerungen, geplant worden ist. Audi wenn man von diesem Jahre ab die Quoten der jährlichen Neuzulassungen, wie es vorgesehen ist, um 4 000 Studenten erhöht, wird sich das erst nach sechs Jahren auswirken. Der Ärztemangel in den städtischen Polikliniken hat aber noch andere Ursachen. Eine von ihnen ist die Überlastung des Bezirksordinators. Der Bezirksordinator ist in dem Team eines ärztlichen Bezirks oder einer Poliklinik der Allgemeinpraktiker, dem alle Fachärzte unterstellt sind. Offensichtlich soll der Ordinator den alten Haus- und Familienarzt ersetzen; daher hat er eine mehrgleisige Tätigkeit auszuüben: Er muß in der Poliklinik die Konsultation, Behandlung und notfalls die stationäre Einweisung der ambulanten Patienten durchführen, bestimmte Patienten unter Dispensaire-Beobachtung nehmen, die Arbeitsfähigkeit der krankgeschriebenen Patienten beurteilen, eine Statistik des allgemeinen Krankenstandes seines Bezirkes führen, Gesundheitserziehung betreiben und schließlich die Patienten f ü r ein Heilverfahren auswählen. Bei seinen stationären Patienten muß er Visiten machen, untersuchen und Behandlungsvorschriften geben. Im Außendienst hat er die bettlägrigen Kranken zu Hause aufzusuchen und zu behandeln. Die Normvorschrift räumt f ü r einen Hausbesuch 30 Minuten ein. Dabei geht der Plan davon aus, daß dem Arzt ein „motorisierter Transport" zur Verfügung steht. Dienstwagen gibt es jedoch f ü r Poliklinik-Ärzte erst in ganz geringer Zahl; Privatwagen sind in dieser Gehaltsgruppe nicht zu erwarten, so daß Hausbesuche in der Regel zu Fuß oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln gemacht werden. Im Bezirk erwartet den Ordinator ferner eine Fülle von hygienischen Aufgaben: Er muß den sanitären und hygienischen Zustand des Bezirkes kontrollieren; ihm obliegt die Früherkennung ansteckender Kranker, ihre rechtzeitige Einweisung in das Krankenhaus und die Kontrolle des Infektionsherdes, einschließlich der ersten Seuchenschutzmaßnahmen bei gefährlichen Infektionskrankheiten, bis der Seuchenschutzdienst in Tätigkeit tritt; er hat Schutzimpfungen zu organisieren und durchzuführen — und in der Sowjetunion wird viel geimpft; er hat sich an der Gesundheitserziehung zu beteiligen; er hat ein Gesundheitsaktiv, das ist eine Art Rote-Kreuz-Gruppe f ü r hygienische Aufgaben aus Laien, auszubilden und anzuleiten; er hat die MalariaKranken zu registrieren, den Wurmbefall zu bekämpfen und noch einiges andere mehr 11 . Diese umfangreiche Liste f ü h r t zwangsmäßig dazu, daß der Plan f ü r die Zahl der Bezirks-Praktiker nicht eingehalten wird, daß die meisten Ärzte sich ein Fachgebiet wählen, und daß damit die vorhandenen 1.52

Allgemein-Ärzte noch mehr überlastet werden. Sie machen in der Gesamtzahl der Ärzte nur etwa 25 % aus. Wie die Statistik zeigt, wenden sich aber 42 °/o der Patienten gerade an die Allgemein-Praktiker, an die Ordinatoren. Der Ordinator hat — wie die meisten sowjetischen Ärzte — täglich 6V2 Stunden zu arbeiten. Ärzte, die ausschließlich ambulante Patienten empfangen, arbeiten nur 5V2 Stunden. Die im Mai 1960 verkündete allgemeine Senkung der Arbeitszeiten wird sich meines Wissens f ü r Mediziner erst im Laufe dieses Jahres auswirken, muß aber jetzt schon vorbereitet werden. Seine zahlreichen Aufgaben muß also der Ordinator täglich innerhalb von 6V2 Stunden bewältigen. Auch hierfür gibt es Normen. Sie bestimmen, daß ein Internist — der Ordinator gilt ja als Internist — in einer Stunde 5—6 Patienten, der Chirurg 10, der Tuberkulosearzt und der Psychiater je 4 und der Zahnarzt 3,2 Patienten empfangen müssen. In der stationären Abteilung liegen die Bettennormen für einen Kinderarzt bei 4, f ü r den Internisten und Neurologen bei 5—6 und f ü r den Chirurgen bei 8—9 11 . Audi hier weicht die Praxis wieder von der Statistik ab. Die Grundlage für die Normenberechnung ist die Überlegung, wie viele von den 4000 Seelen eines Sprengeis im Durchschnitt krank werden und wie lange ihre Behandlung dauert; das ergibt die Zahl der erforderlichen ärztlichen Planstellen. Nun erfahren wir aber, daß die städtischen Polikliniken im Unionsdurchschnitt zu 24 °/o von kranken Landbewohnern aufgesucht werden, da offensichtlich in den Landgebieten die Möglichkeiten der ärztlichen Betreuung noch nicht so gut sind wie in den Städten. In einigen Republiken steigt diese Zahl bis auf 50 °/o12. Das bedeutet eine weitere Mehrbelastung für den Ordinator. Die Zeiten, die ich soeben als Normen für die poliklinische Sprechstunde nannte, mögen als Durchschnittsmaße noch ganz vertretbar sein, wenn sie eingehalten werden und wenn sie wirklich voll dem Patienten zugute kommen. Das aber verhindert die sowjetische Bürokratie. Nach russischen Untersuchungen sind f ü r jeden Patienten in der Poliklinik bei jedem Besuch 7—15 schriftliche Notizen erforderlich 13 . Das sind Vermerke für die Kanzlei, die Registratur und die Statistik, Karteikarten, Krankengeschichten, Auszüge aus den Krankengeschichten und Epikrisen, Überweisungen usw., die den Arzt 3U der Arbeitszeit kosten. Die Arzthelferin, die Krankenschwester, führt daneben noch einen eigenen Kanzleibetrieb, der zu ihren speziellen Pflichten gehört. Diese vielen Zettel und Karten muß der Arzt allein und ausschließlich mit der Hand schreiben. Weder Schreibmaschinen noch Hilfskräfte, die Maschinenschrift und Stenographie beherrschen, gehören zur Normalausstattung der Kanzleien und Sekretariate der sowjetischen Heilan153

stalten. Es gibt auch keine Stempel oder Vordrucke für immer wiederkehrende Verordnungen oder Überweisungen. Die Folge dieses Zustandes, der in der sowjetischen Presse seit Jahren heftig kritisiert wird, ist, daß der Ordinator nicht 10 Minuten, sondern nur noch 2—3 Minuten Zeit hat, um einen Patienten zu befragen, die Vorgeschichte zu erfahren, ihn zu untersuchen, die Notwendigkeit der Fachuntersuchung oder der stationären Aufnahme zu entscheiden und die Behandlung einzuleiten. Man muß ein sehr guter Arzt sein, um in dieser Zeit ein Krankheitsbild ausreichend erfassen zu können. Das individuelle Eingehen auf die persönlindien Verhältnisse und Sorgen des Kranken ist dabei aber ausgeschlossen. Im Gegenteil. Der Arzt wird sich bemühen, den Patienten so schnell wie möglich wieder loszuwerden. Er schickt ihn also mit einer Überweisung zum Spezialarzt im Nebenzimmer oder zur Röntgenabteilung oder in das Laboratorium. 50 % aller Patienten, die der Praktiker empfängt, gehen diesen Weg und füllen damit künstlich die Sprechzimmer der Fachärzte 14 . Die langen Reihen der Wartenden vor dem Sprechzimmer, die nach all dem durchaus erklärlich sind, werden noch dadurch angereichert, daß der Arzt einen Arbeitnehmer nur für höchstens drei Tage krankschreiben darf. Dauert die Krankheit länger als sechs Tage, tritt eine „Ärztliche Beratungskommission" zusammen, die über die weiteren Maßnahmen und die Arbeitsfähigkeit entscheidet. Wo eine solche K o m mission nicht vorhanden ist, übernimmt der Chefarzt des zuständigen Krankenhauses die Verantwortung für die weitere Befreiung des Patienten von der Arbeit 1 5 . Erst in jüngster Zeit begann man versuchsweise damit, den praktischen Ärzten in einigen Städten das Recht einzuräumen, die Patienten bis zu 10 Tagen ohne Zwischenuntersuchung arbeitsunfähig zu erklären 4 . Die Gesundheitsverwaltung hat, da grundlegende Veränderungen über den Plan nur langsam zu bewerkstelligen sind, nur einen Ausweg gefunden, um diese Lage zu bessern: Sie sucht nach „inneren Reserven", das heißt, sie streicht die am wenigsten ausgenutzten Planstellen für Fachärzte und setzt die Spezialisten als Ordinatoren, als Internisten ein. Derartige Versetzungen zu Arbeiten, die nicht mit ihrer Ausbildung übereinstimmen, sind für die sowjetischen Ärzte nicht ungewöhnlich. Sie gehören zu den Nachteilen ihres Angestelltenstatus. A m stärksten sind davon Hygieniker, Kinderärzte und Zahnärzte betroffen, obwohl es noch keineswegs überall genügend Stomatologen und Zahnärzte gibt. Trotz eines ministeriellen Befehls, der die fachfremde Verwendung von Ärzten dieser drei Speziairichtungen verbietet, arbeiteten 1958 in der Russischen Sowjetrepublik nur etwa 75 °/o der Absolventen sanitär154

hygienischer, pädiatrischer und stomatologischer Fakultäten in ihrem Fachgebiet 16 . Wenn übrigens ein Zahnarzt oder ein Hygieniker ohne Umschulung von heute auf morgen als Internist eingesetzt wird, so läßt das einige Rückschlüsse auf die Qualität der Ausbildung und der ärztlichen Arbeit am Patienten zu, ebenso wie die Tatsache, daß ein Feldscher, wie ich erwähnte, ohne weiteres den Leiter eines kleinen Krankenhauses ersetzen kann. Die sowjetischen Ärzte sind weitgehend spezialisiert, enger als es bei uns üblich ist. So gibt es neuerdings einen Facharzt f ü r Elektrokardiographie, obwohl man eigentlich von jedem Internisten erwarten müßte, daß er ein EKG fachgerecht lesen kann. Die erste Vorsortierung nach Fachrichtungen findet bereits durch die Profilierung der Fakultäten und dann in der klinischen Fakultät durch die Dreiteilung des sechsten Studienjahres statt. Der junge Arzt verläßt die Hochschule also bereits als ein „Facharzt 5. Grades". In den großen Fachgebieten der inneren Medizin, der Chirurgie und der Gynäkologie und Geburtshilfe kann sich der Facharzt in fünf Graden oder Kategorien immer höher qualifizieren. Voraussetzungen für jeden Sprung in eine höhere Kategorie sind die erfolgreiche Teilnahme an einem Fortbildungskurs, eine bestimmte, zeitlich festgelegte Arbeitserfahrung und die Beherrschung bestimmter diagnostischer, therapeutischer und operativer Methoden, in denen er geprüft wird. Die elf Institute f ü r ärztliche Fortbildung, in denen die sowjetischen Ärzte regelmäßig und systematisch ihre Erkenntnisse erweitern und auf den neuesten Stand bringen sollen, dienen auch der Ausbildung von Fachärzten in den kleinen Spezialfächern. Ein anderes Organ für die Fortbildung der Mediziner sind die zahlreichen ärztlichen Gesellschaften, deren Arbeit von den Gesundheitsministerien dirigiert und kontrolliert wird. Sie haben z. B. — und auch das ist ein Hinweis auf die starke Abhängigkeit der Ärzte — die Teilnehmer an ausländischen Kongressen vorzuschlagen und ihre Referate zu zensieren. 1957 nahmen auf Anordnung der Gesundheitsverwaltung 350 sowjetische Ärzte an medizinischen Fachkongressen im Ausland teil; das bedeutet ein Arzt von 1000 17 . Die enge Spezialisierung der sowjetischen Ärzte ist ein weiteres Detail, das bei der Beurteilung der 18 Ärzte für je 10 000 Einwohner beachtet werden muß. Während bei uns ein Landarzt zum Beispiel ausreichende Kenntnisse in der inneren Medizin, in der kleinen Chirurgie, in der Geburtshilfe und Frauenheilkunde, in der Neurologie und meistens auch f ü r die erste Versorgung der Haut-, der Augen- und anderer besonderer Kranken mitbringt, muß ein sowjetisches Landambulatorium dafür schon mit zehn vollen oder Teil-Plansstellen f ü r 155

die entsprechenden Fachärzte besetzt werden, so daß insgesamt etwa vier volle Stellen herauskommen. Die geringe Zahl der vorhandenen Ärzte zwingt auf dem Lande gerade aus diesem Grunde zu stärkerer Konzentrierung der ärztlichen Versorgung in größeren, rentablen Einheiten. Der Ärztemangel auf dem Lande hat natürlich noch andere U r sachen, die ich mit dem Kulturgefälle bereits angedeutet habe. Für den jungen Arzt, der sich in der Institutsstadt gerade an eine gewisse Zivilisation gewöhnt hat, scheinen die primitiven ländlichen Lebensbedingungen an vielen Orten eine rechte Zumutung zu sein. Außerdem sind die kleinen Krankenhäuser und Ambulatorien in den Dörfern für ihn nicht attraktiv, da ihm hier das Vorbild erfahrener Kollegen und Lehrer fehlt, die ihn fortbilden können. So ist die starke Fluktuation der Landärzte und ihr Horror vor der Arbeit auf dem Lande zu erklären. Ich darf das nur durch eine Zahl belegen: In dem Zeitraum von 1953 bis 195S hat das Gesundheitsministerium der Russischen Sowjetrepublik 15 000 Jungärzte auf ländliche Arbeitsstellen kommandiert. Durch die gleichzeitige Abwanderung anderer Landärzte oder die Befehlsverweigerung der Hochschulabsolventen hat sich jedoch die Gesamtzahl der Landzahl in diesem Zeitraum nur um 639 erhöht 1 8 . Bei den vielen Schwierigkeiten mit denen der sowjetische Arzt zu kämpfen hat, drängen sich die Fragen auf: Wie bewältigt er diese Probleme, wie erhält er seine Autorität gegenüber den Kranken, wie ist sein Ansehen, seine Stellung in der Gesellschaft? Es ist nicht ganz korrekt, vom sowjetischen Arzt zu sprechen. Wir müssen als Prototyp die Ärztin wählen, denn der ärztliche Beruf ist in der Sowjetunion zu einem Frauenberuf geworden. Das weibliche Geschlecht stellt 75 °/o aller Ärzte. Das ist in der Meinung der Russen ein leuchtendes Beispiel für die Gleichberechtigung und die Befreiung der Frau. Allerdings scheinen sich die Frauen mehr auf die unteren Dienstgrade zu konzentrieren, denn schon unter den Leitern der Krankenhäuser und Polikliniken beträgt ihr Anteil nur noch 57 °/o, und im medizinischen Olymp, unter den Ordentlichen und Korrespondierenden Mitgliedern der Akademie der Medizinischen Wissenschaften, sind die Damen nur mit 5 % vertreten. Die Achtung des Mannes auf der Straße vor einem hochqualifizierten Wissenschaftler ist in der Sowjetunion sehr hoch. Der Titel Professor oder Mitglied der Akademie hat ein Gewicht, das von Staats wegen durch die wirtschaftlichen Verhältnisse dieser Personen untermauert wird; denn auch in einem sozialistischen Lande ist die Bezahlung ein Maßstab für das Ansehen, das der Arzt genießt. Das Einkommen beginnt bei vergleichsweise niedrigen Sätzen. Der jüngste Assistenzarzt erhält monatlich 500—600 Rubel. Dann steigt das Gehalt 156

zum Beispiel für einen Stationsarzt mit 2 0 — 4 0 Betten (also entsprechend unserer Vergütung nach T O A III) auf 9 0 0 — 1 0 0 0 Rubel und für den Leiter eines großen Krankenhauses mit mehr als 1000 Betten schon auf 1800 Rubel. Ein guter Facharbeiter verdient, um nur einen Maßstab anzudeuten, 9 0 0 — 1 2 0 0 Rubel im Monat. Bei den höher qualifizierten und wissenschaftlich tätigen Ärzten nimmt das Gehalt dann steil zu. Ein Ordinarius erhält neben der Bezahlung für seine ärztliche Tätigkeit monatlich 5000 Rubel; ebenso hoch wird der Direktor eines Forschungsinstitutes dotiert 1 9 . Das Gehalt des Präsidenten der Akademie der Medizinischen Wissenschaften können wir auf 20 bis 25 000 Rubel im Monat schätzen. Die Pflichten des Arztes unterscheiden sich, wenn man den politischen Aspekt außer Acht läßt, nicht wesentlich von unseren Standesvorschriften. So darf zum Beispiel der Arzt nur mit der Einwilligung des Patienten bzw. der Angehörigen einen operativen Eingriff ausführen. U m dieses Gesetz rankt sich seit etwa einem J a h r in der medizinischen Fachpresse eine lebhafte Diskussion 2 0 . Ein Drittel der veröffentlichten Leserzuschriften spricht sich klar für das Gesetz und für das Recht auf den eigenen Körper aus, während die Mehrheit eine Einschränkung in dem Sinne fordert, daß bei Lebensgefahr ein Konsilium von Ärzten auch gegen den Willen des Patienten und der nicht einsichtigen Angehörigen eine Operation vertreten kann. Die Diskussion zeigt, daß das alte Gesetz bei den Ärzten und im Rechtsempfinden des Volkes unverändert seine Kraft besitzt. Anders ist es schon mit der ärztlichen Schweigepflicht. Natürlich erkennen auch die Russen an, daß das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient auf der Bewahrung der persönlichen Mitteilungen in der Sprechstunde und der Befunde beruht; aber eine Vorschrift darüber gibt es nicht. Im Gegenteil. Die offizielle Einstellung dazu besagt: „Die Frage der ärztlichen Schweigepflicht kann bei uns nur unter dem Aspekt der staatlichen Zweckmäßigkeit betrachtet werden, gegründet auf dem Klasseninteresse der Volksmassen und auf dem allgemeinen Interesse des Gesundheitsschutzes" 21 . Hier wird bereits die Frage, ob der Arzt dem Individuum oder der Gesellschaft mehr verpflichtet sei, eindeutig zugunsten der Gesellschaft entschieden. Viel stärker noch k o m m t diese Tendenz in der Kontrolle zum Ausdruck, die die Gesellschaft über den Arzt und die Gesundheitseinrichtungen ausübt. Die Mitwirkung der Öffentlichkeit ist eine der grundlegenden Forderungen des kommunistischen Gesundheitsschutzes. D e r Arzt wird dadurch systematisch seiner historischen ExklusivStellung entkleidet. E r ist nicht mehr, wie im Anfang seiner Standesentwicklung, Priester, sondern nur noch Funktionär des Kollektivs, und das Kollektiv fordert von ihm Rechenschaft. Dazu dienen regel157

mäßige Versammlungen, in denen die Ärzte vor den Einwohnern ihres Bezirkes über ihre Arbeit berichten und sich von den Patienten kritisieren lassen. Dazu dienen die sogenannten „Laienräte", die an allen Krankenhäusern, Polikliniken, Apotheken und sonstigen Anstalten aus Vertretern der Partei und der Massenorganisationen gebildet werden. Sie haben das Kontrollrecht über alle Arbeitsvorgänge und dürfen sich auch in rein ärztliche, innerbetriebliche Vorgänge einmischen 22 . Schließlich wird die gesellschaftliche Kontrolle auch durch die offene, namentliche Kritik an Ärzten in der Tagespresse realisiert, wenn ein Arzt die Standesvorschriften verletzt oder, zum Beispiel durch Alkoholmißbrauch, gegen die ärztliche Ethik verstößt. Wie steht es überhaupt mit der ärztlichen Ethik in der Sowjetunion? Sie besteht nicht an sich, sondern ist ein Bestandteil der „kommunistischen Moral". „Die kommunistische Moral", so heißt es in der Definition des philosophischen Wörterbuches 23 , „ordnet sich den Interessen des Klassenkampfes unter. Vom Standpunkt der kommunistischen Moral ist nur das sittlich und moralisch, was die Beseitigung jeder Ausbeutung und Armut fördert und was die neue sozialistische Gesellschaftsordnung stärkt." Semasko 25 , der erste sowjetische Volkskommissar für Gesundheitswesen, folgert daraus: „Die vordringliche Aufgabe der sogenannten ärztlichen Ethik ist die politische Schulung des Arztes." In der Tat nehmen die politische Schulung und die Beaufsichtigung durch die Partei und die Mediziner-Gewerkschaft im Leben und im Zeitplan des sowjetischen Arztes erheblichen Raum ein. Das gilt auch für prominente Mediziner und das beschränkt sich nicht auf ideologische Seminare, Kurse an den Universitäten für Marxismus und Leninismus und Agitationsversammlungen, sondern auch groß angelegte Kampagnen fallen darunter. Vor einigen Jahren stand ein Propaganda-Feldzug, in dem die fortschrittlichen, politisch aktiven Kräfte angesprochen wurden, unter der Parole „Ärzte auf's Land". Zur Zeit läuft eine solche Kampagne, die deutlich von der Partei initiiert wurde, und mit der dem Ärztemangel an der Peripherie abgeholfen werden soll. Mitglieder des Lehrkörpers der Medizinischen Hochschulen und des Stabes der medizinischen Forschungsinstitute stellen sich nach ihrer eigentlichen Arbeit zur Verfügung, um in Polikliniken und Ambulatorien Sprechstunden abzuhalten 24 . So werden die Ärzte auch in ihrer Freizeit zum Wohle der Gemeinschaft beschäftigt. Ich darf mit einem Zitat von Semasko25 schließen, das bei aller Gemeinsamkeit des ärztlichen Wirkens in Ost und West den grundsätzlichen Unterschied zwischen dem Arzt in der Sowjetunion und in einem demokratischen Lande zum Ausdruck bringt: „Der sowjetische Arzt ist zuerst Bürger eines sowjetischen Landes. Er ist ein Mann des 158

öffentlichen Lebens, der auf dem verantwortungsvollen sozialistischen A u f b a u s arbeitet."

Gebiet

des

Anmerkungen : Trofimov V.V., Klin. med., Moskva, 37 (1959), 1, 12-18. Müller-Dietz, H., Die medizinische Ausbildung in der Sowjetunion. Berichte d. Osteuropa-Inst. Berlin, H. 35, Berlin 1958. 3 Rozenfel'd I.I., Sov. zdravoodir., 18 (1959), 25-31 4 Kuraäov S.V., Med. rabotnik, Moskva, 98 (1950), vom 7.12.1960. 5 Ivanov Ju.N., Zdravoochr. Ross. Fed., 4 (1960), 6, 3-6. 6 Med. rabotnik, Moskva, Nr. 53 (1277) vom 2. 6. 1954. 7 Bol'iSaja Midicinskaja Enciklopedija, 2. Aufl., Moskau 1958, Bd. 5, Sp. 1123 ff. 8 Zdravoochranenie v SSSR. Stat. sbornik, Moskau 1957. 9 Trofimov V.V., Kazakov B.N., Zdravoochr. Ross. Fed., 2 (1957), 10, 38-46. w Sov. zdravoochr., 19 (1960), 7, 97. 1 1 Rostockij I.D., Gorodskaja bol'nica s poliklinikoj. Moskva 1955, S. 46. 1 2 Bogatyrev I.D., Vrac. delo, Kiev, 1957, 7, 745-750. 1 3 Krupin A., Med. rabotnik, Moskva, Nr. 24 (1458) vom 23. 3. 1956. 1 4 Trud, Moskva, vom 3. 12. 1960. 15 Müller-Dietz H., Die Sozialversicherung in der UdSSR. Berichte d. Osteuropa-Inst. Berlin, H. 40, Berlin 1959. 1 6 BruSlinskaja L.A., Zdravoochr. Ross. Fed., 2 (1958), 1, 41 f. 17 Müller-Dietz H., Die Akademie der Medizinischen Wissenschaften der UdSSR. Berichte d. Osteuropa-Inst. Berlin, H. 45, Berlin 1960. 18 Zdravoochr. Ross. Fed., 3 (1959), 3, 38-40. 19 Artem'ev F.A., Regulirovanie truda medicinskich rabotnikov. Moskau 1954. 2 0 Med. rabotnik, Moskva, Nr. 77 (1929) vom 23. 9. 1960. 2 1 Bol'üaja Medicinskaja Enciklopedija, 1. Aufl., Moskau 1928, Bd. 5, Sp. 678-683. 2 2 Med. rabotnik, Moskva, Nr. 49 (1901) vom 17. 6. 1960. 2 3 Kratkij filosofsk. slovar', Moskau 1955. 2 4 Kovalenko P.P., Zdravoochr. Ross. Fed., 4 (1960), 6, 17-21. 2 5 Semasko N.A., Izbrannye proizvedenija, Moskau 1954, S. 250. 1

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M A R X I S M U S U N D ATHEISMUS Von M a r c e l

Reding

Der Marxismus hat den Atheismus und den Religionskampf in einem bisher unerhörten Ausmaß über die Menschheit gebracht. Das ist eine Tatsache. Eine Frage aber ist, ob der Marxismus in seinem innersten Kern, in seinem Wesen, atheistisch sei oder doch notwendig mit dem Atheismus verbunden. Die Antwort darauf scheint leicht und gewiß. Der Marxismus ist Materialismus, Materialismus Atheismus. Zudem haben Marx und die Marxisten den Atheismus als eine solche Selbstverständlichkeit und als so innig mit dem Marxismus verbunden gefühlt, daß weiteres Fragen darüber überflüssig erscheint. Wenn wir trotz dieser und anderer Überlegungen behaupten, der Atheismus gehöre zwar faktisch, aber nicht wesensnotwendig zum Marxismus, dann haben wir den Schein gegen uns und die Last des Beweises auf uns. Mag der Atheismus den Vätern des Marxismus auch als eine historische Notwendigkeit und eine zeitgemäße Selbstverständlichkeit erschienen sein, so braucht er dafür noch nicht aus dem Wesen des Marxismus selbst zu folgen, was jetzt näher zu zeigen ist. Dabei ist es unmöglich, auf alle mit unserer Frage zusammenhängenden Probleme einzugehen. Erschöpfend kann das Thema nur in immer erneuten, genau umgrenzten Analysen behandelt werden. Unter Wesen des Marxismus ist keineswegs die Summe aller Aussagen von Karl Marx oder der späteren Marxisten zu verstehen, sondern jene Mitte des Marx'schen Denkens, aus der heraus sich der Marxismus in seiner systematischen Mannigfaltigkeit und seinen geschichtlichen Variationen entfaltet, ohne die er bei allem Wandel nicht mehr Marxismus sein könnte. Welches ist diese Mitte? Ist sie eine besondere Methode oder ein besonderer Inhalt? Wenn bloß Methode, dann ist verständlich, daß der Marxismus keinen anderen Inhalt hat als den der Einzelwissenschaften selber. Dann wäre er atheistisch höchstens wie andere Wissenschaften, die über Gott nicht reden, weil sie sich zu einer solchen Rede von ihrem Gegenstand und von ihrer Methode her nicht berechtigt fühlen. Oder ist der Marxismus eine bewußt materialistische Metaphysik, wie z. B. die des 18. Jahrhunderts, dann folgt zwar der Atheismus aus ihr, dann erhebt sich aber die Frage nach dem ideologischen Charakter auch dieser Metaphysik, der Verdacht, ob dieser Materialismus wie frühere 160

Materialismen oder Spiritualismen nicht Überbau einer gewissen Geschichtsepoche ist, keineswegs aber, wie logische und mathematische Wahrheiten, in unerschütterlich objektiven, überzeitlichen Sachverhalten gegründet. Die Marxismen Marxens, Engels', Lenins, Stalins, aber auch Max Adlers, um nur einen Austromarxisten zu nennen, enthalten sonder Zweifel solche zeitbedingten ideologischen Momente in dem strengen Sinne, daß sie zwar alle eine Zeit gelten, ohne echt gültig zu sein. Sie gehören nicht zum Wesensbau des Marxismus, der soweit und insofern er eine gültige Aussage über Geschichte im allgemeinen sein will, übergeschichtliche Wahrheit besitzen muß. Denn wie könnte er gültige Aussage über alle Geschichte sein, wenn er vergängliches Produkt einer Geschichtsepoche wäre. Mag er auch in einer bestimmten Geschichtsepoche entdeckt worden sein, mag er auch nur in dieser Epoche entdeckt worden sein können, sobald er als gültiges Gesetz aller geschichtlichen Veränderung entdeckt war, mußte er für alle Epochen, die vergangenen und zukünftigen gültig sein. Welches ist nun dieser mögliche gültige Kern des Marxismus? Wenn wir Marx selber befragen und die Geduld haben, in seinen Antworten Wesentliches und Unwesentliches zu scheiden, können wir hoffen, eine in dem lang dauernden Streite über die Frage befriedigendere und gewissere Auskunft zu erhalten, als sie bisher gegeben wurde. Ich möchte von einem Text ausgehen, der allgemein bekannt ist, von Marx selber und allen Marxkennern als wesentlich anerkannt wird und der die Brücke von jungen zum alten Marx schlägt, also jenseits des Streites über jungen und alten Marx steht. Marx war von Hause aus Jurist und Philosoph, der sich erst als Journalist gezwungen sah, sich mit materiellen, ökonomischen Fragen näher zu befassen. Die Beschäftigung mit diesen ökonomischen Fragen führte ihn zu einer tieferen Einsicht in die geschichtliche Gesetzlichkeit. „ D a s a l l g e m e i n e R e s u l t a t " , schreibt M a r x i m V o r w o r t zur K r i t i k der P o l i tischen Ö k o n o m i e 1 , „ d a s sich m i r e r g a b u n d , e i n m a l g e w o n n e n , meine S t u d i e n z u m L e i t f a d e n diente, k a n n k u r z so f o r m u l i e r t w e r d e n : I n der gesellschaftlichen P r o d u k t i o n ihres L e b e n s gehen die Menschen b e s t i m m t e , n o t w e n d i g e , v o n ihrem Willen u n a b h ä n g i g e V e r h ä l t n i s s e ein, P r o d u k t i o n s v e r h ä l t n i s s e , die einer bes t i m m t e n E n t w i c k l u n g s s t u f e ihrer materiellen P r o d u k t i v k r ä f t e entsprechen. D i e G e s a m t h e i t dieser P r o d u k t i o n s v e r h ä l t n i s s e bildet d i e ökonomische S t r u k t u r der G e s e l l s c h a f t , die reale B a s i s , w o r a u f sich ein juristischer u n d politischer Ü b e r b a u erhebt, u n d welcher b e s t i m m t e gesellschaftliche B e w u ß t s e i n s f o r m e n entsprechen. D i e P r o d u k t i o n s w e i s e des materiellen L e b e n s b e d i n g t den sozialen, politischen u n d geistigen L e b e n s p r o z e ß ü b e r h a u p t . E s ist nicht d a s B e w u ß t s e i n der M e n schen, d a s ihr Sein, s o n d e r n u m g e k e h r t ihr gesellschaftliches Sein, d a s ihr B e wußtsein b e s t i m m t . "

Zunächst ist zu bemerken, daß Friedrich Engels in Übereinstimmung mit diesen grundsätzlichen Zeilen, bei seinem Nachruf an dem 11 Universitätstage 1961

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Grabe von Karl Marx, den Leitfaden, und d. h. das allgemeine Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte und das damit verbundene spezielle Gesetz der kapitalistischen Produktionsweise als die zwei großen Entdeckungen seines verstorbenen Freundes bezeichnet hat. Hier besteht volle Übereinstimmung zwischen Marx und Engels. Dann ist zu fragen, was der Marx'sche Text selber meint und voraussetzt, nicht gemäß unseren Wünschen, sondern gemäß Marxens eigenen Ausführungen selbst. Politik, Recht, Kunst, Moral, Philosophie, Religion sind durch den Unterbau bedingt. Aber dieses Bedingtsein ist ein mannigfaches, verschiedenartiges. Die Uberbauten gehen in ihrer Entwicklung oft eigene, selbständige Wege, die mit der ökonomischen Basis zwar im Zusammenhang stehen, aber in je verschiedenem Zusammenhang. Bei gleicher ökonomischer Basis z. B. gibt es unter dem ausgehenden Zarismus eine korrupte Politik und Moral und eine Kunst ersten Ranges. Ist der Uberbau rein zeitbedingt, wird er bei allem Wandel einmal völlig verschwinden? Nach dem Kommunistischen Manifest ja, nach dem späteren Marx nein. Nach dem Kommunistischen Manifest muß sich jeder Überbau mit der Auflösung der Klassenspaltung überhaupt auflösen. Andererseits muß sich Moral, wenn eine kommunistische Gesellschaft möglich sein soll, in einer Art vervollkommnen, daß der Mensch nicht mehr aus bloß egoistischen sondern aus moralischen Antrieben arbeiten wird, wie Marx, Engels, Lenin, Stalin, Chrustschow übereinstimmend erwarten und erwarten müssen, d. h. aber: mag Moral als Überbau dieser oder jener Gesellschaftsform absterben müssen, auf Moral überhaupt kann auch in der klassenlosen Gesellschaft nicht verzichtet werden. Diese Probleme sollen uns hier nicht weiter beschäftigen, 2 sondern das Problem des Unterbaus des Unterbaus, der Basis der Basis. Die Produktion schafft die Produktionsverhältnisse, die Produktionsverhältnisse den ideologischen Uberbau. Die reale Basis der Produktion ihrerseits sind der Mensch und die Natur, Subjekt und Objekt, Materie und Formprinzip der Produktion. Subjekt und Objekt der Produktion haben ihrerseits, wie die Produktion selber, ihre Voraussetzungen, die nicht mehr Dinge sind, nicht mehr selbständige Wirklichkeiten, sondern Ding-, Wirklichkeitsstrukturen, die jenseits des Gesetzes von Basis und Überbau stehen, dieses vielmehr erst ermöglichen. Soll Produktion die N a t u r und Menschenwelt umgestalten können, muß sie selber bleiben, was sie ist, müssen der Mensch, die N a t u r bleiben, was sie sind, indem sie sich verändern. Eine Produktion, die nicht mehr Produktion wäre, könnte nichts mehr produzieren, und Ähnliches gilt für Subjekt und Objekt der Produktion. Es muß also in der Produktion, in ihrem Subjekt und in ihrem 162

Objekt, dauernde, unveränderliche Strukturen neben den sich wandelnden geben. Sie näher zu untersuchen, wäre Sache der Ontologie. Soweit diese ontologischen Analysen richtig sind, sind sie auch erkenntnistheoretisch gültig, was nicht besagt, daß sie seit jeher schon bekannt gewesen wären. Ihre Entdeckung gehört vielmehr bestimmten Epochen der Geschichte an, die die Produktion zu einer zuvor kaum geahnten Stufe entwickelt haben. Erst in einer Zeit, in der die Arbeit, Arbeitsund Produktionsformen so mannigfach geworden sind, daß der Mensch nicht mehr an eine Art der Produktion gebunden ist, sondern von einer Arbeit zur anderen, von einer Produktionsform zur anderen im wirklichen Berufswechsel nach Belieben übergehen kann, bekommt die bereits für jede Epoche Gültigkeit besitzende allgemeine Struktur ihre letzte praktische, volle Gültigkeit, so wie ein Kleid, das im Schaufenster hängt, bereits getragen werden kann, diese Funktion aber erst im wirklichen Getragenwerden letztlich realisiert. Aber handelt es sich, so wird man fragen, bei dem, was zu Basis und Uberbau zusätzlich gesagt wurde, auch um Marx'sches Gedankengut oder nicht vielmehr um platonische oder scholastische, dem Marxismus stilfremde Anbauten? Marx hat sich zu unserem Problem in der von ihm nicht veröffentlichten Einleitung zur „Kritik der politischen Ökonomie" ausgesprochen. Die Ausführungen der Einleitung sind nicht weniger wichtig als die der Vorrede. Marx ließ sie damals nicht drucken, nicht weil er sie nicht für richtig gehalten hätte, sondern weil er sie als Vorwegnahme von Resultaten hielt, zu denen erst angemessen hingeführt werden mußte. In dieser Einleitung zeigt Marx, daß es gewisse, allgemeinste, einfache Kategorien gibt, die einfachste Sachverhalte aussprechen, die über alle Geschichtsepochen hin invariabel gelten, so z. B. die Kategorien der Produktion, der Arbeit, der Natur, des Menschen. Produktion im allgemeinen ist eine Abstraktion, aber eine verständige Abstraktion. Hören wir Marx: „ A l l e Epochen der P r o d u k t i o n haben gewisse M e r k m a l e gemein, gemeinsame Bestimmungen. D i e P r o d u k t i o n im Allgemeinen ist eine Abstraktion, aber eine verständige A b s t r a k t i o n , sofern sie wirklich das Gemeinsame hervorhebt, fixiert, und uns daher die Wiederholung erspart. Indes dies Allgemeine, oder das durch Vergleichung herausgesonderte Gemeinsame, ist selbst ein vielfach Gegliedertes, in verschiedene Bestimmungen Auseinanderfahrendes. Einiges d a von gehört allen Epochen; andres einigen gemeinsam. [Einige] Bestimmungen werden der modernsten Epoche mit der ältesten gemeinsam sein. Es wird sich keine P r o d u k t i o n ohne sie denken lassen; allein, wenn die entwickeltsten Sprachen, Gesetze und Bestimmungen mit den unentwickeltsten gemein haben, so muß gerade das, w a s ihre Entwicklung ausmacht, den Unterschied von diesem Allgemeinen und Gemeinsamen, die Bestimmungen, die f ü r die Produktion überhaupt gelten, müssen g r a d e gesondert werden, damit über der Einheit — die schon d a r a u s hervorgeht, d a ß d a s Subjekt, die Menschheit, und das Objekt, die N a t u r , dieselben — die wesentliche Verschiedenheit nicht vergessen w i r d . " 3

ir

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D a s P h ä n o m e n der P r o d u k t i o n w i r d also v o n M a r x als ein einfacher, durch alle E p o c h e n d u r c h g e h e n d e r , identischer Sachverhalt anerk a n n t , wie auch die I d e n t i t ä t v o n S u b j e k t , v o n O b j e k t i m allgemeinen i n n e r h a l b dieser E p o c h e n . M a r x spricht nicht d a v o n , wie bisweilen i n t e r p r e t i e r t w u r d e , daß S u b j e k t u n d O b j e k t in allen diesen E p o c h e n m i t e i n a n d e r identisch w ä r e n , w o h l aber, daß in den verschiedensten E p o c h e n S u b j e k t S u b j e k t bleibt u n d O b j e k t O b j e k t . A n a n d e r e r Stelle beschäftigt sich M a r x m i t d e m historischen U r s p r u n g der E r k e n n t n i s dieser gleichbleibenden S t r u k t u r e n u n d Begriffe. A r b e i t u n d P r o d u k t i o n sind u r a l t e B e z i e h u n g e n , die aber erst bei hochentwickelter A r b e i t in ihrer R e i n h e i t e r k a n n t w e r d e n . „Die Gleichgültigkeit gegen eine bestimmte Art der Arbeit", schreibt Marx 4 , „setzt eine sehr entwickelte Totalität wirklicher Arbeitsarten voraus, von denen keine mehr die alles beherrschende ist. So entstehn die allgemeinsten Abstraktionen überhaupt nur bei der reichsten konkreten Entwicklung, wo Eines vielen Gemeinsam erscheint, allen gemein. Dann hört es auf, nur in besonderer Form gedacht werden zu können. Andrerseits ist diese Abstraktion der Arbeit überhaupt nicht nur das geistige Resultat einer konkreten Totalität von Arbeiten. Die Gleichgültigkeit gegen die bestimmte Arbeit entspricht einer Gesellschaftsform, worin die Individuen mit Leichtigkeit aus einer Arbeit in die andre Übergehn und die bestimmte Art der Arbeit ihnen zufällig, daher gleichgültig ist. Die Arbeit ist hier nicht nur in der Kategorie, sondern in der Wirklichkeit als Mittel zum Schaffen des Reichtums überhaupt geworden, und hat aufgehört als Bestimmung mit den Individuen in einer Besonderheit verwachsen zu sein. Ein solcher Zustand ist am entwickeltsten in der modernsten Daseinsform der bürgerlichen Gesellschaften — den Vereinigten Staaten. Hier also wird die Abstraktion der Kategorie „Arbeit", „Arbeit überhaupt", Arbeit sans phrase, der Ausgangspunkt der modernen Ökonomie, erst praktisch wahr. Die einfachste Abstraktion also, welche die moderne Ökonomie an die Spitze stellt, und die eine uralte und für alle Gesellschaftsformen gültige Beziehung ausdrückt, erscheint doch nur in dieser Abstraktion praktisch wahr als Kategorie der modernsten Gesellschaft. Man könnte sagen, was in den Vereinigten Staaten als historisches Produkt, erscheine bei den Russen z. B. — diese Gleichgültigkeit gegen die bestimmte Arbeit — als Naturwüchsige Anlage. Allein einmal verteufelter Unterschied, ob Barbaren Anlage haben zu allem verwandt zu werden, oder ob Zivilisierte sich selbst zu allem verwenden. Und dann entspricht praktisch bei den Russen dieser Gleichgültigkeit gegen die Bestimmtheit der Arbeit das traditionelle Festgerittensein in eine ganz bestimmte Arbeit, woraus sie nur durdi Einflüsse von außen herausgeschleudert werden. Dies Beispiel der Arbeit zeigt schlagend, wie selbst die abstraktesten Kategorien, trotz ihrer Gültigkeit — eben wegen ihrer Abstraktion — für alle Epochen, doch in der Bestimmtheit dieser Abstraktion selbst ebensosehr das Produkt historischer Verhältnisse sind und ihre Vollgültigkeit nur für und innerhalb dieser Verhältnisse besitzen." A r b e i t ist d e m n a c h eine einfache, u r a l t e f ü r alle Zeiten identische B e z i e h u n g , ein einfacher, f ü r alle Zeiten g ü l t i g e r B e g r i f f , der erst bei hochentwickelter A r b e i t entdeckt u n d auch d o r t erst voll gültig w i r d . D a m i t h a t M a r x einige n o t w e n d i g e V o r a u s s e t z u n g e n des U n t e r haus nachgewiesen. 164

räumlich-zeitlich und bewegt ist, bewegliches Seiendes nach der alten aristotelischen Bestimmung des Gegenstandes der Physik, dann können wir feststellen, daß es eine Stufenleiter der Materien im Marx'schen Materialismus gibt: Die beobachtbare geschichtliche Wirklichkeit ist Materie des Studiums, Materialismus Studium dieser Wirklichkeit. Materie im ausgezeichneteren Sinne ist die ökonomische Basis dieser Wirklichkeit, Materie wieder die Basis der Basis, der Mensch und die Natur, Materie die allgemeinsten Strukturen von Mensch und besonders von Natur als Objekt der menschlich gesellschaftlichen Praxis. Gibt es, so soll jetzt weiter gefragt werden, außer diesen und anderen für den Leitfaden notwendigen Voraussetzungen im faktischen Bestand der marxistischen Aussagen zusätzlich noch solche, die nach strenger Logik nicht mehr notwendig, höchstens noch möglich, eigentlich überflüssig sind? Ist es z. B. notwendig zur Behauptung, es gebe wirkliches, räumlich-zeitlich bewegtes Seiendes, zusätzlich zu behaupten, es gebe ursprünglich und substantiell ausschließlich solcherlei geartetes Seiendes, und zwar so, daß alles übrige Seiende sich auf bestimmte Weise aus ihm entwickle, daß also Materie, im Gegensatz zum Geist, die aligemeinste Kategorie sei? Ist es notwendig zur Behauptung, der Mensch verdanke sein geschichtliches Sein der Arbeit, zusätzlich zu behaupten, er verdanke dieses sein Sein ausschließlich seiner Arbeit? Man sieht zwar die Möglichkeit solcher Behauptungen im Ausgang vom Leitfaden ein, auch ihre Natürlichkeit und scheinbare Selbstverständlichkeit in der historischen Situation des Gegenschlags gegen ein verlogen-vergeistigtes Christentum und einen wirklichkeitsfremden Idealismus, aber keineswegs auch, schon die einfach sachliche Notwendigkeit dazu und außer ihren Vorteilen für ein geschlossenes Denken auch ihre schwere Belastung mit Zweifeln besonders für ein Denken, das wie das Marx'sche das Auge für Kritik und die Nase für Ideologiegeruch geschärft hat. Genau hier steht der Marxist wie seinerzeit Herakles am Scheidewege: ob er den leichten bequemen Weg des Positivismus oder des Dogmatismus einschlägt oder sich immer neu kritisch um die notwendigen Grundlagen des Leitfadens mit den dazu gehörigen Konsequenzen und Idealen müht und damit die Entscheidung für seine Ideale entweder im Falle des Dogmatismus mit allerhand möglichem Weltanschauungsmaterial belastet, beziehungsweise im Falle einer positivistischen Auflösung des Marxismus in Einzelwissenschaft diese Ideale sich in der Einzelforschung verschwinden läßt oder sie in möglichst kritischer Reinheit herausstellt, ihre Grundlegung und Ausarbeitung auf die Frage nach dem Sinn und der Verständlichkeit der Geschichte, nach dem J a oder Nein zur Ausbeutung eines Menschen durch den anderen 165

Rechnen wir hinzu, daß die N a t u r als der Gegenstand der Arbeit eingrenzt und auf ihre notwendigen Voraussetzungen und Konsequenzen prüft. Es ist nicht einzusehen, weshalb derjenige, der sich zum Leitfaden bekennt, genötigt sein sollte, den ganzen Bestand z. T. veralteter Ideen des 19. und 20. Jahrhunderts mitzuübernehmen, sich statt für genau umschriebene Inhalte f ü r unbewiesene problematische und keineswegs notwendige Voraussetzungen sollte entscheiden müssen. Genau so wenig wie ein Aristoteliker, ein Thomist oder Hegelianer die ganzen Bestände veralteter Wissenschaft damaliger Zeit zu übernehmen braucht und doch noch und heute vielleicht vertretbarerweise nur so noch Aristoteliker, Thomist und Hegelianer sein kann, genau so wenig ist der Marxist gezwungen, alle alten Bestandteile des Marxismus mitzuschleppen, um noch Marxist sein zu können. Vielleicht kann er heute nur noch unter Preisgabe gewisser veralteter Bestandteile vernünftiger- und berechtigterweise Marxist sein. Wohlgemerkt: eine solche Entscheidung für eine alte Metaphysik bleibt nach Geschmack zwar noch möglich, sie ist aber vom Boden des Leitfadens her keineswegs notwendig. Im 19. Jahrhundert, der Zeit der höchsten Blüte der klassischen Naturwissenschaft, lag es nahe, der gängigen philosophischen Deutung des damaligen Standes dieser Wissenschaft gemäß die Frage nach der Materie mechanistisch-materialistisch zu beantworten. Diese Antwort hatte den Vorteil, dem Marxismus die Werbekraft der Wissenschaftlichkeit in einem mit dem Range einer totalen Weltanschauung zu sichern, einer Weltanschauung, aus der die mit dem Leitfaden verbundenen Intentionen und Interessen sich logisch ableiten ließen. So bestand die große Versuchung, den Leitfaden mit einem zwar neuartigen, aber doch wieder metaphysischen Materialismus zu sichern. Wie der Aristotelismus des Mittelalters sollte der Marxismus die ideale Grundlage und Synthese des neuzeitlichen wissenschaftlichen Denkens sein. Damit war der Bogen freilich überspannt, was wie damals für den Aristotelismus im Falle Galileis und der neuen Naturwissenschaft, heute für den Marxismus bemerkbar und verhängnisvoll wird. Die Wissenschaften ändern sich, ihre Deutung macht Fortschritte. Der weltanschauliche Materialismus mag den Leitfaden zwar begründen, aber er ist nur möglicher, keineswegs notwendiger Grund für ihn. Zudem steht er, der das übergeschichtlich gültige Fundament des Leitfadens sein müßte, unter dem schweren Verdacht, ein Echo der Zeit zu sein, die Widerspiegelung des z. T. notwendig vergänglichen, trügerischen Überbaus einer bestimmten Geschichtsepoche. Was von oben, vom Uberbau her, in den Brunnenschacht des Fundaments hineingerufen wird, tönt von dorther wider und wird infolgedessen als die Antwort aus der Tiefe selbst verstanden. Strahl- und Überzeugungskraft des 166

Materialismus zu bestimmter Zeit ließen sich von dorther freilich gut erklären. Will man die Materie des historischen Materialismus kritisch vorsichtig bestimmen, dann scheint — mit Bloch — der alte aristotelische Materiegedanke schon näherliegend, obwohl auch seine Notwendigkeit sorgfältig nachgewiesen, sein Inhalt behutsam bestimmt werden müßte. Dieser Inhalt ist so vielen Interpretationen zugänglich, daß eine metaphysisch materialistische sich höchstens als mögliche herausstellen wird. Angesichts dieser Sachlage wird man den Leitfaden zwar dorthin verstehen müssen, daß er bürgerliche Religion, bürgerliche Philosophie, bürgerliche Moral, bürgerliche Kunst, bürgerliches Recht zum Absterben verurteilt, nicht aber schon Religion, Moral, Kunst, Recht so ohne weiteres. Der Leitfaden würde Religion nur dann mit Notwendigkeit zum Absterben verurteilen, wenn er metaphysisch materialistisch unterbaut sein müßte, wie der Marxismus bisher vielfach gemeint, ja meinen zu müssen geglaubt hat — was jedoch weder denknoch sachnotwendig ist. Der Leitfaden, dieser Kern des Marxismus, ist kein. Ende, sondern ein Anfang schwerster Probleme, die mit zwingenden Argumenten nicht mehr entscheidbar sind, die vorsichtig kritisch, statt dogmatischapriorisch behandelt werden müßten und den R a u m zum Gottes- wie zum Nicht-Gottesglauben offen lassen. Der Leitfaden gehört einer Sphäre der wissenschaftlichen Entscheidbarkeit an, die weit vor der Entscheidung für oder gegen Gott liegt. Seine Gültigkeit kann schon nachgewiesen werden, wenn Gottesglaube und Atheismus noch höchst problematisch sind. Er ist zuverlässig atheistisch erst mit der zusätzlichen, mit vielerlei Problemen belasteten Annahme eines wie auch immer gearteten metaphysischen Materialismus, d. h. aber eines Materialismus, der über die Grenzen möglicher Erfahrung hinaus Behauptungen aufstellt, die weder sachlich notwendig, noch genau hinreichend, sondern für die Begründung des Geschichtsgesetzes des Leitfadens höchstens möglich, überschüssig und überflüssig sind. In diesem Sinne ist der Marxismus wie jede ernsthafte wissenschaftliche Theorie oder Hypothese gegen Gottesglauben und NichtGottesglauben indifferent. Ich fasse zusammen: Es kam mir darauf an, an Hand von zwei entscheidenden Zeugnissen aus Marx und Engels zu zeigen, was der innerste Kern des Marxismus ist. Die Marx-freundliche wie die Marxfeindliche Marxforschung setzen gerade dieses Wissen von dem Kern des Marxismus in eigentümlicher Selbstverständlichkeit voraus und sammeln dann, nicht selten mit Bienenfleiß, die verschiedenartigsten und versdiiedenwertigsten Behauptungen marxistischer Autoren unter dem Titel des Marxismus. — Die vielerlei naturwissenschaftlichen oder 167

naturphilosophischen Erörterungen von Engels z. B. gehören doch offenbar nicht zum Kern des Marxismus, sondern sind der Versuch, diesen Kern mit der zeitgenössischen Wissenschaft in ein erträgliches Verhältnis zu bringen. Demgegenüber ist das Gesetz von Basis und Überbau, seine Anwendung auf unsere kapitalistische Gesellschaft, seine Nutzung zum Entwurf bestimmter Zukunftserwartungen Kern des Marxismus. Zu ihm gehört notwendig, was notwendig aus ihm folgt, was er notwendig voraussetzt: den wirklichen arbeitenden Menschen, die wirkliche bearbeitete Materie der Natur, die elementare gleichbleibende Struktur der Arbeit und der Produktion usw. Der Satz: es gibt außer der Materie — Materie im Gegensatz zu Geist gedacht — keine andere selbständige Seinsart, ist weder notwendiger Grund noch notwendige Folge des Leitfadens. Die Gültigkeit des Leitfadens ist von der Position oder Negation dieses und ähnlicher Sätze unabhängig, die sich damit theoretisch als überflüssig f ü r ihn erweisen. Wenn sie trotzdem zu gegebener Zeit praktisch nützlich und notwendig scheinen, so im Hinblick auf zeitweilige Geistesströmungen, auf den Kampf gegen die zu bestimmter Zeit mit bestimmten politischen Systemen wirklich oder vermeintlich verquickten Religionen. Das sind Gesichtspunkte, die nicht in der Sache, sondern in vergänglichen historischen Umständen verankert sind. Metaphysischer Materialismus und Atheismus sind bisher f ü r gewöhnlich faktisch mit dem Marxismus verbunden gewesen, sie gehören aber nicht wesensnotwendig zu ihm.

Anmerkungen : 1 2 3

4

Berlin 1951, S. 13. Vgl. dazu meine Ausführungen in: Der politische Atheismus, Graz-Köln 1957. Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf) 1857—1858, Berlin 1953, Einl. S. 7. a.a.O. S. 25.

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P E R S Ö N L I C H K E I T U N D KOLLEKTIV IM SOWJETROMAN DER GEGENWART Von J u r i j

Striedter

Die Sowjetliteratur, besonders die Romanliteratur, läßt sich in ihrer Eigenart erst voll erfassen, wenn man sie versteht als einen Versuch, bestimmte politisch vorgegebene Leitbilder vom Sowjetmenschen und von der Sowjetgesellschaft literarisch umzusetzen. D a sich dabei politische Zielsetzung und literarischer Anspruch wechselseitig beeinflussen und auch wechselseitig gefährden, stellt die Geschichte des Sowjetromans eine beständige Realisation und Propagierung wechselnder Leitbilder dar, wie auch umgekehrt einen Prozeß ihrer stetig erneuten Zersetzung. Diese Wechselwirkung bedingt, daß jede gewaltsame Isolierung des politischen oder des künstlerischen Moments bei der Beurteilung des Sowjetromans zu Fehleinschätzungen des einen wie des anderen führen muß. Das zeigt die Auseinandersetzung mit den Sowjetromanen des letzten Jahrzehnts besonders deutlich. Ich möchte hier auf die Diskussion um den „Dr. Zivago" nicht eingehen, da es sich bei diesem Werk zwar um den Roman eines damals in der Sowjetunion lebenden Autors aber zweifellos um keinen Sowjetroman handelt. Hingegen muß der Roman von Vladimir Dudincev „Der Mensch lebt nicht von Brot allein" kurz berührt werden. Er fand nach seinem Erscheinen 1954 im Westen außergewöhnliche Beachtung. D a man die unmittelbar vorausgehenden oder gleichzeitigen sowjetischen Romane kaum kannte, vertraten viele westliche Leser die Ansicht, hier habe zum erstenmal seit langem ein sowjetischer Romancier gegen das System rebelliert. Zwar sah man bald ein, daß der Roman künstlerisch unbedeutend sei und in seinen Darstellungsmitteln nicht über das in der Literatur und Publizistik der Stalinzeit übliche Schema hinausgehe, aber er sei eine treffende Kritik der heutigen Sowjetgesellschaft und ein leidenschaftlicher Protest des Individuums gegen das Kollektiv. Selbst ein so guter Kenner der Sowjetliteratur wie Klaus Mehnert schrieb noch 1957 in einer Rezension des Romans unter dem bezeichnenden Titel „Der Individualist und das Sowjetsystem", das Werk sei ein flammender „Aufruf zur Freiheit des Geistes". Bei kritischer Betrachtung wird man jedoch feststellen müssen, daß die von der Hauptfigur, dem Ingenieur Lopatkin, geforderte Freiheit sich weitgehend darauf beschränkt, die von ihm erfundene Maschine bauen zu dürfen. N u r die Uberzeugung, daß die Funktionäre des Wirt169

schafts- und Wissenschaftsapparates unter Mißbrauch der ihnen vom Kollektiv übertragenen Funktionen aus persönlichen Gründen Modelle protegieren, die dem Kollektiv weniger nützlich sind als seine eigene Erfindung, gibt Lopatkin vor sich selbst (und in der Sicht des Autors) das Recht, sich als Einzelner gegen den Apparat zu stellen. Ja, sie macht es ihm zur moralischen Pflicht, für den Kollektivnutzen jedes persönliche Glück und die persönliche Sicherheit zu opfern. Wert, Recht und Pflicht der Einzelperson werden ausschließlich von ihrem Nutzen für das Kollektiv aus beurteilt und begründet, und von einem Aufruf zu individueller Selbstentfaltung, geschweige denn von einer religiösen Deutung der Persönlichkeit (wie sie manche westlichen Beurteiler aus dem Bibelwort des Titels herauslesen wollten) kann nicht die Rede sein. Das schließt eine Kritik an Mißständen in der Sowjetunion, besonders an der Selbstherrlichkeit der Ministerialbürokratie und der Fabrikdirektoren, nicht aus. Aber eine solche Kritik war weder in der1 Sowjetliteratur neu noch durchbrach sie den Rahmen der „Kritik und Selbstkritik". Sie kam sogar in ihrer Tendenz den bald darauf durchgeführten Wirtschafts- und Verwaltungsreformen Chruscevs entgegen. Daher konnte auch der gleiche Chruscev, der noch 1956 vor den Sowjetschriftstellern Dudincev wegen des lebhaften Beifalls im Ausland heftig angegriffen hatte, 1959 vor dem gleichen Gremium sagen: „Mikojan, der das Werk vor mir gelesen hatte, sagte mir: Liesi es! Es sind darin einige Gedankengänge entwickelt, die er dir abgelauscht haben könnte. J a , Dudincev hat einige negative Erscheinungen geschickt aufgegriffen . . . Ich bin jetzt der Ansicht, daß Dudincev nie unser Feind und kein Gegner der Sowjetordnung war."

Tatsächlich zeigt der Roman, wie sehr sein Autor innerhalb der „Sowjetordnung" steht, wie sehr er — gerade auch in seiner Auffassung von Person und Kollektiv — bei aller Kritik an Einzelheiten in seinen literarischen Mitteln wie in seinen Denkvoraussetzungen systembefangen bleibt. Anders als Dudincevs Roman ist der im gleichen Jahr erschienene Kurzroman Il'ja Erenburgs, „Tauwetter", in seiner literarischen Bedeutung und ideologischen Tragweite im Westen eher unterschätzt worden. Bekannt wurde vor allem sein Titel, weil er der ganzen Phase der sowjetischen Literatur (und Politik) den Namen gab. Aber gelesen und besprochen wurde das Werk im Westen weit seltener als der Roman Dudincevs. Dafür löste es in der Sowjetunion eine lebhafte Diskussion aus, und die dabei geäußerte Kritik veranlaßte Erenburg, 1956 eine veränderte Fassung herauszugeben, die einige verfängliche Stellen des alten Textes abwandelte und einen neuen, zweiten Teil anfügte, in dem die aufgeworfenen Probleme linientreuer weiterdiskutiert werden und alles einen versöhnlichen Abschluß findet. Eine werkgerechte Interpretation hat selbstverständlich nicht von 170

dieser opportunistischen, zweiteiligen Neufassung auszugehen, sondern vom ursprünglichen Text, der 1954 außer in der Zeitschrift „Das Banner" auch schon als selbständiges Buch erschien, bezeichnenderweise ohne Vermerk „Teil 1" oder irgendeinen Hinweis auf eine geplante Fortsetzung. Doch scheint diese Buchausgabe von 1954 im Westen kaum bekannt geworden zu sein. Sogar Gleb Struve schreibt in seiner „Geschichte der Sowjetliteratur", Erenburgs „Tauwetter" sei erst 1956 als Buch erschienen, und stützt sich bei seiner Interpretation fast ausschließlich auf diese zweiteilige Bearbeitung. Das verleitet ihn unter anderem zu der Behauptung, die Hauptpersonen des Romans seien die beiden Maler, sein Thema sei die Kunst, und das formale Hauptmerkmal des Ganzen, die Häufigkeit der „inneren Monologe", gebe dem Werk den Charakter des „Autobiographischen, einer Beichte des Autors". Aber das „Tauwetter" ist, besonders in seiner ursprünglichen Fassung, nicht einfach ein Künstlerroman. Geschildert wird das Alltagsleben einer sowjetischen Stadt aus der Perspektive zahlreicher Personen, die direkt oder indirekt mit der Maschinenfabrik in dieser Stadt in Verbindung stehen — also ein im Sowjetroman der Stalinzeit gebräuchlicher Rahmen. N u r richtet sich das Interesse jetzt statt auf die Fabrik und die Arbeit auf das Privatleben der einzelnen Menschen, ihre Gefühle, speziell ihre Unfähigkeit, das zu sagen, was sie wirklich fühlen und denken, ein Konflikt, der bei allen letztlich aus einem Gegensatz zwischen Persönlichkeit und Kollektiv entspringt. Der einzige, der diesen Konflikt ignoriert, ist der Fabrikdirektor, denn er beurteilt sich selbst und die andern ausschließlich nach ihrem Nutzen für das Kollektiv. Aber gerade deshalb scheitert er persönlich (in seiner Ehe) wie beruflich. Die Kritik am Fabrikdirektor richtet sich hier — anders als bei Dudincev — statt gegen persönliche Interessen oder Intrigen gegen ein starres Denken im Kollektiv-Schema, das jeden Sinn für die Individualität des anderen lähmt (ohne den ein Ehemann ebensowenig wie ein Fabrikleiter auskommen kann). Alle übrigen Personen des Romans spüren den Widerspruch zwischen ihren individuellen Gefühlen und der kollektiven N o r m und suchen ihn durch Verstellung zu verdecken. Die einen werden zu zynisch heuchelnden Opportunisten, weil sie im Kollektiv emporsteigen, etwas gelten wollen, die anderen sind gehemmt, weil sie mit einer Kollektivschuld belastet sind, sei diese familiärer Art (weil Familienmitglieder einst emigrierten oder den politischen „Säuberungen" zum Opfer fielen), sei sie beruflicher A r t (wie bei der Ärztin, die wegen der gerade „aufgedeckten" berühmt-berüchtigten „Ärzteverschwörung" kurz vor Stalins Tod überall Mißtrauen befürchtet). Sogar der bewährte und aufrechte Altkommunist kann im Kreise seiner eigenen Familie nicht 171

aussprechen, was ihn wirklich bewegt, weil er seiner ängstlichen Frau den tödlichen Charakter seiner Krankheit verschweigen will, sein Sohn aber aus Zynismus und seine Tochter aus Fanatismus ihn als „Romantiker" belächeln und mißverstehen. Das Wissen aller um die eigene und allgemeine Verstellung macht jede wirkliche Verständigung von Mensch zu Mensch fraglich, zwingt jeden, sich einzukapseln, macht alle — wie es die Ärztin treffend formuliert — zu „Menschen im Futteral". Erenburg beruft sich hier auf die berühmte Erzählung Cechovs „Der Mensch im Futteral", jene Geschichte von dem zutiefst einsamen Menschen, der aus Angst, gegen die herrschenden Normen zu verstoßen (oder, wie er es selbst nennt, aus Furcht „es könne etwas daraus entstehen"), keinen Mut zur persönlichen Äußerung findet, damit jede Möglichkeit menschlicher Beziehungen verliert und sich in seine Futterale verkriecht, bis er im letzten und verschlossensten, dem Sarg, endet. Nicht nur der äußere Druck, sondern die durch ihn erfolgte innere Verhärtung und Vereinsamung des Menschen wird zum Hauptproblem. U n d in die schüchterne Hoffnung der Romanpersonen Erenburgs, das Frühjahr werde auch ein politisches „Tauwetter" bringen, mischt sich die Frage, ob sie selbst, wenn man wieder freier fühlen und offener reden dürfte, es überhaupt noch können würden, ob nicht ihr jetziges Verhalten bereits zu ihrer zweiten N a t u r geworden sei, ja ob es nicht im Grunde sogar zur ersten, d.h. eigentlichen N a t u r des Menschen gehöre, nicht angemessen aussprechen und mitteilen zu können, was ihn innerlich bewegt. Eine solche Sicht des Menschen distanziert sich in zweierlei Hinsicht kritisch von der für die Romane der 2danov-Aera obligatorischen Auffassung von Persönlichkeit und Kollektiv. Wer den Einzelnen ausschließlich nach seinem Nutzen für das Kollektiv bewertet, macht erstens alle durch den äußeren Druck zu „Menschen im Futteral" und verhindert gerade dadurch das angestrebte vollständige Aufgehen im Kollektiv, und er geht zweitens von dem verhängnisvollen Irrtum aus, der Mensch lasse sich nach seinen Äußerungen von Grund auf beurteilen und entsprechend einplanen, während doch in Wirklichkeit zwischen Außen und Innen ein unversöhnlicher Widerspruch besteht. Als Ideal erscheint statt des Funktionärs im Kollektiv der Mensch mit dem Mut zum persönlichen Gefühl oder — wie es im Roman immer wieder heißt — zur „Romantik". Aber jeder Versuch, so zu sein, zeigt dem Menschen seine Unfähigkeit, sich unmittelbar zu verständigen, zwingt ihn zur Einsicht seiner Einsamkeit. Einzelner zu sein bedeutet im „Tauwetter" nicht nur ein Recht, sondern auch eine N o t . U n d neben die gefühlsbejahende „ R o m a n t i k " tritt eine ausgeprägte Skepsis, verbunden mit dem Wissen, daß der Mensch gerade in seiner beschränkten und 172

gefährdeten Einmaligkeit der Liebe bedarf — ein liebevoller Skeptizismus, der sidi zu Recht wiederholt auf ¿echov beruft. Erst von hier aus werden die im Roman enthaltenen Diskussionen über die Kunst in ihrer Funktion und Bedeutung ganz erkennbar. Kunst soll wahrhaftig sein, sie soll ohne Zynismus aber auch ohne verlogene Idyllik oder Heroisierung den Menschen in seiner individuellen Eigenart erfassen und gerade dadurch der Individualität Allgemeinbedeutung und Dauer verleihen (wie es innerhalb der Romanhandlung der erfolglose aber bedeutendere Maler mit dem Portrait seiner unscheinbaren Frau tut). Kunst soll darüber hinaus die Menschen ermutigen, selbst wahrhaftig zu sein und ihre persönlichen Empfindungen zu bejahen, ohne ihnen dabei vorzulügen, daß dieses einfach sei. U n d dazu ist der Roman vielleicht besser als jede andere Kunstform in der Lage. Denn er kann einerseits Handlungen und Reden unterschiedlich fühlender und denkender Menschen darstellen und andererseits diese Äußerungen mit den verschwiegenen inneren Regungen der Personen konfrontieren. Das geschieht im „Tauwetter" durch den beständigen Wechsel zwischen kurzen, meist aus Gesprächen bestehenden Szenen und den „inneren Monologen", d.h. der Wiedergabe der inneren Bewußtseinsprozesse der einzelnen Personen. Die Häufigkeit der „inneren Monologe" ist also nicht, wie Struve meint, ein autobiographisches Moment, das dem Ganzen den Charakter einer persönlichen Beichte des Autors gibt. Sie ist vielmehr formale Entsprechung der für alle Personen charakteristischen Diskrepanz zwischen dem, was sie denken und fühlen und dem, was sie reden und tun. Das Zentralproblem des Romans wird erst durch diese besondere Form und in ihr gegenwärtig. U n d nicht zuletzt wegen dieser Entsprechung der Problematik mit ihrer Formgebung verdient Erenburgs „Tauwetter" auch vom rein künstlerischen Standpunkt aus Beachtung. Nun könnte man natürlich darauf hinweisen, daß die hier verwendete Technik des „inneren Monologs" ihre Anregung dem modernen westlichen Roman verdankt. Wohl nicht zufällig begegnen wir ihr gerade bei Erenburg, einem der besten sowjetischen Kenner der westlichen Romanliteratur inclusive solcher Autoren wie James Joyce und Marcel Proust (auch wenn zu berücksichtigen bleibt, daß der „innere Monolog" in der russischen Literatur schon vor Proust und Joyce, z. B. im „ T o d des Ivan Il'ic" von Lev Tolstoj, eine entscheidende Rolle gespielt hat). Aber es wäre zu einfach, sich mit dem Hinweis auf „Einflüsse" zu begnügen. Entscheidend bleibt, daß Erenburg die in der literarischen Tradition vorgegebene Technik seiner eigenen Intention und der Darstellung des Sowjetmenschen im beginnenden „Tauwetter" in angemessener Weise dienstbar zu machen versteht. 173

Die an Erenburgs R o m a n dargelegte Art der Menschendeutung und Menschendarstellung ist im Sowjetroman der Gegenwart kein Einzelfall, beschränkt auf den europäisch gebildeten, nicht spezifisch kommunistischen Literaten der älteren Generation. Ähnliches findet man auch bei jüngeren, eindeutig kommunistisch-proletarischen Romanautoren. Das interessanteste und wichtigste Beispiel ist Vera Panova, 1905 geboren, in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, Autodidakt und seit ihrer Jugend als Mitarbeiterin kommunistischer Zeitungen tätig. Ihr erster Roman, „Weggenossen", erschien erst 1946, erhielt den Stalinpreis und machte seine Verfasserin mit einem Schlage zu einem der beliebtesten Romanciers der Sowjetunion. 1947 folgte der Roman „Kruzilicha", 1949 „Helles U f e r " , die beide ebenfalls mit Stalinpreisen ausgezeichnet, trotzdem aber von der linientreuen Kritik als zu „objektivistisch" beanstandet wurden. Panova ließ sich dadurch nicht abschrecken und veröffentlichte 1953 einen neuen Roman, „Jahreszeiten", der noch entschieden „objektivistischer" ist. Er ist Panovas bedeutendstes Werk und wird von manchen (mit guten Gründen) für den besten Sowjetroman der jüngsten Zeit gehalten. Ihm folgte 1955 die Erzählung „Sereza" und 1958 das bisher letzte Werk mit dem Titel „Sentimentaler R o m a n " . Für Panovas Auffassung von Person und Kollektiv ist bereits die Entstehungsgeschichte ihres ersten Romans kennzeichnend. Während des Krieges wurde Panova von der Permer Sektion des Schriftstellerverbandes zu einem Sanitätszug abkommandiert, um mit dem Zugkollektiv eine Propagandabroschüre über diesen Musterzug zu verfassen. Sie begleitete den Zug auf mehreren Fahrten an die Front und schlug dann vor, statt der unnützen Broschüre einfach Fotos zu veröffentlichen. Sie selbst aber wolle lieber über ihre Weggenossen ein Buch schreiben mit dem Titel „Aus mündlichen Erzählungen". „Ich werde die Stimmen der Sprechenden wiedergeben, ihre lebendigen Intonationen". Die Sektion antwortete: „Intonationen interessieren uns nicht." Panova lieferte ihre Broschüre (die übrigens, da inzwischen der Krieg beendet wurde, nie erschien), schrieb aber anschließend ihren Sanitätszug-Roman „Weggenossen", der Tatsachen mit frei Erfundenem kombiniert und fast nur aus Skizzen der einzelnen Belegschaftsmitglieder, ihrer Stimmungen und Gespräche, eben ihrer „lebendigen Intonationen" besteht. Das Interesse Panovas an der einzelnen Person ist so ausgeprägt, daß sich bei ihr Romanpersonen über den Rahmen eines Werkes hinaus verselbständigen können. Z.B. kehrt der Politkommissar des Sanitätszuges im jüngeren Roman „Helles U f e r " in anderer Funktion wieder. Oder die Hauptperson des „Hellen Ufers", der Sovchovorsitzende, ebenso wie die junge Lehrerin und ihr Sohn werden später zu den drei 174

Hauptfiguren der Erzählung „Sereza", wobei jede Person ihre psychologische Kontinuität wahrt, aber durch die veränderte Situation in einem ganz neuen Licht erscheint. Panova hat selbst von ihrer Arbeitsweise gesagt, sie höre sich gleichsam in ihre Personen hinein, versetze sie in unterschiedliche Lagen, und erst aus einem solchen Experimentieren ergebe sich nach und nach der kompositorische Rahmen. Dabei wird der äußere Rahmen in den frühen Werken von Roman zu Roman weiter gespannt: erst ist es der enge Sanitätszug, dann das Industriewerk Kruzilicha, dann das große Staatsgut Helles Ufer und schließlich, in den „Jahreszeiten", eine ganze Stadt mittlerer Größe. Doch in allen Fällen bleibt der Rahmen nur eine lockere Klammer, welche die einzelnen Personen verbindet, um das Zusammenspiel ihrer „lebendigen Intonationen", um das es in erster Linie geht, zu ermöglichen. Damit wird, Jahre vor Erenburgs „Tauwetter" und noch in der Stalin-Aera, das Kollektiv wesentlich anders verstanden als in der parteigemäßen Literatur und in der Parteiideologie. Für sie war das Kollektiv die Zusammenarbeit von Menschen zwecks Verwirklichung eines gemeinsamen, für alle verbindlichen Zieles. N u r von diesem Ziel her ließ sich Funktion und Wert des Einzelnen bestimmen. Wer es am bewußtesten und aktivsten anstrebte, war der „positive Held", wer sein Erreichen erschwerte, der „negative". Dabei kannte der typische Roman der Stalinzeit keinen „negativen Helden" aus rein persönlichen Motiven oder bloßem Versagen. Denn auch die negative Figur bedurfte einer Kollektivbegründung, sei es im Sinne einer überkommenen Kollektivschuld (z. B. der klassenfeindlichen Herkunft), sei es in Form aktiver Teilnahme an einem Gegenkollektiv (z.B. Organisationen ausländischer Agenten oder konterrevolutionärer Verschwörer). Das ist eine der Hauptursachen für die in kaum einem Industrie- oder Kolchozroman der Stalinzeit fehlende Verschwörung feindlicher Agenten oder Saboteure, selbst wenn die Handlung Jahrzehnte nach der Revolution im Innersten der Sowjetunion spielt. Der Einzelne, gleich ob „positiv" oder „negativ", kann eben nur vom Kollektiv her begründet werden, wie das Kollektiv selbst immer auf sein Ziel hin interpretiert wird. Demgegenüber büßt bei Panova schon das Kollektiv selbst seine klare Zielgerichtetheit ein. So behandelt z.B. der Roman „Kruzilicha", ähnlich wie Erenburgs „Tauwetter", zwar lauter Mitarbeiter eines Industriewerkes, interessiert sich aber nur f ü r deren private Beziehungen, während man — wie die Sowjetkritik empört feststellte — nicht einmal genau erfährt, was die Fabrik eigentlich produziert. Wie sehr die Zielgerichtetheit zurücktritt, zeigt auch, ein Motiv, das zunächst wenig mit Persönlichkeit und Kollektiv zu tun zu haben scheint. Die Kritikerin Boguslavskaja hat 1959 in einem längeren Arti175

kel über Vera Panova darauf hingewiesen, daß das Motiv des Eisenbahnzuges ein Lieblingsmotiv dieser Autorin sei. N u n sei der Eisenbahnzug in der russischen Literatur schon vor der Revolution sehr beliebt gewesen; aber während er damals Symbol der Weltflucht gewesen sei, symbolisiere er bei Panova den kämpferischen Vorwärtsdrang. Hier verfällt die Sowjetkritikerin einem schablonenhaften SchwarzWeiß-Denken. Der Vergleich würde stimmen, wenn man einerseits etwa das Zugmotiv in Tolstojs „Anna Karenina", andererseits den in der Sowjetliteratur so beliebten Panzerzug heranzieht. Aber Panova schildert sogar in ihrem Kriegsroman keinen Panzerzug, ja nicht einmal einen Zug, der Soldaten an die Front bringt, sondern einen Sanitätszug, der leidende Menschen in die Heimat zurückholt und gleichzeitig andere Menschen, nämlich die Belegschaft, für einige Zeit auf engem Raum verbindet, um nachher wieder jeden in sein persönliches Leben zu entlassen. Entsprechend dient der Zug bei Panova auch sonst fast immer dazu, Menschen zusammenzuführen oder wieder zu trennen, bzw. im letzten Roman den Helden an den Ort seiner Jugend zurückzuführen. Der Zug ist bei Panova tatsächlich nicht Symbol einer Lebensflucht, aber er ist ebensowenig Zeichen eines pathetischen, vorwärtsstürmenden Kämpfertums. Er ist vielmehr ein wesentliches technisches Mittel und gleichzeitig künstlerisches Sinnbild menschlicher Kommunikation ebenso wie Ausdruck dessen, wie sehr alle Menschen nur Weggenossen auf Zeit sind. Damit ist indirekt bereits ein Problem berührt, das für die Beurteilung des Verhältnisses von Persönlichkeit und Kollektiv wichtiger ist, als man zunächst annehmen mag: das Problem der Zeit. Entsprechend der vorhin gegebenen Definition des kommunistischen Kollektivs ist im linientreuen Sowjetroman Zeit immer gleichbedeutend mit klarem Fortschritt auf ein Ziel hin. Demgegenüber geht Panova, die ihre Romane mit Vorliebe nach zeitlichen Gesichtspunkten gliedert, von einer anderen Zeitvorstellung aus. Daß sie ihrem Roman „Helles U f e r " den Rhythmus der Jahreszeiten zugrundelegt, könnte noch durch die landwirtschaftliche Thematik bedingt sein. Aber schon in den „Weggenossen" nennt sie die drei Teile nach Tageszeiten (ohne daß es sich um reale Tageszeiten handelt), und ihr Hauptwerk heißt „Jahreszeiten". Es beginnt in der Silvesternacht mit dem Gruß an das neue Jahr und endet genau ein Jahr später mit den gleichen Worten. Hier wird (auch von der Handlung her, durch die abschließende Rückkehr des „verlorenen Sohnes" zur Mutter) besonders deutlich, daß es sich nicht um wirklichen Fortschritt handelt, sondern um eine Wiederkehr zum Ausgangspunkt. Und doch ist im Leben jedes der dargestellten Menschen alles anders geworden und für jeden einzelnen ist ein Lebensjahr unwiederbringlich vergangen. An die Stelle der Zeit als Fort176

schritt tritt einerseits die Vorstellung eines naturgegebenen, zyklischen Zeitwechsels und andererseits die einer biographischen Zeit, die den einzelnen sein Leben als etwas Einmaliges und Vergängliches erfahren läßt. Hinzu k o m m t — besonders im „Sentimentalen R o m a n " , der ganz aus der Perspektive persönlicher Einnerungen geschrieben ist — ein besonderer Aspekt der biographischen Zeit, nämlich Zeit als Erinnerung. Eine solche Abwandlung des Zeitbegriffs, verbunden mit einer U m wertung des Verhältnisses von Persönlichkeit und Kollektiv, findet man außer bei Panova besonders ausgeprägt in Leonid Leonovs R o m a n „Der russische Wald", der 1953, also im gleichen Jahr wie Panovas „Jahreszeiten", erschien. Leonov, Sohn eines vorrevolutionären Bauerndichters, wie Erenburg zur älteren Generation und der Gruppe der sogenannten „Mitläufer" gehörend und einer der namhaftesten russischen Romanciers der Sowjetzeit, folgte 1950 dem „sozialistischen Auftrag", in einem Roman die neue Forstpolitik zu propagieren, die sich gegen den bis dahin (von der Partei selbst geförderten) Raubbau an den Waldreserven wandte. Bei der Behandlung dieses Themas ging er weit über die bloße Ausführung des Parteiauftrags hinaus. Seine Grundthese lautet: Man hat den Wald bloß aus einem kurzsichtigen Nutz- und Zweckdenken heraus bewertet und hat die irrtümlich für unerschöpflich gehaltenen Waldreserven im Rahmen des Aufbaus und der Verteidigung rücksichtslos ausgebeutet. Aber der Wald ist ein im zyklischen Wechsel der Jahreszeiten und der Generationen gewachsener Organismus. Wer das natürliche Gleichgewicht eines solchen Organismus zerstört, vernichtet ihn unwiederbringlich, versündigt sich an ihm und schadet auf die Dauer auch sich selbst. Dabei hat Leonov, der ganz allgemein zum Symbolismus neigt, den Wald so unmißverständlich als Symbol gefaßt, daß sogar die Sowjetkritik zugeben mußte, mit dem russischen Wald sei hier auch das russische Volk gemeint (geflissentlich verschweigend, daß dadurch auch die Kritik am zweckbestimmten Raubbau an vermeintlich unerschöpflichen Reserven nicht nur den Wald meinte). Zusätzlich zu dieser symbolischen Aus- und Andeutung projizierte Leonov das Problem auch direkt in die menschliche Ebene. Wie jeder einzelne Baum läßt sich auch jeder Einzelmensch nur verstehen, wenn man ihn nicht nur äußerlich, zweckhaft und als N u m m e r unter zahllosen anderen ansieht (d.h. beim Menschen nach seinen Reden und seinem momentanen Nutzen für das Kollektiv), sondern wenn man ihn als etwas organisch Gewachsenes versteht (d. h. beim Menschen, wenn man seine Biographie in ihrer Eigengesetzlichkeit zu erkennen sucht). Dem entspricht der Aufbau von Leonovs Roman. Das Leben der beiden Hauptpersonen, der einst befreundeten und später rivalisie-

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Universitätstage 1961

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renden Professoren für Forstwissenschaft, erscheint aus zweierlei Perspektiven, in zwei zeitlichen Ebenen. Der eine Teil des Romans spielt in der Gegenwart, der andere, parallel geschaltete, holt in Rückblenden die Lebensgeschichte der beiden nach. Erst dadurch erweist sich der anfänglich als Volksfeind verleumdete Verteidiger der Waldreserven als der Selbstlose und Gerechte, sein allgemein gefeierter Gegner aber als Egoist und Schädling. Zwar zollt auch Leonov dem Schwarz-WeißSchema der stalinistischen Literatur Tribut, indem er den Leser von vornherein merken läßt, wer in Wirklichkeit „der G u t e " und wer „der Böse" ist, indem er den „ G u t e n " zum armen Bauernkind, den „Bösen" zum Sohn eines zaristischen Theologieprofessors macht usw. Aber für ein Auftragswerk der Stalinzeit war der Roman trotzdem in seiner eigenwilligen Behandlung des Themas und seiner Weltsicht erstaunlich kühn. Noch kühner und gefährlicher mußte allerdings ein R o m a n sein, der bei einer ähnlichen Welt- und Menschensicht zusätzlich auf die Trennung in „ G u t e " und „Böse" und auf die frühzeitige „Einweihung" des Lesers in die Klassifizierung verzichtete. U n d eben dieses geschah im gleichen Jahr in Vera Panovas „Jahreszeiten", die daher von der linientreuen Kritik noch weit schärfer angegriffen wurden als Leonovs „Russischer Wald". Besonders warf man Panova vor, sie weiche der „Parteilichkeit" aus und „täusche" sogar bewußt den Leser, indem sie z. B. eine der Hauptfiguren, den Altkommunisten Bortasevic, als sympathischen Menschen, rührenden Familienvater und allgemein geschätzten Funktionär darstelle, bis sich plötzlich kurz vor Schluß herausstelle, daß er aus persönlicher Schwäche seit Jahren korrumpiert sei. Es geht also, wie bei Erenburg und Leonov, wieder um die Diskrepanz zwischen den Äußerungen und der äußerlichen Bewertung eines Menschen einerseits und seinem verborgenen Inneren andererseits. Aber während diese Diskrepanz von Erenburg durch den „inneren Monolog", von Leonov durch die „biographische Rückblende" sichtbar gemacht wird, ist sie bei Panova umgekehrt durch einen konsequenten Verzicht des Autors auf einen frühzeitigen „Einblick" in das Innere seiner Person gegenwärtig. Und diese Technik ist vom Standpunkt der Partei und der Ideologie die gefährlichste, weil sie die Leser selbst der Illusion wie der anschließenden Desillusionierung aussetzt, damit seinen Glauben an die Durchschaubarkeit und Klassifizierbarkeit aller Menschen untergrabend, der eine Grundvoraussetzung für die totale Einplanung des einzelnen in das Kollektiv ist. Deshalb ist ein solcher Verzicht auf die durchgehende „Allgegenwart" und „Allwissenheit" des Autors, der dem westlichen Leser moderner Romane vertraut ist, ja fast selbstverständlich erscheint, im Sowjetroman auffallend selten und wird, wo er vorkommt (wie mehr oder weniger ausgeprägt in allen 178

Romanen Panovas) von der Sowjetkritik als mangelnde „Parteilichkeit", „Objektivismus" und „Täuschung" auf das heftigste bekämpft. Zusätzlich erschwert wird das Aufgehen der Personen im Arbeitskollektiv bei Panova durch die Zugehörigkeit der einzelnen zu einem andersartigen, organisch gewachsenen Kollektiv — der Familie. Sie spielt im Gesamtwerk Panovas eine entscheidende Rolle. Bartasevic wird nicht zuletzt deshalb korrupt, weil er zunächst seiner Familie ein besseres Leben sichern will und später befürchtet, sein Geständnis würde auch seine unschuldigen Kinder der Verdammung durch das Kollektiv preisgeben. Und in der anderen Familie des Romans führt der Wunsch der überzeugten Kommunistin Dorofeja, ihrem Sohn eine so entbehrungsreiche Jugend wie ihre eigene zu ersparen, zur Demoralisierung dieses Sohnes. Statt der Berufung auf klassenfeindliche Herkunft oder konterrevolutionäre Kollektive wird das vom Sowjetstaat selbst geförderte Kollektiv der proletarisch-kommunistischen Familie Ausgangspunkt des Konfliktes. Es geht nicht mehr bloß um d e n einzelnen und d a s Kollektiv, sondern darüber hinaus um die Zugehörigkeit einzelner zu verschiedenen innerkommunistischen Kollektiven, deren Interessen in Widerspruch geraten und dadurch den einzelnen in einen tragischen Konflikt versetzen können. Dieses Problem ist außer im R o m a n Panovas auch in dem 1954 erschienenen R o m a n „In der Heimatstadt" von Viktor Nekrasov eingehend behandelt worden. Ein entlassener kriegsversehrter Frontoffizier findet, da ihm der frühere Beruf durch seine Verwundung und die Ehe durch beiderseitiges Auseinanderleben verschlossen bleiben, zunächst keinen Zugang zu den alten Gemeinschaftsformen. Erst durch das neu begonnene Studium findet er in einem Studentenkollektiv einen Rahmen und neue Aufgaben. Aber dieses Kollektiv gerät mit der Partei in Konflikt, weil es gegen die vom Parteikomitee der Hochschule geforderte Absetzung eines alten Professors protestiert. Als der Parteifunktionär (gleichzeitig Dozent der Hochschule) in einem Zwiegespräch mit dem Heimkehrer als Motiv angibt, der Professor sei während der deutschen Besatzung in der Stadt geblieben, und alle derartigen Leute seien als Kollaborateure verdächtig, versetzt ihm sein Partner aus Empörung über diese Kollektivverdächtigung eine Ohrfeige, woraufhin der Funktionär seinen Ausschluß aus der Partei fordert. Aber während des Ausschlußverfahrens erweist sich, daß er die Absetzung des Professors betrieb, um selbst den Lehrstuhl zu erhalten, womit der Roman, den Ausgang offen lassend, schließt. Ebenso wie die vorher besprochenen Autoren protestiert Nekrasov gegen die Aburteilung einzelner unter Berufung auf eine Kollektivschuld, ohne deshalb den Einzelmenschen überhaupt aus der Gemeinschaft herauslösen zu wollen. N u r soll diese Gemeinschaft, die jeder

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einzelne braucht, eine freie Verbindung sich wechselseitig respektierender Persönlichkeiten sein, wobei gezeigt wird, wie schwer es einerseits ist, Gemeinschaften solcher A r t zu bilden (hier unter anderem am Beispiel der Ehe demonstriert) und wie wenig sich andererseits derartige Gemeinschaften, wenn sie erst entstanden sind, von außen manipulieren lassen. Bei Konflikten, die sich daraus ergeben, kann auch der überzeugte Parteigenosse nicht einfach sagen: Die Partei hat immer recht! Denn im konkreten Einzelfall wird auch die Partei von Einzelpersonen repräsentiert, die — eben weil sie Personen sind — mit ihren Reden über Kollektivnutzen und Parteiinteresse sehr persönliche Absichten verfolgen können. Da jedes Kollektiv (auch das Parteikollektiv) aus Einzelpersonen besteht, bei jeder Person aber äußerer Eindruck und innere Motive differieren können, läßt sich weder ein Kollektiv ohne Kenntnis und Anerkennung seiner einzelnen Repräsentanten, noch der einzelne als bloße Funktion des Kollektivs angemessen beurteilen, und der Glaube an die totale Durchschaubarkeit des Menschen, die seine totale Eingliederung ins Kollektiv ermöglichen soll, erweist sich als Täuschung. Diese Einsicht bestimmt den für alle besprochenen Sowjetromane charakteristischen Konflikt zwischen Persönlichkeit und Kollektiv. N u n handelt es sich bei den genannten Romanen nur um eine kleine Auswahl aus der sowjetischen Romanliteratur der Gegenwart. Audi heute findet man viele Romane, deren Auffassung von Person und Kollektiv anders ist und dem Schema der Stalinzeit ähnelt oder entspricht. Trotzdem sind die beprochenen Werke nicht einfach Außenseiter. Mit Ausnahme Dudincevs wurden absichtlich nur Autoren gewählt, die auch von den Sowjets selbst zu den Hauptrepräsentanten ihrer gegenwärtigen Romanliteratur gerechnet werden, und zwar sowohl Vertreter der älteren, nicht eigentlich kommunistischen Generation (wie Erenburg und Leonov) als auch jüngere, rein sowjetkommunistische Autoren (wie Panova und Nekrasov). Insofern ist die Auswahl also durchaus repräsentativ (nur eben nicht im Sinne eines Durchschnitts). Auch ließe sich der Kreis durch weitere Romane ähnlicher Problematik und Tendenz erweitern. Allerdings sind die meisten Romane dieser kritischen Richtung zwischen 1953 und 1957 erschienen, also in der Zeit der politischen Krise der Sowjetunion zwischen Stalins Tod und der endgültigen Niederschlagung des Ungarnaufstandes. Doch bleibt zu beachten, daß die ersten derartigen Romane bereits vor Stalins T o d entstanden und erschienen, so daß man sich hüten sollte, den zeitlichen Rahmen der geistig-literarischen Auseinandersetzung mit den Daten der politischen Geschichte einfach gleichzusetzen. U n d wenn man kritische Strömungen innerhalb der Literatur nicht einfach mit oppositionellen „Inhalten" gleichsetzt, sondern die der Literatur angemesse180

nere Frage nach den kritischen Momenten literarischer Gestaltung stellt, muß die Entfaltung dieser Richtung noch entschieden früher angesetzt werden und läßt sich bis in die unmittelbare Gegenwart hinein verfolgen. Einerseits entstanden die ersten Romane Panovas und Nekrasovs, die bereits unverkennbar entsprechende Merkmale aufweisen, noch im Kriege und erschienen unmittelbar nach ihm. Andererseits findet man noch 1959 und 1960 in der sowjetischen Publizistik wiederholt Klagen, Nekrasov habe unter den jüngeren Sowjetschriftstellern derartigen Anklang, daß man gerade in jüngster Zeit von einer regelrechten Nekrasov-Schule sprechen müsse, die — bei aller Begabung und Bedeutung Nekrasovs — durch ihre antiheroische und „objektivistische" Tendenz eine ungesunde Entwicklung darstelle. Und Panova gehört nach wie vor zu den beliebtesten Romanciers, ja sie wird — obwohl sie 1957 auf die Kritik der Partei an einem von ihr geplanten Almanach statt mit den erwünschten Änderungen mit einem demonstrativen Rücktritt reagierte — 1959 in dem schon erwähnten ausführlichen Artikel der Boguslavskaja in der führenden literarischen Zeitschrift „ O k t o b e r " als einer der bekanntesten und bedeutendsten Autoren der Sowjetunion gerühmt. Auch erschien ihr jüngster Roman lange nach Beendigung des sogenannten literarischen Tauwetters. Allerdings ist dieser R o m a n im Unterschied zu den früheren keine unmittelbare Gegenwartsanalyse mehr, sondern eine Rückerinnerung an die erste Liebe während der Bürgerkriege, in der — mit der Terminologie Erenburgs gesprochen — das Element der persönlichen „ R o mantik" stärker in den Vordergrund tritt, eine Tendenz, die schon durch den auffallenden Titel „Sentimentaler R o m a n " unterstrichen wird — ein Titel, der übrigens wörtlich dem Untertitel von Dostojewskijs Roman einer jungen, „romantischen" Liebe, den „Weißen Nächten", entspricht. Noch bedeutungsvoller als diese Parallele ist eine andere, die ebenfalls in der Sowjetunion verständlicherweise ignoriert wird, aber erstaunlicherweise auch im Westen bisher unbemerkt geblieben zu sein scheint. In seiner Gesamtproblematik und in vielen Einzelheiten mutet dieser Roman fast wie ein Gegenstück zu Pasternaks „Dr. Zivago" an, dessen Manuskript Panova als Redakteurin und führender Exponentin des Schriftstellerverbandes sicherlich bekannt war. In beiden Romanen wird der Bürgerkrieg, abweichend von der sonst im Sowjetroman üblichen Heroisierung, als rein persönliches Erlebnis dargestellt. Im Vordergrunde stehen die Gefühle eines jungen, suchenden, auch schriftstellerisch tätigen Mannes, dessen Liebe zwischen zwei gegensätzlichen jungen Frauen schwankt: einer ihm freundschaftlich verbundenen, die er auf Wunsch ihrer sterbenden Mutter (bzw. bei Panova ihres sterbenden Vaters) heiraten soll, und einer faszinierend 181

schönen, von Geheimnissen umwitterten. Aber die Entscheidungen fallen bei Panova genau umgekehrt wie bei Pasternak. Der junge Mann lehnt den Wunsch des Sterbenden als Nötigung des persönlichen Gefühls ab, gibt sich seiner Leidenschaft zur geheimnisvollen Schönen hin, wird von ihr verlassen und wendet sich später, dann aber unverbrüchlich der anderen Frau zu, die er heiratet. Dieser Umkehrung der Fabel entspricht eine abweichende Auffassung der Persönlichkeit und ihres Verhältnisses zur Gemeinschaft. Bei aller Bejahung der Persönlichkeit und ihres Gefühls gibt es für Panova, anders als für Pasternak, keine religiöse oder naturhaft-kosmische Überhöhung des Menschen. Auch distanziert sie sich deutlich von der Verherrlichung des „musischen Menschen" (und wählt bezeichnenderweise zum Helden einen Journalisten, nicht einen Lyriker wie Zivago). Und wie schon in verschiedenen früheren Werken der Panova wird die Faszination der Schönheit als Täuschung und Gefahr, nicht als Auszeichnung und Verklärung angesehen. Während der äußerlich schöne wie der „musische" Mensch nur zu leicht dem Egozentrismus verfällt, der ihn zu echten menschlichen Bindungen unfähig und gesellschaftsfeindlich macht, erscheint als weit vorbildlicher der schlichte, unscheinbare Mensch, der gerade aus Einsicht in die eigene Begrenztheit und Hilfsbedürftigkeit die Gemeinschaft braucht, den anderen in seiner gefährdeten Einmaligkeit würdigt und sein eigenes Gefühl nicht als Selbsterfüllung, sondern als Bindung an andere auffaßt. Selbst in diesem „romantischsten" R o m a n der Panova führt also die Bejahung der Persönlichkeit und ihrer Gefühle nicht zur Selbstgenügsamkeit des einzelnen und des Gefühls. Ähnlich wie in Erenburgs „Tauwetter" verbindet sich das Eintreten für die persönliche „Romant i k " mit einem aus der Einsicht in die Undurchschaubarkeit und U n vollkommenheit des Menschen resultierenden liebevollen Skeptizismus, der übrigens auch bei Panova deutlich an Cechov erinnert. Mit Recht ist innerhalb wie außerhalb der Sowjetunion wiederholt darauf hingewiesen worden, daß Panova in ihrer Auffassung und Darstellung des Menschen keinem Autor so nahe stehe wie Cechov. Überhaupt darf man, etwas vereinfachend, sagen, daß die Umwertung von Persönlichkeit und Kollektiv, die sich in einigen der repräsentativsten Sowjetromane des letzten Jahrzehnts abzeichnet, unter einem doppelten Vorzeichen steht: einerseits dem Eintreten für die lange verfemte persönliche „ R o m a n t i k " , andererseits der Neigung zu einer skeptischen, unpathetischen aber dennoch liebevollen Sicht des Menschen, die deutliche Anklänge an Cechow zeigt (der bekanntlich in der Sowjetunion lange als dekadenter Pessimist kritisiert wurde, heute aber auch offiziell als fortschrittlich angesehen und zu der) großen russischen Autoren gerechnet wird). 182

Literarhistorisch liegt die Parallele zum Sowjetroman der 20er Jahre nahe, der einerseits im Zeichen der sogenannten revolutionären Romantik, andererseits im Zeichen eines wachsenden Antiheroismus und Skeptizismus stand, wobei der Skeptizismus damals statt von einer Cechov-Renaissance von einer Tolstoj-Renaissance begleitet wurde. Auch sie war nicht einfach eine literarische Mode, sondern Ausdruck des Bemühens, das Kollektiv als kompliziertes Zusammenspiel sozialer und psychologischer Beziehungen zu erfassen und nicht mehr nur als dynamische Masse (wie es etwa 1924 Serafimovc in seinem „Eisernen Strom" getan hatte). Und wie sich im Roman der 50er Jahre anerkannte ältere, nicht eigentlich proletarisch-kommunistische Autoren mit führenden Vertretern der jungen, sowjetkommunistischen Generation verbunden haben, so erfolgte auch die kritische Erneuerung und der Rückgriff auf Tolstoj seit der zweiten Hälfte der 20er Jahre sowohl durch ältere, schon vor der Revolution bekannte und nicht parteiliche Romanciers als auch durch die bedeutendsten Exponenten der jungen, kommunistischen Romanschriftsteller wie Fadejev und Solochov. Die Entwicklung der bedeutendsten Revolutionsromane — also etwa die Linie vom „Eisernen Strom" und Furmanovs „Capajev" über Fadejevs „Die Neunzehn" bis zu Solochovs „Stillem Don" — war gekennzeichnet durch eine zunehmende Würdigung der Persönlichkeit bei zunehmender Zersetzung der parteilichen Eindeutigkeit, des revolutionären Pathos und des Leitbildes vom kommunistischen Revolutionshelden, bis die Partei gegen Ende der 20er Jahre (besonders nach Einführung der Fünfjahrespläne) eine radikale Änderung erzwang. Die typischen Romane der 30er und 40er Jahre, im Zeichen der neuen Leitbilder des „Helden im sozialistischen Aufbau" und des „Helden im großen vaterländischen Krieg" stehend, waren dann gekennzeichnet durch die Verbindung einer Monumentalisierung des Menschen mit seiner völligen Entpersönlichung durdi das Kollektiv, verbunden mit einer Simplifizierung der persönlichen wie der kollektiven Problematik, die nach Stalins Tod von den sowjetischen Schriftstellern und Kritikern selbst als „Kult der Konfliktlosigkeit" einer vernichtenden Kritik unterzogen wurde. Als Reaktion gegen diesen „Kult der Konfliktlosigkeit" haben führende sowjetische Autoren des letzten Jahrzehnts versucht, in ihren Romanen einerseits der kollektiven Entpersönlichung des einzelnen durch den Appell an die „Romantik" des persönlichen Gefühls, andererseits der Monumentalisierung durch einen unpathetischen Skeptizismus entgegen zu wirken. Sie haben gesehen und gezeigt, daß die geforderte Kollektivierung aller die Konflikte nicht aufhebt, sondern eher verstärkt, weil diese Konflikte in der Natur des Menschen selbst als Einzelpersönlichkeit und als sozialem Wesen gründen, aber auch in 183

der Zusammensetzung jedes Kollektivs aus solchen Einzelpersonen und im Vorhandensein verschiedener, mit einander kollidierender Kollektive innerhalb der Gesellschaft (auch innerhalb der Sowjetgesellschaft). Weil sie diese Probleme nicht nur als Bewohner der Sowjetunion, sondern auch als Schriftsteller zu bewältigen, d. h. mit den spezifischen literarischen Möglichkeiten und Erfordernissen des Romans zu gestalten hatten, wird die für den Sowjetroman der Gegenwart zentrale Problematik des Verhältnisses von Persönlichkeit und Kollektiv erst dann voll erkennbar, wenn man die einzelnen Werke als literarische Leistungen und nicht bloß als ideologisches oder soziologisches Anschauungsmaterial interpretiert, d. h. nicht nur fragt, w a s in ihnen über Persönlichkeit und Kollektiv gesagt wird, sondern in erster Linie, w i e es geschieht. Mehr als ein Versuch, das an einigen repräsentativen Beispielen zu verdeutlichen, konnte und wollte dieser Vortrag nicht sein.

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DIE ROLLE DES THEATERS IN DER S O W J E T I S C H E N GESELLSCHAFT Von J ü r g e n 1.

Rühle

Die vorrevolutionären Wurzeln des Revo1utionstheaters

Die Wurzeln des russischen Revolutionstheaters reichen weit in die russische, aber auch in die westeuropäische Tradition zurück. Alle Wortführer des Revolutionstheaters waren zur Zeit der Revolution nicht nur als Persönlichkeiten ausgereift und anerkannt, sie hatten auch ihre künstlerischen Grundgedanken schon entwickelt. Wir wollen das am Beispiel der wichtigsten Theaterrevolutionäre, am Beispiel Stanislawskis, Meyerholds, Tairows und Wachtangows illustrieren. Als Stanislawski auf die Bühne des russischen Theaterlebens trat, war das Bedürfnis nach Natürlichkeit die Forderung des Tages. Die tonangebend gewordenen kommerziellen und intellektuellen Kreise verlangten die Ablösung des dekorativen Hoftheaters durch ein „Theater der Wahrheit", also eine Verbürgerlichung des Theaters. Konstantin Stanislawski (eigentlich Alexejew, 1863—1938) war der Sohn eines Moskauer Fabrikanten und opferte nach und nach sein ganzes Vermögen dem Theater; die Moskauer Öffentlichkeit nannte seine Ideen den Spleen eines eigenwilligen Kapitalisten. Das 1898 gegründete Künstlertheater wurde finanziert von der Direktion der Philharmonischen Gesellschaft, einer Institution der Moskauer Kaufmannschaft, später ganz allein von dem Großindustriellen Morosow. Der Kern des Ensembles stammte aus Alexejews privatem Theaterclub, in dem sich. Söhne und Töchter der Moskauer Bourgeoisie mit angesehenen Schauspielern zusammengefunden hatten. Man muß Stanislawskis Ideen aus diesem sozialen Ursprung heraus verstehen. Sie sind geboren aus dem Fortschrittsoptimismus der Gründerjahre und dem materialistischen Weltbild der damals triumphierenden Naturwissenschaft. „Ich wurde geboren an der Grenze zweier Epochen", beginnt Stanislawski seine Autobiographie. „So war ich Zeuge der Entwicklung vom Talglicht zum Scheinwerfer, von der Reisekutsche zum Flugzeug, vom Segelschiff zum U-Boot, von der Kurierpost zum Telegrafen, vom Steinschloßgewehr zur ,Dicken Berta', von der Leibeigenschaft zum Bolschewismus." V o m Standpunkt der Generation, die es so herrlich weit gebracht, wunderte sich Stanislawski, 185

„daß ein so ehrwürdiger Greis wie unser Theater . . . sich bis heute noch beinahe im Urzustand befindet". E r sah seine Lebensaufgabe darin, die Schauspielkunst so zu vervollkommnen, daß sie den Ansprüchen des wissenschaftlichen Zeitalters genüge. Es war übrigens eine gesamteuropäische Bewegung, die da v o r sich ging. Die Moskauer Gastspiele der „Meininger", der berühmten Truppe des mitteldeutschen Theaterherzogs Georg II. von Sachsen-Meiningen, lösten bei Stanislawski die entscheidenden Impulse aus. Auch die Einrichtung eines „Künstlertheaters für alle" hatte westeuropäische V o r bilder: das théâtre libre von Antoine in Paris und die Freie Bühne von Brahm in Berlin. Das Programm Stanislawskis entsprach weitgehend den Tendenzen des französischen und deutschen Naturalismus. Das heißt natürlich nicht, daß das Künstlertheater lediglich ein Abklatsch westeuropäischer Theaterströmungen war: Die Vitalität russischen Komödiantentums, die aus tiefsten Quellen hinzuströmte, führte das Spiel zu einer ans Wundersame grenzenden Vollendung. Spricht man davon, daß Stanislawski den Naturalismus in Rußland durchsetzte, so darf man nicht vergessen, daß er auch den Symbolismus kreierte. Mit den Ereignissen des Jahres 1905 (Niederlage Rußlands im Krieg gegen Japan, erste russische Revolution und nach deren Niederwerfung Einsetzen einer Periode militanter Reaktion) hatte in Rußland die Epoche der großen Kriege, Revolutionen und Diktaturen begonnen, die den selbstgefälligen Fortschrittsoptimismus des Bürgertums mit einem Schlage hinwegfegte. Im europäischen Theaterleben trat eine neue literarische Richtung auf, die mit naturalistischen Mitteln nicht mehr zu bewältigen war; auf dem Spielplan des Künstlertheaters herrschten nun nicht mehr Tolstoi, Tschechow und Gorki, sondern Hamsun, Maeterlinck, Dostojewski, Andrejew, der mittlere Hauptmann und der späte Ibsen. Mit außerordentlicher Konsequenz und Kühnheit nahm Stanislawski die Zeichen der Zeit auf. E r zog avantgardistische Künstler zur Mitarbeit heran (Gordon Craig, Benoit) und gestaltete selber Inszenierungen von irrationalem und visionärem Charakter. Gemeinsam mit dem Tolstoi-Schüler Sulershitzki, der viele Elemente des Tolstoianertums insbesondere in Stanislawskis Ethik brachte, und mit Meyerhold, der sich einige Jahre zuvor aus Abneigung gegen den Naturalismus vom Künstlertheater gelöst hatte, gründete er experimentierende Studios. U n t e r dem Einfluß der indischen Mystik, die damals in R u ß land in Mode kam, änderte er seine Schauspielermethodik; der Grundgedanke: die Beschwörung der Intuition durch physische Übungen, ist offenbar der Lehre der Yogi entlehnt. Das Aufgehen im Milieu, das Stanislawski vom Schauspieler verlangt, bekam so einen neuen, seinen endgültigen Sinn: Nicht um die Nachahmung der Wirklichkeit geht 186

es, sondern um das Eindringen in die Sphäre des Unbewußten, das allein im getreuen Milieu, in der konkreten Situation möglich ist. „Wenn der Körper nicht zu leben anfängt, kann die Seele auch nicht glauben." Die Begegnung mit der indischen Lehre und den irrationalen Strömungen in Europa am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts war f ü r Stanislawski das zweite Grunderlebnis seiner Laufbahn, nicht weniger bestimmend als die Begegnung mit dem naturwissenschaftlich-materialistischen Denken der Jahrhundertwende. Die Entwicklung wurde durch die Oktoberrevolution jäh abgebrochen. Meyerhold, Tairow und Wachtangow sind zwar durch die naturalistische Schule gegangen, sie bildeten aber ihre Eigenart im Widerspruch zum Naturalismus aus. Dabei überholten sie Stanislawski, der seinen naturalistischen Ursprung nie ganz überwand. Wsewolod Meyerhold (1874—1939?), Sohn eines Schnapsfabrikanten aus der russischen Provinz, ging als bester Schüler aus der Schauspielschule des Künstlertheaters hervor. In der denkwürdigen Aufführung von Tschechows „Möwe" 1898 spielt er die männliche Hauptrolle; der sehr anspruchsvolle Stanislawski betraute ihn trotz seiner Jugend mit Regieaufgaben. Nach einigen Jahren trennt sich Meyerhold von seinen Lehrmeistern Stanislawski und Nemirowitsch-Dantschenko und ging nach Petersburg, wo die berühmte Schauspielerin Kommissarshewskaja ein avantgardistisches Theater eröffnete. Im Gegensatz zum Naturalismus des Künstlertheaters entwickelte Meyerhold die Prinzipien der Stilbühne. Er erstrebte eine malerisch-dekorative Komposition des Bühnenvorgangs und gruppierte die Schauspieler in der Art lebender Basreliefs und Fresken. Als Stanislawski an der eigenen Arbeit zweifelte, rief er seinen begabtesten Schüler zurück, aber ihr gemeinsames Studio brach aus finanziellen Gründen zusammen. In den Jahren vor dem ersten Weltkrieg eroberte sich der als Revolutionär verschrieene Meyerhold die Kaiserlichen Bühnen in Petersburg, deren Gesicht er durch seine umwälzenden Schauspiel- und Operninszenierungen prägte. Alexander Tairow (eigentlich Kornfeld, 1885—1950) wurde, nachdem er vom Naturalismus enttäuscht war, an das Freie Theater des reichen Theaterenthusiasten Mardshanow in Moskau berufen, das als „Synthetisches Theater" alle Gattungen der Bühnenkunst pflegen wollte. Mit dem Auftrag, eine Pantomime einzustudieren, wurde Tairow auf einen Weg gestoßen, dem er auch treu blieb, als das Mardshanowsche Unternehmen Bankrott machte. 1914, schon nach Kriegsausbruch, eröffnete Tairow seine eigene Experimentalbühne, das Moskauer Kammertheater. Die Linie seines Theaters bestimmte Tairow zuerst einmal negativ, 187

d . h . im Gegensatz sowohl zum Naturalismus Stanislawskis wie zur Stilbühne Meyerholds. Beide Richtungen vergewaltigten seiner Meinung nach das Theater, vor allem dessen Herzstück: die Schauspielkunst, die er als Ausdruckskunst des menschlichen Körpers begriff. Nach Tairows Ansicht mache die naturalistische Methode den Schauspieler zu einem in seiner Seele herumwühlenden Psychopathen, die Stilisierung degradiere ihn zu einem bloßen Farbfleck bzw. Konstruktionselement. Tairow erstrebte ein Theater der reinen Schauspielkunst, die von allen psychologischen, literarischen, bildkünstlerischen und technischen Ambitionen befreit ist. In diesem Sinne muß man den Slogan „Entfesseltes Theater" verstehen, der sich nach dem Titel seines Buches für Tairows ganze Theaterarbeit eingebürgert hat: Der Schauspieler sollte sich frei von allen seiner Kunst fremden Einwirkungen entfalten können, gebunden allein an seine physische Struktur. Worauf Tairow hinauswollte, war also l'art pour l'art, eine Schauspielkunst um der Schauspielkunst willen. In der Praxis näherte sich Tairows Darstellungsweise dem Ausdruckstanz: Die Schauspieler bewegten sich rhythmisch schreitend, tänzelnd, springend über einen Bühnenboden, der durch mächtige Kuben, Quader, Kegel, Schrägen und Stufenreihen gegliedert war. Auch Jewgeni Wachtangow (1883—1922), wie Meyerhold aus der Schauspielschule des Künstlertheaters hervorgegangen und ein Lieblingsschüler Stanislawskis, erwachte in der Umbruchsperiode zwischen der Revolution 1905 und der von 1917 zu künstlerischer Originalität. Damals berieten Stanislawski und Gorki, die beide von neuen Ideen erfüllt waren, über eine Bühne der Improvisation. Unter dem Eindruck der Stegreifspiele, die er im neapolitanischen Theater gesehen hatte, regte Gorki eine Erneuerung der Commedia dell'arte an. Er stellte sich das folgendermaßen vor: Ein Dramatiker sollte ein Szenarium entwerfen, in dem Thema, Personen und Schauplatz des Stückes angegeben sind. Im Verlauf der Diskussionen und Proben mit den Schauspielern, die sich ein eigenes Bild von den Rollen machen, wird das „skizzierte Schema der Charaktere" durch neue, lebenswahre und detallierte Züge bereichert. Beim Herausarbeiten der Charaktere ergeben sich dann auch deren Widersprüche, und so entstehen die Konflikte des Stücks. Der Autor verfaßt den endgültigen Text während der Arbeit des Kollektivs an der Einstudierung. Stanislawski, der die Idee interessiert aufgriff, richtete ein Studio ein, um das Verfahren praktisch zu erproben; Leiter des Studios wurde Sulershitzki, sein Assistent Wachtangow. Bei den Versuchen kam nicht viel heraus. Zuerst einmal, weil die Auffassungen Gorkis und des Künstlertheaters divergierten. Gorki hatte zwar zu jener Zeit mit Lenin gebrochen, aber er blieb doch seinem ganzem Naturell gemäß der Politik verhaftet, während Stanis188

lawski und Sulershitzki im Gefolge Tolstois eine künstlerische und humanitäre Erneuerung im Sinne hatten. Zur bloßen Propagierung von Ideen wäre die Improvisation sicher geeignet gewesen, aber nicht zu ihrer tiefgreifenden Gestaltung. Die Propagierung von Ideen — das ist der zweite Grund für das Scheitern der Experimente — war zu jener Zeit überhaupt noch nicht gefragt; nach der Revolution erwies sich die Improvisationstechnik als sehr fruchtbar. Immerhin löste sich Wachtangow unter dem Einfluß der Gorkischen Versuche von der Linie des Künstlertheaters; nach seiner Inszenierung von Hauptmanns „Friedensfest" 1914 kam es zu einer methodischen Diskussion Wachtangows und Gorkis mit Stanislawski, Nemirowitsch-Dantschenko und Sulershitzki. Nach dem frühen T o d Sulershitzkis (1916) übernahm Wachtangow das Erste Studio des Künstlertheaters, dem er bald den Stempel seiner Persönlichkeit aufprägte. 2.

Der

Theateroktober

Die großen russischen Regisseure reiften also bereits vor der Revolution heran. Dennoch darf man nicht übersehen, daß sie alle — mit Ausnahme Stanislawskis — durch die Revolution einen schöpferischen Impuls erfuhren, ohne den ihr Aufstieg zum Weltruhm nicht denkbar ist. Die ersten Jahre nach der Revolution wurden beherrscht durch die imposanten Volksfeste, die in der Art von Mysterienspielen an den Feiertagen des sogenannten Roten Kalenders stattfanden, also am Jahrestag der Oktoberrevolution, am 1. Mai, zu Ehren irgendwelcher bolschewistischer Kongresse. Sie wurden von Persönlichkeiten wie Meyerhold, Jewreinow, Kersh.enzew vornehmlich in Petrograd und Moskau arrangiert, behandelten Ereignisse der Revolutionsgeschichte und bezogen Tausende, ja Abertausende als Mitwirkende ein. Dieser politische Einsatz des Theaters blieb nicht auf die Hauptstädte beschränkt. Von den Zentren ausgesandt, zogen theaterspielende Agitationstrupps durch das ganze Land. Man zählte während des Bürgerkrieges in Sowjetrußland 3000 Theaterorganisationen. Diese Ziffer gibt aber nicht einmal ein annäherndes Bild von der außerordentlichen Bedeutung des Theaters in der damaligen Zeit, denn fast jede Fabrik, jede Parteiorganisation auf dem Dorf, jede Einheit der Roten Armee spielte in irgendeiner Weise Theater. In einem Land, das vorwiegend von Analphabeten bevölkert war, stellte das theatralische Spiel, sei es auch in einer Werkhalle, in einer Scheune, auf dem Dorfanger oder sonstwo im Freien, das wirkungsvollste Agitationsmittel dar. Da gab es die „Roten Revuen" der „Blauen Blusen" (Agitprop-Brigaden). D a gab es die „Lebende Zeitung", eine Szenenfolge, in der man die neuesten politischen Ereignisse darzustellen und zu kommentieren pflegte. Da 189

gab es die „Agitgerichte", wo unter allgemeiner Beteiligung des Publikums die weißgardistischen Generale, die Ententemächte, die Hamsterer, aber auch das Analphabetentum, der Hunger, der Typhus usw. verurteilt wurden. N u r aus dieser Woge volkstümlichen Theaterspiels, dem „Theateroktober" mit seinen Volksfesten und Agitationsveranstaltungen heraus ist das Sowjettheater der zwanziger Jahre zu verstehen. Was in den Massenveranstaltungen elementar aufkam, fand dann in kultivierter Form seinen Eingang in die Schauspielhäuser von Moskau, Petrograd (Leningrad), Kiew. Viele Eigenschaften des frühen Sowjettheaters, die ihm Weltruf verschafften, hängen mit den Anforderungen zusammen, die das Spiel auf der Straße und auf dem Lande stellte. Da war zuerst einmal die souveräne Herrschaft des Regisseurs, denn er war ja der entscheidende Mann, der bei den Massenveranstaltungen und Agitationseinsätzen wie ein Feldherr die Marschrouten und Aktionen der Mitwirkenden festzulegen und zu dirigieren hatte. Da war der Vorrang von Arrangement und Improvisation gegenüber dem dichterischen Wort, das f ü r die aktuellen Aufgaben allenfalls als Ausgangspunkt, als Rohstoff in Frage kam und im übrigen in dem allgemeinen Trubel sowieso ertrank. Für Psychologie und individuelle Gestaltung in der Schauspielkunst hatte man ebenfalls keine Verwendung; was man brauchte, waren Ausdrucksformen, die weithin vernehmbar und von den Darstellern, meist Laien, ohne Vorbildung zu bewältigen waren, also Massenbewegungen, Chöre sowie heroische oder satirische Formeln und Symbole. Die Grenze zwischen Schauspielern und Zuschauern wurde verwischt; allesamt waren sie Mitwirkende einer politischen Aktion. Auch die Grenze zwischen den einzelnen Kunstarten fiel, denn je nach den im Kollektiv vorhandenen Fähigkeiten wurden neben der Schauspielkunst Pantomime, Rezitation, Tanz, Musik, Malerei, Akrobatik, Clownerie eingesetzt. Vor allem aber folgten das Theater der Massen und das Theater der jungen Sowjetbühnen demselben bestimmenden Impuls: dem politischen Auftrag; wie das antike Theater aus dem Kultus ging das Sowjettheater aus Versammlung, Meeting und Demonstration hervor. N u r diejenigen Theaterregisseure, deren Intentionen dem Geist der Zeit entgegenkamen, konnten sich behaupten — sie allerdings wurden von den Wogen der Volksbewegung zu schwindelnder Höhe getragen. Leiter der Sektion Theater im Volkskommissariat f ü r Volksbildung wurde Meyerhold, in dessen Person, wie Volkskommissar Lunatscharski sagte, linke Ästhetik und linke Politik miteinander verschmolzen. Sein Anschluß an die Partei war gewiß kein Akt des Opportunismus — Meyerhold war bis zu seinem tragischen Tode kein Mann der Anpassung —, sondern ehrlicher Überzeugung. Als konsequentester Theater190

revolutionär Rußlands, der bei seinen Unternehmungen immer wieder auf materielle und geistige Schranken gestoßen war, entdeckte er in der Revolution ungeahnte schöpferische Möglichkeiten. Plötzlich war das ganze starre Gefüge theatralischer Konventionen und Bedingtheiten hinweggefegt, und er stand als souveräner, seinen Eingebungen folgender Herr über einen mächtigen und modernen Darstellungsapparat den unverbildeten, für alle kulturellen Erlebnisse dankbaren Massen gegenüber. Das nachrevolutionäre Theaterleben bot ihm ein unermeßliches und vollkommen freies Experimentierfeld, wo er in wenigen Jahren alles ausprobieren und kreieren konnte, was dann in den anderen Ländern der Welt erst in jahrzehntelangen Kämpfen der Avantgardisten mit dem Theaterbetrieb und dem konventionellen Publikum durchgesetzt wurde. Die Revolution war für Meyerhold der große Dammbruch der Befreiung — nur zu begreiflich, daß er auch für die soziale Emanzipation der Arbeiter und Bauern volles Verständnis hatte und seine Bestrebungen mit den ihren verband. Von bolschewistischer Ideologie hatte er keine Ahnung; er hat in seinem Theater auch nie die spezifisch bolschewistische Variante der Revolution gestaltet, sondern die Revolution an sich, den Aufstand der Massen. Unter dem Eindruck des sozialen Umbruchs veränderte sich Meyer holds Prinzip der Stilbühne. Er stützte sich im wesentlichen auf drei Komponenten der Gestaltung: die Biomechanik, das Hanswurst-Spiel und den Konstruktivismus des Bühnenraums. Die schauspielerische Methode der Biomechanik erstrebte die rationellste und lapidarste Bewegung auf der Bühne und die Umsetzung seelischer Erlebnisse in körperliche Ausdrucksformen. Auf diese Weise sollte die Emotion in eine Formel verwandelt, die Vergesellschaftung und Normierung der individuellen Erlebnisse ermöglicht werden, wie es einem Theater, das auf Kollektiverlebnisse und Massenaktionen zielte, wünschenswert schien. Auf die Hanswurst-Possen der Jahrmarktspiele griff man zurück, weil sie viel inniger im russischen Volksboden wurzelten als die eigentliche Theaterkunst, die erst spät aus dem Westen importiert wurde und sich vorzugsweise an die besitzenden Klassen wandte. In dem Schalksnarren, der selbst dem Zaren die Wahrheit ins Gesicht sagen durfte, erblickte man so etwas wie einen revolutionären Vorfahren. Der Raumkonstruktivismus schließlich, welcher Guckkastenbühne, Vorhang, Kulissen beiseite räumte und die Spielfläche mit fahrbaren Plafonds, Drehscheiben, auf- und niederschwebenden Terrassen, Lifts, Rolltreppen, Hebekränen bebaute, sollte „die Bühne nach dem Vorbild unserer technischen Welt neu formen". Das Bild, das in Meyerholds Theater geboten wurde, stand als Symbol für den rastlosen Aufbau im ganzen Land. Es erhebt sich die Frage, in was für einem Verhältnis denn nun der 191

pure Ästhetizismus von Tairows Kammertheater zur bolschewistischen Revolution stand. Nicht nur, daß Tairow in seiner persönlichen Haltung und Gesinnung alles andere als ein Bolschewist war, er mußte von seinem künstlerischen Standpunkt aus natürlich alle Tendenzen ablehnen, die das Theater zu einem Forum der Agitation und Mobilisierung der Massen machen wollten. In diesem Punkte divergierte seine Auffassung entschieden von der Meyerholds und seiner Gesinnungsgenossen; er wollte nicht eine Erneuerung des kultischen, sondern des ästhetischen Theaters, nicht eine Theatralisierung des Lebens, wie es Jewreinow proklamiert hatte, sondern eine „Theatralisierung des Theaters". Dennoch war es sicher kein bloßes Mißverständnis, wenn alle Welt in Tairows Darbietungen ein Element des Revolutionstheaters sah. Tairow entstammte genau so wie Meyerhold, Jewreinow und die meisten Wortführer des „Theateroktober" jener avantgardistischen Reformbewegung, die vor dem ersten Weltkrieg das russische Kulturleben ergriffen hatte. Diese Bewegung war eine Reaktion auf die Niederlage der Revolution von 1905, gewissermaßen ihre Sublimierung: Nachdem die politischen Hoffnungen der Intelligenz zerstört waren, schlug ihr Emanzipationsstreben ins Ästhetische um. Der betont apolitische und antiideologische Zug der künstlerischen Reformen widerspricht nicht dem dialektischen Zusammenhang; er erklärt sich als ein tiefenpsychologischer Akt der Verdrängung. Als der Alpdruck der auf dem politischen Leben lastete, im Jahre 1917 verschwand, mündete die künstlerische Revolution denn auch sofort in den Strom der politischen Revolution ein. Die Expressionisten, Futuristen, Symbolisten der Literatur wie des Theaters stellten die ersten Protagonisten der revolutionären Kunst, ihre lange vor der Revolution und unabhängig von ihr entwickelten neuen Formen erwiesen sich als durchaus angemessen dem ungestümen Geist der Zeit. Viele Kunstgriffe, die Tairow auf seiner Experimentalbühne ausprobiert hatte, z. B. die synthetische Darstellungsmethode und die stereometrische Gestaltung des Bühnenraums, wurden vom Revolutionstheater ohne weiteres integriert. Andererseits brachte das Jahr 1917 auch für Tairow selbst eine entscheidende Wende. Zuerst einmal kam das Kammertheater — wie auch das Künstlertheater — aus der ewigen finanziellen Misere heraus und konnte großzügig wirtschaften. Das allein hätte vielleicht noch nicht viel genützt (für Stanislawski bedeutete die Revolution trotz mancher finanzieller Vergünstigungen den Schlußpunkt seiner schöpferischen Entwicklung), wenn sich die nachrevolutionäre Atmosphäre nicht zugleich als fruchtbar für Tairows Intentionen erwiesen hätte. Die f ü r Neuerungen aller Art aufgeschlossene Öffentlichkeit nahm die 192

extravagantesten Einfälle mit Begeisterung auf, empfand sie als revolutionäre Taten, so daß der Künstler seiner Phantasie, die er in den ersten Spielzeiten des Kammertheaters oft genug hatte zügeln müssen, freien Lauf lassen konnte. Tairows Theaterarbeit wurde aus der weltfremden und esotherischen Eklusivität, in der sie sich bis dahin abgespielt hatte, in den Trubel des öffentlichen Lebens versetzt. Dieser Kontakt wirkte belebend und anregend auf den Künstler und nahm seinen Schöpfungen den etwas dekadenten, verstiegenen Zug, der ihnen ursprünglich angehaftet hatte. Natürlich geriet auch Wachtangow mit seinen Improvisationsideen sofort in den Bann der Revolution. Damals notierte er in sein Tagebuch: „Wir müssen den aufrührerischen Geist des Volkes spielen . . . Es wäre gut, wenn irgendjemand ein Stück schreiben würde, in dem es keine Einzelrolle gibt. In allen Akten spielt nur die Masse . . . " Von der extremen Individualpsychologie Stanislawskis war er zur ebenso extremen Massenbewegung Meyerholds übergegangen. Schließlich aber fand er, bereits vom Tode gezeichnet, doch noch ganz zu sich selbst. Die großen Inszenierungen, die seinen bleibenden Ruhm ausmachen, rang er den letzten zwei Jahren seines Lebens ab, den Jahren 1921/22, die zu den schrecklichsten Rußlands gehören. Inmitten von N o t , Grauen und Verzweiflung entfaltete Wachtangow, vom Krebs zerfressen, an Lungenentzündung fiebernd, die strahlende Heiterkeit seines Spieltheaters. Die durchschlagende und bezwingende Wirksamkeit seiner Leistung, die nicht nur vom Publikum begeistert begrüßt wurde, sondern auch von seinen berühmten Kollegen — Stanislawski, Nemirowitsch-Dantschenko, Tairow, Meyerhold — akzeptiert wurde, erklärt sich offensichtlich aus dem Umstand, daß er in einer kritischen Stunde die Hoffnungen des ganzen Volkes zu theatralischen Visionen gestaltet hat. Der junge Regisseur, der die Revolution vorbehaltlos begrüßt hatte, empfand wie alle andern, wie Lenin selbst, daß es an der Zeit war, sie zu beenden: In seinen künstlerischen Schöpfungen nahm er das Ende des Schreckens, auf das alle warteten, vorweg. Der Siegeszug, den seine „Turandot" antrat, als er selbst schon auf dem Totenbett lag, fiel in die Zeit der N E P , in jene kurze Spanne politischer und wirtschaftlicher Zugeständnisse, die dem russischen Volk einen Atemzug der Freiheit schenkte. Die Inszenierungen Wachtangows schienen ein Versprechen auf das schönere Leben, das da kommen sollte, auf die Ernte der Revolution. Unter diesem Aspekt änderte sich die Methode der Improvisation bei Wachtangow. Improvisiert wurde nur bei den Proben; da hatte jedes Mitglied des Ensembles Gelegenheit, um Phantasie, Schlagfertigkeit und Witz zur Geltung zu bringen. Aus der Fülle der Vorschläge und Einfälle kristallisierte dann der Regisseur die gültige Gestalt der

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U n i v e r s i t ä t s t a g e 1961

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Inszenierung. Bei der Aufführung wurde nicht mehr improvisiert; es kam nur auf das Gefühl des Improvisierens an, das man gewonnen hatte. Es scheint kein Zufall, daß der Versuch einer Zusammenarbeit mit Gorki auch diesmal mißlang. Offenbar standen, wie schon vor dem Kriege zwischen Gorki und Stanislawski, nun auch zwischen Gorki und dem reifen Wachtangow weltanschauliche Meinungsverschiedenheiten. Das Wesentliche am Gedanken der Improvisation war bei Gorki (wie bei Meyerhold), daß die Schauspieler selbst die Stücke schaffen, wobei die Schauspieler als stellvertretend aufgefaßt werden für die Volksmassen, die, wie es im kommunistischen Sprachgebrauch heißt, „ihr Geschick in die eigenen Hände nehmen". Anders bei Wachtangow. Für ihn war der entscheidende Gesichtspunkt bei der Anwendung der Improvisation nicht die kollektive Produktion kulturpolitischer Aussagen, sondern das freie, gelöste und heitere Spiel, das als Sinnbild eines freien, gelösten und heiteren Lebens stand. Der Unterschied äußerte sich sowohl in der Auswahl des thematischen Materials (Dichtung statt Politik) wie in der Methodik (Spieltheater statt Massenszenen). Wachtangows Abwendung von jeglicher Ideologie enthält ein Element der Zukunftsträchtigkeit, auf das wir noch zu sprechen kommen. Der Oktoberrevolution vollkommen fern stand Stanislawski. Die Umgestaltung der Gesellschaft versetzte seinem Schaffen einen Schlag, von dem er sich nicht mehr erholte. Zuerst hatte er versucht, den Stimmungen der Zeit gerecht zu werden und eine symbolistische Aufführung von Byrons „ K a i n " in Szene gesetzt, die aber wegen ihres religiösen Gewandes (in der Zeit heftigsten Kirchenkampfes!) mißverstanden wurde und durchfiel. Stanislawski machte seiner Verärgerung Luft, indem er nun höchst unzeitgemäß Lecoqs alte Operette „La fille des Madame Angot", eine Verspottung der französischen Revolution, auf den Spielplan seines musikalischen Studios setzte. Es bedurfte der Autorität einiger hoher Parteiführer wie Lenin und Lunatscharski, um Rußlands berühmtestes Theater vor der Liquidation zu bewahren; das Künstlertheater wurde gewissermaßen als kostbares Museumsstück am Leben erhalten. Zur Zehnjahresfeier der Oktoberrevolution 1927, als das Künstlertheater nicht mehr umhin konnte, von der neuen Zeit N o t i z zu nehmen, studierte Stanislawski ein sowjetisches Revolutionsstück ein, Iwanows „Panzerzug 14-69" (ein nicht kommunistisches Bürgerkriegsstück, Bulgakows „Tage der Turbins", hatte ein Jahr zuvor einen unbeschreiblichen Skandal ausgelöst und zurückgezogen werden müssen). Doch auch die Einstudierung von „Panzerzug", die heute von der sowjetischen Historiographie als Bekenntnis Stanislawskis zur Revolution ausgelegt wird, wurde damals, weil sie dem Stück alles Politisch-Plakative nahm, von der Sowjetkritik rigoros abgelehnt. Nach 194

diesem neuerlichen Fehlschlag zog sich der alte Stanislawski in das Schneckenhaus seines Studios zurück. Stanislawski war also einer jener Theaterleute, deren Intentionen der Revolution widersprachen. Was hinderte eigentlich diesen unermüdlichen Experimentator, der zweimal an der Spitze einer Theaterrevolution in Rußland gestanden hatte, sich dem „Theateroktober" anzuschließen? Ganz offensichtlich seine Abneigung gegen das politische Theater, das mit seinen Vorstellungen von der humanen Mission der Kunst nicht vereinbar war. „Tendenz und Kunst sind unvereinbar", schrieb er 1925, „eins schließt das andere aus. Geht man an die Kunst lediglich mit tendenziösen, zweckbetonten und anderen nicht künstlerischen Grundideen heran, so welkt sie wie die Blume in der H a n d . " 3.

Der

E i n b r u c h des S t a l i n i s m u s in die K u n s t Warum ging die Revolutionsepoche des sowjetischen Theaters, die so reich und farbenprächtig erblüht war, so bald zu Ende? Es ist sehr aufschlußreich, heute einen Bericht zu lesen, den ein unbefangener Beobachter wie der österreichische Kritiker Fülöp-Miller Ende der zwanziger Jahre nach einem Besuch in der Sowjetunion niedersdirieb: „Als man in Moskau bei der letzten großen Jubiläumsfeier den zahlreichen Gästen im Großen Theater eine Festvorstellung gab, stand auf der rotgeschmückten Bühne wieder, wie schon so oft, der bengalisch erleuchtete, riesige ,Befreite Erdball', ein unentbehrliches Bühnenrequisit der ersten pathetischen Epoche der Sowjetkunst. Die Kugel war von Menschen umgeben, deren schwere Ketten aus Papiermach£ symbolisch die Sklaverei der früheren Weltordnung andeuten sollten; ein Dichter der Linken Literaturfront deklamierte revolutionäre Hymnen; dann erglühte die Bühne in rotem Schein, die Sklaven warfen ihre Pappketten von sich, der ,Erdball' spaltete sich und spie aus seinem Inneren Menschenmassen hervor, die alsbald den stereotypen Triumphgesang der Revolution anstimmten. Aber wie unecht wirkte jetzt diese Szene! Was einst in seiner naiven Symbolik der künstlerische Audruck einer siegestrunkenen Gläubigkeit gewesen war, das entsprach nun so gar nicht mehr der wahren Stimmung des Publikums. Der pathetische Impuls, der einst diese Theaterform geschaffen hatte, war eben schon seit langem an den tausend Sorgen und Schwierigkeiten des Alltags zuschanden geworden; so blieb von der früheren Begeisterung nichts als der falsche Bühnenzauber übrig." Eindringlicher als jede theoretische Erörterung erhellt dieser Bericht, warum das Revolutionstheater untergehen mußte. Seine Zeit war vorbei; die revolutionäre Illusion wandelte sich zur Lüge. Rußland stand am Kreuzweg: Es mußte entweder zum Despotismus zurück-

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kehren oder zur Demokratie vorwärtsschreiten — eine Permanenz der Revolution, wie Trotzki sie im Sinne hatte, war unmöglich. Vom Revolutionstheater führte der Weg entweder zurück zum theatralischen Byzantinismus oder weiter zu einem freien Theater in einer freien Gesellschaft. Den Weg zu einem freien, einem vorurteilslosen, wahrhaftigen und menschlichen Theater hatte der früh vollendete Wachtangow abgesteckt. Gegen Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre tauchen Elemente seines Spieltheaters bei allen führenden Sowjetregisseuren auf. Diese Wendung des Sowjettheaters erreichte ihren Höhepunkt, als sich der Initiator des „Theateroktober", Meyerhold, von seiner bisherigen Theaterarbeit abwandte und öffentlich zum Erbe Wachtangow bekannte. Diese Entwicklung wurde von liberalen Parteiführern wie Lunatscharski und Bucharin unterstützt, die auf eine Demokratisierung der Sowjetgesellschaft hinauswollten. Die Parteibürokratie unter Stalin hingegen mußte im Theater, sowohl in seinen revolutionären wie seinen nadirevolutionären Tendenzen, eine Gefahr sehen. In den dreißiger Jahren mehrten sich an allen Theatern die Verbote von Stücken und Aufführungen. Die Zensur, die sich solange auf eine Kontrolle des Inhalts beschränkt hatte, griff nun auch in Fragen der Gestaltung ein; der Vorwurf des „Formalismus" wurde zu einem Verderben bringenden Bannfluch. Eine Reihe von bekannten Bühnen wurde geschlossen, darunter das Moskauer Theater Korsch, das Zweite Moskauer Künstlertheater — eine Stanislawski-Gründung, das Realistische Theater Ochlopkows, die von Eisenstein gegründete ProletkultBühne, sämtliche avantgardistischen und experimentierenden Studios und vor allem das Bollwerk des „Theateroktober", das Meyerhold-Theater. Unter der Elite der sowjetischen Theaterkünstler hielt der Stalinsche Terror reiche Ernte; man erinnere sich nur an die Liquidierung Wsewolod Meyerholds und seiner Frau, der Schauspielerin Sinaida Reich, des Erneuerers des ukrainischen Theaters, Les Kurbas, der Dramatiker Isaak Babel, Wladimir Kirschon, Sergej Tretjakow und Mikola Kulisch sowie der gesamten ersten Garnitur der sowjetischen Kritik. Soweit die Theater die große Säuberung der dreißiger Jahre, die Jeshowschtschina, überstanden, gerieten sie nach dem Kriege in eine neue Verfolgungswelle, die Shdanowschtschina. Alexander Tairow, der Leiter des Moskauer Kammertheaters, und Nikolai Akimow, der Leiter der Leningrader Komödie, wurden als „bürgerliche Ästheten" ihrer Positionen enthoben. Das Michoels-Theater, das berühmte jiddische Kammertheater in Moskau, wurde — wie alle jüdischen Kultureinrichtungen — geschlossen. Unter den Opfern der Stalinschen Antisemitismus scheint auch der große Schauspieler Michoels gewesen zu sein, der damals unter mysteriösen Umständen starb. Im Filmschaffen wurde der Meyerhold-Schüler Eisenstein zusammen mit Pudowkin gemaßregelt, 196

auf musikalischem Gebiet die bekanntesten Opern- und Ballettkomponisten Schostakowitsch, Prokoffiew und Chatschaturian. Eigenartig ist, daß die letzten Lebenstage Stanislawskis noch vom Glanz Stalinschen Wohlwollens illuminiert waren. Während der alte Mann dem verfolgten Meyerhold, seinem großen Schüler und Gegenspieler, ein letztes Asyl in seinem persönlichen Studio bot, wurde in seinem Namen, weiß Gott ohne seine Schuld, die Theaterrevolution zerschlagen. Was reizte eigentlich das Regime zur Okkupation des Stanislawski-Systems? Die auf handwerkliche Solidität zielende Methode schien eine Theaterarbeit ohne künstlerischen Funken möglich zu machen. Die Betonung des Ideengehalts einer Inszenierung: der „Uberaufgabe", bot die Chance, unauffällig ideologische Tendenzen einzuschmuggeln, deren offene Propaganda im Plakatstil abstoßend wirkte. Indem man gewisse rationalistische und didaktische Elemente im System, seine naturalistischen Schlacken, hervorhob und die irrationalen und mystischen Elemente aus der symbolistischen Periode unterschlug, ließ es sich halbwegs in den Dialektischen Materialismus einordnen, der ja derselben Wurzel, dem Fortschrittsoptimismus des X I X . Jahrhunderts, entsprang. Die Beschränkung der Anwendbarkeit auf russische Klassiker und Gegenwartsstücke, die eine Folge der Isolierung Stanislawskis nach der Oktoberrevolution war, schmeichelte dem großrussischen Chauvinismus, das Konventionelle und Plausible im Spiel dem kleinbürgerlichen Geschmack der Funktionäre. Immerhin war es zur ungestörten Okkupation des Stanislawski-Systems nötig, die authentischen Schriften des Meisters zurückzuhalten, zum Teil zu unterdrücken; die in der Sowjetunion praktizierte Version des Systems ist erst nach dem Tode der ganzen alten Garde am Künstlertheater von einigen stalinistischen Stanislawski-Schülern ausgearbeitet worden. 4. D i e L e n i n i s t i s c h e Renaissance Zwanzig Jahre später machten Stalins Nachfolger den Versuch, das auf den H u n d gekommene Sowjettheater zu erneuern. Sie beschworen den Geist der 20er Jahre. Mit der lakonischen Bemerkung, sie seien einer „Verletzung der sozialistischen Gesetzlichkeit" zum Opfer gefallen, wurden die großen Toten der Revolutionskunst rehabilitiert: Meyerhold, Babel, Pilnjak, Tretjakow, Kirschon. Das Institut für die Geschichte der Künste bei der Akademie der Wissenschaften der U d S S R bildete gemeinsam mit der Allrussischen Theatergesellschaft eine Kommission, um das Erbe Wsewolod Meyerholds zu betreuen und auszuwerten. Im Moskauer Theater der Satire wurden Majakowski Satiren „Die Wanze" und „Das B a d " auf den Spielplan gesetzt, die über zwei Jahrzehnte verboten waren. Die Stücke, die aus der letzten Schaffensperiode Majakowskis stammen, als der Dichter von der Entartung des 197

Sowjetregimes bitter enttäuscht war, sind eine böse Abrechnung mit der Parteibürokratie. Sie wurden 1929/30 von Meyerhold uraufgeführt und lösten bei der offiziösen Kritik einen unbeschreiblichen Skandal aus, der den Dichter in den Selbstmord trieb. Im Majakowski-Theater führte Ochlopkow die „Aristokraten" von Pogodin wieder auf, eine makabre Komödie von der Zwangsarbeit beim Bau des Ostsee-Weißmeer-Kanals, die er schon vor zwanzig Jahren in Szene gesetzt hatte. Nicht nur, daß er die alte Inszenierung bis ins Detail nachgestaltete, er setzte sogar denselben Hauptdarsteller ein. Erdmanns „Mandat", ein gesellschaftskritisches Stück der Frühzeit, dessen Aufführung einst Meyerhold zum Vorwurf gemacht worden war, wurde getreu nach der historischen Inszenierung rekapituliert. Die Einstudierung besorgte Garin, ein bekannter Meyerhold-Schauspieler, der in der neuen wie schon in der alten Aufführung die Hauptrolle spielte. Gesellschaftskritische Stücke, die lange aus dem sowjetischen Repertoire verschwunden waren, erschienen wieder auf der Bühne. Damit begann sich im Antlitz des sowjetischen Theaterlebens ein Wandel abzuzeichnen. „Hier wird herrliches entfesseltes Theater' geboten, eine Fülle graziöser und bissiger Einfälle, wie sie Tairow, Meyerhold, Obraszow (der berühmte Puppenspieler) auf die Bretter gebracht haben", schrieb Lilly Becher, die Frau des Kulturministers der Sowjetzone, nach einem Besuch in Moskau 1956. Erstmals gab es wieder Inszenierungen, die an die Tradition des Revolutionstheaters anknüpften, eine originelle Handschrift des Regisseurs auswiesen und zu schöpferischen Diskussionen Anlaß gaben. Als Beispiele seien genannt: die Einstudierung der Majakowski-Stücke „Die Wanze", „Das B a d " und „Mysterium B u f f o " durch ein Regie-Kollektiv des Theaters der Satire unter Plutschek, Ochlopkows „Hamlet", die Saltikow-SchtschedrinDramatisierungen von Akimow, die „epische" Darstellung der „Optimistischen Tragödie" (von Wischnewski) durch den jungen Regisseur Towstogonow. Alle diese Aufführungen hatten beim Publikum einen sensationellen Erfolg und waren regelmäßig ausverkauft. Das Echo der Kritik war geteilt — was freilich schon einen Fortschritt gegenüber dem Konformismus der Stalin-Zeit bedeutete. Die Rehabilitierung des Revolutionstheater erschütterte natürlich das Monopol des Stanislawski-Systems. Die Künstler, die solange im Namen Stanislawski reglementiert worden waren, begannen sich vom System loszusagen. Auf einem Plenum des Rates der sowjetischen Theaterorganisation W T O 1956 fragte Nikolai Ochlopkow, der bedeutendste Uberlebende des Revolutionstheaters, dessen Theaterpraxis von Meyerhold inspiriert ist, wie es komme, daß in so vielen sowjetischen Theatern Flügellahmheit, Kleinigkeitsrealismus und Eintönigkeit 198

herrschten. Warum man bei den Aufführungen kein echtes schöpferisches Feuer spüre, keine Begeisterung und keinen Schwung. Sind etwa die Regisseure unfähig geworden? Er gab die Schuld an der Misere des Sowjettheaters der Herrschaft des Stanislawski-Systems, „wie es von seinen Schülern Toporkow und Kedrow auf ihre Art interpretiert wurde". Ochlopkows Rede erregte in sowjetischen Theaterkreisen großes Aufsehen. Die Wachtangow-Schüler Rüben Simonow und Sachawa wandten sich in der Zeitschrift Teatr gegen Stanislawskis Tendenz, seine Kunst des „Erlebens" der Kunst des „Darstellens" starr entgegenzustellen. „Verschwindet aus dem Theater des ,Darstellens' das lebendige Erleben des Schauspielers", meinte Sachawa, „und aus dem Theater des .Erlebens' all das, was mit dem Darstellen zusammenhängt — künstlerische Meisterschaft, Technik, Fertigkeit und künstlerische Absicht —, dann büßen beide, sowohl das Theater des ,Darstellens' wie das Theater des .Erlebens', das Wichtigste ein, was der Kunst ihre gesellschaftliche Bedeutung verleiht: die Fähigkeit, das Leben in seinem Wesen widerzuspiegeln und große Ideen zum Ausdruck zu bringen. In dem einen Falle bleibt eine von der Lebenswahrheit losgelöste nackte Technik übrig, im anderen ein vom Wesen des Lebens losgelöstes, der künstlerischen Form bares Erleben, zwei Hypostasen, zwei Abarten der Handwerkelei, die Stanislawski so haßte." Eine Synthese der beiden Theaterformen sahen die „Wachtangower" natürlich in der Lehre ihres Meisters: „Wachtangow vereinigt in sich sowohl Stanislawski als auch Nemirowitsch-Dantschenko, ja sogar Wsewolod Meyerhold. Außerdem aber ist Wachtangow noch . . . er selbst!" Am schärfsten äußerte sich in Teatr der Regisseur Bebutow: „Es wird Zeit, daß wir uns die schlichte Wahrheit zu eigen machen, daß nicht der Schauspieler für das .System', sondern das ,System' für den Schauspieler da ist. Es ist Zeit, zu begreifen, daß das System Stanislawskis keineswegs der einzige Schlüssel zu den dramatischen Schöpfungen aller Zeiten ist, sondern eine Methode, die auf dem Boden der Dramatik Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden und gewachsen ist, und man wird kaum zu positiven Ergebnissen gelangen, wenn man sie vorbehaltlos auf die Wiedergabe des klassischen Erbes, z. B. der Werke der Renaissance, anwendet. Und schließlich wird es Zeit, daß man aufhört, die Schauspieler und Regisseure, die ihren eigenen Weg gehen und durch ihre Erfahrungen und ihr Suchen die Kunst des viele Nationalitäten umfassenden sowjetischen Theaters bereichern, verächtlich als Formalisten zu bezeichnen." Ein neues Element kam in die sowjetische Theaterdiskussion durch das Gastspiel des „Berliner Ensembles", der Truppe Bertolt Brechts, im Sommer 1957 in Moskau und Leningrad. Der Dramatiker und Theater199

theoretiker Brecht (1898—1956), Stalin-Friedenspreistäger, war das Paradepferd des kommunistischen Theaters, sein Aushängeschild nach dem Westen. Dabei wurde verschwiegen, daß Brecht alle Stücke vor der Ubersiedlung in die sowjetisch besetzte Zone Deutschlands, zum größten Teil in westlicher Emigration, geschrieben hat, daß zu seinen Lebzeiten seine Stücke weder in der Sowjetunion noch in den Volksdemokratien gespielt wurden, daß selbst in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands mehrere seiner Stücke von der Partei verboten wurden und vom Spielplan abgesetzt bzw. umgearbeitet werden mußten. Brecht sympathisierte zwar mit dem Kommunismus, war aber nicht Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) und tauschte demonstrativ seine DDR-Staatsbürgerschaft gegen die des neutralen Österreichs ein. Seine Theatertheorie, das sogenannte Epische Theater, ist von Meyerhold und Piscator beeinflußt. Die Rehabilitierung des sowjetischen Revolutionstheaters bedeutete, daß nun auch Brecht in das Pantheon des Sozialistischen Realismus aufgenommen werden konnte. Das Auftreten des „Berliner Ensembles" wurde von der sowjetischen Kritik ehrfurchtsvoll, wenn auch etwas verwirrt registriert. Charakteristisch ist die Äußerung von Anikst: „Meiner Meinung nach ist das Theater Brechts ein überzeugender Beweis dafür, wie reich und mannigfaltig die Kunst des sozialistischen Realismus ist . . . Das ,Berliner Ensembles' verficht seine besonderen künstlerischen Prinzipien. Gerade aber, weil diese Kunst ausgesprochen individuell ist, bereicherte sie unsere Vorstellungen von der Weite der Möglichkeiten des sozialistischen Realismus." Nach den revolutionären Ereignissen des Jahres 1956 in den Volksdemokratien nahm die Partei den Kampf gegen den „Revisionismus" auch auf dem Gebiete des Theaters auf. Sie bemühte sich, die Hegemonie des Stanislawski-Systems zu retten, in der sie eine Garantie f ü r die Hegemonie der Parteiideologie im Theaterleben sieht. Dabei bediente sie sich, wie bei der Verteidigung des Sozialistischen Realismus, der Taktik, den Begriff erheblich auszuweiten und „dogmatische Entstellungen" zu desavouieren. In einem Aufsatz, der die Allunionskonferenz der Theaterschaffenden, Dramatiker und Theaterkritiker im Oktober 1958 in Moskau vorbereitete, hieß es: „Gegen das Bestreben, das Beste aus den anderen Schulen schöpferisch zu verwerten, ist kaum etwas einzuwenden. Unbegreiflich ist nur folgendes: Warum wird die Hinwendung zu den Traditionen Meyerholds und Wachtangows jetzt als Neuerertum ausgegeben, während die Hinwendung zum ,Stanislawski-System', das sowohl im Meyerhold- als auch im Wachtangow-Theater wie in jedem anderen guten Theater gebraucht wird, von gewissen Kritikern des .Systems' als Routine und Traditionalismus angesehen wird? Nebenbei 200

sei erwähnt, daß es bei Wachtangow und Stanislawski in ihren Anschauungen über die Kunst zweifellos mehr Gemeinsames als Unterschiedliches gab. Deshalb ist es wohl kaum richtig, die Wachtangowsche Tradition von dem Hauptweg des Realismus auf der Bühne, der Schule Stanislawskis, zu trennen. Die Widersprüche, die zwischen ihnen bestehen und nicht absolut, sondern relativ sind, schaffen nicht die Tatsache aus der Welt, daß Wachtangow Stanislawskis nächster Schüler war und diesen bis ans Ende seines Lebens als die höchste künstlerische Autorität ansah. Berührungspunkte gibt es auch zwischen dem Suchen Stanislawskis und dem Meyerholds, der in der Mitte der dreißiger Jahre die neue Methode Stanislawski anerkannte und sidi mit Stanislawski zu gemeinsamer Arbeit in der Kunst zusammenschloß." Nachdem somit alles „Künstlerisch Wertvolle" bei Wachtangow und Meyerhold a priori in das Stanislawski-System einverleibt wurde, folgert der Artikel: „Die Theorie einer Hybride von verschiedenen Richtungen der Kunst ist ebenso wenig ernst zu nehmen wie eine Rückkehr zur Biomechanik Meyerholds, zum Theater der zwanziger Jahre, wie das einige Autoren vorschlugen." 5. F a z i t Es hat sich also als unmöglich erwiesen, das Revolutionstheater zu restaurieren. Die Kunst jener Epoche bezog ihre Überzeugungskraft und Ausdrucksgewalt aus dem Pathos der damals noch ungebrochenen revolutionären Illusionen. Sie stellte die Qualen und Widersprüche der Zeit mit schonungsloser und unerbittlicher Aufrichtigkeit dar und legitimierte sie aus dem inbrünstigen Glauben an das Herannahen einer besseren Weltordnung. Stalin und Shdanow haben diese Kunst, die dem internationalen Ansehen des Bolschewismus doch so nützlich war, nicht aus Mutwillen oder bloßem Banausentum zerstört. Sie spürten mit mehr Instinkt als Verstand, daß sich die revolutionäre Aussage in dem Augenblick gegen den Bolschewismus selbst richten mußte, als sich dessen heroische Ideale zur Realität der Sowjetgesellschaft materialisierten. Und alles das, was die revolutionäre Kunst der zwanziger Jahre f ü r den Stalinismus unannehmbar machte: ihre Wahrheitsliebe, ihre Anprangerung allen Übels und ihr leidenschaftlicher Wille zur Veränderung der Welt, trennt sie auch vom nachstalinistischen Sowjetsystem. Das Tauwetter hat gezeigt, daß jede Kunstäußerung, die sich zur Wahrheit bekennt, an den Grundfesten der Parteidiktatur rüttelt. Audi kann man den Künstlern nicht in formaler Hinsicht schöpferische Freiheit zubilligen, den Inhalt aber vorschreiben. Als Nachfahren von Hegel und Marx sollten die Sowjettheoretiker wissen, daß man Form und Inhalt nicht voneinander trennen kann, beide zusammen ergeben die Aussage, auf die es ankommt. Der Kampf gegen den „For201

malismus", den die Stalinisten führten, ging ja niemals nur um Formfragen. Ein echter Künstler, der von dem Drang des Sagenwollens erfüllt ist, wird, wenn er die formalen Grenzen der Kunst erweitert, zugleich auch neue Ideen und Gehalte hervorbringen. Die Erlaubnis zum Experiment birgt also für das Regime immer eine große Gefahr. Das Revolutionstheater ist eine historisch abgeschlossene Epoche. Selbst wenn die Partei eine freie Entwicklung des sowjetischen Theaterlebens gestatten würde, kämen die zwanziger Jahre nicht wieder. Die revisionistischen Theaterkünstler bekannten sich zum Revolutionstheater lediglich, um die dogmatischen Schranken des Stalinismus aufzubrechen. Im übrigen drängten sie, wie die Diskussionen und Inszenierungen des Tauwetters zeigten, vielmehr zum Spieltheater Wachtangows, damit an eine Entwicklung anknüpfend, die die sowjetischen Theaterkünstler mit Meyerhold an der Spitze schon Ende der zwanziger Jahre einzuschlagen versuchten. Wenn man bedenkt, daß diese Richtung in der ganzen westlichen Welt vorherrscht, liegt der Gedanke nahe, daß es sich hier um die legitime theatralische Ausdrucksform der demokratischen Gesellschaft handelt. Selbst bei der Auflehnung gegen Moskau sind die Mittel des alten Revolutionstheaters nicht zu gebrauchen, weil es sich um die Emanzipation des Menschen und nicht — wie 1917 — einer revolutionären Idee handelt. Alle Tauwetter-Werke, in der Sowjetunion wie in den Volksdemokratien, waren kritisch statt pathetisch, gestalteten das Individuum und nicht die Masse. Das Dilemma des Sowjettheaters entpringt dem Grundwiderspruch der totalitären Gesellschaft zwischen Menschlichkeit und Macht. Wohl kann das Regime Wahrheit und Menschlichkeit aus der Kunst verbannen und durch Propagandafloskeln ersetzen, aber im gleichen Augenblick zerbricht sie ihm unter den Händen. Gerade die Überzeugungskraft der Kunst, die die Bolschewisten zu ihrer Okkupation reizte, ist im Sozialistischen Realismus ausgelöscht. Das Regime kann schöpferische Persönlichkeiten, die der Wahrheit die Ehre geben, töten oder in Konzentrationslagern zugrunde gehen lassen, doch die Folge ist nicht eine Dienstbarkeit des Geistes, sondern ein verheerender Mangel an Initiative und Begabung. Es liegt auf der Hand, daß ein solches System zu Krisen führen muß: Weder werden sich die Künstler, mag man sie noch so unter Druck setzen, je mit der Vergewaltigung ihrer Intentionen abfinden, noch kann eine Gesellschaft auf die Dauer ohne ein kulturvolles Leben, ohne Kunst und Wissenschaft existieren. Aus dieser Problematik heraus brach sich das Tauwetter Bahn. Die Krise wird aber nicht eher überwunden sein, bis das ideologische Monopol der Partei in der Kunst aufgegeben ist.

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STRUKTUREN DER SOWJETBETRIEBE IN T H E O R I E UND PRAXIS Von

Wolfgang

Förster

In der sowjetzonalen Monatszeitschrift für Theorie und Praxis des wissenschaftlichen Sozialismus „Einheit" lesen wir: „Eine entscheidende Wurzel für die Lebenskraft des dialektischen Materialismus ist seine tiefe Verbundenheit mit der gesellschaftlichen Praxis. D e r dialektische und historische Materialismus als das philosophische Fundament des Marxismus-Leninismus kann seine weltverändernde, revolutionäre Funktion gerade deshalb ausüben, weil er eine aus der revolutionären Praxis geborene Theorie ist, die sich mit der Entwicklung der gesellschaftlichen Wirklichkeit selbst weiterentwickelt." 1 Ich stelle dieses Zitat unserer Betrachtung voran, weil es — auch wenn man sich gedanklich damit nicht identifizieren kann — die Zusammenhänge andeutet, in denen unser Thema „Strukturen der Sowjetbetriebe in Theorie und Praxis" zu suchen ist. Das gilt insbesondere dann, wenn wir dieses Thema nicht isoliert innerhalb der von mir vertretenen Spezialdisziplin der Ostprobleme der Betriebswirtschaft behandeln wollen, sondern es als Beitrag zum Rahmenthema der diesjährigen Universitätstage verstehen. Dabei liegt es, wie ich glauben möchte, sehr wohl im Sinne der zur Diskussion gestellten Materie, daß sich auch — oder gerade — der Betriebswirt dazu äußert. Denn mag es auch für eine streng betriebswirtschaftliche Denkweise etwas ungewohnt, wenn nicht gar abwegig erscheinen, so müssen wir doch sagen: Im Sowjetbetrieb treffen sich Ideologie und Ökonomie und machen ihn zu einer Stätte des Vollzugs der Geschichte des Marxismus und seiner Entwicklung zur Gestalt des Marxismus-Leninismus im Alltag. Bemühen wir uns, betriebswirtschaftliche Tatbestände und die hinter ihnen stehenden Ordnungskräfte gemeinsam wirken zu lassen, so erweist sich der Sowjetbetrieb als ein aufschlußreiches Forschungsobjekt zur Aufhellung nicht nur der Zentralverwaltungswirtschaft sowjetischen Typs, sondern des gesamten marxistisch-leninistischen Gesellschaftssystems. I. D i e R o l l e d e s Betriebes sowjetischen Gesellschaftsordnung ( O r dn u n g spo 1 i t isc h e S t r u k t u r ) Die so verstandenen Zusammenhänge lenken unsere Aufmerksamkeit zunächst auf die ordnungspolitische Struktur, d. h. auf die Rolle in

der

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des Betriebes in der sowjetischen Gesellschaftsordnung. D a z u bedarf es der A b g r e n z u n g : Was meinen wir m i t „ S t r u k t u r " und was mit „Sowjetbetrieb"? In dem Bestreben, so weit möglich m i t den vorhandenen Sprachregelungen a u s z u k o m m e n , d ü r f e n wir uns hinsichtlich des Begriffes „ S t r u k t u r e n " an die gebräuchlichen Terminologien halten, d. h. darunter das innere Gefüge, die Z u s a m m e n s e t z u n g einer Ganzheit verstehen. Schwieriger wird es m i t dem Betriebsbegriff. H i e r reicht t r o t z der Vielfalt der in der westlichen betriebswirtschaftlichen Literatur angebotenen Definitionen keine aus, die Wesenszüge des Sowjetbetriebes umfassend zu kennzeichnen. Z u m einen liegt das daran, daß eben — wie wir schon andeuteten — außerhalb der Kategorien unserer üblichen betriebswirtschaftlichen Denkweise nicht n u r ökonomische, sondern auch ideologische B e s t i m m u n g s f a k t o r e n maßgeblichen Einfluß auf die S t r u k t u r des Sowjetbetriebes haben. Z u m anderen zeigt sich auch innerhalb der sowjetischen Vorstellungen kein einheitliches Bild; zumindest offenbaren sich hier nicht unerhebliche graduelle Unterschiede f ü r die verschiedenen Phasen der sowjetischen Wirtschaftsentwicklung. Unbeschadet der näheren Einzelheiten dieser Unterschiede gilt nach der heute maßgeblichen A u f f a s s u n g der Sowjetbetrieb als die „historisch- konkrete Organisationsform" zur „Verwirklichung gesellschaftlichökonomischer Prozesse" 2 , in deren A u s f ü h r u n g die „Einheit v o n Politik u n d Ö k o n o m i e " 3 hergestellt werden muß. E r ist „nicht nur eine bewußt gewollte und planmäßig entwickelte O r g a n i s a t i o n s f o r m der gesellschaftlichen P r o d u k t i v k r ä f t e , nicht nur die materiell-technische Basis f ü r die Befriedigung gesamtgesellschaftlicher Bedürfnisse; er ist zugleich wesentlicher Bestandteil der gesellschaftlich-ökonomischen Basis der D i k t a t u r des Proletariats, die V e r k ö r p e r u n g sozialistischer P r o d u k tionsverhältnisse. Diese beiden ,Seiten' des sozialistischen Industriebetriebs sind untrennbar miteinander verbunden, sie bilden eine unlösbare E i n h e i t " 4 . Im Sinne dieser östlichen Q u e l l e n entnommenen Fixierung soll der Begriff „ S o w j e t b e t r i e b " f ü r unsere weitere Betrachtung verwendet werden, dargestellt an der Erscheinungsform des sowjetrussischen Staatsbetriebes u n d des ihm in seiner Organisationsstruktur weitestgehend angeglichenen V E B der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. D e r so konzipierte Sowjetbetrieb ist damit nicht nur die Keimzelle der Wirtschaft, wie mein verehrter Lehrer Heinrich Nicklisch sagte, sondern zugleich die G r u n d z e l l e des Staates; nicht nur eine Stätte f ü r den Vollzug wirtschaftlicher Prozesse, sondern zugleich eine maßgebliche Institution zur Schaffung des „Menschen neuen T y p s " , des „ S o w j e t menschen". Durch die Betriebs-Parteiorganisation, durch die Betriebs204

Gewerkschaftsleitung oder durch das betriebliche Komsomolaktiv wird der Betriebsangehörige permanent gesellschaftspolitisch beeinflußt und in Anspruch genommen, und zwar nicht nur während der Arbeitszeit, sondern auch danach durch organisierte Freizeitgestaltung; in Anspruch genommen in seiner Zeit, wie in seinem Denken. In Verbindung damit verschieben sich tragende Funktionen der Familie, die nach unseren Vorstellungen Zelle und H o r t des Gemeinwesens bildet, im Sowjetsystem in den Betrieb. Auf diesem Wege soll der Mensch aus des „homo individuus" zum wesenlosen „zoon politikon" umgeformt werden. Bezogen auf die Lehre von Basis und Überbau, deren philosophisches Gerüst in den vorangegangenen Vorträgen abgehandelt wurde, hat der Sowjetbetrieb damit zugleich Basis- wie Uberbaucharakter. Im Zeichen dieses theoretischen Doppelaspekts gibt es eine solche Vielzahl von Strukturelementen und strukturbestimmenden Faktoren, daß es ausgeschlossen ist, sie innerhalb des für unseren Bericht gezogenen Rahmens erschöpfend darzustellen. In dem Bestreben, trotz der damit gebotenen begrenzten Auswahl wenigstens repräsentative Einsichten zu gewinnen, scheint es uns angezeigt, die bisher gewonnenen Erkenntnisse zunächst einmal mit der Frage zu verbinden, wie die Ablaufprozesse im Sowjetbetrieb funktionieren sollen und funktionieren können, wenn das dazu geschaffene Gefüge gleichzeitig ökonomischen wie völlig andersartigen Zwecken dienen soll. II.

Das im

Gefüge determinierter Betriebsprozesse Dienste p 1anp o 1itischer Funktionen ( P1an p o 1 itische Struktur) Anhalte hierzu finden wir in einer Analyse des Planungssystems sowjetischer Prägung. Gehen wir etwa im Sinne der Schoeckschen Strukturuntersuchung über die U S A 5 davon aus, daß es „bei jeder Erscheinung, jedem Motiv, jeder Struktur in einem Gesellschaftssystem, einem Volk oder einem Wirtschaftskörper" darauf ankommt, wie ihre Beziehungen zum Ganzen geordnet sind und in welchem Maße sie sich dennoch frei entfalten können, so finden wir im Gegensatz dazu im sowjetischen Planungsgefüge ein System, das mit Hilfe der Ideologie alle Regungen auf einen einheitlichen Nenner zwingt und einer monolithischen Willensbildung unterordnet. Im Sinne dieser Konzeption bestimmt sich das Betriebsleben im Sowjetbetrieb nach einem von außen festgelegten Betriebsplan, der aus dem von der Zentrale festgesetzten Volkswirtschaftsplan abgeleitet ist oder — wie wir unter Verwendung der sowjetischen Sprachregelung sagen dürfen — die Konkretisierung des Volkswirtschaftsplanes darstellt. Dieser Betriebsplan „sichert die prinzipielle Übereinstimmung der betrieblichen Tätigkeit mit den objektiven gesamtgesellschaftlichen 205

Erfordernissen, er trägt den Charakter eines gesamtgesellschaftlichen Auftrages" 6 , sagen uns dazu östliche Kommentare. Hieraus resultiert, daß der Sowjetbetrieb niemals ein souveränes Gebilde mit dem Recht zu selbständigen Entscheidungen sein kann, sondern immer nur Vollzugsorgan. Umgekehrt, von der Zentrale her gesehen, ist das Gefüge determinierter Betriebsprozesse im Dienste planpolitischer Funktionen dazu bestimmt, in den Regionen der Wirtschaftspraxis die gesamtgesellschaftliche Entwicklung im Sinne des dialektischen und historischen Materialismus zu verwirklichen. Dank dieser planpolitischen Struktur ist der Sowjetbetrieb nur bedingt ein Wirtschaftssubjekt. Seine Aktionsfähigkeit ist eine relative. Sie beschränkt sich unter der Bezeichnung „operative Selbständigkeit" letztlich auf die Anwendung und Kombination technisch-organisatorischer Mittel. Diese Beschränkung schließt allerdings nicht aus, daß es im Sowjetbetrieb nicht auch Spannungen gäbe. Sie bestehen einmal darin, daß sich trotz aller Determination bestimmte Prozesse und Erscheinungen in der sowjetbetrieblichen Praxis anders darstellen, als sie nach den der sowjetsozialistischen Ökonomik zu Grunde liegenden „objektiven Gesetzmäßigkeiten" wirken sollen. Daraus ergeben sich zum zweiten gewisse Gegensätze zwischen betrieblichen und gesamtgesellschaftlichen Interessen und zum dritten eine Polarität zwischen Plan und Erfüllung. Vergleichen wir diese Spannungen mit korrespondierenden Erscheinungen marktwirtschaftlicher Unternehmungen, etwa mit der Polarität zwischen Produktion und Bedarf im Sinne Müller-Armacks oder mit der von dem Zürcher Betriebssoziologen Gerwig als Bestimmungsfaktor für das Betriebsleben hervorgekehrten Spannung Natur-Geist 7 , so könnte man annehmen, die skizzierten Widersprüche im Sowjetbetrieb seien ein Ausdruck des französischen Sprichwortes "chassez le naturel, il revient au galop". Ob die sowjetischen Experten diesen Ausspruch kennen, wissen wir nicht. Aber wir können registrieren, daß sie auf alle Fälle bemüht sind, die planpolitische Struktur ihrer wirtschaftlichen Betriebe vor solchen Eventualitäten zu feien. Unter der dialektischen Erklärung, daß es sich bei den festgestellten Gegensätzen im Sowjetbetrieb um nicht-antagonistische Widersprüche handele, haben sie für diese Zwecke das System der betrieblichen Planung in so viele wechselseitig miteinander verflochtene Teilpläne aufgegliedert, daß sich in den Maschen dieses Netzes etwa aufgekommene planwidrige Tendenzen doch nach geraumer Zeit verstricken müssen. Wie weit diese Verflechtung geht, sei wenigstens mit einem Hinweis auf die Hauptbestandteile dieses Gefüges, das die Bezeichnung „ T E C H P R O M F I N - (in der SBZ T E C H I N F I N - ) S y s t e m trägt, angedeutet. Normalerweise gehören dazu der Produktionsplan, der Plan der Kapazitätsauslastung, der Plan der technischen Entwick206

lung des Betriebes, der Arbeitskräfteplan, der Materialversorgungsplan, der Investitionsplan, der Selbstkostenplan, der Plan organisatorischtechnischer Maßnahmen und der Finanzplan 8 . Bekennen wir uns zu der Auffassung, daß das sowjetische Wirtschaftssystem vornehmlich durch zwei Merkmale gekennzeichnet ist, nämlich durch das gesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln u n d die zentrale Planung, so dürfen wir angesichts des Techpromfinsystems wohl sagen, daß damit ein straffer Transmissionsriemen für die Übertragung planpolitischer Willensbildungen der Zentrale auf die Betriebspraxis geschaffen ist. III.

Betriebliche Organisationsformen (Betriebspol it ische Struktur) Unbeschadet dessen könnte es Widerstände geben, die den Transmissionsakt aufhalten oder gar zum Stillstand bringen. Das würde um so schwerer wiegen, als dank der planpolitischen Struktur in den Betrieben kein eigenes Antriebsaggregat vorhanden ist. Der Vermeidung von Schwierigkeiten dieser Art dient die betriebspolitische Struktur des Sowjetbetriebes. Sie bestimmt seine Eigentums- und Organisationsform. Beides entspringt dem gleichen Motiv: Will man die hochgesteckten Planziele erreichen, so bedarf es eines der Zentrale willfährigen Apparates in den Produktionsstätten. Unter dem Eigentumsaspekt sollen die darin tätigen Menschen — insbesondere die leitenden Kader — von dem Willen der Zentrale in Abhängigkeit gehalten werden. Unter dem organisatorischen Aspekt sollen sie gefügig gemacht werden, Höchstleistungen für den Apparat zu erbringen. Nach der Theorie des Marxismus-Leninismus ist dabei der Eigentumsaspekt das Primäre. Engels sagt dazu: „ D i e gesellschaftliche Aneignung der Produktionsmittel beseitigt nicht nur die jezt bestehende künstliche H e m m u n g der P r o d u k t i o n , sondern auch die positive Vergeudung und Verheerung v o n P r o d u k t i v k r ä f t e n und P r o d u k t e n . " 9 U n d i m L e h r b u c h „Politische Ö k o n o m i e " lesen w i r : „Kennzeichnend f ü r die sozialistischen Produktionsverhältnisse ist das gesellschaftliche Eigentum an den P r o d u k t i o n s m i t t e l n . " 1 0

Weiter hören wir, daß das gesellschaftlich-sozialistische Eigentum an den Produktionsmitteln die Identität von Eigentümer, Produzent und Konsument bewirkt und eine objektive Interessengleichheit der gesamten Gesellschaft gewährleistet. Damit, so möchte man glauben, könne es überhaupt keine spezifischen betriebspolitischen Strukturprobleme mehr geben. Gleichwohl offenbaren sie sich als ein „Hauptgegenstand der wirtschaftspolitischen Aktivität in der Sowjetunion" 11 . Dieses Gefüge — oder vielleicht besser gesagt: dieser Widerspruch erklärt sich nach dem Lehrbuch „Politische Ökonomie" so, daß der im Kapitalismus erreichte Entwicklungsstand der Großproduktion der 207

Ausgangspunkt f ü r die Schaffung der Produktivkräfte ist, die der sozialistischen Produktionsweise entsprechen. „Dabei wird die Großproduktion, die als Erbe vom Kapitalismus an die neue Ordnung übergeht, von Grund aus einer . . . Rekonstruktion unterzogen." 12 Wie dem auch sei, ob uns diese Erklärung befriedigt, oder ob wir im diametralen Gegensatz dazu der These Boschs in seinem beachtenswerten Buche „Marktwirtschaft-Befehlswirtschaft" 13 folgen, daß die Eigentumsregelung auch in einer alles umfassenden Befehlsorganisation eine cura posterior sei, es bleibt übrig, daß die Bemühungen um die „richtige" betriebspolitische Struktur ein vordergründiges Anliegen der Zentralverwaltungswirtschaft sowjetischen Typs darstellen. Da sich unter dem Eigentumsaspekt nicht mehr viel rekonstruieren läßt, nachdem zumindest im Sektor der sowjetischen Industriebetriebe die höchste Form der politökonomisch denkbaren Entwicklung erreicht ist, müssen sich die entsprechenden Bemühungen im organisatorischen Bereich niederschlagen. Hierbei geht es gleichermaßen um die Gestaltung des innerbetrieblichen wie die des zwischen- und überbetrieblichen Gefüges sowie um die Ausstattung mit dem notwendigen Rüstzeug unter besonderem Einsatz des Faktors Technik. Die innerbetriebliche Struktur präsentiert sich als FunktionärsHierarchie, wobei wir meinen, daß der Funktionärsstatus wesenhaft durch die Organisationsstruktur bedingt und keineswegs eine selbstverständliche Funktion der Eigentumsverhältnisse ist14. An der Spitze dieser Hierarchie steht der mit quasi-hoheitsrechtlichen Befugnissen ausgestattete kommunistische Werkdirektor. Seine Tätigkeit als Chef des Betriebsgeschehens übt er — was uns für die Charakteristik der innerbetrieblichen Struktur besonders anmerkenswert erscheint — in der Eigenschaft als „Beauftragter der Gesellschaft und damit des Staates" aus1Ä. Er muß gleichermaßen fachlich versiert wie politisch zuverlässig sein, wobei die geltenden Qualifikationsmerkmale ausdrücklich erwähnen, daß er einen Menschen leninistischer Prägung verkörpern muß. Ihm untersteht — im strengsten Sinne des Begriffs „Subordination" zu begreifen — das gesamte Betriebsgeschehen, aufgeteilt in kaufmännische und technische Verantwortungsbereiche mit einer Ausnahme: der Finanzwirtschaft. Für diese verantwortlich zeichnet als zweitmächtigster Mann neben dem Werkdirektor der Hauptbuchhalter. Er ist dem Werkdirektor zwar auch verwaltungsmäßig unterstellt, aber nicht im Sinne der zuvor gekennzeichneten Subordination. Er hat vielmehr das Recht, im Zweifel sogar die Pflicht, die finanzielle Transaktion solcher Dispositionen des Werkdirektors zu verweigern, die nicht im Betriebsplan vorgesehen sind. Insofern steht der Hauptbuchhalter alsdann de facto als Kontrolleur sogar über dem Werkdirektor. 208

Einmal dargestellt an den Verhältnissen der Volkseigenen Betriebe in der SBZ, kennzeichnen wir diese eigentümliche Doppelrolle des Hauptbuchhalters durch ein Zitat aus der Verordnung vom 17.2.55 über die Stellung der Hauptbuchhalter in den Betrieben der volkeigenen und ihr gleichgestellten Wirtschaft pp. (Gesetzblatt „ D D R " , Teil I, Nr. 15, S. 139). Hier heißt es: „ D e r Hauptbuchhalter ist der staatliche K o n t r o l l e u r für die Einhaltung der Wirtschafts- und Finanzdisziplin. E r ist insbesondere verpflichtet, durch seine K o n trolle die Durchsetzung des Sparsamkeitsregimes mit H i l f e des Prinzips der wirtschaftlichen Rechnungsführung zu sichern. . . . Er hat den Kontrollbericht und die übrigen gesetzlich vorgeschriebenen Finanzberichte aufzustellen und termingemäß an die zuständigen Dienststellen weiterzuleiten."

Diese Sonderstellung des Hauptbuchhalters in der Betriebshierarchie erscheint als eine interessante Querverbindung zwischen der betriebspolitischen und der planpolitischen Struktur. Sie will bewirken, daß der Werkdirektor die Machtvollkommenheit, die ihm zur optimalen Erfüllung der Planaufgaben übertragen ist, nicht zu autonomen, im Plan nicht vorgesehenen, von der Zentrale nicht gewollten Aktionen mißbraucht. Dieses Motiv bestimmt auch das Vorhandensein zweier weiterer Glieder im hierarchischen Gefüge, die wenigstens noch dem Namen nach erwähnt werden müssen: der Betriebsparteiorganisation und der Betriebsgewerkschaftsleitung' 6 . Sie sind berufen, in wechselseitiger Inspiration und Überwachung den optimalen Vollzug der Befehlsorganisation zu stimulieren. Trachten wir danach, das Wesenhafte der Führungsorgane des Sowjetbetriebs zusammenfassend durch einen Vergleich zu veranschaulichen, so bietet sich dazu die Führungsstruktur im alten Sparta an. Dort gab es bekanntlich zwei Könige, das Gremium der Ephoren und die Gerusia, die wechselseitig zueinander ein Gegengewicht bilden sollten, um auf diese Weise die strikte Einhaltung der Gesetze zu gewährleisten. So sind etwa die beiden Könige im Sowjetbetrieb der Werkdirektor und der Hauptbuchhalter, die Ephoren die Betriebsgewerkschaftleitung und die Gerusia die Betriebsparteiorganisation. Im Sinne dieses Gegengewichtsprinzips gliedert sich das innerbetriebliche Gefüge über Abteilungen und Unterabteilungen, immer im Zeichen straffer Subordination, bis hinunter zum untersten Produktionskollektiv, der sogenannten Brigade. Es handelt sich dabei nach sowjetischer Darstellung „um ein besonderes, dem Sozialismus eigenes Verwaltungsprinzip, das die volle Verantwortlichkeit der Leiter . . . sowie die Unterordnung eines jeden Mitarbeiters unter einen Leiter gewährleistet" 17 . (Prinzip der Einzelleitung).

14

U n i v e r s i t ä t s t a g e 1961

209

Als ein typisches Gegengewichtsorgan registrieren wir in diesem Zusammenhang auch den Dispatcher, der sozusagen als magisches Auge des Betriebes die Aufgabe hat, Reibungen im Keime zu erkennen und f ü r Abhilfe zu sorgen. Alle menschlichen wie Sachleistungen innerhalb des so gefügten Apparates bemessen sich nach Normen: Arbeitsnormen, Materialverbrauchsnormen oder Normen f ü r die Leistungsfähigkeit der Ausrüstungen. Als determinierter Aufwand f ü r die Ausführung einer bestimmten Verrichtung innerhalb einer bestimmten Zeit haben die Normen eine zwiefache Funktion: Zum einen dienen sie als Berechnungsgrundlage, denn die Zentralverwaltungswirtschaft hat infolge Fehlens des Marktmechanismus sonst keine Bewertungsanhalte; zum anderen verbindet man mit ihnen einen Leistungsanreiz. Soweit die innerbetriebliche Struktur. Im Rahmen der verfügbaren Zeit sehr viel kürzer alsdann nur ein paar Hinweise zur betriebspolitischen Struktur im zwischen- und überbetrieblichen Bereich. Sie steht im zwischenbetrieblichen Bereich im Zeichen der „sozialistischen Kooperation, Spezialisierung und Kombination", d. h. einer weitestgehend gegliederten Arbeitsteilung von Betrieb zu Betrieb; im überbetrieblichen Bereich im Zeichen des „demokratischen Zentralismus", d. h. einer Zentralisierung in den Grundfragen bei Dezentralisierung in den Einzelfragen. Bezogen auf das Betriebsleben soll sich der demokratische Zentralismus — nach der Theorie — „vor allem in der unmittelbaren Teilnahme der Werktätigen des Betriebes an der Planung, Leitung und Realisierung gesellschaftlich-ökonomischer Prozesse" 18 ausdrücken. In welchem Sinne dieses Postulat praktisch verwirklicht ist, soll im Schlußteil unseres Berichtes gesondert untersucht werden. Der bevorzugte Einsatz der Technik, von dem wir jetzt noch zu sprechen haben, wenn wir die zuvor aufgezählten bestimmenden Faktoren für die betriebspolitische Struktur deutlich machen wollen, umfaßt die Anwendung höchstentwickelter Maschinentechnik, Mechanisierung, Vollmechanisierung und Automatisierung. Gleichermaßen gehört dazu die Entwicklung der Technologie, Elektrifizierung, Entwicklung der Chemie und Ausnutzung von Kernenergie. Damit haben wir, trotz äußerster Beschränkung auf nur einige der wichtigsten Bestandteile, einen voluminösen Katalog von Elementen und bestimmenden Faktoren für die betriebspolitische Struktur. Gleichwohl verbleibt, wie die sowjetischen Fachdarstellungen klar zu verstehen geben, eine erhebliche Diskrepanz zwischen dem theoretischen Soll und dem praktischen Ist in der Effizienz des geschaffenen Gefüges. Zur Qualifizierung dieser Diskrepanz drei kurze Beispiele: 210

a) zur innerbetrieblichen Struktur: L a u t einer Studie des wissenschaftlichen Mitarbeiters im Osteuropa-Institut, R u d o l f Becker, die in einer der letzten N u m m e r n des „ V o l k s w i r t " veröffentlicht wurde, haben sowjetische Untersuchungen ergeben, d a ß allein wegen unzulänglicher Organisation gegenwärtig etwa 10 bis 15 °/o der Arbeitszeit ungenutzt bleiben; in einigen Wirtschaftszweigen sogar bis zu 50 %> 1 0 .

b) zur zwischenbetrieblichen Struktur: In der Q u e l l e n s a m m l u n g zu einer gegenwärtig in der betriebswirtschaftlichen Forschungsgruppe des Osteuropa-Instituts v o n Werner G e b h a r d geführten Produktivitätsuntersuchung findet sich ein Bericht aus der Zeitschrift „ V o p r o s y e k o n o m i k i " , wonach eine Lemberger F a b r i k Ausrüstungen an eine andere F a b r i k in Lemberg liefert. A b e r der Vertrag zur L i e f e r u n g dieser Ausrüstung wird nicht zwischen den Betrieben in Lemberg abgeschlossen, sondern jeder schließt mit dem Beschaffungs- und A b s a t z o r g a n ab, das sich in K i e w befindet 2 0 . (Ich ergänze: von L e m b e r g nach K i e w sind es 526 km.)

c) zur überbetrieblichen Struktur: D i e Zahl der f ü r die Leitung der sozialistischen Industrie in der S o w j e t union zuständigen Ministerien pendelte zwischen 60 zu Beginn der fünfziger J a h r e , 25 im J a h r e 1953, 46 im A p r i l 1954, 52 im J a h r e 1956 und 8 im M a i 1957.

Nach dem politökonomischen Dogma handelt es sich bei diesen Erscheinungen um anzuprangernde Mißstände, die aber nicht auf einen Mangel im System, sondern letztlich auf menschliches Versagen oder auf Entwicklungsschwächen zurückzuführen sind. Nach dem Ergebnis unserer Strukturanalyse möchten wir annehmen, daß die Ursachen tiefer liegen, nämlich darin, daß man die Keime für initiativ-schöpferisches Operieren zum Zwecke individueller Bedarfsdeckung und Bedarfsweckung im Sowjetbetrieb abgetötet hat. IV. D a s G e r ü s t d e r F o n d s (Finanzpolitische Struktur) Diese Hinweise auf das Wirken gegensätzlicher Kräfte zwischen Ideal und Realität erinnern uns an jenen Bereich, auf den uns die zuvor skizzierte eigentümliche Rolle des Hauptbuchhalters aufmerksam machte: Wir meinen damit die Mobilisierung einer möglichen Polarität zwischen den Repräsentanten der Wirtschafts- und Finanzdispositionen im Sowjetbetrieb. Die Suche nach ihren Elementen lenkt unseren Blick auf die Vermögens- und Kapitalstruktur des Sowjetbetriebes. Wenn wir in diesem Zusammenhang das Wort „Kapital" gebrauchen, so sind wir uns dessen voll bewußt, daß dieser Ausdruck in bezug auf einen sowjetsozialistischen Betrieb gewissermaßen eine Sünde wider den heiligen Geist ist. Gleichwohl wagen wir es, davon zu spredien, wenn wir uns einmal eine sowjetische Bilanz ansehen. Zwar finden wir darin gewißlich nicht die Bezeichnung Kapital, aber wir stoßen ein14'

211

deutig, und ohne daß wir lange suchen müssen, unter der Bezeichnung „Fonds" (wörtlich übersetzt: Statutenfonds) auf einen Posten, der ihr funktionsmäßig durchaus entspricht. Ein auf das Wesenhafte der beiderseitigen Termini „Fonds" und „Kapital" gerichteter Vergleich zeigt: „In beiden Fällen handelt es sich um einen Ausdruck für die abstrakte Vorrätigkeit der Werte, die in den konkreten Güterkategorien der Aktivseite verkörpert ist." 2 1 Das ideologisch geächtete Kapital ist damit praktisch, nur unter der anders lautenden Bezeichnung „Fonds" und mit der Maßgabe, daß es nicht Privat-, sondern Staatskapital ist, in den Sowjetbetrieb zurückgekehrt. Mit dieser Form der finanziellen Ausrüstung hat in der betrieblichen Sphäre ein Postulat Lenins Gestalt gefunden, mit dem er sagt: „ M a n d a r f nicht vergessen, daß alle unsere radikalen R e f o r m e n zum Scheitern verurteilt sind, wenn wir in der Finanzpolitik keinen E r f o l g haben werden. Von dieser letztgenannten A u f g a b e hängt der E r f o l g des von uns geplanten gewaltigen Werkes der sozialistischen U m g e s t a l t u n g der Gesellschaft a b . "

Entsprechend dem diesem Postulat innewohnenden Erfolgsaspekt wird zu einem entscheidenden Bestimmungsfaktor für die finanzpolitische Struktur des Sowjetbetriebes neben der Bereitstellung der Fonds als Quasi-Kapital die Pflicht zur Mehrung der Fonds in Gestalt von Gewinnauflagen. Der Sowjetbetrieb hat bestimmungsgemäß danach zu trachten, ein Reineinkommen zu erzielen. Dieses Reineinkommen ist zum Teil an den Staat abzuführen, zum Teil verbleibt es dem Betrieb, wobei der dem Betrieb verbleibende Gewinnanteil nochmals aufzuspalten ist, nämlich durch Zuführungen an einen Sonderfonds, Betriebsfonds genannt. Dieser Sonderfonds ist u. a. für Prämierungen sowie für kulturelle und soziale Maßnahmen zugunsten der Belegschaftsmitglieder bestimmt. Auf diese Weise wird das Gewinnstreben nicht nur zu einem Ausdruck des kommerziellen Interesses des Betriebes als solchem, sondern zugleich des persönlichen Interesses eines jeden Einzelnen. Man nennt dieses das Prinzip der materiellen Interessiertheit. Versuchen wir dieses Prinzip im Sinne des klassischen Marxismus zu qualifizieren, so müssen wir sagen: Es ist unsozialistisch. Denn es war doch wohl gerade das materielle Interesse, zumindest das kommerzielle Eigeninteresse, das Marx für das Grundübel erachtete, aus dem er die Entfremdung und Unfreiheit des Menschen erklärte. V.

Betriebliche Sozialordnung (Sozialpolitische Struktur) Diese Aspekte führen uns zum letzten Bereich, nach dessen Struktur wir heute fragen wollen: in das Gebiet der betrieblichen Sozialordnung. Hierfür besonders maßgeblich erscheinen uns Institutionen wie Leistungslohn, Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung, Betriebkollek212

tivvertrag, Produktionsberatungen u n d Mitbestimmung. D a z u k o m m t eine R e i h e w e i t e r e r E l e m e n t e der z u v o r u n t e r s u c h t e n S t r u k t u r e n w i e Subordination, Demokratischer Zentralismus, Arbeitsnormen, Materielle Interessiertheit u. ä., die g e m e i n s a m m i t d e n spezifischen E l e m e n t e n der s o z i a l p o l i t i s c h e n S t r u k t u r das B e t r i e b s k l i m a b e w i r k e n . "Worin b e s t e h t n u n dieses g e m e i n s a m e W i r k e n ? M a r x w o l l t e e i n e n h u m a n i t ä r e n S o z i a l i s m u s z u r V e r m i t t l u n g einer „ H a r m o n i e der i n d i v i d u e l l e n T ä t i g k e i t e n " . Ist dieses A n l i e g e n auch o d e r noch der K e r n des sozialen G e f ü g e s des Sowjetbetriebes? U m diese Frage z u b e a n t w o r ten, erscheint es u n s n o t w e n d i g , die s o w j e t i s c h e n Q u e l l e n selber sprechen z u lassen, d e n n es ist dabei f ü r soziales D e n k e n i n n i c h t - s o w j e tischen K a t e g o r i e n z u m Teil s o U n g e h e u e r l i c h e s z u sagen, d a ß es nicht als D e u t u n g , s o n d e r n als P o l e m i k erscheinen m ö c h t e . U m diesen E i n druck z u v e r m e i d e n , h a l t e n w i r u n s an das „ ö k o n o m i s c h e W ö r t e r b u c h " v o n K o s l o w u n d P e r w u c h i n , das 1958 — also nach der l e t z t e n R e f o r m der s o w j e t i s c h e n W i r t s d i a f t s v e r w a l t u n g — i m V e r l a g G o s p l a n i s d a t , M o s k a u , erschien 2 3 . H i e r a u s n u r drei S t i c h w ö r t e r : a) Leistungslohn. Er ist „die Form des Arbeitslohnes, bei der die Lohnhöhe nach den tatsächlich von den betreffenden Werktätigen hergestellten Produkten bemessen wird. . . . Der Leistungslohn im Sozialismus unterscheidet sich seinem Charakter nach grundsätzlich vom Stücklohn im Kapitalismus, denn die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ist beseitigt. . . . Unter kapitalistischen Bedingungen . . . bewirkt der Stücklohn eine ständige Steigerung der Arbeitsintensität und eine Erhöhung der Mehrwertrate. . . . In den sozialistischen Betrieben hält der Leistungslohn dazu an, . . . die Arbeit und die Produktion bestmöglich zu organisieren. Der Leistungslohn f ü h r t zur Steigerung der Arbeitsproduktivität (und) fördert den sozialistischen Wettbewerb. Rund drei Viertel aller Industriearbeiter der UdSSR stehen im Leistungslohn." b) Sozialistischer Wettbewerb. Er ist „die der sozialistischen Produktionsweise eigene Methode, auf der Grundlage der Aktivität . . . der werktätigen Massen die Produktivität . . . zu steigern . . . Er ist darauf gerichtet, die vom sozialistischen Staat aufgestellten Volkswirtschaftspläne in jedem Produktionsbetrieb . . . zu erfüllen und zu überbieten . . . Eine außerordentlich wichtige Rolle bei der E n t f a l t u n g des Wettbewerbs spielt das Prinzip der Verteilung nach der Arbeitsleistung. Die persönliche materielle Interessiertheit des einzelnen an den Ergebnissen seiner Arbeit spornt die Werktätigen der sozialistischen Gesellschaft dazu an, . . . die Fertigungsmethoden zu vervollkommnen sowie gegen Routine und Trägheit vorzugehen. . . . In der sowjetischen Industrie beteiligen sich über 90 Prozent aller Arbeiter am sozialistischen Wettbewerb. D e r sozialistische Staat und die Kommunistische Partei leiten den sozialistischen Wettbewerb an, fördern und unterstützen ihn in jeder Hinsicht." c) Produktionsberatungen. Sie sind die „sozialistische Form der unmittelbaren Beteiligung der breiten Massen der Werktätigen an der Leitung der P r o duktion in den Betrieben. . . . Auf den Produktionsberatungen werden . . . vor allem Maßnahmen erörtert, um die Stillstands- und Wartezeiten auszuschalten, die Arbeits- und Fertigungsdisziplin zu stärken sowie die Erfahrungen . . . der Produktionsneuerer zu übernehmen. Die Produktionsberatungen überprüfen den Plan . . . zur Erfüllung des Produktionsprogrammes, zur Steigerung der Arbeits213

Produktivität und zur Senkung der Selbstkosten. Ihre Leitung liegt in den H ä n den der Gewerkschaftsorganisationen."

Wir können aus zeitlichen Gründen diese Dokumentation über den Kern sozialpolitischer Elemente leider nicht fortsetzen 25 . Allein diese kurze Anthologie aus maßgeblicher sowjetischer Quelle dürfte aber wohl hinreichen, eine Vorstellung von der de-facto-Ordnung zu vermitteln. Sie läßt sich kurz auf die Formel bringen: Nach der Abschaffung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ist die Ausbeutung zur Staatsaktion geworden. Damit ist zugleich die zuvor zurückgestellte Frage nach dem praktischen Wert des Postulats über die unmittelbare Teilnahme der Werktätigen an der Realisierung gesellschaftlich-ökonomischer Prozesse im Sowjetbetrieb beantwortet. Es zeigt sich: Von einer echten Mitbestimmung kann nicht die Rede sein. Weder auf die Bestimmung der inneren sozialen Ordnung (betriebliche Mitbestimmung) noch auf die Bestimmung des Produktionsganges (wirtschaftliche Mitbestimmung) können die Produktionsberatungen Einfluß nehmen. Es geht vielmehr allein um die optimale Durchsetzung planpolitischer Ziele mit Hilfe sozialpolitischer Institutionen. Diese Tendenz ist letztlich der Hauptfaktor für die Bestimmung sämtlicher Strukturen, die wir heute zu analysieren versuchten. In Weiterführung ähnlicher Gedanken Georg von Rauchs 26 dürfen wir daraus schließen: Es erweist sich, daß allein in der Vergesellschaftung der Produktionsmittel weder eine Voraussetzung noch eine Garantie für bessere Lebensbedingungen der Menschen liegt. Vielmehr kommt es offensichtlich darauf an, welches menschliche Verhältnis, welche menschliche Verpflichtung und welches menschliche Verständnis diejenigen fühlen, die die Produktionsmittel dirigieren. Orientieren sie sich bei ihren Dispositionen nicht an der sozialen Würde des Individuums, sondern an den Ansprüchen des Kollektivs, so ergeben sich daraus Schroffheiten der Hierarchie und der Abhängigkeit „wie im westlichen Frühkapitalismus, damals, als Karl Marx den Finger auf diese Wunde legte." 2 7 Sehen wir uns nüchtern unter dem Aspekt solcher Schroffheiten die sowjetischen Betriebsstrukturen an, so dekuvriert sich — losgelöst von der dialektischen Bemäntelung — ihr Gefüge durchaus als Ausdruck jener Ordnung, die zwar in der modernen pluralistischen Industriegesellschaft des Westens längst überwunden ist, die aber das Lehrbuch „Politische Ökonomie" dem kapitalistischen Betrieb vorwirft, nämlich als despotisch 28 . Damit bestätigt unser Blick in die mikroökonomischen Gefilde für das Verhältnis des Leninismus zum Marxismus aus der Praxis des Alltags eine ähnliche Konfrontation, wie sie in einigen der vorangegangenen Vorträge bereits von höherer Warte her anklang. 214

Quellennachweis 1

Bartel, Horst/Finger, Otto: „Friedrich Engels — Mitschöpfer des wissenschaftlichen Sozialismus"; in „Einheit", (Ost-)Berlin, H e f t 11/1960, S. 1653.

- Jansen, Walter: „Uber die gesellschaftliche Leitung des sozialistischen Industriebetriebes"; in „Wirtschaftswissenschaft", (Ost-)Berlin, H e f t 4/1960, S. 514. 3 Jordan, Götz: „Wissenschaftliche Beratung über Rolle, Bedeutung und Durchsetzung der Grundfragen des Marxismus-Leninismus"; in „Wirtschaftswissenschaft", (Ost-)Berlin, H e f t 7/1960, S. 1072. 4 Jansen, Walter: a.a.O., S. 516. 5

Schoeck, Helmut: „ U S A — Motive und Strukturen", Stuttgart 1958.

6

Jansen, Walter: a.a.O., S. 520.

7

vgl. dazu Gerwig, Ernst: „Die soziologische Struktur des Industriebetriebes", Zürich und Stuttgart 1960. Aus der Reihe der hierzu vorliegenden umfangreichen Spezialliteraturen vgl. insbesondere Kamenizer, S. E.: „Organisation und Planung des sozialistischen Industriebetriebes", Moskau 1950 (deutsche Übers. (Ost-)Berlin 1953) und Kontorowitsch, W.: „Der Betriebsplan des Industriebetriebes", Moskau 1953 (deutsche Übers. (Ost-)Berlin 1955).

8

9

10

11

Engels, Friedrich: „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft", Ausgabe des Verlages „Neuer Weg", (Ost-)Berlin 1945, S. 57 ff. Lehrbuch „Politische Ökonomie", deutsche Übers, nach der 3. überarbeiteten russischen Ausgabe (Ost-)Berlin 1959, S. 496. vgl. hierzu Knirsdi, Peter: „Das erste Jahr des neuen Plans"; in „Osteuropa", Stuttgart, H e f t 6/1960, S. 408.

12

Lehrbuch „Politische Ökonomie", a.a.O., S. 488.

13

Bosch, Werner: „Marktwirtschaft — Befehlswirtschaft", Heidelberg 1960, S. 21. vgl. hierzu Studie des Verf.: „Leitungsbefugnisse im Sowjetbetrieb"; in „Osteuropa-Wirtschaft", Stuttgart, H e f t 1/1960, S. 1 ff.

14

15

vgl. hierzu Kamenizer, a.a.O., S. 116-119.

16

in wörtlicher Ubersetzung sprich: „Gewerkschaftskomitee" — Wegen näherer Einzelheiten und weiterer Glieder vgl. im übrigen Wilmut, Adolf: „Analyse der betriebswirtschaftlichen Struktur der volkseigenen Betriebe", (West-) Berlin 1958 (Wirtschaftswissenschaftliche Veröffentlichungen des OsteuropaInstituts an der Freien Universität Berlin, Band 7).

17

Kamenizer, a.a.O., S. 117.

18

Jansen, a.a.O., S. 518/19.

10

Becker, Rudolf: „Muß der Sowjetbürger schneller arbeiten?" in „Der Volkswirt", Frankfurt/M., H e f t 48/1960, S. 2585.

20

vgl. hierzu Chalfina, R . : „Der staatliche Betrieb unter den neuen Bedingungen der Industrieverwaltung"; in „Voprosy ekonomiki" N r . 5/1959, S. 68 (russ.).

21

vgl. Wilmut, a.a.O., S. 88.

22

Lenin, W . I . : „Werke", Band X X I I I , S. 18 (russ.).

215

23

K o s l o w , G . A . und Perwuchin, S. P . : „ ö k o n o m i s c h e s Wörterbuch", M o s k a u 1958 (Formulierungen zitiert nach der deutschen Übers, im V e r l a g „ D i e Wirtschaft" (Ost-)Berlin 1960).

24

im „ ö k o n o m i s c h e n Wörterbuch", deutsche Obers, unter „Wettbewerb, sozialistischer" verzeichnet.

25

wegen näherer Einzelheiten unter Darstellung der Verhältnisse in der S B Z vgl. Studie des V e r f . : „Wirtschafts- und Sozialpolitik im Wechselspiel"; in „ D i e Sozialpolitik in d e r sowjetischen Besatzungszone Deutschlands", B a n d 5 der Schriften der Gesellschaft f ü r Sozialen Fortschritt e.V., verlegt bei Duncker & H u m b l o t (West-)Berlin 1957.

26

v. Rauch, G e o r g : „ S t r u k t u r v e r ä n d e r u n g e n der sowjetischen Gesellschaft", Essen 1958 (Vortrag anläßlich des R u ß l a n d - S e m i n a r s des S t i f t e r v e r b a n d e s f ü r die deutsche Wissenschaft; als M a n u s k r i p t vervielfältigt.).

27

ebenda, S. 10.

28

vgl. Lehrbuch „Politische Ö k o n o m i e " , a.a.O., S. 109.

216

G R U N D S Ä T Z E UND METHODEN DER ENTWICKLUNGSPLANUNG IM SOWJETSYSTEM Von K a r l

C.

Thalheim

Zentrale Planung der Volkswirtschaft ist eines der entscheidenden Elemente des Wirtschaftssystems, das in der Sowjetunion auf der ideenmäßigen Grundlage des Marxismus-Leninismus aufgebaut worden ist. Der Bolschewismus beruft sich zur theoretischen Begründung der von ihm entwickelten Ordnungsformen menschlichen Zusammenlebens immer auf Marx und Engels, er erhebt den Anspruch, das geistige Erbe dieser beiden Schöpfer des „wissenschaftlichen Sozialismus" allein richtig zu verstehen und zu verwalten. Nun steht im Mittelpunkt des ökonomischen Werkes von Karl Marx die Analyse des Ablaufs der Wirtschaftsprozesse in dem Wirtschaftssystem seiner Zeit, das er „Kapitalismus" nannte. Ich spreche wegen der Verschwommenheit dieses Wortes lieber von „unternehmerischer Marktwirtschaft", werde aber der Einfachheit halber in meinen folgenden Ausführungen die Begriffe „Kapitalismus" und „kapitalistisch" so verwenden, wie sie Marx verwendet hat und wie sie auch heute noch von der sowjetischen Politökonomie gebraucht werden. Marx glaubte, durch seine Analyse des „Kapitalismus" nachweisen zu können, daß dieses Wirtschaftssystem der ausreichenden inneren Ordnungs- und Gleichgewichtskräfte ermangele. Es besteht nach seiner Auffassung ein „Grundwiderspruch" zwischen den durch die moderne Technik rasch wachsenden Produktivkräften einerseits, den Produktionsverhältnissen andererseits, d. h. vor allem dem Privateigentum an den Produktionsmitteln und der dadurch ermöglichten Aneignung des „Mehrwertes" durch die privaten Kapitaleigentümer. Zwar verwendet Marx selbst nur selten den in der marxistischen, Literatur häufig zu findenden Ausdruck „Anarchie der kapitalistischen Produktionsweise"; der Sache nach entspricht aber die Marx'sche Analyse des Wirtschaftsprozesses im Kapitalismus durchaus diesem Begriff. Denn ihr entscheidendes Anliegen ist eben der Nachweis der systembedingten Ordnungslosigkeit dieses Wirtschaftssystems; sie kann — das ist die notwendige Konsequenz der Marx'schen Analyse — nur durch eine zentrale Planung der Wirtschaftsprozesse auf der Basis des gesellschaftlichen Eigentums an den Produktionsmitteln aufgehoben werden. Ich zitiere eine Stelle aus dem 3. Bande des „Kapital", in der dieser 217

f ü r die Marx'sche A n a l y s e des „Kapitalismus" m a ß g e b e n d e G e d a n k e des Widerspruchs zwischen P r o d u k t i v k r ä f t e n u n d Produktionsverhältnissen deutlich z u m Ausdruck k o m m t : „Die wahre Schranke der kapitalistischen Produktion ist das Kapital selbst, ist dies: d a ß das Kapital und seine Selbstverwertung als Ausgangspunkt und E n d p u n k t , als Motiv und Zweck der Produktion erscheint; daß die Produktion nur Produktion f ü r das Kapital ist und nidit umgekehrt die Produktionsmittel bloße Mittel f ü r eine stets sich erweiternde Gestaltung des Lebensprozesses f ü r die Gesellschaft der Produzenten sind. Die Schranken, in denen sich die Erhaltung und Verwertung des Kapitalwerts, die auf der Enteignung und Verarmung der großen Masse der Produzenten beruht, allein bewegen k a n n , diese Schranken treten daher beständig in Widerspruch mit den Produktionsmethoden, die das Kapital zu seinem Zweck anwenden muß, und die auf unbeschränkte Vermehrung der Produktion, auf die Produktion als Selbstzweck, auf unbedingte Entwicklung der gesellschaftlichen P r o d u k t i v k r ä f t e der Arbeit lossteuern. D a s Mittel — unbedingte Entwicklung der gesellschaftlichen P r o d u k t i v k r ä f t e — gerät in fortwährenden Konflikt mit dem beschränkten Zweck, der Verwertung des vorhandenen Kapitals. Wenn daher die kapitalistische Produktionsweise ein historisches Mittel ist, um die materiellen P r o d u k t i v k r ä f t e zu entwickeln und den ihr entsprechenden Weltmarkt zu schaffen, ist sie zugleich der beständige Widerspruch zwischen dieser ihrer historischen Aufgabe und den ihr entsprechenden gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen." 1 ) I n der Zeit, in der die deutsche S o z i a l d e m o k r a t i e ihre ökonomischen Grundideen n a h e z u ausschließlich v o n M a r x u n d Engels übernahm, w u r den diese Vorstellungen auch v o n ihr v ö l l i g geteilt. H i e r f ü r m ö g e n z w e i Stellen aus dem Erfurter P r o g r a m m der Sozialdemokratischen Partei v o m Jahre 1891 den B e w e i s bringen: „Der Abgrund zwischen Besitzenden und Besitzlosen wird noch erweitert durch die im Wesen der kapitalistischen Produktionsweise begründeten Krisen, die immer umfangreicher und verheerender werden, die allgemeine Unsicherheit zum Normalzustand der Gesellschaft erheben und den Beweis liefern, d a ß die P r o d u k t i v k r ä f t e der heutigen Gesellschaft über den Kopf gewachsen sind, d a ß das Privateigentum an Produktionsmitteln unvereinbar geworden ist mit deren zweckentsprechenden Anwendung und voller Entwicklung . . . N u r die Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an Produktionsmitteln . . . in gesellschaftliches Eigentum, und die Umwandlung der Warenproduktion in sozialistische, für und durch die Gesellschaft betriebene Produktion (Hervorhebung von Th.) kann es bewirken, d a ß der Großbetrieb und die stets wachsende Ertragsfähigkeit der gesellschaftlichen Arbeit f ü r die bisher ausgebeuteten Klassen aus einer Quelle des Elends und der Unterdrückung zu einer Quelle der höchsten W o h l f a h r t und allseitiger harmonischer Vervollkommnung werde." 2 ) W i e s t e h t es n u n m i t d e r G e l t u n g dieser G e d a n k e n in d e r h e u t i g e n sowjetischen „ P o l i t ö k o n o m i e " ? Es w a r in den V o r t r ä g e n dieser U n i v e r s i t ä t s t a g e mehrfach d a v o n die Rede, daß in den mehr als vier J a h r z e h n t e n der E n t w i c k l u n g des Sowjetsystems einige der aus d e m klassischen M a r x i s m u s ü b e r n o m m e n e n G r u n d v o r s t e l l u n g e n wesentlich umgestaltet o d e r mindestens „uminterpretiert" w o r d e n sind. Für d i e beiden v o n mir genannten G r u n d p r i n z i p i e n des Wirtschaftssystems, das gesellschaftliche E i g e n t u m an den P r o d u k t i o n s 218

mittein und die behauptete Überlegenheit einer zentral geplanten Wirtschaft über eine sich selbst regulierende Marktwirtschaft, gilt das jedoch nicht; sie sind für das sowjetische Wirtschaftsdenken auch heute noch in der gleichen Weise wie eh und je Axiome, die absolut wahr und jeder intellektuellen Kritik entzogen sind. Aus der Frühzeit des Bolschewismus möchte ich hierzu Nikolaj I. Bucharin, den bedeutendsten Wirtschaftsdenker zitieren, den die bolschewistische Partei damals besaß; er schrieb 1919 über den Wirtschaftsprozeß im „Kapitalismus" folgendes: „Nicht die ganze Gesellschaft berechnet, wieviel und was sie braucht, sondern die Fabrikanten lassen ganz einfach erzeugen, einzig mit der Berechnung, mehr Profit zu bekommen und ihre Gegner auf dem M a r k t e zu schlagen . . . Die Anarchie der Produktion ( H e r v o r h e b u n g v o n T h . ) zieht den K a m p f auf dem M a r k t nach sich: jeder will dem anderen die K ä u f e r abfangen, sie auf seine Seite ziehen, den M a r k t erobern . . . D a erfolgt nicht nur kein Ineinandergreifen der Bestandteile der kapitalistischen Gesellschaft, sondern ein direkter Zusammenstoß derselben." 3 )

Bucharin ist, wie so viele Angehörige der „Alten Garde" des Bolschewismus, in einem der großen Terrorprozesse der stalinistischen Aera 1938 zum Tode verurteilt und hingerichtet worden; sein Name wird heute in der Sowjetunion nicht mehr genannt, sein wesentlicher Beitrag zur Entwicklung der sowjetischen Politökonomie unterschlagen. Aber an der Anerkennung dieser beiden Grundprinzipien hat sich nichts geändert; das mögen einige Stellen aus dem offiziellen Lehrbuch „Politische Ökonomie" zeigen, das von einem Gelehrtenkollektiv des Instituts für Ökonomie der Akademie der Wissenschaften der U d S S R bearbeitet worden ist. In der neubearbeiteten 3. Ausgabe dieses Lehrbuches, die in Moskau im Jahre 1958 erschien, heißt es über den „GrundWiderspruch der kapitalistischen Produktionsweise": „Also kennzeichnet die kapitalistische Ordnung ein tiefer Widerspruch: die Produktion erlangt immer mehr gesellschaftlichen C h a r a k t e r , während das E i g e n t u m an den Produktionsmitteln privatkapitalistisches E i g e n t u m bleibt, das mit dem gesellschaftlichen C h a r a k t e r der P r o d u k t i o n unvereinbar ist. Der Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und der privatkapitalistischen Form der Aneignung der Ergebnisse der Produktion bildet den Grundwiderspruch des Kapitalismus. Dieser Widerspruch findet seinen Ausdruck in der zunehmenden Anarchie der kapitalistischen P r o d u k t i o n und dem Anwachsen der Klassenantagonismen zwischen dem P r o l e t a r i a t einerseits und der Bourgeoisie andererseits. Mit der Entwicklung der kapitalistischen P r o d u k tionsweise verschärft er sich immer m e h r . " 4 )

Und noch deutlicher wird dieses Verharren bei den vor mehr als 100 Jahren unter völlig anderen Voraussetzungen entwickelten Vorstellungen des klassischen Marxismus an anderen Stellen dieses Lehrbuches, an denen es sich mit der Entwicklung nach dem 2. Weltkrieg beschäftigt. Hier heißt es: „ N a c h dem zweiten Weltkrieg begann die zweite E t a p p e der allgemeinen Krise des Kapitalismus, die eine weitere Vertiefung dieser Krise bedeutet . . . I n der zweiten E t a p p e der allgemeinen Krise des Kapitalismus erfolgt eine

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weitere Verstärkung der Ausbeutung und eine Verschlechterung der Lage der Arbeiterklasse . . . Einige Theoretiker der heutigen Sozialdemokratie (insbesondere in Westdeutschland) behaupten, daß die neuesten Veränderungen in der Produktionstechnik angeblich neue unbegrenzte Entwicklungsperspektiven für die im Geiste einer Verstärkung der Elemente des Staatskapitalismus reformierte kapitalistische Ordung eröffnen. In der Tat aber sind die heutigen Errungenschaften von Wissenschaft und Technik und vor allem die damit eröffneten Perspektiven ein äußerst anschaulicher Beweis dafür, daß die Produktivkräfte der modernen Gesellschaft über den engen Rahmen der kapitalistischen Produktionsverhältnisse hinausgewachsen sind und daß angesichts dieser Tatsache die Interessen des weiteren Fortschritts der Gesellschaft gebieterisch die revolutionäre Ablösung des Kapitalismus durch den Sozialismus (Hervorhebung von Th.) verlangen." 5 )

Gedruckt im Jahre 1958! Sie sehen also, meine D a m e n und Herren: In dieser Auffassung von der Anarchie der kapitalistischen Produktionsweise und der Notwendigkeit, sie durch eine zentrale Planung auf der Basis des gesellschaftlichen Eigentums an den Produktionsmitteln zu überwinden, finden wir eine völlig einheitliche Linie in den 110 Jahren vom Erscheinen des „Kommunistischen Manifestes" bis zur 3. Ausgabe des offiziellen sowjetischen Lehrbuches der „Politischen Ökonomie" — eine völlig andere Entwicklung also, als sie Prof. Flechtheim in einem der ersten Vorträge f ü r das Verhältnis der deutschen Sozialdemokratie zu den Lehren von Karl Marx geschildert hat. Der sowjetische Kommunismus hält an diesen Grundauffassungen des klassischen Marxismus auch dort fest, wo sie ganz offenbar in Widerspruch zur heutigen Wirklichkeit in den sogenannten kapitalistischen Ländern stehen, so z. B. — denken Sie an die vorhin zitierte Stelle des „Lehrbuchs" — an der Lehre von der fortschreitenden absoluten Verelendung des Proletariats. Hier zeigt sich ganz besonders deutlich die dogmatische Gebundenheit des sowjetischen Wirtschaftsdenkens. Immer wieder haben sich zwar in den über 40 Jahren der Entwicklung des Sowjetsystems Gegensätze zwischen den Forderungen der ökonomischen Rationalität und der dem Wirtschafstsystem zu Grunde liegenden Dogmatik ergeben. Sie haben auch in einer Reihe von wichtigen Punkten dazu geführt, daß die ursprünglichen Methoden und Organisationsformen der zentralen Planung zum Teil erheblich umgestaltet worden sind. An deren Grundprinzipien aber hat sich nichts verändert. Daß die Formen der Verwirklichung dieser Grundprinzipien immer wieder verändert werden mußten, ist nun wahrhaftig kein Wunder. Denn darüber, wie eigentlich eine zentrale Planung der Wirtschaft aussehen müsse, welche Probleme durch sie gelöst werden müßten, darüber hatte der klassische Marxismus fast nichts ausgesagt. Der Entwicklungsprozeß des Kapitalismus müsse — so glaubten die Klassiker des Marxismus und ihre Nachfolger — notwendig dazu führen, daß sich bereits im Schöße 220

der kapitalistischen Wirtschaft und Gesellschaft Vorformen einer sozialistischen Ordnung herausbildeten, die nur freigesetzt oder weiter entwickelt werden müßten, wenn das Proletariat die Macht übernommen hätte. So bemühte sich z. B. ein nichtkommunistischer marxistischer Wirtschaftsdenker, Rudolf Hilferding, in seinem 1910 erschienenen Buche „Das Finanzkapital" um den Nachweis, daß die neuen Organisationsformen der kapitalistischen Wirtschaft, wie z. B. die Kartelle, bereits als solche Vorformen des Sozialismus anzusehen seien. Es ist fast eine Ironie der Geschichte, daß vor 1914 die wichtigsten Beiträge zur Entwicklung einer Theorie der Planwirtschaft von nichtsozialistischen Denkern geleistet worden sind, so etwa von dem italienischen Nationalökonomen Enrico Barone in seinem berühmten, 1908 erschienenen Aufsatz „Das Produktionsministerium im kollektivistischen Staat". Als Lenin und die übrigen Angehörigen der „Alten Garde" des Bolschewismus nach der Oktoberrevolution 1917 darangingen, eine neue Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung auf der Basis der Vorstellungen des klassischen Marxismus zu entwickeln, da fehlte ihnen infolgedessen nicht nur jede praktische Erfahrung — denn ein Wirtschaftssystem der zentralen Planung unter modernen Voraussetzungen hatte es ja noch nie gegeben —, sondern auch jedes systematische theoretische Fundament eines solchen Systems. Es ist fast belustigend zu sehen, wie naiv zum Teil die Vorstellungen dieser Männer über Art und Gewicht der von ihnen zu lösenden Probleme waren, deren Schwere dann erst die bolschewistische Praxis deutlich gezeigt hat. So schrieb z. B. der vorhin bereits genannte Bucharin noch im Jahre 1919 über den Ablauf einer zentralen Planung: „Das statistische Zentralbüro rechnet aus, wieviel Stiefel, Beinkleider, Wurst, Wichse, Weizen, Leinwand usw. im Laufe des Jahres produziert werden müssen; es rechnet aus, welche Zahl v o n Genossen dazu auf den Feldern, in den Wurstfabriken, in den großen öffentlichen Schneiderwerkstätten arbeiten müssen — und in entsprechender Weise werden nun die Arbeitshände verteilt . . . Genau werden audi die alljährlichen Bedürfnisse der Gesellschaft berechnet." 6 )

Diese Worte zeigen deutlich, wie geringe Vorstellungen Bucharin damals von der eigentlichen Problematik einer zentralen Planung hatte, und er selbst mußte später zugeben: „Wir begannen unsere Revolution, ohne uns eine Vorstellung von jenen ungeheuren Schwierigkeiten zu machen, die die Revolution zur Folge haben würde." 7 ) In den späteren Veröffentlichungen Bucharins zeigen sich allerdings die Wirkungen der in der Praxis gemachten Erfahrungen, vor allem die Einsicht, daß f ü r das Gelingen einer zentralen Planung entscheidend das Problem der Proportionalität sei — der Proportionalität zwischen Produktion und Konsum ebenso wie das der Proportionalitäten zwischen den verschiedenen Wirtschaftszweigen. Für die heutige Politökonomie der Sowjetunion spielt auf Grund der in den vergangenen drei Jahrzehnten 221

seit dem Beginn des ersten Fünfjahresplanes im Jahres 1928 gemachten Erfahrungen dieses Problem der Proportionalität in der Wirtschaftsentwicklung eine sehr bedeutende Rolle. Aber die „vordergründig" vertretenen Auffassungen machen sich die Lösung dieses Problems sehr einfach. Denn danach ist eines der sogenannten „ökonomischen Gesetze des Sozialismus" das angebliche „Gesetz der planmäßigen, proportionalen Entwicklung der Volkswirtschaft"; diese wird nach der offiziellen These durch den allgemeinen Plan für die vergesellschaftete sozialistische Großproduktion gewährleistet. So heißt es z. B. im Lehrbuch der „Politischen Ökonomie" : „Aus dem gesellschaftlichen Eigentum an den Produktionsmitteln ergibt sich die Notwendigkeit und Möglichkeit der planmäßigen Entwicklung der sozialistischen Wirtschaft." 8 ) Es ist freilich kennzeichnend, daß ein nach dieser Auffassung doch, so entscheidend wichtiges ökonomisches Gesetz nur in sehr unbestimmten Formulierungen definiert wird. Das ist, wie am Rande bemerkt sei, kennzeichnend für die Unbestimmtheit, mit der der Begriff des „ökonomischen Gesetzes" in der heutigen sowjetischen Wirtschaftslehre verwendet wird. Es handelt sich dabei in Wirklichkeit ja keineswegs um ein Gesetz im Sinne eines zwingenden Zusammenhangs von Ursache und Wirkung, sondern um eine Forderung, die durch das System der zentralen Planung realisiert werden soll, und die Erfahrungen in den letzten drei Jahrzehnten zeigen so deutlich wie möglich, daß seine Realisierung keineswegs immer gelungen ist; im Gegenteil sind — dafür ließen sich viele Beispiele erbringen — o f t gerade durch die zentrale Planung Disproportionalitäten mit schwerwiegenden Konsequenzen geschaffen worden. Die marxistischleninistische Kritik am kapitalistischen Wirtschaftssystem behauptet, daß dieses systembedingt zur Entstehung von Disproportionalitäten führen müsse, während die zentrale Planung auf der Basis des gesellschaftlichen Eigentums an den Produktionsmitteln systembedingt die Entstehung von Disproportionalitäten ausschlösse; aber die letztere Behauptung ist nicht nur unbewiesen, sondern es ist im Gegenteil ihre Unrichtigkeit durch die praktische Erfahrung erwiesen worden. Ein System der zentralen Planung umschließt immer zweierlei: einmal die Planung der laufenden Wirtschaftsprozesse unter den durch das jeweils gegebene Potential bestimmten Voraussetzungen; zum anderen die Planung der wirtschaftlichen Entwicklung, des wirtschaftlichen Wachstums. Beides steht natürlich in einem sehr engen Zusammenhang, wie an folgendem einfachen Beispiel klargemacht sei: Soll im Rahmen der Entwicklungsplanung die Erzeugung von Elektroenergie gesteigert werden, so müssen auch in der Planung der laufenden Wirtschaftsprozesse die für dieses Wachstum notwendigen Anlagen zur Erzeugung von Elektroenergie eingeplant werden. Da die diesem Vortrag gesetzte Zeit mich jedoch zur Beschränkung zwingt, will ich die folgenden Ausführungen auf die 222

Erörterung der Entwicklungsplanung, der Planung des wirtschaftlichen Wachstums abstellen. Die Analyse des wirtschaftlichen Wachstums und seiner Voraussetzungen spielt heute in der W i r t s c h a f t s z o n e der westlichen Welt eine sehr bedeutende Rolle, und die Förderung des Wirtschaftswachstums ist in allen Ländern, unabhängig von ihrer Wirtschaftsordnung, eine zentrale winsdinitspolitische Aufgabe geworden. Nirgendwo anders aber wird die Bedeutung des wirtschaftlichen Wachstums so hoch eingeschätzt, wie in der Sowjetunion und den übrigen kommunistischen Ländern. Dabei spielen drei Gesichtspunkte eine entscheidende Rolle: 1. Als Stalin sich nach dem Scheitern der Hoffnungen auf eine baldige weltweite Ausdehnung der kommunistischen Revolution zum „Aufbau des Sozialismus in einem Lande" entschloß, als er zu diesem Zwecke im Jahre 1928 mit der Realisierung der 5-Jahrpläne begann, bedeutete diese Entscheidung nach seiner Auffassung auch die N o t wendigkeit, die Grundlage f ü r die Verteidigung dieses einen sozialistischen Landes gegen die feindliche kapitalistisch-imperialistische Umwelt zu schaffen. Das hieß vor allem: Aufbau der Schwerindustrie, der Produktionsmittel- und Rüstungsindustrie. 2. Der Kommunismus betrachtet das von ihm geschaffene Wirtschaftssystem entsprechend den Grundauffassungen des klassischen Marxismus als das dem kapitalistischen System überlegene, als das fortschrittliche System. Die Überlegenheit dieses Systems muß sich aber ökonomisch in seiner größeren wirtschaftlichen Leistung dokumentieren. Höhere Wachstumsraten im Vergleich zu kapitalistischen Ländern erscheinen der kommunistischen Ideologie deshalb als Bestätigung dieser behaupteten Fortschrittlichkeit und Überlegenheit ihres Systems. 3. Für die heutige sowjetische Auffassung ist der Sozialismus ein Zwischenstadium; ihm soll das Endstadium des Kommunismus mit klassenloser Gesellschaft und Verteilung des gesellschaftlichen Gesamtprodukts nach dem Grundsatz „Jedem nach seinen Bedürfnissen" folgen. Das setzt, wie schon Marx und Engels erkannt hatten, die Überwindung der Knappheit an materiellen Gütern, eine Wirtschaft des Überflusses voraus. Je rascher das wirtschaftliche Wachstum ist, desto schneller und wirksamer werden nach dieser Vorstellung also auch die Voraussetzungen f ü r diese Verwirklichung des Endstadiums menschlicher Entwicklung, f ü r die Verwirklichung des irdischen Paradieses geschaffen. Nach wie vor hält die bolschewistische Wirtschaftslehre an der Vorstellung fest, daß das Ergebnis einer zentral geplanten Wirtschaft ein gewaltiges Anwachsen der Produktivkräfte und des Produktionsergebnisses sein werde und daß dadurch die Voraussetzungen f ü r die Verwirklichung dieses kommunistischen Endstadiums geschaffen würden. 223

Die genannten drei Gesichtspunkte führten dazu, daß bereits vom Anfang an in der langfristigen Planung der Sowjetunion der Förderung des wirtschaftlichen Wachstums eine überragende Bedeutung beigemessen wurde. Nicht erst unter Chruschtschow, sondern schon in den Tagen Lenins war das Wort von dem „Einholen und Überholen der entwickelten kapitalistischen Länder" eine der häufig zu hörenden Parolen sowjetischer Wirtschaftspolitik, und dabei stand die Entwicklung der Sowjetunion zu einem führenden Industrieland entscheidend im Vordergrund. In unserer Gegenwart konzentrieren sich die wirtschaftspolitischen Bemühungen der Sowjetunion immer mehr auf dieses Ziel des Einholens und Überholens; es bestimmt den jetzt laufenden 7-Jahrplan, das Grundgesetz der sowjetischen Wirtschaftsentwicklung für die Zeit von 1959 bis 1965. N u n ist wirtschaftliches Wachstum zwar nicht ausschließlich, aber doch zu einem guten Teil abhängig von dem Ausmaß der Investitionen und ihrem Anteil am Einkommen einer Volkswirtschaft, der Investitionsqttote also. Die Sowjetführung mußte desha.b bestrebt sein, die Investitionsquote zu maximieren. Dieses Ziel teilt die Sowjetunion mit allen Entwicklungsländern, deren Probleme ja heute im Mittelpunkt der wirtschaftspolitischen Diskussionen überall in der Welt stehen. Entwicklungshilfe finanzieller N a t u r bedeutet, daß Kapital, das in dem die Hilfe gewährenden Lande gebildet worden ist, der Investitionsfinanzierung im Empfängerlande zugeführt wird. Das Empfängerland braucht daher die Mittel für die Finanzierung seines wirtschaftlichen Wachstums nicht ausschließlich dem eigenen Volkseinkommen zu entnehmen, und es ist auch nicht gezwungen, die Gegenwerte für die unabdingbaren Importe der Investitionsgüter sofort durch eigene Exportleistungen zu erbringen, denn der notwendige Ausgleich der Zahlungsbilanz erfolgt in einem solchen Falle eben durch die Kapitalübertragungen. In der Zeit der sog. Neuen ökonomischen Politik, der N E P , von 1921 bis 1928 hat die Sowjetunion den Versuch gemacht, sich solche finanzielle Entwicklungshilfe des „kapitalistischen Auslands" durch die Gewährung von Konzessionen für industrielle, bergbauliche und Landwirtschaftsbetriebe zu verschaffen. Große Bedeutung haben diese Konzessionen nie gewonnen, und das Ende der N E P bedeutete auch die Einstellung dieser Versuche. Zwar haben auch in späterer Zeit Kredite des kapitalistischen Auslands (besonders des Deutschen Reiches) eine nicht unbedeutende Rolle gepielt; doch handelte es sich dabei immer nur um Kredite, die für wenige Jahre gewährt wurden und dann zurückgezahlt werden mußten. Die selbstgewollte Isolierung der Sowjetunion in der ganzen Periode der 5-Jahrpläne führte deshalb dazu, daß die Finanzierung des wirtschaftlichen Wachstums im wesentlichen nur aus dem eigenen Volkseinkommen erfolgen konnte. Das aber bedeutete harten Drude auf 224

den Lebensstandard. Wie hart dieser Druck w a r , das ist so bekannt, d a ß ich darüber wohl k a u m Näheres zu sagen brauche; auch heute noch liegt ja das Realeinkommen des Kolchosbauern und des russischen Arbeiters fühlbar unter dem der entwickelten westlichen Industrieländer, obwohl in den 8 J a h r e n seit dem T o d e Stalins eine kontinuierliche Verbesserung der Lebenshaltung nicht zu verkennen ist. Es mag an dieser Stelle wenigstens am R a n d e bemerkt sein, d a ß die Methoden des Sowjetstaats f ü r die Finanzierung seiner Aufgaben und insbesondere der Investitionen, sich beträchtlich von dem unterschieden, was dem älteren Sozialismus als sozialistische Finanzpolitik vorgeschwebt hatte. So forderte z.B. 1891 das schon vorhin e r w ä h n t e E r f u r t e r P r o g r a m m der Sozialdemokratischen Partei: „Stufenweis steigende Einkommen- und Vermögenssteuer zur Bestreitung aller öffentlicher Ausgaben, soweit diese durch Steuern zu decken sind . . . Abschaffung aller indirekten Steuern (Hervorhebung von Th.), Zölle und sonstigen wirtschaftspolitisdien Maßnahmen, welche die Interessen der Allgemeinheit den Interessen einer bevorzugten Minderheit opfern."9) Tatsächlich erfolgte aber die Finanzierung des Wirtschaftswachstums in der Sowjetunion in allererster Linie auf dem Wege über die Verbrauchsbesteuerung, d.h. also eben durch den Druck auf die Lebenshaltung der breiten Massen der Bevölkerung. Die sog. „differenzierte Umsatzsteuer", die ihrem C h a r a k t e r nach im wesentlichen eine Verbrauchsbesteuerung ist, erbrachte zeitweise bis zu 75 °/o der Gesamteinnahmen des riesengroßen sowjetischen Staatshaushaltes, u n d auch in den letzten Jahren noch lag ihr Anteil an den Gesamteinnahmen dieses H a u s haltes bei annähernd 45 °/o. So w u r d e also die Finanzierung des wirtschaftlichen Wachstums durch Niedrighaltung des Konsums ermöglicht; dem entsprach in der güterwirtschaftlichen Planung eine Produktionsaufteilung, die in der sowjetischen Terminologie als „die vorrangige Entwicklung der Produktionsabteilung A " bezeichnet wird. Unter diesem Begriff werden GrundstofFu n d Produktionsmittelindustrie zusammengefaßt, während die P r o d u k tionsabteilung B die Konsumgütererzeugung umschließt. D i e theoretische Begründung suchte diese Politik wiederum bei Marx, u n d z w a r in jenen Schemata, in denen M a r x den Prozeß der erweiterten Reproduktion im Kapitalismus zu analysieren versucht. M a r x zeigt hier f ü r den Kapitalismus, d a ß die erweiterte Reproduktion eine vorrangige Entwicklung der Produktionsabteilung A zur Folge hat. Das ist bei ihm zunächst nur eine Feststellung f ü r das kapitalistische Wirtschaftssystem; in der Sowjetunion aber w u r d e die vorrangige Entwicklung der Schwerindustrie z u m G r u n d prinzip des Wirtschaftens auch im Sozialismus. Das sowjetische Wirtschaftssystem ist in der Gestaltung der Proportionen zwischen Grundstoff- u n d Produktionsmittelerzeugung einerseits, Konsumgütererzeugung andererseits wesentlich freier als eine M a r k t 225 15

U n i v e r s i t ä t s t a g e 1961

Wirtschaft. In einer M a r k t w i r t s c h a f t ist die Investitionsrate im ganzen niemals e x ante geplant, w i e das im Sowjetsystem möglich ist, sondern sie ergibt sich ex post aus einer Fülle individueller Entscheidungen: E n t scheidungen der Bezieher v o n Geldeinkommen hinsichtlich der H ö h e ihrer Sparquote, Entscheidungen hinsichtlich der V e r t e i l u n g der G e w i n n e a u f Selbstfinanzierung und Ausschüttung an die Kapitaleigner, Entscheidungen der Unternehmensleiter hinsichtlich der v o n ihnen für z w e c k m ä ß i g u n d realisierbar gehaltenen Investitionen. Für die privaten Investoren werden dabei immer Erwartungen hinsichtlich der z u k ü n f tigen Gestaltung der wirtschaftlichen Verhältnisse maßgebend sein: die vermutliche Gestaltung der Preise u n d der Kosten sowie der z u e r w a r tende A b s a t z u m f a n g . Soweit Investitionen im privaten Sektor e r f o l gen — und diese bilden in allen entwickelten Ländern der westlichen W e l t t r o t z des stark gestiegenen Anteils der öffentlichen H a n d noch immer den größten T e i l der Gesamtinvestitionen — hängen die Investitionsentscheidungen letztlich doch v o r w i e g e n d v o n den Entscheidungen der Konsumenten über die V e r a u s g a b u n g der ihnen zufließenden Einkommen ab. Denn, um ein konkretes Beispiel zu nennen: ein T e x t i l w&wcAiwewfabrikant z.B. w i r d nur dann zusätzliche Investitionen v o r nehmen, w e n n er erwarten d a r f , d a ß die Textilindustrie selbst ihre P r o duktion ausdehnen w i r d , und das wiederum hängt v o n den E r w a r t u n g e n ab, die die Textilindustriellen über die Entwicklung der E i n k o m m e n der Konsumenten und deren N e i g u n g e n zum Verbrauch v o n T e x t i l erzeugnissen hegen. D i e Investitionsentscheidung des Textilmaschinenfabrikanten wiederum ist aber bedeutsam f ü r die N a c h f r a g e nach W a l z werkserzeugnissen und damit f ü r die Investitionsvoraussetzungen in der Eisen- und Stahlindustrie. W e n n w i r einmal v o n den Möglichkeiten des Exports absehen, ist es also schlechterdings nicht vorstellbar, d a ß die Eisenindustrie heute Investitionen v o r n i m m t , deren Erzeugnisse deshalb erst zu einem sehr fernen Z e i t p u n k t A b s a t z finden können, weil die Einkommen der Konsumenten und deren Ausgaben f ü r Konsumgüter aus Eisen und Stahl, Z.B.Kühlschränke oder A u t o s , nicht wachsen. D a s Wachstum der Produktionsabteilungen A und B steht infolgedessen unter marktwirtschaftlichen Voraussetzungen in einem sehr engen auch zeitlichen Zusammenhang. D i e Zentralverwaltungswirtschaft sowjetischen T y p s k a n n mit einem sehr viel weiter gespannten „ Z e i t h o r i z o n t " rechnen als die M a r k t w i r t schaft; sie kann lange Zeit hindurch g a n z überwiegend in den G r u n d stoff- und Produktionsmittelindustrien investieren und das P r o d u k t der neuen K a p a z i t ä t e n dazu v e r w e n d e n , immer wieder neue Produktionsmittel herzustellen. Sie k a n n das deshalb, weil sie in der L a g e ist, ex ante darüber z u entscheiden, w i e das V o l k s e i n k o m m e n einer k ü n f t i g e n Periode auf K o n s u m u n d Investitionen verteilt werden soll. Dies ist die 226

Grundentscheidung, die jede zentrale Planung zu treffen hat. D a es im Sowjetsystem keine echten Gegenkräfte gibt, die die Entscheidung der zentralen Instanzen zu beeinflussen vermögen — z.B. also keine echte freie und autonom handelnde Gewerkschaftsbewegung —, ist es durchaus möglich, das hat die sowjetische Erfahrung bewiesen, zwei Jahrzehnte hindurch die Wachstumsraten der Investitionsgüterproduktion weit höher zu halten als die der Konsumgütererzeugung. Als nach Stalins T o d in der sowjetischen Politökonomie eine freiere Diskussion möglich wurde und manche Tabus der stalinistischen Zeit ins Wanken gerieten, ist von einigen jüngeren Politökonomen auch die unbedingte Verbindlichkeit des Grundsatzes der vorrangigen Entwicklung der Schwerindustrie angezweifelt worden. Allerdings hat das nicht lange gedauert. Bereits am 24. Januar 1955 erschien in der „Pravda" ein großer Aufsatz ihres damaligen Chefredakteurs Schepilow unter dem Titel „Die Generallinie der Partei und die Vulgärisatoren des Marxismus", in dem mit aller Entschiedenheit erklärt wurde: „Geleitet von der marxistisch-leninistischen ökonomischen Theorie, forcierte die Partei die Produktion von Produktionsmitteln, die Schwerindustrie, und sicherte auf dieser Grundlage eine machtvolle Entwicklung der Volkswirtschaft, denn die Schwerindustrie war, ist und bleibt das eherne Fundament aller Zweige der sozialistischen Ökonomie, die Grundlage der Grundlagen der Macht und des Volkswohlstandes des Sowjetlandes."

Damit war also ex cathedra der Bannstrahl auf alle diejenigen geschleudert, die an der vorrangigen Entwicklung der Schwerindustrie als der einzig richtigen Wirtschaftspolitik auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus gezweifelt hatten. U n d daran hat sich bis heute nichts verändert. An diesem Ziel hält die Sowjetführung auch heute noch fest; aber in den taktischen Methoden, die zu seiner Verwirklichung angewendet werden, haben sich doch in den letzten 8 Jahren einige nicht unwesentliche Veränderungen vollzogen. Vergleicht man die geplanten Wachstumssätze der beiden Produktionsabteilungen in früheren 5-Jahrplänen mit dem jetzt laufenden 7-Jahrplan, so ergeben sich folgende Ziffern (in % ) : A B 1. Fünfjahrplan (1928—1932) 204 103 3. Fünfjahrplan (1938—1942) 103 69 Siebenjahrplan (1959—1965) 85—88 62—65 (dabei Wohnungsbau noch nicht mit berücksichtigt!)

Die Gegenüberstellung dieser Zahlen zeigt deutlich, daß die Differenz zugunsten der Schwerindustrie geringer geworden ist, oder mit anderen Worten: nicht mehr in dem gleichen U m f a n g wie in der stalinistischen Zeit ist das Wachstum a n s i c h das absolute Ziel der sowjetischen Entwicklungsplanung, dem Wohlstand und Güterversorgung der lebenden 227 15a

Universitätstage 1961

Generation bedenkenlos geopfert werden; die heutige Sowjetpolitik gesteht den Konsumenten einen etwas höheren Anteil an den Früchten des bisher erreichten Wirtschaftswachstums zu. Ganz besonders deutlich zeigt sich das darin, daß im 7-Jahrplan zum ersten Mal der Wohnungsbau zu einer wirklichen Schwerpunktaufgabe der Entwicklungsplanung gemacht wird. In den Jahren 1959—1965 sollen für die städtische Bevölkerung 15 Mill. Wohnungen, d.h. also p r o Jahr etwas über 2 Millionen gebaut werden. Verglichen mit westlichen Verhältnissen, vor allem mit den Verhältnissen der Bundesrepublik, bedeutet das freilich noch keineswegs eine so überragende Leistung, wie die sowjetische Propaganda wahrhaben möchte. In der Bundesrepublik einschließlich Westberlins betrug der Reinzugang an Wohnungen bereits seit 1953 regelmäßig zwischen 500 000 und 600 000 Wohnungen pro Jahr. Die Bevölkerungszahl der Sowjetunion macht ziemlich genau das 4fache der Bevölkerungszahl der Bundesrepublik aus; außerdem ist die durchschnittliche Wohnfläche in der Bundesrepublik erheblich größer als in der Sowjetunion. Das bedeutet: Wenn in der Sowjetunion die geplante Bauleistung wirklich erreicht wird, würde sie in Relation zur Bevölkerungszahl etwa dem in der Bundesrepublik schon seit einer Reihe von Jahren erreichten Niveau entsprechen. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß die jahrzehntelange krasse Vernachlässigung des Wohnungsbaus in der Sowjetunion zu einem außerordentlich großen Wohnungsdefizit geführt hat. Jedenfalls aber bedeutet die jetzige Zielsetzung der Entwicklungsplanung eine stärkere Anhebung des Niveaus der Lebenshaltung f ü r die sowjetische Bevölkerung, als das in der stalinistischen Periode je der Fall gewesen ist. Dem Näherrücken der Wachstumsraten der beiden Produktionsabteilungen in der güterwirtschaftlichen Planung entspricht in der Finanzplanung die Anhebung der Einkommen. Einmal sind die Löhne vor allem in den unteren Lohngruppen erhöht worden; dadurch soll offensichtlich auch die in der stalinistischen Periode entstandene sehr starke Einkommensdifferenzierung — ich darf da auf den gestrigen Vortrag von Prof. Meder verweisen — gemildert werden. Weiter sind die Preise, die der Staat den Kolchosen für landwirtschaftliche Erzeugnisse zahlt, ansehnlich erhöht worden; damit ist seit 1953 das Einkommen der Kolchosniki, auf die immer noch mehr als ein Drittel der sowjetischen Bevölkerung entfällt, fühlbar gestiegen. Welche Ursachen liegen diesen Veränderungen zugrunde? Sie hängen, wie mir scheint, in erster Linie mit dem Reifer- und Stärkerwerden der sowjetischen Wirtschaft, dann aber auch mit den soziologischen Veränderungen zusamhien, die sich als Folge der forcierten Industrialisierung in der Sowjetunion ergeben haben. Das industrielle Potential der Sowjetunion beträgt heute ein Vielfaches des Standes zu Beginn der Fünfjahrplanpolitik, auch wenn die 228

Indexziffern, die die sowjetische Statistik für die Steigerung der Industrieproduktion seit 1928 angibt, ohne jeden Zweifel erheblich überhöht sind. Auf Grund dieses wesentlich größeren Potentials ist die Sowjetunion heute in der Lage, den Konsumgütersektor stärker zu alimentieren, ohne deswegen das Investitionsvolumen einschränken zu müssen. In wichtigen Bereichen der Maschinenindustrie dürfte z.B. heute ein Produktionsstand erreicht sein, der auch im Hinblick auf eine hohe Wachstumsrate als befriedigend betrachtet werden kann, insbesondere wenn man an die Möglichkeit von Maschinenimporten aus anderen Ostblockländern, vor allem aus Mitteldeutschland und der Tschechoslowakei, denkt. In manchen Bereichen, wie insbesondere in der Versorgung mit Wohnraum, hatte die lange Vernachlässigung in der Planung zu Zuständen geführt, die psychologisch kaum noch als erträglich bezeichnet werden konnten. Dem mußte auch die Sowjetführung Rechnung tragen, vor allem im Hinblick darauf, daß seit dem X X I . Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion im Januar 1959 der Übergang zum Kommunismus zu einem aktuellen Ziel der sowjetischen Politik erklärt worden ist. Die Verwirklichung des Kommunismus bedeutet aber, wie wir vorhin sahen, Realisierung einer Überflußwirtschaft. Es würde sehr schwer sein, dem Sowjetbürger den Glauben an die Möglichkeit dieser Realisierung beizubringen, wenn er nicht wenigstens allmählich eine Verbesserung seiner eigenen Güterversorgung feststellen könnte. Wenn ich vorhin auch von den soziologischen Veränderungen als Ursache der stärkeren Berücksichtigung von Konsumenteninteressen sprach, so denke ich dabei an folgende Tatbestände: Der Prozeß der forcierten Industrialisierung hat einmal dazu geführt, daß in der Sowjetunion eine neue Oberschicht entstanden ist, und eine der Kerngruppen dieser neuen Oberschicht besteht aus den leitenden Personen, den „Managern", der Staatsbetriebe aller Sparten. Die Einkommen dieser Schicht liegen weit über dem Durchschnittseinkommen des Sowjetvolkes. Nicht weniger bedeutsam, ja auf längere Sicht wohl bedeutsamer ist jedoch die Entstehung einer breiten Mittelschicht. Sie setzt sich vor allem zusammen aus der sog. „technischen Intelligenz", den mittleren und unteren Funktionären im Apparat der Staats- und Wirtschaftsverwaltung, den Lehrern, den Ärzten usw. Die Einkommen dieser ständig breiter gewordenen Schicht sind zwar niedriger als die der „neuen Oberschicht", liegen aber doch über denen der breiten Masse der Arbeiter und besonders der Kolchosbauern. Das bedeutet aber natürlich auch, daß sowohl für die Oberschicht als auch für die Mittelschicht die entsprechenden Mengen an Konsumgütern und Dienstleistungen bereitgestellt werden müssen, und gerade bei der Mittel15a*

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Schicht spielt sicherlich das Bedürfnis nach ausreichendem Wohnraum eine besonders große Rolle. So ist also die dargestellte stärkere Berücksichtigung der Konsumgüterversorgung in der sowjetischen Entwicklungsplanung in doppelter Weise eng verbunden mit dem Reiferwerden der Sowjetwirtschaft und den ihr entsprechenden soziologischen Veränderungen: Einmal wird dadurch die von den Konsumenteneinkommen ausgehende Nachfrage dringender, ihre Befriedigung unabdingbarer als in den Anfängen dieses Prozesses; zum anderen schafft das gewachsene Wirtschaftspotential die Voraussetzungen dazu, daß neben einem nach wie vor hohen Investitionsvolumen auch Konsumgüter und Dienste in wachsendem Umfange in die Entwicklungsplanung aufgenommen werden können. So bedeutsam diese Wandlungen sicherlich sind, so sehr sollte man sich doch auf der anderen Seite davor hüten, ihre grundsätzliche Bedeutung zu überschätzen. Es scheint mir durchaus falsch, wenn von manchen westlichen Beobachtern dieser Prozeß als „Liberalisierung des Sowjetsystems" bezeichnet wird. Denn nach wie vor fällt die Entscheidung über die Ziele, die der wirtschaftlichen Entwicklung gestellt werden, nicht, wie unter marktwirtschaftlichen Voraussetzungen, durch das „tägliche Plebiszit der Konsumenten" bei der Entscheidung über die Verwendung ihrer Geldeinkommen, sondern durch den Staat, oder exakter gesagt, durch die kleine Führungsgruppe der Kommunistischen Partei. Danach komme ich zu einer nach meiner Auffassung für die Beurteilung des Sowjetsystems entscheidenden Feststellung, die freilich im Hinblick auf die verfügbare Zeit nicht mehr im einzelnen begründet werden kann: dieses System, in dem alle wirtschaftliche Entwicklung in einem zentral festgelegten Plan ex ante vorausbestimmt wird, ist nicht vorstellbar im Rahmen einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaftsund Staatsordnung, sondern ist unabdingbar gebunden an einen mit größter Machtvollkommenheit ausgestatteten Staat, in dem die politische Willensbildung in einer sehr kleinen Führungsgruppe erfolgt. Der Tatbestand, den der zu f r ü h verstorbene Walter Eucken als die Interdependenz der Ordnungen bezeichnet hat, tritt uns gerade bei einer solchen Analyse des Sowjetsystems mit unüberbietbarer Deutlichkeit entgegen. Das muß vor allen Dingen auch allen denjenigen in der westlichen Welt gesagt werden, die, durch überlegene Wachstumsraten sowjetischer Industrieproduktion beeindruckt oder geängstigt, eine Angleichung unseres eigenen Wirtschaftssystems f ü r wünschenswert oder unvermeidbar halten. Wirtschaftsordnungen, Staats- und Gesellschaftsordnungen sind nicht beliebig kombinierbar. Jede Ordnung hat positive und negative Seiten. Sicherlich gibt es in unserer westlichen Wirtschaftsordnung auch solche negativen Seiten. Aber vergessen wir nicht, 230

daß ihnen auf der anderen Seite als unschätzbarer Wert dieses unseres Systems gegenübersteht eine ungleich größere Möglichkeit freien individuellen Handelns, aber auch autonomen Gruppenhandelns, als sie im Sowjetsystem jemals gegeben werden könnte. Vergessen wir weiter auch nicht — und damit komme ich zum Schluß meiner Ausführungen —, daß jene Analyse der kapitalistischen Wirtschaft, aus der Karl Marx vor 100 Jahren die theoretische Begründung für die Notwendigkeit einer zentralen Planung ableitete und von der wir ausgingen, nicht mehr der Wirklichkeit von heute entspricht. Jene freie kapitalistische Wirtschaft, deren ökonomische Ordnungslosigkeit und deren soziale Wirkungen für das Proletariat Marx zum Zentrum seiner Kritik machte, existiert nicht mehr. Sie existiert nicht mehr, weil in allen Ländern der westlichen Welt der Staat Sozialpolitik und Wirtschaftspolitik in einem Umfang betreibt, der den Begriff der f r e i e n Marktwirtschaft mehr und mehr zu einer Leerformel gemacht hat. Sie existiert aber auch deshalb nicht mehr, weil das autonome Handeln der Gewerkschaften die soziale und materielle Situation des Arbeitnehmers so erheblich verbessert hat, daß es den Proletarier des „Kommunistischen Manifestes" wohl noch in unterentwickelten Ländern, nicht mehr aber in den entwickelten Industrieländern unserer westlichen Welt gibt. Ist nicht dieser Prozeß wachsender Entproletarisierung der soziale Hintergrund für jene Abwendung der deutschen Sozialdemokratie vom ursprünglichen Marxismus, die in einem der ersten Vorträge dieser Universitätstage geschildert worden ist? Die sowjetische Politökonomie hat bisher von diesen Veränderungen, die sich in der sog. „kapitalistischen" Welt vollzogen haben, nur in einem sehr geringen Umfange Kentnis genommen, Kenntnis nehmen dürfen; damit ist ihr der Weg für die Erfassung der heutigen wirtschaftlichen Wirklichkeit in den entwickelten westlichen Industrieländern versperrt. Er muß ihr versperrt bleiben, weil sonst die entscheidenden Axiome der sowjetischen Wirtschaftsauffassung in Frage gestellt würden. Wenn man die Überzeugung gewinnt, daß mit dem heutigen wirtschaftspolitischen Instrumentarium auch in Ländern mit einer im Grundsatz marktwirtschaftlichen Ordnung die Entstehung echter Wirtschaftskrisen verhindert werden kann — und man kann dafür, meine ich, gute Gründe vorbringen —, dann ist eben die behauptete Überlegenheit der zentralen Planung nicht mehr eine unumstößliche Wahrheit, sondern der Kritik des Verstandes aus der Erfahrung heraus zugänglich. Das aber setzt die Einsicht voraus, daß der Erkenntniswert eines großen Teils der ökonomischen Lehren von Karl Marx — und nur von diesen konnte in meinem Vortrage die Rede sein — zeitgebunden war — gebunden an die Voraussetzungen einer Epoche, die mit dieser Epoche vergangen sind. So gewaltig die geschichtliche Bedeutung und 231

Wirkung dieser Lehren war: sie haben nicht den Rang einer unumstößlichen, ewig gültigen Wahrheit. Sie müssen immer wieder mit einer neuen Wirklichkeit konfrontiert werden. N u r so ist echte wissenschaftliche Analyse der Wirtschaft möglich.

Anmerkungen: 1

Marx, Karl: Das Kapital. Bd. 3. (Ost-)Bln.: Dietz-Verlag 1949. S. 278/79. Zitiert nach: Diehl, Karl, und Paul Mombert: Sozialismus, Kommunismus, Anarchismus. 2. Abt. (Ausgewählte Lesestücke zum Studium der politischen Ökonomie. Bd. 12.) Karlsruhe 1920. S. 131. 3 Bucharin, N.I.: Das ABC des Kommunismus. 3. Aufl. Hamburg 1923. S. 31. 4 Deutsche Ausgabe, (Ost-)Bln. 1959. S. 151. 5 A.a.O., S. 308, 327, 367/68. 6 Bucharin, N. /.: Das Programm der Kommunisten. Wien 1919. S. 14. 7 Bucharin, N. I.: Proletarische Revolution und Kultur. Hamburg 1923. S. 79 8 A.a.O., S. 532. 9 A.a.O., S. 133/34.

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Die Briefe des Michelagniolo Buonarroti Übersetzt von KARL FREY Dritte

Auflage.

Mit erweiterten

von Hermann-Walther

Anmerkungen

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Frey.

O k t a v . V I I I , 312 Seiten. 1961. Ganzleinen D M 24,— Mit der vorliegenden Sammlung werden die seit langem vergriffenen Ausgaben von 1907 und 1914 der Allgemeinheit in neuer Gestalt wieder zugänglich gemacht. Die Obersetzung von K a r l Frey gilt auch heute noch als unübertroffen und bei allen Kennern als kleines Meisterwerk.

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Groß-Oktav. V I I I , 302 Seiten. 1959. Ganzleinen DM 24 — Der Berliner Philosoph Wilhelm Weischedel legt hier Aufsätze und Vorträge aus den letzten 15 Jahren vor. So verschieden ihre Themen sind, sie kreisen doch alle um das heute im Mittelpunkt der philosophischen Diskussion stehende Problem der Wirklichkeit. Den Anfang bilden Abhandlungen historischen Charakters, im Zentrum steht die grundsätzliche Erörterung des Problems der Wirklichkeit. Es schließen sich Untersuchungen zum Wesen der Kunst, insbesondere in ihrer gegenwärtigen Problematik, an. Den Abschluß bilden Aufsätze zur Ethik, zur Philosophie des Rechts, sowie zur Philosophie der Politik; diese Aufsätze zeigen, daß das Problem der Wirklichkeit, so intensiv und streng es im philosophischen Gedanken angegangen wird, doch nicht abstrakt bleibt, sondern auf die Gestaltung des konkreten Daseins ausstrahlt. JOHANNES ERICH HEYDE

Wege zur Klarheit Gesammelte

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Groß-Oktav. V I I , 456 Seiten. 1960. Ganzleinen DM 28,— Die einzelnen Arbeiten dieser Aufsatzsammlung umkreisen recht weit auseinander liegende Gegenstände. Was sie aber gleichwohl zusammengehörig erscheinen läßt, ist der Umstand, daß es sich jeweils um sogenanntes A l l g e m e i n s t e s handelt. WOLFGANG MÜLLER-LAUTER

Möglichkeit und Wirklichkeit bei Martin Heidegger Groß-Oktav. V I I , 107 Seiten. 1960. Ganzleinen DM 14,— Seit Hegel hat kein deutscher Philosoph das Denken seiner Zeit in so einschneidender und umfassender Weise bestimmt wie Martin Heidegger. An Heidegger scheiden sich heute die Geister. Trotz mancher bedeutsamen Untersuchung fehlt es heute noch weithin an der Bemühung, die grundlegenden Begriffe Heideggers zu klären. Unter diesen nimmt, von „Sein und Zeit" an, der Begriff der Möglichkeit eine zentrale Stelle ein. Seine charakteristische Bedeutung erhält er dadurch, daß Heidegger ihm einen Vorrang vor der Wirklichkeit zuspricht. Von diesem Vorrang her begreift Heidegger das Dasein des Menschen und von ihm her stellt er vor allem den Primat der Zukunft in der ursprünglichen Zeit, der Zeitlichkeit des Daseins, heraus. Diesem Grundthema des Denkens Heideggers gilt die hier angekündigte Abhandlung. Sich streng an die Texte Heideggers haltend analysiert der Verfasser im Ausgang von ,existenzialen Möglichkeitsbegriff' insbesondere die Phänomene des Todes, der Zeitlichkeit, der Rede, der Zuhandenheit und Vorhandenheit, sowie den Wissenschaftsbegriff Heideggers und dessen Deutung der Kunst. W A L T E R vormals

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