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German Pages 434 [436] Year 2020
Maria in den Konfessionen und Medien der Frühen Neuzeit
Frühe Neuzeit
Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext
Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt
Band 234
Maria in den Konfessionen und Medien der Frühen Neuzeit
Herausgegeben von Bernhard Jahn und Claudia Schindler
ISBN 978-3-11-066388-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-066510-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-066393-8 ISSN 0934-5531 Library of Congress Control Number: 2019953244 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Stefan von der Lieth, Hamburg Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhalt Bernhard Jahn, Claudia Schindler Einleitung 1 Stefan Beyerle Mirjam, Mariamne, Maria: Prosopographische und traditionsgeschichtliche Erkundungen 11 Johann Anselm Steiger „Nulla femina dir gleich“ Martin Luther und Maria Zugleich ein Beitrag zur Ikonographie des Schutzmantels
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Reinhard Gruhl Die Präsenz der Gottesmutter in ausgewählten katholischen und protestantischen Kalenderbearbeitungen des sechzehnten Jahrhunderts 65 Thomas Illg Mariologische Konfliktgespräche Johannes Caesars Kritik an der römischen Mariologie in seiner Schrift Mariolatria (1613) 87 Asaph Ben-Tov Der Blick nach Osten: Die islamische Maria im konfessionellen Zeitalter 107 Stefano Saracino Wissen über und Gefühle für die Gottesmutter: Der Marienkult griechisch-orthodoxer Migranten und die Konfessionen im Heiligen Römischen Reich 125 Markus Friedrich Ideale frühneuzeitlichen Gehorsams: Maria und die Heilige Familie
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Damien Tricoire Der Kampf der Katholizismen Binnenkonfessionelle Kontroversen um den Marienkult in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts 185
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Inhalt
Maria Schaller „Meminisse et imitari“ Die Jungfrau Maria in den Insignien der Herforder Damenstifte
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Christiane Wiesenfeldt Sie ist mir lieb, die werte Magd Luthers musikalisches Marienbild zwischen Konkretion und Abstraktion 217 Bernhard Jahn Das Verschwinden der Gottesmutter Maria in protestantischen Kirchenkantaten zu Marienfesten Christine Büchner Maria in der Mystik der Frühen Neuzeit
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Olivier Millet Le théâtre marial de Marguerite de Navarre Scènes dramatiques, langage de la contemplation et suggestion de l’invisible 275 Marc Föcking „Vergine immaculata, senza emenda“ Petrarcas „Vergine bella“ und die Marienkanzonen des italienischen Petrarkismus 289 Daniel Fliege „Per formar vero il bel divino aspetto“ Vittoria Colonnas Interpretation der Lukasmadonna
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Hermann Wiegand Zur lateinischen Mariendichtung der Jesuiten Das Beispiel des Johannes Bisselius SJ (1601–1682)
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Wilhelm Kühlmann „Olympia Sacra in Stadio Mariano“ Spirituelles Programm und deutsch-lateinischer Formenpluralismus im Münchener Certamen poeticum (1648) über Jacob Baldes SJ marianischen Ehrenpreiß-Zyklus (zuerst 1638/1640) 371
Inhalt
Claudia Schindler Die Geburt Marias aus dem Geist der Aufklärung Zu Bernardo Zamagnas Elegiarum Monobiblos (1768) Personenregister Ortsregister
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Bernhard Jahn, Claudia Schindler
Einleitung
Maria in den Konfessionen und Medien der Frühen Neuzeit – das scheint eine eindeutige Angelegenheit. Für die Katholiken wird die Gottesmutter zunehmend wichtiger als aktive Helferin, die auch in Schlachten eingreift und den Sieg herbeiführt: so in der Seeschlacht von Lepanto am 7. Oktober des Jahres 1571, deren Marienwunder von der katholischen Propaganda literarisch und ikonographisch in vielfältigster Weise ausgeschlachtet wurde und noch im späten siebzehnten Jahrhundert den Lepanto-Diskurs bestimmt. Für die Lutheraner und Reformierten lässt sich das Verhältnis zu Maria in der Frühen Neuzeit als kontinuierlicher Entfremdungsprozess beschreiben, der in der Reformationszeit zunächst auf dogmatischer Ebene seinen Ausgangspunkt nimmt und die Bedeutung Marias verschiebt,1 was sich in den folgenden Jahrhunderten dann auch in der Frömmigkeitspraxis des Alltags niederschlägt. So werden von den sieben hohen Marienfesten aus der Zeit um 1500 im achtzehnten Jahrhundert von den Protestanten nur noch drei begangen.2 Die beiden oben genannten Tendenzen lassen sich mühelos durch Belege stützen. Sie sind im Großen und Ganzen nicht falsch, und dennoch wird durch ihre einlinige Teleologie eine Klarheit der Entwicklung suggeriert, die der Widersprüchlichkeit und Brüchigkeit der geschichtlichen Verläufe im Ringen der Konfessionen um Maria nicht gerecht wird. Zu welch verblüffenden Pointen das Verhältnis der Konfessionen zur Gottesmutter in der Frühen Neuzeit führen konnte, sei hier einleitend an einem Beispiel veranschaulicht. 2016 ergab sich bei der Restaurierung des Kastengestühls in der Lübecker Jakobikirche eine Entdeckung, die nicht nur für die Flugblattforschung von erheblichem Interesse ist, sondern die en passant auch mit einer interkonfessionellen Pointe aufwartet, bei der Maria im Mittelpunkt steht.3 Das Gestühl der Kirche enthält an den Rücklehnen der Bankreihen kleine verschließbare Fächer, deren Inneres wohl in den 1630er Jahren mit religiös erbaulichen Flugblättern ausgekleidet worden ist (vgl. Abb. 1).4
1 Siehe dazu den Beitrag von Anselm Steiger in diesem Band. 2 Vgl. zu den Marienfesten den Beitrag von Reinhard Gruhl in diesem Band. 3 Zum Folgenden vgl. die umfassende Dokumentation von Michael Schilling: Frömmigkeit und Schrankpapier. Die frühneuzeitlichen Flugblätter der Lübecker Jakobikirche. Bestandskatalog mit Kommentar und Abbildungen. Regensburg 2018. 4 Ebd., S. 13. https://doi.org/10.1515/9783110665109-001
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Abb. 1: Jakobikirche Lübeck, Kastengestühl (1611–1634) © Michael Haydn
Schon der hohe Anteil an Mariendarstellungen unter den Flugblättern mag überraschen. Die Innenausstattung der Jakobikirche (Lübeck wurde 1530 protestantisch) selbst enthält keine explizite Marienikonographie, doch Maria als vorbildlich Glaubende und Exemplum der Demut ist in der lutherischen Theologie ein fester Glaubensbestandteil und insofern zunächst unproblematisch.5 Erstaunlicher ist indes die Art der Mariendarstellungen – Michael Schilling spricht von einer „latente[n] Katholizität, die auf einigen Blättern durchscheint“.6 So wird auf einem aus Augsburg stammenden Flugblatt „zweifelsohne katholischen Ursprungs“7 (vgl. Abb. 2) Maria als Himmelskönigin dargestellt, die auf einem Altar erscheint und von Engeln angebetet wird. Eine solche Darstellung legt eine katholische Marienauffassung nahe, Maria als Medium, zu dem gebetet wird, weil die Mutter Christi als Interzessorin einen privilegierten Zugang zu Gott besitzt. Katholische Marienverehrung noch um 1630 in einer protestantischen Kirche, die schon hundert Jahre vorher die Reformation eingeführt hatte?
5 Vgl. den Beitrag von Anselm Steiger in diesem Band. 6 Schilling (Anm. 3), S. 18. 7 Ebd., S. 67.
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Abb. 2: Jakobikirche Lübeck, Mondsichelmadonna im Strahlenkranz © Michael Haydn
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Das Lübecker Beispiel ist vor allem auch deshalb so interessant, weil es sich einer klaren Zuordnung entzieht und in mehrfacher Hinsicht in einem Zwischenbereich bewegt. Eine Übergangssphäre liegt zum einen in räumlicher Hinsicht vor: Das Kirchengestühl befindet sich in einem öffentlichen Raum. Es bildet hier aber ein halb privates Refugium, da die Bänke im siebzehnten Jahrhundert an einzelne Familien vergeben worden waren. Die geöffneten Schränkchen mit den Flugblättern ermöglichten so auch außerhalb der Gottesdienstzeiten eine Privatandacht im öffentlichen Raum. Hätten wir es demnach auf der mikrogeschichtlichen Ebene privater Alltagsfrömmigkeit mit Persistenzen zu tun, die sich auf der Makroebene der großen Konfessionalisierungserzählung nicht finden lassen? Hier ist allerdings Vorsicht geboten vor einem zu schnellen Gegeneinander-Ausspielen von Mikro- und Makroebene, denn die Ausstattung des Gestühls mit Flugblättern trägt einheitliche Züge und scheint nicht von einzelnen Familien vorgenommen worden zu sein. Zudem befinden sich die Flugblätter auch in funktionaler Hinsicht in einem schwer zu bestimmenden Zwischenbereich, den Michael Schilling treffend als Changieren „zwischen Frömmigkeit und Schrankpapier“8 charakterisierte: Mit anderen Worten, es ist gar nicht mit letzter Sicherheit zu entscheiden, ob die Flugblätter der religiösen Erbauung dienten oder nur eine ambitioniertere Form von Dekoration darstellten, bei der es auf theologische Subtilitäten nicht mehr so recht ankam. Beide Funktionen dürften jedoch nebeneinander bestanden haben. Die in diesem Band vorgelegten Aufsätze verfolgen im Sinne des im vorigen Abschnitt skizzierten Ansatzes ein doppeltes Ziel: Es geht zum einen um die Funktion der Gottesmutter in den verschiedenen Differenzierungsprozessen, mit denen sich die Konfessionen gegeneinander abgrenzten oder auch binnenkonfessionell ausdifferenzierten. Dabei lässt sich beobachten, dass sich oftmals theologische, historische und literarische Aspekte in einem komplexen Wechselspiel bedingen. Der prosopographisch-traditionsgeschichtliche Artikel von Stefan Beyerle zeigt, dass sich bei einer relativ großen Namensvielfalt im Alten und Neuen Testament und im Koran vor allem drei Aspekte herauskristallisieren: In Verbindung mit der alttestamentarischen Mirjam stehen Prophetie und Weisheit im Vordergrund, während die christliche Maria des Neuen Testaments mit Reinheit verbunden ist. Die Maryam des Koran vereinigt beide Aspekte. Die Beträge von Anselm Steiger und Thomas Illg stellen im Sinne einer protestantischen Profilschärfung die Kernaspekte der lutherischen Marienauffassung heraus. Wie Steiger zeigt, wendet sich Luther gegen die Anrufung Marias als
8 Ebd., S. 18.
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Beschützerin und Fürsprecherin. Maria ist Luther Sinnbild für Glaubensstärke; an ihr manifestiert sich die Gnade Gottes am einzelnen Menschen. Ähnlich wie der Deushomo Christus hat Maria für Luther zwei Naturen und vereinigt in sich die Gegensätze Hoheit und Niedrigkeit. Am Beispiel von Johannes Caesars Schrift Mariolatria (1613) arbeitet Illg heraus, dass die polemische Abgrenzung gegen katholische Konzepte der Selbstvergewisserung der eigenen Position diente. Reinhard Gruhl beschreibt in seinem Beitrag am Beispiel frühneuzeitlicher poetischer Kalenderproduktion in der Nachfolge der Fasti Ovids, insbesondere der Kalendergedichte von Baptista Mantuanus und Nathan Chytraeus und ihrer Darstellung von Marienfesten die Auswirkung der protestantischen Reformen auf die Gestaltung des Kirchenjahres. Als Ursache für die deutlichen Unterschiede zwischen den Darstellungen der beiden Autoren identifiziert er einen Wandel in der Mariologie, die bei dem Protestanten Nathan Chytraeus gegenüber Mantuanus’ Gedicht zu Festreduktionen und Festumdeutungen führt. Dies passt zu dem tendenziellen ‚Verschwinden‘ Marias in protestantischen Kantaten zu Marienfesten, das Bernhard Jahn beobachtet. Bei der Betrachtung von Kantaten zu Mariä Verkündigung und Mariä Heimsuchung fällt auf, dass die Funktion Marias beim Erlösungswerk selten Gegenstand ist und auch dort, wo Maria auftritt, sämtliche mariologischen Details ausgespart werden, so dass der Eindruck einer regelrechten Tabuisierung entsteht. In einem anderen Punkt, dem Gehorsam, den Maria im Sozialgefüge ihrer Kleinfamilie und gegenüber Gott zu leisten habe, sind sich die Konfessionen hingegen weitestgehend einig, wie Markus Friedrich in seinem Beitrag zeigt. Das Phänomen des Gehorsams wurde geradezu zu einem Leitthema, seitdem das Spätmittelalter die Menschlichkeit Christi betonte und sich verstärkt der Heiligen Familie zuzuwenden begann. Gehorsam und Ungehorsam gegenüber Gott, gegenüber Autoritäten und innerhalb der Familie dienen dabei stets auch als exempla und Richtlinien für menschliches Verhalten. Phänomene binnenkonfessioneller Differenzierungs- und Aushandlungsprozesse, wobei ein Effekt dieser binnenkonfessionellen Differenzierung in einer (unbeabsichtigten) Annäherung an protestantische Positionen bestehen könnte, stehen in den Aufsätzen von Damien Tricoire und Marc Föcking im Mittelpunkt. Ein wichtiger binnenkonfessioneller Streitpunkt ist die bis zur Dogmatisierung 1854 in der katholischen Kirche unentschiedene Frage der unbefleckten Empfängnis Mariens, bei der sich spätestens seit dem Mittelalter Maculisten und Immaculisten zum Teil unversöhnlich gegenüberstanden. Dass sich die Diskussionen um die Immaculata conceptio auch in den Marienkanzonen des italienischen Petrarkismus niederschlugen, macht die Untersuchung von Marc Föcking deutlich. Während Petrarca in seiner Marienkanzone (RVF 366) die Position der Maculisten vertritt, da er Maria als Mittlerin zwischen seinem sündhaften, von der Liebe zu Laura noch nicht vollkommen befreiten lyrischen Ich und Gott in Anspruch
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nehmen möchte, wird diese Kanzone im Petrarkismus des Cinquecento, da die Immaculisten zunehmend Autorität gewannen, entweder überhaupt nicht rezipiert oder, mit wenigen Ausnahmen, auf die Position der Immaculisten umgedeutet. Damien Tricoire erläutert anhand der (katholischen) Diskussionen um den Marienkult exemplarisch das Problem der Normenkonkurrenz zwischen Akkommodation an soziale, politische und kulturelle Kontexte und unflexibler Durchsetzung evangelischer Normen. Während jesuitische Denker den Marienkult affirmierten und in der Verehrung Marias eine Möglichkeit sahen, Seelenheil zu finden, lehnen z. B. Vertreter des Jansenismus den Marienkult der Jesuiten strikt ab, da falsch verstandene Marienverehrung den Menschen von der Verehrung Gottes abbringen könnte. Die Kritik der Rigoristen geht so weit, dass man Anhängern des Marienkultes Götzendienst vorwarf. Hier zeigt sich, dass Marienfrömmigkeit als bloßes Schlagwort nicht zur Abgrenzung des Katholizismus gegen den Protestantismus taugt. Annäherungseffekte wie der zuletzt genannte leiten über zum zweiten Interessenschwerpunkt des Bandes: Neben der Frage nach der Rolle Marias bei Profilierung der konfessionellen Eigenständigkeit geht es gleichzeitig und untrennbar damit verbunden um die Beschreibung von Kontaktzonen, die als Übergangsbereiche fungieren, und in denen Austauschprozesse zwischen den Konfessionen stattfinden. Hierbei gelangen in einem größeren Rahmen auch die Austauschprozesse mit den anderen Religionen in den Blick. So beschreibt Asaph Ben-Tov die Rolle Marias im Koran und in der jüdischen Kultur, und wie die im Koran überlieferte Gestalt Marias in frühneuzeitlichen Auseinandersetzungen der christlichen Konfessionen instrumentalisiert wurde. Während im rabbinischen Judentum Maria als Mutter eines Häretikers und sogar als Prostituierte ein negatives Image hat, ist sie im Islam die Mutter eines verehrten Propheten. Sie ist sogar von der Berührung Satans ausgeschlossen. Dies wird wiederum von katholischen Theologen, vor allem im Rahmen konfessioneller Auseinandersetzungen, herangezogen, um die Lehre von der unbefleckten Empfängnis Mariens zu stützen. In der Zurückweisung der islamischen Ablehnung der Gottheit Jesu hingegen sind sich beide christlichen Konfessionen einig. Stefano Saracino widmet sich in seinem Beitrag dem griechisch-orthodoxen Marienkult, der im deutschen Sprachraum nicht nur durch Schriften, sondern vor allem durch griechische Almosenfahrer bekannt wurde, die Gegenstände des orthodoxen Glaubens (z. B. Ikonen) mitbrachten und durch die Religionsausübung einen lebendigen Eindruck von Orthodoxie vermittelten. Saracino stellt fest, dass die Reaktionen auf die Marienfrömmigkeit der Orthodoxen nach Kontext sehr unterschiedlich ausfallen können. So lehnt man etwa die Verehrung von Heiligenbildern und eventuellen Genesungsbeistand Mariens katego-
Einleitung
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risch ab. Andere Punkte, etwa die Vermischung der göttlichen und menschlichen Natur Christi in Marias Leib, werden weitaus weniger kritisch gesehen. Den katholischen Glauben an eine wundertätige Maria missbilligen Orthodoxe und Protestanten einhellig, ebenso wie rundplastische Darstellungen, die als pornographisch angesehen werden. Den bildenden Künsten, der Musik und der Literatur bot die Figur der Maria mannigfache Gestaltungsmöglichkeiten. Diese tragen zum Teil den konfessionellen Vorgaben Rechnung, die sich in ihnen niederschlagen, teils gehen sie aber auch über diese hinaus. Spezifika der einzelnen Medien, etwa die ikonographische Tradition von Bildwerken, der ornatus poetischer Texte oder ihre Möglichkeit zu intertextuellen Verflechtungen mit Prätexten, werden dabei unmittelbar auf die Person Marias bezogen und unterlegen die über sie getroffenen Aussagen. So kann Maria Schaller zeigen, dass das Medaillon mit Marienmotiv, das die Fürstäbtissin des lutherisch-reformierten Damenstiftes auf ihrem Porträtbild trägt, nicht allein auf die Tradition des Stifts verweist und das Bewusstsein für die Historie und Kontinuität des Ordens betonen soll, sondern sich in der Art der Darstellung deutlich von entsprechenden katholischen Mariendarstellungen unterscheidet und Maria in erster Linie als Mutter Gottes charakterisiert. Nicht auflösbar sind hingegen die ikonographischen Verweise auf die immaculata conceptio, die zumindest Calvin ablehnte. Oftmals finden sich die einzelnen Medien zu fruchtbaren Verbindungen zusammen und fungieren als ‚Vermittler‘ im wahren Wortsinn. Individuelle Näheverhältnisse zu Maria in musikalischen Marienbildern können auf katholischer Seite sowohl durch dem Notentext beigegebene Bildprogramme als auch durch die musikalischen Strukturen selbst geschaffen werden, wie Christiane Wiesenfeldts Beitrag herausstellt. Auch in dem Luther-Lied Sie ist mir lieb, die werte Magd zeigt sich ein sehr persönliches Verhältnis zu Maria bzw. der Institution Kirche, die sie verkörpert. Dabei entspricht die musikalische Verarbeitung ‚alter‘ Musik seiner Verarbeitung des ‚alten‘ Glaubens. Für Luther liegt die Faszination Marias in der Demut; dies manifestiert sich in der Gestaltung des Liedes ebenso wie in der Apokalypse-Darstellung Marias, die Luthers Übersetzung der Johannes-Apokalypse beigegeben war. Christine Büchner geht am Beispiel Jakob Böhmes, Angelus Silesius’ und Teresa von Avilas der Frage nach, welche Bedeutung Maria in der Mystik des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts zukommt. Sie deutet dabei die frühneuzeitliche Marienmystik, in der Christus zum Teil durch Maria ersetzt wird, als Komplementärbewegung zu den Marienkulten, wobei jeweils die Suche nach dem spirituellen Sinn im Zentrum stehe. Wie wichtig die mediale Vermittlung für das Erfassen geistlicher Inhalte ist, macht Olivier Millets Beitrag deutlich. Die dort betrachteten vier biblischen Stücke der Maguerite de Navarre dienen dazu,
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Unsichtbares durch das Medium des Theaters zu visualisieren. Maria hat darin vielfach eine Rolle als Mittlerin. Auf der Bühne schafft Maguerite de Navarre Bilder der Andacht, die von der traditionellen Mysterien-Dramaturgie inspiriert sind. Durch Maria als Mittlerin wird die Bühne Mittel der Repräsentation und Spiel zwischen Gott, Mensch und Maria, der „médiatrice dramatique du salut“. Intermedialität und Poetologie verbinden sich in Vittoria Colonnas Sonett zur Lukasmadonna, das Daniel Fliege in den Mittelpunkt seiner Studie stellt. Dieses Gedicht interpretiert überraschenderweise die Darstellung des Evangelisten als unvollkommen und bringt diese Unvollkommenheit auch sprachlich zum Ausdruck. Die Unzulänglichkeit stellt dabei ein poetisches Programm dar, das den Verweischarakter des Kunstwerkes hervorheben soll: Nicht das Bild darf Gegenstand der Verehrung sein, sondern das, was hinter diesem Bild steht. Die Begrenztheit des menschlichen Vermögens lässt sich von daher als ‚glücklicher Fehler‘ interpretieren, der den Betrachter oder Leser wieder auf Gott verweist. Die Marienverehrung ist ein zentraler Aspekt des Jesuitenordens. Sie schlug sich unter anderem in einer umfangreichen poetischen Produktion in lateinischer Sprache nieder, die von Wilhelm Kühlmann, Hermann Wiegand und Claudia Schindler in den Blick genommen wird. Dichtung für und über Maria steht dabei stets in einem Spannungsfeld zwischen antiken Modellen und jesuitischer Dogmatik, bisweilen auch Konfessionspolemik. Die lateinischen Übersetzungen des Ehrenpreiß-Zyklus Jacob Baldes, 1648 erschienen und bereits im Titel als olympischer Fünfkampf inszeniert, überblenden bestimmte Aspekte der Mariologie mit antiken Figuren und Prätexten, wenn etwa Maria als Retterin in aussichtsloser Situation semantisch an den römischen Diktator Quintus Fabius Maximus Cunctator angenähert wird oder Maria durch eine Seneca-Reminiszenz als Patronin des glücklichen Todes an die Stelle Epikurs tritt. Der schwäbische Jesuit Johannes Bisselius überformt in seiner Elegiensammlung Cliens Marianus die Darstellung konsequent durch die Sprache der römischen Liebeselegie und verbindet so erotische Sprache mit ignatianischer Mystik; in den Deliciae veris übernimmt Maria die Funktion der Muse des Dichters. Dies ist eine gängige Strategie, die sich auch in Bernardo Zamagnas 1768 erschienener Elegiarum Monobiblos findet, einem späten Zeugnis jesuitischer Marienfrömmigkeit. Indem Zamagna die Gottesmutter durch intertextuelle Verweise als die Venus des materialistisch-rationalistischen Lehrdichters Lucrez inszeniert und auch sonst in signifikanter Weise auf dessen Formulierungen rekurriert, vereinnahmt er eine der Galionsfiguren aufklärerischen Denkens für sich und unternimmt den Versuch, Gedanken und Chiffren der Aufklärung in die katholische Weltsicht einzupassen. Die hier versammelten Beiträge gehen zurück auf eine Tagung des DFG-Graduiertenkollegs 2008 Interkonfessionalität in der Frühen Neuzeit in Kooperation mit dem Internationalen Arbeitskreis für Auslegungs- und Meditationsgeschichte
Einleitung
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der Bibel und der Forschungsbibliothek Gotha, die vom 26. bis 28. Mai 2017 auf Schloss Friedenstein in Gotha stattfand. Wir bedanken uns bei allen Referentinnen und Referenten für ihre Beiträge und bei Christopher Boye für die Unterstützung bei der redaktionellen Arbeit sowie bei Franziska Gernert für die Erstellung des Registers, schließlich Stefan von der Lieth für die Erstellung der Druckvorlage.
Stefan Beyerle
Mirjam, Mariamne, Maria: Prosopographische und traditionsgeschichtliche Erkundungen 1 Mirjam, Mariamne, Maria: Prosopographie Die Trias ‚Mirjam‘, ‚Mariamme‘ bzw. ‚Mariamne‘, ‚Maria‘ vereint die geläufigen Formen ein und desselben Frauennamens. Im antiken Judentum bereits breit belegt (s. u.), stehen diese für ein hebräisch-aramäisches, griechisches und lateinisches nomen proprium. Das Alte Testament kennt neben der Schwester Aarons und Moses auch eine wohl männliche Person mit dem Namen Mirjam, einen Nachkommen Judas (1. Chr 4,17). Außerdem wird mitunter im Ausdruck merîm (Spr 3,35) eine Grundform mirjām von hebräisch rûm, ‚begehren‘, angenommen, die jedoch keine Verbindung zum Eigennamen erkennen lässt.1 Die Bedeutung des hebräischen Namens hängt von seiner Segmentierung und sprachgeschichtlichen Zuordnung ab.2 Das hebräische mirjām kann in MR – y – ām unterteilt werden, eine Kurzform von hebräisch mr mit Bindevokal y/j und dem Afformativ -am in der Bedeutung ‚Tropfen‘. Eine alternative Segmentierung liest mry[j], ‚fruchtbar sein‘, mit entsprechendem Afformativ. Bei diesen Ableitungsversuchen bleibt das in femininen Formen zumindest ungewöhnliche, wenn nicht unmögliche Afformativ -ām bzw. -am ohne Deutung. Daher werden darüber hinaus folgende philologische Herleitungen diskutiert: Eine Segmentierung in mr – y[j]am, mit theophorem Element des Meeresgottes Yam. Im Kontext assoziiert mr über die hebräische Verbalwurzel mārar auch das Wortfeld ‚Bitterkeit‘ oder ‚Widerspenstigkeit‘, was allerdings im Zusammenhang der Mirjam-Erzählungen des Alten Testaments eher volksetymologisch motiviert erscheint. Postuliert
1 Vgl. David J. A. Clines (Hg.): The Dictionary of Classical Hebrew. Volume V: n–m. Sheffield 2001, S. 487. 2 Vgl. zum Folgenden Ran Zadok: The Pre-Hellenistic Israelite Anthroponomy and Prosopography. Leuven 1988 (Orientalia Lovaniensia Analecta 28), S. 52.78.164.187; Ludwig Köhler, Walter Baumgartner (Hg.): Hebräisches und Aramäisches Lexikon zum Alten Testament. Lfg. II: hB'j;–jbn. 3. Auflage. Leiden 1974, S. 601a; Wilhelm Gesenius: Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament. Bearb. und hg. von Herbert Donner u. a. 18. Auflage. Heidelberg u. a. 2013, S. 741a. https://doi.org/10.1515/9783110665109-002
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Stefan Beyerle
man eine aus dem Akkadischen (vgl. die Wurzel ramû B)3 stammende, gemeinsemitische Wurzel *RĪM mit dem Präformativ ma-, wäre als Bedeutung ‚Geschenk (Gottes)‘ anzunehmen.4 Schließlich existiert auch eine ägyptische Ableitung in Mr[j/t]-Jmn, ‚Geliebte des Schöpfergottes Amun‘.5 Im Aramäischen sowie im Samaritanisch-Aramäischen existieren die Namensformen mry’m6 bzw. mryn,7 während der Samaritanus auch Maryam (vgl. 2. Mose 6,20; 15,20 f.; 4. Mose 12,1.4 f.10.15; 20,1; 26,59; 5. Mose 24,9) kennt. Eine Klärung der Herkunft und Bedeutung des Namens ist momentan überhaupt nicht absehbar. Auch in der antik-griechischen Überlieferung begegnet Maria in unterschiedlichen Namensformen: als Μαρία und Μαριάμ schon im Neuen Testament. Die Oden Salomos belegen außerdem den Genitiv Μαρίας (OdSal 9,0 und im NT: Mt 1,16.18; 2,11; Mk 6,3; Lk 1,41; Joh 11,1; Apg 12,12), während die griechische Übersetzung des Alten Testaments, die Septuaginta, sonst Mirjam konsequent mit Μαριάμ transkribiert.8 Der jüdisch-römische Geschichtsschreiber des ersten Jahrhunderts nach Christus, Flavius Josephus, kennt, wie viele Inschriften aus hellenistischrömischer Zeit, die Namensform Μαριάμ[μ]η (vgl. die Jüdischen Altertümer oder Antiquitates Iudaicae, etwa 3,54), die als ‚Mariamme‘ oder ‚Mariamne‘ transkribiert wird.9
3 Vgl. zum Befund Robert D. Biggs u. a. (Hg.): The Assyrian Dictionary of the Oriental Institute of the University of Chicago. Volume 14. Chicago, IL, 1999, S. 133–136. 4 Vgl. dazu Wolfram von Soden: Mirjām – Maria ‚(Gottes-)Geschenk‘. In: Ugarit-Forschungen 2 (1970), S. 269–272. 5 Vgl. Manfred Görg: Mirjam. In: Neues Bibel-Lexikon. Bd. 2. Hg. von Manfred Görg, Bernhard Lang. Zürich, Düsseldorf 1995, S. 815 f., hier S. 816. 6 So bezeugt in einer aramäischen Handschrift vom Toten Meer aus Höhle 4: 4QWork Mentioning Hur and Miriam ar [= 4Q549] Fragment 2, Z. 8. 7 Es kann allerdings bezweifelt werden, ob die ausschließlich in Ägypten und der Kyrenaika auftretende Namensform mit ‚Maria‘ in Verbindung zu bringen ist. Es sei denn, man könnte die Namensetymologie auf aramäisch mr’ (,Herr‘) beziehen, was aber eher unwahrscheinlich bleibt: vgl. zum Befund Tal Ilan, Thomas Ziem: Lexicon of Jewish Names in Late Antiquity. Part III: The Western Diaspora 330 BCE–650 CE. Tübingen 2008 (Texts and Studies in Ancient Judaism 126), S. 684–686, und die Hinweise ebd., S. 685, Anm. 1. 8 Grundsätzlich könnte die Namensform im Griechischen bzw. Lateinischen, also Μαρία bzw. Maria, allerdings auch auf eine weibliche Ableitung des lateinischen Namen Marius zurückgehen: vgl. dazu Tal Ilan: Lexicon of Jewish Names in Late Antiquity. Part I: Palestine 330 BCE–200 CE. Tübingen 2002 (Texts and Studies in Ancient Judaism 91), S. 245, Anm. 14; Ilan, Ziem (Anm. 7), S. 181, Anm. 2. 9 Die Transkription ‚Mariamne‘ geht auf die handschriftlich belegte Lesung des griechischen Namens (Μαριάμνη) zurück, die gerne als ‚korrupt‘ eingestuft wird, jedoch auf eine lange und prominente Wirkungsgeschichte blicken kann, von Voltaire über Lord Byron bis zu Friedrich Hebbel. Man beachte auch die antiken Belege bei Ilan (Anm. 8), S. 243.
Mirjam, Mariamne, Maria
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In den Handschriften vom Toten Meer begegnet der hebräische Name ‚Mirjam‘ jenseits solcher Manuskriptfragmente, deren Inhalte auch in biblischen Texten wiederkehren, nur noch sechsmal und kann wohl an einer Stelle verlässlich ergänzt werden. In zwei Fragmenten wird Mirjam als Protagonistin von Neuinterpretationen der Erzählstoffe aus den fünf Büchern Moses erwähnt.10 Die übrigen Belege stammen aus der aramäischen Komposition der Visionen Amrams11 und aus einem weiteren Fragment, das neben Mirjam einen gewissen Hur erwähnt.12 Schließlich gehören in diesen Fundkontext dokumentarische Quellen, wie etwa ein Scheidungsbrief, die in abweichender Orthographie, u. a. in der aramäischen Form mrym’ von Μαριάμ[μ]η, auf Frauen des Namens verweisen: etwa aus dem Wadi Muraba‘at, Wadi Seyal oder aus Masada.13 Allein das Neue Testament kennt, je nach Zählung, sechs bzw. sieben Frauen des Namens Μαρία. Die prominenten Namensträgerinnen sind neben der Mutter Jesu Maria aus Magdala (vgl. Mk 15,40–16,8 und Mt 27,55–28,8; Joh 20,11–18) sowie die Mutter des Jakobus (vgl. Mk 15,40 und Mt 27,56), die jedoch auch identisch sein können, und die Schwester der Martha (vgl. Lk 10,38–42; Joh 11,1–44; 12,1–8).14 Die nach wie vor ausführlichsten Prosopographien zu Mirjam und Maria haben Günter Mayer und Tal Ilan vorgelegt.15 Unter den semitischen Namensformen in hellenistisch-römischer Zeit fungiert ‚Maria‘ samt den Nebenformen als bei weitem häufigste und damit beliebteste Bezeichnung von Mädchen und Frauen.16 Vorherrschend sind die Kurznamen ‚Mirjam‘ und ‚Maria‘ sowie die Langform ‚Mariamme‘. Mit ‚Mariamme‘ wird unter Herodes dem Großen auch einer der Türme auf der neu errichteten Zitadelle in der Nähe des Jaffa-Tores bezeichnet. Zudem stammen aus dieser Zeit, Ende des ersten Jahrhunderts vor Christus, entsprechende Ortsnamen,
10 So in 4QReworked Pentateuchc [= 4Q365] Fragment 6b, Z. 5 zu 2. Mose 15,16–20: Rekonstruktion, und in 4QApocryphal Pentateuch B [= 4Q377] Fragment 2, Kolumne i, Z. 9. 11 So in 4QVisions of Amrama ar [= 4Q543] Fragment 1a–c, Z. 6 (entspricht: 4QVisions of Amramc ar [= 4Q545] Fragment 1a, Kolumne i, Z. 5); 4QVisions of Amramd ar [= 4Q546] Fragment 12, Z. 4: s. u.; 4QVisions of Amrame ar [= 4Q547] Fragment 9, Z. 10. 12 So in 4QWork Mentioning Hur and Miriam ar [= 4Q549] Fragment 2, Z. 8. 13 Vgl. zum Befund Ilan (Anm. 8), S. 244, mit S. 248, Anm. 145. 14 Vgl. zum Befund Walter Bauer: Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur. Hg. von Kurt und Barbara Aland. 6. Auflage. Berlin, New York 1988, S. 997 f. 15 Vgl. Günter Mayer: Die jüdische Frau in der hellenistisch-römischen Antike. Stuttgart u. a. 1987, S. 33–42.104–106.125 f. Zu Tal Ilan und ihrem vierbändigen Werk vgl. die Anmerkungen oben und im Folgenden. 16 Vgl. Mayer (Anm. 15), S. 39–41. Vgl. auch Ilan (Anm. 8), S. 9 und S. 57: Tafel 8, die herausarbeitet, dass die drei beliebtesten Frauennamen, nach der Häufigkeit ihrer Zeugnisse, (1) Mirjam, (2) Salome und (3) Schelamzion sind.
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etwa in der Nähe von Tyros oder in Syrien.17 Auch die geographische Verbreitung des Personennamens ist beeindruckend. Ägyptische Belege stammen aus Edfu, Alexandria oder Theben, dann Rom, Pompei, insgesamt verstreut aus der Kyrenaika, Kleinasien, Babylonien und Syrien (Palmyra).18 Mit Blick auf chronologische Entwicklungen kann festgehalten werden, dass in der Spätantike die Beliebtheit des Namens Mirjam und seiner möglichen Namensformen in jüdischen Kreisen stark abnimmt.19 Höchst prominent begegnet, personifiziert in wohl sechs unterschiedlichen Frauengestalten, der hasmonäische Name Mariamme. Die bekannteste unter ihnen ist die erste Frau des Herodes (ca. 60–29 vor Christus). Herodes dürfte Mariamme, eine Hasmonäer-Tochter, vor allem aus politischem Kalkül und zur Untermauerung seiner jüdisch-judäischen Identität geheiratet haben. Nach den teilweise widersprüchlichen Berichten des Josephus wurde Mariamme Ehebruch vorgeworfen, weshalb Herodes sie zum Tode verurteilte.20 Jedenfalls dürfte die sehr wirkmächtige Liebesgeschichte zwischen Herodes und der Hasmonäer-Prinzessin in den Bereich der erzählerischen Fiktion gehören – und zwar in diesem Falle einmal nicht von Josephus, sondern bereits von einer seiner ‚Quellen‘, Nikolaus von Damaskus, in die Welt gesetzt.21
2 Maryam – der Koran zwischen Mirjam und Maria Die Namen Marias, die sich unterschiedlichen Sprachen und religiösen Traditionen verdanken, rekurrieren auf den jüdisch-christlichen Nährboden, in dem
17 Vgl. Richard D. Sullivan: Mariamme (Place). In: The Anchor Bible Dictionary. Vol. 4. Hg. von David Noel Freedman. New York u. a. 1992, S. 539 f. 18 Vgl. dazu das beeindruckende Onomastikon in Ilan, Ziem (Anm. 7), S. 179–184.684–686; Tal Ilan, Kerstin Hünefeld: Lexicon of Jewish Names in Late Antiquity. Part IV: The Eastern Diaspora 330 BCE–650 CE. Tübingen 2011 (Texts and Studies in Ancient Judaism 141), S. 141. 19 So weisen die Namenslisten bei Ilan (Anm. 8), S. 242–245, für Palästina bzw. Israel zwischen 330 vor Christus und 200 nach Christus achtzig Einträge, jedoch für denselben geographischkulturellen Raum in der Zeit von 200 bis 650 nach Christus nur zwölf Einträge aus: vgl. Tal Ilan: Lexicon of Jewish Names in Late Antiquity. Part II: Palestine 200–650. Tübingen 2012 (Texts and Studies in Ancient Judaism 148), S. 187. 20 Vgl. dazu Samuel Rocca: Herod’s Judaea. A Mediterranean State in the Classical World. Tübingen 2008 (Texts and Studies in Ancient Judaism 122), S. 75 f., sowie zuletzt Adam Kolman Marshak: The Many Faces of Herod the Great. Grand Rapids, MI, Cambridge 2015, S. 111–116. 21 Vgl. Tal Ilan: Integrating Women into Second Temple History. Peabody, MA, 2001, S. 105–115.
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nahezu alle bedeutenden Namensträgerinnen verwurzelt sind. Dabei gerät ganz gerne in Vergessenheit, dass mit der islamischen Tradition eine weitere Namensform, nämlich die arabische Maryam, hinzuzufügen wäre. Immerhin heißt es in Sure 19 des Koran: 16 Und gedenke im Buch der Maria: Da sie sich vor ihren Leuten an einen Ort im Osten zurückzog 17 und sich vor ihnen abschirmte. Da sandten wir unseren Geist zu ihr. Der trat als Mensch, wohlgestaltet, vor sie hin.22
Die gesamte 19. Sure trägt in der koranisch-islamischen Tradition den Namen der Maryam. Sie ist die einzige Frau im Koran, die namentlich genannt wird. Wo sich der „Ort im Osten“ befindet, wissen wir nicht. Auch die Funktion des „Abschirmens“ bleibt eher kryptisch. Später soll Maryam einen „lauteren Jungen“ zur Welt bringen, angekündigt durch das erwähnte Geistwesen. Letztlich liegt der Akzent der Überlieferung auf dem Handeln des alleinigen Gottes und der Lauterkeit oder Reinheit der Protagonisten. Jene Lauterkeit oder Reinheit spiegelt sich, über den angekündigten Jungen, auch in Maryam wider.23 Die Maryam-Sure fährt entsprechend fort (Sure 19,18–20): 18 Sie sprach: „Siehe, ich suche meine Zuflucht vor dir bei dem Erbarmer, sofern du gottesfürchtig bist.“ 19 Er sprach: „Ich bin der Gesandte deines Herrn, um dir einen lauteren Knaben zu schenken!“ 20 Sie sprach: „Wie soll ich einen Knaben bekommen, da mich noch kein Mann berührt hat und ich auch keine Dirne bin?“24
Nicht unerwähnt bleiben darf außerdem, dass die Hochschätzung Maryams, gerade im Koran, eng an ihre Würde als Prophetin geknüpft ist. Außerdem wird Maryam eingeschlossen in den Bund Gottes mit den Propheten Noah, Abraham und Mose sowie Jesus (Sure 33,7; 57,26 f.). Insbesondere das Prophetische wird im Koran zudem mit Reinheit, Sündlosigkeit und dem göttlichen Geist assoziiert.25 Es scheint, dass genau jene Reinheit Mariens, die der Koran hervorhebt (vgl. Sure 21,91; 66,12), zur impliziten Voraussetzung der Klagehaltung der Maria in den christlichen Darstellungen der mittelalterlichen Pietà geriert. Der iranisch-
22 Übersetzung nach Hartmut Bobzin: Der Koran. Aus dem Arabischen neu übertragen von Hartmut Bobzin unter Mitarbeit von Katharina Bobzin. 2. Auflage. München 2015, S. 263. 23 Vgl. die Deutung bei Friedmann Eißler: Jesus und Maria im Islam. In: Jesus und Maria in Judentum, Christentum und Islam. Hg. von Christfried Böttrich u. a. Göttingen 2009, S. 120–205, hier S. 126–128. 24 Übersetzung nach Bobzin (Anm. 22), S. 263. 25 Vgl. hierzu etwa Sure 66,12 und Eißler (Anm. 23), S. 128.
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deutsche Schriftsteller und Orientalist Navid Kermani, selbst Muslim, beschreibt eine Pietà in St. Kunibert zu Köln mit folgenden eindringlichen Worten: Wenn ich recht sehe, stellen sich die Katholiken Maria fast immer jünger vor, als eine Frau sein könnte, deren Sohn vier- oder achtunddreißigjährig starb, die damalige Lebenserwartung einberechnet als reifer Mann, aber die Maria in St. Kunibert sieht noch jünger aus als gewöhnlich, nicht nur wegen der roten Wangen fast wie ein Mädchen, die helle, fast weiße, kaum je von der Sonne beschienene, gleichsam erfahrungslose Haut ohne Makel, in den Augen nicht bloß Trauer, vielmehr die völlige Hilflosigkeit, die ja auch etwas Kindliches hat, die Hilflosigkeit einer, die auf Erden niemanden mehr hat, der Eindruck noch verstärkt durch die andere, die angehobene Hand, die deshalb so kläglich wirkt, weil der ganze übrige Körper, auch die Mimik wie paralysiert wirken, im Gesicht eine Schlichtheit, etwas absolut Anti-Intellektuelles, etwas ganz unmittelbar Aufnehmendes, den Schmerz nicht Filterndes, die Welt nicht Begreifendes, daß der Gedanke abwegig erscheint, sie könne sich mit einem Gott im Himmel trösten.26
Das Jugendliche, fast Mädchenhafte, das Navid Kermani hier in der Kölner Maria sieht, gehört zu ihrer Reinheit, zu ihrer Lauterkeit. Das Attribut „erfahrungslos“ dürfte man auch durch ‚sündlos‘ ersetzen. Auch das „kindlich Hilflose“ und „AntiIntellektuelle“ der Maria gehören in die Umgebung eines sündenfreien Charakters. Wie es in Sure 19,20 heißt (s. o.): „20 Sie sprach: ‚Wie soll ich einen Knaben bekommen, da mich noch kein Mann berührt hat und ich auch keine Dirne bin?‘“ Der Vers ist in eine Tradition verwoben, die sowohl in christlichen wie jüdischen Kontexten eine Heimat ausweist. So antwortet Maria auf die Geburtsankündigung Jesu durch den Engel Gabriel (Lk 1,34 f.: nach Luther 2017; vgl. Sure 3,45–47): 34 Da sprach Maria zu dem Engel: Wie soll das zugehen, da ich doch von keinem Manne weiß? 35 Der Engel antwortete und sprach zu ihr: Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten; darum wird auch das Heilige, das geboren wird, Gottes Sohn genannt werden.
Außerdem verweist die Frage Maryams in Sure 19 voraus auf eine weitere Passage, die den jüdischen Traditionszusammenhang mit Mirjam, der Schwester Aarons, herstellt – scheinbar anachronistisch (Sure 19,27 f.; vgl. 3,33–36; 66,12): 27 Dann kam sie mit ihm, ihn tragend, zu den Ihren. Sie sprachen: „Maria, da hast du etwas Unerhörtes getan! 28 Schwester Aarons, dein Vater war doch kein unzüchtiger Mann und deine Mutter keine Dirne.“27
26 So Navid Kermani: Ungläubiges Staunen. Über das Christentum. 3. Auflage. München 2015, S. 54. 27 Übersetzung nach Bobzin (Anm. 22), S. 264.
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Die Lauterkeit (vgl. Sure 66,12) wird hier also noch auf die Elterngeneration der Mirjam, gemäß biblisch erzählter Chronologie ungezählte Generationen vor Maria, der Mutter Jesu, zurückdatiert. Nach alttestamentlicher Überlieferung gelten Amram und Jochebed als Eltern der Geschwister Aaron, Mose und Mirjam (vgl. 4. Mose 26,59; 1. Chr 5,29 und Micha 6,4). Die biblische Überlieferung, die hier keineswegs einheitlich vorgeht, kann an anderer Stelle (2. Mose 15,19–21; 4. Mose 12,1–16) etwa die Geschwister Mirjam und Aaron gegen Mose stellen.28 Die vor allem genealogischen Notizen, die Mirjam zusammen mit Aaron und Mose auf Amram beziehen, wollen die levitisch-priesterliche Herkunft der Prophetin betonen. Nun ist aber in der koranischen Überlieferung deutlich, dass nicht Mirjam, sondern Maryam, die ‚Gottesmutter‘ Maria der christlichen Tradition, gemeint ist. Im Arabischen deutet Āl ‘Imrān – nur in Sure 3,33; 66,12 – die genealogische Abkunft Maryams an.29 Gleiches gilt für Āl Ibrāhīm, wodurch zur christlichen die jüdische Abstammungslinie tritt. Da aber etwa Mose in den maßgeblichen Koran-Suren keine Erwähnung findet, wollen die hinter den Bezeichnungen stehenden Gruppierungen offenbar die christliche Seite auf Maria-Maryam hin betonen. Die mekkanischen und medinensischen Überlieferungen des Koran nehmen in ihrer Betonung der priesterlichen Amram- oder Āl ‘Imrān-Linie Bezug auf eine etwa bei Ephrem dem Syrer (viertes Jahrhundert nach Christus und später), aber auch schon im Protevangelium des Jakobus (zweites Jahrhundert nach Christus: vgl. ApEvJk 6,1–3; 7,1–3)30 belegte Allegorisierung Mariens als bzw. im Kontext des „Tempel(s)“.31 Möglicherweise verbinden sich hier frühchristliche Motive zu Mariens vor allem sexuell konnotierter Askese, die bereits im zweiten Jahrhundert nach Christus im Thomasevangelium sowie im Protevangelium des Jakobus und in Andeutungen in der Kirchenväterliteratur (etwa bei Justin dem Märtyrer) vorgeprägt waren. Jedenfalls greift die Koran-Interpretation die Betonung von Reinheit und Askese auf, um Maryam mit dem Tempel bzw. dem „Heiligen“ eine intensive Gottesnähe zu attestieren.
28 Vgl. dazu Ursula Rapp: Mirjam. Eine feministisch-rhetorische Lektüre der Mirjamtexte in der hebräischen Bibel. Berlin, New York 2002 (Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft 317), S. 383–397. 29 Vgl. Michael Marx: Glimpses of Mariology in the Qur’an. From Hagiography to Theology via Religious-Political Debate. In: The Qur’ān in Context. Historical and Literary Investigations into the Qur’ānic Milieu. Hg. von Angelika Neuwirth u. a. Leiden, Boston 2010 (Texts and Studies on the Qur’ān 6), S. 533–563, hier S. 549. 30 Vgl. dazu Jürgen Becker: Maria. Mutter Jesu und erwählte Jungfrau. Leipzig 2001 (Biblische Gestalten 4), S. 252–281. 31 Vgl. dazu die Texte in Marx (Anm. 29), S. 552–561.
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Ikonographisch ist jene Symbiose von Maria und dem Tempel prominent in den byzantinischen Mosaiken und Fresken der heutigen Kariye Camii-Moschee, dem ehemaligen Chora-Kloster, im modernen Istanbul gelegen, schon im zwölften bzw. dreizehnten Jahrhundert angedeutet.32 Etwa die Darstellung der Verlobung der Maria mit Joseph durch den Hohepriester wird vor dem Tempel durch die Übergabe eines blühenden Stabes symbolisch vollzogen. Damit ist Maria über die Allegorie des Aaron-Stabes (vgl. 4. Mose 17,16–26)33 ein weiteres Mal, nun auch in der christlichen Ikonographie der paläologischen Renaissance, mit den Generationen Amrams bzw. Moses und Aarons verknüpft.34 Nun scheint in den koranischen Texten, vor allem der frühen mekkanischen Epoche, deutlich, dass die Maryam-Allegorie sowohl Traditionsbezüge zu Amram/ Āl ‘Imrān als auch zu Abraham/ Āl Ibrāhīm, also dem „Haus Amrams“ als auch dem „Haus Abrahams“, ausweist und miteinander verknüpft.35 Insbesondere Angelika Neuwirth betont die enge Verbindung beider Traditionen, wenn sie schreibt: This reference to the priestly Aaronid line implied in Mary’s and her mother’s names reflects nothing less than the positioning of the figure of Mary in the interface between Judaism and Christianity.36
Die Rückverweise oder Rückprojektionen der Maria-Maryam in den jüdischen Überlieferungskontext betonen stets das prophetische und weisheitliche Profil der Maria. Im Koran ist dies auch mit Bezug auf Āl Ibrāhīm, das „Haus Abraham“, akzentuiert, wenn es in Sure 4,54 heißt: Oder beneiden sie die Menschen um das, was ihnen Gott gab aus seiner Huld? Wir gaben ja dem Haus Abraham das Buch und die Weisheit und gaben ihnen gewaltige Herrschaft.37
32 Vgl. dazu die Abbildungen in Marx (Anm. 29), S. 553–561. 33 Während im Christentum der Aaron-Stab schon früh mit dem Kreuz identifiziert wurde, assoziieren antik-jüdische Interpretationen Priestertum, Tempel und besondere Tugendhaftigkeit. Man vergleiche hierzu den jüdischen ‚Philosophen‘ der Zeitenwende Philo in seiner Abhandlung De vita Mosis (2,180 f.), dann Pseudo-Philo, Liber Antiquitatum Biblicarum (LAB 17,2–4; vgl. auch Hebr 9,3 f.; Oracula Sibyllina: SibOr 5,256–258.261 f.): s. dazu James L. Kugel: Traditions of the Bible. A Guide to the Bible As It Was at the Start of the Common Era. Cambridge, MA, London 1998, S. 562.786 f.792. 34 Vgl. die Abbildung in Marx (Anm. 29), S. 553, Fig. 2. 35 Vgl. dazu Angelika Neuwirth: The House of Abraham and the House of Amram. Genealogy, Patriarchal Authority, and Exegetical Professionalism, In: The Qur’ān in Context (Anm. 29), S. 499–531, hier S. 507.513 f. 36 So Neuwirth (Anm. 35), S. 523. 37 Übersetzung nach Bobzin (Anm. 22), S. 76 f.
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Hierzu gehört, dass der Koran an anderer Stelle die Gaben von Weisheit und Prophetie gleichberechtigt hervorheben kann (Sure 6,89).
3 Die Figur der Mirjam im antiken Judentum zwischen Prophetie und Weisheit Die Prophetin Mirjam betritt im biblischen Aufriss zum ersten Mal in 2. Mose 15 die Bühne und besingt dort Israels Rettung am Schilfmeer. Jene Rettung wird sowohl in einem ausführlicheren Lied, das Mose in den Mund gelegt ist (2. Mose 15,1–18), als auch in einem kurzen Gesang, der Mirjam zugeschrieben ist (2. Mose 15,19–21), intoniert. Beide Versionen zeichnen sich dadurch aus, dass Mose und Mirjam gleichberechtigt den Sieg JHWHs über Ägypten lobpreisen. Das textliche ‚Gegenmodell‘ findet man in der eigentlichen Rettungserzählung von 2. Mose 14 (V.29–31), wonach Israel seinerseits die Rettung JHWH und Mose zuschreibt. Die Mirjam-Version vom guten Ausgang des Exodus weist also als Klammer zurück auf die ‚klugen Frauen‘ der mosaischen Geburtsgeschichte in 2. Mose 2. „Der Exodus beginnt mit dem mutigen, widerständigen Handeln von Frauen und endet mit seiner theologischen Ausdeutung durch eine Prophetin.“38 In 2. Mose 15,19–21 heißt es: 19 Da kamen Pferde Pharaos samt seinen Streitwagen und seinen Reitern ins Meer, und YHWH brachte über sie das Wasser des Meeres zurück. Die Israeliten sind auf dem Trockenen mitten im Meer gegangen. 20 Es nahm die Prophetin Mirjam, die Schwester des Aaron, die Trommel (Handpauke) in ihre Hand, und alle Frauen zogen hinter ihr her mit Trommeln (Handpauken) und Tänzen. 21 Mirjam sang ihnen vor: ,Singt YHWH! Denn/Ja hoch erhaben ist er, Pferd und seinen Streitwagen warf er ins Meer!‘
In der älteren Exegese dieses Textes wurde das Prophetentum Mirjams vorrangig mit ihrem Gesang, den Musikinstrumenten und Tanz verbunden. Man schloss auf ein ekstatisches Prophetinnenbild.39 Hierzu passt die ebenfalls in den älteren
38 So Rapp (Anm. 28), S. 207. Vgl. auch ebd., S. 211, wonach das Mirjam-Lied als Korrektur zum Glauben an JHWH und Mose (2. Mose 14,29–31) und zum Mose-Lied (2. Mose 15,1–18) fungiert. 39 Vgl. dazu die kritische Aufbereitung dieser und ähnlicher Erklärungsmuster mitsamt ihren Vertretern bei Rapp (Anm. 28), S. 222–224.
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Deutungen angenommene Frühdatierung des Mirjam-Liedes.40 Weder überzeugt die Annahme einer ekstatischen Prophetie bei Mirjam noch ihre Datierung in die Zeit Davids oder Salomos, die man in konservativen Ansätzen dem neunten und zehnten Jahrhundert vor Christus zuordnet. Vielmehr verweist das Amt der Prophetin in 2. Mose 15 auf eine geistbegabte Interpretin der Exodus-Ereignisse (vgl. 2. Mose 15,19 mit 14,29), die mit jener geistbegabten Prophetie, die auch Mose auszeichnet (vgl. 4. Mose 11,25; 12,6–8), der Geschichte eine theologische Tiefenschärfe verleiht.41 Die Prophetin Mirjam wird so zur Interpretin des gottbefohlenen Untergangs der Ägypter, der zugleich Heil für das Volk Israel bedeutet. Damit löst Mirjam als Prophetin die Vorstellung eines angemessenen Priester- und Prophetendienstes in Micha 6,4 f. ein: Der geschichtsmächtige Gott sendet „Mose, Aaron und Mirjam“, damit sie „Einsicht in die Gerechtigkeitstaten Gottes“ vermitteln.42 Zur Prophetin Mirjam gehört also entschieden Einsicht und Erkenntnis, somit Weisheit.43 Jenes weite, vor allem theologisch geprägte Propheten- bzw. Prophetinnen-Verständnis setzt durch seine Bezüge im Alten Testament eine fortgeschrittene Propheten-Hermeneutik voraus und passt in den Kontext perserzeitlicher Verhältnisse im fünften und vierten Jahrhundert vor Christus.44
40 Auch neuerdings postuliert Rainer Albertz: Exodus. Band I: Ex 1–18. Zürich 2012 (Zürcher Bibelkommentare. Altes Testament 2.1), S. 255, für den poetischen Kern des Liedes in 2. Mose 15,21b eine Datierung in das zehnte oder neunte Jahrhundert vor Christus. 41 Vgl. dazu die Interpretationen bei Rapp (Anm. 28), S. 211–213.222–224, und Helmut Utzschneider, Wolfgang Oswald: Exodus 1–15. Stuttgart 2013 (Internationaler Exegetischer Kommentar zum Alten Testament), S. 341–343. 42 In Micha 6,4 f. heißt es: 4 Denn ich habe dich aus dem Land Ägypten heraufgeführt und aus dem Sklavenhaus habe ich dich freigekauft. Ich sandte vor dir her Mose, Aaron und Mirjam. 5 Mein Volk, erinnere doch, was Balak, der König von Moab, geraten hat und was ihm Bileam, der Sohn Beors, antwortete – von Schittim bis Gilgal –, um zu erkennen die Gerechtigkeitstaten YHWHS (hebräisch: lema‘an da‘at ṣidqôt YHWH). Vgl. zum Text Rapp (Anm. 28), S. 346–351.355–361. 43 Rapp (Anm. 28), S. 230.386, spricht in diesem Kontext von „gesellschaftlichen Eliten“, „gebildeten Frauen“. Weiterhin betont sie (ebd., S. 231): „Die Frauen, die Mirjam begleiten, deuten auf eine Gruppe musizierender gebildeter Frauen, möglicherweise aus der Königsdynastie oder der jüdischen Oberschicht in persischer Zeit, hin. Dass solche gebildeten Frauen sowohl lehrten als auch das gesellschaftliche Leben mitgeprägt haben, ist längst erwiesen.“ Die späte JuditÜberlieferung, die auf Motive und Formulierungen aus den Mirjam- und Debora-Texten (2. Mose 15,20 f.; Ri 4–5) zurückgreift, verknüpft in der Frauengestalt der Judit explizit Prophetisches mit Weisheitlichem: vgl. Renate Egger-Wenzel: Mirjam, Debora und Judit – eine Prophetinnentradition? In: Biblical Figures in Deuterocanonical and Cognate Literature. Hg. von Hermann Lichtenberger, Ulrike Mittmann-Richert. Berlin/Boston 2009 (Deuterocanonical and Cognate Literature Yearbook 2008), S. 95–122, v. a. S. 117–120. 44 Vgl. dazu Rainer Kessler: Mirjam und die Prophetie der Perserzeit. In: Gotteserdung. Beiträge zur Hermeneutik und Exegese der Hebräischen Bibel. Stuttgart 2006 (Beiträge zur Wissenschaft
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Greift man noch einmal die Rahmenfunktion des Textes auf, dann schließt 2. Mose 15,19–21 ab, was in 2. Mose 2,1–10 seinen Anfang nahm.45 Bekanntlich bringt eine Tochter Levis einen Sohn zur Welt, der schön ist und zunächst verborgen werden muss. Schließlich setzt die Mutter das Kind im Nil aus. Die Pharaonentochter zieht es aus dem Wasser: eine Anspielung auf die Volksetymologie des Namens ‚Mose‘ (2. Mose 2,10: hebräisch mšh, ‚herausziehen‘).46 Die Erzählung wurde, unter Berücksichtigung von 2. Mose 1, prominent in Fresken der Synagoge von Dura-Europos aus dem dritten Jahrhundert nach Christus ins Bild gesetzt. Im unteren Register der Westwand (WC4), zur rechten des Tora-Schreins, sieht man die Rettung Moses in vier Szenen unterteilt:47 Rechts außen thront der Pharao, umgeben von zwei Dienern. Das offene Stadttor in einer angedeuteten befestigten Stadt könnte die Städte Pithom und Ramses symbolisieren (2. Mose 1,11). Weiter links stehen die beiden ägyptischen Hebammen Schifra und Pua, die alle neugeborenen Hebräer ermorden sollen (2. Mose 1,15 f.). In der zweiten Szene setzt die Mutter Jochebed den Mose in einem Kästchen auf dem Nil aus. Die dritte Szene zeigt die nackte Pharaonentochter, wie sie Mose aus dem Nil rettet, dahinter ihre Dienerinnen.48 In der vierten Szene erscheint Mirjam, die das Kind der Mutter übergibt. Auch im Text von 2. Mose 2,4 wird die, hier allerdings namenlos bleibende, „Schwester“ des Mose eingeführt:
des Alten und Neuen Testaments 170), S. 81–88. Zu weiteren Argumenten s. auch Rapp (Anm. 28), S. 228 f. 45 Zum Folgenden vgl. auch Kugel (Anm. 33), S. 611. 46 Die Verbalwurzel ist darüber hinaus nur noch einmal im Alten Testament belegt, nämlich in 2. Sam 22,17 (= Ps 18,17). 47 Vgl. Rachel Hachlili: Ancient Jewish Art and Archaeology in the Diaspora. Leiden u. a. 1998 (Handbuch der Orientalistik I/35), S. 121 f. Kurt Weitzmann, Herbert L. Kessler: The Frescoes of the Dura Synagogue and Christian Art. Washington, D. C. 1990 (Dumbarton Oaks Studies 28), S. 26–34, gehen von drei Szenen aus: (1) Die befestigte Stadt mit Stadttor (2. Mose 1,11), (2) Pharao weist Schifra und Pua an, und Jochebed setzt den Mose-Knaben aus, (3) Rettung des Mose durch die Pharaonentochter, Kommunikation der Mirjam mit der Pharaonentochter (ausgestreckter Arm) und Übergabe Moses an seine Mutter. 48 Dies entspricht nicht der Erzählung in 2. Mose 2 (V.5), in der die Magd der Pharaonentochter das Kind aus dem Nil zieht. Die Version aus Dura-Europos begegnet allerdings im Targum Onkelos (TO zu 2. Mose 2,5) zum Exodus-Buch: vgl. Weitzmann, Kessler (Anm. 47), S. 29.31. Tessa Rajak: The Dura-Europos Synagogue. Images of a Competitive Community. In: Dura-Europos. Crossroads of Antiquity. Hg. von Lisa R. Brody, Gail L. Hoffman. Chesnut Hill, MA, 2011, S. 141–154, hier S. 147, verweist für die Umgestaltung der Motivik auf die Exagoge des ‚Tragikers‘ Ezechiel (TragEz 19–22). Zu TO und TragEz und der Interpretation der Darstellung in Dura-Europos vgl. auch Kugel (Anm. 33), S. 528–530.
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Hebräisch: watetaṣṣab ’aḥotô merāḥoq lede‘āh mah je‘āśæh lô
Und es stellte sich seine Schwester in der Ferne hin, um zu erkennen/erfahren, was ihm geschehen würde.
Die jüdische Interpretation hat schon früh die vermeintliche Doppeldeutigkeit von 2. Mose 2,4 genutzt: „… um zu sehen, was ihm geschehen werde“49 bzw. „… um zu sehen, was durch ihn geschehen werde“.50 Vorausgesetzt, die Schwester des Mose aus 2. Mose 2 wird mit Mirjam gleichgesetzt, so wäre die Prophetin als Mose-Prätendentin oder Mose-Ansagerin, als ‚Wegweiser‘ in die Mose-Prophetie, zu deuten. Zunächst belegt, wenig überraschend, die antik-jüdische Rezeption von 2. Mose 2, dass die ursprünglich namenlose Schwester wie selbstverständlich mit Mirjam identifiziert wird.51 Mit Blick auf eine Mirjam, die das Bruderleben Moses prophetisch bereits antizipiert und dabei auch besonderes Offenbarungswissen in Anschlag bringt, ist vor allem das um die Zeitenwende zu datierende Werk Liber Antiquitatum Biblicarum von Interesse. Die wohl im ersten Jahrhundert nach Christus52 entstandene Schrift wurde lange fälschlicherweise dem jüdischen Philosophen Philo Alexandrinus zugeschrieben, weshalb sie bis heute auch unter der Bezeichnung ‚Pseudo-Philo‘ kursiert. Sie erzählt die biblische Geschichte von Adam bis zum Tod Sauls nach. In LAB 9,9 f. heißt es: 9 Da brach auf Amram vom Stamm Levi und nahm eine Frau von seinem Geschlecht mit Namen Jakobe. Und es geschah, als er sie nahm, ahmten ihn die anderen nach und sie
49 So die übliche Interpretation des Halbverses, der den hebräischen Buchstaben Lamed [l] mit Personalsuffix am Ende als Lamed applicationis auffasst: vgl. Ernst Jenni: Die hebräischen Präpositionen. Band 3: Die Präposition Lamed. Stuttgart 2000, S. 117–119: Rubrik 5174; vgl. auch Gesenius (Anm. 2), S. 1021b. 50 Allerdings lässt sich bei der durchaus häufigen Konstruktion der hebräischen Verbalwurzel ‘śh, ‚tun, machen‘, im Stamm Niph‘al mit nachfolgendem Lamed und enklitischem Personalpronomen im Alten Testament kein eindeutiger Fall jenseits des Lamed applicationis ausfindig machen (vgl. nur 2. Mose 21,31; 3. Mose 24,19; 4. Mose 15,34; Ri 11,37; Jes 3,11; Jer 5,13). 51 Vgl. das in das zweite Jahrhundert vor Christus zu datierende, Abschnitte aus den Büchern 1. Mose und 2. Mose fortschreibende und interpretierende Jubiläenbuch (Jub 47,4) sowie der ‚Tragiker‘ Ezechiel (TragEz 18–26), Liber Antiquitatum Biblicarum (LAB 9,9–10) und Josephus (Ant 2,226). 52 Fraglich ist, ob LAB noch vor oder aber erst nach der Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahre 70 nach Christus entstanden ist. Für eine „Spätdatierung“ zwischen 75 und 132 plädiert etwa Christian Dietzfelbinger: Pseudo-Philo. Antiquitates Biblicae. Liber Antiquitatum Biblicarum. In: Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit II/2. Hg. von Werner Georg Kümmel. 2. Auflage. Gütersloh 1979, S. 91.95 f. Demgegenüber argumentiert Hanna Tervanotko: Denying Her Voice. The Figure of Miriam in Ancient Jewish Literature. Göttingen 2016 (Journal of Ancient Judaism. Supplements 23), S. 251, für eine Entstehung vor 70.
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nahmen sich Frauen. Diesem aber war ein Sohn und eine Tochter (zuteil); und ihre Namen waren Aaron und Maria. 10 Und der Geist Gottes fiel auf Maria bei Nacht, und sie sah einen Traum, und sie erzählte (ihn) ihren Eltern am Morgen und sprach: ‚Ich sah in dieser Nacht, und siehe, ein Mann stand da in leinenem Gewand und sprach zu mir: „Geh und sag deinen Eltern: Siehe, was geboren wird von euch, soll ins Wasser geworfen werden, weil durch ihn das Wasser ausgetrocknet werden wird. Und ich werde durch ihn Zeichen tun und mein Volk retten, und er wird immer seine Führerschaft ausüben“.‘ Und als Maria ihren Traum erzählt hatte, glaubten ihre Eltern nicht.53
Die parabiblische Ausgestaltung von 2. Mose 2 legt der Mirjam den Bericht einer Traumvision (lat. somnium) in den Mund, vermittelt durch einen Engel (vgl. Ez 9,11; Dan 10,4 f.). Der Trauminhalt, konkret in der Passage „weil durch ihn das Wasser ausgetrocknet werden wird. Und ich werde durch ihn Zeichen tun und mein Volk retten“, thematisiert das Exodus-Ereignis und weitere Taten Moses. Mirjam agiert in der Vermittlung dieser Inhalte also als Prophetin.54 Zudem zeichnet sich Mirjam durch ein Plus an Wissen gegenüber ihrer Familie aus. Offensichtlich handelt es sich bei der nächtlichen Offenbarung um Geheimwissen, und das Liber Antiquitatum Biblicarum greift dabei auf eine Motivkonstellation und Hermeneutik zurück, die auch in den aramäischen ‚Visionen Amrams‘ aus den Handschriften vom Toten Meer begegnen.55 Zu beachten ist das Fragment 4QVisions of Amramd ar (= 4Q546) Fragment 12, Z. 4, ein Text aus dem frühen zweiten Jahrhundert vor Christus, in dem Mirjam ausdrücklich als Geheimnisträgerin erscheint, wenn es heißt: „und das Geheimnis Mirjams schuf er für s[ie“.56 Längst ist bekannt, dass das persische Lehnwort raz, ‚Geheimnis‘, sowohl Prophetisch-Visionäres als auch Weisheitliches konnotiert und insbesondere prominente Figuren der Heilsgeschichte im antiken Judentum (Daniel, Henoch, Noah, Mirjam) entsprechend als Weise charakterisiert.57 Insgesamt ergeben die angestellten Textvergleiche ein Mirjam-Bild, das bei prominenten alttestamentlichen Traditionen wie 2. Mose 15 und 2. Mose 2 seinen Ausgang nimmt und mit Hilfe antik-jüdischer Fortschreibungen die Prophetin als mit ausgezeichnetem Offenbarungswissen ausgestattete Weise konturiert.
53 Übersetzung nach Dietzfelbinger (Anm. 52), S. 125. Die Hervorhebungen stehen im Original zur Kennzeichnung der Bibelbezüge. 54 So formuliert Tervanotko (Anm. 52), S. 255: „The reference to Miriam predicting future events to her family makes Miriam appear as a prophetic figure.“ 55 Vgl. Tervanotko (Anm. 52), S. 259–261. 56 Aramäisch: wrz mrjm ‘bd lh[wn. Zum Text des Fragments vgl. Émile Puech: Qumrân Grotte 4.XXII: Textes Araméens. Première Partie. 4Q529–549. Oxford 2001 (Discoveries in the Judaean Desert XXXI), S. 364 und Tafel XX. 57 Vgl. Tervanotko (Anm. 52), S. 135–138.
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Stefan Beyerle
4 Ergebnis Die Ergebnisse zu den etymologischen, prosopographischen und traditionsgeschichtlichen Hinweisen auf ‚Maria‘ bleiben, trotz oder gerade wegen der Namenshäufigkeit in jüdisch-christlichen Kulturkreisen, eher opak. Eine gesicherte Namensbedeutung existiert bisher nicht. An der weit verzweigten Belegdichte des Namens fällt allerdings auf, dass im Judentum der Spätantike, also im zweiten bis siebten Jahrhundert nach Christus, die Häufigkeit der Namensbelege stark abnimmt, was möglicherweise auf die intensive Adaption der ‚Maria‘ im sich verbreitenden Christentum zurückzuführen ist. Die koranischen Perioden der mekkanischen und medinensischen Verkündigung Mohammeds verknüpfen in Maria jüdische und christliche Traditionen, die sowohl die Aspekte von Reinheit und Askese als auch die von Prophetie und Weisheit bei Maryam-Maria hervorheben. Während ersterer Aspekt stärker in den christlichen Traditionszusammenhang gehört, sind Prophetie und Weisheit deutlicher dem jüdischen Kultur- und Religionskontext zuzuordnen. Beides verbindet der Koran unter Inkaufnahme offensichtlicher Anachronismen. Während die asketische Traditionslinie Marias literarisch bereits in frühchristlichen Texten der Apologeten und apokryphen Evangelien ihren Niederschlag findet, verweist das Prophetisch-Weisheitliche eher in den jüdischen Traditionsraum. Bereits die jüdischen Pseudepigraphen und in ihrem Gefolge die Ikonographie der Synagoge von Dura-Europos schaffen in der Identifizierung der in 2. Mose 2 noch namenlosen Schwester Moses mit Mirjam die Voraussetzung für jene Interpretation. Aber schon 2. Mose 15,19–21 deutet zumindest an, dass die Prophetie Mirjams keine ekstatische, sondern eine theologisch gelehrte, weisheitlichinterpretierende Form darstellt. Texte des zweiten vorchristlichen (Handschriften vom Toten Meer: die ‚Visionen Amrams‘) und ersten nachchristlichen Jahrhunderts (Liber Antiquitatum Biblicarum) bestätigen dann die Verortung der Mirjam-Maria ‚zwischen Prophetie und Weisheit‘.
Johann Anselm Steiger
„Nulla femina dir gleich“ Martin Luther und Maria Zugleich ein Beitrag zur Ikonographie des Schutzmantels1
1 Zu Luthers Kritik an der spätmittelalterlichen Marienfrömmigkeit Martin Luther,2 der als Augustiner-Eremit mit dem spätmittelalterlichen Marienkult zutiefst vertraut war und auch von seiner Herkunft als Bergmannssohn her ein sehr enges Verhältnis zur Annen- und Marienverehrung gehabt haben dürfte,3 hat im Zuge der Genese seiner reformatorischen Theologie eine grundsätzliche, zuweilen sehr scharfe Kritik an der üblichen Marienfrömmigkeit und -verehrung ausgebildet. Insbesondere den Brauch, Maria im Gebet anzurufen und sie zu bitten, für die sündigen Menschen als Fürsprecherin vor ihrem als unnahbarem „Richter […,] Hencker […,] Stockmeyster“4 fungierenden Sohn,5 ja als „Mittlerin bei diesem
1 Überarbeitete Fassung eines Textes, der zuerst erschien in: Johann Anselm Steiger: Fünf Zentralthemen der Theologie Luthers und seiner Erben. Communicatio – Imago – Figura – Maria – Exempla. Mit Edition zweier christologischer Frühschriften Johann Gerhards. Leiden u. a. 2002 (Studies in the History of Christian Thought 104), S. 217–249. 2 Zur umfänglichen Forschungsliteratur zu Luther und Maria vgl. Steiger (Anm. 1), S. 219 f., Anm. 1. Aus der neueren Literatur vgl. Christoph Burger: Martin Luthers Deutung des Magnificat verglichen mit jener von Thomas Müntzer und Huldrych Zwingli. In: Christiane Wiesenfeldt und Sabine Feinen (Hg.): Maria „inter“ confessiones. Das Magnificat in der frühen Neuzeit. Turnhout 2017, S. 17–28. Christoph Burger: Tradition und Neubeginn. Martin Luther in seinen frühen Jahren. Tübingen 2014 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 79), S. 110–157. Ders.: Marias Lied in Luthers Deutung. Der Kommentar zum Magnifikat (Lk 1,46b–55) aus den Jahren 1520/21. Tübingen 2007 (Spätmittelalter und Reformation NR 34). 3 Vgl. hierzu Hans Düfel: Luthers Stellung zur Marienverehrung. Göttingen 1968 (Kirche und Konfession 13), S. 33 ff. sowie Angelika Dörfler-Dierken: Luther und die heilige Anna. In: LutherJahrbuch 64 (1997), S. 19–46. 4 Martin Luther: Werke. Kritische Gesamtausgabe. 73 Bde. Weimar 1883–2009 (fortan zit. WA unter Angabe von Bd.-, Seiten- und Zeilenzahl), hier WA 52,89,29 (Hauspostille 1544, Epiphanias). 5 Vgl. so z. B. Bernhard von Clairvaux: Sämtliche Werke lateinisch-deutsch. Hg. von Gerhard B. Winkler. Bde. 7 und 8. Innsbruck 1996 f., hier Bd. 8, S. 528, Z. 15 f., Z. 21 f., der Maria „Iudicis mater, et mater misericordiae“ nennt, die „suppliciter et efficaciter salutis nostrae negotia pertractabit“ und darum verdient, als „Regina caelorum“ verehrt zu werden. Zu Luthers Auseinandersetzung mit Bernhard in dieser Frage vgl. z. B. WA 51,128,28–32 (Predigten des Jahres 1546 [17. 1.]). https://doi.org/10.1515/9783110665109-003
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Johann Anselm Steiger
Mittler“6 einzutreten, wie Bernhard von Clairvaux (1090/91–1153) es formuliert, hat Luther abgelehnt: Maria ist nicht Fürsprecherin, sondern Fürbitterin, die wie ein jeder Christ für einen anderen fürbittend vor Gott treten kann.7 Maria als Interzessorin anzurufen, steht nach Luthers Urteil im eklatanten Widerspruch zur Heiligen Schrift, die nur einen Mittler zwischen Gott und den Menschen kennt (1Tim 2,5), nämlich Christus, vor dessen Angesicht die Glaubenden persönlich treten dürfen und dessen priesterliche Aufgabe darin besteht, als intercessor für die Sünder vor Gott als dem Richter einzutreten (1Joh 2,1). Da Christus voraussah, daß die Menschen seine Mutter vergotten und sie mehr ehren würden als ihn, wies der Sohn Gottes – so Luther – Maria auf der Hochzeit zu Kana auf höchst ruppige Weise (gewissermaßen präventiv) zurück, als sie die Interessen der dürstenden und nach mehr Wein verlangenden Hochzeitsgäste vor ihrem Sohn vertrat. Auch hat Christus dazu mal gemarckt und verstanden, das man mit der zeit seiner mutter mehr ehre geben und zuschreiben würde denn Christo selbs, nemlich, das man sie würde fur eine mitleryn und fürsprecheryn halten zwischen Got und uns, dem furzukomen feret er sie nicht allein hie, sondern an andern ortten mehr hart an, damit er anzeiget, das es nicht umb sie zu thuen sey, sondern umb yhn, und das er sey, der da sol zwischen Gott und dem menschen handeln, nicht Maria, nicht yrgend ein ander heilig, er sey so heilig, als er ymer mehr wolle.8
6 Vgl. Bernhard von Clairvaux (Anm. 5), Bd. 8, S. 596, Z. 4 f. (Dominica infra Octavam Assumptionis): „Opus enim mediatore ad Mediatorem istum, nec alter nobis utilior quam Maria.“ Metaphorisch bringt Bernhard dies auch dadurch zum Ausdruck, daß er Maria einen „aquaeductus“ (vgl. z. B. ebd., S. 624, Z. 10) nennt, der den Menschen die Ströme der göttlichen Gnade zuleitet. Bernhard zufolge ist Christus zwar mediator zwischen Gott und Mensch (1Tim 2,5). Da aber Christi Menschheit in die Gottheit absorbiert ist („absorpta videtur in deitatem humanitas“ [ebd., S. 594, Z. 15 f.]), traut sich der Sünder nicht, vor sein Angesicht zu treten. „Quidni vereatur accedere, ne, quemadmodum fluit cera a facie ignis, sic pereat ipse a facie Dei?“ (ebd., S. 594, Z. 19–S. 596, Z. 2). Nach Bernhard muß Maria gewissermaßen für den Sohn Gottes einspringen, weil vermittels der Aufnahme der menschlichen Natur Christi in die unio hypostatica eine Kluft zwischen den Menschen und Christus entstanden ist. Luther dagegen hebt die radikale Kondeszendenz Gottes in Christus und dessen volle Solidarität mit den Menschen in den Vordergrund. 7 Vgl. WA 10/III,325,7 f. (Sermon von der Geburt Mariä 1522): „Für ain fürsprecherin wöllen wir sy nicht haben, für ain fürbitterin wöllen wir sy haben wie die andern hailigen.“ Zweifelhaft jedoch ist, ob diese Differenzierung zwischen Fürbitte und verdienstlicher Fürsprache Marias sich schon in Luthers Magnifikat-Auslegung durchgesetzt hat, wo Luther, seine Widmungsvorrede beschließend, sagt: „Die selbige zartte mutter gottes wolt mir erwerbenn denn geyst, der solchs yhr gesang muge nutzlichen unnd grundlich auszlegen“ (WA 7,545,27–29 [Das Magnificat verdeutschet und ausgelegt 1521]; vgl. 601,10 f.). 8 WA 21,65,5–12 (Winterpostille 1528). Vgl. WA 17/I,29,16.21 f. (Predigten des Jahres 1525 [15.1.]): „Maria intercedit, sed [scil. Christus] schnurt sie an […]. In rebus salutis nihil must Maria zuthun haben. Postea ex aqua fecit vinum.“
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Darum kritisierte Luther z. B. auch die bildliche Darstellung der Gottesmutter als sog. Mantelmadonna9, unter deren Mantel die sündigen Menschen Zuflucht und vor dem vermeintlichen Zorn Christi Schutz finden. Es ist abgotterej, das man weiset die leuthe von Christo unter den mantel Mariae, wie die Prediger Munche gethan haben. Die mahleten die Jungfrau Maria also, das der Herr Christus drei pfeill in der hand hette, der eine war Pestilentz, der ander krieg, der dritte wahr theuer Zeit, darmit ehr die menschen straffen woltte. Alhier hieltte Maria ihren mantel fhur, auff das die Menschen nicht getroffen wurden.10
Der älteste bekannte ikonographische Beleg für dieses in Italien schon seit dem dreizehnten Jahrhundert bekannte Motiv im deutschen Raum findet sich übrigens in der Dominikanerkirche zu Erfurt, die Luther bekannt gewesen sein dürfte, und stammt aus dem vierzehnten Jahrhundert.11 Wie beliebt und verbreitet die bildliche Schilderung der Muttergottes mit Schutzmantel im vierzehnten bis zum ausgehenden fünfzehnten Jahrhundert war, läßt sich auch heute noch anhand zahlreicher Belege nachvollziehen, z. B. an der 1333 von einem unbekannten Meister bemalten Mitteltafel eines Triptychons (Abb. 1) und an Adam Krafts (gest. 1509) Sandsteinepitaph für Sebald Peringsdörffer (ca. 1498) in der Frauenkirche zu Nürnberg (Abb. 2). Mit Schutzmänteln geschildert wurden im späten Mittelalter, wenngleich nicht derart häufig, auch die Heilige Ursula (Abb. 3)12 sowie Gottvater und Jesus Christus (s. u.). Prinzipiell erachtete Luther sakrale Bildwerke als dem Glauben dienlich, der Meditation geistlicher Sachverhalte förderlich und katechetisch notwendig – unter der Voraussetzung, daß sie mit dem Inhalt der biblischen Botschaft nicht kollidieren. Andererseits aber setzte er sich für die Abschaffung all derjenigen Bilder ein, welche die Verkündigung der Heiligen Schrift konterkarieren 9 Vgl. Friedrich Zoepfl: Art. Schutzmantelbild. In: Lexikon für Theologie und Kirche2 9 (1964), Sp. 525–527 sowie Ernst Konrad Stahl: Art. Schutzmantelbilder (mit Abbildungen). In: Lexikon für Theologie und Kirche1 9 (1937), nach Sp. 360. Vgl. ferner Katherine T. Brown: Mary of Mercy in medieval and Renaissance Italian art. Devotional image and civic emblem. London u. a. 2017. Tommaso Castaldi: La Madonna della Misericordia. L’iconografia della Madonna della Misericordia e della Madonna delle frecce nell’arte di Bologna e della Romagna nel Tre e Quattrocento. Imola 2011 (I quaderni di Tracce 11). Wolfgang Braunfels u. a.: Art. Maria, Marienbild. In: Lexikon der christlichen Ikonographie 3 (1971), Sp. 154–210. Gregor Martin Lechner: Marienverehrung und Bildende Kunst. In: Wolfgang Beinert und Heinrich Petri (Hg.): Handbuch der Marienkunde. Bd. 2: Gestaltetes Zeugnis – Gläubiger Lobpreis. 2. Auflage. Regensburg 1997, S. 109–172. Stephan Beissel: Geschichte der Verehrung Marias im 16. und 17. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Religionswissenschaft und Kunstgeschichte. Freiburg i. Br. 1910. 10 WA 47,276,21–27 (Mt 18–24 in Predigten ausgelegt 1537–40). 11 Vgl. Zoepfl (Anm. 9), Sp. 526. 12 Vgl. Gaynor Nitz: Art. Ursula. In: Lexikon der christlichen Ikonographie 8 (1976), Sp. 521–527, hier Sp. 522.
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oder verdunkeln. Mit zuweilen äußerst markigen Worten hat Luther gefordert, „den Bapst mit seinem dreck aus[zu]fegen, den ehr (mit urlaub zu reden) uns an den weg geschiessen hat.“13 Zu diesem ‚Dreck‘ gehören auch die Mantelmadonnen, die Luther zufolge dazu beigetragen haben, daß Maria mehr geehrt wurde als der Sohn Gottes, ja, die mitschuldig daran sind, daß die Glaubenden nicht mehr Christus, der allein für sie gestorben ist, vor Augen hatten, sondern eine bloße vergötterte Kreatur, also einen Abgott. Unerträglich ist Luther die Vorstellung, daß Maria in Wort, Bild und Gesang mehr geehrt worden ist als Gott und sein Sohn,14 die Mutter Gottes also den Blick auf den Heiland verstellt und die unvermittelte Glaubensbeziehung zu ihm unterbrochen hat. Eine rechte Marienverehrung hingegen ist Luther zufolge dadurch definiert, daß sie Maria als Mutter Gottes15 und Jungfrau in allen Ehren hält. Wahre Marienfrömmigkeit hat jedoch darauf zu achten, daß man nicht bei Maria, einer bloßen Kreatur, steckenbleibt, sondern zu Gott hindurchdringt.16 Eine rechte Verehrung Marias hat sich darum der Gleichmacherei ihrer und Christi zu enthalten: „Wir wollen die liebe jungfraw und heilige mutter in allen ehren halten, wie sie denn wol werd ist, das man sie ehre. Aber doch wollen wir sie nicht also ehren, das wir sie jrem Sone Christo gleich machten.“17 Die Marienfrömmigkeit verkehrt sich, so Luther, dann in ihr verwerfliches Gegenteil, wenn sie aus dem Blick verliert, daß nicht Maria die Vergebung der Sünden erworben hat, sondern allein Christus durch sein blutiges Leiden und seinen Tod dies bewerkstelligt hat. „Denn sie ist nicht fur uns gecreutziget noch gestorben.“18 Derjenige indes, der allein auf Maria baut und sein Vertrauen in sie setzt, verleugnet nach Luther letztendlich das Leiden Christi19 und hat vergessen, daß nicht Maria den verlorenen Sündern zugute gekreuzigt worden und gestorben ist, sondern Christus.20 Die Gottesmutter jedenfalls ist, so 13 WA 47,257,24 f. 14 Martin Luther: Tischreden. 6 Bde. Weimar 1912–1921, hier WA.TR 5,274,40 f. (Nr. 5603): „S. Maria ist mehr celebrirt worden in der Grammatica, Musica und Rhetorica, denn ihr Kind, Jesus.“ 15 Zum Epitheton theotokos bei Luther vgl. insbesondere die Schrift Von den Konziliis und Kirchen, in der sich der Reformator im Kontext der Sichtung der altkirchlichen christologischen Auseinandersetzungen und Lehrformulierungen ausführlich über die Bezeichnung Marias als Gottesmutter äußert (WA 50,586–591 [Von den Konziliis und Kirchen 1539]) sowie z. B. auch WA 47,86 f. (Auslegung des dritten und vierten Kapitels Johannis 1538–40). 16 WA 10/III,316,8 f.: „Darumb ere die muter gottes also ferne, das du auff jr nicht bleibest, sonder zu gott tringest und do dein hertz auffsetzest.“ 17 WA 28,402,19–22 (Wochenpredigten über Joh 16–20 1528 f.). 18 WA 28,402,22. 19 Vgl. WA 28,403,2–4: „Billich ist Maria unser Mutter. Aber das wir wolten auff sie bawen und Christo sein ehre und ampt nemen und es der Mutter geben, daß hiesse Christus leiden verleugnet.“ 20 Vgl. WA 28,402,22.
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Luther, in gleichem Maße der Erlösung bedürftig gewesen und ebenso durch das Blut Christi gereinigt worden wie jeder andere Mensch auch,21 wodurch jede auch noch so entfernte Beteiligung Marias am Erlösungswerk ausgeschlossen ist. Ein weiteres in der Sakralkunst des Spätmittelalters beliebtes Bild hat Luther mehrfach – und noch in seiner letzten Wittenberger Predigt22 – kritisiert: die Darstellung des heiligen Bernhard von Clairvaux, der Maria anbetet, während diese Christus ihre Brüste (oder eine derselben) zeigt (Abb. 4), um ihn daran zu erinnern, daß sie es gewesen ist, die ihn gestillt hat, damit er dem durch sie vertretenen Beter gnädig sei.23 Zu dieser das Motiv der Maria lactans (Galaktotrophusa-Ikone) variierenden Bildgattung gehören etwa auch die Visualisierungen Bernhards, dessen Lippen Maria mit Muttermilch benetzt.24 Offensichtlich hat Luther dieses letztere Bildsujet im Blick, wenn er sagt: „Ach was haben wir der Marien küsse gegeben, aber ich mag Marien brüste noch milch nicht, denn sie hat mich nicht erlöset noch selig gemachet.“25 Auch die mittelalterlich-mariologischen Gesänge wie das Salve Regina oder das Regina coeli hielt Luther für abgöttisch, da sie einem Menschen die Attribute andichten, die allein Gott zustehen.26 Zudem seien diese Gesänge getra-
21 Vgl. WA 10/III,316,3 f.: „Sunst ist sy uns gleich, so wol durch das blut Christi zu gnaden kommen als wir.“ Vgl. WA 15,480,33–35 (Predigten des Jahres 1524 [19.3.]): „Ipsi non est befolen, ut me liberet a morte, sed quod ipsum nutriat, sed illud filio est commissum, qui solus potest, qui et matrem sua morte redemit.“ 22 Vgl. WA 51,128,28–37: „Hie hat jhm Bernhardus zuviel gethan im Euangelio ‚Missus est Angelus‘ etc. Gott hat bevohlen, man sol die Eltern ehren, Jch wil Mariam anruffen, die wirt fuer mich den Son bitten, und derselbige den Vatter, welcher den Son wirt erhören. Daher ist das gemeld, wie Gott zürnet und Christus dem Vatter die wunden, Maria aber Christo jhr brüste zeiget, Das treibt die hübsche Braut, der vernunfft weisheit, Maria ist des HERrn Christi Mutter, vorwar so wird sie Christus erhören, Christus ist ein gestrenger richter, Jch will S. Georgen, S. Christoffel anruffen, Nein, wir sind aus Gottes befehl getauffet im namen des Vaters, des Sons und des heiligen Geists, gleich wie die Jüden beschnitten.“ Vgl. auch WA 21,25,28–31 (Winterpostille 1528, 2. Advent) und WA 52,21,37 f.–22,5 (Hauspostille 1544, 2. Advent). 23 Vgl. hierzu z. B. Heiko Augustinus Oberman: Schrift und Gottesdienst. Die Jungfrau Maria in evangelischer Sicht. In: Kerygma und Dogma 10 (1964), S. 219–245, hier S. 235. 24 Vgl. Christel Squarr: Art. Bernhard von Clairvaux. In: Lexikon der christlichen Ikonographie 5 (1973), Sp. 371–385, hier Sp. 377 f. mit Bildbeispiel. 25 WA 46,663,34–36 (Auslegung des ersten und zweiten Kapitels Johannis 1537 f.). Vgl. auch WA 21,65,29–38. 26 Vgl. WA 10/III,321,7–9; 322,2–5: „Jtem von der hailigen jungkfrawen Marie im Salve, was do wort seind die man ir zulegt ‚biß gegrüßt ain künigin der barmhertzigkait, vnser leben, vnser süssigkait und unser hoffnung‘. Jst das nit zuvil? […] Also ist es auch mit dem Regina celi, das ist auch nicht besser, do man sy ain künigin des himmels nennet. Jst das nit ain unere Christo gethon, das man ainer creatur zuleget das allain gott gebürt?“
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gen von dem Gedanken, Maria sei verdientermaßen von Gott erwählt worden.27 Wer Maria als die gnädige Himmelskönigin anbetet, der versündige sich gegen das erste Gebot und das ‚Höre Israel‘ (Dtn 6,4), also gegen das Bekenntnis zum trinitarischen Gott. Hier koinzidieren Luther zufolge eine übertriebene, unbiblische Marienvergötterung und eine teuflische Gottesverachtung,28 die Gottesvergessenheit zur Folge hat: „Er [scil. Gott] sitzet nur müssig im Rauchloch.“29 Auch die mitunter recht kostspieligen Wallfahrten zu Zwecken des Marienkultes waren Luther ein Dorn im Auge – nicht, weil er solche Reisen aus frommen Beweggründen an sich abgelehnt hätte, sondern weil er es für einen Irrglauben hielt, daß solche Unternehmungen als Beiträge zur Erwerbung des Seelenheils mißverstanden wurden. Nicht nur diesbezüglich hat Luther dazu aufgefordert, zuerst die lebenden Heiligen und nicht die toten zu verehren, also den Notleidenden und insbesondere den Bedürftigen zu helfen, anstatt teure Wallfahrten oder sonstige Stiftungen zu tätigen,30 zumal es in der Bibel kein Gebot der Marienverehrung, wohl aber ein solches der Nächstenliebe gebe, erstere mithin nicht notwendig zur Seligkeit sei. „Dann du wirst nit verdampt, wann du gleich der mutter gottes nimmer kain ere anthust, ja wann du gleich nimmer an sy gedenckst. Aber hie wann du die [scil. die lebenden Heiligen] versaumpst, so wirst du verdampt, dann hie hast du ain gebot, dort hast du kains.“31
27 Vgl. WA 7,573,16 f., wo Luther kritisch darauf aufmerksam macht, „das man aber singt ym ‚Regina celi letare‘ etc.: ‚Den du hast vordient zutragen‘ und am andern ort: ‚Des du wirdig bist gewesen zutragen etc.‘“ 28 Vgl. etwa WA 28,616,18 f. (Predigten über das 5. Buch Mose 1529): „Setze ich aber mein hertz auff die Jungfraw Maria, das sie mir helffen sol und guts thuen, was darff ich denn Gottes?“ 29 WA 28,616,19. 30 Vgl. WA 10/III,325,23–326,17: „Darum lasz man sy [scil. Maria] in ir billichen ehr bleiben und halt sy fur gotes kind, ia fur gotes muter […]. Und sech iederman mer auff die heilgen die hie bei uns leben, lauff nit hin und her als inß Grimental, gen Ötingen, gen Einsidel, gen Ach etc.: lauff in deines nechsten nach paurn haus der dein notturfftig ist, und waß du dört hin vertzeren und geben wilt, das gib hie her.“ Vgl. WA 10/III,407,29–408,6 (Predigten des Jahres 1522 [Nr. 59]): „Nu wy man die heiligen ehren sol, das hab ich vor hin offt gesagt, nemlich das man yhe eyn underscheydt mache under den heyligen, die do thott seyn, und den, die do lebendig seyn, und was man denn heiligen thon wil, das mans abwendt von den thoten und legs auff die lebendigen. Die lebendigen heiligen sein dein nehsten, die nackende, die hungerichen, die dorstigen, arme leut, die weyb und kyndleyn haben, die schandt leiden: do wendt hin dein hulff, do leg dein werck an, do brauch dein tzungen hyn, das du sie beschutzest, dein mantel auff sie deckst und tzů ern helfft.“ Vgl. ähnlich auch Johannes Brenz: Frühschriften. Teil 1. Hg. von Martin Brecht u. a. Tübingen 1970, S. 14, Z. 12–14 (Ein sermon von den heyligen 1523): „Mit gelt, hilff oder andern müst du die yetz lebendig heyligen verern, welches arm, dirfftig, undertruckt leüt seindt; denen ist not deines opffers oder steür, wie man es nennen will.“ 31 WA 10/III,323,2–5.
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2 Reformation des Marienbildes: Maria als Beispiel für Gottes Erwählung des Niedrigen Unzutreffend jedoch wäre es, wollte man annehmen, daß Luther mit seiner fundamentalen Kritik an der traditionellen Marienfrömmigkeit einen grundsätzlichen Bruch mit Maria vollzogen hätte. Die noch heute nicht selten anzutreffende Anschauung, protestantische Theologie und Frömmigkeit habe mit der Mutter Gottes nichts oder doch nur sehr wenig zu schaffen, ist unhaltbar. Tatsächlich hat der Reformator nicht nur bestimmte Elemente der traditionellen Marienverehrung übernommen und an einer Reihe von Marienfesten festgehalten (Mariae Reinigung, Mariae Verkündigung, Mariae Heimsuchung32), die er jedoch zu Christusfesten umgestaltete. Vielmehr hat er obendrein im Zuge der Ausbildung seiner allein an der Heiligen Schrift ausgerichteten Theologie auch einen neuen Typos von Marienfrömmigkeit entworfen, der Anspruch darauf erhebt, mit den biblischen Grundlagen übereinzustimmen. Darum ermahnt Luther desöfteren dazu, sich in Sachen Maria auf die Aussagen der Bibel zu beschränken, weswegen er an der legendarischen Überlieferung, Maria sei gen Himmel gefahren, keinen Gefallen fand.33 An der Bezeichnung Marias als semper virgo,34 die auch nach der Geburt Jesu Jungfrau geblieben ist, indes und an dem (1854 durch Papst Pius IX. zum Dogma erhobenen) Gedanken, Maria sei von ihrer Mutter Anna sündlos empfangen worden (immaculata conceptio35), nahm Luther hingegen keinen Anstoß,36 32 2. Februar, 25. März, 2. Juli. 33 Vgl. WA 26,579,13–17 (Ein Bericht an einen guten Freund 1528), wo sich Luther Worte des Hieronymus zueigen macht: „Die schrifft sagt, das Maria Gottes mutter und Jungfraw sey, das ist gnugsam beweiset, Weil aber niemand beweisen kan aus der schrifft, das sie hernach sey verruckt, so sols auch niemand gleuben, sondern für eine Jungfraw halten, wie sie die schrifft nennet.“ 34 Vgl. z. B. WA 7,192,33 (Sermon von der Geburt Christi, gepredigt am Christtag früh 1520). 35 Zur Umstrittenheit dieser Lehre auf dem Basler Konzil (1431–37) vgl. Remigius Bäumer: Die Entscheidung des Basler Konzils über die Unbefleckte Empfängnis Mariens und ihre Nachwirkungen in der Theologie des 15. und 16. Jahrhunderts. In: Johannes Helmrath u. a. (Hg.): Studien zum 15. Jahrhundert. FS Erich Meuthen. Bd. 1. München 1994, S. 193–206. 36 Vgl. WA 17/II,287–289 (Festpostille 1527). Luther differenziert hier jedoch folgendermaßen: In der ersten, leiblichen Empfängnis, die sich mit der Vereinigung von Mann und Frau vollzieht, unterliegt Maria sehr wohl der Erbsünde. In der zweiten Empfängnis aber, der göttlichen Eingießung der Seele durch Gott, ist sie von der Erbsünde gereinigt worden. Also steht Maria, die sündhaft ist am Leib, nicht aber an der Seele, zwischen dem Menschen, der leiblich und seelisch von der Sünde affiziert ist, und Christus, der absolut sündlos ist (Hebr 4,15). Vgl. zur Entwicklung der Stellung Luthers zur Frage der immaculata conceptio zusammenfassend Düfel (Anm. 3), S. 170 f. u. ö. Vgl. zudem Hans Grass: Traktat über Mariologie. Marburg 1991 (Marburger Theologische Studien 30), S. 44–57, hier S. 50, der auf eine Stelle (WA 36,143,14–18 [Predigten des Jahres 1532 [24. 3.]) aufmerksam macht, wo Luther offensichtlich die Ansicht vertritt, „daß der Heilige Geist erst im
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wollte aber weder in ersterem noch in letzterem einen zur Seligkeit notwendigen Glaubenssatz erkennen. Der Typos der Marienverehrung, den Luther begründete, schlug sich nicht nur in seiner diesbezüglich wohl einschlägigsten Schrift nieder, nämlich in der Auslegung des Magnifikat aus dem Jahre 1521, sondern auch in einer Vielzahl von anderen Texten, vor allem in Predigten. An Maria wird nach Luther anschaulich, wie Gott kondeszendiert und seine Gnade das Niedrige und von Menschen für unwert Erachtete erwählt.37 Maria ist demzufolge ein Exempel dafür, wie der gnädige Gott an allen Menschen handelt. Gott erwählt nicht das Glänzende und Hohe in der Welt, sondern Maria als späte Nachfahrin des heruntergekommenen Stammes David, um von ihr seinen Sohn gebären zu lassen. Dieser Gnade, die in die Tiefe sieht, um das Niedrige zu erheben, rühmt sich Maria, so Luther, wenn sie im Magnifikat singt: ‚Er [scil. Gott] hat seine elende Magd angesehen‘ (Lk 1,48).38 Anders als die Menschen, die vorrangig das Erhabene, Schöne und den Reichtum suchen,39 ist Gott nach Luther dadurch definiert, daß er herabsieht. Und mehr noch: Gott, der Allerhöchste und Schöpfer des Himmels und der Erden, ist schlichtweg dazu gezwungen, in die Tiefe zu sehen, gerade weil er der Höchste und Allmächtige ist. In seiner Allmacht und Höhe auferlegt sich Gott demzufolge selbst einen Zwang, begibt sich der unermeßlich Freie in die Unfreiheit: Gott kann – so Luther – gar nicht anders, als in die Tiefe zu sehen und sich der Niedrigen anzunehmen. „Denn die weil er [scil. Gott] der aller hohist und nichts uber yhn ist, mag er nit uber sich sehen, mag auch nit neben sich sehen, die weil yhm niemant gleich ist, musz er von not ynn sich selb unnd unter sich sehen, unnd yhe tieffer yemant unter yhm ist, yhe basz er yhn sihet.“40 Das, was mit der Schöpfung als creatio ex nihilo begann, setzt sich in der Handlungsweise
Zusammenhang mit der von ihm bewirkten Empfängnis des Sohnes das Gefäß dieser Empfängnis, Maria, von Sünden gereinigt habe.“ 37 Einen anderen Schwerpunkt setzt aufgrund differenter christologischer Prämissen Huldrych Zwingli, wie Hans Schneider (Zwinglis Marienpredigt und Luthers Magnifikat-Auslegung. Ein Beitrag zum Verhältnis Zwinglis zu Luther. In: Zwingliana 23 [1996], S. 105–141) herausgearbeitet hat. Vgl. ebd., S. 139: „Nicht die Erniedrigung des Gottessohnes in die Menschheit stellt Zwingli heraus, sondern die Inkarnation ist ganz auf die zu vollbringende Genugtuung ausgerichtet […]. Schildert Luther die Erniedrigung Gottes in die Menschheit, so richtet sich Zwinglis Augenmerk eher auf die geistliche Aufwärtsbewegung des Glaubens weg von allem Irdischen zu Gott hin.“ 38 Bibelzitate richten sich nach Luthers Bibelübersetzung 1545/46 und werden dargeboten laut Martin Luther: Die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Wittenberg 1545. Letzte zu Luthers Lebzeiten erschienene Ausgabe. Hg. von Hans Volz unter Mitarbeit von Heinz Blanke. Textredaktion Friedrich Kur. München 1972. 39 Vgl. WA 7,547,25 f.: „Widderumb ynn die tieffe wil niemant sehen, wo armut, schmach, not, jamer und angst ist, da wendet yderman die augen von.“ 40 WA 7,547,13–16.
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Gottes auch nach Grundlegung der Welt fort: Er schafft aus dem Nichts, hat stets mit dem Nichtigen zu tun und ist dem Tiefsten am nächsten.41 Aber nicht nur in Bezug auf Maria, sondern auch alle anderen Menschen betreffend gilt: „Alszo gahn gottes werck und gesicht ynn der tieffe.“42 All diejenigen, die ganz unten sind, in Not, Anfechtung und Verzweiflung, dürfen und sollen – so Luther – dessen gewiß sein, daß Gott sie ansieht wie Maria. „Darumb bleibt got allein solchs ansehen, das ynn die tieffe, not und jamer sihet, und ist nah allen den, die ynn der tieffe sein.“43 Insofern stellt Luther das traditionelle Marienbild auf den Kopf. Hier erscheint nicht die erhabene Himmelskönigin vor den Augen des Betrachters – auch nicht eine Person, die durch ihre als verdienstvoll verstandene humilitas für den Gnadenempfang prädisponiert ist, wie Bernhard von Clairvaux meint.44 Vielmehr ist bei Luther von Maria als solcher die Rede, wie sie sich selbst sieht – als niedrige Magd, an der sich Gottes gnädige Erwählung ereignet. Maria ist damit nicht die himmlisch Ferne und unerreichbare Gottesmutter, sondern sie ist der Inbegriff des von Not und Erniedrigung geknechteten Menschen. Auf diese Weise bringt Luther den Glaubenden Maria nahe, weil sie sich nun in ihr wiedererkennen und auf die auch ihnen verheißene göttliche Erhebung hoffen dürfen. Eine radikale Umkehrung der traditionellen Mariologie bedeutet auch der Umstand, daß Luther die übliche Auslegung verwirft, wonach Gott Maria um ihrer Demut willen dazu erwählt hat, Christus zur Welt zu bringen, Gott also das Demütigsein Marias als geistliche Tugend belohnt haben soll. Um Mißverständnisse auszuschließen, übersetzt Luther in seiner Auslegung des Magnifikat darum ‚humilitas‘ nicht mit ‚Demut‘, sondern aufgrund vorgängiger Analyse dieses Wortfeldes in den biblischen Texten mit ‚Nichtigkeit‘.45 Zudem trägt nach Luther in Lk 1,48 nicht das Objekt ‚humilitatem‘ den Ton, sondern das ‚angesehen‘. Nicht Marias 41 Vgl. WA 7,547,1–5: „Denn zu gleich, als ym anfang aller Creaturn er die welt ausz nichts schuff, davon er schepffer und almechtig heysset, szo bleibt er solcher art zu wircken unvorwandelt, unnd sein noch alle seine werck bisz ansz ende der welt alszo gethan, das er ausz dem, das nichts, gering, voracht, elend, tod ist, etwas, kostlichs, ehrlich, selig und lebendig macht.“ 42 WA 7,549,29. 43 WA 7,547,33 f. 44 Vgl. Bernhard von Clairvaux (Anm. 5), Bd. 7, S. 174, Z. 15.18–21 (In Vigilia Nativitatis Sermo 3), wo Bernhard über Christus als „cataplasma“ sagt: „Sed quia tu dignus non eras cui donaretur, datum est Mariae, ut per illam acciperes quidquid haberes, quae per hoc quod virgo est, exaudita est pro reverentia sua in causa tua et totius generis humani.“ 45 Vgl. WA 7,560,35 f. Vgl. Christoph Burger: Luthers Predigten über das Magnifikat (Lc. 1,46– 55). In: Iréna Backus (Hg.): Thèorie et pratique de l’exégèse. Genf 1990 (Etudes de philologie et d’histoire 43), S. 273–286, hier S. 282 f. Burger beobachtet, daß Luther erst seit 1531 in seinen Predigten über das Magnifikat „die Vokabel ‚demütig‘, die er zehn Jahre zuvor so sorgfältig gegen das Mißverständnis abgesichert hatte, sie bezeichne eine tugendhafte Haltung, ungeschützt wieder positiv auf[nimmt].“
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besondere Qualitäten an sich sind es, die den Reformator interessieren; vielmehr wird Maria erst dann recht geehrt, wenn mitbedacht wird, daß sie sich nicht ihrer Eigenschaften, sondern im Sinne von Jer 9,23 f. und 2Kor 10,1746 allein der ihr von Gott erzeigten Gnade und Erwählung rühmt. „Darumb rumet sie sich nit yhrer wirdickeit, noch yhrer unwirdickeit, sondernn alleyn des gotlichen ansehens, wilchs alszo ubergutig unnd ubergnedig ist, das er auch eyn solche gerynge magt hat ansehenn, unnd szo herlich unnd erlich ansehen wolt.“47 Nicht die Gottesmutter an sich, sondern Maria als coram Deo Stehende ist es, mit der sich Luther beschäftigt. Daher nennt Luther Maria die „werckstat“,48 in der Gott wirkt. Als Maximen für eine angemessene Marienverehrung formuliert er dementsprechend: „Wer sie recht ehren wil, musz sie nit allein fur sich bilden, szondern sie fur got und ferr unter got stellen.“49 Oder ex negativo: „Noli eam [scil. Mariam] evehere supra filium.“50 Oder als oppositio gefaßt: „Sie thut nichts, got thut alle ding.“51 Wenn Gott das Unansehnliche in Gnaden ansieht, dann verändert er das derart Angesehene in sein Gegenteil, genauso wie Gott den Sünder allein um des Glaubens willen als Gerechten ansieht und ihn dadurch von Grund auf neu werden läßt. Deutlich erkennbar legt Luther das Magnifikat von seinem Rechtfertigungsverständnis her aus. Den Grundgedanken, daß Marias Würde einzig und allein aufgrund des göttlichen Ansehens besteht, das sie unverdientermaßen empfangen hat, schärft Luther in seiner Magnifikatexegese nahezu unablässig und im höchsten Maße redundant ein52 und paraphrasiert die Worte Marias folgendermaßen: Got hat auff mich armsz vorachtis unansehelich megdlin gesehen, und het wol fundenn reiche, hohe, edle, mechtige kunigynn, furstenn und grosser herrnn tochter. Het er doch wol mugen finden Annas und Cayphas tochter, wilch die ubersten ym land geweszen, aber er hat auff mich sein lautter guttige augen geworffenn und szo ein geringe, vorschmechte magd datzu gepraucht, auff das niemant fur yhm sich rume, das ersz wirdig geweszen were odder sey, und ich auch bekennen musz, das lautter gnade unnd gutte ist, und gar nichts mein vordienst odder wirdickeit.53
46 Vgl. WA 7,564,23–26. 47 WA 7,561,10–13. 48 WA 7,575,8. 49 WA 7,568,33 f. 50 WA 15,480,36. 51 WA 7,574,35. 52 Vgl. nur folgende Stellen: WA 7,548,27; 561,16.18; 567,36; 568,1.3.7.13; 569,1.4.24.26 und passim. 53 WA 7,560,37–561,7.
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3 Maria als exemplum fidei Die zentrale Bedeutung der Gestalt Marias für die Lehre von der Rechtfertigung allein aus Glauben nun ist darin zu sehen, daß ihr Exempel laut Luther auf Verallgemeinerung drängt, Gott also mit allen Menschen verfahren will wie mit ihr. Darum ermuntert Luther seinen Leser, Maria derart zu betrachten und zu verehren, das alszo ausz dem gesicht dw bewegt werdest got zu lieben und loben in solchen gnaden und dadurch gereytzt werdist dich alles gutten vorsehen zu solchem got, der geringe, vorachte, nichtige menschen so gnediglich ansihet und nit vorschmehet, das also dein hertz gegen got ym glauben, lieb und hoffnung gesterckt werde. Was meynstu, das yhr lieber begegen mag, den szo du durch sie also zu got kommist, und an yhr lernst in got trawen und hoffen, wen du auch voracht und vornichtet wirst.54
Insofern ist Maria hoch zu loben, da Gott nicht sie allein zu Ehren setzt, sondern mit ihr alle niedergeschlagenen, nichtigen Sünder, die auf Begnadung hoffen. Luther also befragt das Magnifikat auf seinen seelsorglich-konsolatorischen usus hin. Denn es bleybt kein exempel da, des wir uns trosten mugen, sondern sie wirt auszgetzogen ubir alle exempel, so sie doch solt und gerne wolt das aller furnhemist exempel der gnaden gottis sein, alle welt zureytzen in gotlicher gnaden zuvorsicht, lieb und lob, das alle hertzen von yhr ein solchen wahn gewunnen zu got, der do mocht mit aller zuvorsicht sprechen: Ey du selige junpfraw [sic!] und mutter gottis, wie hat uns got in dir ertzeigt so einen grossen trost, die weil er dein unwirdickeit und nichtickeit hat so gnediglich angesehen, dadurch wir ermanet hynfurdt, er werd uns armen, nichtige menschen deynem exempel nach auch nit vorachten und gnediglich ansehen.55
Zwar ist die Mutter Gottes auch im traditionellen Marienkult eine den Glaubenden nahestehende Person, da sie als Fürsprecherin angerufen werden kann und an ihr exemplarisch sichtbar wird, welchen Weg der Mensch innerhalb der Erwerbung der gratia subsequens einschlagen soll. Gleichwohl ist Maria hier aber auch eine ferne, der menschlichen Sphäre entrückte Übermutter, die wegen ihrer vorbildlich-tugendhaften Demut und jungfräulichen Reinheit anzubeten ist, denen kein Mensch je gleichzukommen im Stande sein wird. Bei Luther ist das anders. Maria fungiert hier als Identifikationsfigur eines jeden verlorenen Sünders, der auf die unverdiente Erhöhung und Rechtfertigung durch die Gnade Gottes hofft und pocht. Darum kann Luther Maria auch als Vorbild bezeichnen, wenn es darum geht, zu
54 WA 7,569,1–8. 55 WA 7,569,17–26.
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beobachten, wie Gott mit jedem einzelnen Glaubenden innerhalb seiner providentia specialissima handelt: Sie hebt aber an von yhr selb zum ersten und singt, was er yhr gethan hat, damit sie unsz leret zwey stuck, das erst: Ein iglicher sol drauff acht habenn, was got mit yhm wirckt, fur allen wercken, die er mit andernn thut, denn es wirt keinsz selickeit darinnen stehen, was er mit einem andernn, szondernn was er mit dir wirckt.56
Maria ist demnach ein exemplum fidei, da sie Gott, der ohne Zutun des sündigen Menschen und allein aus Gnade Gerechtigkeit schenkt, glaubt und nicht durch „gemachte demut“57, die letztendlich Ausdruck des unverhohlensten Hochmutes ist, vermeint, etwas zu ihrem Seelenheil beitragen zu können. Das hauptsächliche Wunder der Weihnacht entdeckt Luther darum im Anschluß an Augustinus (354– 430) und in deutlicher Distanzierung von Bernhard von Clairvaux nicht darin, daß Gott Mensch geboren wird und Maria dennoch Jungfrau bleibt, sondern darin, daß Maria, die Unwerte, der Verheißung, daß sie es sein soll, die den Gottessohn gebären soll, Glauben schenkte. „Aber dorinne stehet das recht wunder, das die junckfraw Maria glaubt, das dise dinge solten in yhr geschehenn, das ist so groß, das wir uns daruber nicht genug mögen vorwundern.“58 Dieser exemplarische Glaubensakt soll an Weihnachten von allen Christen nachvollzogen und eingeübt werden.59 Das größte Wunder also besteht – so Luther mit Augustinus60 – darin, daß Maria als Glaubende Christus geistlich im Herzen getragen, und nicht so sehr darin, daß sie ihn leiblich empfangen hat. Bereits Johannes Tauler (ca. 1300–1361) machte die einschlägige Passage aus Augustinus’ Schrift De sancta virginitate für seine Mariologie fruchtbar61 und sah in der vorbildlichen Gelassenheit Marias die Voraussetzung für die innerliche conceptio. Steht Luther hier also unverkennbar in der Traditionslinie spätmittelalterlicher Mystik, so darf nicht übersehen werden, daß er den prominenten Ausspruch des Augustinus dadurch im Sinne der Rechtfertigungslehre interpretiert, daß er in einem Zusatz die geistlich-innerliche Empfäng-
56 WA 7,565,1–5. 57 WA 7,561,32 f. 58 WA 7,189,4–7. 59 Vgl. WA 7,189,21–23: „Der halben so dise gepurt uns sol zu nutze kommen und das hertz wandelbar machen, müssen wir das exempel der junckfrawen in das hertze bilden und yhr nach folgen.“ 60 Augustinus: De sancta virginitate, cap. 3. In: Ders.: Opera, Pars III. Wien 1900 (Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum 41), S. 237, Z. 17–19: „Sic et materna propinquitas nihil Mariae profuisset, nisi felicius Christum corde quam carne gestasset.“ 61 Vgl. Peter Meinhold: Die Marienverehrung in der Deutschen Mystik. In: Saeculum 27 (1976), S. 180–196, hier S. 191.
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nis Marias als eine solche definiert, die nicht anders als im Glauben vor sich geht. „Darumb sagt auch Augustinus, das sie vil genadenreicher unnd seliger gewest sey in dem, das sie Christum im hertzen (durch den glaubenn) hat entpfangen, dan im fleysch, das sie ehr sein mutter ist worden im hertzen dan im fleisch.“62 Wiewohl Luther auch Marias ‚Stillestehen‘ und Gelassenheit thematisieren kann,63 so stehen diese Aspekte anders als bei Tauler nicht derart im Zentrum seines Interesses. Da der Glaube Luther zufolge kein Werk des Menschen ist, sondern sich allein der Wirkung des göttlichen Wortes verdankt, ist Maria als Exempel des Glaubens gleichzeitig auch exemplum der Wirkmächtigkeit des verbum Dei. Denn das Maria durch den Engel zu Gehör gebrachte Wort Gottes stiftet in ihr nicht nur den Glauben an diese Verheißung, sondern bewirkt auch die Schwangerschaft Marias ohne Zutun eines Mannes, weswegen Luther zugespitzt formuliert, daß Gott durch das Wort nicht nur in Marias Herz, sondern auch in ihren Leib kam. „Gabriel der Engel bringt das wort ‚Sihe du wirst schwanger werden ym leibe und einen son geperen‘ etc. Mit diesen worten kompt Christus nicht allein yn yhr hertz, sondern auch yn yhren leib, als sie es horet, fasset und glewbet.“64 Dies nun steht im klaren Kontrast etwa zu Meister Eckharts (ca. 1260–1328) Sicht der Dinge, der explizit sagt, daß es nicht die Worte des Engels gewesen sein können, durch die Maria schwanger geworden ist, sondern einzig und allein die Tatsache, daß sie ihren Willen aufgab.65
4 Maria als Exempel des angefochtenen Glaubens Da es nach Luther zur Wesensbestimmung des Glaubens gehört, stets angefochten zu sein, ist Maria als Exempel des Glaubens zugleich auch exemplum fidei tentati und zeigt an, wie ein jeder Christenmensch sich in der Anfechtung verhalten soll. Dies entfaltet Luther anhand der Erzählung vom Weinwunder zu Kana (Joh 2,1–11), dem Predigttext auf den zweiten Sonntag nach Epiphanias. Wie Maria, die bei ihrem Sohn vorstellig wurde, als der Wein ausgegangen war, soll sich ein Angefochtener bei Christus Gehör verschaffen und ihm den Mangel anzeigen, der ihn 62 WA 7,189,11–14. 63 S. u. S. 46 f. 64 WA 19,490,30–33 (Sermon von dem Sakrament 1526). 65 Vgl. Meister Eckhart: Die deutschen Werke. Hg. und übers. von Josef Quint. Bd. 5: Traktate. Stuttgart 1963, S. 226 (Die rede der underscheidunge): „Alsô ouch, dô unser vrouwen der engel erschein: allez, daz si oder er ie geredeten, daz enhaete sie niemer muoter gotes gemachet, sunder, als balde si irn willen ûfgap, alzehant wart si ein wâre muoter des êwigen wortes und empfienc got alzehant; der wart ir natiurlîcher sun.“
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plagt. „Vera fides non praescribit Christo, sed resignat. Dicit quidem: in hoc malo steck ich, adiuva.“66 Besondere Beachtung verdient Maria in dieser Perikope aber auch darum, weil hier gewissermaßen auf einen Blick verdeutlicht wird, wie Gott mit dem Angefochtenen verfährt. In Joh 2 entdeckt Luther sozusagen einen ordo tentationis, den er am Text entlanggehend entfaltet. Zunächst läßt Gott die Not so groß werden, daß niemand sie mehr übersehen kann und sich beim Menschen die Empfindung einstellt, der göttlichen Hilfe schlechthin bedürftig zu sein. „Da lesst ers komen bis auff die letzte not, das der mangel gefulet wird von allen, die da sind, und keyn rad noch hülffe mehr da ist. Damit ist beweyset die art Göttlicher gnaden, das die selbe niemant kan zu teyl werden, der zuvor gnug hat und noch nicht seynes mangels empfindet.“67 Ist der Mensch der Tatsache, daß er ganz von der göttlichen Hilfe abhängig ist, gewahr geworden, so prüft Gott den Glauben, indem er – im Sinne einer retardatio – nicht sogleich als Helfer auftritt, sondern mit seiner Hilfeleistung verzieht. „Wo aber der mangel empfunden wird, feret er zu und gibt nicht so bald, was man darff und begeret, sondern zeucht auff und versucht den glauben und trawen, wie er hie thut.“68 Ist die probatio erfolgt, radikalisiert Gott in einem weiteren Schritt die Schärfe der tentatio dadurch, daß er sie zur reprobatio werden läßt, und stößt den flehentlich vor ihn Tretenden – in Joh 2 durch die Person Marias versinnbildlicht, die von ihrem Sohn mit den Worten ‚Weib was habe ich mit dir zuschaffen?‘ (Joh 2,4) „so hart angeschnautzt“69 wird – harsch zurück. „Ja, das noch bitterer ist, er stellet sich, alls wollt er gar nicht, sondern redet hartt und strenge. Das sihe hie ynn seyner mutter. Die fulet und klagt yhm den mangel, begerd auch hülff und rad von yhm mit demütigem und sittigem antragen.“70 Christus stößt seine Mutter, die wahrhaft auf die helfende Intervention Gottes vertraut und nicht an derselben zweifelt, zurück und gebärdet sich ihr gegenüber wie ein Fremder. Eben diese Entfremdung Gottes von demjenigen, der, auf die göttliche Gnade vertrauend, um Gnade bittet, ist nach Luther „die gröste anfechtung […] auch schwerrer […] denn der tod selbs“71 und als solche ein wesentlicher Teil der Erfahrung des Glaubens. „Da sihe, wie der glaube gestallt sey. Was hatt er nu fur yhm? eyttel nichts und
66 WA 17/I,31,14 f. 67 WA 17/II,65,4–7 (Fastenpostille 1525). 68 WA 17/II,65,12–14. 69 WA 21,64,36. 70 WA 17/II,65,14–17. 71 WA 21,63,7–9.
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finsternis, da fulet er den mangel und sihet nyrgent keyne hülffe, dazu wird yhm Gott auch frembd unnd wild und kennet seyn nicht, das eyttel nichts da bleibt.“72 So ergeht es Luther zufolge all denjenigen, die „die sunde und feyl an gerechtickeyt fulen.“73 Auch ihnen gegenüber verstellt sich Gott, als sei er ein Fremder, der mit dem Sünder nichts zu schaffen haben will, „gleich wie er hie seyner mutter thut, wilcher er durch seyn abweysen den mangel grösser und schwerer macht, denn er war, ehe sie yhn drumb an redet.“74 Eine weitere Stufe innerhalb des ordo tentationis nun ist erreicht, wenn der Glaubende in den „rechten kampff“75 eintritt und trotz der harschen Zurückweisung von seiten des sich fremd stellenden Gottes, die Luther einen „puff“76 und einen „hellische[n] stos“77 nennt, im Glauben und Vertrauen beständig bleibt und die reprobatio überwindet, wie Maria „den puff uberwunden hat und noch nicht anders denn eyttel gutte von yhm warttet.“78 Auf die höllische Zurückweisung des Angefochtenen durch Gott gibt es – so Luther – zwei denkbare Reaktionen des Menschen. Entweder er flieht vor Gott, haßt und verleugnet ihn. Oder aber er flieht zu ihm, wie die Gottesmutter dies tut, die ihm die Ehre gibt, „das er guttig und gnedig sey, ob er gleich selbs sich anders stellet und saget und alle synn und alles fulen anders gedechten.“79 Maria ist somit „furbilde“80 und Exempel des angefochtenen Glaubens, der in seiner Schwäche seine Stärke hat und der nicht nur gegen den Augenschein, sondern auch gegen das aus dem Mund Gottes selbst Gehörte sowie gegen die eigene Empfindung kontrafaktisch glaubt. „Denn hie sihestu, wie die müter eynen freyen glauben behelt und uns zum furbilde furhelt. Gewis ist sie, das er gnedig seyn wird, wie sie doch nicht fulet, gewis ists auch, das sie anders fulet, denn sie gleubt.“81
72 WA 17/II,65,25–28. 73 WA 17/II,65,29 f. 74 WA 17/II,65,34–36. 75 WA 17/II,66,1. 76 WA 17/II,66,5. 77 WA 17/II,66,14. 78 WA 17/II,66,11–13. Vgl. WA 21,63,11–16: „Darümb ist uns das zu eim exempel geschrieben, das hie der Herr Christus seine mutter so ernst und unfreuntlich anferet, als wolt er sie nicht erhören, und als hette sie keine gunst noch gnade bey yhrem sone, auff das wir auch festiglich gleuben und nicht so bald verzagen, ab uns gleich Gott ynn unserm hertzen ein wenig hart zuspricht und uns ubel abweiset, sondern stille halten und nicht zweiffeln an seiner güete und barmhertzickeit.“ 79 WA 17/II,66,27 f. 80 WA 17/II,66,31. 81 WA 17/II,66,30–33.
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5 Die deiktische Funktion Marias in Bezug auf Christus Luther stellte – wie gezeigt – die traditionelle Marienfrömmigkeit besonders an den Punkten scharf in Frage, wo sie Christus aus den Augen zu verlieren drohte. Hiergegen setzt Luther ein anderes Marienbild, nämlich ein solches, in dem Maria als diejenige gezeichnet wird, die auf Christus deutet und den Glaubenden von ihr weg zu dem Sohn Gottes weist. Schon in der Magnifikat-Auslegung hat Luther die vorzügliche Bedeutung Marias dahingehend definiert, daß man an ihrem exemplum „got trawen und hoffen“82 lernen könne. Und das heißt: „Sie wil nit dastu zu yhr kummist, sondern durch sie zu got.“83 Sehr aussagekräftig auch diesbezüglich sind Luthers Predigten über Joh 2. Maria erscheint hier – wie beobachtet – als ein Exempel des zutiefst angefochtenen Glaubens, der sich trotz der harschen Zurückweisung in aller reprobatio dennoch an Christus hält und spricht: ‚Was er euch saget das thut‘ (Joh 2,5). Diese Worte Marias haben – so Luther – eine allgemeine und aphoristische Gültigkeit für alle Christen, weswegen sich die Glaubenden diesen Merkspruch aus dem Munde Marias täglich vor Augen führen sollen, weil hiermit eine Kategorie gegeben ist, die zur klaren Unterscheidung zwischen Menschenlehre und Wort Gottes anleitet. „Also das dis wortt Maria (‚Was er sagt, das thutt‘) ist und soll seyn eyn teglich wort der gantzen Christenheyt, und damit zu poden gestossen werden alle menschen lere, und was nicht eygentlich Christus wort ist.“84 In dieser Hinsicht ist Maria auch ein wichtiges Vorbild für all diejenigen, die mit dem Predigtamt betraut sind und nichts anderes als das Wort Christi verkündigen sollen. So wie Maria mit den Worten ‚was er euch sagt, das tut‘ die Diener auf der Hochzeit zu Kana auf den Mund Christi verweist, so sollen auch die Prediger als Diener am Wort nichts anderes tun, als die Glaubenden auf das Wort Gottes zu weisen: Hoc quoque pulchrum: non instituit ministros, sed weists auff Christum: audite quod ipse dixerit […]. Ubi Christianitas et veri praedicatores, dicunt quoque: horet yhm zu […]. Ubi vera fides, da sols also ghen, ibi cavendum, ne achtung haben auff einen andern mund denn auff den Christi os.85
82 WA 7,569,7. 83 WA 7,569,9 f. 84 WA 17/II,67,28–31. 85 WA 27,29,21 f.24–27 (Predigten des Jahres 1528 [19. 1.]).
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Darüber hinaus erhebt Luther aus Joh 2 und den auf Christus verweisenden Worten Marias eine regula für die wahre, weil biblisch fundierte Marienfrömmigkeit, die dadurch definiert ist, daß sie, bildlich gesprochen, mit dem Finger auf Christus deutet. Diese Maxime verdient nach Luther auch, in der bildenden Kunst beachtet zu werden, woraus deutlich wird, daß der Reformator bildliche Darstellungen Marias nicht grundsätzlich ablehnte. Jedes Mariengemälde – so Luther – müßte die Inschrift tragen ‚Seht Christus an!‘, damit niemand auf den Gedanken kommen möge, Maria als Selbstzweck zu verabsolutieren. Zu Marias Wort ‚Was er euch saget, das thut‘, sagt Luther darum: „Das wort sol man malen umb yhr bild, so ein trefflich fein wort ists. Ego ostendam tibi qui dicit: inspice Christum.“86 Hier tritt die auf ihren Sohn deutende Maria gewissermaßen neben Johannes den Täufer, der mit seinen Worten ‚Sihe/ Das ist Gottes Lamb‘ (Joh 1,29.36) ebenfalls von sich weg und auf Christus zeigt. Lutherische Theologen des späteren sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts jedenfalls haben genau dieses auf Christus deutende Moment der Gottesmutter zu einem wichtigen Ausgangspunkt ihrer Mariologie gemacht.87 Dürfte in dieser Hervorhebung der deiktischen Funktion Marias ein wichtiger mariologischer Neuansatz des Reformators zu erblicken sein, so darf andererseits nicht übersehen werden, daß Luther hier in einer bereits vorgeprägten mittelalterlich-ikonographischen Tradition steht. Denn Luther greift hier das Motiv der Hodegetria88 auf, die bildliche Darstellung Marias, die, ihren Betrachter anblickend, mit der Hand auf das Christuskind zeigt, das sie auf dem Schoß hat.89 Diese Bildtradition rezipiert Luther, verknüpft sie jedoch mit bibelhermeneutischen Prinzipien, indem er hier das Ideal aller rechten und schriftgemäßen Verkündigung 86 WA 27,29,29 f. 87 Die Marienfrömmigkeit des frühneuzeitlichen Luthertums harrt weitenteils noch der Erforschung. Einen Anfang hat gemacht: Ernst Koch: „… von Glauben eine Jungfrau, von Liebe eine Mutter.“ Beobachtungen zur Marienverehrung im Bereich der Wittenberger Reformation im 16. und 17. Jahrhundert. In: Wolfgang Beinert u. a. (Hg.): Unterwegs zum einen Glauben. FS Lothar Ullrich. Leipzig 1997 (Erfurter Theologische Studien 74), S. 477–488. Vgl. hierzu auch Thomas Illgs Beitrag in vorliegendem Band. 88 Vgl. Braunfels u. a. (Anm. 9), Sp. 168 f. Bildbeispiele ebd., Sp. 169 u. ö. 89 Insofern ist die Ansicht von Josef Lieball: Martin Luthers Madonnenbild. Eine ikonographische und mariologische Studie mit 53 Abbildungen. Stein am Rhein 1981, S. 75 nicht zutreffend, der vier Arten der ikonographischen Mariendarstellung aufzählt (Maria lactans, Hodegetria, Eleusa und Schutzmantelmadonna) und urteilt: „Diese vier Mariendarstellungen, deren ikonographische Quelle nicht ausdrücklich in der Heiligen Schrift liegt, aber doch ihrem Geist nicht widerspricht, fanden also bei M. Luther keine Zustimmung.“ Zur Hodegetria merkt Lieball an: „Sie weist mit der Hand auf Ihn und blickt bittend auf den Betrachter, als wollte sie sagen: ‚Was immer Er euch sagt, das tut!‘ (Jo 2,4)“ (ebd., S. 67). Lieball verkennt jedoch, daß gerade hierin ein wichtiges Fundament der Marienfrömmigkeit Luthers zu sehen ist.
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widergespiegelt sieht, die nur damit zu tun hat, auf Christi Mund zu verweisen. Zusätzlich spricht sich Luther für eine amplificatio der Deixis Marias aus, indem er – wie auch in Bezug auf andere bildliche Darstellungen von biblischen Stoffen – dafür plädiert, das Bild der auf Christus weisenden Maria durch die erwähnten Worte aus Joh 2,4 zu ergänzen, damit eine Christus aus den Augen verlierende Verehrung der Mutter ausgeschlossen sein möge. Es dürfte somit deutlich sein: Es geht Luther nicht um den Entwurf eines radikal neuen Marienbildes, sondern vielmehr um die reformatorische Neuinterpretation eines bereits vorhandenen.
6 Schutzmantel-Christus statt Schutzmantel-Madonna Luther setzte der von ihm abgelehnten Darstellung der Mantelmadonna das Bild Gottvaters bzw. Christi entgegen, der den Menschen unter seinem Mantel Schutz gewährt.90 So bezeichnet der Reformator die misericordia Dei metaphorisch als Mantel, den er ohne Ansehen der Person und ihres sozialen Status über die Glaubenden ausbreitet: Denn wir haben alle einen Got, der sein barmhertzigkeyt uber uns wie einen mantel außbreytet, uber fromme und sünder, uber gelerte und ungelerte, uber reich und arme […], Darumb sollen wir uns nichts uberheben, Sonder demůtig sein und nicht dahin sehen, ob wir vil und andere wenig haben, Denn Gott kan dem gnediger und hölder sein, dem er wenig geben hat, denn der vil hat.91
Wer an Christus als seinen Heiland glaubt, so Luther, gewinnt Zutritt unter seinen Rettung gewährenden Mantel.92 Selig werden die sündigen Menschen demnach dadurch, daß sie „zu Christo kriechen unter seinen mantel und flügel […].“93 Auch in diesem Fall nimmt Luther eine äußerst populäre mittelalterlich-ikonographische 90 Vgl. Martin Brecht: Martin Luther. Sein Weg zur Reformation 1483–1521. 2. Auflage. Stuttgart 1983, S. 83 sowie Oswald Bayer, Martin Brecht: Unbekannte Texte des frühen Luther aus dem Besitz des Wittenberger Studenten Iohannes Geiling. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 82 (1971), S. 229–259, hier S. 284, Z. 142–145: „Van dy heiligen im himel nit herkennet hetten ir gebrechlichkeit, sy vern numer seligk vorden. Do sis aber erkenten, do schrien sy dag und nacht zu goth, er solt sy auß dem suntlichen leben nemen. Do nam got den mantell seiner gnaden und dagkt ir unvolkumenheit mith zu und macht sy seligk.“ 91 WA 52,447,28–34 (Hauspostille 1544, 11. Sonntag nach Trinitatis). 92 Vgl. WA 45,139,31 f. (Predigten des Jahres 1537 [Nr. 27]): „Qui credit in Salvatorem, mag er zu tretten unter seinen mantel.“ 93 WA 45,150,34 (Predigten des Jahres 1537 [Nr. 29]).
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Traditionslinie auf, transformiert sie freilich christologisch. Zu beachten allerdings ist, daß die Darstellung Gottes oder Christi mit einem Schutzmantel bereits in vorreformatorischer Zeit belegt ist, wofür die ca. 1500 geschaffene Steinmetzarbeit in der Stuttgarter Stiftskirche ein herausragendes Beispiel bietet (Abb. 5). Der schützende Mantel Gottvaters kann auch Bestandteil von sog. Gnadenstuhl-Darstellungen sein, solchen Gemälden mithin, welche die göttliche Trinität vor Augen stellen. Ein Beispiel hierfür bietet das ca. 1518 geschaffene vorreformatorische Epitaphgemälde für Valentin Schmidburg (gest. 1490) von Lucas Cranach d. Ä. (ca. 1472–1553). Hier erblickt der Betrachter Gottvater, dessen nach vorne offener Mantel seinem Sohn einen Schutzraum bietet und der so drapiert ist, daß der Unterkörper des Schmerzensmannes fast gänzlich bedeckt ist. Nur die Füße des auf Golgatha Gekreuzigten mit den Wundmalen sind zu sehen. Der als Taube in Szene gesetzte Heilige Geist hingegen breitet seine Flügel über dem mit Dornen bekrönten Haupt Christi aus (Abb. 7). Klar ist aber auch, daß in der sakralen Kunst des Mittelalters Darstellungen Christi mit Schutzmantel sehr viel seltener als entsprechende Schilderungen Marias waren.94 Dies dürfte dazu beigetragen haben, daß das von Luther favorisierte Motiv des Heilandes mit dem Schutzmantel auch in und nach der Reformationszeit nur recht vereinzelt begegnet. Bekannt ist eine (ca. 1535/40 hergestellte) Federzeichnung Lukas Cranachs d. J. (1515–1586), die den auferstandenen Christus mit einer Siegesfahne und einem weiten Umhang zeigt, unter dem zahlreiche Menschen Zuflucht gefunden haben und ihn anbeten (Abb. 6). Aus demselben Zeitraum stammt das Epitaph-Gemälde von Martin Schaffner (ca. 1478–1546/49) für den Stuttgarter Bürgermeister Sebastian Welling (1464–1532) aus dem Jahr 1535 (Abb. 8).95 Es zeigt in der oberen Bildhälfte, umgeben von einem Wolkenband, den auferstandenen und gen Himmel gefahrenen Christus mit Dornenkrone, Kreuz und zehn Engeln, welche die Marterwerkzeuge (arma passionis) mit sich führen und Christi purpurfarbenen Umhang ausbreiten, so daß die Seitenwunde des Heilands sichtbar wird. In der unteren Zone des Gemäldes sind – kniend sowie mit zum Gebet gefalteten Händen – der verstorbene Bürgermeister und seine Familienmitglieder dargestellt. Die Kinder und Ehefrau des Bürgermeisters sind zu beiden Seiten gleichmäßig angeordnet und können durch die beigefügten Wappen identifiziert werden. Rechts erscheinen 94 Vgl. z. B. Stahl (Anm. 9) mit Abbildung. Zum vorreformatorischen Schutzmantelchristus vgl. Gertrud Schiller: Ikonographie der christlichen Kunst. Bd. 2: Die Passion Jesu Christi. Gütersloh 1968, S. 217 und Abb. 701. 95 Hamburger Kunsthalle Inv.-Nr. HK-220. Vgl. www.hamburger-kunsthalle.de/sammlung-online/ martin-schaffner/epitaph-des-stuttgarter-buergermeisters-sebastian-welling. Vgl. ferner [Suzanne Beeh-Lustenberger:] Martin Schaffner. Maler zu Ulm. Ulm 1959 (Schriften des Ulmer Museums NF 2), S. 220–222, Nr. 38.
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Wellings Ehefrau Anna und die Töchter, links neben dem Vater knien die beiden lebenden Söhne. Die früh verstorbenen Söhne und Töchter sind durch Totenschädel in ihren Händen gekennzeichnet. Die marmorne Säulenarchitektur deutet auf einen Kirchenraum als Ort des Totengedächtnisses hin und wird im aufwändigen Rahmen, der an einen venezianischen Tabernakel erinnert, wieder aufgegriffen.96
Den Übergang zwischen der oberen (himmlischen) und der unteren (irdischen) Bildhälfte wird durch eine Inschriftentafel hergestellt, in welcher – mit einer Kombination von Zitaten des sog. Heilandsrufes (Mt 11,28) und des Missionsbefehls (Mt 28,18) – der Sohn Gottes selbst als Redner auftritt: „Kommend här zů mir alle die mueselig und beladen sind ich wil euch erquickhen Matth xi. dan mir ist aller gwalt gegeben Jn himel und uff erden.“ Auch im siebzehnten Jahrhundert wurde von dem Bildsujet des SchutzmantelChristus eher vereinzelt Gebrauch gemacht. So ließ beispielsweise der Wedeler Pastor und Barockdichter Johann Rist (1607–1667)97 der ersten Auflage seiner Passionsgedichte, die 1648 in Hamburg erschien,98 zwei Frontispiz-Kupferstiche beigeben. Das Monogramm „D. D.“ weist darauf hin, daß diese von dem Hamburger Kupferstecher Dirk Diricks (1613–1653) ausgeführt wurden. Der erste Stich (Abb. 9) stellt den leidenden Christus mit einer Dornenkrone dar, dem ein römischer Soldat zwecks Verspottung (gemäß Mt 27,28) einen purpurnen Mantel umlegt. Am Boden liegt in anbetender Haltung eine weibliche Gestalt, die für die fromme Seele steht. Insofern das Umlegen des Mantels noch nicht abgeschlossen, sondern dieser recht weit geöffnet ist, bezieht sich die Bildkomposition auf die traditionelle Schutzmantelmotivik. Vieles spricht dafür, daß dem Bildmotiv des Schutzmantel-Christus in der Frühen Neuzeit auch deswegen nur ein recht geringer Erfolg beschieden war, weil ihm durch das Bildsujet der caritas der Rang abgelaufen wurde. Die als Mutter mit Kleinkindern personifizierte caritas wird bisweilen – etwa von Lukas Cranach d. J. (1515–1586) – (fast gänzlich) nackt zur Darstellung gebracht (Abb. 10); den hauchdünnen, durchsichtigen Schleier, welcher auch den Säugling umgibt, der gerade gestillt wird, nimmt man erst auf den zweiten Blick wahr. Recht häufig wird caritas jedoch mit einem Schutz und Zuflucht bietenden Mantel bzw. Umhang geschildert, wie dies etwa auf der von Anton Möller d. Ä. (ca. 1563–1611) im Jahre
96 Sandra Pisot. In: www.hamburger-kunsthalle.de/sammlung-online/martin-schaffner/epitaphdes-stuttgarter-buergermeisters-sebastian-welling. 97 Vgl. Johann Rist (1607–1667). Profil und Netzwerke eines Pastors, Dichters und Gelehrten. Hg. von Johann Anselm Steiger, Bernhard Jahn. Berlin u. a. 2015 (Frühe Neuzeit 195). 98 Vgl. Johann Rist: Der zu seinem allerheiligsten Leiden und Sterben hingeführter und an das Kreütz gehefteter Christus Jesus/ Jn wahrem Glauben und Hertzlicher Andacht besungen […]. Hamburg 1648 (HAB Wolfenbüttel 1269.4 Theol. [3]).
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1607 vollendeten Almosentafel in St. Marien zu Danzig der Fall ist (Abb. 11). Zwar geht auch die caritas-Ikonographie auf mittelalterliche Wurzeln zurück,99 deutlich ist allerdings, daß mit der Reformation ein wahrer Boom dieses Motivs einsetzte. Bemerkenswerterweise geht es Luther jedoch nicht nur darum, darzutun, wie Maria recht abzubilden sei, sondern auch darum, zu beobachten, wie die Mutter Gottes selbst im Magnifikat zur Malerin wird, indem sie ein unvergleichliches Bild davon hervorbringt, wie Gott vermittels seiner Gnade am einzelnen Menschen und an allen Glaubenden handelt. „Da weyszet sie, was got auff beyden seytten thu, malet yhn alszo abe, das er nit basz mocht abgemalet werden.“100
7 Enteignung Marias und Einwohnung Christi in den Herzen der Glaubenden Dies heißt jedoch in letzter Konsequenz auch, daß die Hauptaufgabe Marias Luther zufolge darin besteht, sich überflüssig zu machen. Insbesondere in den Weihnachtspredigten stellt Luther gerne in den Vordergrund, daß mit den Worten des Engels ‚Euch ist heute der Heiland gebörn‘ (Lk 2,11) dergestalt Ernst zu machen sei, daß der Glaubende den neugeborenen Gottessohn nicht lediglich anbetet oder der Gottesmutter Verehrung zollt. Vielmehr sei es das Wichtigste, das Christuskind an sich zu reißen, und das heißt: es seiner Mutter zu entreißen. Die Aneignung Christi im Glauben koinzidiert demnach mit einer Enteignung Marias. Darum legt Luther dem Glaubenden die folgenden, Maria adressierenden Worte in den Mund: „Da, Maria, istum thesaurum“.101 In eben diese Richtung weist auch die Feststellung: „Maria, hunc puerum non tibi genuisti […] sed tu habes thesaurum meum, ut prae illo nullum sciam qui me iuvet, quem habes im schos.“102 Je mehr aber der Glaubende den ihm zugut Geborenen ergreift und sich aneignet, umso mehr gerät Maria in Vergessenheit. „Jch sol mich des kinds annehmen et nativitatis eius et sol der mutter vergessen, so viels müglich ist […]. Credendum ergo, quod mihi natus puer.“103 Maria ist mithin die einzige Mutter, deren Kind nicht ihr eigen ist. In 99 Vgl. Edgar Wind: Charity. The case history of a pattern. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 1 (1937/38), S. 322–330. Robert Freyhan: The evolution of the caritas figure in the thirteenth and fourteenth centuries. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 11 (1948), S. 68–86. 100 WA 7,577,32 f. 101 WA 34/II,499,5 (Predigten des Jahres 1531 [24. 12.]). 102 WA 32,265,2.5 f. (Predigt 25. 12. 1530 nachmittags). 103 WA 32,264,4–7. Vgl. WA 9,518,25–30 (Predigten Luthers gesammelt von Joh. Poliander 1519–21 [25. 12. 1520]): „Alßo sehen wyr, wie swer es ist, wy wol leicht an czwsehen, daß ich glauben ßol
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diesem Sinne ist Maria Leihmutter, und ihr Kind wäre nicht der Heiland der Welt, wenn sie es nicht wäre. Jeder Glaubende soll den neugeborenen Christus mit den Worten ‚das Kind ist mein‘ Maria vom Schoß nehmen und so tun, als wäre es ihm allein geboren.104 Gleichwohl aber – d. h. obwohl die Gottesmutter ihren Sohn mit allen anderen Glaubenden teilen muß – ist Maria bleibendes Exempel insofern, als an ihr und ihrem Verhältnis zu Christus angeschaut wird, wie die wahre Glaubens- und Lebensgemeinschaft mit Christus aussieht und entsteht. Maria hat für die Glaubenden eine bleibende Relevanz, weil wie in ihr in jedem Christenmenschen Christus geistlich geboren werden will und muß.105 Maria hatte, so Luther, das Christuskind zunächst im Herzen und schmeckte die suavitas Christi, indem sie der Verkündigung des Engels Glauben schenkte. Sodann trug sie Christus unter dem Herzen und schließlich auf den Armen: Es was nichts, das es die junckfraw in armen trug, sie must es zu vor im hertzen tragenn. Nicht under dem hertzenn. Durch diß tragen wirt sie wirdig, das sie auch es leyblich hat getragen. Diß kind ist allein darzu geordnet, das es sol das hertz füllen, wan sich das hertz also durch den glauben ergibt, dan findts, das er heysse eyn susser Jhesus.106
Ähnlich wie Marias Herz will Christus auch die Herzen, „affect und begir“107 der Menschen füllen, wie Luther weiter ausführt. Um diese Einwohnung Christi in den Menschen jedoch zu ermöglichen, müßten diese sich zuvor ausleeren und Gelassenheit üben, damit der Gottessohn der alleinige Bewohner des Herzens sein könne. Nu ist es war, das es nicht kan möglich seyn, das sich das hertz dises kindes also ahnneme und schmeck seyn sussickeit, Es hab dann zuvor alle freud auß geschut ausserhalb dem,
daß kynt meyn seyn, daß es eyn reynes kyndt sey, welches mutter eyn Junckfraw, und daß kindt sey auch got, und daß hercze sal och warhafftig sagen: der gottes son ist meyn. Do czappelts, dan wer alßo weyt kompt, der fulet sich, daß ehr gar eyn ander mensch sey.“ Vgl. auch WA 27,493,2 f. (Predigten des Jahres 1528 [25. 12.]): „Hic puellus qui in cunis iacet, ist eben so wol mein ut matris Mariae. Das ghet schwer ins hertz.“ 104 Vgl. WA 7,189,25–28: „Ein itzlicher muß sich des kindes ahn nemen, das er sag unnd glaub, das kind sey sein […] ein itzlicher muß thun, als sey es ihm allein geporn.“ Vgl. hierzu Oswald Bayer: Promissio. Geschichte der reformatorischen Wende in Luthers Theologie. Darmstadt 1989 [1. Auflage: Göttingen 1971], S. 284. 105 Vgl. WA 7,189,37–190,2: „Dan wer das sal thun und glauben, das dises kindt gottes unnd der junckfrawen sein sey, auch in yhm muß geporn werden, do muß warlich kein geringer glaub sein, dan hie hebt das hertz an zu zappeln.“ 106 WA 7,190,20–25. 107 WA 7,190,35.
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das nicht Christus ist, das hertz muß gar ledig gelassen stehen und trostloß sein, und muß kein hilff suchen bey keiner creatur.108
Zugleich aber läßt Luther keinen Zweifel daran, daß Christus allein diese inhabitatio in corde realisieren kann und jegliche Mitwirkung des Gelassenheit Übenden ausgeschlossen ist. Präzise in diesen Kontext gehört die dreizehnte Strophe von Luthers Weihnachtslied Vom Himmel hoch, in der es heißt: Ach mein hertzliebes Jhesulin, Mach dir ein rein sanfft bettelin, zu rugen jnn meins hertzen schrein, Das ich nimer vergesse dein. Davon ich alzeit frölich sey, zu springen, singen jmer frey Das rechte Susaninne schon, Mit hertzen lust den süssen thon.109
Denn Christi Wille sei es, daß man ihm „ein ledige seel“110 bringe und „stille stan“111 möge. An dieser Stelle zeigt sich, daß die Marienpredigt bei Luther auch insofern eine wichtige Bedeutung hat, als in ihrem Kontext Elemente und Sprachmaterialien der spätmittelalterlich-mystischen Frömmigkeit, insbesondere Meister Eckharts und Johannes Taulers, aufbewahrt sind, die nicht lediglich die Theologie des jungen Luther prägen, sondern auch beim späteren Luther, wenn auch mit anderer Akzentsetzung, immer wieder zutage treten. Auch Eckhart und Tauler sind der Überzeugung, daß Christus in Maria zunächst geistlich geboren wurde, bevor sie ihn sodann leiblich empfing.112 Diesen Aspekt hat Luther mit den beiden spätmittelalterlichen Mystikern gemein. Allerdings liegt die Differenz darin, daß Eckhart der Auffassung ist, daß Maria Christus geistlich gebar, indem sie ihren Eigenwillen aufgab. Insofern sei Maria exemplum für die Menschen, „Gleichnis für das menschliche Mitwirken mit Gott, damit sich die Geburt Gottes in der Seele ereignen kann.“113 Von diesem Kooperationsgedanken ist bei Luther nichts übriggeblieben. Es ist nicht zuvörderst Maria, die Gott durch die Übung von Gelassenheit in sich geistlich aufnimmt, um dann auch schwanger zu werden, sondern
108 WA 7,191,1–4. 109 Martin Luther: Geistliche Lieder und Kirchengesänge. Vollständige Neuedition in Ergänzung zu Band 35 der Weimarer Ausgabe. Hg. von Markus Jenny. Köln, Wien 1985 (Archiv zur Weimarer Ausgabe der Werke Martin Luthers 4), S. 290. 110 WA 7,192,9. 111 WA 7,192,11. 112 Vgl. Meinhold (Anm. 61), S. 186, S. 190 f. 113 Ebd., S. 187.
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das Wort der Verheißung, das, im Glauben angenommen, beides – die conceptio spiritualis und die conceptio corporalis – koinzident wirkt. Setzt Luther den von Gott gewirkten Glauben an die Stelle der geistlichen Aktivität und cooperatio des Menschen, so ist er gleichwohl frei, die Gelassenheit als eine Ausdrucksform des Glaubens zu profilieren.
8 Die Reformulierung der Mariologie aufgrund christologischer Prämissen Eine der wichtigsten Funktionen Marias besteht Luther zufolge also darin, auf Christus zu verweisen, und den ins rechte Licht zu rücken, in dem allein die Menschen Heil finden können. Aber auch umgekehrt fällt, von Christus aus betrachtet, ein neues Licht auf Maria. Hierin dürfte ein wesentliches Novum der Marienfrömmigkeit Luthers zu sehen sein, dem bisher nicht das nötige Augenmerk geschenkt wurde. Auffällig ist, daß Luther es vermag, die Person Marias in den Farben der Zwei-Naturen-Lehre und damit in Analogie zum Deushomo Christus zu zeichnen. Schon in der Magnifikat-Auslegung begegnet eine Passage, die in diesem Kontext Beachtung verdient. Luther stellt hier die Dialektik der Existenz Marias vor Augen, die darin besteht, daß sie einerseits die Arme, Unwürdige und Verachtete ist, sie jedoch andererseits durch den Reichtum Gottes begabt, begnadet und erhöht wurde. Genauso wie in Christus die gegensätzlicher nicht zu denkenden oppositiones, nämlich menschliche und göttliche Natur, in einem Individuum vereint sind, ohne daß das eine mit dem anderen vermischt oder das eine in das andere verwandelt würde, ist auch Maria nach ihrer Erwählung nicht schlicht diejenige, die aus der Nichtigkeit heraus erhöht worden wäre und so ihren vormaligen Status hinter sich gelassen hätte. Vielmehr trägt sie die Bestimmungen der Niedrigkeit weiterhin an sich. Darum richtet Luther das Augenmerk auf die Paradoxie, wie in yhr [scil. Maria] die uberschwencklich reychtumb gottis mit yhrer tieffen armut, die gotliche ehre mit yhrer nichtickeit, die gotlich wirdickeit mit yhrer vorachtung, die gotlich grosse mit yhrer kleynheit, die gotliche gutte mit yhrem unvordienst, die gotlich gnade mit yhrer unwirdickeit zu sammen kummen sind.114
114 WA 7,569,32–570,3.
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Zwar begegnet Vergleichbares auch z. B. bei Bernhard von Clairvaux, der in Maria eine Gleichzeitigkeit von humilitas und magnanimitas konstatiert,115 jedoch ist deutlich, daß Luther die Oppositionen sehr viel kontrastierter artikuliert. In Maria findet demnach eine ähnliche unio von radikalen Gegensätzen statt wie in Christus auch, in dem Hoheit und Niedrigkeit, Gottheit und Menschheit, Ewigkeit und Kontingenz in einer Person zusammenkommen und sich im Sinne der Lehre von der unio personalis vereinigen. Hierin besteht das Tröstliche an Maria, daß sie durch die ihr zuteil gewordene göttliche Erwählung nicht der menschlichen Sphäre entrückt wurde, wie die meinen, die sie als Himmelskönigin anbeten, genauso wie das Tröstliche in Christus darin zu sehen ist, daß er zwar wahrer Gott, aber doch auch ganz Mensch ist und sich darum in die vollkommenste Solidarität mit dem menschlichen Geschlecht begeben kann. Insofern ist es kein Zufall, daß Luther just in seiner Magnifikat-Auslegung an herausragender Stelle seinen zuvor in der Freiheitsschrift (1520) entfalteten Gedanken vom seligen Wechsel und Streit erneut aufgreift und folgendermaßen artikuliert: Datzu stymmet das wortlin Jsrael, das heyst ‚Ein herr gottis‘, das ist gar ein hoher heyliger name und begreifft in sich das grosz wunder, das ein mensch durch die gotlich gnade gleich gottis mechtig wurd, alszo das got thut, was der mensch wil, wie wir sehenn, das durch Christum die Christenheit mit got alszo voreyniget ist, wie ein braut mit yhrem breudgam, das die braut recht und macht hat zu des breudgamsz leyb und allis was er hat, wilchs geschicht allis durch den glauben, da thut der mensch, was got wil, und widderumb got, was der mensch wil, alszo das Jsrael ein gotformiger unnd gotmechtiger mensch ist, der in got, mit got und durch got ein herr ist, alle ding zuthun und vormugen.116
Bemerkenswert nun ist, daß auch Bernhard just an der Stelle, wo er von der Koinzidenz von humilitas und magnanimitas bei Maria spricht, betont, die magnanimitas konkretisiere sich bei Maria darin, daß sie nicht daran zweifelt, als die Frau, in der Gott Mensch geboren werden soll, d. h. „ad admirabile commercium“117 erwählt zu sein. Im Unterschied zu Luther aber bleibt dieses commercium zwischen Göttlichem und Menschlichem bei Bernhard ein solches, das innerhalb der Empfängnis Marias stattfindet, wird von ihm jedoch nicht als eine alle Glaubenden angehende Sache im Sinne von Luthers Tausch und Wechsel pro nobis appliziert. 115 Vgl. Bernhard von Clairvaux (Anm. 5), Bd. 8, S. 614, Z. 18–23: „Ineffabili siquidem artificio Spiritus superveniens tantae humilitati magnanimitas tanta in secretario virginei cordis accessit, ut, quemadmodum integritatem et fecunditatem praediximus, hae quoque nihilominus fiant stellae ex respectu mutuo clariores, quod videlicet nec humilitas tanta minuit magnanimitatem, nec magnanimitas tanta humilitatem.“ 116 WA 7,597,9–18. 117 Bernhard von Clairvaux (Anm. 5), Bd. 8, S. 614, Z. 25–S. 616, Z. 1.
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Obgleich Luther innerhalb seiner Exegese des Magnifikat nicht explizit eine derartige gedankliche Verbindung herstellt, dürfte sachlich gesehen deutlich sein, daß die in Analogie zu Christus gesehene Mutter Gottes ihm den Anlaß gibt, auf die ebenfalls in Analogie zum Austausch der Wesenseigenschaften der beiden Naturen in Christus entworfene commercium-Thematik erneut einzugehen. Mit anderen Worten: In Maria, die zwei Naturen hat, wird exemplarisch das Wesen eines jeden Christenmenschen angeschaut, der, im Tausch und Wechsel mit Christus stehend, ebenfalls zweinaturig ist: simul iustus et peccator. Wenn Luther insbesondere an der Niedrigkeit Marias ein so starkes Interesse hat und dieselbe, z. B. im Kontext der Beschreibung der beschwerlichen Reise der hochschwangeren Maria nach Bethlehem und der verächtlichen Geburts-Szenerie im Stall, breit narrativ ausfaltet und in den Vordergrund rückt,118 dann hat auch dies seinen Grund letztendlich in der Christologie, genauer: in der theologia crucis, der es um die radikale Menschlichkeit Gottes und seines Leidens pro nobis zu tun ist. Die Thematik der ‚Zwei-Naturigkeit‘ Marias, die sich darin zeigt, daß die „gottes mutter uber alle menschen erhaben und doch szo einfeltig und gelassen bleibet“119 und in ihr „szo grosz ding vorporgen [sind] unter solcher geringen gestalt“,120 prägt vor allem die Predigten, in denen Luther auf Maria eingeht. Marienpredigt ist Luther zufolge Christuspredigt. Aber auch umgekehrt gilt: Luther faßt die Mariologie neu, indem er sie von der Christologie her reformuliert, so daß dem solus Christus auch im Kontext der Rede von Maria Rechnung getragen wird. Darum kann Luther in ein und derselben Predigt und im selben Atemzug radikal paradox sagen, daß Maria die „hochste fraw und das edlest kleinot post Christum in Christianitate“121 ist, gleichzeitig aber auch „mein magd
118 Vgl. z. B. WA 29,646,19–21.26; 647,12–16.21 f.24–26; 648,17–23 (Predigten des Jahres 1529 [25. 12.]): „Lucas beschreibet das alles mit grossem fleis, und es gehet so elend zu […]. Es ist ein elend armes Weiblein […]. Ja es lesset sich ansehen, daß sie seer arm müssen gewesen sein. Sie ist ein junges Mensch, daß sie nu mitten im Winter auffbricht und ihr Haus lesst stehen, da sie schwanger ist, dazu treibet sie die armut, denn es ist ein weiter Weg von Nazareth gen Bethlehem, bey dreissig deutsche Meilen, in die acht Tagereise und wüste Herberg unter wegens etc. […] Da sie gen Bethlehem kömpt, gehets ihr viel erger, da sind alle Herberge vol […]. Alle Gemach sind vol gewest, und hatten zu essen und zu trincken vol auff, Sie aber müssen enhinder in den Stall, das ist ein schendlich Herberge. […]. Hie schlegt noch zu der fall, daß die Zeit ihrer Geburt sie uberfellet. […]. Da ist nu not vorhanden […]. Das mus eine grosse Armut gewest sein. Sie ist allein in einem frembden Hause und noch dazu im Stall. Da hat Joseph gedacht: Ach wer nu zu Hause were, und das ist das elendest, daß sie in solcher Armut gebieret und nicht so viel raum hat, da sie das Kind hin lege.“ Vgl. weiter etwa WA 23,728 f. (Predigten des Jahres 1527 [25. 12.]). 119 WA 7,555,34 f. 120 WA 7,575,23 f. 121 WA 34/II,497,9.
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und dienerin“122 insofern ist, als sie den geboren hat, in dem ich mein Heil finde. Maria trägt somit in den Augen Luthers eine Christus analoge Bestimmung an sich, der sich seiner Gottheit entäußert und Knechtsgestalt annimmt (Phil 2,7), ohne dabei aufzuhören, wahrer Gott zu sein. Das Wesen Marias als Magd und Dienerin verhält sich dabei umgekehrt-proportional zu demjenigen des Glaubenden, der von sich sagt: „Da bin ich ein Herr worden.“123 Auch hier schwingen Obertöne des Theologumenons vom seligen Wechsel und Streit mit, der ja impliziert, daß die Knechte der Sünde zu Herren werden, indem der Herr Knecht wird. Dieses soeben beschriebene Paradox prägt auch die Predigt, die Luther am Tag Mariae Heimsuchung im Jahre 1537 gehalten hat. Überschwenglich und unter Aufwendung höchster nur denkbarer rhetorischer Kunstfertigkeit listet Luther zunächst die Hoheitsattribute Marias auf und beschreibt damit die Unvergleichlichkeit der Gottesmutter: „Nulla femina dir gleich. Tu supra keiserin und konigin. Sive Eva, Sara, hochgelobt uber all adel, weisheit, heiligkeit.“124 Schroff gegen diese Hoheitsprädikate jedoch setzt Luther den Umstand, daß Maria dennoch in dem Sinne demütig und niedrig bleibt, als sie dessen gewahr ist, daß sie diese höchsten Auszeichnungen allein der geschenkten göttlichen Gnade verdankt, die sie von Gott empfangen hat, obwohl sie unwürdig und nichtig, ja ein ‚Aschenputtel‘, ist. Hatte Luther zuerst die Hoheit Marias geradezu hymnisch gepriesen, so entfaltet er anschließend in noch breiterer Weise und ebenfalls rhetorisch kunstvoll deren Niedrigkeit. Sic spiritus sanctus instruit corda, ut agnoscant maxima dona, et tamen non effertur, sed bleibt er nidder […] est dei mei heil, non habs erworben, verdienet, ut sequitur. ‚Respexit‘, quod so gar ein nichtig meidlin bin. Ebraice. Est ipsius merae misericordiae, quod voluit respicere ein veruchte, verachte person, potuisset invenire virginem, nicht so veracht ut ego, ein geehrte, reich, gewaltige. Ego vero der aschelbrodel, ego das gering, quam ne dives, rusticus, nobilis vix agnosceret me idoneam pro herba afferenda vaccis und schussel zu wasschen. Haec significat vox: Ein veracht, elend ding.125
Höchster Glaube und tiefste Erniedrigung koinzidieren in Maria und vereinen sich in ihr: „Maxima fides, qua se matrem intellexit, qui veracht, nichtig ist, blöde und verzagt.“126 Je nachdem, welche ‚Natur‘ Marias Luther in den Vordergrund rückt,
122 WA 34/II,497,5. 123 WA 34/II,497,4. 124 WA 45,105,10 f. (Predigten des Jahres 1537 [2. 7.]). Vgl. WA 7,572,28–30: „[…] und das sie ym gantzen menschlichem geschlecht ein eynig person ist ubir alle, der niemant gleich ist, das sie mit dem hymlischen vatter ein kind und ein solch kind hat […].“ 125 WA 45,105,23 f.26–32. 126 WA 45,106,9 f.
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erscheint sie entweder als diejenige, die als Gottesmutter von allen anderen Gläubigen unterschieden ist und sich von ihnen abhebt (– denn niemand sonst gebiert Gott leiblich –), oder aber als diejenige, die als die von Gott sola gratia Begnadete Prototyp des Glaubenden und insofern solidarisch mit allen zu rechtfertigenden Sündern ist. Denselben Gedanken entfaltet Luther mit einer etwas anderen Zuspitzung in der Magnifikat-Auslegung. Maria, die alle Ehre und Größe von Gott geschenkt bekam und dadurch erhöht wurde, entäußerte sich derselben wiederum und begab sich in die exinanitio, indem sie in ihrem Lobgesang Gott als den Geber dieser Hoheit erhob. Maria sagt nit, ‚mein seele macht grosz sich selb, oder helt viel von mir‘. Sie wolt auch gar nichts von yhr gehalten habenn. Szondernn alleyn got macht sie grosz, dem gibt sie es gar allein. Zeucht sich ausz und tregts allisz lauter wider auff zu got, von dem sie es empfangen hatte.127
Bildnachweis Alle Abb. © Johann Anselm Steiger, Hamburg.
127 WA 7,555,13–16.
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Abb. 1: Meister von 1333: Mitteltafel eines Triptychons, Bologna 1333, Louvre Paris (Inv.-Nr. 20197).
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Abb. 2: Adam Kraft: Schutzmantelmadonna, Epitaph für Sebald Peringsdörffer (ca. 1498), Frauenkirche zu Nürnberg.
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Abb. 3: Unbekannter Meister: Heilige Ursula mit dem Schutzmantel (ca. 1490, Brüssel), BodeMuseum Berlin (Inv.-Nr. 8076).
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Abb. 4: Joos van Cleve: Die Vision des Bernhard von Clairvaux, Holztafelgemälde (ca. 1510/15), Louvre Paris.
„Nulla femina dir gleich“
Abb. 5: Schutzmantelchristus, ca. 1500, Stiftskirche Stuttgart.
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Johann Anselm Steiger
Abb. 6: Lukas Cranach d. J.: Schutzmantel-Christus (ca. 1535/40), Berlin, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, Kupferstichkabinett, KdZ 505.
„Nulla femina dir gleich“
Abb. 7: Lucas Cranach d. Ä.: Epitaphgemälde für Valentin Schmidburg (ca. 1518), Leipzig, Museum der bildenden Künste (Inv.-Nr. G 40), Detail.
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Johann Anselm Steiger
Abb. 8: Martin Schaffner: Epitaph-Gemälde für den Stuttgarter Bürgermeister Sebastian Welling, 1535, Hamburger Kunsthalle (Inv.-Nr. HK-220).
„Nulla femina dir gleich“
Abb. 9: Schutzmantelchristus, Kupferstich von Dirk Diricks (1648).
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Johann Anselm Steiger
Abb. 10: Lukas Cranach d. J.: Caritas, Holztafelgemälde (ca. 1537), Hamburger Kunsthalle (Inv.Nr. HK-299).
„Nulla femina dir gleich“
Abb. 11: Anton Möller d. Ä.: Almosentafel (1607), Hauptgemälde, St. Marien zu Danzig.
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Reinhard Gruhl
Die Präsenz der Gottesmutter in ausgewählten katholischen und protestantischen Kalenderbearbeitungen des sechzehnten Jahrhunderts Geopolitisch sind die frühen 1490er Jahre bekanntlich sehr ertragreich: Von zwei missionseifrigen Franziskanern gefördert kann Kolumbus das Königspaar Isabella und Ferdinand von seinem riskanten Ostasien-Projekt überzeugen und bezwingt dann wirklich den Atlantik. Auch mariologisch haben diese Jahre einiges zu bieten: Im kursächsischen Torgau betraut das fürstliche Brüderpaar Friedrich und Johann den Augustiner-Eremiten Johann von Paltz mit einem anspruchsvollen exegetischen Auftrag: Er solle ermitteln, ob und inwiefern sich der Bibelvers Sprüche 8,34 nicht nur auf Christus beziehe, sondern auch auf dessen hochverehrte Mutter. Und Paltz entwickelt dann wirklich in einem Traktat, auf welche, bislang verborgene Weise sich Maria an ihre Verehrer wendet mit den Worten „Beatus homo qui vigilat ad fores meas quotidie“ [Selig, der wacht an meinen Toren Tag für Tag].1 Als gelungener Höhenflug mariologischer Auslegungskunst und festtheologische Basiserkundung findet der Traktat Anklang. Rasch wird er verbreitet sowohl in einer elaborierten lateinischen Fassung als auch einer kürzenden, populären deutschen Übersetzung.2
1 Paltz (siehe die folgende Anm.) greift „so nur Teile des Bibelverses auf, namentlich jenes Glied des enthaltenen Parallelismus membrorum, das mit einem Plural (fores meas, hebr. yttld) eine Mehrzahl von Toren anspricht (vgl. 8,3). Der ganze Vers lautet in der Vulgata: „Beatus homo qui audit me [et haben zusätzlich Codex Cavensis und Vulgata Clementina gemäß der griechischen Übersetzung der Septuaginta] qui vigilat ad fores meas quotidie et observat ad postes ostii mei“ (zit. nach Biblia Sacra iuxta vulgatam versionem. Rec. Robert Weber. 3. Aufl. Stuttgart 1983). Luther nimmt sich dann die Freiheit, den Vers durchgehend singularisch zu übersetzen. 2 Siehe Johann von Paltz (* um 1445, nach 1467 Ordenseintritt, ab 1483 Theologieprofessor in Erfurt zusätzlich leitender Aufgaben im Orden u. a. als Visitator, dann auch Inquisitor und Ablasskommissar, ab 1505 im Kloster Mühlheim, † 13.3.1511): De septem foribus seu festis beatae virginis / Die siben porten oder feste der muter gottes. In: Ders.: Werke. Bd. 3. Hg. von J. Marius J. Lange van Ravenswaay, Christof Windhorst. Berlin, New York 1989 (Spätmittelalter und Reformation. Texte und Untersuchungen 4), S. 285–354; zur Schwierigkeit der gestellten Aufgabe zumal angesichts fehlender Vorarbeiten siehe ebd., S. 297. Siehe ferner bes. Berndt Hamm: Frömmigkeitstheologie am Anfang des 16. Jahrhunderts. Studien zu Johannes von Paltz und seinem Umkreis. Tübingen 1982 (Beiträge zur historischen Theologie 65). Den Auftrag erhielt Paltz wohl im Frühjahr 1490; erste Drucke sind nachweisbar für ca. 1491/1492. Als Marienverehrer präsentieren sich Friedrich https://doi.org/10.1515/9783110665109-004
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Reinhard Gruhl
Nach der Auslegung von Paltz deutet Maria in Spr 8,34 mit den Toren auf die sieben Feste hin, welche ihr im Kirchenjahr gewidmet sind. Paltz ordnet und zählt nach Maßgabe des Marienlebens chronologisch und beginnt folglich mit dem im astronomischen Jahr spätesten Festtermin: Am 8. Dezember wird der wunderbare Moment gefeiert, in dem die Hl. Anna mit Maria schwanger wurde (Festum conceptionis): 2. Februar 25. März 2. Juli 15. August 8. September 21. November 8. Dezember
Festum purificationis (Marias Reinigung, Lichtmess) Festum annunciationis (Verkündigung Gabriels an Maria) Festum visitationis (Marias Besuch bei Elisabeth, Heimsuchung) Festum assumptionis (Marias Aufnahme in den Himmel) Festum nativitatis (Marias Geburt) Festum praesentationis (Marias Darstellung/Opferung im Tempel) Festum conceptionis (Marias Empfängnis)
Sexta porta Quarta porta Quinta porta Septima porta Secunda porta Tertia porta Prima porta
Diese Feste sind für Paltz die Tore, durch welche die Gläubigen in das ummauerte geistliche Jerusalem gelangen können, in die Stadt der kämpfenden Kirchen (Ecclesia militans), wo allein man in diesem irdischen Leben Zugang finden kann zu Maria, der sonst unzugänglichen reinen Jungfrau, der Mutter Christi und der Kirche. Besonders wichtig ist Paltz dabei die Lehre von der unbefleckten Empfängnis (immaculata conceptio) und der entsprechend gedeutete Festtermin: Er sei sogar die „Basis und Wurzel aller anderen Marienfeste.“3 Paltz muss jedoch einräumen, dass ausgerechnet diese Lehre in der Kirche seiner Zeit immer noch umstritten sei.4 So sieht er sich genötigt, ihrer Verteidigung größeren Raum zu geben, unter anderem durch die Anhäufung von zehn Argumenten.5
der Weise und Johann der Beständige gemeinsam auf dem Dessauer Fürstenaltar (Lucas Cranach d. Ä., 1507–1509). 3 „[…] est fundamentum et radix omnium aliarum portarum sive festorum eius.“ Paltz (Anm. 2), S. 315, vgl. auch die Präzisierungen auf S. 316. 4 Zur westkirchlich-katholischen Entwicklung der Lehre von Marias Freiheit von der Befleckung der Erbsünde siehe Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum / Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Hg. von Heinrich Denzinger, jetzt Peter Hünermann. 37. Aufl. Freiburg 1991, bes. Nr. 1400, 2015 u. 2803, ferner die Stellenangaben im systematischen Index, sub E 6 cc; siehe auch hier Anm. 85. 5 Siehe Paltz (Anm. 2), nur in der deutschen Übersetzung S. 332 f. (zum überlieferungsbedingten Fehlen in der lat. Fassung siehe ebd., S. 308).
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Nicht nur diese Argumente, sondern auch das ganze System der sieben Tore oder Feste wird wenige Jahrzehnte später einer großen Belastungsprobe ausgesetzt. Die von Wittenberg und Zürich ausgehenden Reformationen stellen die Autorität von Päpsten und Bischöfen radikal in Frage; es kommt zu praktischen Reformen der Kirchen- und Schulverfassung einschließlich der Liturgie und des Kirchenjahres.6 Aus der neu formierten und betonten Autorität der Bibel erwachsen auch Einwände gegen Theorie und Praxis der Marienverehrung. Das Infragestellen hält sich nicht frei von grobianischen Satiren und Pamphleten, das Reformieren geht hier und da mit Enteignungen und Vertreibungen, ja sogar mit Blutvergießen einher. Auf Seiten der Reformationsgegner und Gegenreformatoren sieht es bei der Wahl der Mittel nicht besser aus. Mit besonderer Schärfe und Hartnäckigkeit kämpft der Elsässer und WahlLuzerner Thomas Murner für die Sache der Altgläubigen, so auch im Schweizer Kalenderstreit des Jahres 1527: Den Anlass bot ein pseudonymer Kalenderdruck aus dem Umkreis Zwinglis,7 der wohl gar nicht darauf abzielte, in Überbietung des Zürcher Feiertagsmandats vom 28. März 1526 eine weitere Reform des liturgischen und bürgerlichen Kalenders auszurufen. Vielmehr ging es den Zürcher Reformern in diesem Fall wohl vorrangig um den Versuch, das Potential des Kirchenjahres als eingespielter Form zeitlich gestaffelten und repetierenden Gedenkens für eine intensivere Propagierung biblischer Lektüre zu nutzen. Diese Annahme genügt immerhin, um die Wahl rein biblischen Personals zu verstehen, mit dem dieser Kalender programmatisch aufgefüllt ist.8 Andererseits besteht seine Vorrede ganz 6 Zu den vor allem protestantischen Kalenderreformen mit ihrer grundsätzlichen Tendenz zur Feiertagsreduktion (die schon im späten Mittelalter Befürworter hatte und dann in der Aufklärung praktisch am stärksten durchgriff) und ihren sozioökonomischen Folgen siehe aus der neueren Forschung besonders Klaus Schreiner: „Abwuerdigung der Feyertage“ – Neuordnung der Zeit im Widerstreit zwischen religiöser Heilssorge und wirtschaftlichem Fortschritt. In: Die Autorität der Zeit in der Frühen Neuzeit. Hg. von Arndt Brendecke. Berlin u. a. 2007, S. 257–304, bes. 259 f. 7 Siehe: Zwei Kalender vom Jahre 1527. D. Joannes Copp evangelischer Kalender und D. Thomas Murner Kirchendieb- und Ketzerkalender. Hg. von Ernst Grözinger. Schaffhausen 1865. Murners Kalender siehe auch als Digitalisat des Altdruckes unter http://doi.org/10.3931/e-rara-36173. 8 Siehe jetzt die detaillierte Darstellung bei Hans Jurt: Kirchendiebe und Ketzer. Medienöffentlichkeit und religiöser Konflikt in Luzern 1522–1529. Lizenziatsarbeit Universität Luzern 2010, bes. S. 74–92 (mit weiteren Literaturhinweisen), zum Pseudonym S. 82, zum Feiertagsmandat S. 73 f., zu Charakter und Funktion des Kalenderdruckes im Kontext der Veröffentlichung einer Bibelausgabe S. 77 f. Der Text ist online verfügbar unter http://www.hansjurt.ch/text/kirchendiebeUndKetzer.pdf (abgerufen am 16.5.2018). Siehe auch Theodor von Liebenau: Der Franziskaner Dr. Thomas Murner. In: Erläuterungen und Ergänzungen zu Janssens Geschichte des deutschen Volkes. Hg. von Ludwig Pastor. Bd. 9. Freiburg 1913, Heft 4/5, bes. S. 229–233. Siehe auch mit weiteren Verweisen Franz Josef Worstbrock: Artikel ‚Murner, Thomas‘. In: Verfasserlexikon. Deutscher Humanismus 1480–1520. Band 2. Hg. von dems. (Berlin, Boston 2009), seit 2013 in aktualisierter
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ausdrücklich auf einem Korrektur- und Überbietungsanspruch gegenüber dem Papst und seinen Anhängern.9 Vier der sieben Marienfeste jedenfalls fehlen. Bei den übrigen drei wird das einschlägige biblische Kapitel ausdrücklich vermerkt:10 2. Februar 25. März 2. Juli
„Reinigung Mar[ie].“ „Englisch gruosz“ „Marie heimsuochung“
„Luc. 2.“ „Luc. 1.“ „Luce am 1. ca.“
Das gab Murner Anlass genug, diesen Versuch in seiner originellen Replik so zu behandeln, als betrieben die Zürcher Reformer hier einmal mehr ihr unerhörtes Verdrängungs- und Vernichtungswerk: Vnd dorum so ich das erlebt hab, das schelmen sollent für gots fründ im kalender sin, vnd bößwicht die heilige gots gebererin Mariam mit sampt den marterern gottes vß gedechtnis der menschen vnd dem Kalender verdrungen haben: Aa so gelt es mir ouch also, vnd sige mir billich wz inen recht, ouch ein Kalender zů machen aller ketzer die ie die christenheit angefochten handt in alten vnd gegenwärtigen ziten. Minen christlichen schefflin zů warnung sich vor denen wölffen dorin ersetzt zů hieten […].11
Für die altkirchliche Zeit führt Murner in seinem Ketzerkalender als „schender der ewigen iungfrawschafft Marie“ jenen Helvidius an, dessen Einwände der Kirchenvater Hieronymus entkräftet hatte; stellvertretend für die Gegenwart bekommt
Fassung in: De Gruyter Verfasser-Datenbank Online. Autoren der deutschsprachigen Literatur und des deutschsprachigen Raums: Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Siehe unter der allerdings zugangsbeschränkten Adresse https://doi.org/10.1515/vdbo.vlhum.0143. 9 Siehe in der Vorrede, zit. nach Grözinger (Anm. 7), S. 3: „Dz wir in disem Almanach an des Bapsts Kalenders statt die im alten vnd nüwen Testament bekannten heiligen, an welchen Gott sin barmhertzigkeit oder zorn endeckt [sic] hat, […] ist nit darum geschen, das man sy wie yhene (nach des Bapsts wyß) eeren, fyren, oder anrůfen sölle, sunder allein darumb, daß du dardurch die heiligen [sic] Bibel ze lesen gereytzt werdist […]. Nit das wir yhene all verachtind, so doch vilicht [sic] vil vnder yhenen ouch heiligen sind möchtind.“ Mit „yhene(n)“ sind jedesmal die biblisch nicht belegbaren (z. B. die Eltern Marias, welche man im apokryphen Protevangelium des Jakobus namentlich behandelt findet) und die nachbiblischen Gestalten gemeint, deren der altgläubige Kalender gedenkt. Zur Kombination biblischer und apokrypher Texte bei der Rekonstruktion der Lebensgeschichte der Hl. Familie siehe Arnold Angenendt: Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultus vom frühen Christentum bis zur Gegenwart. München 1994, S. 217–225. 10 Zit. nach Grözinger (Anm. 7), S. 6, 9, 16. Der Kalender gedenkt, ebd., S. 19, darüber hinaus Marias neben Joseph am Ende des August bei Erwähnung der Flucht nach Ägypten (siehe Matth 2,13–15). 11 Ebd., S. 33. Vgl. Matth 7,15; Apg 20,29. Mit „schelmen“ und „wölffen“ spielt Murner z. B. auf biblische Gestalten an, wie Kain und den Pharao in Ex 1–14, von deren Untaten und Bestrafung die Bibel berichtet und die nun in dem Zürcher Kalender als biblische Exempla erscheinen (siehe ebd., S. 4 u. 6 f.).
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der Basler Reformator Johannes Oekolampad unter anderem den Schimpfnamen „schender Marie“.12 Auch nachdem sich im Laufe der folgenden Jahre und Jahrzehnte im frühneuzeitlichen Europa mehrere christliche Konfessionen und Kirchentümer konsolidiert hatten, bleibt die Mariologie ein unübersehbarer Anzeiger und Austragungsort theologischer Differenzen.13 Auf Seiten der Altgläubigen ist ihr weiterer spekulativer und praktischer Ausbau anscheinend die wirksamste Parole, auf Seiten der Protestanten der mehr oder weniger vorsichtige Rückbau bzw. Rückbezug auf das biblisch sicher Belegbare – die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes bieten sicher genug Anhaltspunkte, um diese Einschätzung zu kontrollieren. Nur zwei, speziell den Marienfesten gewidmete Zeugen besagten Ausbaus seien hier erwähnt. Der Erste beschäftigt sich speziell mit den großen Marienfesten und zeigt, wie überraschend eng man sich noch am Ende der Frühen Neuzeit an das System der sieben Pforten bzw. Feste halten konnte, wie es einst Johann von Paltz beschrieben hatte: Mit seinem „Septennium Marianum“14 legt Martin Markard eine spätbarocke Predigtsammlung und -anleitung vor, wenn auch mit aufklärerischen Obertönen – also keine ausufernde Kompilatorik, sondern eine straffe Systematik und Registrierung aller Glieder im Namen von Klarheit und Vernunft.15 Wie Paltz ordnet und zählt auch Markard nach Maßgabe des Marienlebens die Feste chronologisch und beginnt mit dem im astronomischen Jahr spätesten Termin, dem 8. Dezember, also in der Reihe „Mariä Empfängnuß“, „Geburth“, „Opfferung“, „Verkündigung“, „Heimsuchung“, „Reinigung“ und „Himmelfahrt“.16 Die Widmung schwelgt im Aufweis zahlensymbolischer Zusammenhänge: Die Siebenzahl prägt demnach mit geradezu universaler Macht sowohl die Mariologie als auch das Werden und die Gestalt des vorliegenden Werkes wie schließlich sogar das Leben und Wirken des Widmungsempfängers.17 12 Ebd., S. 44 (10. Mai) u. S. 45 (18. Sept.). Vgl. Hieronymus von Strido: De virginitate B. Mariae (Migne PL 23,181–206). 13 Zur allgemeinen Geschichte der Heiligenverehrung siehe Schreiner (Anm. 6), passim; instruktiv ferner Johannes Moritzen: Die Heiligen in der nachreformatorischen Zeit. Flensburg 1971 (Schriften des Vereins für schleswig-holsteinische Kirchengeschichte Sonderheft 7), bes. die Gegenüberstellung S. 73–84. 14 Martin Markard: Septennium Marianum, Das ist: Siebenmahl Sieben grössere Marianische Lob= Ehr= und Sitten=Rede, Dann Sieben und Siebenzig Kürtzere Predig Concepten mit Anweisung deren behörigen Proben Uber die sieben fürnehmere Fest=Täg Mariae […] Erstlich Binnen sieben Jahren […] vorgetragen auf der Cantzel zu Limbach […]. Nunmehr […] auf mehr dann zweymahl sieben Jahr eingerichtet […]. Bamberg 1759. 15 Siehe ebd., Vorrede, Bl. c 2 verso–c 3 verso. 16 Ebd., Inhaltsverzeichnis vor S. 1. 17 Siehe ebd., Widmung, Bl. a 2 recto–c 1 verso. Der Widmungsempfänger ist Adam Friedrich von Seinsheim, Fürstbischof zu Bamberg und Würzburg, 1708–1779.
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Wie bei Paltz kommt der Leser so leicht in Versuchung, eine naheliegende Rückfrage zu vergessen: Warum sollte es ausgerechnet sieben Hauptfeste geben und warum feiern sie genau diese sieben Begebnisse im Leben Marias? Wenn Markard sich auf „sieben fürnehmere Fest=Täg“18 konzentriert, ist damit die Existenz weitere Festtage wenigstens angedeutet, die vielleicht nur momentan oder um der schönen Systematik willen zurückstehen müssen. Die Frage führt weg von Traktaten, Predigten und liturgischen Stücken, hin zu kritischen Untersuchungen, geschichtlichen Rekonstruktionen und einem zweiten Zeugen: Ein großer Zeitgenosse Markards, Papst Benedikt XIV., hat eine kritischgeschichtliche Behandlung der Marienfeste zumindest ansatzweise geliefert und sich dafür offenbar von der umsichtigen Methode der Bollandisten leiten lassen.19 Die Siebenzahl von Marienfesten spielt bei Benedikt durchaus keine alles beherrschende Rolle: Gleich zu Beginn erfährt der Leser, dass sich für das frühere Mittelalter in der abendländischen Kirche eine Dreizahl, dann eine Vierzahl belegen lasse; die Siebenzahl bei Paltz ist also Unbestimmt nur eine Station in einer längeren Entwicklung.20 Benedikt bezieht in seine Untersuchung insgesamt siebzehn
18 Siehe ebd. den Werktitel. 19 Benedikt XIV. (alias Prospero Lorenzo Lambertini): De festis Domini et Mariae. In: Ders.: Opera omnia. Bd. 9. Padua 1843, S. 241–318 (zuerst Rom 1751); die Abhandlung wurde dann von Jacques-Paul Migne in die monumentale Summa aurea de laudibus Beatissimae Virginis Mariae integriert und findet sich im der Marienliturgie gewidmeten Bd. 3. Paris 1866, S. 1399–1526. Zu den Bollandisten siehe besonders Jan Marco Sawilla: Antiquarianismus, Hagiographie und Historie im 17. Jahrhundert. Zum Werk der Bollandisten. Ein wissenschaftshistorischer Versuch. Tübingen 2009 (Frühe Neuzeit 131). 20 Siehe Benedikt XIV. (alias Prospero Lorenzo Lambertini): De festis Domini et Mariae. In: Ders.: Opera omnia. Bd. 9. Padua 1843, S. 241 (zuerst Rom 1751). Nach heutigem Kenntnisstand wären Benedikts Angaben zu präzisieren: Das Viergespann von purificatio, annunciatio, assumptio und nativitas, welches Benedikt erst bei Bernhard von Clairvaux bestätigt findet, ist schon deutlich früher für Rom nachweisbar (7. Jh.). Siehe Reinhart Meßner: Artikel ‚Maria, hl., III.‘. In: Lexikon des Mittelalters. Hg. von Robert-Henri Bautier. Bd. 6. München 1999, Sp. 250 f., hier Sp. 250. Aus dem Hochmittelalter sei genannt Gotfrid von Hagenau († 1313): De sex festibus beatae virginis (siehe jetzt die provisorische Ausgabe unter https://freidok.uni-freiburg.de/data/15149; 15.4.2018); aus dem Barock Georg Reismüller: Virginis Mariae Corona Stellarum Duodecim, sive Conciones Duodenae pro singulis octo per annum festis Marianis. Aufgenommen in: Summa aurea (Anm. 19), Bd. 9, S. 409–850 (zuerst gedruckt Ingolstadt 1652). Zu den bei Paltz genannten Sieben kommt bei Reismüller hinzu, gezählt als Nr. 5: 5. August
Festum Dedicationis Ecclesiae Sanctae Mariae ad Nives (Fest der Weihe der stadtrömischen Kirche Santa Maria Maggiore)
Zu diesem länger nur als Regionalfest gefeierten Begängnis siehe Bruno Kleinheyer: Maria in der Liturgie. In: Handbuch der Marienkunde. Hg. von Wolfgang Beinert, Heinrich Petri. Regensburg 1984, S. 426 und 429.
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Marienfeste allgemeiner wie regionaler Bedeutung ein, ja sogar achtzehn, zählt man die Maria gewidmeten Samstage noch hinzu.21 Es gibt nun in der Frühen Neuzeit überraschenderweise eine literarische Gattung, die der Kalendersystematik und ihrer didaktischen Aufbereitung, der Festpredigt und -meditation sowie auch der historischen Spurensuche programmatisch gleichermaßen verpflichtet ist. Es handelt sich um humanistisch-neulateinische Lehrgedichte auf den Jahreslauf und christlichen Kalender. Sie haben gewöhnlich das Signalwort Fasti im Titel, um sich als Nachfolger oder auch Konkurrenten Ovids und seines berühmten unvollendeten Gedichts auf den altrömischen Kalender auszuweisen.22 Die Erforschung des frühneuzeitlichen Schicksals dieser Gattung steckt vielfach noch in den Anfängen. Die Umschau, welche John F. Miller gegeben hat,23 und 21 Siehe Benedikt XIV. (alias Prospero Lorenzo Lambertini): De festis Domini et Mariae. In: Ders.: Opera omnia. Bd. 9. Padua 1843 (zuerst Rom 1751) das Inhaltsverzeichnis. Neben den Sieben sind dies: 23. Januar
Festum Desponsationis
Ostersamstag
Festum Dolorum
I.
IV.
16. Juli
Festum Beatae Virginis de Monte Carmelo
VI.
5. August
Festum Dedicationis Ecclesiae Sanctae Mariae ad Nives
VII.
Sonntag nach dem Festum Nominis Mariae 8. Sept.
X.
24. September
XI.
Festum Beatae Mariae de Mercede
1. Sonntag im Okt. Festum Rosarii Beatissimae Virginis
XII.
3. Sonntag im Nov. [Festum] De Patrocinio Beatissimae Virginis
XIII.
10. Dezember
Festum Translationis Almae Domus Lauretanae
XVI.
18. Dezember
Festum expectationis partus
An jedem Samstag, der nicht bereits anderweitig als Fest deklariert ist
XVII. Festum Sanctae Mariae in Sabbatho
XVIII.
In historischer Perspektive zeigt sich, dass Paltz noch gar nicht alle Feste hat kennen können, die Benedikt bespricht, oder Feste erst ab einem bestimmten späteren Zeitpunkt von regional gefeierten zu allgemein verbindlich zu feiernden Festen geworden sind. Beispielsweise formiert sich Nr. XII. (1. Sonntag im Okt.) erst im Gefolge der Türkenkriege nach der Schlacht bei Lepanto und wird erst ab 1573 als „Fest Unserer Lieben Frau vom Rosenkranz“ gefeiert, und dies erst ab 1716 allgemein verbindlich. Siehe zur Entwicklung in der Neuzeit wie auch zur Frage der regionalen oder allgemeinen Geltung Kleinheyer (Anm. 20), S. S. 404–439, bes. 428–431. 22 Als dem Baptista Mantuanus zeitgenössische Ausgabe ist vor allem zu vergleichen: Publius Ovidius Naso: Fastorum libri Sex diligentissime recogniti. Addito Calendario Romano uenerandae uetustatis, nunquam antea impresso. Hg. von Philippus Gundelius. Wien 1513. Lazarelli demonstriert seine Ovid-Nachfolge durch die Wahl des elegischen Versmaßes, der Mantuaner, Fracco und Chytraeus greifen auf andere Vorbilder zurück, wenn sie Hexameter verwenden. Trümpy (Anm. 31), S. 8 f., weist zu Recht auf Lukrez und Vergils Georgica hin. Siehe Näheres unten in Anm. 24, 31 u. 32. 23 John F. Miller: Ovid’s Fasti and the Neo-Latin Christian Calendar Poem. In: International Journal of the Classical Tradition 10,2 (Fall 2003), S. 173–186.
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die Reihe der bekannten Vertreter (Lazarelli, Baptista Mantuanus, Fracco, Chytraeus, Vaillant) könnte künftig noch so manche Ergänzung erfahren,24 etwa durch einen Hinweis auf Nikolaus Reusners Ianuarius oder das speziell den Marienfesten gewidmete Werk des Miguel de Ulate.25 Ähnlich unvollständig steht es noch mit unserer Kenntnis frühneuzeitlicher Lehrgedichte im Allgemeinen.26 Etwas weiter vorangekommen ist wohl die Erschließung der populär-prosaischen Kalenderliteratur: Weit mehr noch als mit Bibeln und Traktaten hatten die Druckerpressen mit einem offenbar wachsenden und vielfältigen Kalenderbedarf zu tun. Immer mehr verbreiten sich zumal bequeme kalendarische Zusammenstellungen für jeweils anstehende Einzeljahre, die jeweils aktuelle Informationen liefern zu Astronomie, Meteorologie, Gesundheitsvorsorge, Ökonomie, Geschichte, Politik usw., aber nicht zuletzt auch und vor allem zu den Terminen des Kirchenjahres, zumal den beweglichen Festen, welche den Lauf des bürgerlichen Jahres nach wie vor prägten.27 Das Kalendergeschäft war derart gewinnverheißend und der Bedarf so groß,
24 Ebd., S. 175 f. Siehe neben den hier ausführlicher behandelten Werken des Mantuaners und Chytraeus’: Lodovico Lazarelli: Fasti Christianae Religionis. Hg. von Marco Bertolini. Neapel 1991 (in den letzten Jahrzehnten vor 1500 entstanden); Ambrogio Fracco: Sacrorum Fastorum Libri XII. cum romanis consuetudinibus per totum annum […]. Rom 1547; Guilielmus Hugo Vaillant: Fasti sacri, sive Epigrammatum, quibus sanctorum elogia per totius anni dies […]. 2 Bde. Paris 1674. Zur Präzisierung der Vorgeschichte der Gattung wäre künftig etwa zu prüfen Georgios Makris: Kalendergedichte. Eine literarische Manifestation des byzantinischen Kirchenjahres. In: Der Kalender. Aspekte einer Geschichte. Hg. von Wilhelm Geerlings. Paderborn, München 2002, bes. S. 140–150. 25 Nikolaus Reusner: Ianuarius sive Fastorum Sacrorum et Historicorum Liber Primus. Straßburg 1584; Miguel de Ulate: Virginis Mariae […] Sacri Fasti […] in quibus Festa eius solemnia […] modulatur. Madrid 1714. Weitere Kandidaten: Georg Fabricius weist auf entsprechende Ansätze bei Eobanus Hessus und Johann Stigel hin im Gratulationsgedicht an Nathan Chytraeus zum Plan eines Fasti-Werkes. Es datiert aus dem Jahr 1567 und ist von Nathan im Vorspann der Erstveröffentlichung des Januar-Teiles seiner Fasti im Jahr 1573 (siehe unten Anm. 32) eingerückt worden auf Bl. a 2 recto–verso. 26 Zur Gattung siehe jetzt Wilhelm Kühlmann: Wissen als Poesie. Zu Formen und Funktionen der frühneuzeitlichen Lehrdichtung im deutschen Kulturraum des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Joachim Telle: Alchemie und Poesie: Deutsche Alchemikerdichtungen des 15. bis 17. Jahrhunderts. Untersuchungen und Texte. Berlin, Boston 2013. Bd. 1, S. 1–84, hier bes. S. 15; Wissensvermittlung in dichterischer Gestalt. 2. Rostocker Kolloquium zu Antiken Fachschriften 2004. Hg. von Marietta Horster, Christiane Reitz. Stuttgart 2005 (Palingenesia 85). 27 Siehe mit vielen weiteren Literaturhinweisen das Projekt: Klaus-Dieter Herbst: Biobibliographisches Handbuch der Kalendermacher von 1550 bis 1750, unter http://www.presseforschung.unibremen.de/dokuwiki/doku.php?id=startseite (15.4.2018). Siehe zur Vorgeschichte Eckhard Freise: Kalendarische und annalistische Grundformen der Memoria. In: Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter. Hg. von Karl Schmid, Joachim Wollasch. München 1984, S. 441–577.
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das auch etliche grobe Ignoranten […] sich nicht scheueten/ dises Falles die Feder anzusetzen […]. Jch wil hie nicht sagen/ wie die alte/ gewöhnlich Ahrt Kalender zu schreiben/ fast gahr nicht mehr wird in acht genommen/ denn die meisten Kalender sind nunmehr nicht/ wie vorhin/ Jahr- und Zeit-Bücher; Sondern es sind Kräuter-Kalender/ Kriegs-Kalender/ Wunder-Kalender/ Würtz-Kalender/ Historien Kalender/ Haus-Kalender/ Artznei-Kalender/ Wahrsager-Kalender/ Küchen-Kalender/ und Jch weis bald nicht/ was für Kalender […].28
Von solchen Produkten unterscheiden sich die humanistisch-neulateinischen Fasti deutlich. Mit ihrer elaborierten, metrisch gebundenen Latinität im Fahrwasser antiker Dichter wenden sie sich belehrend und erbauend an die europäische Bildungselite und deren Nachwuchs. Sie sind als ewige Kalender ausgestaltet und konzentrieren sich ganz auf die meist liebevolle, zuweilen gegenüber offenbaren Missständen auch kritische Beschreibung von Festen und Gedenktagen, ohne je dabei die einschlägigen Wissensbestände der Astronomie, Theologie, Natur-, Menschheits- und Kirchengeschichte zu vergessen. Ihre Autoren beweisen zumindest gelegentlich ihre Befähigung zu kritisch abwägender Abstandnahme nicht nur in Belangen der Theologie und ihren Kontroversen. Offenbar inspiriert sie dazu nicht nur Ovids alexandrinisch geprägte Suche nach den historischen Gründen und Ursprüngen vergangener und gegenwärtiger Gebräuche,29 sondern auch die verheißungsvollen Anfänge frühneuzeitlich-humanistischer Quellenkritik. Man denke nur an Lorenzo Valla und die oben genannten Bollandisten, doch auch an die bibelexegetischen und theologisch-traditionskritischen Kontroversen im Streit der Konfessionen. Was Feste und Gebräuche anbelangt, seien beispielsweise die protestantischen Antiquare Rudolph Wirth und Joachim Hildebrand genannt.30
28 Johann Rist: Die AllerEdelste Tohrheit Der gantzen Welt/ […] Beschrieben und fürgestellet von Dem Rüstigen. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Eberhard Mannack. Bd. 5. Berlin, New York 1974, S. 66 (Erstdruck: Hamburg 1664). 29 Siehe Johanna Loehr: Ovids Mehrfacherklärungen in der Tradition aitiologischen Dichtens. Stuttgart, Leipzig 1996 (Beiträge zur Altertumskunde 74). 30 Rudolph Wirth (Hospinianus; 1547–1626): Festa Christianorum, De Origine, Progressu, Ceremoniis Et Ritibus Festorum Dierum Iudaeorum, Graecorum, Romanorum & Turcarum Libri tres. Zürich 1593; Joachim Hildebrand (1628–1691): De diebus festis libellus. Helmstedt 1701. Grundsätzliches zu den Anfängen frühneuzeitlicher Quellenkritik und ihrer Begründung im Menschenbild siehe bei Peter Burke: Die europäische Renaissance. München 1998, S. 49 f.; bes. zur handwerklichen Seite und Detailentwicklung Rudolf Pfeiffer: Geschichte der Klassischen Philologie. Von Petrarca bis Mommsen. München 1982, passim; Erika Rummel: ‚Ad fontes. German Humanists as Editors and Translators.‘ In: Early Modern German Literature. 1350–1700. Hg. von Max Reinhart. Rochester 2007 (The Camden House History of German Literature 4), S. 331–353. Siehe auch die unten in Anm. 33 genannte Literatur.
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Wenn sich Kalenderdichter wie Baptista Mantuanus31 und Nathan Chytra32 eus in ihren Vorreden von der Weitergabe bloßer Fabeleien distanzieren, dürfte dies also nicht nur die unter Christen beinahe von Beginn an eingespielte, apologetisch-kritische Distanzierung von den Heiden, ihren Mythen und Ammenmärchen wiederholen. Pate steht nun frühneuzeitlich auch das besagte, wachsende quellenkritische Bewusstsein.33 Ein weiterer, damit oft verbundener Topos fehlt in den Vorreden ebenfalls nicht. Man bekennt sich zu einer Zucht und Anstand 31 Zu Battista Mantovano (Baptista Mantuanus; Giovanni Battista Spagnoli; * 17.4.1447 in Mantua; 1464 Eintritt in den Karmeliterorden; ab 1513 dessen General; † 20.3.1516 ebenda) siehe Herbert Jaumann: Handbuch der Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit. Band 1. Biobibliographisches Repertorium. Berlin, New York 2004, S. 63 f.; Edmondo Coccia: Le edizioni delle opere del Mantovano. Rom 1960; VD 16. Bd. 19 (1992), S. 315–348, Nr. S 7133–S 7400; Hans Trümpy: Die Fasti des Baptista Mantuanus von 1516 als volkskundliche Quelle. Nieuwkoop 1979 (Bibliotheca humanistica & reformatorica 26); Ralf Georg Czapla: Das Bibelepos in der Frühen Neuzeit. Zur deutschen Geschichte einer europäischen Gattung. Berlin, Boston 2013 (Frühe Neuzeit 165), bes. S. 164–171 und den Index. Als Karmeliter war er, wie Franziskaner und Dominikaner, der Marienverehrung besonders verpflichtet. Sein Mariengedicht De Parthenice wurde schließlich sogar aufgenommen in die Summa aurea (Anm. 19), Bd. 13. Paris 1866, S. 831–884. Siehe auch zur mariologischen Komponente seiner 8. Ekloge Margarethe Stracke: Klassische Formen und neue Wirklichkeit. Die lateinische Ekloge des Humanismus. Würzburg 1981 (Romania Occidentalis 2), S. 32–35; dazu auch Trümpy, S. 10. Im Vorspann seiner, von Wimpfeling herausgegebenen Fasti findet sich auch ein Bittgebet an Maria. Siehe ders.: Fastorum Libri Duodecim. Straßburg 1518 (Erstausgabe: Lyon 1516; zum Verhältnis der beiden Ausgaben zueinander siehe Trümpy, S. 5 f.; Wimpfelings Ausgabe wurde als neu durchgesehene und um ein Glossar erweiterte Auflage erneut gedruckt Köln 1561). 32 Zu Nathan Chytraeus (Kochhaf[e]; * 15.3.1543 in Menzingen; seit 1564 Professor der lateinischen Sprache in Rostock; ab 1593 Schulrektor in Bremen; † 25.2.1598 ebenda) siehe jetzt mit weiterer Literatur Reinhard Gruhl: Protestantische Kalenderdichtung in Rostock: Die Fasti Ecclesiae Christianae des Nathan Chytraeus. In: Reformatio Baltica. Kulturwirkungen der Reformation in den Metropolen des Ostseeraums. Internationaler Kongress Vilnius, 9.–13. September 2015. Hg. von Heinrich Assel u. a. Berlin, Boston 2018 (Metropolis 2), S. 385–403; Paul Gerhard Schmidt: Antike Kalenderdichtung in nationalgeprägter Umformung des 16. Jahrhunderts. Die „Fasti ecclesiae christianae“ des Nathan Chytraeus. In: Antike Rezeption und nationale Identität in der Renaissance insbesondere in Deutschland und Ungarn. Hg. von Tibor Klaniczay u. a. (Studia humanitatis 9). Budapest 1993, S. 111–117. Sein Opus magnum sind die Fastorum Ecclesiae Christianae Libri Duodecim. Hanau, Frankfurt a. M. 1594 (VD16 C 2779); in einem ersten Teil einer früheren Fassung erschien zuerst Fastorum Ecclesiae Christianae Liber e Duodecim Primus. Ianuarius. Leipzig 1573; Weiteres siehe bei Gruhl, S. 386, Anm. 3 und 6, und S. 403, Anm. 73. 33 Siehe dazu die Vorreden der Fasti beim Mantuaner und bei Chytraeus; beim Mantuaner auch direkt die Inhaltsangabe am Werkbeginn, Vers [7]ff.; Trümpy (Anm. 31), S. 99; Schmidt (Anm. 32), S. 113. Grundsätzliche Beobachtungen auch für die Frühe Neuzeit dazu siehe bei Paul Vernant: Glaubten die Griechen an ihre Mythen? Frankfurt a. M. 1987 (Edition Suhrkamp NF 226); Antony Grafton: Fälscher und Kritiker. Der Betrug in der Wissenschaft. Berlin 1991; ferner Marius Reiser: Bibelkritik und Auslegung der Heiligen Schrift: Beiträge zur Geschichte der biblischen Exegese und Hermeneutik. Tübingen 2007 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 217).
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wahrenden Darstellung und grenzt sich so von all dem Zweifelhaften ab, das die Lektüre antik-heidnischer Autoren gerade für junge ungefestigte Gemüter gefährlich macht. So empfiehlt man sein Werk natürlich als Jugend- und Schullektüre und ermöglicht ihm eine größere Verbreitung.34 Im vorliegenden Zusammenhang sollen nun exemplarisch zwei mariologisch bedeutsame Passagen aus den Fasti des Baptista Mantuanus entsprechenden Passagen bei Nathan Chytraeus gegenübergestellt werden. Der Eine schreibt sein Werk als Zeitgenosse Johanns von Paltz am Vorabend der Reformation, der Andere gewissermaßen schon im Rückblick auf die stürmischen Entwicklungen des Jahrhunderts, und dies aus protestantischer Perspektive. Beide gehören zu den anerkanntesten Dichtern ihrer Zeit neben Jacopo Sannazaro und Marco Girolamo Vida, wenn auch weniger durch ihre groß angelegten Fasti, die nach Umfang und Gegenstand schon den Zeitgenossen weniger genussvoll und leicht verdaulich erscheinen mussten als zum Beispiel Eklogen, Epigramme und Epyllien. Ausdrücklich weist Nathan Chytraeus auf den Mantuaner als Vorgänger und Mitstreiter im künstlerischen Paragone hin.35 Vom Mantuaner trennen ihn aber nicht nur die inzwischen erheblich veränderte theologisch-konfessionelle Lage und Blickweise, was sich gerade in den mariologischen Passagen zeigt.36 Ihn trennt auch das zwischenzeitliche Auftreten einer neuen und besonderen Kalendergattung, die offenbar im Umfeld Philipp Melanchthons ihren Anfang nimmt.37 Hier nahmen ja auch protestantische Versionen des zeitgenössischen Standardmediums, des „Cisio-Janus“, ihren Ausgang: Sie stellten besonders für Kirchenkalender eine gewisse Normalform bereit im Sinne der Wittenberger Reformation
34 Siehe noch einmal die Vorreden der Fasti beim Mantuaner und bei Chytraeus; ferner in der Widmung des Herausgebers Jakob Wimpfeling (Anm. 31); siehe auch Trümpy (Anm. 31), S. 80 f. zur Beurteilung des Karnevals beim Mantuaner. Ähnlich äußert sich auch Fracco (Anm. 24) am Beginn der Widmung seiner Fasti an Paul III. In der Detailbeurteilung kann es allerdings gerade bei der Behandlung Marias und anderer Heiliger Meinungsdifferenzen geben. So wirft Nathan Chytraeus, ebd., dem Vorgänger Baptista Mantuanus vor, sich nicht von superstitio freizuhalten. 35 Er nennt ihn neben Ovid, verliert hingegen kein Wort über Lazarelli oder Fracco (Anm. 24). 36 Siehe die Beispiele hier weiter unten; ferner Gruhl (Anm. 32), passim, zum protestantischlaientheologischen Profil des Nathan Chytraeus. Der Mantuaner hofft 1516, am Vorabend der Reformation, laut seiner Widmung auf Papst Leo X. als Kurienreformer und Neubeleber der Frömmigkeit. Zu seiner kurienkritischen Haltung siehe Trümpy (Anm. 31), S. 102 f. 37 Das muss mit Blick auf das Umfeld der Chytraeus-Brüder betont werden gegen die einseitig nur auf Ovid verweisenden Einschätzungen bei Schmidt (Anm. 32), S. 115 f., und Miller (Anm. 23), S. 176. Zum Einfluss des Bruders David Chytraeus siehe die Nachweise bei Gruhl (Anm. 32), S. 391, Anm. 21.
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unter Beibehaltung einiger Marien-Gedenktage (purificatio, annunciatio, visitatio, zuweilen auch assumptio und/oder nativitas).38 Ein erstes, prägendes Beispiel dieser neuen Gattung lieferte Paul Eber mit seinem Calendarium historicum.39 Es bietet Gedenktage für eine bunte Reihe prominenter Gestalten aller Zeiten, ob nun biblischer oder – und das ist die überwiegende Mehrzahl – außerbiblischer Personen. Drei Marien-Gedenktage werden festgehalten (purificatio, annunciatio und nativitas), in größerem Umfang natürlich Herrenfeste, wie etwa die Beschneidung und Epiphanias als Tauftag Christi (1. und 6. Januar); beim Tauftag wird kritisch die vereinzelte Meinung erwähnt und abgetan, es handele sich beim 6. Januar zugleich um den Geburtstag Christi.40 Der Kalenderdruck lässt vielfach genügend Raum für Leser-Nachträge zu weiteren erinnerungswürdigen Begebnissen, und diese Möglichkeit wurde nachweislich auch hier und da genutzt.41 Ebers Werk erlebte eine ganze Reihe von Neuauflagen auch noch nach seinem Tod inklusive einer deutschen Übersetzung.42 38 Siehe Hermann Grotefend: Taschenbuch der Zeitrechnung. Hannover 1991, S. 20; ein schönes zeitgenössisches Beispiel in deutschen Reimen ist Wolf Schwartzenbach: Ain schöner newer Cisio. [Augsburg] 1528; ferner Martin Luther: Enchiridion piarum precationum cum Passionali quibus accessit nouum Calendarium cum Cisio iano uetere & nouo […]. Wittenberg 1543; mit Mariae assumptio und nativitas, siehe B. γ 1 recto u. 3 recto); dazu Moritzen (Anm. 13), S. 72, der zu Recht betont, dass sich aus der kalendarischen Nennung gerade in protestantischen Bearbeitungen nicht ohne weiteres auch ein liturgisches Begängnis ableiten lässt. Siehe ferner Lucas Lossius: Cisio Ianus, hoc est, Kalendarium Syllabicum […]. Wittenberg 1551; ohne assumptio, mit nativitas). Für Melanchthon basiert Hartfelder seine Ausgabe auf einer späteren Fassung bei David Chytraeus von 1593 (ohne assumptio, mit nativitas), in: Melanchthoniana Paegadogica. Hg. von Karl Hartfelder. Leipzig 1892, S. 155–157. Siehe dazu grundsätzlich Klaus-Peter Jörns, Karl-Heinrich Bieritz: Artikel ‚Kirchenjahr‘. In: Theologische Realenzyklopädie. Hg. von Gerhard Müller u. a. Bd. 18. Berlin, New York 1989, S. 575–599, bes. 587 (ohne assumptio und nativitas; ebd. weitere Literatur). 39 Erstauflage: Basel 1550; dazu: Hans Peter Hasse: Paul Ebers Calendarium historicum (1550), in: Paul Eber (1511–1569). Humanist und Theologe der zweiten Generation der Wittenberger Reformation. Hg. von Daniel Gehrt, Volker Leppin. Leipzig 2014 (Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie 16), S. 288–319. 40 Siehe ebd., S. 84, 138, 314, 50 und 55. 41 Siehe das Exemplar der BSB München (L.impr. c.n.mss. 30) aus dem Besitz von Johann Albert Widmannstetter (Widmestadius; um 1506–1557; siehe die handschriftliche Notiz auf dem Titelblatt) mit zahlreichen handschriftlichen Nachträgen mindestens eines späteren Besitzers, zum Beispiel beim 15. November (ebd., S. 385, zum Tod von Albertus Magnus und von Philipp Apian, alias Bennewitz oder Bienewitz, 1531–1589). Eine weiteres Exemplar mit hss. Nachträgen von David Aquila in der Wittenberger Ausgabe von 1564 siehe unter https://www.uni-erfurt.de/ studienstaette-protestantismus/protestantismus-digital/digitale-praesentationen/protestantisches-tagesgedenken/ (15.4.2018). 42 Siehe die mit genug Leerseiten im Sinne eines Schreibkalenders ausgestattete Ausgabe Wittenberg 1582, deren Widmung Ebers Söhne Johann und Martin unterschrieben haben; Marias Geburts- und Todestag werden hier verzeichnet (S. 359 und 322).
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Nachahmer Ebers und Ausschreiber fanden sich nicht wenige. Genannt seien der rührige Kalendermacher Caspar Goltwurm (Ein newes lustig historisch Calendarium 1553, unter anderer Titulatur später noch mehrfach erweitert), der bekannte Enzyklopädist Andreas Hondorf (Calendarium Sanctorum et Historiarum, 1573, 1587, 1599), Abraham Saur (Diarium historicum 1582, 1594) und mit spezieller Ausrichtung Adam Remp (Calendarium Saxonicum 1587), der als Quellen seiner Ausarbeitung ausdrücklich Eber, Hondorf und den Theologen und Historiker David Chytraeus anführt, schließlich Elias Reusner (Ephemeris sive Diarium historicum 1590). Beinahe alle diese Autoren veröffentlichen ihre Werke im Entstehungszeitraum des großen Rostocker Kalenderlehrgedichts aus der Feder des Nathan Chytraeus. Die Druckgeschichte seiner Fasti reicht von 1573 bis 1594. Im älteren Bruder, David Chytraeus, hatte Nathan einen Anreger und Unterstützer.43 Schon durch die Auswahl der Marien-Gedenktage ist Nathan Chytraeus sofort als Protestant erkennbar. Nur vier der sieben Feste werden behandelt: purificatio, annunciatio, visitatio und assumptio.44 Damit bleibt Nathan mariologisch innerhalb des oben benannten Rahmens der vom lutherischen Wittenberg ausgehenden Kalenderkonzepte. Wie die neuen historischen Kalender bieten seine Fasti eine bunte Reihe prominenter Gestalten aller Zeiten, ob nun biblischen oder außerbiblischen Herkommens; auch denkwürdige Ereignisse, wie etwa Kirchenversammlungen, kommen nicht zu kurz.45 Ferner fällt ein deutlicher Christozentrismus in Nathans Fasti auf: Christus widmet er das ganze Werk, ihn ruft er am Beginn als Schutzherren, Inspirator und Werkhelfer an; hingegen fehlen unübersehbare Ausdrücke einer besonderen Marienfrömmigkeit, wie sie etwa beim Mantuaner anzutreffen sind.46 Und doch ist 43 Weitere Einzelheiten zu Umfeld und Werkentstehung siehe jetzt bei Gruhl (Anm. 32), S. 391, Anm. 21, und passim. Zu Georg Fabricius siehe unten Anm. 46. 44 Siehe ders., Fasti 1594 (Anm. 32), S. 77, 145, 320 u. 384 und die jeweils folgenden Seiten. 45 Zu einigen dieser außerbiblischen Gestalten und exemplarisch zur Behandlung Ungarns siehe Schmidt (Anm. 32), S. 116 f.; zur Präsenz des ersten Konzils von Nikäa und des Augsburger Reichstags von 1530 siehe Gruhl (Anm. 32), S. 385 f. 46 Siehe ders., Fasti 1594 (Anm. 32), nach dem Titelblatt und S. 1 f., ferner etwa auch vor der Abendmahlsschilderung, S. 152; dazu Gruhl (Anm. 32), S. 394 u. ebd., Anm. 45. Siehe auch die Darstellung des Festum purificationis, die hier weiter unten behandelt wird. Zum Marienlob des Mantuaners siehe hier Anm. 31 und weiter unten die übersetzten und kommentierten Textbeispiele aus seinen Fasti. Zu diesem, offenbar auch poetologisch relevanten Christozentrismus dürfte sich ein systematischer Vergleich mit anderen zeitgenössischen protestantischen Dichtern lohnen, wie etwa Georg Fabricius (Goldschmidt, 1516–1571) und Adam Siber (1516–1584). Neben David Chytraeus ist Fabricius nach Nathans Zeugnis sein wichtigster Unterstützer beim Verfassen der Fasti. Siehe ders., Fasti 1594 (Anm. 32), Vorrede, Bl. a 4 recto; ferner das Gratulationsgedicht des Fabricius (siehe oben Anm. 25). Grundsätzliches siehe bei Ralph Häfner: Götter im Exil. Frühneu-
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Maria bei Nathan an den gegebenen Orten eindrücklich präsent. Den Schimpfnamen eines „Marienschänders“ (Murner) verdient seine Behandlung der Gottesmutter deswegen nicht. Was ein protestantisch-bekenntnisbewusster Kalenderdichter im Jahrhundert der Reformation von Maria vermitteln und was er guten Gewissens preisen kann, hat Nathan offenbar sorgfältig bedacht und mit großem Können gestaltet. Wenigstens zwei Stichproben sollen abschließend gegeben werden, um dies und die Nähe und Ferne zum Mantuaner zu zeigen. 1. Textvergleich Das Festum purificationis (2. Februar) bei Baptista Mantuanus47 Am zweiten Tag (des Februar) sind nun vierzig Tage seit der Geburt Christi vergangen, und dieser Tag ist ein der Mutter (Christi) geweihter Festtag.48 Ein Gesetz gab es bei den Hebräern.49 Es gebot von alters her, dass eine Frau, nachdem sie von einem Mann schwanger geworden und dann auch ein Kind geboren hatte, damit unrein würde und von ihrem Mann nicht berührt werden dürfte innerhalb der folgenden vierzig Tage. Danach sollte die Mutter den Säugling samt Opfergaben zum Altar bringen, um sich zu reinigen. Dieser Tag war nun herangekommen, und die Mutter (Maria) kam, um den Tempel zu besuchen.50 Da eilte Simeon herbei, prophetisch begabt und schon älter an Jahren. Er erkannte den Knaben (so fügte es der allmächtige Himmel), hob ihn mit seinen Armen in die Höhe und sprach die Verse, welche die Priester gewöhnlich an diesem Tag im Gottesdienst verwenden,51 damit Gott Worte in seinen Mund lege (denn für diese alle ist Gott der Urheber). Und er sprach sie zum Himmel gewandt mit durchdringender Stimme und fügte eine Weissagung hinzu52 über das künftige Schicksal des Knaben und seiner Mutter, und erwähnte
zeitliches Dichtungsverständnis im Spannungsfeld christlicher Apologetik und philologischer Kritik (ca. 1590–1736). Tübingen 2003 (Frühe Neuzeit 80); wenn auch auf das Folgejahrhundert konzentriert Joachim Dyck: Ticht-Kunst. Deutsche Barockpoetik und rhetorische Tradition. Mit einer Bibliographie zur Forschung 1966–1986. 3. erg. Aufl. Tübingen 1991 (Rhetorik-Forschungen 2), S. 135–173. 47 Übersetzung von mir nach dem Text der Ausgabe der Fasti von 1518 (siehe Anm. 31). 48 Siehe Kleinheyer (Anm. 20), S. 415 f. 49 Siehe Leviticus 12,1–8; zugleich Matutin-Lesung im römischen Brevier. Im vorliegenden Kontext fungiert dieses Erzählstück als Festätiologie gemäß der für das Lehrgedicht geltenden Gattungsvorgabe. Siehe dazu oben Anm. 24, 26 und 29. 50 Siehe Lukas 2,22–32, die Festperikope im römischen Missale. 51 Siehe den Tractus innerhalb des Fest-Propriums im römischen Missale, der aus den Versen Luk 2,29–32 besteht. 52 Der Mantuaner übergeht das im Evangelium berichtete Erstaunen der Eltern (Luk 2,33). Siehe auch die Raffung im Folgenden mit dem Hinweis auf die Wohlbekanntheit.
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dabei traurige Schicksalsschläge und ein Kummer bereitendes Fatum – sie alle sollen hier übergangen werden, da sie ja längst allen bekannt sind.53 Nachdem Simeon das vollbracht hatte, ging er von dannen. Während sich aber die festliche Menge herbeidrängte, ging der Priester dem Knaben entgegen bis zum Eingang des Tempelgebäudes und führte zum Altar die Mutter (Maria).54 Um sich daran zu erinnern, feiert die Nachwelt jährlich ein Fest: Stets wird es mit Prozession und Fackeln gefeiert.55 Schau nur, da schimmert der Zug der Priester im Scheine der Kerzen.56 Dabei werfen sie Lichtlein in die anwesende Menge. In Scharen wogt das Volk heran und mit ausgestreckten Händen rennen die Kinder in großer Zahl zu den heiligen Geschenken. Oft treibt die dörfliche Jugend, sind die Kerzen entzündet, in den Dorfkirchen Unfug. Ich erinnere mich, einst gesehen zu haben, wie sie ganz unpassend wetteiferten, die Fackeln einander ans Haupthaar zu halten, um es qualmen zu lassen. Mit dem unangenehmen Brandgeruch verpesteten sie die Altäre und mit leichtsinnigem Gelächter entweihten sie das Heiligtum. So ist die Ehre des heiligen Ortes dahin, die rechte Gottesverehrung57 gewichen und die Zucht und Ordnung der Väter begraben! Das ist es, was die reifenden Äcker und Getreidefelder mit Stürmen verwüstet und die Weinberge vernichtet, was dem Vieh den unzeitigen Tod bringt und Seuche trägt in die Schafställe.58 Denn sooft die Himmlischen sehen, dass wir Menschen das Heilige aus Lasterhaftigkeit 53 Wohlbekannt ist der lukanische Text durch seine Verlesung als Evangeliumstext am 2. Februar. Siehe Anm. 50. 54 Diese Passage hat der Mantuaner als Ausklang der Festätiologie ausgemalt; nichts davon steht bei Lukas. Siehe die Beobachtung zur Raffung der Erzählung oben Anm. 52. Im Raffen und Ausmalen zeigt sich die vom Evangelium abweichende Darstellungsstrategie des Kalenderdichters. 55 Siehe zum spätantiken Ursprung der Prozession in Jerusalem, Byzanz und Rom Kleinheyer (Anm. 20), S. 416. 56 Zu den Kerzen siehe den Hinweis auf dasselbe Motiv in des Mantuaners Ekloge 6,187 und 3,29 sowie 8,203 ff. bei Trümpy (Anm. 31), S. 26 f.; ferner den kritischen Bericht über den katholischen Brauch bei Hildebrand (Anm. 30), S. 44 f. Zum Lokalkolorit als Exemplum auch poetologisch absichtsvollen Wirklichkeitsbezuges u. a. beim Mantuaner siehe Stracke (Anm. 31), bes. S. 145. 57 Der Mantuaner stellt hier ‚sancta Religio‘ neben ‚patrum disciplina‘. Nach der Analyse von Feil dürfte in diesem Kontext und Zeitrahmen diese Formulierung mit ‚fides orthodoxa‘ bzw. ‚fides Christiana‘ gleichzusetzen sein. Siehe Ernst Feil: Religio. Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs vom Frühchristentum bis zur Reformation. Göttingen 1986 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte), bes. S. 165. 58 Zu diesem Glauben an einen archaisch-alttestamentlich anmutenden Tun-Ergehen-Zusammenhang, der sich hier mit dem Motiv vom Zorn der Götter über mangelnde menschliche Devotion verbindet, siehe den Hinweis auf dasselbe Motiv in des Mantuaners Ekloge 6,235 bei Trümpy (Anm. 31), S. 79. Zur mittelalterlichen Präsenz des Tun-Ergehen-Zusammenhangs siehe Arnold Angenendt: Geschichte der Religiosität im Mittelalter. Darmstadt 1997, bes. S. 119: „Zum Mittelalter hin ist zu beobachten, dass Gottes Güte und menschliches Handeln wieder gegeneinander austariert und verrechnet wurden. Die alte Tun-Ergehen-Korrespondenz trat erneut in Funktion: für Verdienst den Lohn, für Sünde die Strafe. […] Da der Mensch auf Gott […] einzuwirken vermochte,
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geringschätzen, verfolgen sie uns mit bitterem Zorne. Wenn so aber der göttliche Schutz aufhört, machen sich Gespenster daran, alles zu vernichten.59 Die Reiche der Sterblichen sind friedlos, unsere Arbeit bringt keinen Ertrag, Geld wird zu gegenseitigem Schaden verschwendet, in den Städten herrscht Aufruhr, in den Herzen wächst Rivalität und eine heftige Begierde zehrt an den Kräften.60 Deshalb hört man viel Kriegsgeschrei, dröhnen in Italien überall Waffen, die Städte und Äcker verwüsten.61 Heilige Mutter Gottes, die wir am heutigen Tag mit einem Fest feiern, befreie uns doch von diesem gewaltigen Aufruhr!
Das Festum purificationis (2. Februar) bei Nathan Chytraeus62 Die Hauptsache in meinem Werk63 bist du, Christus, Knabe und Erstgeborener Gottes! Nun bringt dich die Gottesgebärerin64 zum Jerusalemer Tempel, weil sie dem Gesetz Gehorsam schuldet. Und diese festlichen Ehrungen ließ der Herrscher Justinian65 dir zukommen, unter dem dich die Anfänge des festlichen Begängnisses erwarten, des Festes, das die Gemeinde des Herrn in Byzanz „Hypante“66 nannte, in Anspielung an das Auftreten des Simeon, im Deutschen wartet auf es der denkwürdige Name „Lichtmess“,67 weil der Irrtümer Gewölk und nächtliches Dunkel weicht (und) das goldglänzende Licht der ganzen Welt aufgeht. Die guten Taten der Heiligen, welche wir in diesen Büchern zu feiern unternommen haben, glänzen heller als der Morgenstern und übertreffen alle Himmelslichter am ganzen sah er sich immer wieder angespornt, ein gesteigertes Bemühen an den Tag zu legen […].“ Implizit ruft der Mantuaner also dazu auf, die Religionsübung zu intensivieren und die Sünde zu meiden, um Wohlstand und Frieden zu erlangen. 59 Zum Gespensterglauben siehe den Hinweis auf des Mantuaners Ekloge 8,123 bei Trümpy (Anm. 31), S. 28. Wo die Himmlischen nicht herrschen, regiert nach neutestamentlicher wie auch mittelalterlicher Vorstellung der Teufel bzw. Dämonen; ein Machtvakuum gibt es nicht. Siehe Angenendt (Anm. 58), S. 151–159. 60 Zu dieser aufzählenden Häufung von Konfliktursachen und -formen siehe etwa Q. Horatius Flaccus: Epistulae 1,2,15: „seditione, dolis, scelere atque libidine et ira“. 61 In der Frühen Neuzeit ist Italien bekanntlich immer noch politisch zerrissen und Austragungsort bewaffneter Konflikte regionaler Mächte sowie zumal Frankreichs, Spaniens und Österreichs. 62 Übersetzung von mir nach dem Text der Ausgabe der Fasti von 1594, S. 78–80 (siehe Anm. 32). 63 Zum betonten Christozentrismus bei Nathan Chytraeus siehe oben. 64 Die lateinische Formulierung „diuina puerpera“ umschreibt den dogmatischen Terminus ‚θεοτοκος‘ bzw. ‚Deipara‘ oder ‚Dei genetrix‘; siehe Denzinger (Anm. 4), Nr. 251 (Konzil von Ephesus 431 n. Chr.) u. weitere Stellen im systematischen Index, sub E 6 ba. 65 Im Druck fälschlich „Iusticianus“ anstatt ‚Iustinianus‘; gemeint ist Kaiser Justinian I., unter dem das Fest verbindlicher Feiertag wurde. Siehe Kleinheyer (Anm. 20), S. 416. 66 Griechisch ‚υπαπαντη‘ (Begegnung, auf Simeon und Hanna in Luk 2 bezogen), mittelalterlich und frühneuzeitlich auch verkürzt transkribiert ‚hypante‘; siehe Charles Fresne Du Cange u. a.: Glossarium mediae et infimae latinitatis. Hg. von Léopold Favre. Niort 1883–1887. Bd. 4, Sp. 272a, s. v. HYPAPANTI und HYPANTE; siehe http://ducange.enc.sorbonne.fr/HYPAPANTI (15.4.2018); Kleinheyer (Anm. 20), S. 415. 67 Siehe Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Leipzig 1854–1961. Bd. 12, Sp. 887, s. v. lichtmesse. Zum Lichtgebrauch bei der Festfeier siehe oben die Beschreibung beim Mantuaner. Die folgende Passage bei Nathan Chytraeus widmet sich der daraus ableitbaren Lichtmetaphorik.
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Himmelszelt. Und doch übertrifft sie deine Herrlichkeit, Christus! Du bist die Sonne der Gerechtigkeit,68 das wahre Licht der Gläubigen. Du erleuchtest die Menschen ohne Beistand der Sonne und Völker ohne wirkliches Licht,69 und rufst sie in das himmlische Reich auf der Höhe. Glücklich war Simeon, dem gewährt wurde, deine Strahlen zu sehen, der mit einem wahren Ausspruch sich (darum) selig nannte und den Knaben umfing mit zitternden Armen und fest an sich drückte mit dem Seufzer: Endlich, nun endlich laß mich, Vater, der ich den Tod ersehne, eingedenk deiner Verheißung aus dem Kampf in den Frieden und zum Ende der Mühen gelangen! Die ich schon längst mit den Augen des Geistes vorhersah – ja sieh doch, die Freuden der (jenseitigen) Welt! – nun sehe ich sie auch mit leiblichen Augen vor mir, o ich Glücklicher, und erlange das Heil, das über Generationen ersehnt wurde! Du aber, du kleiner Knabe,70 dreimal größter71 Schöpfer der Welt und einzige Hoffnung auf himmlisches Leben, – deinetwegen habe ich das Licht ersehnt und das höchste Alter. Du bist die sicherste Hoffnung auf die Erfüllung meines Wunsches und (bist) das ewige Licht, das die Völker aus der Finsternis zurückruft.72 Deiner rühmt sich Israels Jugend, frohlockt und jubelt aus tiefstem Herzen, weil durch dich ihr Wunsch endlich wahr wird.73 Wer bitte, heiliger Greis, befiehlt dir, solche Aussprüche zu machen? Wie nur kannst du derlei wissen? Woran schließlich erkennst du, dass eben dieser Knabe, den eine ärmliche Mutter zum Altar bringt und (der) all den anderen Säuglingen ähnelt, der Heiland der Welt ist, der Grund und Garant74 unserer Rettung? Jene Treue75 ist es gewiss (und jene) himmlische Macht, die nicht achtet, was die Welt andächtig bewundert, (und) mit ungewöhnlichen Worten himmlische Wunder verkündet, ohne sich von ärmlichem Aussehen76 schrecken zu lassen.
68 Siehe Mal 3,20 (bzw. 4,2), in christologischer Auslegung; frühneuzeitlich ein beliebtes Epitheton. 69 Wo Gott ist, bedarf es nach biblischer Vorstellung keiner geschaffenen Lichtquelle; siehe Offb 21,23; 22,5. 70 Siehe die direkte Anrede des verheißungsvollen Knabens am Ende von Vergils 4. Ekloge (Vers 60–63). 71 Latinisierung des in der antiken pagan-griechischen Theologie etwa für den Gott Hermes gebrauchten Epithetons ‚τρισμεγιστος‘; frühneuzeitlich auf Christus, aber auch irdische Herrscher übertragen. Siehe auch Nathans Kennzeichnung Marias als „dreimal größte Mutter“ im Stück zur assumptio am 15. August, hier weiter unten zitiert. 72 Neben Luk 2,30–32 innerhalb der Festperikope siehe Jes 9,2. 73 Siehe Luk 2,32. 74 Zum Verdienst Christi siehe die Confessio Augustana von 1530, Artikel 2: Von der Erbsünde, a. E. In: Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Hg. im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930. 12. Aufl. Göttingen 1998, S. 53. 75 Gemeint ist die biblische Vorstellung von Gottes Bundestreue, siehe etwa Ex 34,6; Klgl 3,23; Luk 1,72; zum neutestamentlichen Bund im Abendmahl siehe Matth 26,28; Mark 14,24; Luk 22,20. 76 Siehe Luk 1,48.
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Als er (Simeon) nun dies zum Knaben gesagt hatte, (sprach er) alsbald zur Mutter das Folgende:77 O, wem soll ich dich, du Jungfrau, vergleichen? Wen könnte ich ebenso loben wie dich? Du hast in deinem Leib den König gehegt, den Urheber unseres Heiles. Von diesem Knaben angeführt werden die Sterblichen vom Tode auferstehen und das ewige Leben als unverdienten Lohn78 erhalten. Doch wird andererseits seine unansehnliche Gestalt79 zahllose Menschen veranlassen, die Gaben dieses armen und geringen Knaben zu verachten. Die Aufgeblasenen! Leute gibt es, die von ihrer eingebildeten Klugheit in den Abgrund gestürzt werden! So werden (wiederum) anderen (nur) die eigenen Werke gefallen. Dass aber Christus diese Werke verschmäht und gründlich tadelt, wird sie kränken, und sie werden es nicht ertragen können. Dergestalt werden ihre geheimsten Absichten und hochmütigen Gedanken klar am Tage liegen. Ja, es ist doch bezeichnend, dass die Gottverachtung80 gerade hiergegen ihre Waffen einsetzen wird: Die Häretiker werden geradezu das Gegenteil dessen ersinnen, was Christus gesagt hat; die Sophisten werden mit Hinterhalten und Lügen dagegen arbeiten, oft auch Könige und blutdürstige Tyrannen. Hiergegen richten sie alle Geisteskräfte wie auch rohe körperliche Gewalt, auf dass die Stimme Christi zum Schweigen gebracht werde auf dem ganzen Erdkreis. Sobald dies dann die Kirche sehen wird, wird sie ihr Haupt in Trauer bedecken und durch ein grausames Schwert eine Wunde unter ihrem Herzen empfangen. Eben dies hat Simeon angekündigt. Doch warum wollte Gott, dass die Mütter bald nach dem aufregenden Ereignis der Niederkunft für unrein und verächtlich angesehen werden? Und dass man diese Unreinheit erst nach einer gesetzlichen Frist von vierzig Tagen und nach einem Reinigungszeremoniell für beseitigt hält? Der Grund ist der folgende:81 Jeder Mensch ist bei seiner Geburt gezeichnet vom Sündenfall (der Stammeltern) und ist mit einem Makel behaftet, wenn er zu atmen beginnt. Seinen Geist verdunkelt blinde Unwissenheit. Im Herzen tragen die Menschen Groll und stets gieren sie in ihrem verkehrten Streben nach eben den Dingen, die Gottes Gesetz widersprechen. Ohne sich um das gerechte Urteil und die Strafe zu kümmern, stürmen sie eben dahin, wohin sie die blinde Begierde leitet. So sind sie unrein und verbreiten Gestank in einem schmutzigen Abgrund. Nichts könnte schmutziger sein als solch ein Mensch und nichts schändlicher!
77 Während der Mantuaner die Festbeschreibung durch die Schilderung gegenwärtiger volkstümlicher Bräuche und Missbräuche belebt und die Missbräuche als Anzeichen einer ernsten kulturellen und politischen Krisenlage beklagt, geht es Chytraeus um ein sorgfältig ausbalanciertes Herren- und Marienlob. Das Marienlob beginnt hier, und die gesuchte Balance zeigt sich schon bei einem Blick auf die Darstellungsökonomie: Die in etwa gleiche Textmenge wird einmal für die Anrede des Sohnes (siehe Anm. 71 zu demselben Stilmittel bei Chytraeus) und nun seiner Mutter (siehe Luk 2,34) aufgewendet. 78 Siehe Röm 3,24; 6,23; Confessio (Anm. 74), Artikel 4, S. 56. 79 Siehe Jes 52,14; 53,2, beide Stellen christologisch gedeutet. 80 In der Vorlage steht „Impietas“. 81 Die Rolle der Festätiologie übernimmt bei Nathan Chytraeus die protestantische Erbsündenlehre. Siehe noch einmal den Anm. 74 genannten Artikel der Confessio Augustana; ferner zu Nathans Auseinandersetzung mit der Flazianischen Erbsündenlehre bei Gruhl (Anm. 32), S. 401 f.
Die Präsenz der Gottesmutter in ausgewählten Kalenderbearbeitungen
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2. Textvergleich Das Festum assumptionis (15. August) bei Baptista Mantuanus82 Schon kommt wieder herbei die Erntezeit und die Traube lastet an hängenden Reben. Unter ihrem Gewicht schwanken die Stützen und Pfähle. Die Kelter, die Kufen und die großen Fässer setzt man in Stand. Das Eschenholz fügt sich zu Reifen. Allerorten dröhnen die Keller von Hammerschlägen. Diese Arbeiten hält an der 15. Tag, ein Festtag: Mengen von Menschen eilen zu einem kirchlichen Hochfest, das die Priesterschaft heute mit großem Gepränge begeht. Das ist der Tag, an dem Christus seine Mutter in den Himmel emporgeführt hat samt all ihren Leibesgliedern.83 Das zu glauben ist gottgefällig. Denn es gab keinen irdischen Ort, an dem es recht gewesen wäre, jenen Leib zu begraben, der den höchsten Gott geboren hatte. Alle Heiligen hatten Christus immer wieder darum gebeten, nicht zuzulassen, dass jener überaus heilige Leib in scheußliche Asche zerfalle, der Leib, in welchem Christus einst – wie ein Bach in einem Fluss – seine (irdische) Laufbahn begann. Im Anfang wollte Gott für die Mutter (Maria) unsterbliche Glieder erschaffen, doch die Natur riet ihm davon ab, weil Unsterblichkeit allein Himmelskörpern zukäme, sind sie doch einfache Wesenheiten und nicht aus mehreren Teilen durch eine Zusammenkunft und -fügung entstanden. ‚Sterblich seien also ihre Glieder‘, sprach der Schöpfer sodann, ‚die Gnade möge helfen und dem Körper (Marias) nach ihrem Tod erneut Leben einflößen, und möge ihn lebendig in den Himmel emporheben, und dann soll er mit mir vereint an meiner Seite thronen.‘ Niemals gab es ein vergleichbares Werk auf Erden, noch wird es ein solches künftig geben, weder in vergangenen noch künftigen Zeiten. Diese Frau ist für uns ein himmlisches Wunder, das wir nicht vorhersehen konnten und das die Erd- und die Himmelsbewohner gleichermaßen (vor Staunen) verstummen läßt: Eine Gebärerin des Sohnes, zugleich Tochter, Mutter und Jungfrau, von keinem Manne erkannt – widersprüchlich sind diese Benennungen, dem Anschein nach jenen Ungereimtheiten84 gleich, welche die Sphinx
82 Übersetzung von mir nach dem Text der Ausgabe der Fasti von 1518 (siehe Anm. 31). Siehe zur Schilderung der Begleitumstände einer Weinlese Trümpy (Anm. 31), S. 91: „Das Hämmern bezieht sich auf das Anpassen der Fassreifen; dass diese Reifen aus Holz (starken Zweigen) bestehen, bestätigen bildliche Zeugnisse für Oberitalien seit dem Altertum […].“ Siehe mehr bei Ingrid Tamerl: Das Holzfass in der römischen Antike. Innsbruck u. a. 2010, bes. S. 24–27. 83 Nach der in höchstlehramtlichen Dokumenten spätestens seit 1169 nachweisbaren katholischen Glaubenslehre blieb der Gottesmutter Maria nicht nur der Schmerz beim Gebären, ihr blieb auch das leibliche Verwesen erspart und sie wurde unmittelbar in den Himmel aufgenommen um ihrer besonderen Stellung willen. Siehe Denzinger (Anm. 4), Nr. 748 und 3903, weitere Stellen im syst. Index, sub E 6 ea. Der Mantuaner malt hier zusätzlich die fromme Vorstellung aus, dass alle um dieses Privileg für Maria gebeten hätten. 84 Lateinisch „paradoxa“.
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Ödipus vorlegte. Dennoch ist hier kein Wahrsager nötig: Ganz so, wie es die Worte beschreiben, hat es die Allmacht des Vaters vollbracht. Maria aber war nicht von der Schande betroffen, die (uns übrigen Menschen) der Wahnsinn Adams einbrachte: Sie allein wandelte durch den menschlichen Schmutz, ohne selbst beschmutzt zu werden,85 gleichwie das hehre Licht ohne Einbuße (selbst) über die unreinen86 Körper gleitet, wenn die Sonne mit ihrem strahlenden Antlitz die Erde beschaut. Sobald der Geist (Marias) der (irdischen) Glieder ledig geworden war,87 stand bei ihm Michael und der Chor unzähliger Heiliger […].
Das Festum assumptionis (15. August) bei Nathan Chytraeus88 Gewisse Leute berichten für den 15. Tag den Aufstieg der Mutter Maria zu den Sternen und mischen dabei dem wahren Sachverhalt viele Fabeleien bei, wenn ein leichtfertig daherredender Aberglaube neue heilige Grasbüschel und Zweige erschafft – lächerliche Dinge, die heiligen Gesängen nicht würdig sind. Dass aber dich, jungfräuliche Mutter, (jetzt) der goldene Himmelstempel umschließt, wer wird es bezweifeln wollen? Auch wenn er nicht weiß, wann genau und mit was für einem Geleit und an welchem Tag du dorthin gelangt bist!89
85 Nur wenige Jahre vor der Abfassung der Fasti hatte Papst Sixtus IV. in der Konstitution „Cum praeexcelsa“ vom 27. Februar 1477 sich zu einem, die unbefleckte Empfängnis (Immaculata conceptio) feiernden Marien-Offizium zustimmend geäußert: Maria wäre in ihrer Mutterschaft eine unbefleckte Jungfrau („immaculata Virgo“) geblieben und ihrerseits aus einer wunderbaren Empfängnis („mira conceptio“) hervorgegangen. Mit „mira conceptio“ bleibt aber noch Raum für abweichende Meinungen, die die völlige Freiheit Marias von Erb- und Aktualsünde bezweifeln oder gar ablehnen. Mit seiner Formulierung sowie dem folgenden Lichtgleichnis stellt sich der Mantuaner hier auf die Seite der Befürworter einer Immaculata conceptio. Siehe Denzinger (Anm. 4), Nr. 1400, ferner v. a. 2803 f., weitere Stellen im systematischen Index, sub E 6 cc. Auf die Seite der Gegner werden sich dann die protestantischen Theologen des sechzehnten Jahrhunderts schlagen (zu Nathan Chytraeus siehe unten Anm. 93). 86 Gemeint sind wohl die Verfall und Verwesung ausgesetzten irdischen Körper. 87 Geist bzw. Seele und Leib bleiben nach christlicher Lehre bis zur Auferstehung am Jüngsten Tag getrennt. 88 Übersetzung von mir nach dem Text der Ausgabe der Fasti von 1594, S. 384 f. (siehe Anm. 32). 89 Zur in der Kalenderdichtung programmatisch betonten Kritik an Fabeleien siehe hier weiter oben. Zum Gras siehe Hildebrand (Anm. 30), S. 105 (Übersetzung von mir): „Es pflegen ferner die Anhänger des Papstes an diesem Festtag Bündel von Gräsern zur Kirche zu bringen, um sie weihen zu lassen: Man glaubt (nämlich), so hätten sie, wenn man sie dann als Räucherwerk verwendet, die Kraft, den Teufel fernzuhalten, ebenso Anschläge mit Gift oder Blitzschläge.“ Einen Überblick über die verschiedenen, frühneuzeitlich diskutierten Meinungen zum Tod Marias siehe ebd., S. 103 f., einschließlich der Frage, wo Marias Leib verblieben sei, ob in einem Grab oder an einem himmlischen Ort. Die Formulierung bei Nathan Chytraeus weist eher auf letztere Meinung als die seinige hin.
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Von klein auf hat dich der himmlische Vater geliebt als sein Geschöpf, für königliche Würden bestimmt, entsprossen dem Geschlechte Davids, von schöner Gestalt und verehrungswürdigem Auge und Antlitz. Selbst in Kleinigkeiten schöner als alle anderen Mädchen, nicht durch Goldschmuck oder Perlen, sondern durch deine Frömmigkeit, deinen Glauben, deine Fürbitten und deine Keuschheit. So also ausgezeichnet stickst du nun mit rascher Nadel das Tuch oder durcheilst mit hell tönendem Kamm das Gewebe, während du die göttlichen Worte der heiligen Väter ernstlich betrachtest und gläubig herbeiwünschst, dass endlich der Himmel sich auftut und der verheißene Held herabsteigt – obwohl du zu diesem Zeitpunkt doch noch nichts ahntest von der Ehre, die dabei dir zuteilwerden sollte, dass du allein nämlich erwählt wärest unter vielen Tausenden, du, die von keinem Manne erkannt worden ist, doch erfüllt von der Gottheit eben jenen in deinem Leib empfangen würdest, den nicht einmal das gewaltige Himmelsgebäude fassen könnte, und du zuerst als dreimal größte90 Mutter unter den Müttern der leidenden Menschheit Freude bereiten würdest durch eine außergewöhnliche Geburt und (so) die Sünde der ersten Mutter (Eva) sühnen würdest: Jene hat der Menschheit Tränen gebracht, du hingegen eine Freudenbotschaft. Jene hat der Menschheit eine Strafe eingehandelt, du bringst hingegen eine Gunstbezeigung. Jene verschloss den Himmel, du öffnest die Himmelstür durch die Verdienste deines Einziggeborenen,91 den du allein – und darin glücklicher als alle92 – gesäugt hast und ihm die ersten Liebkosungen gegeben hast. Dich machen deine Liebe zur Frömmigkeit und zum heiligmäßigen Leben, dich machen deine Glut des Glaubens und dein Ruf der Keuschheit zu einem nachahmenswerten Vorbild im Kreis all deiner Schwestern für die ganze Welt, zumal für die Frauen. Dein Lob zu singen und in einem Lied zu beschreiben, ist sowohl erlaubt wie geziemend, insofern du ein Leben ohne Fehl gelebt hast. Diese Art der Verehrung ist dir hochwillkommen; weitere Ehrungen verlangst du nicht. Vielmehr bestürmst du deinen Sohn mit frommen Fürbitten für uns und befiehlst uns höchstselbst, dass allein nur ihm wir gläubig anhängen. Hingegen gänzlich verhasst sind dir Statuen, kleine Kapellen, Gemälde, Gelübde, Lobgesang und zierliche Kränze. Du bist dir nämlich stets bewusst, dass wir durch die Wunden deines Sohnes das Leben wiedererlangt haben. Von eigenen Verdiensten weißt du dagegen nichts.93
90 Zu diesem Attribut siehe oben Anm. 71. 91 Zum Verdienst Christi siehe oben Anm. 74. 92 Siehe Luk 1,42 sowie das daran anknüpfende Mariengebet „Ave Maria“. 93 Für den Protestanten Nathan Chytraeus bleibt den Heiligen, und mit ihnen auch Maria, die Funktion von Vorbildern für die religiöse und ethische Praxis aller Christgläubigen. Darüber hinaus gesteht er Maria die Funktion einer Fürbitterin zu, ausdrücklich nicht jedoch eine irgendwie noch darüber hinausgehende Stellung, etwa eine die alleinige Erlöserschaft Christi schmälernde, auf eigenen Verdiensten beruhende Miterlöserschaft, die sich in katholischen Gebräuchen manifestiere. Dazu passt Nathans betonter Christozentrismus, von dem hier weiter oben bereits die Rede war. Dass er Maria als Vorbild hinstellt „ohne Fehl“, dürfte nach dem Kontext keine Befürwortung einer Immaculata conceptio implizieren; siehe dazu oben Anm. 85.
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Mariologische Konfliktgespräche Johannes Caesars Kritik an der römischen Mariologie in seiner Schrift Mariolatria (1613) Der Traktat über die Marienverehrung des in Thüringen wirkenden lutherischen Pfarrers Johannes Caesar erschien erstmals 1611 in Coburg bei Caspar Bertsch.1 Sein vollständiger Titel lautet: Mariolatria, Das ist: Christlicher vnd heylsamer Vnterricht/ von der Abgöttischen/ Abergläubischen/ Vnd auch rechten GOtt wolgefelligen verehrung/ so beydes in Päpstischen vnd Lutherischen Kirchen mit der heiligen Jungfrawen Marien gehalten/ getrieben/ vnd noch ernstlich verthädigt wird. 1613 produzierte Nicolaus Schmuck2 in Erfurt eine zweite Auflage;3 vermutlich betraute Caesar Schmuck mit der Herstellung, weil er inzwischen aus dem fränkischen Junkersdorf in den Erfurter Kontext umgezogen war. Wie Caesar zu erkennen gibt, ging die Schrift aus einer tatsächlich gehaltenen Predigt auf das Fest der Heimsuchung Mariä über Lk 1,48 hervor, die er für den Druck stark erweiterte.4 Über den Autor ist wenig bekannt. Er stammte aus Reisdorf in Thüringen, heute ein Ortsteil Bad Sulzas. Nach dem Studium in Jena, wo er sich im Jahr 1600 immatrikuliert hatte,5 war er zunächst Pfarrer im fränkischen Junkersdorf, wechselte dann in das nördlich von Erfurt gelegene Rietnordhausen; 1619 berief ihn die Gemeinde im gut 50 km nord-östlich von Erfurt befindlichen Oldisleben. Zu diesem Anlass veröffentlichten Freunde eine Ehrenschrift mit lateinischen Gedich-
1 Zu Bertsch vgl. Josef Benzing: Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet. 2. Auflage. Wiesbaden 1982 (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 12), S. 73 f.; Christoph Reske: Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet. Auf der Grundlage des gleichnamigen Werkes von Josef Benzing. Wiesbaden 2007 (Beiträge zum Buchund Bibliothekswesen 51), S. 140 f. 2 Zu Schmuck vgl. Benzing (Anm. 1), S. 113; Reske (Anm. 1), S. 211. 3 Alle Nachweise im vorliegenden Aufsatz beziehen sich auf die zweite Auflage des Werkes: MARIOLATRIA, Das ist: Christlicher vnd heilsamer Vnterricht/ von der Abgöttischen/ Abergläubischen/ vnd auch rechten GOtt wolgefälligen Verehrung/ so beydes in Päpstischen vnd Lutherischen Kirchen mit der heiligen Jungfrawen Marien gehalten/ getrieben/ vnd noch ernstlich verthädigt wird. Erstlich zwar kürtzlich gepredigt/ hernach aber auff guthertziger Christen begehren vnd anhalten/ reichlich vermehret/ vnd zum öffentlichen Druck verfertiget. […]. Erfurt: Bertsch 1613. 4 Caesar (Anm. 3), Bl. C4v, zum Anlass vgl. ebd., Bl. D2r. 5 Vgl. die Matrikel der Universität Jena. Bd. 1. Bearbeitet von Georg Mentz. Jena 1944 (Veröffentlichungen der Thüringischen Historischen Kommission I), S. 43. https://doi.org/10.1515/9783110665109-005
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ten.6 Hinweise auf weitere Ämter oder Dienstorte fehlen, Geburts- und Sterbedaten konnten nicht ermittelt werden. Neben der Mariolatria erschienen zwei Disputationen im Druck, die mit der Jenaer Studienzeit in Verbindung stehen.7 Ein weiteres von Caesar verfasstes theologisches Werk, auf das der Autor in der Mariolatria Bezug nimmt, konnte bislang nicht nachgewiesen werden.8 Caesar widmete den Traktat seiner sächsischen Landesherrin, der verwitweten Fürstin Dorothea Maria von Sachsen-Weimar, geborene von Anhalt und ihren Söhnen. In der Vorrede stellte er gleichfalls eine Verbindung her zu dem Weimarer Generalsuperintendenten Abraham Lange (gest. 1615),9 dem Beichtvater der Fürstin, den er dankbar als seinen Förderer anspricht. Ihm zu Ehren fügte er der Widmungsvorrede ein akrostisches Gedicht auf den Namen Langes in lateinischer Sprache an. Mit der Dedikation wollte Caesar zunächst der Fürstin seinen Dank für ein vom Fürstenhaus gewährtes Stipendium samt Freitisch aussprechen, das es ihm ermöglicht hatte, in Jena zu studieren.10 Ein weiteres, wahrscheinlich wichtigeres Anliegen aber war es, die Fürstin, die er als Liebhaberin der Heiligen Schrift und als Beschützerin des Predigtamtes rühmt,11 und eben auch Lange auf die besonderen Umstände sowie auf die Bedeutung seiner Arbeit als Pfarrer hinzuweisen. Denn Caesar betrachtete sich als Seelsorger einer lutherischen Minderheit inmitten eines dominanten katholischen Umfeldes. Mit seinem gelehrten, aus einer Vielzahl von Quellen schöpfenden Traktat wollte er Rechenschaft darüber ablegen, „wie ich jhre Vnterthanen/ so mitten vnter dem Abergläubischen vnd Abgöttischen Bapsthumb wohnen/ vnd jhre abschewliche Grewel der verwüstung neben mir täglich hören vnd anschawen/ lehre/ vnd für Päpstischen Sawerteig geburender weiß trewlich warne.“12 Das offensichtliche Bestreben Caesars, sich bei den angesprochenen Personen zu profilieren, wird auch in der Erwähnung
6 Die im November 1619 gedruckte Schrift trägt den Titel: Prosphonesis, Ad Reverendum & doctissimum Virum, Dn. Iohannem Caesarem Reisdorffensem, Ex Ecclesia Rietnorthusana ad ministerium verbi divini in Oldisleb. vocatum & discedentem, […]. Erfurt: Mechler 1619. 7 Die erste Disputation ist Teil einer Sammlung von Disputationen, die unter Johann Gottwald durchgeführt wurden, diejenige Caesars steht an zweiter Stelle. Johann Gottwald: Qvaestionvm Illvstrivm Logicarum. Jena: Richtzenhan 1601. Caesars zweite Disputation stand ebenfalls unter der Leitung Gottwalds, sie ist enthalten in der Sammlung: Dispvtationvm Ethicarvm Decima De Ivstitiae Particvlaris speciebus. Jena: Steinmann 1602. 8 Caesar nennt als Titel ‚Speculum Christianorum verbalium ac realium‘ und fügt an, das Buch sei zwei Jahre zuvor publiziert worden. Da sich dieselbe Angabe im Erstdruck der Mariolatria findet, muss das Jahr 1609 gemeint sein. 9 Zu Abraham Lange vgl. Bernhard Pünjer: Art. Lange, Abraham. In: ADB 17 (1883), S. 620. 10 Vgl. Caesar (Anm. 3), Vorrede, Bl. B4r–B4v. 11 Vgl. ebd., Bl. B4r. 12 Ebd., Bl. C1r.
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weiterer, aus seinem familiären Netzwerk stammender Personen sichtbar, die in Jena und Weimar kirchliche wie schulische Leitungsfunktionen wahrgenommen hatten.13 Auf die Widmungsvorrede folgt eine knapp gehaltene Vorrede Johann Gerhards, in der er das Vorhaben Caesars inhaltlich stützt und den Lesern die Lektüre empfiehlt. Gerhard, der 1615 die Coburger Superintendentur übernehmen und 1616 dann als Professor an die Universität Jena berufen werden sollte, war zu diesem Zeitpunkt Superintendent in Heldburg, er wirkte also wie zunächst auch Caesar im Süden Thüringens. Als Autor von Erbauungsschriften und theologischer Fachliteratur war Gerhard über die Grenzen Thüringens hinaus bekannt geworden.14 Ein Exemplar der Erstauflage der Mariolatria befand sich in Gerhards Besitz, es gehört noch heute zum Bestand der in Gotha aufbewahrten und rekonstruierten Bibliotheca Gerhardina.15 Mit seinem umfangreichen Traktat zielte Caesar zum einen darauf, positiv die an Martin Luther anknüpfende Wertschätzung Marias darzulegen und die lutherische Sichtweise als rechte gottgefällige Marienfrömmigkeit zu erweisen. In diesem Zusammenhang erinnerte er potentielle katholische Kritiker an den in seinen Augen keineswegs geringen Stellenwert der Gottesmutter innerhalb der lutherischen Theologie.16 Zum anderen war es sein Bestreben, bestimmte Ausprägungen katholischer Marienfrömmigkeit in dogmatischer wie auch in seelsorglicher Hinsicht fundamental zu kritisieren und sie letztlich als unchristlich zu überführen. Diesem Anliegen widmete er sich weitaus umfänglicher als dem ersten. Neben genuin mariologischen Themen verhandelte Caesar auch angrenzende fundamentaltheologische Inhalte, in denen ein konfessioneller Dissens besteht, etwa die katholische Bewertung der kirchlichen Tradition neben der
13 Vgl. ebd., Bl. B4v–C1r. 14 Vgl. Johann Anselm Steiger: Art. Gerhard, Johann. In: Frühe Neuzeit in Deutschland 1520–1620. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon 2 (2012), Sp. 557–571. 15 Vgl. Louisa-Dorothea Gehrke, Sascha Salatowsky: Gegen die katholische Marienverehrung. In: Im Kampf um die Seelen. Glauben im Thüringen der Frühen Neuzeit. Katalog zur Ausstellung der Forschungsbibliothek Gotha der Universität Erfurt vom 30. April bis 9. Juli 2017. Hg. von Sascha Salatowsky. Gotha 2017, S. 255. Das Buch wird in der FB Gotha aufbewahrt unter der Signatur: Theol 8° 00321/16 (05). Vgl. Bibliotheca Gerhardina. Rekonstruktion der Gelehrten- und Leihbibliothek Johann Gerhards (1582–1637) und seines Sohnes Johann Ernst Gerhard (1621–1668). Hg. von Johann Anselm Steiger. Bearbeitet von Alexander Bitzel u. a. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002 (Doctrina et Pietas I,11), Teilbd. 1, S. 54, Teilbd. 2, S. 616. 16 „Daß Maria/ wie andere Heiligen alle/ so in Christo Jesu entschlaffen/ vnd bey dem HErrn seyn/ zu ehren/ vnd jhr auffs aller Christlichste zu gedencken/ gestehen wir den Papisten nicht allein/ sondern thun es auch mit höchstem Ernst vnd Fleiß in vnsern Kirchen.“ Caesar (Anm. 3), Bl. X4v.
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Schrift, die Rechtfertigungslehre, aber auch den Zölibat und die katholische Auffassung monastischer Gelübde. Caesars Schrift kann demnach als ein Beispiel negativer Interkonfessionalität im frühneuzeitlichen Luthertum am Beginn des siebzehnten Jahrhunderts gelesen werden.
1 Caesars Schrift im interkonfessionellen Konfliktgespräch Caesar sah sich in einem konfessionell umstrittenen Raum agieren, der hauptsächlich bikonfessionell geprägt war. Seinen Schilderungen ist zu entnehmen, dass er die lutherische Kirche als eine von katholischer Seite her angefochtene Kirche betrachtete, die er durch seine Schrift im rechten Glauben zu unterweisen und in seelsorglicher Hinsicht zu stützen gedachte. Ihr konnte es laut Caesar auferlegt sein, auch gegen die Maßgabe der Obrigkeit am rechten Bekenntnis festzuhalten.17 In seinen Augen waren lutherische Christen umgeben von katholischen Einflussnahmen, Caesar wandte sich daher insbesondere gegen die seiner Ansicht nach irrige Meinung, ein Mensch könne in beiden Konfessionen gleichermaßen selig werden. […] vnd weil wir mit den Papisten auff allen seyten/ hinder vnd vor vns/ zur rechten vnd zur lincken seyten zu nechst vmbgeben: Darumb wol wehrens vnd warnens zeit vnd noht sein wil/ sintemal auß jhrer beywohnung einfeltige Christen leichtlich entweder gar zum Abfall gebracht/ oder doch nur stützig gemacht werden können/ wie der Prophet David sagt: Sie seind vermischt vnter die Völcker/ vnd haben jhre Werck gelernet: Vnd mit Paulo wol ich sagen möchte/ sie sind fleissig/ vnd widerstehen der Warheit/ vnd sind viel Widerwertiger da/ ja viel/ entweder auß vnwissenheit/ oder verblendung/ auch wol mit willen/ vber laut vnd vngeschewet sich hören lassen/ es sey kein oder doch gar ein geringer vnterscheyd/ zwischen den Papisten vnd vnser Lehre/ oder wie auch viel die Leute wollen bereden/ weil wir alle einen GOtt haben/ so könne man auch zu beyden theilen selig werden/ etc. vnd suchen also mit solchem falschen vnd bodenlosen vorgeben jren grossen vortheil/ aber dein vnnd der seligmachenden Warheit groß verderben vnd schaden.18
17 Vgl. ebd., Bl. S3r–S3v. Caesar nimmt hier explizit Bezug auf Martin Luthers Schrift: Von weltlicher Oberkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei. (1523) WA 11, S. 229–281. Er entfaltet unter Hinzuziehung mehrerer biblischer Belegstellen das letztlich auf die Zwei-Reiche-Lehre gründende Argument Luthers, die Gewalt weltlicher Obrigkeiten erstrecke sich auf „Leib vnd Leben/ Hab vnd Gut“, nicht aber auf den Glauben. Daher sei es laut Caesar ein „vnchristlicher vnd vngöttlicher Gehorsam“, der Obrigkeit in geistlichen Dingen zu folgen, ihr zu widerstehen jedoch „heiliger vnd nothwendiger Vngehorsam“. Vgl. Caesar (Anm. 3), Bl. S3v. 18 Ebd., Bl. D4v–E1r.
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Caesars Einschätzung der interkonfessionellen Situation kann zum einen mit den Gegebenheiten im fränkischen Junkersdorf in Zusammenhang gebracht werden, wo Caesar Pfarrer war. In der Vorrede zur Mariolatria schilderte er, seine Wahrnehmung belegend, wie er 1605 während eines Besuchs im benachbarten Haßfurt von einem Katholiken gewaltsam zur Verehrung eines Marienbildes gedrängt werden sollte.19 Zudem griff er eine von Sebastian Flasch verfasste, mehrfach aufgelegte antilutherische Schrift auf, die in Franken verbreitet worden war.20 Hierin erläuterte Flasch, ein in Ingolstadt wirkender Jesuit,21 zweiundzwanzig Gründe für seine Konversion zum katholischen Glauben und warf der lutherischen Partei vor, katholische Glaubenshinhalte in ihren Darstellungen bewusst zu verfälschen.22 Caesars Wahrnehmung, von Katholiken umgeben zu sein, entspricht jedoch auch der Situation in Erfurt. Hier erfuhr Caesars Schrift eine zweite Auflage, zudem waren seine nachfolgenden Dienstorte Rietnordhausen und Oldisleben nicht allzu weit entfernt. Sowohl die Erfurter Stadtöffentlichkeit als auch die Universität waren bikonfessionell geprägt. Eine wichtige historische Wegmarke der konfessionellen Entwicklung war zunächst die Unterzeichnung des Hammelburger Vertrages im Jahr 1530 gewesen, der nach turbulenten Auseinandersetzungen um theologische Fragestellungen und als Ergebnis von schwierigen Verhandlungen für ein geordnetes Miteinander von Katholiken und Anhängern der Reformation sorgte. Durch den Hammelburger Vertrag wurden die im Zuge der Reformation eingeführten städtischen und religiösen Neuerungen auf eine staatsrechtliche Grundlage gestellt.23 Nach dem Augsburger Religionsfrieden (1555) strebte der Magistrat eine konsequente protestantische Ausrichtung der Stadt an. Der reformatorische Einfluss wurde auch in der Universität spürbar, wo, abgesehen von der katholisch bleibenden theologischen Fakultät, mehr und mehr evangelische Dekane gewählt
19 Vgl. ebd., Vorrede, Bl. B2r–B2v. 20 Vgl. ebd., Bl. B2v–B3r. 21 Vgl. Art. Flasch, Sebastian. In: Christian Gottlieb Jöcher: Allgemeines Gelehrten-Lexicon 2 (1750/1961), Sp. 633. 22 Vgl. Catholische Bekantnuß Deß Wolgelehrten vnd Fürnehmen M. Sebastiani Flaschii von Manßfeldt/ inn welcher er zwey vnd zwaintzig Vrsachen/ warumb er die Lutherische Ketzerey/ darinnen er geboren/ vnnd von Jugendt aufferzogen/ endtlich verlassen habe […]. Grätz 1606 (Erstdruck: Ingolstadt 1576). 23 Vgl. Almuth Märker: Geschichte der Universität Erfurt 1392–1816. Weimar 1993 (Schriften des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt I), S. 59; Sebastian Holzbrecher: Kampf um die Seelen? Zum Einfluss des Jesuitenordens auf die bikonfessionellen Verhältnisse in der Stadt Erfurt (1560–1664). In: Im Kampf um die Seelen (Anm. 15), S. 17–25, hier S. 17; Peter Blickle: Die Reformation in Stadt und Landschaft Erfurt. Ein paradigmatischer Fall. In: Erfurt Geschichte und Gegenwart. Hg. von Ulman Weiß. Weimar 1995 (Schriften des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt II), S. 253–273, hier S. 257.
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wurden. Mit Pancratius Helbig amtierte ab 1563 erstmals ein Lutheraner als Rektor. Ab 1561 bemühte sich der Geheime Rat um die Einrichtung eines Akademischen Gymnasiums, das als Propädeutikum der Universität fungieren sollte. Es nahm seine Arbeit nach einer schwierigen Verhandlungsphase 1582 auf,24 erster Rektor wurde der aus Wittenberg stammende Paul Dummerich. Nachdem sich zehn wohlhabende Bürger 1566 als Stifter betätigt hatten, konnten an der Universität eine Professur für evangelische Theologie sowie eine Professur für Hebräisch eingerichtet werden. Die bikonfessionelle Ausrichtung der Erfurter Universität war ein Novum im Reich.25 Zwar agierte die städtische Obrigkeit im Sinne des Luthertums, katholische Kräfte strebten jedoch danach, ihren Einflussbereich zu erweitern. 1585 hatten sich Jesuiten in Erfurt niedergelassen und bauten ihren Standort mit der Zeit personell aus: Nach der Gründung einer Mission, der kleinsten Organisationsform einer Ansiedlung des Ordens, folgte 1601 eine Residenz, 1618 eröffnete das Jesuitenkolleg.26 Bereits 1611 war eine Elementarschule gegründet worden, an der auch Kinder aus evangelischen Familien unterrichtet wurden. Ab 1627 nahm eine Mädchenschule den Unterricht auf.27 Den jesuitischen Aktivitäten begegneten der Erfurter Rat und auch die Landesherren mit Misstrauen, 1589 und 1633 waren die Jesuiten gewaltsam aus der Stadt vertrieben worden, 1609 scheiterte ein Versuch, den Orden der Stadt zu verweisen, da sich der Mainzer Erzbischof gegenüber dem albertinischen Kurfürst Christian II. sowie den ernestinischen Fürsten Johann Casimir und Johann Ernst, die als gemeinsame Schutzherren Erfurts für eine Vertreibung eingetreten waren, auf den Augsburger Religionsfrieden berief.28 Den Bestrebungen des Rates, die Stadt im Sinne der Reformation zu gestalten, wurden seit dem Ende des sechzehnten Jahrhunderts auch in anderen Belangen deutliche Grenzen gesetzt.29 Caesars antikatholische Kritik ist erwartungsgemäß eher global formuliert, er zeigt sich kaum bemüht um eine innerkatholische Binnendifferenzierung, es sei denn, dass er Teile der katholischen Tradition, etwa Aussagen von Kirchenvätern, für seine Argumentation nutzen kann. In polemischer Absicht stellt er hier die katholische Lehrtradition als Ergebnis des Bemühens dar, die Zeugnisse der
24 Vgl. Wolfgang Breul: Johann Arndt und die konfessionelle Entwicklung Anhalts. In: Frömmigkeit oder Theologie. Johann Arndt und die „Vier Bücher vom wahren Christentum“. Hg. von Hans Otte, Hans Schneider. Göttingen 2007 (Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens 40), S. 45–68, hier S. 48. 25 Vgl. Märker (Anm. 23), S. 61. 26 Vgl. Holzbrecher (Anm. 23), S. 20. 27 Vgl. ebd., S. 23 28 Vgl. ebd., S. 20. 29 Vgl. Märker (Anm. 23), S. 62 f.
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Väter nach eigenem Belieben anzunehmen oder abzulehnen und sie sich so als „Advocaten einer bösen Sachen“ dienlich zu machen.30 Einen innerkatholischen Dissens zwischen Franziskanern und Dominikanern, der laut Caesar hinsichtlich der Frage bestand, ob Maria durch die Erbsünde befleckt sei, nimmt er ebenfalls nicht mit dem Interesse wahr, die vorgetragenen Inhalte differenzierend zu bewerten.31 Vielmehr markiert er die bestehende Uneinigkeit als einen taktischen Vorteil zu seinen Gunsten im interkonfessionellen Konfliktgespräch.32 In die Richtung einer Binnendifferenzierung weist noch am ehesten Caesars kritische Wahrnehmung jesuitischer Stellungnahmen oder Werke, die ein über die Marienverehrung hinausweisendes Themenspektrum betreffen. Beispielsweise moniert Caesar, während er umfänglich einen missbräuchlichen Umgang mit Marienbildern schildert, den in seinen Augen übertriebenen Einsatz von Bildern durch Jesuiten, denn Christus habe das Amt der Predigt nicht den Bildern, sondern seinen Dienern aufgetragen. Im Unterschied zur hörbaren Verkündigung, deren Bedeutung er nicht zuletzt mit Röm 10,17 begründet, kann ein Bild laut Caesars diesbezüglicher Medienkritik nicht als medium salutis gelten, auch wenn Bilder im Rahmen der Verkündigung äußerst hilfreich eingesetzt werden könnten.33 Caesar kennzeichnet zwar jesuitische Äußerungen häufig als solche, er begreift sie augenscheinlich aber trotzdem als sprechenden Ausdruck der allgemeinen katholischen Position, die er angreifen will. Der erklärten polemischen Zielsetzung seines Traktates entspricht es eher, die Ablehnung katholischer Argumente quellennah darzulegen, als ein differenziertes Bild katholischer Theologie zu zeichnen. Seine Kritik an der katholischen Tradition ergänzte Caesar um polemische Aussagen gegen reformierte Lehrmeinungen. Sie fallen allerdings weniger konkret und detailliert aus als seine antikatholischen Stellungnahmen; eher geht Caesar en passant auf reformierte Theologumena ein, wenn seine Beschäftigung mit katholischen Inhalten entsprechende Felder berührt. Es fällt zudem auf, dass die Mehrzahl der angesprochenen Loci, z. B. der rechte Umgang mit Bildern und die Prädestinationslehre, zu den Standardthemen dieses innerprotestantischen Diskurses gehören. Caesar reagierte nicht direkt auf konkrete, seinem Blickfeld entstammende Äußerungen reformierter Provenienz, er spricht vielmehr in gene-
30 Vgl. Caesar (Anm. 3), Bl. J2r. 31 Vgl. ebd., Bl. J2r–J3r. 32 „Jch aber achte das für das allerbeste vnd sicherste/ man lasse sie zwispaltig vnd vneinig sein vnd bleiben/ wie lang sie wöllen/ vnd sprechen mit vnserm lieben Luthero/ Das gefellet mir wol/ wenn ein Teuffel den andern vexiert/ vnd geheyet/ denn vnter dessen vergessen sie vnser.“ Ebd., Bl. J2v–J3r. 33 Vgl. ebd., Bl. R4r.
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ralisierenden Wendungen von Calvinisten und Sakramentierern,34 nennt einen Calvinischen Geist35 oder auch Calvin selbst36 als Urheber bestimmter Gedanken. Durchgehend führt er Calvins Institutio an, um Sachverhalte zu belegen. Als reformierte Ansprechpartner hätte Caesar Personen oder Diskurse namhaft machen können, die mit der konfessionellen Orientierung Anhalts in Verbindung stehen. Hier hatte sich Johann Georg ab 1586 gemeinsam mit seinen Brüdern für eine konsequente Durchsetzung des reformierten Bekenntnisses eingesetzt,37 nachdem Joachim Ernst verstorben war. Joachim Ernst hatte zwar die Unterschrift unter die Konkordienformel verweigert, er war jedoch insgesamt für eine vermittelnde Position im Sinne Melanchthons eingetreten.38 Es ist denkbar, dass Caesar nicht direkt auf die Religionspolitik Anhalts einging, um seine aus Anhalt stammende Landesherrin Dorothea Maria, eine Tochter Joachim Ernsts, der er die Mariolatria gewidmet hatte, nicht zu kränken. Zudem ist mit Blick auf die konfessionelle Haltung Dorothea Marias wahrscheinlich, dass sie sich zwar im Luthertum beheimatet wusste,39 der reformierten Tradition aber offen begegnete. Zumindest wählte sie Friedrich Hortleder (1579–1640) als Präzeptor für ihre beiden ältesten Söhne Johann Ernst und Friedrich aus, als diese 1608 die Universität Jena bezogen. Hortleder hatte in Helmstedt und Jena Jura studiert und war in Jena promoviert worden, er wird beschrieben als ein entschiedener Lutheraner, dessen Luthertum jedoch von Abneigungen gegen die Reformierten frei war. Diese Haltung sollte später die Politik seiner Zöglinge prägen.40 Dorothea Marias ältester Sohn Johann Ernst, der ab 1615 die Regierungsgeschäfte übernahm, knüpfte enge Beziehungen zu den Verwandten seiner Mutter in Anhalt, obwohl sich die konfessionelle Ausrichtung 34 Vgl. ebd., Bl. G1v. 35 Vgl. ebd., Bl. H1r. 36 Vgl. ebd., Bl. G1v. 37 Vgl. Hans Kars: Art. Anhalt. In: TRE 2 (1978), S. 734–741, hier S. 736 f.; Georg Schmidt: Die Fürsten von Anhalt. Reformierte Konfessionalisierung und überkonfessionelle Einheitsbestrebungen? In: Die Fürsten von Anhalt. Herrschaftssymbolik, dynastische Vernunft und politische Konzepte in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von Werner Freitag, Michael Hecht. Halle/Saale 2003 (Studien zur Landesgeschichte 9), S. 173–186, hier S. 175–177. 38 Vgl. Breul (Anm. 24), S. 49 f. 39 In seiner Leichenpredigt auf Dorothea Maria hält der Hofprediger Johann Kromayer fest, sie habe neben der Bibel und den Schriften Luthers „des Herrn Doctoris Gerhardi Andachten/ vnnd sonderlich das Buch Herrn Philippi Nicolai vom Ewigen Leben“ gelesen. Vgl. Johann Kromayer: Christliche Leichpredigt/ Bey dem Fürstlichem Begräbnüß der […] Dorothea Maria, Hertzogin zu Sachsen […]. Jena 1617, Bl. HIv. Sehr wahrscheinlich sind die erstmals 1606 in Jena gedruckten Meditationes Sacrae Johann Gerhards gemeint sowie von Philipp Nicolai: FrewdenSpiegel deß ewigen Lebens. Frankfurt a. M. 1599. 40 Hans Patze, Walter Schlesinger (Hg.): Geschichte Thüringens. Bd. V.1.1. Köln, Wien 1982 (Mitteldeutsche Forschungen 48/V/1/1), S. 103 f.
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Anhalts von derjenigen Sachsen-Weimars unterschied. Dagegen blieb das Verhältnis zu Kursachsen, das sich strikt an die (gnesio-)lutherische Theologie gebunden sah, „kühl und reserviert“.41 Für Caesar könnte es also ratsam gewesen sein, auf direkte Kritik an der Anhaltinischen Religionspolitik zu verzichten. Gleichwohl ist davon auszugehen, dass Caesar die Situation in Anhalt vor Augen stand, da er nicht nur an einer Stelle ein Werk des in der Widmungsvorrede angesprochenen Abraham Lange anführt, das sich kritisch mit der in den Kirchen Anhalts vorgenommenen Vernichtung von Bildern auseinandersetzte und mit dem Ziel veröffentlicht worden war, die Lehre Calvins zu widerlegen.42 Deutlich wird an dieser Stelle das durchaus unterschiedliche theologisch-konfessionelle Profil der beiden Widmungsempfänger der Mariolatria, das Caesar offensichtlich berücksichtigte, indem er Teile der reformierten Tradition einerseits nicht zu forsch anging, Abraham Lange gegenüber aber seine Kenntnis der Lage und seine theologische Bewertung derselben durchblicken ließ. Der bisher aufgezeigte interkonfessionelle Gesprächsrahmen wird schließlich um eine interreligiöse Dimension ergänzt, da Caesars Schrift auch antijudaistische Stellungnahmen enthält, wie sie aus dem Kontext des frühneuzeitlichen Luthertums bekannt sind. Caesar nimmt den Vorwurf auf, Juden schmähten Maria als Hure und den Gottessohn als ein Hurenkind,43 zudem weist er Synagogen als Orte aus, in denen eine offene Feindschaft gegen Christus und gegen Christen geübt werde,44 überdies wiederholt er die ebenfalls bekannte Kritik, Juden stützten ihre Frömmigkeit auf ihre Erwählung als Gottesvolk und verließen sich so auf eine Äußerlichkeit, die keine Entsprechung in einer rechten innerlichen Frömmigkeit finde.45 Die genannten Antijudaismen finden sich bereits bei Martin Luther, zusammengefasst etwa in der umfangreichen Schrift Von den Juden und ihren Lügen (1543).46 Caesar bezieht sich neben Luther insbesondere auf Anton
41 Vgl. Patze, Schlesinger (Anm. 40), S. 107 f. 42 Vgl. Caesar (Anm. 3), Bl. R1v und R4v. Es handelt sich um Langes Schrift: Christlicher/ Lutherischer Gegenbericht/ Auff der Anhaltdischen Caluinisten außgesprengete/ vngegründete vnd vnchristliche Verantwortung der im Fürstenthumb Anhaldt eingeführten Caluinischen Lehre vnd geübten Bildstürmerey/ Dafür etiche rechtgleubige Lutherische Christen vom Adel vnd aus den Städten demütig vnd vnterthänig/ aber leider vorgeblich/ gebeten haben. […] Leipzig 1597. 43 Vgl. Caesar (Anm. 3), Bl. V3r u. c2v. Vgl. dazu auch den Beitrag von Asaph Ben-Tov in diesem Band. 44 Vgl. Caesar (Anm. 3), Bl. X3v–X4r. 45 Vgl. ebd., Bl. H1r. 46 WA 53, 412–552. Vgl. zu Luthers Schrift u. a. Peter von der Osten-Sacken: Martin Luther und die Juden. Neu untersucht anhand von Anton Margarithas „Der gantz Jüdisch glaub“ (1530/31). Stuttgart 2002, S. 128–138.
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Margaritha,47 der als zum Christentum konvertierter Jude christlichen Lesern Einblicke in die jüdische Religion gewähren wollte und in diesem Zusammenhang bisweilen im jüdischen Raum geprägte antichristliche Aussagen und Narrative preisgab. Margarithas Schrift hatte bereits den antijudaistischen Aussagen Luthers als Quelle gedient.48 Die genannten Antijudaismen setzte Caesar augenscheinlich bewusst als Verschärfung seiner Polemik gegenüber Katholiken und Reformierten ein. Beispielsweise wirft er der katholischen Seite vor, Synagogen gegen finanzielle Leistungen zu dulden und so letztlich die jüdischen Schmähungen Marias mitzutragen; oder er vergleicht die reformierte Lehre, derzufolge Kinder von getauften Eltern als heilig anzusehen seien, mit der jüdischen Hochschätzung der Erwählung des Gottesvolkes.49 In seinem quellengesättigten literarischen Konfliktgespräch schreibt Caesar gegen katholische, reformierte und jüdische Theologumena an, um sie anhand seiner Schriftauslegung und immer wieder auf den Reformator Bezug nehmend zu widerlegen. Sichtbar wird in diesem Zusammenhang die rhetorische Doppelstrategie seiner Kritik, denn die eigentlichen Adressaten der Polemik müssen nicht zwangsläufig mit der in den Blick genommenen konfessionellen oder religiösen Zielgruppe übereinstimmen.
2 Caesars Positionen im mariologischen Konfliktgespräch Einige Textmerkmale sprechen dafür, dass Caesar sich in erster Linie an eine lutherische Leserschaft richtete. Im Kontext seiner konfessionellen Polemik kommt sein Anliegen zum Tragen, vor unkritischen Betrachtungen des katholischen Glaubens zu warnen, den er als Irrlehre verurteilt, und auch vor einer möglichen Konversion.50 Obwohl die Mariolatria aus dem liturgischen Kontext heraustritt – Grundlage dieser Schrift war eine Predigt gewesen – blieben Elemente der Ursprungsform erhalten. Beispielsweise lässt Caesar inhaltliche Teilstücke an mehreren Stellen in konfessorische, paränetische oder adhortative Formen münden. Er zielt damit augenscheinlich auf die Zustimmung seiner Leser und auf eine positive Aneignung
47 Vgl. Anton Margarita: Der gantz Judisch Glaub. Mitsampt einer gründlichen vnd warhafftigen anzeigunge aller Satzungen/ Ceremonien/ Gebetten/ heimliche vnd öffentliche Gebreuch […]. Frankfurt a. M. 1561. 48 Vgl. zu Margarithas Schrift als Quelle Luthers und zur Schrift selbst von der Osten-Sacken (Anm. 46), S. 162–203. 49 Vgl. Caesar (Anm. 3), Bl. H1r und X3v–X4v. 50 Vgl. ebd., Bl. D4v–E1r und S2v.
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des Stoffes. Einen homogenen lutherischen Leserkreis setzen auch die ironischen Zuspitzungen voraus, die Caesar teilweise in seine Polemik einflicht und die auf den Beifall der lutherischen Leser aus sind. Caesar war sich des Umstandes bewusst, dass er mit seiner Schrift in ein interkonfessionelles Streitgespräch eintrat, das schriftlich und auch in Kanzelreden geführt wurde.51 Er geht auf den Diskurs zu mit der Frage, wer angesichts der virulenten Anfeindungen und Verurteilungen beider Seiten als vertrauenswürdige Schiedsinstanz aufzusuchen sei. Caesars Antwort enthält eine längere propädeutische Einführung, in der er die Bedeutung der Schrift als einziger Quelle der Wahrheit herausarbeiten will. Nicht der in seinen Augen korrupte Papst sei anzurufen,52 sondern allein der getreue Gott. Wodurch oder worinne? Jn vnd mit seinem geoffenbahrten Wort/ nach dem Gesetz vnd Zeugnis/ werden sie das nicht sagen/ so werden sie die Morgenröte nicht haben/ sie haben Mosen vnd die Propheten/ laß sie dieselbigen hören/ dieses ist gewiß/ macht die Alten weise/ vnd die einfeltigen klug/ wie David sagt: Jch/ spricht der HERr/ dein Erlöser/ der Heilge in Jsrael bin der HERR/ der dich lehret/ was nützlich ist/ vnd leyte dich auff deinem Wege/ den du gehest/ O das du auff meine Gebot mercktest/ so würde dein Friede sein wie ein Wasserstromb/ vnd deine Gerechtigkeit/ wie Meeres Wellen.53
Die lutherische Wort-Gottes-Lehre, die Caesar der katholischen Lehrtradition entgegenstellt,54 bildet die methodische Grundlage seiner theologischen Argumentation. Fast durchgängig arbeitet er mit einer Fülle von Belegstellen aus den Schriften des Alten und Neuen Testaments. Häufig reiht er mehrere Zitate oder Allusionen aneinander, die er nur durch kurze eigene Einwürfe unterbricht, oder er fügt Bibelverse zu einem Cento, wie im zitierten Beispiel.55 Texte aus den biblischen Apokryphen kann Caesar ohne Weiteres als Belegstellen heranziehen, er
51 Vgl. ebd., Bl. E2v–E3r. 52 Vgl. ebd., Bl. E3v. Caesar legt dem Papst den apokalyptischen, in 1Joh 2,18 erwähnten Titel des Antichristen bei und sieht ihn als ganz und gar unfähig an, in Glaubensaussagen zu richten. Als lutherische Quelle nennt er Johann Schröders Werk: Opvscvlvm Theologicvm De Principio Theologiae, Et Natvrali Notitia Dei Scriptum. […]. Schweinfurt 1605. 53 Caesar (Anm. 3), Bl. E3r. 54 Vgl. ebd., Bl. F1r. 55 In der folgenden Wiederholung des Zitates sind die zu einem Cento kombinierten Bibeltexte in einfache Anführungszeichen gesetzt, Bibelstellen werden in eckigen Klammern nachgewiesen: „Wodurch oder worinne? Jn vnd mit seinem geoffenbahrten Wort/ ‚nach dem Gesetz vnd Zeugnis/ werden sie das nicht sagen/ so werden sie die Morgenröte nicht haben‘ [Jes 8,20]/ ‚sie haben Mosen vnd die Propheten/ laß sie dieselbigen hören‘ [Lk 16,29]/ dieses ‚ist gewiß/ macht die Alten weise/ vnd die einfeltigen klug‘ [Ps 19,8]/ wie David sagt: ‚Jch/ spricht der HERr/ dein Erlöser/ der Heilge in Jsrael bin der HERR/ der dich lehret/ was nützlich ist/ vnd leyte dich auff deinem Wege/ den du
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zitiert aus dem Weisheitsbuch, seltener aus dem Buch Tobit, vor allem aber aus Jesus Sirach, was im lutherischen Kontext keinesfalls ungewöhnlich ist.56 Augenscheinlich war Caesar bestrebt, seine Argumentation auf eine breite literarische Basis zu gründen. Er befindet sich zum einen im Gespräch mit mehreren lutherischen Autoren, auf deren Werke er in der Marginalspalte verweist. Besondere Bedeutung kommt Martin Luther zu, den Caesar mehrfach zitiert, auch lässt er seine Schrift mit einem Lutherwort enden. Zum anderen will er für eine möglichst quellennahe Darstellung der gegnerischen Position sorgen. Im Hintergrund steht hier der Vorwurf einer bewussten Verzerrung katholischer Lehraussagen durch lutherische Theologen, wie Caesar ihn in der bereits erwähnten Schrift Sebastian Flaschs vorgefunden hatte.57 Kritikwürdig sind Caesar zufolge hauptsächlich solche mariologischen Lehren, die Maria mit der Stiftung von Heil in Verbindung bringen und somit Mariologie und Soteriologie vermischen. Angesprochen ist hier die Sicht Marias als mediatrix, aber auch die intercessio Marias, ihre Fürbitte für menschliche Anliegen, und ebenso die Praxis, im Angesicht Marias die Beichte abzulegen sowie im Namen Marias die Absolution zu erteilen.58 Diesbezüglich weist Caesar nicht allein auf das Fehlen einer biblischen Begründung dieser Lehren und Praktiken hin, er macht auch aufmerksam auf deren Folgen für die Gotteslehre: Die Beteiligung Marias am göttlichen Heilswerk führe zu einer Vergöttlichung der Gottesmutter und zu ihrer Gleichordnung mit dem Gottessohn. Dieser Befund spiegelt sich laut Caesar nicht zuletzt in der katholischen Predigtpraxis wider.59 Haben die Papisten nit allein fürgeben/ wie daß Maria gantz vnd gar ohne Sünde/ sondern auch andern Menschen von Sünden helffen könne/ setzen sie also/ neben/ ja vber Christum/ machen auß jr eine Mitlerin/ Heylandin/ Seligmacherin/ vnd Erlöserin. Dadurch denn Christus JEsus/ als der einige Heyland vnd Seligmacher vom Stuel gestürtzet worden/ man auch fast nichts mehr auff den Cantzeln von jm gehöret vnd gewust.60
gehest/ O das du auff meine Gebot mercktest/ so würde dein Friede sein wie ein Wasserstromb/ vnd deine Gerechtigkeit/ wie Meeres Wellen‘ [Jes 48,17.18].“ 56 Vgl. Ernst Koch: Die „Himlische Philosophia des heiligen Geistes“. Zur Bedeutung alttestamentlicher Spruchweisheit im Luthertum des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Studien zur Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte des Luthertums im 16. bis 18. Jahrhundert. Hg. von Matthias Richter, Johann Anselm Steiger. Waltrop 2005 (Texte und Studien zum Protestantismus des 16. bis 18. Jahrhunderts 3), S. 175–202. 57 Vgl. Caesar (Anm. 3), Vorrede Bl. B2v–B3r und L4v–M1r. 58 Vgl. ebd., Bl. L4r–L4v und M3v–N1v. 59 Vgl. ebd., Bl. L4r–L4v. 60 Ebd., Bl. L4r.
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Um die katholische Mariologie zu widerlegen, widmet sich Caesar zunächst einem ihrer Fundamente, nämlich der Lehre von der Sündlosigkeit Marias. Auß der Warheit GOTTes/ welche ist vnd bleibt sein Wort/ wissen/ lesen vnd hören wir/ das alle/ alle/ alle Menschen/ sie seind wer sie wöllen/ sowol der heiligen Patriarchen/ Propheten/ der gewaltigen Keyser/ Könige/ Fürsten vnnd Herrn/ als der armen Bawren vnd Bettler Kinder in Sünden empfangen vnd geborn/ vnnd also von Natur Kinder des Zorns GOttes/ auch ewig sein vnnd bleiben müsten/ wo sie nicht wieder von new auß dem Wasser vnd Geist geborn würden.61
Der in zehn Unterpunkte gegliederte Angriff bildet den umfangreichsten Teilabschnitt der Mariolatria. Gewissermaßen als Grundlage führt Caesar zunächst die lutherische Erbsündenlehre aus, laut deren Adam, seinen freien Willen betätigend, in Sünde fiel und infolgedessen von einem Ebenbild Gottes zu einem Ebenbild des Teufels transmutierte, was zur Folge hatte, dass allen nachgeborenen Menschen eine sündhafte Natur eignet. In diesem Kontext ergreift Caesar die Gelegenheit, in äußerst knapper Form die Calvinsche Prädestinationslehre abzuwehren, die er dessen Institutio Christianae Religionis entnimmt und die mit Blick auf den Sündenfall lehrt, auch Adams Abkehr von Gott müsse als Teil des göttlichen decretum absolutum angesehen werden.62 Solches aber nicht auß der Erschaffung vnnd Ordnung GOttes/ wie Calvinus sich offentlich vernemen lest vnnd schwermet/ denn alles sehr gut gemacht vnd weißlich von Gott geordnet. Jch habe funden/ das Gott den Menschen (rectum) auffrichtig gemacht hat/ vnd wie Syrach sagt/ der Mensch ist nicht böse gemacht/ sondern auß dem freywilligen Fall vnserer ersten Eltern.63
Caesars Vorgehensweise, die Prädestinations- und Erbsündenlehre Calvins nicht eigens zu thematisieren, sondern sie lediglich in einem Halbsatz anzugreifen und zu verwerfen, vermag exemplarisch seinen Umgang mit der reformierten Tradition zu zeigen. Für die lutherische Sicht der Dinge, die hinsichtlich der Situation des Menschen vor dem Fall von einem freien Willen und von einer guten Schöpfung ausgeht, führt er hier Sir 10,22 an, was erhellt, welchen Stellenwert das Sirachbuch für Caesar hatte. Die weiteren, als Begründung der Erbsündenlehre hinzugezogenen klassischen Texte aus dem Alten und Neuen Testament sowie aus den Apokryphen sieht er als klares und keinesfalls dunkles oder besonders auslegungs61 Ebd., Bl. G1r–G1v. 62 Vgl. Johannes Calvin: Unterricht in der christlichen Religion. Institutio Christianae Religionis. Nach der letzten Ausgabe übersetzt und bearb. von Otto Weber. 2. Auflage. Neukirchen-Vluyn 1963, III,23.7, S. 640 f. Caesar gibt marginal fälschlich Buch III,28 an. Vgl. Caesar (Anm. 3), Bl. G1v. 63 Caesar (Anm. 3), Bl. G1v.
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bedürftiges Gotteswort an, das der Heilige Geist im biblischen Kontext mehrfach wiederholt habe.64 Die katholische Lehre, Maria sei nicht in Sünden empfangen worden, sie sei auch keiner Sünde zu bezichtigen, beurteilt Caesar daher als einen antichristlichen Frevel.65 Caesar argumentiert hier mit grundlegenden Lehrsätzen der lutherischen Schriftlehre, wie sie etwa in Johann Gerhards Tractatus De Legitima Scripturae Sacrae Interptetatione Interpretatione begegnen, der 1610 veröffentlicht wurde. Mit Blick auf die Glaubenslehre ist Gerhard zufolge von einer claritas oder auch perspicuitas scripturae auszugehen;66 er lehrt ebenfalls, dass zentrale Glaubensaussagen um einer größeren Gewissheit willen mehrfach in den biblischen Schriften angesprochen werden.67 Um nun die sündhafte Zeugung und Geburt Marias wie auch ihre Sündhaftigkeit zu erweisen, nimmt Caesar zum einen die einschlägigen lukanischen Bibelstellen in den Blick. Wenn es im Magnificat heißt: „Mein Geist freut sich Gottes meines Heilandes“ (Lk 1,47), dann deutet er dies als ein von Maria selbst gesprochenes Bekenntnis, mit dem sie sich zum Kreis der erlösungsbedürftigen Menschheit zählt.68 Auch der Gruß des Engels in Lk 1,30: „Maria, du hast Gnade bei Gott gefunden“, belegt laut Caesar Marias Angewiesensein auf die göttliche Gnade. Zum anderen durchmustert Caesar die wenigen weiteren biblischen Texte über Maria, um konkrete Verfehlungen der Gottesmutter aufzuweisen. Beispielsweise geht er auf die in Lk 2 beschriebene Jerusalemreise ein, auf der Maria „auß vnachtsamkeit vnnd vnfleiß“ ihren Sohn aus den Augen verloren hatte.69 Oder er greift die in
64 Vgl. ebd., Bl. G4v. 65 Vgl. ebd., Bl. G2v. 66 Vgl. Johann Gerhard: Tractatus De Legitima Scripturae Sacrae Interpretatione (1610). Lateinisch-Deutsch. Kritisch hg., kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Johann Anselm Steiger unter Mitwirkung von Vanessa von der Lieth. Stuttgart-Bad Cannstatt 2007 (Doctrina et Pietas I,13), Art. 1, S. 26 f.: „DICIMUS, esse quidem tantam Scripturae perspicuitatem, ut es ea certa aliqua & constans sententia de dogmatibus ad salutem vuivis scitu necessariis haberi possit.“ Deutsche Fassung: „WJr glauben vnd bekennen/ daß die SChrifft so klar vnd deutlich sey/ daß ein jeder Mensch gewiß vnd vnzweifflich darauß lernen kan/ was jhme zu seiner Seligkeit zu wissen vonnöhten ist.“ 67 Vgl. Gerhard (Anm. 66), Art. 206, S. 346 f.: „Quoad sententiam congruunt loci longe plurimi, una enim eademque res, unum idemque doctrinae coelestis caput saepius repetitur in sacris literis […].“ Deutsche Fassung: „Was die Meynungen anlanget/ kommen viel Oerter mit einander vberein/ dann einerley Sache/ vnd ein Hauptstück Christlicher Lehre/ wird an vielen Oertern in H. Schrifft widerholet/ der Erklerung vnnd Gewißheit halben.“ 68 Vgl. Caesar (Anm. 3), Bl. H2r. 69 Caesar (Anm. 3), Bl. H3v.
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Joh 2 mitgeteilte Episode der Hochzeit zu Kana auf, in der Maria von Jesus barsch abgewiesen wird, und wirft ihr die Einmischung in ein fremdes Amt vor. Maria wil sich einmischen vnd mengen in das jenige/ welches jhr nit befohlen/ nemblich/ jren Son in seinem Göttlichen Beruff vnd Ampt/ ziel vnnd maß vorschrieben/ darzu sie doch nicht beruffen/ sondern sie solte nur eine Mutter vnnd nicht eine Meisterin/ Herrscherin/ Regiererin des Messiae sein. Derentwegen sie Christus auch mit harten Worten abweiset/ also/ Daß er sie nicht Mutter/ Sondern nur Weib nennet/ sagende/ Weib/ was hab ich mit dir zuschaffen/ meine Stunde ist noch nicht kommen.70
Mit seinem breit angelegten Nachweis der Sündhaftigkeit Marias zielt Caesar nicht auf eine Destruktion der Mariologie, wie er gegenüber den erwartbaren katholischen Einsprüchen zu bedenken gibt. Ihm ist es vielmehr darum zu tun, Maria im Sinne des lutherischen Heiligengedenkens zu würdigen. Sie gilt ihm als ein Exempel des Glaubens, aber auch als ein Beispiel menschlicher Schwachheit und göttlicher Barmherzigkeit. Finden wir derentwegen sonderliche Tugenden an jhr/ so sollen wir jhr nachfolgen/ finden wir aber Gebrechen an jhr/ so sollen wir vns an jhr spiegeln/ vnd lernen/ wie bald es mit den allerheiligsten gethan ist/ vnd weil die allerheiligsten offtmals gröblich gestrauchelt/ so kans vns viel mehr begegnen/ wie wir jhnen nimmermehr gleich werden können.71
Damit hat Caesar bereits den Kern der lutherischen Mariologie vorweggenommen, die er ausführlicher im zweiten Teil seiner Schrift entfalten wird. Die katholische Hochschätzung Marias, insbesondere die Lehre von ihrer Sündlosigkeit und ihrer Beteiligung am göttlichen Heilswerk, bewirkt laut Caesar letztlich eine Abwertung des Mittleramtes Christi. Offensichtlich wird dies nicht allein an der katholischen Darstellung Marias als Schlangentreterin: Caesar verweist diesbezüglich auf Belegstellen in Werken Johannes Dietenbergers,72 Johann
70 Ebd., Bl. H4r. 71 Ebd., Bl. H4v. 72 Vgl. Caesar (Anm. 3), Bl. M2r. Zu Dietenberger vgl. Peter Fabisch: Art. Dietenberger, Johannes. In: LThk 3 (1995), Sp. 220 f. Den Dominikaner Johannes Dietenberger (1475–1537), Prof. in Mainz, Autor mehrerer kontroverstheologischer Schriften und Mitverfasser der gegen die Confessio Augustana gerichteten Confutatio, nennt Caesar, ohne eine weitere Literaturangabe. Dietenberger identifiziert in seiner kommentierten Bibelausgabe in einer Anmerkung zu Gen 3,15 zunächst Christus als Schlangentreter, bezieht Maria dann aber explizit in das Heilswirken ein. Vgl. ders.: Bibell. Das ist/ Alle Bücher Alts vnd News Testaments/ nach Alter in Christlicher Kyrchen gehabter Translation trewlich verteutscht/ vnd mit vielen heilsamen Annotaten erleucht […]. Köln 1564, 3r/v.
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Leisentrits73 und Johann Ecks,74 aber auch auf geschnitzte oder gegossene Plastiken sowie auf Gemälde; als konkretes Beispiel nennt er ein Bild im Chorraum der Magdeburger Stiftskirche.75 Caesar hatte also die multimediale Aufbereitung des Stoffes vor Augen. Die Abwertung des Mittleramtes Christi wird für Caesar auch in der Praxis sichtbar, im Angesichte Marias zu beichten. Diesbezüglich zitiert Caesar einen franziskanischen Beichtspiegel76 sowie eine Passage aus dem Maria zu Ehren verfassten Psalter Bonaventuras: „Kompt/ lasset vns anbeten/ vnnd für jhr nieder fallen/ lasset vns jhr mit weinen beichten vnsere Sünde.“77 Zudem führt er ein in Lüneburg aufgefundenes Formular zur Absolution von Nonnen an, in dem es heißt: „Das Leyden vnsers HERRN JEsu Christi/ der verdienst der heiligen Jungfrawen Marie/ etc erledigen euch von allen Sünden.“78 Dieses Dokument entnimmt Caesar allerdings einem lutherischen kontroverstheologischen Werk, das er in der Marginalspalte nennt, nämlich der 1604 in Wittenberg durchgeführten Disputation des späteren Dresdener Oberhofpredigers und Kontroverstheologen Matthias Hoe von Hoenegg, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, Widersprüche innerhalb der katholischen Lehrtradition aufzuweisen.79
73 Johann Leisentrit (1527–1584), Generalkommissar der Ober- und Niederlausitz, gab wichtige Impulse zur Liturgiereform; vgl. Andreas Heinz: Art. Leisentrit(t) v. Julisberg, Johann. In: LThK 6 (1997), Sp. 798 f. Caesars Hinweis „in suo Germ. Psalt.“ deutet auf das von Leisentrit kompilierte Gesangbuch hin, in dessen zweitem Teil auch Marienlieder gesammelt sind. Dem von Caesar als Exempel zitierten Text entspricht die Strophe 6 des Liedes mit dem Titel „Gegrüsst seistu Maria rein“: „Aber du durch dein ghorsamkeit/ vnd Gott gfellig demütigkeit/ hast dem Teuffel zerknirscht sein Haupt/ vnd jhn all seiner macht beraubt.“ Vgl. Johann Leisentritt: Gesangbuch von 1567. Faksimileausgabe mit einem Nachwort von Walther Lipphardt. Kassel u. a. 1966, Teil II, 13v. 74 Caesar verweist hier auf die vierte Predigt auf Mariae Empfängnis im 3. Band der umfänglichen Postilla Ecks. Vgl. Johann Eck: Der Drit Thail Christenlicher Predigen An den hohen Festen vnd Hochzeytlichen tagen/ der Hayligen/ durch das ganntz Jar/ […]. Augsburg 1531, S. 17v. 75 Vgl. Caesar (Anm. 3), Bl. M1v. 76 Vgl. etwa die Ausgabe: Beichtspiegel Den Frommen Bueßwürcketen Christen/ zur bekantnus der Sünd/ nutz/ Nöttig/ vnd Brauchsam. Thierhaupten 1595, S. 23v–24r. 77 Caesar (Anm. 3), Bl. M3v. Die zitierte Passage findet sich in: Der gulden Psalter S. Bonauenture/ deß Englischen Lehrers […] Zu Ehren der Himmelkönigin vnd Mutter Gottes Maria/ […]. Ingolstadt: Eder 1595, S. 103. 78 Caesar (Anm. 3), Bl. M4r. 79 Vgl. Matthias Hoe von Hoenegg: Labyrinthvs Primvs Papisticus. Hoc est: Dispvtatio De Papatv Semetipsvm Contradictionibus. Wittenberg 1604. Hoe bezieht sich auf die Lehre über die Schrift, über Person und Amt Jesu, über die Rechtfertigung sowie über die Lehre von Glauben und Werken. Zum Autor vgl. Wolfgang Sommer: Die lutherischen Hofprediger in Dresden. Grundzüge ihrer Geschichte und Verkündigung im Kurfürstentum Sachsen. Stuttgart 2006, S. 137–165.
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2.1 Auswirkungen mariologischer Lehren auf die Marienfrömmigkeit In seiner Untersuchung der katholischen Mariologie bleibt Caesar nicht bei einer Bewertung dogmatischer Inhalte stehen, er untersucht auch deren Folgen für die praxis pietatis. Zentral sind für ihn die Auswirkungen auf die Lehre von Jesus Christus und die damit verbundene Spiritualität, die sich wiederum auf die Rechtfertigungslehre gründet und Christus als Heiland und Helfer betrachtet und meditiert. Caesars Beobachtungen hinsichtlich der praxis pietatis gründen nicht zuletzt auf der lutherischen Auffassung der Theologie als einer praktischen Wissenschaft. Ihr Anliegen ist die praktische Anwendung theologischer Inhalte, dabei richtet sie ihr Augenmerk insbesondere auf die heilsame Gestaltung der Beziehung zwischen Gott und Mensch. Caesar greift die katholische Praxis auf, Maria als Mittlerin anzurufen, und weist auf die damit zusammenhängende negative Veränderung des Gottesbildes hin. Vberreden sie die armen Leute beydes mit Worten vnnd Gemähldten/ als ob der HERR CHRistus ein gestrenger zorniger Richter vnnd Tyrann sey/ vor dem man sich zu fürchten/ der nur verdamme/ vnd das Himelreich für vns zuschlisse: Maria aber sey viel gnediger/ gütiger/ barmhertziger/ vnd freundlicher/ derentwegen/ wer Gnad haben wölle/ müsse sich nur zur Jungfrawen Marien halten.80
Als eine weitere Folge erkennt Caesar die Aufweichung der Sünden- und Gnadenlehre, die aus bestimmten Sichtweisen Marias als einer Mittlerin folgt. Er geht hier auf mehrere Beispielgeschichten ein, die offensichtlich zur Illustration der Barmherzigkeit Marias dienen sollten. Mehrfach nennt er eine häufig aufgelegte Sammlung von Wunderberichten, die der Dominikaner Johannes Herolt (1380–1468) kompiliert hatte.81 Eines der erwähnten Beispiele, die Geschichte der Nonne Beatrix, findet sich auch im Promptuarium des Andreas Hondorff, einer aus lutherischem Kontext stammenden sehr umfänglichen Sammlung von Beispielgeschichten, die als Hilfe für die Predigtarbeit konzipiert wurde.82 Beatrix
80 Caesar (Anm. 3), Bl. N2r. 81 Vgl. Johannes Herolt: Sermones Discipuli. et de Tempore et de Sanctis. […] cum duplici Exemplorum Promptuario. […]. Köln 1504. Die Marienwunder sind gesammelt im Promptuarium discipuli de miraculis Marie virginis. Zum Autor vgl. Franz Josef Worstbrock: Art. Herolt, Johannes (Discipulus). In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 3 (1981), Sp. 1123–1127. 82 Vgl. Andreas Hondorff: Promptvarivm Exemplorum. Historien vnnd Exempelbuch. Darinnen gute vnd böse Exempel/ von Tugenden vnd Vntugenden/ rechten brauch vnd mißbrauch der heiligen Zehen Gebot Gottes begriffen werden. Zum Spiegel des menschlichen Lebens/ vnd war-
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bricht ihr Gelübde, um einen Mann zu ehelichen, der sie jedoch bald verlässt. Sie erlebt einen sozialen Abstieg (analog zum biblischen Stoff des Verlorenen Sohnes, vgl. Lk 15,11–16), als sie sich aber eines Tages inkognito dem Kloster nähert, wird ihr bewusst, dass die heilige Jungfrau ihre Gestalt angenommen hatte, um sie im Kloster zu vertreten. Auf diese Weise wurde Beatrix durch Maria eine bruchlose Wiederaufnahme des Klosterlebens ermöglicht.83 Hondorff präsentiert dieses Märlein unter der Rubrik „Münchische Lügen/ damit sie den Ehebruch beschönen wollen“.84 Caesar urteilt zusammenfassend in ganz ähnlicher Weise: „Thut der Papisten Maria nichts anders/ denn daß sie den rohen Leuten nur die Thür zu den Tugenden verschleust/ vnd zu aller Boßheit auffthut“.85 Schließlich nimmt Caesar Beispiele der Marienfrömmigkeit auf, die das Feld der Sterbeseelsorge betreffen. Ihm ist es darum zu tun, auf Christus als alleinige Hoffnung im Leben und im Sterben hinzuweisen. Neben biblischen Beispielen, unter ihnen auch Tobias, der sich angesichts des Todes Gott anvertraut,86 verweist er auf Exempel prominenter Personen, nicht nur lutherischen, sondern auch katholischen Glaubens, die sich allein auf das Verdienst Christi beriefen und eine auf den Beistand Marias gründende Sterbeseelsorge ablehnten.87
2.2 Caesars lutherische Marienverehrung Es ist nicht verwunderlich, dass Caesar an die Lutherschen Aussagen über Maria als Beispiel des Glaubens anknüpft. Er weist in diesem Zusammenhang insbesondere auf ihre Tugendhaftigkeit hin, die in mehreren Lebensbereichen prominent wurde. Bezug nehmend auf den Reformator stellt er die fides als Mutter aller Tugenden dar, aus der alle weiteren Tugenden abgeleitet werden müssen. Exemplarische Tugenden neben dem Glauben sind laut Caesar Marias Dankbarkeit Gott gegenüber und ihre Demut.
hafftiger Busse/ aus heiliger Schrifft/ vnd bewerten Scribenten zusammen bracht. […] vermehret/ vnd in eine bessere ordnung bracht. Durch Vincentium Sturmium […]. Leipzig 1582 (Erstdruck 1568). Zum Autor vgl. Ruth von Bernuth: Art. Hondorff, Andreas. In: Frühe Neuzeit in Deutschland 1520–1620. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon 3 (2014), Sp. 397–401. 83 Vgl. Hondorff (Anm. 82), S. 378v–379r. Johannes Herolt (Anm. 81) gibt diese Geschichte als 25. Exempel seiner Sammlung wieder. 84 Vgl. Hondorff (Anm. 82), S. 387v. 85 Caesar (Anm. 3), Bl. X2v. 86 Vgl. Tob 3,6 87 Vgl. Caesar (Anm. 3), Bl. Q1v–Q3v.
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In Caesars Traktat wird Maria, die heilige Sünderin und gerechtfertigte Heilige, zur vorbildlichen lutherischen Christin stilisiert. Caesar präsentiert sie zunächst als Idealbild der tugendhaften Jungfrau: „Welcher Schmuck stehet nicht in Haarflechten/ Gold vmbhengen/ oder Kleider anlegen/ sondern daß der jnnerliche Mensch des Hertzens vnverruckt sey/ mit sanfftem vnd stillen Geist/ das ist köstlich für Gott.“88 Dann zeigt er auf, wie Maria, das exemplum fidei, einen vertrauten Umgang mit der Bibel pflegte und geistliche Gespräche mit ihren Verwandten suchte. Dazu unternahm sie ihre beschwerliche Reise zu Elisabeth, um aus dem Umfeld der gottlosen jüdischen Kirche auszubrechen. Für Caesar besteht kein Zweifel daran, dass im Hause Elisabeths auch der alte Simeon und die Prophetin Hanna zugegen waren.89 Diese erdachte Hausgemeinschaft bildet Caesar zu einem Konventikel frommer Menschen, die gemeinsam in der Schrift die alttestamentlichen Messiasverheißungen studierten und in geistlichen Gesprächen Gottes Wort meditierten. So pflegten Maria und die weiteren aus dem lukanischen Kontext hinzugefügten Konventikelmitglieder in vorbildlicher Weise die Tugend der Gottseligkeit.90 Caesar entwirft mit seiner Mariendarstellung ein Gegenbild zu den übereinandergeblendeten katholischen Marienbildern: Seiner katholischen Version der Maria, die letztlich das göttliche Heilswirken konterkariert, indem sie in falsch verstandener Barmherzigkeit, jedoch mit kirchlichem Segen versehen, die zweifelhaften Abwege menschlicher Irrungen bedeckt und dazu kirchlicherseits dem Sohn Gottes in heterodoxer Weise gleichgestellt werden muss, dieser Maria stellt Caesar die lutherische wahre Christin Maria gegenüber, die sich in vorbildlicher, ja idealer Weise bewusst ihrer ungeistlichen Umwelt entschlägt und diejenige Kirche flieht, die sich ungehorsam von Gott abgewandt hat. In die Rolle der Gott untreuen Kirche hatte Caesar, wie zu sehen war, die Juden gezwängt; dass auch Reformierte und Katholiken vom wahren Glauben abgefallen sind, daran hatte Caesar in seinem Traktat ebenfalls keinen Zweifel gelassen.
3 Rückblick Caesars Schrift kann als ein Zeugnis lutherischer Polemik gegen katholische Mariologien und weitere Elemente katholischer Theologie der Frühen Neuzeit gelesen werden. Sie kann ebenfalls gelesen werden als ein Zeugnis dessen, was im dama88 Ebd., Bl. Y2r. Zu Maria als Vorbild der Jungfrauen vgl. auch ebd., Bl. c1r–c1v. 89 Vgl. ebd., Bl. Z3v. 90 Vgl. ebd., Bl. Z3v–Z4r.
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ligen Luthertum als antilutherische Haltung katholischerseits wahrgenommen wurde, und nicht zuletzt als ein Zeugnis lutherisch-konfessioneller Selbstvergewisserung. Dieser Zielsetzung sind anscheinend auch Caesars Angriffe gegen die reformierte Tradition und die jüdische Religion unterstellt. Caesars Traktat bietet daher einen Blick auf das polemische Feld und auf die interkonfessionelle Streitkultur aus lutherischer Perspektive. Sichtbar wird, dass Caesars Anliegen nicht allein auf einer theologisch intellektuellen Ebene zum Tragen kommt, denn als Streiter für den rechten Glauben hat er gleichfalls die Folgen des Bekenntnisses im Blick, den zeitlichen und ewigen Segen Gottes, aber auch das göttliche Gericht über den Unglauben. Auch in diesem Sinne stimmt er die Dogmatik auf den gelebten Glauben, also auf die praxis pietatis ab. Caesar rüstete sich als Autor also zur Teilnahme am interkonfessionellen „Kampf um die Seelen“.91 Er bezog sich zum einen auf regionale Gegebenheiten, etwa in Haßfurt oder Erfurt, nahm aber auch Stimmen eines größeren Diskursraumes auf, indem er literarisch vorgetragene Argumente katholischer, reformierter und lutherischer Provenienz verarbeitete. Auf diese Weise reichte sein „Kampf um die Seelen“ auch über Thüringen hinaus.
91 Vgl. den Titel des von Sascha Salatowski herausgegebenen Ausstellungskataloges (Anm. 15).
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Der Blick nach Osten: Die islamische Maria im konfessionellen Zeitalter Im September 1762 besuchte der Orientreisende Carsten Niebuhr das Katharinenkloster am Fuße des Berges Sinai. Als er und seine Beduinen-Begleiter den Berg bestiegen, erreichten sie eine kleine Kapelle: Meine arabischen Schechs hielten ein andächtiges Gebet vor derselben, und als wir hineingiengen, küßten sie das Bildniß Christi und der Jungfrau Maria sehr andächtig, da sie doch Mohammedaner waren, und hielten darauf wieder ein langes Gebet. Vielleicht hatten sie dergleichen von griechischen Pilgrimen gesehen, und glaubten daß sie mir einen Gefallen erzeigten, wenn sie sich stellten als beteten sie diese Bilder an.1
Ob diese Maria-Anbetung der Sinai-Beduinen als eine genuine religiöse Praxis oder eher als eine interkulturelle Geste zu verstehen ist, scheint sie den protestantischen Niebuhr unbeeindruckt gelassen zu haben. Wie dem auch sei, ist Maria eine wichtige und verehrte Gestalt im Koran und in den islamischen Traditionen. „Maria! Siehe, Gott hat dich erwählt und rein gemacht – er erwählte dich vor allen Frauen in der Welt.“ ist kein Zitat aus dem Neuen Testament, sondern aus dem Koran (3:45).2 Der Islam entstand in einem religiösen Umfeld, in dem der Mutter Jesu eine zentrale Bedeutung zugeschrieben wurde – wie wir sehen werden, wurde sie in der arabischen Halbinsel der Spätantike in bestimmten christlichen Sekten sogar als Gottheit verehrt. So eindeutig die Abgrenzung des Islams von seinen jüdischen und christlichen Vorgängern und Zeitgenossen auch erscheinen mag, stand die neue monotheistische Religion dennoch im kritischen – aber nichtsdestotrotz genuinen – Dialog mit ihnen. Die privilegierte Stellung Marias im Islam, die hier nur skizzenhaft dargestellt werden kann, ist bereits das Thema einer reichhaltigen Forschungsliteratur und ein aufschlussreiches Indiz für die Auseinandersetzung des Islams mit christlichen Gruppen und Lehrmeinungen der Spätantike. Eine frühneuzeitliche Wendung in der Geschichte macht aus Marias Rolle im Islam eine instruktive Fallstudie in der Geschichte der konfessionellen (und interkonfessionellen) Kultur Europas in der Frühen Neuzeit. Um das Letztere zu verstehen, ist zunächst eine knappe Darstellung der Person Marias als einer islamischen Figur notwendig. 1 Carsten Niebuhr: Reisebeschreibung nach Arabien und andern umliegenden Ländern. Bd. 1. Kopenhagen 1774, S. 247. 2 Alle deutschen Zitate aus dem Koran werden hier aus Hartmut Bobzins Übersetzung entnommen: Der Koran. Übersetzt von Hartmut Bobzin. München 2010. https://doi.org/10.1515/9783110665109-006
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Im Islam, wie im Christentum und im Judentum, rührt die Stellung Marias von der ihres Sohnes her. Im Christentum ist Maria die Mutter Gottes. Diese Stellung ließ vor und nach der Reformation Raum für divergierende Deutungsmöglichkeiten und Frömmigkeitspraktiken. Eines haben die verschiedenen christlichen Auffassungen miteinander gemein: ob Maria angebetet wird oder nicht, ob sie ohne Erbsünde in die Welt kam oder nicht, so ist sie jedenfalls eine zentrale (oder wenigstens eine privilegierte) Person in der christlichen Heilsgeschichte. Im rabbinischen Judentum, das sich gleichzeitig mit dem Christentum entwickelte, ist Maria dagegen schlicht und einfach die Mutter eines Häretikers. Sie taucht relativ selten im vormodernen Judentum auf, und dann als Opfer der empörten Ablehnung der Ansprüche ihres Sohnes. So haben wir eine jüdische Tradition von Gegennarrativen, die die Geschichte des Jesus von Nazareth auf den Kopf stellen. Wenn die Häretiker (Miním, sprich die Christen) behaupten, ihr Messias sei von einer Jungfrau geboren, so ist Maria in der frühmittelalterlichen anti-christlichen Schrift Toldot Jeschu (Die Geschichte Jesu) von einem Schurken vergewaltigt worden; in einigen Versionen ist ihr frommer Verlobter Joseph und der ruchlose Vergewaltiger ein Mann namens Johannes (Yoḥannan), in anderen Fassungen des Werkes sind die Rollen umgekehrt. Diesem Gegennarrativ zufolge war Jesus von Nazareth statt durch den Heiligen Geist von einem Vergewaltiger gezeugt worden. Um das Ganze noch schlimmer zu machen, wird in Toldot Jeschu auch betont, dass die Vergewaltigung während Marias „menstrualer Unreinheit“ stattfand. Diese Schrift war Jahrhunderte hindurch zum „internen Gebrauch“ unter Hebräisch lesenden Juden verbreitet und, wie wir annehmen dürfen, mit vergnügter Schadenfreude gelesen worden. Schwierig wurde es, als mit dem Aufkeimen der christlichen Hebraisten das Werk auch von (empörten) Christen gelesen wurde.3 Maria in Toldot Jeschu ist ein Opfer; ihr hartes Schicksal dient dazu, ihren Sohn zu diskreditieren. Beachtenswert ist allerdings die Tatsache, dass die Verfasser der Schrift Maria sonst in einem positiveren, wenn auch tragischen Licht darstellen. An sich ist Maria in Toldot Jeschu eine fromme jüdische Frau. Viel schlimmer für sie sind andere Darstellungen aus der spätantiken rabbinischen Literatur, wo sie 3 Diese Schrift hatte seit dem Spätmittelalter einen Ruf unter christlichen Gelehrten als besonders virulente anti-christliche Schmähschrift. In der Frühen Neuzeit spielt sie eine wichtige Rolle in „Entlarvungsschriften“, in denen die „Gotteslästerungen“ der Juden publiziert wurden. Das bekannteste Beispiel dafür ist Johann Andreas Eisenmenger: Entdecktes Judenthum, oder gründlicher und wahrhaffter Bericht/ welchergestalt die verstockte Juden die hochheilige Drey-Einigkeit Gott Vatter/ Sohn und Heil. Geist/ erschrecklicherweise lästern […]. Königsberg 1711, wo Toldot Jeschu und andere feindliche Darstellungen Marias ausführlich zitiert werden. Zu Eisenmenger siehe Friedrich Niewöhner: Entdecktes Judentum und jüdische Augen=Gläser. Johann Andreas Eisenmenger. In: Denkwelten um 1700. Zehn intellektuelle Profile. Hg. von Richard van Dülmen, Sina Rauschenbach. Köln 2002, S. 167–180.
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als Prostituierte dargestellt wird, die ein böses Ende nimmt.4 Kein Wunder, dass die „Entlarvung“ dieser polemischen jüdischen Tradition in gelehrtem Hebräisch (die eher für den internen Genuss bestimmt war) durch Hebraisten wie Johann Christoph Wagenseil im späten siebzehnten Jahrhundert und Johann Andreas Eisenmenger um 1700 für Unbehagen sorgte. Marias Schmach in der rabbinischen Literatur diente dazu, ihren häretischen Sohn in Verruf zu bringen – das eigentliche Ziel der beißenden Satire. Die islamische Vorstellung von Jesus ist komplexer. Die christliche Behauptung, er sei der Sohn Gottes, wird, wie im Judentum, unverblümt abgelehnt – in der islamischen Theologie gilt eine solche Lehre als Schirk, als eine ‚Beigesellung‘, d. h. die falsche Zuschreibung einer Teilhabe an der Gottheit, die allein Gott gebührt, sprich als Götzendienst. Allerdings ist Jesus (ʻIsa) im Islam, im Gegensatz zum Judentum, kein Häretiker, sondern ein verehrter Prophet. Sogar in der direkten Anrede an Christen im Koran (4:171), wo sie gemahnt werden, aufzuhören, Jesus als Sohn Gottes und damit die Trinität zu verehren „Saget nicht [über Gott, er sei] drei“, wird Jesus als „der Gesalbte ʻIsa Sohn Maryams, Gottes Prophet und Sein Wort“ bezeichnet. Häufig wird Jesus im Koran Jesus „der Sohn Marias“ genannt (ʻIsa bin Maryam). Maria im Islam ist also weder die Mutter Gottes noch eines Häretikers, sondern die eines verehrten und von Christen als Gottheit missverstandenen Propheten. Dies könnte zu der Einschätzung führen, Maria für eine ehrwürdige genealogische Randerscheinung im islamischen Prophetenkatalog zu halten. Doch ganz im Gegenteil: Maria ist eine wichtige Gestalt in der islamischen Tradition und bei weitem die wichtigste Frau im Koran – sie wird in siebzig Koranversen erwähnt, und ist die einzige Frau im Koran, die namentlich erwähnt wird. Maryam, die im Koran als die größte aller Frauen gelobt wird, steht in mehreren muslimischen Traditionen an derselben hohen Stelle wie Muhammads Lieblingsfrau Aischa und seine geliebte Tochter Fatima.5 Im schiitischen Islam sind Maria und Fatima miteinander eng verbunden und werden oft zusammen verehrt.6 Maria soll Khadidscha bei der Geburt Fatimas wunderbarerweise geholfen haben und Jahre später
4 Siehe z. B. Holger Zellentin: Rabbi Lazarus and the Rich Man: A Talmudic Parody of the Late Roman Hell (Yerushalmi Hagigah 2.2, 77d and Sanhedrin 6.9, 23c). In: Knowledge and Profanation: Transgressing the Boundaries of Religion in Premodern Scholarship. Hg. von Martin Mulsow, Asaph Ben-Tov. Leiden (im Erscheinen). 5 Barbara Freyer Stowasser: Mary. In: Encyclopaedia of the Qur’ān. Hg. von Jane Dammen McAuliffe. Bd. 3. Leiden 2003, S. 288–296, hier S. 290 f. 6 Jane I. Smith, Yvonne Y. Haddad: The Virgin Mary in Islamic Tradition and Commentary. In: The Muslim World 79 (1989), S. 161–187, hier S. 180 f.
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die alte und todkranke Fatima getröstet haben.7 Mit dem Beharren darauf, sie sei keinesfalls die Mutter Gottes, übernimmt der Koran dennoch fast alle christlichen Marien-Attribute. So finden wir zum Beispiel im Koran das christliche Narrativ, dass Maria durch den Geist Gottes schwanger wurde – mit der strengen Mahnung, dass die wunderliche Geburt Jesu ihn keinesfalls zu Gottes Sohn macht. Darüber hinaus ist Maria die einzige Frau, nach der ein Korankapitel benannt wird. Kapitel 19 im Koran (Surat Maryam), eine frühe mekkanische Sure (d. h. ein Kapitel, das vor der Hidschra, der Auswanderung nach Yathrib (Medina) im Jahr 622, entstand), erzählt Folgendes (hier in der Übersetzung von Hartmut Bobzin): [16] Und gedenke im Buch der Maria: Da sie sich vor ihren Leuten an einen Ort im Osten zurückzog [17] und sich vor ihnen abschirmte. Da sandten wir unseren Geist zu ihr. Der trat als Mensch, gestaltet, vor sie hin. [18] Sie sprach: „Siehe, ich suche meine Zuflucht vor dir bei dem Erbarmer, sofern du gottesfürchtig bist.“ [19] Er sprach: „Ich bin der Gesandte deines Herrn, um dir einen lauteren Knaben zu schenken!“ [20] Sie sprach: „Wie soll ich einen Knaben bekommen, da mich noch kein Mann berührt hat und ich auch keine Dirne bin?“ [21] Er sprach: „So spricht dein Herr: ‚Das ist für mich ein Leichtes.‘„ Auf dass wir ihn zu einem Zeichen machen für die Menschen und zu einer Barmherzigkeit von uns. Da wurde es beschlossene Sache. [22] Sie wurde mit ihm schwanger und zog sich mit ihm zurück an einen weit entfernten Ort. [23] Da überkam sie am Stamm der Palme Wehen. Sie sprach: „Wehe mir! Wär ich doch vorher schon gestorben und ganz und gar vergessen!“ [24] Da rief es ihr von unterhalb der Palme zu: „Bekümmere dich nicht! Dein Herr hat unter dir ein Bächlein fließen lassen. [25] Rüttle am Stamm der Palme – hin zu dir, damit sie frische Früchte auf dich herunterfallen lässt! [26] Dann iss und trink, und sei guten Mutes! Wenn du dann irgendeinen Menschen siehst, so sprich: ‚Siehe, ich habe dem Erbarmer ein Fasten gelobt; daher kann ich heute zu keinem Menschen sprechen!“ [27] Dann kam sie mit ihm, ihn tragend, zu den Ihren. Sie sprachen: „Maria, da hast du etwas Unerhörtes getan! [28] Schwester Aarons, dein Vater war doch kein unzüchtiger Mann und deine Mutter keine Dirne.“ [29] Da deutete sie auf ihn. Sie sprachen: „Wie sollen wir zu einem sprechen, der noch ein Kind in der Wiege ist?“ [30] Er sprach: „ Ich bin der Knecht Gottes! Er gab mir das Buch und machte mich zum Propheten. [31] Er verlieh mir Segen, wo immer ich auch war, und trug mir das Gebet und die Armensteuer auf, solange ich am Leben bin. [32] Und Ehrerbietung gegen meine Mutter! Er machte mich zu keinem elenden Gewaltmensch! [33] Und Friede über mir am Tag, da ich geboren wurde, am Tag, an dem ich sterben werde, und an dem Tag, da ich zum Leben auferweckt werde!“ [34] Das ist Jesus, Marias Sohn, als Wort der Wahrheit, über das sie uneins sind. [35] Es steht Gott nicht an, einen Sohn anzunehmen – das sei ferne!8
Dem Muhammad-Biographen Ibn-Isḥaq (achtes Jahrhundert) zufolge spielte dieses Korankapitel eine wichtige Rolle in der Frühgeschichte des Islam. Im Jahr 613 (oder 615), als sich die Feindschaft der Bewohner Mekkas gegen die neue monotheis7 Stowasser (Anm. 5), S. 290 f. 8 Der Koran (Anm. 2), S. 263 f.
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tische Religion verschärfte, empfahl Muhammad einer Gruppe seiner Anhänger, die Flucht ins christliche Reich der Aksumiten (Äthiopien) zu ergreifen. Eine Mekkaner Delegation ihrer Gegner, wichtige Handelspartner des äthiopischen Kaisers (Negus), erreichte seinen Hof, um die Auslieferung ihrer muslimischen Feinde zu erlangen. Der christliche Herrscher verlangte laut Ibn-Isḥaq ein Glaubenszeugnis von den Muslimen. Nachdem sie ihre Religion knapp erläutert hatten, wurde Dschaʻfar, ihr Sprecher, vom Negus gefragt: „Hast Du etwas von der Offenbarung dabei, die euer Prophet euch brachte?“, fragte der Negus. „Ja.“ „Lies es mir vor!“ Dschaʻfar rezitierte einen Abschnitt aus der Sure „Maria“, und, wahrlich, der Negus weinte, bis sein Bart feucht war. Und auch seine Bischöfe weinten, bis Tränen ihre heiligen Schriften benetzten. Dann wandte sich der Negus an die beiden Abgesandten der Mekkaner [Muhammads Feinde] und sprach: „Diese Offenbarung und die Offenbarung Jesu kommen aus derselben Nische. Geht! Bei Gott, ich werde sie euch nicht ausliefern und sie nicht hintergehen!“9
In diesem Zusammenhang ist die Frage, wie viel von dieser Geschichte der historischen Wahrheit entspricht, weniger interessant als die Tatsache, dass sie unter den Muslimen der ersten Generation kursierte, und dass ein prominenter MuhammadBiograph aus dem achten Jahrhundert der Meinung war, sie sei einer ausführlichen Wiederholung würdig. In mancherlei Hinsicht ist Maria im Koran viel prominenter als Jesus. Jesus selbst taucht im Koran häufig mit dem Epitheton „Sohn Maryams“ auf (zweifelsohne eine polemische Betonung seiner Menschlichkeit) und während der Koran uns kaum vom Leben Jesu erzählt, finden wir in Surat Maryam und anderswo im Koran mehrere biographische Angaben zu seiner Mutter.10 Stellvertretend für die Hadith-Überlieferung (Sprüche und Meinungen, die Muhammed zugeschrieben werden) steht die folgende Äußerung von Abū Huraira, einem jüngeren Gefährten 9 Ibn-Isḥaq: Das Leben des Propheten. Übers. und hg. von Gernot Rotter. Kandern 1999, S. 67 f. 10 Vgl. Angelika Neuwirth: Imagining Mary – Disputing Jesus: Reading Sūrat Maryam and related Meccan texts within the Qur’ānic communication process. In: Fremde, Feinde und Kurioses. Innen- und Außenansichten unseres muslimischen Nachbarn. Hg. von Benjamin Jokisch, Ulrich Rebstock, Lawrence I. Conrad. Berlin 2009, S. 383–416; Dieselbe: Der Koran als Text der Spätantike. Ein Europäischer Zugang. Berlin 2010, S. 472–483 sowie Hosn Abboud: Mary in the Qur’an. New York 2014.
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Muhammads und wichtigen Hadith-Überlieferer (gest. 679)11: „Kein Neugeborenes wird geboren, ohne dass der Satan es berührt, wenn es geboren wird. Da beginnt es, wegen der Berührung des Satans zu schreien. Eine Ausnahme bilden Maria und ihr Sohn.“12 Diese koranische und spätere islamische Lehre wird, wie wir sehen werden, eine Resonanz unter frühneuzeitlichen katholischen Verfechtern der Lehre der unbefleckten Empfängnis finden, also in einem Kontext, den weder Muhammad noch Abū Huraira ahnen konnten. Maria spielte im mittelalterlichen Islam eine gewisse Rolle in der populären Frömmigkeit, besonders unter Frauen. Hier genüge es, auf die sogenannten Milchgrotten im Heiligen Land hinzuweisen, wo lokalen christlichen und islamischen Traditionen zufolge die Heilige Familie während der Flucht nach Ägypten weilte, und die durch Milchtropfen von der Brust der Jungfrau geheiligt wurden.13 Eine Frömmigkeit, die häufig von männlichen Vertretern der gelehrten Theologie abgelehnt wurde.14 Ob im Koran, in der Hadith-Überlieferung oder in praktizierter Frömmigkeit unter muslimischen Frauen (und Männern), ist Maryam die Mutter ʻIsas, ein respektvoller Bestandteil der muslimischen Tradition und, in gewisser Hinsicht, eine Figur mit religionsübergreifender Anziehungskraft, vor allem als Phänomen einer populären Frömmigkeit – und diese marianische Frömmigkeit hat in bestimmten muslimischen Kreisen bis in moderne Zeiten überlebt.15
1 Europäische Gelehrte begegnen Maryam der Mutter ʻIsas Nach dieser knappen Schilderung von Maria als eine islamische Figur widmen wir uns einer kurzen Betrachtung der Auseinandersetzung mit dieser islamischen Maria in der europäischen Gelehrtenrepublik der Frühen Neuzeit. Hier spielt die islamische Marien-Frömmigkeit, die Maria als Teil einer gelebten Religion versteht, kaum eine Rolle. Die christlichen Gelehrten, die uns hier interessieren, waren 11 Siehe Ali Bahramian: Abū Hurayra (übers. v. Farzin Negahban). In: Encyclopaedia Islamica. Bd. 2. Hg. von Wilferd Madelung, Farhad Daftary. Leiden 2009, S. 125–130. 12 Der Ḥadīth. Urkunde der islamischen Tradition. Hg. u. übers. von Adel Theodor Khoury. Bd. 1. Gütersloh 2008, S. 312. 13 Alexandra Cuffel: „Henceforward all generations will call me blessed“: Medieval Christian Tales of Non-Christian Marian Veneration. In: Mediterranean Studies 12 (2003), S. 37–60. 14 Ebd., S. 51. 15 So z. B. hat 1968 eine Reihe von Marien-Erscheinungen in Ägypten für Aufsehen gesorgt. Unter den Verehrern der erschienenen Jungfrau waren sowohl Kopten als auch Muslime. Siehe Smith, Haddad (Anm. 6), S. 161.
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gelehrte Männer, die sich mit den Schriften anderer gelehrter Männer auseinandersetzten und der Text, in dem sie einer fremden und gleichzeitig vertrauten Maria begegneten, war der Koran. Ein umfassender Bericht über die Koranrezeption in Europa zwischen Robert von Ketton im zwölften Jahrhundert, dem ersten Koranübersetzer ins Lateinische, und dem begeisterten Koranleser Goethe kann hier nicht geboten werden.16 Stattdessen werden einige Aspekte genannt, die für die vorliegende Untersuchung relevant sind. Bis zum achtzehnte Jahrhundert war der Kontext einer christlichen Beschäftigung mit der ‚Türken-Bibel‘ vorwiegend polemisch. Ein großer Teil dieser Beschäftigung (doch keinesfalls die ganze) hatte die sogenannte Entlarvung und Widerlegung des Korans zum Ziel. Das Entlarvungsmotiv ist zentral: der Koran für seine christlichen Leser war keinesfalls das lebendige Wort Gottes, sondern das Werk eines Betrügers. Darüber hinaus sind viele Lehren im Koran Anathema für christliche Rezipienten – vor allem die explizite Negierung der Dreieinigkeit. Allerdings bestand der Koran für seine vormodernen christlichen Leser aus einer Mischung von Lügen und Wahrheit. Was der Koran über Jesus lehrt, war eine ständige Quelle von Empörung und gleichzeitig von zustimmender Faszination — im Gegensatz zu jüdischen Äußerungen zum Thema, die von einer christlichen Perspektive ausschließlich negativ waren. So schreibt zum Beispiel der Nürnberger Pastor Salomon Schweigger (1551–1622)17 in seiner 1613 erschienenen Reisebeschreibung, die auf seinen Aufenthalt im osmanischen Reich (1576–1581) zurückgreift: Das ander stück im Alcoran seyn die groben vnverschämbten Lügen / die Mahomet von sich selbst rühmet […] Also muß der Teuffel die Mohametaner selbst vor dem Alcoranischen Greul warnen / als vor Lügenwerck / dem man nicht soll glauben geben […]
16 Die Koranrezeption im christlichen Europa ist ein aufschlussreiches Kapitel in der Geistesgeschichte des europäischen Mittelalters und der Neuzeit. Die letzten drei Jahrzehnte bezeugten eine Blüte in diesem Forschungsfeld. Für den Koran im christlichen Mittelalter siehe Thomas E. Burman: Reading the Qur’an in Latin Christendom, 1140–1560. Philadelphia 2007. Für die Auseinandersetzung mit dem Koran in der Reformation und den ersten Korandruck (eine bearbeitete Edition von Robert von Kettons lateinischer Übersetzung) siehe Hartmut Bobzin: Der Koran im Zeitalter der Reformation. Studien zur Frühgeschichte der Arabistik und Islamkunde in Europa. Beirut, Stuttgart 1995. Für eine Studie der Koranübersetzungen in Deutschland vom siebzehnten bis ins frühe neunzehnte Jahrhundert vgl. Alastair Hamilton: ‘To Rescue the Honour of the Germans’: Qur’an Translations by Eighteenth- and early Nineteenth-Century German Protestants. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 77 (2014), S. 173–209. 17 Zu Schweigger siehe Alexander Schunkas Artikel in: Frühe Neuzeit in Deutschland 1520–1620. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon. Hg. von Wilhelm Kühlmann u. a. Bd. 5. Berlin 2016, Sp. 590–597.
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Er thut auch offtermals meldung des HErrn Christi / dem er zeugnus gibt / daß er ein mächtiger Prophet Gottes / vnnd mit dem Ansehen alle andere Propheten übertreff / er bekennet / daß Christus ohn ein Mann von Maria geboren sey / vnd spricht / Christus sey das Wort Gottes / Welches recht geredet ist / aber der Teuffel hat ihn verblendet / vnd ihm seinen Verstand angefesselt / daß ers nicht soll recht verstehen / daß Wort so viel sey / als das Göttlich-Wesen […] Von Christo redet zwar Muhamet / der Teufflische Bestia / die Warheit / bald stöst erst wider mit einer vnverschämbten Lügen vmb / damit niemand wissen möge / wenn er liege oder wahr hab […].18
Drei Jahre später (1616) erschien Schweiggers Koranübersetzung – die erste in deutscher Sprache. Trotz seines früheren Aufenthalts im Orient war der Nürnberger Pastor des Arabischen nicht mächtig. Den Koran übersetzte er aus dem Italienischen (1547). Der italienische Koranübersetzer, Andrea Arrivabene, übersetzte den Koran gleichfalls nicht aus dem arabischen Original, sondern aus einer lateinischen Übersetzung, die 1546 in Basel erschien – diese war eine bearbeitete Fassung der lateinischen Übersetzung des Koran, die Robert von Ketton 1143 aus dem Arabischen verfertigte. Schweiggers deutsche Übersetzung (eine deutsche Übersetzung der italienischen Übersetzung der lateinischen Übersetzung) diente als Vorlage für die erste niederländische Übersetzung (1641). Moderne Philologen mag die derivative Natur der meisten vormodernen Koranübersetzungen irritieren, dies vermindert ihre jeweilige kulturhistorische Bedeutung indes nicht. So war etwa die deutsche Koranübersetzung, die den jungen Goethe beeindruckte, diejenige von Theodor Arnold (1746), die die englische Version von George Sale (1734) als Vorlage hatte. Sale (im Gegensatz zu Arnold oder Goethe) konnte zwar Arabisch, seine elegante englische Übersetzung basiert jedoch zum großen Teil auf der lateinischen Übersetzung von Ludovico Marracci (1698), seinerzeit ein Meilenstein der orientalischen Studien.19 Die europäische Auseinandersetzung mit dem Koran in der Frühen Neuzeit war zutiefst konfessionell geprägt und gleichzeitig die Frucht eines intensiven interkonfessionellen Wissenstransfers sowie einer gleichzeitigen Konkurrenz. Für das siebzehnte Jahrhundert ist es zu unspezifisch, allgemein über christliche Reaktionen auf den Koran, oder auf Maria im Koran zu reden – es sind, selbstbewusst, katholische, lutherische oder reformierte Auseinandersetzungen. Wenige Themen im Koran sind für eine solche konfessionalisierte europäische Interpretation so sensibel wie die Darstellung Marias. Auch gelehrte Theologen, die keine Orien-
18 Salomon Schweigger: Ein newe Reißbeschreibung auß Teutschland Nach Constantinopel vnd Jerusalem. Nürnberg 1613, S. 180–182. 19 Ludovico Marracci: Alcorani textus universus. Padua 1698. Dazu Alexander Bevilacqua: The Qur’an Translations of Marracci and Sale. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 76 (2013), S. 93–130.
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talisten waren, befassten sich mit der Darstellung Marias im Koran. Schon für Luthers frühe Gegner wie etwa Johannes Cochläus galt die „Missachtung Marias“ als gemeinsames Merkmal der Protestanten und der „Türken“.20 In der konfessionellen Polemik wurde der Koran sowohl von Protestanten als auch von Katholiken als nützliches Wahrheitszeugnis benutzt. Konfessionelle Polemiker, die dies taten, sind keine Krypto-Muslime, und wie die oben zitierte Stelle von Schweigger, die stellvertretend für eine weitverbreitete Ambivalenz steht, deutlich macht, implizierte die Auffassung, dass der Koran gewisse Wahrheiten enthalte, die mit der eigenen konfessionellen Position übereinstimmen, auch keine Sympathie für den Islam oder für Muslime. Vieles an der Darstellung Marias im Koran konnte und durfte Christen gut gefallen, andere Aspekte, wie wir sehen werden, wurden zum Gegenstand konfessioneller Polemik. Ein Punkt, der besonders viel Aufmerksamkeit bei den Konfessionen in der Frühen Neuzeit erregte, ist kein dogmatischer Punkt, sondern die Identifizierung Marias in Sure 19 als die Schwester Aarons (ucht Harūn). Für Leser, die den Koran als Sammelsurium von Lügen und verstümmelten biblischen Geschichten sahen, war diese Identifizierung ein Corpus Delicti. Hier, so der Gang der christlichen Polemik, habe sich Muhammad entlarvt. Kein göttlich inspirierter Prophet würde Maria, die Mutter Gottes, mit Miriam,21 der Schwester von Aaron und Moses, verwechseln. Die christliche Schadenfreude ist an dieser Stelle noch größer angesichts der muslimischen Behauptung, der Koran sei die ipsissima verba Gottes. Die allwissende Gottheit, bemerkte eine lange Reihe christlicher Betrachter, wüsste doch, dass die Mutter Gottes von ihrer früheren Namensvetterin zu unterscheiden sei. Diesen Vorwurf nahmen muslimische Exegeten von Anfang an ernst, und schufen Erklärungen, die den Koran von einem plumpen Fehler und Muhammad von den Betrugsvorwürfen freisprachen. Eine verbreitete Verteidigung war, der in Sure 19 erwähnte Aaron sei nicht derselbe Aaron wie der Bruder von Moses im Buch Genesis – wahrlich gab es mehrere Israeliten und später Juden, die diesen Namen trugen. Muslimische Exegeten hatten auch andere Erklärungen – ihre christlichen Widersacher hatten allerdings auch noch andere Vorwürfe. In diesem Kontext ist zu bemerken, dass die Verwechslung der beiden Miriam/Maryam/Maria im Zentrum einiger prominenter europäischer Lektüren dieser Sure stand. Bei dem großen Koranübersetzer Ludovico Marracci stand dieser Punkt schon in seinem 20 Thomas Kaufmann: „Türckenbüchlein“. Zur christlichen Wahrnehmung „türkischer Religion“ in Spätmittelalter und Reformation. Göttingen 2008, S. 45. 21 Der Namensunterschied Maria/Miriam in einigen europäischen Sprachen spielt hier keine Rolle. Die alttestamentliche Schwester von Aaron und Moses und die (Jahrhunderte spätere) Mutter von Jesus von Nazareth trugen denselben Namen.
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Prodromus ad refutationem Alcorani (1688)22 und bildete den wesentlichen Kern seines Kommentars zu der Sure. Marracci, der mehr als jeder andere Europäer seiner Zeit die islamische Exegetik kannte, ließ sich von den ‚Ausreden‘ muslimischer Theologen nicht beeindrucken. 1705 veröffentlichte der niederländische Orientalist Adriaan Reland (1676–1718) seine bahnbrechende Abhandlung De religione Mohammedica23 – ein Werk, das häufig als ein Meilenstein der aufgeklärten Auseinandersetzung mit dem Islam gesehen wurde und sich bewusst von der traditionellen christlichen Polemik distanziert. Es ist aufschlussreich, dass Reland der Identifizierung Marias als „die Schwester Aarons“ in Sure 19 ein Kapitel in seinem Werk widmet, wobei er dafür plädiert, die exegetischen Erklärungen muslimischer Theologen ernster zu nehmen – es gebe keinen zwingenden Grund, diese nicht zur Kenntnis zu nehmen. So wird der Spieß umgedreht und der uralte Zankapfel um Marias Identität wird zum Plädoyer für eine unbefangene Lektüre einer fremden Religion. Die polemische Rolle der koranischen Maryam, der Schwester Aarons und Mutter ʻIsas, beschränkte sich nicht auf christlich-muslimische Debatten. Ihre Entdeckung durch christliche Leser in der Frühen Neuzeit gewann konfessionelle Dimensionen, die Muhammad verblüfft hätten. Ein gutes Beispiel dafür bietet uns der berühmte niederländische Jesuit und „zweite Apostel Deutschlands“ Petrus Canisius (1521–1597). 1577 erschien sein umfangreiches De Maria Virgine incomparabili, et Dei genitrice sacrosancta libri quinque. Als Teil seiner Kritik an der mangelhaften Achtung der Häretiker (Protestanten) für Maria hält sich Canisius mit der islamischen Stellung zu Maria auf: Die Mohammedaner, weit entfernt vom christlichen Glauben wie sie sind, sind in diesem Punkt den Sektenmitgliedern überlegen, indem sie Maria gerechter werden und an die klare Wahrheit näher kommen und ihr Urteil ist richtiger. Da ihre Religion vom Koran abhängt, dort lesen sie es geschrieben, und sind sich dessen sicher, und wollen auch, dass alle der Meinung sein werden, dass Maria, die Tochter Joachims, ihr ganzes Leben kein einziges Mal Bosheit oder Verdorbenheit beging, sondern immer im Guten beharrte. Und dies ist eine feste Lehre bei ihnen: Keiner von den Kindern Adams wurde geboren, der vom Satan nicht berührt wurde, außer Maria und ihr Sohn. Und die folgende Lehre bestätigen sie auch
22 Das Werk erschien zehn Jahre vor Marraccis wichtiger Koranübersetzung. 23 Adriaan Reland: De Religione Mohammedica libri duo. Quorum prior exhibet compendium theologiae mohammedicae, ex codice manuscripto arabice editum, latine versum, & notis illustratum. Posterior examinat nonnulla, quae falso Mohammedanis tribuuntur. Utrecht 1705. Zu Reland und seinem breiteren historischen Kontext siehe Alexander Bevilacqua: The Republic of Arabic Letters. Islam and the European Enlightenment. Cambridge, MA, 2018, S. 75–107 sowie Arnoud Vrolijk, Richard van Leeuwen: Arabic Studies in the Netherlands. A Short History in Portraits, 1580–1950. Übers. von Alastair Hamilton. Leiden 2014, S. 65–72.
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standhaft: Viele der Männer waren vollkommen, keine aber unter den Frauen außer Maria, der Mutter Isas [Jesus]. 24
Das Letztere ist eine wortgetreue Wiederholung der oben zitierten Hadith-Überlieferung Abū Hurairas. Falls dies zu Islam-freundlich klingt, stellt Canisius klar: „Nicht dass wir uns auf die Autorität des Korans oder einer mohammedanischen Lehre stützen – fern sei eine solche dumme Meinung und beschämende Eitelkeit.“25 Allerdings sah der gelehrte Jesuit in der koranischen Lehre über Marias Vollkommenheit und unbefleckte Empfängnis eine willkommene externe Bestätigung des katholischen Glaubens gegen die Protestanten. Um diese für die Verfechter der Lehre von der unbefleckten Empfängnis sehr passende Stelle in der Hadith-Literatur zu finden, musste Canisius in seltenen arabischen Manuskripten nicht wühlen. Meines Wissens war er des Arabischen nicht mächtig – eine ohnehin äußerst seltene Kompetenz unter Europäern im sechzehnten Jahrhundert. Diese Stelle bei Abu-Huraira war in gedrucktem Latein bereits in dem Werk des gelehrten Franziskaners und Orientalisten Pietro Colonna Galatino (1460–1540) vorhanden.26 Im siebten Buch seines De arcanis catholicae veritatis27 befasst sich Galatino mit der Lehre von der unbefleckten Empfängnis. Im Gegensatz zu Canisius und anderen katholischen Verfassern, die gegen Luther und andere „Häretiker“ polemisieren, entstand Galatinos Werk in einem vorreformatorischen Kontext: Es ist kein Wunder, dass heilige Männer an dieser Lehrmeinung [von der unbefleckten Empfängnis] festhielten, wenn selbst Muhammad, der Feind des christlichen Glaubens, an derselben festhielt, wie man in den eigenen Büchern der Sarazenen liest. Deren einer
24 Petrus Canisius: De Maria Virgine incomparabili, et Dei genitrice sacrosancta libri quinque. Ingolstadt 1577, S. 71 f.: „Quid? Quod Mahometani quantumuis Christianae religionis expertes, hac in parte vincunt Sectarios, quum Mariae sint aeqiores, & ad veritatem [72] hactenus demonstratam propius accedant, multoque rectius iudicent. Quum enim religio illorum ex Alcorano pendeat, quod illic scriptum legunt, certo sibi persuadent, omnibusque persuasum esse volunt, nimirum Mariam filiam Ioachim se dirigendo nihil malitiae aut prauitatis, quum viueret, vnquam operatam esse, sed in bonitate perseverasse. Et fixum hoc apud illos manet dogma: Nullus nascitur de filiis Adam, quem non tangat Satan, praeter Mariam & eius Filium. Sed & illud constanter affirmant: Multi perfecti fuerunt ex viris, nulla perfecta vnquam ex mulieribus, nisi Maria mater Ysae, sicut Ebumuce ex Mahomet Propheta cognouit. Sed & Angeli producuntur, sic alloquentes Virginem: O Maria omnibus viris & mulieribus mundior atque doctor, quae soli Deo studes perseueranter. Non quod Alcorani vel cuiusuis Mahumetanae doctrinae authoritate nitamur, absit stulta persuasio vanitasque pudenda […].“ 25 Ebd. 26 Siehe Robert J. Wilkinson: Orientalism, Aramaic and Kabbalah in the Catholic Reformation: The first Printing of the Syriac New Testament. Leiden 2007, S. 58–61. 27 Für ein Werk, das in einem vorreformatorischen Kontext entstand, ist „catholica veritas“ natürlich nicht im konfessionellen Sinn zu verstehen.
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Albokari heißt und ein anderer Mezlum. Bei ihnen steht es so: Ebihorayra, der Gefährte Muhammads, sagte, dass er den Gesandten Gottes sagen hörte: Es ist keiner unter den Söhnen Adams geboren, den Satan nicht anfasste als er zur Welt kam, und daher weint [ein jeder Mensch] laut schreiend wegen der Berührung des Satans [bei der Geburt], außer Maria und ihr Sohn.28
Sowohl Canisius’ De Maria Virgine (1577) als auch Galatinos De arcanis (1518) waren weit bekannte und gelesene Autoritäten. Sie waren keinesfalls die einzigen katholischen Denker, die Marias unbefleckte Empfängnis im Islam – oder eher, was sie als unbefleckte Empfängnis im Islam verstanden – wahrnahmen. Durch ihre Autorität gewann diese Lehre im Koran und in der Hadith eine Resonanz unter Katholiken: sowohl in gelehrten lateinischen Traktaten als auch in deutschsprachigen Predigten. Die folgenden Beispiele stehen hier stellvertretend für die breitere katholische Rezeption dieser muslimischen Darstellung Marias, durch ihre Erscheinung bei Galatino und Canisius. Der Theologe Hieronymus Schaitter29 schreibt in seinem polemischen Rosen-Zaun (1715): Auch der gottlose Mahomet/ wie bezeuget Petrus Galatinus, und Canisius de Beata Virgine, hat die Wahrheit nicht in Zweiffel zogen/ sondern in seinem Alcoran mit disen Worten bekennet: Nullus nascitur ex filiis Adam, quem non tangat Sathan, praeter Mariam, & filium ejus: Keiner wird gebohren aus den Kindern Adam/ welchen der Teuffel nicht berühren thäte/ augenommen Maria und ihr Sohn.30
28 Pietro Colonna Galatino: Opus toti christianę Reipublicę maxime utile, de arcanis catholicę ueritatis, contra obstinantissimam Iudęorum nostrę tempestatis perfidiam: ex Talmud, aliisque hebraicis libris nuper excerptum. Ortona 1518, S. I1v: „Quid mirum si sancti viri opinionem hanc tenuerunt, cum Mahmedus veritatis catholicae inimicus, ipsam tenuerit, ut in authenticis Saracenorum libris legitur? Quorum unus Albokari: Alter vero Mezlum vocatur. In his enim sic ad verbum dicitur, Dixit Ebihorayra socius scilicet Mahmedi, Quod audiuit nuncium Dei, id est Mahmedum dicentem, Nullus nascitur de filiis Adam, quem non tangat satan quando nascitur, & ideo plorat vociferans, ex tactu satanę, praeter Mariam & filium eius. Clamor enim infantis cum cadit de ventre matris, propter percussionem satan contingit. Item dixit Ebumuce, Prophetam id est Mahmed dixisse, Multi perfecti fuerunt ex viris, nulla vero perfecta fuit unquam ex mulieribus, nisi Maria mater Iesu. Ex his igitur quae dicta sunt liquido constat, opinionem de immaculate virginis conception, non recentem, sed antiquissimam esse.“ Galatinos Werk, das im Kontext des Reuchlin-Streits entstand, wurde bis ins späte siebzehnte Jahrhundert wiederholt gedruckt, in späteren Ausgaben unter dem Titel De arcanis catholicae veritatis. 29 Auf der Titelseite seines Werks (siehe folgende Anm.) erscheint der inzwischen in Vergessenheit geratene Schaitter als „Dr. Theol, ehemaliger Dekan und Pfarrer in Leien im Bistum Brixen und Triester Theologe und prosynodaler Examinator“. 30 Hieronymus Schaitter: Rosen-Zaun wider andringendes Unheil des Leibs und der Seelen / Geschict- und andere Predigen Maria der allerseeligsten Mutter Gottes / und Dero heiligen RosenKrantz. Augsburg 1715.
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Dass der Spruch aus einer Hadith und nicht aus dem Koran kommt, hätte weder Schaitter noch seine Zuhörer gestört. Gerade als relativ ungelehrtes Zitat ist diese Stelle aufschlussreich. Wichtig in diesem Kontext ist die Tatsache, dass diese Hadith durch die Ermittlung Galatinos und Canisius’ zu einem Allgemeingut in der katholischen Verteidigung Marias gegen die „Häretiker“ wurde. Dasselbe Zitat finden wir (fast wortwörtlich) 1745 bei dem Kapuziner Jordanus von Wasserburg (1670–1739): Verlanget ihr noch einen unpartheyischen Zeugen, so höret einen, der den wahren Gott gar nicht erkannt, oder doch verleugnet hat, höret, was so gar der gottlose Mahomet von Maria in seinem Alcoran gesetzet hat nach Zeugnuß Galatini lib. 7. Nullus, sagte er, nullus nascitur ex filiis Adam, quem non tangat Sathan, praeter Mariam, & filium ejus. […] Sehet Wunder! Also werden so gar die Feind und boshaftigste Menschen gezwungen die wahrhafftiste Bezeugnussen von Maria zu geben.31
Der katholische Theologe und Prediger Christian Brez (1667–1743) verurteilte 1723 in einer Predigt Martin Luthers Weigerung, Marias Heiligkeit anzuerkennen. Sogar Muhammad „Turcarum antesignanus“ hatte ihre Vollkommenheit anerkannt. Die Zitate aus den Lehren der „Mohammedaner“ werden als lateinische Zitate (in diesem Fall ohne Nachweis) in die deutsche Predigt integriert. Die Gemeindemitglieder mussten aber die lateinischen Zitate aus den muslimischen Quellen (Canisius oder Galatino) nicht folgen können, um das Argument des Predigers zu verstehen: Sogar Feinde des Glaubens wie Muhammad und Martin Bucer (sic!) haben, im Gegensatz zum Erzhäretiker Luther, die Vollkommenheit Marias anerkannt.32 Drei Jahrzehnte später (1756) donnerte der Franziskaner Viktor Mayr in einer Predigt: Ist es möglich? Oder hätte jemahlen ein vernünfftiger Mensch ihme beyfallen lassen können, daß es so weit kommen werde, daß jemand Mariä, einer Mutter Gottes die gebührende Verehrung absprechen sollte? De qua natus est Jesus […] Der gottlose Mahomet, ein Feind Gottes und alles Glaubens, hat in seinem Alcoran von Maria folgendes lobsames gesprochen: O Maria! Omnibus viris & mulieribus splendidior, & mundior, atque laetior, soli Deo perseveranter studens: O Maria! Du glantzest mehr, bist reiner und frölicher dann alle Manns und Weibsbilder, hast dich an Gott alleinig gehencket. Nullus nascitur de filiis Adam quem non tangat Sathan praeter Mariam & ejus filium: Alle von Adam gebohrne, Mariam und ihren Sohn ausgenommen, hat die höllische Schlang gehecket: felices igitur tantae
31 Jordanus von Wasserburg: Geist- und Lehr-reich-flüssende, wohl-eingerichtete und in zwey Theil abgetheilte Concept, deren erster Sonn-Feyrtags-Oelberg- und Exempel-Predigten/ deren zweyther extraordinari-Kirchenweyh-Einkleydungs Primiz- und andere Predigen in sich enthaltet. Regensburg 1745, S. 21 f. 32 Christian Brez: Sermones Panegyrici […] Das ist: Lob-Predigen. Bd. 2. Nürnberg 1723, S. 83.
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matris filios, quibus humani generis hostis nullam adferre potest nocumentum: O! dann glückseelig die Kinder einer so grossen Mutter, denen der allgemeine Feind des menschlichen Geschlechts keinen Schaden zufügen mag: welches von mir darumen hat sollen eingerucket werden, und also die Läster-Goschen zustopffen, einem wetterhanischen unbeständigen, Gelübd- und treubrüchigen Luther, sammt anderen ketzerisch-gesinnten Irrgeistern, welche von Maria ohnangesehehn: de qua natus est Jesus: daß von ihr Jesus gebohren worden, wohl schlechte Meynung högen, und geringe Achtbarkeit führen.33
Muhammad dient Brez als Wahrheitszeuge gegen den „unstättigen Luther samt anderen Ketzeren“. Die konfessionelle Indienstnahme muslimischer Vorstellungen von Maria war keinesfalls eine katholische Domäne. Wenn die katholischen Argumente den Koran als verhassten, aber in dieser Sache vertrauenswürdigen externen Zeugen annahmen (nach dem Muster: „Sogar die Mohammedaner behandeln die Mutter Gottes mit mehr Respekt als die Protestanten“), läuft die protestantische Argumentation auf anderen Gleisen. Ein gutes Beispiel für anti-katholische Argumentation gelehrter Protestanten bietet uns der Altdorfer Orientalist Theodoricus Hackspan (1607–1659). 1646 erschien sein Fides et Leges Muhammaedis,34 ein Versuch, die Hauptlehren des Islams systematisch darzulegen.35 Im Laufe dieser Besprechung kommt Hackspan zu einer der zentralen anti-christlichen Koranstellen, 5:116: Und damals, als Gott sprach: „O Jesus, Sohn Marias, hast Du den Menschen denn gesagt: ‚Nehmt mich und meine Mutter zu Göttern neben Gott?‘„ Er sprach: „Gepriesen seist du! Mir steht nicht zu, dass ich etwas sage, wozu ich nicht berechtigt bin. Und hätte ich es gesagt, so weißt du es; du weißt ja, was in meinem Inneren ist, doch ich weiß nicht, was in deinem Innern ist. Siehe, du bist es, der die Verborgenheiten am besten kennt. Ich habe ihnen nur gesagt, was du mir aufgetragen hast.“36
33 Victurus Mayr: Concionator panegyrico-moralis. Das ist: Sittliche, Christ-Katholische Lob- und Ehren-Predigen. Bd. 2. Regensburg 1756, S. 268. 34 Theodoricus Hackspan: Fides et leges Mohammaedis exhibitae ex Alkorani manuscripto duplici, praemissis institutionibus arabicis. Altdorf 1646. 35 Über dieses Werk siehe Asaph Ben-Tov: Theodoricus Hackspan. In: Christian-Muslim Relations. A Bibliographical History. Volume 9. Western and Southern Europe (1600–1700). Hg. von David Thomas, John Chesworth. Leiden 2017, S. 844–849. Über Hackspans konfessionalisierte Vorstellung und Indienstnahme des Islams siehe Dietrich Klein: Inventing Islam in Support of Christian Truth: Theodor Hackspan’s Arabic Studies in Altdorf 1642–6. In: History of Universities 25 (2010), S. 26–55. 36 Der Koran (Anm. 2), S. 108.
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An diesem grundlegenden Punkt mögen die konfessionellen Unterschiede frühneuzeitlicher Protestanten und Katholiken nebensächlich erscheinen. Sowohl der lutherische Hackspan als auch katholische Orientalisten waren einig in ihrer Ablehnung dieser koranischen Vorstellung von der Gottheit Jesu als verwerflicher Wahn seiner Nachfolger, von denen sich Jesus in diesem Koranvers distanziert. Es verwundert auch nicht, dass sich unter den Autoritäten, derer sich Hackspan bedient, auch der italienische Orientalist Filippo Guadagnoli (1596–1656) findet.37 Guadagnoli war ein Mitglied der Minderen Regularkleriker und ein konfessionsübergreifend anerkannter Experte für Syrisch und Arabisch. 1631 veröffentlichte Guadagnoli sein berühmtestes Werk Apologia pro christiana religione, eine ausführliche und gelehrte Antwort auf die anti-christliche Schrift Miṣqāl-i ṣafā (Polierer des Spiegels) des safavidischen Theologen Aḥmad ibn Zain al-ʻĀbadīn (gest. ca. 1644–1650). Im Gegensatz zu den meisten europäischen anti-islamischen Polemiken, die letztendlich für das eigene Publikum gemeint wurden, war Guadagnolis Werk zugleich auch als genuine Auseinandersetzung mit Muslimen gemeint. Guadagnoli bereitete eine arabische Übersetzung seines Traktats vor (mit kleinen Änderungen, wie z. B. eine Abmilderung der Kritik an Muhammads Person, die das Werk für muslimische Leser akzeptabler machen sollten).38 Der Lutheraner Hackspan und sein katholischer Zeitgenosse Guadagnoli stehen hinsichtlich der islamischen Ablehnung der Gottheit Jesu auf derselben Seite. Hackspan zitiert Guadagnoli zustimmend. Darüber hinaus fährt der Altdorfer Orientalist in offener Anerkennung Guadagnolis Argument fort, irrt sich Muhammad jämmerlich, indem er in Sure 19 den Engel Gabriel bei der Verkündigung nicht als den Heiligen Geist anerkennt. „Nehmt mich und meine Mutter zu Göttern neben Gott“ ist für den Lutheraner, genau wie für den Katholiken, eine inakzeptable Verstümmelung der Trinitätslehre. An diesem Punkt allerdings nimmt die protestantisch-katholische Solidarität bei Hackspan ein jähes Ende. Wie aber, fragt sich Hackspan, sind die Mohammedaner zu der Behauptung gekommen, Maria sei von den Christen als Teil der Dreieinigkeit verehrt. Schuld an diesem islamischen Irrtum sind Christen, wie Guadagnoli und andere Katholiken, mit ihrer übertriebenen Marien-Verehrung: „Wer der seligen (beatae) Maria göttliche Ehren widmet, soll es auf sein eigenes Risiko tun (id suo faciant periculo).“39 Katholiken, fährt Hackspan fort, die bei der Taufe Maria aufrufen, tun damit den Mohammedanern einen Gefallen. Christen, die Maria wie eine Göttin verehren, bestätigen nur diese islamische Blasphemie. Diese anti-katholische Polemik finden wir auch ein Jahrhundert später bei George
37 Alberto Tiburcio: Filippo Guadagnoli. In: Christian-Muslim Relations (Anm. 35), S. 749–755. 38 Ebd., S. 753–754. 39 Hackspan (Anm. 34), S. I3r.
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Sale (1697–1736), dem schon oben genannten englischen Koranübersetzer, der im Gegensatz zu den Theologen Guadagnoli und Hackspan dem Koran (auch) als poetischem Meisterwerk gerecht zu werden versuchte – und dies mit beachtlichem Erfolg. In seiner Geschichte Arabiens (die als Einleitung zu seiner Koranübersetzung dient) schreibt Sale, dass Arabien am Vorabend des Islams für seine Häresien berüchtigt war, darunter der Glaube an die Gottheit Marias: This notion of the divinity of the Virgin Mary was also believed by some at the council of Nice, who said there were two gods besides the Father, viz. Christ and the Virgin Mary, and were thence named Mariamites. Others imagined her to be exempt from humanity, and deified; which goes but little beyond the Popish superstition in calling her the complement of the Trinity, as if it were imperfect without her. This foolish imagination is justly condemned in the Korán as idolatrous, and gave a handle to Mohammed to attack the Trinity itself.40
Auch wenn Sale die Dreieinigkeit verteidigt, ist Muhammads Irrtum im Kontext der spätantiken marianischen Häresien in Arabien wohl verständlich. Eine christliche Häresie auf der arabischen Halbinsel, die von anderen Autoren erwähnt wird, war die der Collyridianer, einer Sekte, deren Anhänger, vor allem Frauen, Maria als Gottheit verehrten und ihr (wie der Göttin Demeter) Kuchen und Brote opferten. Kein Wunder, dass der Danziger Pädagoge Samuel Schelwig (1643–1715) in seiner Dissertation über diese fast vergessene spätantike Sekte in Arabien De Collyridianis (1686) die vermeintliche Ähnlichkeit mit den zeitgenössischen „Papisten“ betont. Da der Aufstieg des Islams häufig als eine Folge des Verfalls der östlichen Kirchen im siebenten Jahrhundert erklärt wurde, überrascht es nicht, dass Edmund Law (1703–1787) in seinem Considerations on the theory of religion (1745) die Schuld an Muhammads Identifizierung Marias als das dritte Glied der Dreieinigkeit dem „päpstlichen Verderben“ zuschrieb: One may see to what height the Romish corruptions were grown in Mahomet’s time, by his reproaching the Christians with their associating to God their doctors and monks [Alcoran ix. 31.] and by his surprizing mistake of the Virgin Mary, for the third person in the Trinity.41
Wir beenden unseren Überblick mit dem großen Zeitgenossen von Edmund Law und Carsten Niebuhr, Edward Gibbon (1737–1794), und seiner kurzen Bemerkung zur Marien-Verehrung und dem Aufstieg des Islams. Laut Gibbon war die Lehre der unbefleckten Empfängnis eine katholische Anleihe vom Koran! Ein Argument,
40 George Sale: The Koran commonly called the Alcoran of Mohammed […] to which is prefixed, a preliminary discourse. Bd. 1. London 1734, S. 45 f. 41 Zitiert nach der vierten Auflage: Edmund Law: Considerations on the Theory of Religion. London 1759, S. 195.
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das, wenn man es akzeptiert, der Kritik von Canisius’ und seinen Mitstreitern eine ironische Wendung verleiht. Protestantische Polemiker hätten sich über dieses Argument gefreut – ihre Freude allerdings wäre von kurzer Dauer gewesen, denn Gibbon ist kein Verfechter der protestantischen Polemik. Er schreibt weiter: The Christians of the seventh century had insensibly relapsed into a semblance of paganism: their public and private vows were addressed to the relics and images that disgraces the temples of the East: the throne of the Almighty was darkened by a cloud of martyrs, and saints, and angels, the object of popular veneration; and the Collyridian heretics, who flourished in the fruitful soil of Arabia, invested the Virgin Mary with the name and honours of goddess.42
Gibbon kennt und zitiert die älteren Orientalisten, aber seine Absicht weicht von den ihrigen radikal ab: Über die christliche Ablehnung der muslimischen Polytheismusvorwürfe schreibt Gibbon „An orthodox commentary will satisfy only a believing mind“ – und gerade ein solcher war Gibbon nicht mehr. Ob Carsten Niebuhrs Begleiter auf dem Berg Sinai Maria aus Überzeugung oder interkultureller Höflichkeit anbeteten, werden wir wahrscheinlich nie erfahren. Niebuhrs Reaktion auf die muslimische Marien-Verehrung bietet ein bemerkenswert undramatisches Ende für eine frühneuzeitliche Geschichte, die sich von der empörten Verteidigung der christlichen Religion und der eigenen Konfession bis zu Edward Gibbons Kritik des Christentums cum ira et studio entfaltete.
42 Edward Gibbon: The History of the Decline and Fall of the Roman Empire, Kap. 50. Zitiert nach der Everyman’s Library-Ausgabe. Bd. 5. New York 1994, S. 262.
Stefano Saracino
Wissen über und Gefühle für die Gottesmutter: Der Marienkult griechischorthodoxer Migranten und die Konfessionen im Heiligen Römischen Reich Das Christentum allein mit Christus, aber ohne die Gottesmutter, das ist seinem Wesen nach eine andere Religion als die Orthodoxie, und der Protestantismus ist von der Kirche nicht durch einzelne seiner Irrlehren und willkürlichen Verkürzungen, sondern vor allem und wesentlicher durch sein fehlendes Gefühl für die Gottesmutter getrennt.
Diese angriffslustigen Zeilen stammen vom russischen Exiltheologen Sergei Nikolajewitsch Bulgakow (1871–1944), der innerhalb der russisch-orthodoxen Kirche durchaus streitbar und umstritten war.1 Das Zitat soll aber hier nur das Interesse wecken für die Frage, die im Mittelpunkt des vorliegenden Aufsatzes stehen wird, welche Rolle der Marienkult der Ostorthodoxen bei der historischen Genese und Gestaltung der Beziehungen spielte, die in der Frühen Neuzeit zwischen Anhängern der Konfessionen des Alten Reichs einerseits und griechisch-orthodoxen Migranten aus dem Osmanischen Reich andererseits zustande kamen. Das „fehlende Gefühl für die Gottesmutter“ oder neutraler formuliert die fehlende Sensibilität gepaart mit einem geringen Wissen hinsichtlich des ostorthodoxen Marienkults seitens lutherischer, reformierter und auch katholischer Interaktionspartner von osmanischen Migranten wird uns bei der Auswertung der im Rahmen dieses Beitrags herangezogenen Quellenmaterialien noch weiter beschäftigen. Es wird sich dabei zeigen, dass ebenfalls lutherische Akteure gelegentlich den Marienkult der Griechen als gegenüber der Muttergottes entwürdigend erachteten.2 Im Alten Reich musste allerdings zunächst Wissen erlangt werden über den Glauben und Ritus, über die ‚Konfessionskultur‘ der zeitgenössischen Griechen im Osmanischen Reich im Allgemeinen und über den Marienkult im Besonderen. Erst nachdem ein Prozess der ‚Wiederentdeckung‘ der Ostchristenheit eingesetzt
1 Das Zitat stammt aus dem Jahr 1925 und wird zitiert nach Karl Christian Felmy: Einführung in die orthodoxe Theologie der Gegenwart. Berlin 2011, S. 104. Vgl. auch Catherine Evtuhov: The Cross and the Sickle. Sergei Bulgakov and the fate of Russian religious philosophy. Ithaca 1997. 2 Mit ‚Griechen‘ wird in den zu untersuchenden Quellen und ihrer Entstehungszeit eher eine konfessionelle, denn eine ethnische Zugehörigkeit bezeichnet. Auch die als ‚griechisch‘ bezeichneten Migrantengruppen, die uns im Folgenden beschäftigen werden, waren in religiös-konfessioneller, nicht in ethnischer Hinsicht homogen. https://doi.org/10.1515/9783110665109-007
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hatte, konnten Fragen rund um die theologische Stellung der Gottesmutter oder die Marienverehrung ihre trennende oder verbindende Wirkungsmacht entfalten. Das Wissen in der Generation der Reformatoren und auch der unmittelbaren Folgegenerationen über die Confessio Graeca war, trotz erster Kontakte zu ostorthodoxen Klerikern, die bereits zur Zeit Melanchthons zustande kamen, sehr rudimentär.3 Der Gräzist und Humanist Martin Crusius (1526–1607), der die aktivste Person und treibende Kraft unter den Protagonisten des Briefwechsels zwischen den Tübinger Theologen und dem ökumenischen Patriarchat in Konstantinopel in den Jahren 1573 bis 1581 war, bringt den Wissensstand im Alten Reich in seinem ersten Brief an Patriarch Jeremias II. wie folgt zum Ausdruck: Vor vielen Jahren habe ich gemeint, der Glaube unseres Heilandes Christus sei in Euren Gegenden nicht mehr zu finden. Später aber erfuhr ich, daß ein nicht zu verachtender glimmernder Docht der Gemeinde Christi dort noch übrig sei. Darüber freute ich mich sehr, und ich sagte unserem allein wahren Gott für solche Wohltat von ganzem Herzen Dank und wünschte, die Sache möge zur Ehre Gottes und zum Heile vieler Seelen täglich bessere Fortschritte machen.4
Auch noch über ein Jahrhundert später klagten Gelehrte im Alten Reich, wie etwa der Rostocker lutherische Theologe Johann Fecht (1636–1716) in seiner Kurtzen Nachricht von der Religion der heutigen Griechen (1713), über die Schwierigkeit, dass er über „so weit von uns entfernten Christen / die gantz keine schrifftliche commu-
3 Zu den Kontakten Melanchthons zu ostorthodoxen Klerikern und seinem (missglückten) Versuch, 1559 über einen serbischen Diakon namens Demetrius eine von ihm selbst angefertigte griechische Übersetzung der Confessio Augustana an den Konstantinopolitaner Patriarchen zu senden, Ernst Benz: Wittenberg und Byzanz. Marburg 1949, S. 59–93 sowie Gerhard Podskalsky: Griechische Theologie in der Zeit der Türkenherrschaft (1453–1821). Die Orthodoxie im Spannungsfeld der nachreformatorischen Konfessionen des Westens. München 1988, S. 21 f. 4 Brief Crusius an Jeremias II., 7. April 1573, S. 30: „quod cum ante multos annos ego putassem: Religioni nostrae Christianae, non amplius in istiis locis locum esse: postea cognoui: reliquias quasdam, veluti fominium, Ecclesiae Christi non contemnendas, istic superesse: & Patriarcham, virum piètate & doctrina clarum, eis praesidere. Vnde magnopere gauisus sum & soli vero Deo nostro, gratias pro tanto beneficio egi ex animo: remque in melius proficere quondie, tum ad gloriam illius, tum ad multorum animorum salutem, optaui“ (Martin Crusius: Turcograecia. Basel 1584, S. 410). Alle folgenden Zitate aus dem Briefwechsel zwischen den Tübingern und Jeremias II. sind, soweit nicht anders angegeben, entnommen aus folgender modernen Edition: Wort und Mysterium. Der Briefwechsel über Glauben und Kirche 1573 bis 1581 zwischen den Tübinger Theologen und dem Patriarchen von Konstantinopel. Hg. vom Außenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland. Witten 1958. Zudem gründet die folgende Darstellung dieses Briefwechsels auf Dorothea Wendebourg: Reformation und Orthodoxie. Der ökumenische Briefwechsel zwischen der Leitung der Württembergischen Kirche und Patriarch Jeremias II. von Konstantinopel in den Jahren 1573–1581. Göttingen 1986 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 37).
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nication mit uns haben“ schreibe.5 Aber schon zu Crusius Zeiten – und erst recht im frühen achtzehnten Jahrhundert, als Fecht seinen Traktat verfasste – ergaben sich Möglichkeiten, mit ostorthodoxen Migranten in Kontakt zu treten und sie als Wissensquellen zu benutzen, um sich ein Bild von der Konfessionskultur der Ostorthodoxen zu machen. Ein Zeitgenosse des Crusius, der einflussreiche lutherische Theologe David Chyträus (1530–1600), schildert in einer lateinischen Rede, die er am 18. Oktober 1569 an der Rostocker Universität gehalten hatte, dass er bei seinem Aufenthalt in der Reichshauptstadt (im „Arsenal zu Wien“) mit einem Zyprioten (einem Händler?) ins Gespräch kam – wohlgemerkt nur eine von mehreren Begegnungen mit „leibhaftigen“ Griechen. Dieser habe ihm einen Erbauungstext (ein „Horologium oder Breuier“) vorgezeigt, aus dem Chytraeus sich über die ostorthodoxen Glaubensauffassungen und auch über den Marienkult informieren konnte.6 Crusius selbst erhielt in seinem Haus in Tübingen ab 1579 Besuch von zahlreichen Griechen, mit denen er neben philologischen auch dogmatische Fragen besprach, wobei diese Interaktionen noch einer ausgiebigen Erforschung harren.7 Man bedenke hierbei, dass das im Austausch mit ‚authentischen‘ Konfessionsangehörigen der Ostkirche zu generierende Wissen über die Confessio Graeca konfessionspolitisch implikationsreich war. Für die Einen versprachen die ostorthodoxen Christen und ihre Zugehörigkeit zu einem Kirchenapparat, der unabhängig von Rom in der apostolischen Sukzession stand, schon durch ihre schiere Existenz Schützenhilfe gegen die Papstkirche. Berührungen mit der Ostorthodoxie konnten insofern Hoffnungen nähren, dass man selbst die katholische (also weltumspannende) Kirche sei, die römische Kirche hingegen dieses Attribut fälschlich für sich beansprucht habe. Für die Anderen (nicht nur für philo-katholische Autoren und Konvertiten aus dem Osmanischen Reich wie Leon Allatios, sondern
5 Johann Fecht: Kurtze Nachricht von der Religion der heutigen Griechen. Rostock, Leipzig 1713, Vorrede, S. vi. 6 „Wie ich ein solch Horologium oder Breuier gantz vleissig durchgelesen und abgenutzet / von einem aus Cypern / der schlechts der gemeinen Griechischen sprach (die von der alten nicht weniger / als Welsch oder Frantzösich vom Latein / vnterschieden ist) erfahren / im Arsenal zu Wien uberkomen hab. Daraus ich vernomen / das die anruffung der Heiligen / vnd in sonderheit der Jungfawen Maria / diese zeit in Graecia / nicht weniger als im Babstumb / im Schwange gehet“ (David Chytraeus: Was zu dieser Zeit in Griechenland, Asien, Africa, unter des Türcken und Priester Johannes Herrschafften, item in Ungern und Behmen etc. der christlichen Kirchen Zustand sey, samt etlichen Schreiben, so von Constantinopel, vom Berge Sinai, und andern Örtern aus Orient, newlicher Zeit abgangen. S. l. 1581, fol. Bii v). 7 Panajotakis spricht von etwa 100 griechischen Gästen im Hause des Crusius, s. Nikos Panajotakis: Griechische Musiker im Deutschland des 16. Jahrhunderts. In: Graeca recentiora in Germania. Deutsch-griechische Kulturbeziehungen vom 15. bis 19. Jahrhundert. Hg. von Hans Eideneier. Wiesbaden 1994 (Wolfenbütteler Forschungen 59), S. 123–137, S. 141.
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auch für protestantische Autoren mit einer gegenüber den Griechen ablehnenden Haltung) lagen hingegen deren Schnittpunkte mit dem Dogma und Ritus der Päpstlichen auf der Hand. Die im Folgenden zu untersuchenden Konstellationen der Übermittlung von Wissen über den Marienkult der Ostorthodoxen werden eine wissenshistorische Perspektive mit einer migrationshistorischen verbinden. So soll es sowohl um die zwischen Gelehrten und Kirchenmännern des Alten Reichs und Migranten aus dem Osmanischen Reich eingesetzten Verfahren und Praktiken der Wissensgenese gehen als auch die Eigenschaft der Wissensvermittler als Migranten, als durch Mobilität gekennzeichnete kulturelle und konfessionelle Grenzgänger, herausgestellt werden. Ein solcher Zugang verspricht einerseits die bisher betriebenen Forschungen zu den Beziehungen zwischen der Ostorthodoxie im Osmanischen Reich und den Konfessionen des Alten Reichs, die einen Schwerpunkt auf dogmatischen und ideengeschichtlichen Gesichtspunkten aufweisen, zu ergänzen.8 Andererseits fügt sich die mikro- und bisweilen alltagshistorische Perspektive der folgenden Untersuchung in die neuere Interkonfessionalitätsforschung.9 In einem ersten Schritt wird auf den ‚Schock‘ eingegangen, den die Tübinger Theologen nach ihrer Berührung mit dem Marienkult der Orthodoxen in Konstan8 Aus der älteren Forschung seien genannt Benz (Anm. 3); Gunar Hering: Orthodoxie und Protestantismus. In: XVI. Internationaler Byzantinistenkongress. Akten 1/2, Wien, JbÖB 31/2 (1981), S. 823–874; Wendebourg (Anm. 4); Podskalsky (Anm. 3). Ich folge hier hingegen den Arbeiten von Ulrich Moennig und Vasilios N. Makridis, die durch ihren mikrohistorischen Zugang sowie durch die Kombination von migrations- und konfessionsgeschichtlichen Perspektivierungen neue Impulse gesetzt haben, s. Ulrich Moennig: On Martinus Crusius’s collection of Greek vernacular and religious books printed in Venice. In: Byzantine and Modern Greek Studies 21/1997, S. 40–78; ders.: Die griechischen Studenten am Hallenser Collegium orientale theologicum. In: Halle und Osteuropa. Zur europäischen Ausstrahlung des hallischen Pietismus. Hg. von Johannes Wallmann, Udo Sträter. Halle 1998 (Hallesche Forschungen 1), S. 299–329; ders.: Metrophanes Kritopulos und die Neugriechischkenntnisse deutscher Gelehrter im 17. Jahrhundert. In: Nürnberg und das Griechentum. Geschichte und Gegenwart. Hg. von Evangelos Konstantinou. Frankfurt a. M. 2003 (Philhellenische Studien 9), S. 81–91 sowie Vasilios N. Makridis (Hg.): Ἀλέξανδρος Ἑλλάδιος ὁ Λαρισαῖος /Alexander Helladius the Larissean, Διεθνής Διημερίδα, Λάρισα, 4–5 Σεπτεμβρίου 1999. Πρακτικά/International Conference, Larissa, 4–5 September 1999. Proceedings. Larissa 2003; Vasilios Tsakiris, Vasilios N. Makridis: Αντίστροφες Περιηγήσεις. Ο Γιάκομπ Έλσνερ και οι επαφές του με τους περιπλανώμενους Έλληνες ιερωμένους στη Δύση. In: Ταξίδι, γραφή, αναπαράσταση. Μελέτες για την ταξιδιωτική γραμματεία του 18ου αιώνα. Hg. von Julia Chatzipanagioti-Sangmeister. Iraklio 2015, S. 157–204. 9 Zur Interkonfessionalitätsforschung und ihrem Bemühen, den Horizont älterer Arbeiten zur Konfessionsbildung und Konfessionalisierung in der Nachfolge Heinz Schillings und Wolfgang Reinhards zu erweitern, vgl. Kaspar von Greyerz u. a. (Hg.): Interkonfessionalität – Transkonfessionalität – binnenkonfessionelle Pluralität. Neue Forschungen zur Konfessionalisierungsthese. Gütersloh 2003 sowie die Einleitung zu diesem Band.
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tinopel erlitten (I.). Danach werden die epistemischen Verfahren untersucht, die von (protestantischen) Gelehrten im Alten Reich in ihrer Interaktion mit Migranten zur Generierung von Wissen über die Confessio Graeca (auch über den ostorthodoxen Marienkult) entwickelt wurden (II.). Schließlich wird es mit Blick aufs achtzehnte Jahrhundert um Auseinandersetzungen zwischen den von Migranten in habsburgischen Territorien gegründeten orthodoxen Konfessionsgemeinden und den Obrigkeiten (den katholischen im Einwanderungsland und den orthodoxen im Ursprungsland) gehen, die auch den Marienkult betreffen (III.). Die mariologischen Standpunkte der westlichen wie der östlichen Konfessionsverwandten und ihrer Kircheneliten waren auch in der Frühen Neuzeit einem historischen Wandel unterworfen und Gegenstand dynamischer Debatten. Hierauf kann im Folgenden, angesichts des gewählten breiten Untersuchungszeitraums dieses Beitrags und der mangelnden theologischen Expertise seines Autors, nicht erschöpfend eingegangen werden.10 Der Glaube an Maria und ihre Verehrung als Gottesmutter (und in der katholischen und ostorthodoxen Konfession auch als Mittlerin zwischen den Gläubigen und Gott) werden hier vielmehr als Fallstudie herangezogen, um fokussiert auf epistemische Verfahren und auf Prozesse der Aushandlung konfessioneller Identitäten einzugehen, in denen griechisch-orthodoxe Migranten aus dem Osmanischen Reich involviert waren.
10 Orientierungspunkt der ostchristlichen Theologie blieb auch nach der Inkorporation der orthodoxen Patriarchate ins Osmanische Reich die byzantinische Tradition mit ihrer Fokussierung der ersten sieben Ökumenischen Konzile. Wo allerdings die ältere Forschung die Erneuerung der Mariologie durch das Konzil von Chalcedon (451 n. Chr.) im Blick hatte, das durch das Dogma der Gottesgebärerin (Theotokos) die Herausforderungen des Nestorianismus zu bändigen suchte, zeigen neuere Forschungen, dass die theologische Aufwertung Marias (u. a. durch die apokryphen Berichte ihrer Entschlafung oder Himmelfahrt) und ihre Rolle als Mittlerin und Gottesmutter bereits im 2./3. Jahrhundert, lange vor dem Einsetzen der Debatten über die Natur Christi, festgehalten wurde, s. Stephen J. Shoemaker: Ancient Traditions of the Virgin Mary’s Dormition and Assumption. Oxford 2002; Enrico Norelli: La letteratura apocrifa sul Transito di Maria e il problema delle sue origini. In: Il dogma dell’assunzione di Maria. Problemi attuali e tentativi di ricomprensione. Atti del XVII Simposio Internazionale Mariologico, Roma, 6.–9. Oktober 2009. Hg. von Ermanno Toniolo. Rom 2010, S. 121–165; Leena Mari Peltomaa, Pauline Allen, Andreas Külzer (Hg.): Presbeia Theotokou. The Intercessory Role of Mary across Time and Places in Byzantium (4th–9th century). Wien 2015.
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1 Nachrichten aus Konstantinopel: Der ‚Schock‘ der Tübinger Theologen nach ihrer Berührung mit dem Marienkult der Orthodoxen 1573 wurde durch eine Gruppe lutherischer Theologen und Gelehrten in Tübingen die Kontaktaufnahme mit der Kirchenspitze in Konstantinopel in Gang gesetzt, mit einem mehrere Tausend Kilometer entfernten sowie konfessionell und kulturell für die Kontaktsuchenden unbekannten Raum. Hierfür bedurfte es einer in mehrfacher Hinsicht besonderen Konstellation. Ungeachtet der von Hostilität geprägten Außenbeziehungen zwischen dem Habsburgischen und dem Osmanischen Herrscherhof wurde in diesem Jahr ein kaiserlicher Gesandter nach Konstantinopel geschickt, um mit Sultan Selim II. eine Verlängerung des Waffenstillstands zu verhandeln, wobei die Wahl auf den Reichsfreiherren und Lutheraner aus Kärnten David Ungnad fiel. Ungnad wandte sich im Vorfeld seiner Mission an die renommierte Tübinger Theologenfakultät und bat, mit einem lutherischen Gesandtschaftsprediger versorgt zu werden. Der für diese Aufgabe auserkorene Stephan Gerlach (der von 1573 bis 1578 in Konstantinopel weilte) wurde zur Drehscheibe zwischen Tübingen und Konstantinopel. Ohne ihn, der die Briefe der Tübinger auslieferte und die schriftlichen Antworten der griechischen Seite in Empfang nahm und weiterleitete, aber darüber hinaus über die Vorgänge am Patriarchenhof nach Tübingen akribisch Bericht erstattete, ist der Briefwechsel mit Jeremias II. gar nicht zu denken.11 Schon allein die Inhalte der Briefe und Kommentare des Patriarchen Jeremias II., dem die Tübinger eine griechische Übersetzung der Confessio Augustana zugeschickt hatten, lieferten ausreichend Stoff, damit die anfängliche Euphorie der ‚Projektemacher‘ für eine Annäherung an die Ostchristen schnell einer Desillusionierung weichen musste. Der Patriarch hatte in seinem Kommentar zum Art. 21 der Confessio Augustana die vermittelnde Rolle der Heiligen und Engel und insbesondere der Gottesmutter Maria gegenüber den Tübingern in Schutz genommen und in Bezug auf den Streitpunkt der Bilderverehrung gemäß der auf dem 7. Ökumenischen Konzil von Nicäa (787 n. Chr.) mühevoll errungenen Kompromissformel zwischen einer zulässigen Verehrung (δουλεία) und einer unzulässigen Anbetung
11 Wendebourg (Anm. 4), S. 31 f. Vgl. Hariett Rudolph: Türkische Gesandtschaften ins Reich am Beginn der Neuzeit – Herrschaftsinszenierung, Fremdheitserfahrung und Erinnerungskultur. Die Gesandtschaft des Ibrahim Bey von 1562. In: Das Osmanische Reich und die Habsburger Monarchie. Hg. von Marlene Kurz u. a. Wien, München 2005, S. 295–314.
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(λατρεία) unterschieden.12 Der Hofprediger Lukas Osiander (1534–1604), der von der Württembergischen Kirchenleitung und auf Wunsch des Herzogs Ludwig damit beauftragt worden war, eine angriffslustige Replik zu verfassen, auch mit Rücksicht auf die im Alten Reich andauernden binnenkonfessionellen Verhandlungen zur Konkordienformel, begegnete der patriarchalen Rechtfertigung der Heiligenund Marienverehrung mit geringem interkonfessionellen Fingerspitzengefühl.13 Dass man die Heiligen als Mittler vor Gott anrufen solle, könne nicht gebilligt werden, die Verehrung von Heiligenbildern sei kategorisch abzulehnen und die Unterscheidung zwischen douleia und latreia eigentlich nur eine gelehrte Spitzfindigkeit.14 Im Hinblick auf die Muttergottes heißt es in diesem Schreiben vom Juni 1577, dass die von Anna geborene, die von Joachim der Anna geschenkte Maria nicht kniefällig zu verehren sei („προσκυνείσθω“), denn wenn Marias Leib auch heilig gewesen sei, so war er doch nicht göttlich („Ναι μήτε άγιον ην το σώμα της Μαρίας, ου μήτε θεός“).15 Zum Zeitpunkt, als Osiander diese Zeilen verfasste, war den Tübinger Theologen bereits klar geworden, dass zwischen ihnen und den Theologen in Konstantinopel unüberwindbare Gräben lagen. Für diese Einsicht war die Berichterstattung in den Briefen des Augenzeugen Gerlachs von zentraler Bedeutung. Auch im Hinblick auf den Marienkult konnte er nur Schockierendes nach Hause berichten. Das (erst posthum veröffentlichte) Reisetagebuch Gerlachs erlaubt uns einen Einblick in die Erfahrungen, die der lutherische Legationsprediger anlässlich des Festes der Entschlafung Mariens im August 1576 in Konstantinopel machen musste. Nicht nur vom Gottesdienst in der Patriarchatskirche und dem anschließenden üppigen Bankett referiert Gerlach mit kritischen Tönen. Er berichtet auch von einer Unterredung, die er mit Ioannes Zygomalas (1498–1582/83), hoher Amtsträger am
12 „Die Heiligen halten wir alle für Mittler [μεσίτας]. Vornehmlich die Mutter des Herrn [την του κυρίου μητέρα]. Mit ihr auch die Schar der Engel und der Heiligen, die wir durch Kirchen, Opfergaben, Bitten, Heiligenbilder gemäß ihrer Beziehung zu Gott – nicht in kultischer Anbetung [ου λατρευτικώς] – kniefällig verehren. Wir wissen, daß man kultische Anbetung [λατρείαν] insonderheit Gott allein darbringen und außer Ihm keinen anderen kennen, noch einen fremden Gott verehren soll“ (Schreiben des Jeremias II., vom 15. Mai 1576, S. 112; vgl. die griechisch-lateinische Edition dieses Schreibens in Acta et Scripta Theologorum Wirtembergensium, Et Patriarchae Constantinopolitani D. Hieremiae. Wittenberg 1584, S. 56–143, hier S. 128). 13 Zur Intervention des Herzogs Ludwig Wendebourg (Anm. 4), S. 103–105. 14 „Wenn auch ein gelehrter Unterschied gesucht wird [σοφήτις ζητείται διάκρισις] zwischen Anbetung [λατρεία], die Gott gebührt, und dienender Verehrung [δουλεία], die den Heiligen erwiesen werde, so sehen wir doch in Wirklichkeit, daß man den Heiligen dasselbe erweist, was Gott allein gebührt“ (Osiander und Crusius an Jeremias, 18. Juni 1577, S. 165; vgl. Acta et Scripta (Anm. 12), S. 187). 15 Ebd., S. 166; vgl. Acta et Scripta (Anm. 12), S. 188.
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Patriarchenhof und eine wichtige Kontaktperson Gerlachs, am 28. August 1576 führte. Der immerhin hochbetagte Zygomalas sei als Folge seiner Exzesse beim zurückliegenden Marienfest nun seit 13 Tagen bettlägerig gewesen, wobei er seine Genesung auf die wundersame Unterstützung Mariens zurückführte, die ihm im Schlaf erschienen sei, sogar seinen Puls gefühlt und die baldige Genesung prophezeit habe: Den 28. [August] hab ich den alten Zigomalen besucht / und ihn seit verwichenen 15. dieses bettlägerig gefunden. Die Ursach sey / daß er an solchen als am Tag Mariä Himmelfarth / zu viel geessen und getruncken. Dann der Patriarch sey ob dem Gastmahl auffgestanden und geruffen: Wer mich lieb hat / der esse und trincke tapfer: seyen sie also von Mittags 11. Uhren / bis Abends 5. und also in die 6. Stunde lang fröhlich gewesen / aber des folgenden Tages hab er alle Fische / die er geessen gehabt / dieweil das Fest auff einen Fasttag / nemlich den Mittwoch eingefallen gewesen / wieder von sich gebrochen. Die folgende Nacht hab er gesehen die Himmels-Königin und Gottes-Gebährerin / Mariam / wie sie sich seinem Hauß genähert / in sein Gemach gegangen / und mit solcher Majestät und Glantz vor ihme gesessen / daß er sie nicht ansehen können. Nachdeme sie ihm nun die Pulß gegriffen / habe sie zu ihme gesagt: Sey getrost / du wirst an dieser Kranckheit nicht sterben / und er ihr dafür Danck gesaget.16
Die Episode hatte Folgen, weil Zygomalas dem Tübinger im Anschluss an seinen Krankenbericht ein zum Dank für seine Genesung verfasstes Epigramm zu Ehren Marias vorlegte, das bei seinen Kollegen am Patriarchenhof Anklang gefunden und um dessen Beurteilung er Gerlach gebeten habe. Als dieser nun „die Kunst an diesem Griechischen Gedichte“ lobte, sich jedoch kritisch über die „Abgötterey“ im Hinblick auf Maria äußerte, sei Zygomalas zornig geworden. Er habe ihn und seine Glaubensverwandten als „in aller Welt beschreyte Ketzer“ beschimpft und betont, dass er wegen seines Verkehrs mit ihm von „allen Griechen und Perottern“, also den Bewohnern des Stadtteils Pera, beargwöhnt werde.17 16 Stephan Gerlach: Tage-Buch / der von zween Glorwürdigen Römischen Kaysern / Maximiliano u. Rudolpho […] An die Ottomannische Pforte zu Constantinopel Abgefertigten […] Gesandtschaft. Frankfurt a. M. 1674, S. 239; vgl. die Beschreibung des vom Patriarchen zelebrierten Gottesdienstes am Tage des Fests von Maria Himmelfahrt ebd., S. 234–236. Zu den zeitlich bereits vor Osianders Replik an Jeremias II. eintreffenden schockierenden Nachrichten Gerlachs, der durch den Besuch orthodoxer Gottesdienste und durch Gespräche mit Ioannes Zygomalas und mit dem (namentlich nicht genannten) Leibarzt des Patriarchen zu erschütternden Einsichten gelangt war, s. Wendebourg (Anm. 4), S. 77–80. 17 Gerlach (Anm. 16), S. 239 f. Zygomalas habe zudem folgendermaßen gegen Gerlach argumentiert: „Das halte die Griechische Kirch und alle Väter / was Christus habe von Natur / das habe er seiner Mutter gegeben auß Gnade / und sie im Himmel neben sich gesetzet. St. Paulus habe befohlen / wir solten alles halten / es sey gleich mündlich oder schrifftlich von ihme geschehen. Diese Verehrung oder Gottesdienst aber sey von Hand zu Hand / oder von Mund zu Munde von den Aposteln herkommen / daß wir die Heiligen / und sonderlich Marien / als welche mit Leib
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Es sei angemerkt, dass Gerlach und Zygomalas schon wenig später wieder ihren Streit beilegten und zu einem guten, ja freundschaftlichen Verhältnis zurückfanden. Zum Weihnachtsfest 1576 griff der Grieche erneut auf den Rat Gerlachs zurück und zeigte ihm seinen Entwurf für eine Predigt, die von der Vereinigung der göttlichen und menschlichen Natur Christi im Leib Marias handelte – ein für den lutherischen Gesandtschaftsprediger Gerlach weitaus weniger problematischer theologischer Aspekt, über den er sine ira et studio berichtet.18 Die oben wiedergegebenen Ausführungen in Gerlachs Tagebuch, der den Eintrag vom 28. August 1576 unter den sarkastisch anmutenden Titel „Maria der Sauffer Patronin“ stellt, die Heftigkeit des Streits, der ohne Rücksichtnahme auf diplomatische oder strategische Überlegungen geführt wurde, offenbaren eventuell eine Kränkung auch der religiösen Gefühle des Lutheraners Gerlach. Zweifelsohne gewährt das Tagebuch zudem Einblicke hinter die Kulissen der offiziellen interkonfessionellen Kommunikation zwischen der Württembergischen Kirche und dem Konstantinopolitaner Patriarchat, die auch mit Rücksicht auf binnenkonfessionelle und konfessionspolitische Interessen geführt wurde und 1581 wieder abbrach. Was konnten aber griechisch-orthodoxe Migranten, die ins Alte Reich kamen, zum Wissensreservoir der dortigen Gelehrten und Kirchenvertreter auch im Hinblick auf den ostorthodoxen Marienkult beitragen?
2 Der Erwerb von Wissen über die ostorthodoxe Marienverehrung im Alten Reich durch Kontakte mit ‚reisenden Griechen‘: Das Beispiel der Almosenfahrer Die Chance, im Alten Reich Griechisch-Orthodoxen zu begegnen, war in der Frühen Neuzeit nicht so gering, wie man vermuten möchte. Dies gilt insbesondere für Territorien, wo Händler dieser Konfessionszugehörigkeit aus dem Osmanischen oder
und Seel gen Himmel gefahren sey / ehren und anruffen sollen“ (ebd.). Bereits in seinem Schreiben von 1574, der allerersten Replik des Patriarchen an die Tübinger, hatte Jeremias II. ermahnt, stets am gesunden Glauben („υγιής πίστις“) festzuhalten und der Versuchung zu widerstehen, Neuerungen einzuführen („νεωτερίζειν“), s. Jeremias II. (Anm. 4), S. 35. 18 „Heut ist Herr Johannes Zigomala bey mir gewesen / und hat mir wieder eine Oration oder Rede gezeiget / die er auff den künfftigen Christ-Tag halten solle handelt darinnen von Vereinigung beeder Naturen in Christo / von der würcklichen Gemeinschafft beyder Naturen Eigenschafften / auß dem Gregorio Nazianzeno“ (ebd., S. 278).
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auch aus dem Russischen Reich stark präsent waren (wie etwa in der Messestadt Leipzig oder in der Habsburger Residenzstadt Wien). Der lutherische Pfarrer an der Hallenser Marienkirche Johann Michael Heineccius (1674–1722) vermittelt hiervon einen Eindruck, wenn er in einem Kapitel seiner monumentalen Schrift Eigentliche und wahrhafftige Abbildung der alten und neuen griechischen Kirche (Leipzig 1711) davor warnt, den „mündlichen Erzehlungen [sic] der reisenden Griechen“ zu viel Vertrauen zu schenken: Denn Armuth treibet sie zum betteln, und bey diesem elenden Handwerck lernen sie gemeiniglich alle die Qualitäten, die sonst denen Bettlern eigen sind. Man hat wahrgenommen, daß sie um eines Allmosens willen, sich wenig Gewissen machen, einem jedweden etwas vorzureden, wie ers gern höret. Offt haben die, so bey den Papisten die Florentinische Union angenommen, dieselbe bey den Evangelischen mit grossem Eifer verworffen, anderer leichtsinnigen Veränderungen zu geschweigen.19
Hinter den ‚reisenden Griechen‘, deren Verlässlichkeit von Heineccius problematisiert wird, steht aber ein Migrationsregime, das zeitlich erheblich weiter zurückreicht als jenes der Händler, und im Fokus des vorliegenden Abschnitts liegt: Die von ostkirchlichen Institutionen entsandten Almosenfahrer, die mit Akkreditierungsdokumenten (meistens Sendbriefe der vier Patriarchate oder anderer hoher klerikaler Instanzen) ausgestattet für karitative Zwecke Sammlungen durchführten.20 Eine größere sowie hinsichtlich ihrer gesellschafts- und kulturgeschichtlichen Relevanz bedeutende Migration von Händlern („griechischer Handelsmänner“ im Vokabular der Quellen) und Studenten (prominent etwa die sich am pietistischen Collegium Theologicum Orientale zwischen 1703 und 1707 in Glaucha bei Halle aufhaltenden Griechen) aus dem Osmanischen Reich kam erst nach der Wende der habsburgisch-osmanischen Beziehungen mit den Friedensverträgen
19 Johann Michael Heineccius: Eigentliche und wahrhafftige Abbildung der alten und neuen Griechischen Kirche, ihrer Historie, Glaubens-Lehren und Kirchen-Gebräuchen. Leipzig 1711, Teil I, Kap. 4, §6, S. 225 f. 20 Bei diesen Almosenfahrten handelte es sich um eine kirchlicherseits reglementierte Institution, die im kirchenadministrativen Vokabular als ζητεία bezeichnet wurde, s. hierzu am Beispiel von Sammlungen, die im Osmanischen Reich oder im konfessionsverwandten Ausland (Fürstentümer Moldau und Walachei, Russisches Reich, venezianischer stato da mar) durchgeführt wurden, Eleni Angelomati-Tsoungaraki: Τὸ φαινόμενο τῆς ζητείας κατὰ τὴ μεταβυζαντινὴ περίοδο. In: Ἰόνιος Λόγος. Τμῆμα Ἱστορίας, Ἰόνιο Πανεπιστήμιο. Ἐπιστημονικὴ περιοδικὴ ἔκδοση. Τόμος Α΄. Τόμος χαριστήριος στὸν Δημήτρη Ζ. Σοφιανό. Kerkyra 2007, S. 247–293 sowie am Beispiel von Mönchen aus dem Sinai-Kloster und aus Kreta, die in Ungarn im achtzehnten Jahrhundert Sammlungen durchführten, Charalambos Chotzakoglou, Christian Gastgeber: Griechische Mönche in Ungarn. Zwei Dokumente aus dem 18. Jahrhundert über das Sammeln von Almosen und den Einfluß der Unierten am Athos. In: Ellinika 48/1 (1998), S. 87–112.
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von Karlowitz (1699) und Passarowitz (1718) zustande.21 Im Falle der mobilen Präsenz von griechisch-orthodoxen Almosensammlern im Alten Reich deuten hingegen die Indizien darauf hin, dass die gesamte Frühe Neuzeit hindurch, zumindest von der Zeit des Martin Crusius (1526–1607)22 bis zum kaiserlichen Verbot, das Maria Theresia 1761 gegen die Einreise von ostorthodoxen Kollektanten aus dem Osmanischen Reich erließ, ein konstanter Zufluss von Personen existierte, die diesem Migrationsregime zuzuordnen sind.23 Das angeführte Zitat aus Heineccius’ Abhandlung vergegenwärtigt ein zentrales epistemisches Defizit, das in den Interaktionen zwischen Almosenfahrern aus dem Osmanischen Reich und Gelehrten im Alten Reich die Übermittlung von Wissen zur Konfessionskultur der ‚neuen griechischen Kirche‘ beeinträchtigte.24 Im Spiel war dabei nicht nur die vermeintliche liederliche Haltung der Griechen zur Wahrheit, ihr Opportunismus als Kollektanten, die ihr Gegenüber zufriedenzustellen versuchten, um möglichst große Spenden zu erzielen – übrigens verstärkt Heineccius hierbei den Topos vom Graecus mendax, der die Wahrnehmung von Griechen in der Frühen Neuzeit stark beeinflusste.25 Der Wissenstransfer wurde auch gestört, weil die mit den Migranten interagierenden Einheimischen, nicht selten aus konfessionspolitischem Kalkül, Druck ausübten, wenn nicht gar Nor21 Zur Präsenz von griechisch-orthodoxen Händlern in Wien siehe unten Abschnitt III. Grundlegend für den Aufenthalt griechischer Studenten in Glaucha bei Halle, die von Agenten der Hallenser Pietisten gezielt im Osmanischen Reich angeworben worden waren, ist die Studie von Moennig 1998 (Anm. 8). 22 Laut Panajotakis (Anm. 7, S. 141) gaben sich viele der griechischen Gäste, die Crusius in seinem Haus in Tübingen aufsuchten, als Almosensammler aus. In seiner Germanograecia (1585) berichtet Crusius etwa vom Aufenthalt des Priesters aus Korinth Gabriel Kalonas, der im Juni 1582 stattfand und der sich zum Zweck der Almosensammlung („in collectione eleemosynarum“) auf Reisen befand (s. Martin Crusius: Germanograecia. Basel 1585, Buch VI, S. 332 f.; vgl. Hans Eideneier: Spanos. Eine byzantinische Satire in der Form einer Parodie. Einleitung, kritischer Text, Kommentar und Glossar. Berlin, Boston 1977 (Supplementa Byzantina. Texte und Untersuchungen 5), S. 66). 23 Das Dekret Maria Theresias vom 17. August 1761, das einem älteren Erlass von Papst Clemens XII. von 1736 folgte, ist abgedruckt in: Chotzakoglou, Gastgeber (Anm. 20), S. 104–107. Anträge von griechisch-orthodoxen Almosensammlern aus dem Osmanischen Reich für Reisepatente haben sich für die Zeit vom späten sechzehnten bis Mitte des achtzehnten Jahrhunderts erhalten im Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien, HHStA, RHR, Grat Feud Patentes und Steckbriefe. 24 Eine wissensgeschichtliche Auseinandersetzung mit den Begegnungen und Gesprächen, die zwischen Almosenfahrern aus dem Osmanischen Reich und Gelehrten im Alten Reich zustande kamen, in: Stefano Saracino: Griechisch-orthodoxe Almosenfahrer im Heiligen Römischen Reich und ihre wissensgeschichtliche Bedeutung (1650–1750). In: Praktiken frühneuzeitlicher Historiographie. Hg. von Markus Friedrich, Jacob Schilling. München 2019 (Cultures and Practices of Knowledge in History 2), S. 141–173. 25 Ilia Chatzipanagioti-Sangmeister: Graecia Mendax: Das Bild der Griechen in der französischen Reiseliteratur des 18. Jahrhunderts. Wien 2002.
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menkonflikte inszenierten. Heineccius selbst, der sich schon gemäß dem Titel seiner Schrift darum bemühte, den unüberwindlichen Graben aufzuzeigen, der zwischen dem Idealzustand der ‚alten griechischen Kirche‘ aus der Zeit der ersten Jahrhunderte nach Christi Geburt und dem degenerierten Realzustand der heutigen ‚neuen griechischen Kirche‘ existiere, hatte ein Interesse daran, ein negatives Licht auf ‚reisende Griechen‘ zu werfen. Der gegen die Almosenfahrer polemisierende Heineccius befand sich qua Amtsfunktion, als Oberpfarrer der Marienkirche zu Halle, in einer Fehde mit den dortigen Pietisten um August Hermann Francke (1663–1727) und wollte deren Bemühungen zur Aufnahme interkonfessioneller Beziehungen mit den Griechisch-Orthodoxen im Osmanischen Reich konterkarieren. Als sich Heineccius 1718 um einen Lehrstuhl für Theologie in Halle bewarb, versuchten die Pietisten dagegen vorzugehen, indem sie Material sammelten, das ihn in ein negatives Licht stellte.26 Die ausführlichsten und ‚geschwätzigsten‘ Quellen, die über den besagten Typus von Migranten Auskunft geben, die ständig Grenzen (politische, konfessionelle, kulturelle Grenzen) überschreiten mussten und ihre konfessionelle Identität mit Bewohnern der aufgesuchten Territorien stets neu aushandeln mussten, wurden im Alten Reich nicht von den weltlichen und kirchlichen Obrigkeiten hervorgebracht, sondern von Gelehrten. Diese nutzten ihren Kontakt mit Migranten aus dem Osmanischen Reich intensiv, um möglichst viel über die Confessio Graeca (oder auch über andere Wissensmaterien, etwa über die muslimische Bevölkerung und Kultur im Osmanischen Reich) in Erfahrung zu bringen. Sie entwickelten aber auch Verfahren, man könnte sie als Konfessionstests bezeichnen, durch die sie die Migranten konfessionell aus der Defensive zu locken suchten. Ein Notizheft, das der Nürnberger Gelehrte und Gymnasialprofessor Christoph Arnold (1627–1685) anlässlich seiner Unterredungen mit verschiedenen ostorthodoxen Klerikern auf Almosenfahrt (oder auf anderweitiger Mission) angelegt hatte und von 1669 bis kurz vor seinem Tod 1685 handschriftlich befüllte, liefert hier ein Veranschaulichungsbeispiel. Einen sprachlich und intellektuell unbeholfenen Presbyter namens Petrus Vervosius, der aus Sitia auf der Insel Kreta stammt, die bis vor kurzem venezianisches Territorium gewesen war, und für die Befreiung seiner
26 „daß allerdings nöthig sey, daß wir alle hervortreten, und was wir haben contra mentem et vitam carnalem des Mannes [Heineccius] nach der Wahrheit u. mit allem candore dem K. [König von Preußen] vor augen legen […], daß der Mann ein offenbarer corruptor iuventutis zur Professione Theologiae gantz untüchtig sey: hierin sind meine Collegen alle miteinander einig“ (Brief von August Hermann Francke an Carl Hildebrand von Canstein, 20.4.1718, AFSt/H C 171: 92a, fol. 2). Der Brief ist auch von den Hallenser Universitätsprofessoren Joachim Lange, Paul Anton, Johann Heinrich Michaelis und Johann Daniel Herrnschmidt mitunterzeichnet.
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von Freibeutern verschleppten Brüder Geld sammelte, befragte Arnold 1669 auf folgende Weise: Dessen eigentliche Meinung zu erforschen, ob er vielleicht ein Römischer, so genannter Scismas Griech were, oder den Pabst zu Rom für einen Schismatischen hielte; bediente ich mich dieses Vortheils und legte ihm Historien Concilii Florentini, wie solche D. Rob. Creygthon deß jetzigen Königes in Engelland Sacellany, Grece et Latine edirt, vor: Und lobte ihm solches Concilium auf das allerbeste, als die Vereinigung der Orientalischen mit der Ocidentalischen Kirche, das ist, der Griechischen mit der Römischen. Allein er fing alsobald an, solches zu verpfujen ernstlich dem selben zu widersprechen.27
Der Gothaer Hofgelehrte und Orientforscher Wilhelm Ernst Tentzel (1659–1707) verfeinerte dieses Verfahren, um auch binnenprotestantische Differenzierungen zu ermöglichen; kurz, um die Haltung griechisch-orthodoxer Migranten gegenüber Lutheranern und Reformierten zu testen. In den Monatlichen Unterredungen (Ausgabe August 1693), ein einflussreiches gelehrtes Journal, das von Tenzel zwischen 1689 und 1698 herausgegeben wurde, wird ausführlich vom Aufenthalt eines griechisch-orthodoxen Almosensammlers in Gotha berichtet. Der am Gothaer Hof empfangene Metrophanes Tzitzilianos, Vorsteher der Klöster von Euböa, wird als „ein hier zu Lande seltener Gast“ bezeichnet.28 Ihm wurden ebenfalls Bücher dogmatischen Inhalts vorgelegt, und zwar sowohl die hinsichtlich ihrer Authentizität hochumstrittene pro-calvinistische Bekenntnisschrift des Konstantinopolitaner Patriarchen und Protestantenfreundes Kyrillos Loukaris (1572–1638) (in einer holländischen Edition von 1645) als auch jene, in Ansätzen mit dem lutherischen Dogma sympathisierende von Metrophanes Kritopoulos, der im Auftrag des Loukaris zwischen 1624 und 1627 im Alten Reich geweilt hatte (in der posthumen Edition von Helmstedt 1661): Man zeigete ihm des Cyrilli Lucaris, Patriarchs zu Constantinopel / Confession, wie sie in Holland an. 1645 in octavo ohne Meldung des Orts / […] Griechisch und Lateinisch gedruckt worden; man zeigete ihm auch des Metrophanis Critopuli Confession, welche Ioannes Hor-
27 Bericht an den Kirchenpfleger, 17. November 1669, StB Nürnberg: Amb. 98. 4O MS, fol. 3. Arnold legte also die Memoiren des Sylverstros Syropoulos (ca. 1400–1453) vom Konzil von Ferrara und Florenz vor, in der vom anglikanischen Bischof Robert Creygthon besorgten und 1660 in Den Haag erschienenen Edition. 28 Wilhelm Ernst Tentzel: Monatliche Unterredungen einiger guten Freunde von allerhand Büchen und andern annehmlichen Geschichten allen Liebhabern der Curiositäten zur Ergetzlichkeit und Nachsinnen herausgegeben. Leipzig 1689–1698 Ausgabe 1693, S. 630. Wegen der Zahlungsausfälle seiner Klöster gegenüber dem osmanischen Staat wurden Ordensbrüder verschleppt, weshalb sich der weitgereiste (über England und Holland ins Reich gekommene) Tzitzilianos bemühte, das Lösegeld von 4000 Talern aufzutreiben; vgl. den Bericht vom Kolloquium mit Tzitzilianos ebd., S. 630–639.
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neius zu Helmstädt an. 1661 heraus gegeben: des Metrophanis seine approbirte er / als dem Glauben der wahren Griechen gantz conform, des Cyrilli seine aber verwarff er / als gar zu sehr nach der Reformirten hypothesibus eingerichtet.29
Einige Jahre später kamen jedoch Zweifel an der Redlichkeit des Tzitzilianos auf. In der Ausgabe vom Juni 1697 konnte Tentzel in den Monatlichen Unterredungen von einem Brief des reformierten Marburger Theologen Samuel Andreae berichten, datiert auf den 5. September 1696. Aus diesem ging hervor, dass sich Tzitzilianos, der Andreae noch im selben Jahr (1693), als er auch in Gotha geweilt hatte, in Marburg aufgesucht hatte, positiv zu Loukaris geäußert habe.30 Für Tentzel war die Sache damit klar. Die Griechen auf Tournee durchs Reich hingen ihren Mantel nach dem konfessionellen Wind, der in dem gerade aufgesuchten Territorium wehte.31 Tentzels Bericht über die vermeintliche konfessionelle Wankelmütigkeit des Tzitzilianos wird übrigens von Heineccius zitiert, in dem eingangs wiedergegebenen Passus, der die Bewohner/Gelehrten des Alten Reichs davor warnt, den Aussagen der ‚reisenden Griechen‘ leichtfertig Glauben zu schenken.32 Die bis hierin angeführten Beispiele machen deutlich, dass bei konfessionspolemisch hoch aufgeladenen Materien, wie der Frage nach der Gültigkeit des Konzils von Ferrara/Florenz (1438/39), der Bekenntnisschrift des Loukaris oder auch in abendmahlstheologischen Streitpunkten (z. B. das Dogma der Transsubstantiation betreffend), die in den Kolloquien zwischen deutschen Gelehrten und osmanischen Griechen zur Sprache kamen, den Befragten wenig Spielräume blieben. Um es sich mit ihrem Gegenüber nicht zu verscherzen, mussten sie sehr vorsichtig vorgehen, interkonfessionelles Fingerspitzengefühl an den Tag legen, wenn nicht sogar ihre Aussagen an die Erwartungen ihrer lutherischen Gastgeber
29 Ebd., S. 637; Hervorh. S. S. Zur Confessio fidei (Erstdruck in Genf 1629) des Loukaris und deren Rezeption in Europa Podskalsky (Anm. 3), S. 169 f. und 175–178. Zum Aufenthalt des LoukarisGetreuen Metrophanes Kritopoulos im Alten Reich und den von ihm geknüpften interkonfessionellen Beziehungen Moennig, Metrophanes (Anm. 8). Während seiner Station in Helmstedt (1624/25) war er von seinen Gastgebern gebeten worden, eine Bekenntnisschrift zu schreiben, die 1661 von Johannes Horneius gedruckt wurde (s. Metrophanes Kritopoulos: ΟΜΟΛΟΓΙΑ ΤΗΣ ΑΝΑΤΟΛΙΚΗΣ ΕΚΚΛΗΣΙΑΣ ΤΗΣ ΚΑΘΟΛΙΚΗΣ ΚΑΙ ΑΠΟΣΤΟΛΙΚΗΣ / CONFESSIO CATHOLICAE ET APOSTOLICAE IN ORIENTE ECCLESIAE. Helmstedt 1661). 30 Brief von Andreae, 5. September 1696, in: Tentzel (Anm. 28) Ausgabe 1697, S. 483; vgl. ebd., S. 481–499. 31 „wie kommts denn / daß er zu Marpurg eben dieselbe Confession [des Loukaris] approbiret hat? Dazu weiß ich nichts anders zu sagen […] als daß Metrophanes einer von denen unbeständigen Griechen gewesen zu seyn scheinet / die den Leuten nach dem Munde schwatzen. Wenn sie bey den Lutheranern sind / so reden sie / wie es dieselben gerne hören: Sind sie aber bey den Reformirten / so pflegen sie sich deren hypothesibus auch zu accomodiren“ (ebd., S. 495). 32 Vgl. Anm. 19.
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akkommodieren. Der Marienkult stellte hier womöglich eine schwächer aufgeladene Thematik dar. Lutherische Gelehrte konnten sich hier nüchterner und gelassener auf die von ihren griechischen Gästen mitgeteilten Informationen einlassen. Ziehen wir erneut das Notizheft Christoph Arnolds heran. Es enthält reichhaltige, in verschiedenen Formaten abgespeicherte Informationen zur Confessio Graeca, die Arnold bei seinen Interaktionen mit Almosenfahrern sammeln konnte; etwa Abschriften von Briefen und Urkunden, die dem Gelehrten von den Migranten gezeigt wurden, dann Kopien von Arnolds sorgfältigen Berichten zu den Gesprächen mit den Griechen, die er der Nürnberger Kirchenleitung vorlegen musste, schließlich Schriftproben von der Hand der ostorthodoxen Kleriker, die ihn aufsuchten. Wissensgeschichtlich besonders relevant, weil aus der Forschung zu den Exzerpierkonventionen frühneuzeitlicher Gelehrter bekannt, ist die Ablage von Wissen zu allerlei Materien in Einträgen, die einem ‚geschriebenen Lexikon‘ gleich nach Lemmata geordnet sind (Abb. 1).33 Aus den Gesprächen mit dem Almosensammler und Mönch vom Iviron-Kloster auf dem Berg Athos namens Daniel Kastrisios (auch Castrensius oder Καστρίσιος), der sich zwei Mal bei Arnold in Nürnberg aufhielt (im März 1670 und im Mai 1672), gingen Lemmata zu heterogenen Materien hervor.34 Dem Marienkult und speziell den apokryphen Berichten zur Entschlafung der Gottesmutter kommt in den Einträgen, die die Aufenthalte des Kastrisios in Nürnberg hervorbrachten, eine besondere Bedeutung zu, nicht zuletzt weil das Kastrisios aussendende Iviron-Kloster der Entschlafung Mariens geweiht ist und eine bedeutende Marienikone aufbewahrt.35 Ostorthodoxe Almosenfahrer führten 33 Vgl. zu ähnlichen Praktiken der Wissensabspeicherung in Notizbüchern am Beispiel von Johann Christoph Wolfs Lektüre- und Exzerptheften zu Materien, die die heidnischen Religionen des Orients betreffen, Martin Mulsow: Prekäres Wissen. Eine andere Ideengeschichte der Frühen Neuzeit. Frankfurt a. M. 2012, S. 367–403. Wolf war von 1712 bis 1739 Professor für Griechisch und Hebräisch am Akademischen Gymnasium in Hamburg; vgl. Asaph Ben-Tov: Orientalische Studien an Hamburgs Akademischem Gymnasium vom Anfang bis zur Berufung von Reimarus. In: Das akademische Gymnasium zu Hamburg im Kontext frühneuzeitlicher Wissenschafts- und Bildungsgeschichte. Hg. von Johann Anselm Steiger. Berlin, Boston 2017, S. 130 f. 34 Siehe u. a. die Lemmata ‚Castrensium familia‘ (hierin wird die familiäre Abstammung des Kastrisios erläutert), ‚Monasterium των Ιβήρων‘ (mit Informationen zum aussendenden Kloster), ‚Metalla in Pathmo‘ (mit Auskünften zu den Metallvorkommen auf der Insel Patmos), ‚Confessio Cyrilli Lucaris‘ (mit Ausführungen zur umstrittenen Bekenntnisschrift des schillernden Patriarchen), ‚Calvinianos Uxores Graecae‘ (betrifft die Mischehen, die Handeltreibende reformierten Bekenntnisses in Smyrna mit „griechischen Weibern“ schließen); ‚Parochiae XIV. Constantinopolitanae‘ (mit einer Übersicht der Kirchengemeinden in Konstantinopel), ‚Templum Sophiae‘ (mit Informationen zur Hagia Sophia). 35 Arnolds Relation an die Nürnberger Kirchenpfleger zum ersten Aufenthalt des Kastrisios vom 26. März 1670, ebd. (wie Anm. 27), fol. 3–6. Auf fol. 3 ist ein Zettel eingeklebt mit einer Schriftprobe
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Abb. 1: Notizbuch, Christoph Arnold, Stb Nürnberg: Amb. 98, 4o MS, fol. 60.
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auf ihren Reisen Bilder oder Modelle von den Heiligtümern oder Klöstern mit, für die sie Spenden sammelten, um potentiellen Spendern den Zweck ihrer Kollekte plastisch vor Augen zu führen.36 Dieser Konvention folgend hatte auch Kastrisios ein „gemahltes Bild“ dabei (vermutlich eine Ikone, weil die Griechen, wie Arnold bemerkt, keine glyptischen Darstellungen heiliger Personen dulden), das in Griechenland angefertigt worden sei und das Kloster samt der Szene von der Entschlafung Mariens darstellte.37 Der Almosensammler führte zudem Kästchen (εγκόλπια) bei sich, auf denen ebenfalls Maria mit dem Jesuskind abgebildet war und die von Athosmönchen geschnitzt worden waren. Kastrisios scheute sich nicht, in seinen Unterredungen mit dem Gelehrten und Dichter Arnold diesem solche zum Verkauf anzubieten.38 Näher als durch solche mitgeführten Devotionalien konnten Gelehrte im Alten Reich den Praktiken ostorthodoxer Marienfrömmigkeit kaum kommen. Auf den Bericht Arnolds zum zweiten Aufenthalt des Athos-Mönchs (Mai 1572) folgend findet sich im Notizheft aber auch eine ausführliche Darstellung von den Ereignissen rund um die Entschlafung Mariens (der Κοίμησις) (Abb. 2). Aus den Lemmata ‚Zu Mariae Absterben‘ und ‚Der Gürtel Mariae‘ geht hervor, dass Arnold – und das ist ebenfalls ein typisches epistemisches Akkreditierungsverfahren, das in den Quellen begegnet – ein in Venedig gedrucktes Buch herangezogen hatte, vermutlich um die mündlichen Auskünfte des Kastrisios zu vertiefen und zu überdes Griechen, dem Namen des ihn aussendenden Klosters: „Manus scriptus Graeci, Dan. Castrensij ex Pathmo d. 25. Martij 1670 η κοίμησις της θεοτόκου μονής των ιβήρων“. 36 Der gelehrte Mönch Kaisarios Dapontes (1713/14–1784) hat die Kollekten, die er zwischen 1757 und 1765 mit großem ökonomischen Erfolg im Osmanischen Reich und in dessen Satellitenstaaten der Moldau und Walachei für das Kloster Xiropotamou auf dem Athos durchführte, nicht bloß poetisch in seinem Versepos Kipos Chariton festgehalten, s. Kaisarios Dapontes: Κήπος Χαρίτων. Hg. von Alkis Angelou. Athen 1997. Auch das Holzmodell der Klosterkirche, die aus den Spenden neu gebaut werden sollte, das er bei sich führte und vorzeigte, hat sich erhalten, s. ausführlich zu dem Modell Miltiadis Polyviou: Το καθολικό της μονής Ξηροποτάμου. Σχεδιασμός και κατασκευή στη ναοδομία του 18ου αιώνα. Athen 1999. 37 „Er führte auch gemahlte Bilder (denn sie lieben und leiden keine geschnitztn, sondern nur Gemähln […]) auf Holz mit sich; eines in Moscau, das andere in Griechenland gemahlt: Auf dem einen sind Jesus, Maria, und Johannes; auf dem anderen der Tempel seines Closters, und Maria Κοίμησις […]. Diese Bildniße gebrauchte Castrensius, wann er nemlich in Europa den Graeci (als in Niederland, zu Amsterdam, od[er] sonst in oris maritimis) predigen wolle. So stellt er solche ausser dem Haus, an die Wand, od[er] an ein Fenster; daraus die griechischen Kauffleute glauben, daß er ein Graecus orthodoxus sey“ (Christoph Arnold, StB Nürnberg: Amb. 98. 4O MS, fol. 25 f.). 38 „Er hatte mir für dieses mal theuer verkaufft ein εγκόλπιον, aus Cypressenholtz (davon auch die Creutze gemacht sind) welches auch die Eremiten auf dem kleinen Berg Athos machen, und fast ein Jahr lang damit zubringen. Auf dessen einen Seite ist Chri[stus] als auf einer Weinreben sitzend […]. Zur andern Seite steht eben also die J[ungfrau] Maria, samt dem G[ottes] kind Jesus, auf einem solchen Ast, od[er] Zweig, unten her ist David; und bedeutet also des Stammes Jessn“ (ebd., fol. 43 f.).
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Abb. 2: Ikone mit der Entschlafung Mariens, kretischer Künstler, um 1600, Istituto Ellenico di Venezia.
prüfen: Und zwar ein Synaxarion, eine Sammlung von Heiligenviten, wobei unklar bleibt, um welches Exemplar aus dieser traditionsreichen Gattung es sich genau handeln könnte. Daraus informierte sich Arnold zum Glauben der Griechen bezüglich des Ereignisses des Ablebens von Maria und der Umstände, unter denen die im Vatopedi-Kloster auf dem Athos aufbewahrte Reliquie, der Gürtel Mariens, in menschlichen Besitz gelangt war: In ihrem Legendenbuch Συναξάριον genant, welches in groß folio, und dick, auch zu Venedig gedruckt, und (wie die Griechen vestiglich glauben) von den Aposteln und Jüngern Johannis, selbst zusammengeschrieben worden, wird unter andren gelesen: Da Maria zu Jerusalem sterben solle, sey eben kein Apostel zu Jerusalem gewest, sondern haben sich in alle Welt das Evangelium zu lehren, auseinander zerstreuet gehabt: Aber der Vorsehung seyen sie, ein jeder in seinem Land, von einem sehr starken Wind ergriffen, und also von demselben schnell nach Jerusalem mit einander gebracht worden: Da keiner von dem andern nichts gewußt; endlich aber alle (außer dem Thoma) in Mariae Haus zusammengekommen; allda sie solche in Todesnöthen angetroffen: Welche sie dann auch, bis an ihr Ende bedienet, und in ein tieffes Grab beygesetzet.
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Nach etlichen Tagen aber ist Thomas (da sie schon begraben war) durch einen Wind auch dahin getragen worden; welcher, da er die Apostel trauernd beysammen angetroffen, hat er sich von Hertze betrübt, daß er abermal zu späth gekommen; zumal, weil ihm die andern Apostel seinen gewöhnlichen Verzug hart verwiesen. Darum hat er den H[err]n Chr[istus] angeruffn, warum er ihn doch nicht solcher Gnade, gleich den andern, theilhaftig gemacht, daß er seine Mutter vor ihrem Ende hette sehen mögen. Darauf ist ihm die Mutter Gottes erschienen, gen Himmel fahrend; mit Vermeldung: Nun siehestes mich! Er antwortete aber, die andern würden es ihm nicht glauben: da habe sie ihm ihren Gürtel (weil er ein kennzeichen von ihr gebetten) vom Leib zugeworfen. Worüber Thomas hoch erfreuet, alßbald den andern solches verkündiget, wie daß er nemlich die θεοτόκον auch noch gesehen; und da sie solches nicht glauben wolten, hat er ihnen diesen Gürtel, zum Wahrzeichen vorgewiesen, mit Vermeldung, daß Sie nicht mehr im Grab, sondern gen Himmel (wie er selbst mit Augen gesehen) allbereit gefahren were. Da sie dann alsobald das Grab eröfnet, und ihren Leichnam nicht mehr darinnen gefunden. Solchn Gürtel wird annoch, als ein großes Heiligthum (si credere fas est) in dem Kloster βατωπέδι, auf dem Monte Sancto (Athos) gelegen, mit höchster Reverenz gezeiget.39
Arnold äußert sich im besagten Notizbuch übrigens in einem auffällig wertneutralen, sachlichen Ton zu den Glaubensvorstellungen der Ostorthodoxen zum Ableben Mariens.40 Der Sachlichkeit Arnolds und dem zornigen Affekt Gerlachs, die uns an den Beschäftigungen dieser beiden Lutheraner mit dem Marienkult der
39 Christoph Arnold, ebd., fol. 59–61. Die Informationen, die unter den hier zitierten Lemmata aus dem Notizheft ‚Zu Mariae Absterben‘ und ‚Der Gürtel Mariae‘ enthalten sind, hätte Arnold etwa aus dem Synaxarion des Maximos Margounios (1549–1602) beziehen können, s. die Passagen zum 15. August (,Κοίμησις της παναγίας‘ / ‚Entschlafung Mariens‘) und zum 30. August (,Ζώνη της θεοτόκου‘ / ‚Der Gürtel der Gottesmutter‘) in Maximos Margounios: ΒΙΟΙ ΑΓΙΩΝ ΕΚ ΤΗΣ ΕΛΛΗΝΙΚΗΣ ΓΛΩΤΤΗΣ ΗΤΟΙ ΕΚ ΤΩΝ ΣΥΝΑΞΑΡΙΩΝ μεταφρασθέντες. ΠΑΡΑ ΜΑΧΙΜΟΥ ΤΑΠΕΙΝΟΥ ΕΠΙΣΚΟΠΟΥ ΚΥΘΗΡΩΝ εις κοινήν ωφέλειαν. Venezia: Nikolaos Glykis 1685, S. 658 f., S. 685 f. Dieser Text erschien zudem auch früher in venezianischen Editionen: vgl. zu den Editionen von 1648 und 1685 dieses Synaxarions Èmile Legrand: Bibliographie Hellénique ou description raisonnée des ouvrages publies par des Grecs au dix-septieme siècle. Bd. 2. Paris 1894, S. 47, S. 424 = Nr. 393, Nr. 593. Für den Hinweis auf die Ausgaben des Margounios danke ich Dr. des. Jannis Großmann herzlich. 40 Zu kontrastieren ist Arnolds Haltung deshalb erneut mit Heineccius, der den Glauben der Griechen an die Himmelfahrt Marias an der Seite weiterer Irrtümer als Beleg für den misslichen Zustand der ‚neuen griechischen Kirche‘ anführt: „Man wuste damahls [in der alten griechischen Kirche, S. S.] außer Gott von niemanden, dem die Ehre der Anbetung gebührete, man kannte keinen andern Mittler als Christum Jesum, kein ander Versöhn-Opffer als seinen blutigen Tod, und keine andere Gerechtigkeit, als die durch den Glauben. Man redete weder von Traditionen außer der Schrifft, noch von dem freyen Willen in der Bekehrung, noch von sieben Sacramenten in der Kirche, noch von den Seelen im Fegfeuer, noch von einer Königin im Himmel. Mit einem Wort, die Braut Christi prangete noch in der Schönheit, damit sie ihr Blut-Bräutigam bekleidet hatte, und war noch nicht mit der Schmincke mancherley Menschen-Satzung besudelt, welche ihr die nachfolgenden Zeiten anstrichen“ (Heineccius (Anm. 19), Teil I, Kap. 1, §11, S. 14, Hervorh. S. S.).
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Griechen aufgefallen sind, lässt sich die Heiterkeit, ja das ungezwungene Lachen bei einem weiteren, auf dem Gebiet der „griechischen Christen in der Türkey“ spezialisierten Gelehrten zur Seite stellen: Dem reformierten Theologen und Konsistorialrat in Berlin Jakob Elßner (1692–1750). Elßner hatte ebenfalls einen Almosenfahrer, den Archimandriten aus Konstantinopel Athanasius Dorostamus, wiederholt bei sich in Berlin zu Gast. Dorostamus, der von Elßner gleichsam als Co-Autor seiner Neuesten Beschreibung derer griechischen Christen in der Türkey (Berlin 1737) stilisiert wird, war Mitglied eines Netzwerks von griechisch-orthodoxen Klerikern, die in den 1720er und 1730er Jahren in Westeuropa und auch in Russland Almosen sammelten, um christliche Sklaven im Osmanischen Reich freizukaufen, dabei aber auch in den Verdacht illegaler Machenschaften gerieten.41 Am Ende eines Gesprächs, das Elßner und Dorostamus über den Marienglauben der Katholiken geführt hatten, stimmten sie in ein herzhaftes Lachen über den Wunderglauben der Katholiken ein, wonach das Haus Mariens (Schauplatz der von den Griechen verherrlichten Entschlafung/Κοίμησις) durch Engelsgewalt von Nazareth nach Loreto – einem wichtigen Wallfahrtsort im barocken Katholizismus – überführt worden sei.42 Mag dieses Beispiel auch erneut den Verdacht wecken, den auch die frühneuzeitlichen Gelehrten kritisch reflektierten, dass aus den Gesprächen mit den kontinuierlich zufließenden Almosenfahrern oder anderen griechischen Migranten keine belastbaren Informationen zum ‚authentischen‘ Glauben der Griechen zu generieren seien, so ist das nur eine Seite der Medaille.43 Denn auf der anderen Seite ermöglichten die Begegnungen zwischen Almosenfahrern und Gelehrten, bei denen beide Seiten je nachdem in Vgl. auch die Polemik gegen den Marienkult in der ‚neuen griechischen Kirche‘ ebd., Teil II, Kap. 2, §17: Verehrung der Mutter Gottes. 41 Detailliert zu diesem Netzwerk Tsakiris, Makridis (Anm. 8). Zur Tätigkeit des katholischen Trinitarierordens auf dem Gebiet der ‚Ranzion‘ von christlichen Sklaven/Gefangenen im Osmanischen Reich Elisabeth Pauli: Befreiung aus tyrannischer Gefangenschaft. Der Trinitarierorden in der Habsburgermonarchie und die Rückführung christlicher Sklaven aus dem Osmanischen Reich und dessen Vasallenstaaten (1688–1783). In: Archiv für Kulturgeschichte 90/2 (2008), S. 351–378. 42 „Der Archimandrit fing einmahl überlaut an zu lachen über das Vorgeben der Lateiner, daß die Engel das Häuschen der Maria, Sancta casa, von Nazareth nach Loretto sollen übergetragen haben“ (Jacob Elßner: Neueste Beschreibung derer griechischen Christen in der Türkey. Aus glaubwürdiger Erzehlung Herrn Athanasius Dorostamus, Archimandriten des Patriarchen zu Constantinopel. Berlin 1737, S. 197). Vgl. Peter Hersche: Muße und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter. Bd. 1. Freiburg u. a. 2006, S. 804. 43 Sich des Teufelskreislaufs bewusst, in dem die protestantischen Gelehrten und osmanischen Griechen steckten, habe Elßner den Dorostamus „mehrmahl alles Ernstes ermahnet, und fast beschworen, nichts als die Wahrheit und ungescheut zu sagen, wobey ich ihn versicherte, daß wir Protestanten ihm weit mehr Liebe erzeigen würden, wenn er die rechte Beschaffenheit der Sache nach seinem besten Wissen entdeckte, als wenn er mit Schmeicheley oder Verschweigen der
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materieller oder immaterieller Hinsicht profitieren konnten, eine auf Reziprozität und institutionalisierter Erwartbarkeit basierende soziale Interaktion. Kontakte mit Migranten aus dem Orient konnten für das frühneuzeitliche Gelehrtenkollektiv, das sich mit den studia orientalia befasste und von Martin Mulsow als „armchairorientalists“ bezeichnet worden ist, eine wichtige Wissensbasis zur Verfügung stellen.44 Im Gegensatz zum unpersönlichen oder weniger persönlichen Erwerb von Wissen auf der Grundlage von Traktaten über die Confessio Graeca oder von Korrespondenzen mit gelehrten Kollegen, wurden Gelehrte durch Kontakte mit Migranten unmittelbar mit den Frömmigkeitspraktiken der Orthodoxen und deren materiellen Voraussetzungen (z. B. Ikonenverehrung, Ablehnung glyptischer Devotionsbilder) konfrontiert.
3 Der Marienkult der griechisch-orthodoxen Migranten und die Unionspolitik des Habsburger Hofes unter Maria Theresia Auch wenn es bereits erheblich früher, wegen der fluktuativen Präsenz griechisch-orthodoxer Händler, sporadisch griechisch-orthodoxe Gottesdienste in der Messestadt Leipzig gegeben hatte, so gilt das Jahr 1743 als Gründungsdatum der dortigen Gemeinde zur Hl. Dreifaltigkeit.45 In Wien wurde hingegen bereits Ende des siebzehnten Jahrhunderts, anlässlich des Aufenthalts des Chefunterhändlers der Hohen Pforte Alexandros Mavrokordatos ex Aporriton (1641–1709), eine Legationskapelle eingerichtet, deren Geistlicher und auch deren kirchliches Gerät von Mavrokordatos nach seiner Rückkehr ins Osmanische Reich im Jahre 1699 den ‚griechischen Handelsmännern‘ zur Verfügung gestellt wurden.46 Das
Wahrheit uns etwas zu Gefallen aussagen wollte, vornehmlich da man ja auch andere Nachricht von denen Griechischen Christen hätte“ (Elßner (Anm. 42), S. 10). 44 Martin Mulsow: Global Intellectual History and the Dynamics of Religion. In: Dynamics of Religion: Past and Present. Hg. von Christoph Bochinger, Jörg Rüpke. Berlin, Princeton 2017, S. 251–272. 45 Frank-Thomas Suppé: In Sachsen auf Heimatboden. Zur Geschichte der griechischen Gemeinde in Leipzig. In: Evgenios Vulgaris und die Neugriechische Aufklärung in Leipzig. Hg. von Günther S. Henrich. Leipzig 2003, S. 13–46. Elßner berichtet, dass der Archimandrit Dorostamus während der Ostermesse die Griechen in Leipzig aufsuchte und von „verschiedenen Griechischen Kaufleuthen“ erkannt wurde, die ihm „mit vieler Ehrbezeugung“ begegneten (Elßner (Anm. 42), Vorrede, unpag., [S. 8]). 46 So heißt es in einem Memorandum, das die Wiener ostorthodoxe Georgsbruderschaft für den russischen Gesandten in Wien im Jahre 1761 anfertigen ließ: „Nachdem der […] von Ottomani-
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früheste erhaltene Privileg der Wiener Konfessionsgemeinde, die sich als Bruderschaft (αδελφότης) zum Hl. Georg konstituierte, das vom Hofkriegsrat ausgestellt worden war und den Mitgliedern der Konfraternität ein freies exercitium religionis zuerkannte, datiert vom 9. Juni 1726, wobei es sich auf ein (nicht mehr erhaltenes) älteres Privileg bezieht.47 Ungefähr zeitgleich entstanden aber auch als Folge des ‚Großen Serbenzuges‘ (velika seoba) von 1690 unter der Leitung des Metropoliten von Peć Arsenije Čarnojević, vor allem in den osmanisch-habsburgischen Grenzregionen in Ungarn, serbische Konfessionsgemeinden. Die vom Privilegium Leopoldinum (1690) angelockten serbischen Konfessionsverwandten erhielten sogar eine eigene Metropolie im Grenzort Karlowitz, der höchsten ostkirchlichen Institution auf Habsburger Territorium. Die unter der türkischen Tyrannei („Tyrannidem Turcicam“, so heißt es im Privileg von 1690), leidenden ostchristlichen Völker wurden ermuntert, nach dem gerechten und glorreichen Sieg der Habsburger zur Beförderung des christlichen Glaubens („Religione Christiana promovenda“) in das ungarische Königreich einzuwandern. Ihnen wurde zudem eine freie Ausübung ihres
scher Pforte anhero nacher Wienn abgeschikte Alexander Exaporiton griechischer Religion mit Seinem deto Beicht-Vatter Gabriel genant allhier noch keine […], wenigstens um deren herauf kommenden und hierdurch passirenden Glaubens Anverwandten Willen angelegte Kapell fand; so wurde Er andurch bezwungen, aus Einem Zimmer der Ihme damahls eingeraumten Wohnung eine würkliche Kapel zu formiren, gleichwie sein oberwehnter Beicht-Vatter auch darinnen wehrend sein Aufenthalt allhier, alle gewöhnliche Gottesdienst hielte, und zugleich Sacra administrirete (HHStA, StAbt, Türkei I/228–3, 3. November 1761, §1–2). 47 Abgedruckt und analysiert in Anna Ransmayr: Untertanen des Sultans oder des Kaisers. Struktur und Organisationsformen der beiden Wiener griechischen Gemeinden von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis 1918. Wien 2018, S. 45. Zu den ‚griechischen Handelsmännern‘ in den Territorien der Habsburger, zunächst in Ungarn, dann in Wien und Triest, gibt es eine reiche Forschungsliteratur: Olga Katsiardi-Hering: Ἡ ἑλληνική παροικία τῆς Τεργέστης. 2 Bde. Athen 1986 sowie dies.: Greek Merchant Colonies in Central and South-Eastern Europe in the Eighteenth and Early Nineteenth Century. In: Merchant Colonies in the Early Modern Period. Hg. von Viktor N. Zakharov, Gelina Harlaftis, Olga Katsiardi-Hering. London u. a. 2012, S. 127–139; Vaso Seirinidou: „Griechischer Handelsmann“: Anatomizing a collective subject. In: Austrian-Greek Encounters over the Centuries. History – Diplomacy – Politics – Arts – Economics. Hg. von Herbert Kröll. Innsbruck u. a. 2007, S. 129–138 sowie dies.: Έλληνες στη Βιέννη (18ος- μέσα 19ου αιώνα). Athen 2011; Maria A. Stassinopoulou: Βαλκανική πολυγλωσσία στην αυτοκρατορία των Αψβούργων τον 18ο και 19ο αιώνα. Ενα γοητευτικό φαινόμενο και οι δυσκολίες των εθνικών ιστοριογραφίων. In: Διασπορά – Δυκτία – Διαφωτισμός (τετράδια εργασίας 28). Hg. von Maria A. Stassinopoulou, Maria Christina Chatziioannou. Athen 2005, S. 17–32; Ikaros Mantouvalos: Conscriptiones Graecorum in Eighteenth-century Central Europe: The Sociocultural Identification of Migrants from the Balkans to Hungarian Territories. In: Encounters in Europe’s Southeast. The Habsburg Empire and the Orthodox World in the Eighteenth and Nineteenth Centuries. Hg. von Harald Heppner. Bochum 2012 (Das Achtzehnte Jahrhundert und Österreich 5), S. 121–133.
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Glaubens („libertas Religionis“) zugesichert.48 In Ungarn, wo sich ‚griechische Handelsmänner‘ aus dem Osmanischen Reich bereits im siebzehnten Jahrhundert zahlreich niedergelassen hatten, wurde 1790 in Pest eine Konfessionsgemeinde eingerichtet, die der Entschlafung Mariens geweiht war. Diese Gemeinde wurde neu gegründet, nachdem sich die Griechen nach heftigen Auseinandersetzungen von den serbischen Konfessionsverwandten abgespalten hatten.49 Auch wenn die von den ‚griechischen Handelsmännern‘ und zugleich osmanischen Untertanen dominierte Kapelle zum Hl. Georg in Wien, die von Maria Theresia 1776 mit einem neuen und umfassenderen Privilegium ausgestattet wurde, nicht der Muttergottes geweiht war, so dürfte der Marienkult im zeremoniellen Alltag einen festen Platz gehabt haben, zumindest zeugen davon beispielsweise die Anrufungen Mariens in Testamenten ihrer Gemeindemitglieder oder mehrere Marienikonen, die zu ihrem Bestand gehörten (Abb. 2).50 Dass die Entstehung griechisch-orthodoxer Konfessionsgemeinden auf dem Boden des Heiligen Römischen Reiches oder aber in den Territorien seiner Nachfolgestaaten Chancen bot, damit Angehörige der westlichen christlichen Konfessionen Wissen, ja sogar ein Gespür für den Marienkult der Ostorthodoxen erwerben konnten, liegt auf der Hand. Sie konnten für Reisende oder Anwohner, die sich für den Ritus der griechisch-orthodoxen Kirche interessierten, zur Kontaktzone werden. Etwa der im Auftrag der Hallenser Pietisten nach Ungarn (im Jahre 1747) und auch in den Orient (zwischen 1752–1756) reisende Stephan Schultz (1714–1776),
48 Im Privileg werden folgende Völker und Länder aufgezählt und angeredet: „Albania, Servia, Mysia, Bulgaria, Schistria, Illyria, Macedonia, Rascia“, s. Privileg Leopolds I., 6. April 1690, HHStA, Ungarische Akten, 196/197, Allgemeine Akten, Fasc. 196, fol. 1r-3v, v. a. 1v. Vgl. Walter Lukan: Velika seoba srba. Der große Serbenzug des Jahres 1690 ins Habsburgerreich. In: Österreichische Osthefte 33 (1991), S. 35–50. 49 Zum Konflikt zwischen Serben und Griechen in der Pester Gemeinde Ende des achtzehnten Jahrhunderts Ödon Füves: Οι Έλληνες της Ουγγαρίας. Thessaloniki 1965, S. 66. 50 Tsigaras berichtet in seiner Studie zur Kirche des Hl. Georgs, deren heutiges Gebäude am Hafnersteig erst Ende des neunzehnten Jahrhunderts errichtet wurde, von vier Mariendarstellungen. Maria „erscheint auf vier Ikonen der Georgskirche, als Hodegetria mit dem Kind am Templon und im Konferenzsaal der Gemeinde, auf der Ikone des Altarraumes (1822) als Blachernitissa und auf der Ikone des Proskynetarion als Thronende mit dem Kind“ (Georgios Tsigaras: Die Kirche zum Heiligen Georg in Wien. Geschichte und Kunst. Thessaloniki 2005, S. 180). Vgl. die Anrufung der allerheiligsten Muttergottes („τής ὑπεράγιας Θεοτόκου“) im Testament des Händlers aus Meleniko (heute Melnik/Bulgarien) Georg Haggi Nicola, Testament vom 20. April 1794, Archiv Hl. Georg, Wien, AHG, G31, F16.
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der 1760 zum Leiter des dortigen Institutum Judaicum et Muhammedicum wurde, beschreibt eindrücklich seinen Besuch ostorthodoxer Gottesdienste.51 Er wohnte der „Versammlung“ der Wiener Georgsbruderschaft bei, die ihre Gottesdienste in einer angemieteten Hauskapelle (im Steyrerhof, heute in der Nähe der Ecke Griechengasse/Rotenturmstraße gelegen) veranstaltete, wobei ihm die griechischen Händler auch bei der Organisation seiner Reise nach Konstantinopel mit Rat zur Seite standen.52 Bei einer früheren Reise wurde Schultz im ungarischen Grenzort Peterwardein, im November 1747, von seinen Gastgebern zu einem Gottesdienst in „slavonischer Sprache“ mitgenommen.53 Griechen und Serben besaßen, wie wir gesehen haben, in den Territorien der Habsburger ein Recht auf Religionsausübung, das den protestantischen Konfessionsangehörigen (zumindest in den österreichischen Erblanden) hingegen bis zum Toleranzpatent von 1781 verwehrt blieb.54 Trotzdem verfolgte der Hof unter Maria Theresia, für die mit Barbara Stollberg-Rilinger gesprochen „das konfessionelle Zeitalter noch nicht vorüber“ war,55 wenn auch mit weicheren Druckmitteln, auch gegenüber den nicht unierten Griechen eine Politik, die den Übertritt zum katholischen Glauben oder die Annahme der Union bezweckte (nach dem Vorbild der unierten Griechen in Polen-Litauen oder in der Ukraine). Schon aus kommerziellem Kalkül erteilte der Hof, wie wir gesehen haben, den Ostorthodoxen Religionsprivilegien; denn der von den griechisch-orthodoxen Händlern, die von Trajan Stoianovich als „conquering Balkan orthodox merchants“ bezeichnet worden sind, beherrschte Fernhandel mit dem Osmanischen Reich stand seit Ende 51 Zu Schultz und dessen Reisetätigkeit Daniel Haas: Stephan Schultz auf Reisen im Osmanischen Reich in den Jahren 1752 bis 1756. In: Anne Schröder-Kahnt, Claus Veltmann: Durch die Welt im Auftrag des Herrn. Reisen von Pietisten im 18. Jahrhundert. Berlin 2018, S. 67–79. 52 „[D]ie hiesigen Griechen […] waren theils aus Constantinopel, aus Thessalonich und Boskopoli [Moschopolis, heute Voskopoja/Albanien], und sind hier Niederläger, reisen aber sehr oft nach ihrer Heimat“ (Stephan Schultz: Der Leitungen des Höchsten nach seinem Rath auf den Reisen durch Europa, Asien und Africa. Halle: Hemmerde 1771–1775. Bd. 4. 3. Kapitel, S. 33). „Den 16ten Julii [1752] giengen wir früh in die Versammlung der hiesigen Griechen, konten aber nicht lange aushalten, weil sie so viel Knoblauch gegessen hatten, dessen Geruch uns eine Uebelkeit verursachte“ (ebd., S. 34). 53 Ebd., Bd. 2. 9. Kapitel, S. 223–228. 54 Zum Phänomen des ‚Geheimprotestantismus‘ in den habsburgischen Territorien und der bis zum Ende der Regierungszeit Maria Theresias unnachgiebig betriebenen Konfessionspolitik gegenüber Lutheranern und Reformierten Rudolf Leeb, Martin Scheutz, Dietmar Weikl (Hg.): Geheimprotestantismus und evangelische Kirchen in der Habsburgermonarchie und im Erzstift Salzburg (17./18. Jahrhundert). Wien, München 2009 (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 51); Barbara Stollberg-Rilinger: Maria Theresia. Die Kaiserin in ihrer Zeit. München 2017, S. 644–666. 55 Zitat ebd., S. 630.
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des Erbfolgekrieges in der Blüte und die von den Händlern importierten Güter (etwa Baumwolle, Wolle, Leder, türkisches Garn) wurden vom entstehenden Manufakturwesen stark nachgefragt.56 Dass dies jedoch nicht unbedingt mit konfessioneller Wertschätzung seitens der politischen Akteure zu tun haben musste, zeigt ein Dokument vom September 1776, in dem die Kaiserin über das Ansuchen der Griechen im ungarischen Miskolc, eine Kirche bauen zu dürfen, eine Entscheidung fällte. Dieses Dokument ist aufschlussreich, weil in ihm deutlich zum Ausdruck kommt, dass Maria Theresia die Confessio Graeca in dogmatisch-ritueller Hinsicht eigentlich für ungefährlich hielt, dennoch mit einer Gleichstellung zu den Katholiken zögerte, da sonst jeder Anreiz für die nicht Unierten entfallen wäre, nach der Union zu streben. Leitlinie solle deshalb eine Gratwanderung sein, wonach den Griechen zwar mehr zu gewähren sei, als das bloße exercitium privatissimum (die Ausübung religiöser Praktiken im Privatgemach). Dennoch sollte ein merklicher Unterschied zum vollumfänglichen exercitium publicum gewahrt werden, das den Katholiken vorbehalten blieb. Die Argumentation in der von Maria Theresia bewilligten und unterschriebenen Note lautet wie folgt: Die nicht unirte Secte ist zwar von keiner solchen Gefahr der Verführung, wie den Protestanten begleitet, da jene strengere Pflichten, als die Catholische Religion zum Grunde hat. Indeßen muß man den Augenmerk dahin richten, womit die Union so viel möglich erleichteret werde. Hierinne ist der Mittel Wege die einzige Straße, worauf man mit Hofnung eines guten Erfolges wandlen kann. Haben sie ein Exercitium publicum mit Kirche, und Pfarren, so kleben sie an dieser Bequemlichkeit, ohne sich um etwas anderes zu bekümmern, und werden in ihrem Irrthum immer mehr bevestiget. Gestattet man ihnen nun ein Privatissimum, so sehen sie es als eine übertriebene Härte an, fassen Abneigung, und wissen, daß man ihnen dieses in jedem Hauße für sich alleine ohnedem nicht verbieten könne. Ein privatum aber, nach welchem sie in einem sonst bewohnten Hauße lediglich unter Beywohnung eines Poppen, ohne Geläuthe, oder äußerl.en Zeichen ihren Religions-Übungen obliegen, kann sie einerseits befriedigen, und andererseits werden sie immer mehr, und mehr geneigt seyn, näheren Begrif von unserer Religion zu erreichen, folglich sich viel eher als bey einem schon genießenden Exercitio publico vereinigen. […] Hierdurch dürften wahrscheinlich die non uniti zu Miskolez sich zufrieden stellen.57
56 Trajan Stoianovich: The Conquering Balkan Orthodox Merchant. In: The Journal of Economic History 20/2 (1960), S. 234–313; Olga Katsiardi-Hering: Τεχνίτες και τεχνικές βαφής νημάτων. Από τη Θεσσαλία στην Κεντρκή Ευρώπη (18ου – αρχές 19ου αι). Athen, Ambelakia 2003; Olga KatsiardiHering, Ikaros Mantouvalos: The Tolerant Policy of the Habsburg Authorities towards the Orthodox People from South-Eastern Europe and the Formation of National Identities (18th – early 19th Century). In: Balkan Studies 49 (2014), S. 5–34. 57 Note, unterschrieben von Maria Theresia, 14. September 1776, OeStA, AVA, Kultus, AK, Akatholisch, Griechisch Orthodox, Karton 9, Fasz. ‚Gottesdienst‘, S. 2–5. Im Widerspruch zu dieser Richtlinie steht allerdings, dass Maria Theresia im März 1776 den Wiener Griechen und ihre Vor-
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In ihrem erbitterten, über Jahrzehnte schwelenden Konflikt warfen sich die griechischen Händler und osmanischen Untertanen der Georgskapelle in Wien einerseits und die serbischen Kleriker und habsburgischen Untertanen der Metropolie in Karlowitz andererseits gegenseitig vor, eine Union mit den „Papisten“ anzustreben.58 Auch solche Äußerungen lassen vermuten, dass man seitens der katholischen Konfession Druck ausgesetzt war. Die Theologen und Kirchenoberen im Osmanischen Reich wiederum sorgten sich angesichts dieser Rahmensituation, dass die Glaubensvorstellungen und Frömmigkeitspraktiken ihrer Konfessionsverwandten auf Habsburger Boden von den katholischen ‚Irrtümern‘ kontaminiert und hybridisiert werden könnten. Auch die Berührungen mit dem katholischen Marienkult bekamen hier ein größeres Gewicht. Dies soll abschließend anhand von Texten dargestellt werden, die aus der Feder des einflussreichen theologischen Gelehrten, aber auch Vermittler aufklärerischen Gedankenguts an das osmanische Griechentum Evgenios Voulgaris (1716– 1806) stammen. Zuallererst ist hierfür Voulgaris’ ermahnender Brief an die Serben im Habsburger Territorium einschlägig, der 1756 unter dem Titel Bibliarion kata Latinon in Konstantinopel gedruckt wurde und bereits 1757 in einer Folgeedition in Leipzig erschien.59 Voulgaris war, zum Zeitpunkt als er diesen Text verfasste, Leiter der in der Nähe des Vatopedi-Klosters 1749 neugegründeten Athosakademie. Später (in den Jahren 1769 und 1773) hielt er sich aber auch in Halle und Leipzig auf, wo er sich an der Hallenser Universität immatrikulierte und Werke in den Druck Hallenser und Leipziger Verlagshäuser gab.60 fahren auf dem Kaiserthron bereits viel früher den serbischen Metropolien ein öffentliches Religionsausübungsrecht verliehen hatte. 58 Eine Sammlung von gegenüber der Georgskapelle belastenden Informationen, die ein unbekannter Agent für den Metropoliten in Karlowitz Moisije Petrović (Amtsperiode 1726–1730) anfertigte, berichtet davon, dass ihre Mitglieder den Metropoliten und sein Gefolge als Unierten („ουνιάτοι“) und Papisten („παπίστας“) verunglimpflicht hätten, s. Eintrag vom 20. Januar 1727, in: Charalambos Papastathis: Un document inédit de 1726–1727 sur le conflit hellèno-serbe concernant la chapelle grecque à Vienne. In: Balkan Studies 24 (1983), S. 581–607, S. 596. Vgl. hierzu Ransmayr (Anm. 47), S. 41–48. 59 Im Folgenden wird zitiert aus der Folgeedition Evgenios Voulgaris: Επιστολή παραινετική προς τους Σέρβους. In: E. Argentis, Άνθος της Εβσεβείας. Leipzig 1757, S. 53–89. Vgl. zur antikatholischen Polemik in dieser Schrift Podskalski (Anm. 3), S. 346 f. und zur Editions- und Rezeptionsgeschichte Vasilios N. Makridis: Απόκρισις Ορθοδόξου τινός προς τινα αδελφόν ορθόδοξον περί της των Κατολίκων δυναστείας […] (Χάλλη 1775): Έργο του Νικηφόρου Θεοτόκη ή του Ευγενίνου Βούλγαρη; Στοιχεία, ερμηνείες και υποθέσεις. In: Ευγένιος Βούλγαρης. Ο homo universalis του Νέου Ελληνισμού. Hg. von Chariton Karanasios. Athen 2018, S. 463–522, S. 491. 60 Vasilios N. Makridis: Evgenios Voulgaris und Halle. In: Logos im Dialogos. Auf der Suche nach der Orthodoxie. Gedenkschrift für Hermann Goltz (1946–2010). Hg. von Anna Briskina-Müller, Armenuhi Drost-Abgarjian, Axel Meißner. Münster, Berlin 2011 (Forum Orthodoxe Theologie 11),
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Voulgaris beschreibt den Zustand der nicht unierten Griechen im Habsburger Territorium so, dass ihm zu Ohren gekommen sei, dass seine Konfessionsverwandten trotz der angenehmen politischen und rechtlichen Verhältnisse, die für sie dort bestünden, von der römischen Kirche bedrängt würden, vor allem von Ordensleuten, wie den Dominikanern und den Jesuiten.61 Angesichts der akuten Bedrohungen, die hierdurch für das Seelenheil der Migranten im Habsburger Territorium entstünden („δια την αιώνιον ζωήν όπου κινδυνεύετε“), fühlt sich Voulgaris veranlasst, präventiv die Verfehlungen der Katholiken in Dogma und Ritus aufzuzählen und ausführlich darzulegen. Wenig überraschend finden sich hierunter die klassischen Streitthemen, die die interkonfessionellen Auseinandersetzungen zwischen Rom und Konstantinopel seit Jahrhunderten prägten, wie der Ausgang des Heiligen Geistes, die Supprematie des Papstes, die Verwendung ungesäuerten Brotes (azima) in der Eucharistie und das Dogma des Fegefeuers. Allerdings verfasste Voulgaris keinen trockenen Text, sondern würzte ihn mit einer gehörigen Portion Humor und Sarkasmus. Die Machtansprüche des Papstes würden sich nicht bloß auf den gesamten Erdkreis ausdehnen, sondern demnächst auch die noch unerreichbaren Landstriche auf dem Mond in den Blick nehmen.62 Die Flammen des Purgatoriums („καθαρτήριον“) hätten dem Kirchenstaat mehr Einnahmen beschert, als die Öfen aller Gold- und Silberschmieden auf dem Planeten zusammengerechnet.63 Was den katholischen Marienkult anbelangt, so skandalisiert Voulgaris nicht bestimmte mariologische Detailfragen (angeboten hätte sich etwa das katholische Dogma der unbefleckten Empfängnis), sondern die „pornographische“ Darstellung der Theotokos in den Kirchen der Katholiken. Sie würde mit aufwendig gestalteten Zöpfen („των τριχών τους πλοκάμους“), kostbarem Schmuck („με δακτυλοειδείς ασέμνους έλικας“) und unziemenden Kleidern („με φορέματα άτακτα και άσεμνα“) dargestellt, ganz so wie sich die europäischen Frauen gemäß der neuesten Mode herausputzen würden („οία εις τους Ευρωπαίους ο περί των γυναικείων ίματισμός συχνός νεοτερισμός“).64 Statt ein ehrwürdiges Abbild der Jungfrau und Gottesmutter Maria zu schaffen, würde eine laszive Aphrodite dargestellt („μίαν ακόλαστον Αφροδίτην“). S. 137–144; zur Athosakademie Alkis Angelou: Το χρονικό της Αθωνίαδας. In: Nea Estia 37 (1963), S. 84–105. 61 Voulgaris (Anm. 59), S. 55, S. 60. 62 „και αν ήτον δυνατόν ήθελαν τον αναβιβάσουν και επάνω εις την σεληναίαν σφαίραν“ (ebd., S. 62). 63 Ebd., S. 63. 64 Ebd., S 66 f. Der Begriff der Neuerung (νεοτερισμός), der in diesem Zitat begegnet, impliziert nicht bloß die Haute Couture, sondern hat auch eine konfessionspolemische Seite. Hatte doch, wie wir oben gesehen haben, etwa Jeremias II. den Lutheranern in Tübingen νεοτερισμός vorgeworfen, s. oben Anm. 117.
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Die Monierung von Haartracht, Schmuck und Bekleidung Marias auf den katholischen Darstellungen, die die Beziehung der ostchristlichen Migranten zur Gottesmutter auf falsche Bahnen zu bringen drohten, gibt uns einen Hinweis, an was für einem Typus künstlerischer Darstellung sich Voulgaris störte. Zielscheibe der ostorthodoxen theologischen Thinktanks im Osmanischen Reich scheinen somit, trotz des Vergleichs zur Aphrodite, nicht Darstellungen der Maria Lactans zu sein, sondern die für Ostorthodoxe grundsätzlich umstrittene glyptische Darstellung Mariens und anderer heiliger Personen. Mit Referenz auf die grundlegende Unterscheidung zwischen unzulässiger λατρεία und zulässiger δουλεία, die auf dem 7. Ökumenischen Konzil festgelegt wurde, ist bei Voulgaris deshalb auch davon die Rede, dass die Katholiken nicht Ikonen gebührend verehrten, sondern sich vor glyptischen Götzenbildern niederwerfen würden.65 Den Konnex zur konfessionspolitischen Haltung Maria Theresias gegenüber den ostorthodoxen Migranten bringt hingegen ein anderer anti-katholischer Text zur Geltung, der bisher dem Voulgaris-Schüler Nikiphoros Theotokis (1731–1800) zugeschrieben wurde, der aber laut einer Studie von Vasilios N. Makridis mit überzeugenden Argumenten ebenfalls auf eine Urhebeschaft des Voulgaris – oder eine Co-Autorschaft beider – zurückgeführt werden kann: die ebenfalls an die unter katholischer Herrschaft stehenden orthodoxen Konfessionsbrüder adressierte Apokrisis orthodoxou von 1775.66 Er richtet sich nämlich direkt gegen eine am 4. Mai 1773 in der Hofkapelle der Kaiserin anlässlich der Weihe des Rumänen Grigore Maior (1715–1785) zum griechisch unierten Bischof von Siebenbürgen gehaltene Predigt des katholischen Geistlichen Anton Ruschitzka/Ruschitzki (1735–1793). Sie 65 „εικόνας παρεδόθημεν να σεβώμεθα γεγραμμένας, και αυτοί προσκυνούν γλυπτά Είδωλα“ (ebd., S. 66). Gregorio Leti berichtet, dass Griechisch-Orthodoxe (unierte wie nicht-unierte) in den italienischen Territorien (wie dem Königreich Neapel, in Venedig und Rom) sich über die glyptischen Darstellungen heiliger Personen in Kirchenräumen entsetzten: „hanno per vn de’ punti principali della lor Religione Greca la priuatione di non adorare Imagini di Statura, nè meno di tenerne in Chiesa, adorano con tutto cio, e tengono l’Imagine del Crocifisso sopra l’Altare, rapresentata in Legno, ò muro, però con la sola figura: à questo fine non vsano l’Hostia nella Messa come fanno i Catolici, credendo che ciò sia vna specie di Statua, ma si seruono del solo Pane“ (Gregorio Leti: L’Italia Regnante ò vero Nuova Descritione dello Stato presente di tutti Prencipati, e Republiche d’Italia. Bd. 1. Genf 1775, S. 173); vgl. Stéphanie Mahieu: Icons and/or Statues? The Greek Catholic Divine Liturgy in Hungary and Romania. Between Renewal and Purification. In: Eastern Christians in Anthropological Perspective. Hg. von Hermann Goltz, Chris Hann. Berkley 2010, S. 79–100. 66 Απόκρισις Ορθοδόξου τίνος προς τίνα αδελφών ορθοδόξων περί της των Κατολίκων δυναστείας, Και περι του Τίνες οι Σχίσται και οι Σχισματικοί και οι Εσχισμένοι, Και περί της βαρβαρικώς λεγομένης Ουνίας και των Ουνίτων, και περί του Πως δει τους Ορθοδόξους απαντάν τη των Κατολίκων τυραννία (Halle 1775). Zu diesem Text und der Frage der Autorschaft ausführlich Makridis (Anm. 59).
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wurde in einem viersprachigen Druck (auf Deutsch, Latein, Serbisch und Rumänisch) in den Druck gegeben, um für die Union unter den nicht unierten griechischorthodoxen Bevölkerungsanteilen der Kaiserin Werbung zu machen.67 Aus einem ideengeschichtlichen Blickwinkel mag die Indignation des Voulgaris über den Marienkult der Katholiken und über andere Verfehlungen der Konfession der Habsburger verblüffen; handelt es sich doch um einen gegenüber dem aufklärerischen Gedankengut aufgeschlossenen Denker, der durch seine Übersetzungen von Schriften Christian Wolffs, John Lockes und Voltaires ins Griechische Vieles zur Vermittlung der Aufklärung in den griechischen Sprachraum beitrug und zudem als Schöpfer des neugriechischen Worts für Toleranz (anexithriskeia) gilt.68 Doch hat die genauere historische Kontextualisierung gezeigt, dass sich Voulgaris in den angeführten anti-katholischen Streitschriften gezielt an die Griechisch-Orthodoxen auf Habsburger Territorium richtete, die zu einem erheblichen Teil Migranten oder Nachkommen von Migranten waren, die aus dem Osmanischen Reich nach Ungarn, Siebenbürgen und auch in die österreichischen Erblande eingewandert waren. Es war ein Beitrag, durch den, mit Barbara Skinner gesprochen, die „Western Front of the Eastern Church“ vor der Ausbreitung der Unionsbewegung abgesichert werden sollte.69
67 Anton Ruschitzka: Predigt von der Einigkeit im Christenthume über Johann 17, 20, 21, gehalten in der kaiserl. königl. Hofkapelle, als der hochwürdigste Bischof von Fogarach, Gabriel Gregorius Major von Szarvad […] feyerlich eingeweihet worden ist […] am 4ten Maymonate 1773, an welchem die orientalische Kirche das Gedächtniss des heiligen Blutzeugen Georgius feyert. Wien: Kurzböck 1773; vgl. die Belege aus der Schrift von Theotokis/Voulgaris von 1775, die sich gegen diesen Druck richten, in Makridis (Anm. 59), S. 467 f. 68 Zu Voulgaris’ Abhandlung über die Toleranz (Σχέδιασμα περί της Ανεξιθρησκείας), in der dieser Neologismus eingeführt wird und die seiner Übersetzung von Voltaires Essai historique et critique sur les dissensions des églises de Pologne aus dem Jahre 1768 angehängt ist, und allgemein zum hohen Interesse des Voulgaris an, aber auch zu seinem gespaltenen Verhältnis zum Gedankengut der Aufklärung Martin Knapp: Evjenios Vulgaris im Einfluss der Aufklärung. Der Begriff der Toleranz bei Vulgaris und Voltaire. Amsterdam 1984; Paschalis M. Kitromelidis: Η πολιτική σκέψη του Ευγενίου Βούλγαρη. In: Ta Istorika 7 (1990), S. 167–178; Vassa S. Conticello: Eugénios Voulgaris Essai sur le tolérance (1768). In: Études balkaniques 5 (1998), S. 207–223; Iannis Carras: Topos and Utopia in Evgenios Voulgaris’ Life and Work (1716–1806). In: The Historical Revue/La Revue Historique 1 (2004), S. 127–156. 69 Siehe auch im Hinblick auf die Entwicklung der Union im achtzehnten Jahrhundert in Polen, der Ukraine und Weißrussland Barbara Skinner: The Western Front of the Eastern Church. Uniate and Orthodox Conflict in 18th Century Poland, Ukraine, Belarus, and Russia. DeKalb IL. 2009. Laut Makridis waren die Bemühungen des Voulgaris auch gezielt auf die griechischen Migranten in den österreichischen Erblanden und auf die Serben an der ungarischen Militärgrenze gerichtet, s. Makridis (Anm. 59), S. 467–471.
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4 Fazit Die hier vorgestellten Überlegungen dienten einer provisorischen Bestandsaufnahme von Beispielen, in denen bei personellen Interaktionen (mit griechischorthodoxen Migranten aus dem Osmanischen Reich) und in institutionalisierten Kontaktzonen (Kolloquien zwischen Almosenfahrern und Gelehrten, von Händlern dominierte griechisch-orthodoxe Konfessionsgemeinden) der griechischorthodoxe Marienkult verhandelt wurde. Mehrmals kamen dabei Begegnungen mit dem Marienkult der Athos-Klöster zum Vorschein, was nicht bloß deren allgemeinen Stellenwert innerhalb der orthodoxen Konfessionskultur während der ‚Turkokratie‘ widerspiegelt. Die geographische Lage und die Nähe der Athos-Klöster zu den von den Händlern genutzten kontinentalen Handels- und Transportrouten prädisponierten die Angehörigen der dortigen monastischen Institutionen dazu, Kontakte zu den Konfessionen des Alten Reichs zu knüpfen.70 Bei der hier vorgelegten Darstellung konnte keine systematische Analyse der mariologischen Theologumena, über die Vertreter der westlichen Konfessionen und der Ostorthodoxie in der Frühen Neuzeit debattierten, oder von deren zeitlicher Entwicklung geleistet werden. Die historische (und genauer wissens- und migrationshistorische) Kontextualisierung einiger ausgewählter Fallbeispiele diente vielmehr dazu, Verfahren und Praktiken der Wissensvermittlung, und hierbei vor allem die Eigenschaft der Wissensvermittler als Migranten, zu eruieren. Die vorliegenden Bemühungen lassen sich insofern als Plädoyer zusammenfassen, dafür dass eine konfessionsgeschichtliche Auseinandersetzung mit der mobilen Präsenz osmanischer Griechen, die als Almosenfahrer, als Studenten oder als Händler ins Alte Reich kamen, deren besondere Voraussetzungen als Migranten berücksichtigen muss. Auf den ersten Blick mag man einen bedeutenden Unterschied erkennen zwischen den Almosenfahrern, die auf ihren zeitlich und räumlich sehr ausgedehnten Wanderschaften durchs Alte Reich meist auf der Durchreise waren und vielleicht eher dem Typus des Reisenden zuzuordnen sind, und den Händlern als Migranten im engeren Sinne; also als Reisende, die kommen, um zu bleiben, und trotz ihrer konfessionellen-kulturellen Identität von den Einwanderungsgesellschaften als
70 Im achtzehnten Jahrhundert finden sich aber auch unter den von der Georgsbruderschaft in Wien angestellten Geistlichen zahlreiche Athos-Mönche, s. Sophronios Evstratiadis: Ο εν Βιέννη ναός του Αγίου Γεωργίου και η κοινότης των Οθωμανών υπηκόων. Alexandria 1912, S. 123–130. Die von Evstratiadis herausgegebene Quellensammlung zeigt auch, dass sich die laikalen Vorsteher der Georgsbruderschaft im Mai 1776 brieflich an die Leitung des Iviron-Klosters wandten, um sie um die Auswahl und Aussendung eines geeigneten Kandidaten für das Amt des Gemeindegeistlichen zu ersuchen (ebd., S. 126).
Der Marienkult griechisch-orthodoxer Migranten
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zugehörig angesehen werden können.71 In Zeiten des Konflikts mit den Obrigkeiten, etwa im nur angeschnittenen Streit der Wiener griechischen Händler mit der serbischen Metropolie von Karlowitz, konnten aber auch solche Migranten herausstreichen, bloß ‚Gäste dieser Reiche‘ zu sein, und ihren Lebensmittelpunkt und ihre Besitztümer eigentlich im Osmanischen Reich zu haben oder dorthin zurückverlagern zu wollen.72 Die hier schwerpunktmäßig behandelten Migrationstypen der Almosenfahrer und der Händler weisen insofern zahlreiche Gemeinsamkeiten auf, was ihre migrationsbedingten Voraussetzungen für die Entwicklung einer konfessionellen Identität im Alten Reich anbelangt. Ihre hochgradige Mobilität, ihre multiplen konfessionellen Grenzüberschreitungen und die dabei entwickelten Erfahrungshorizonte ermöglichten es ihnen, besondere Kompetenzen zur interkonfessionellen Kommunikation zu erlangen. Diese Kompetenz mündete nicht selten in einer interkonfessionellen Performanz, der daran gelegen war, sich mit allen Konfessionen des Alten Reichs gut zu stellen.
71 Die ‚griechischen Handelsmänner‘ gehörten im späten achtzehnten Jahrhundert in Wien zum Stadtbild, wie etwa das Kapitel zu den „Griechen“ in Johann Pezzls Skizze von Wien dokumentiert, s. Johann Pezzl: Skizze von Wien. Zweites Heft. Wien, Leipzig 1786, S. 395–398. Vgl. zur Definition von Migration in der Frühen Neuzeit Alexander Schunka: Konfession und Migrationsregime in der Frühen Neuzeit. In: Geschichte und Gesellschaft 35/1 (2009), S. 28–63; ders.: Normsetzung und Normverletzung in Einwanderungsgesellschaften der Frühen Neuzeit. In: Normsetzung und Normverletzung. Alltägliche Lebenswelten im Königreich Ungarn des 18. Jahrhunderts. Hg. von Karl Peter Krauss. Stuttgart 2014, S. 29–55. Zur Differenz zwischen Reisenden und Migranten Harald Kleinschmidt: Menschen in Bewegung. Inhalte und Ziele historischer Migrationsforschung. Göttingen 2002, S. 45. Ein Ansatz, der hingegen die Differenz von Reisenden und Migranten eher einebnet, in Leslie Page Moch: Moving Europeans: Migration in Western Europe since 1650. Bloomington, Indiana 2003. 72 Vgl. die in Anm. 46 zitierte Quelle, §1 und eine an Staatskanzler Kaunitz adressierte Denkschrift der Georgsbruderschaft von 1760, wo beteuert wird, dass die Konfraternitätsmitglieder „stanno qui per i loro negozj, e puono rendersi, quando le pare, alla loro patria, ove ritengono le loro sostanze; questi sono in possesso di avere qui una capella, che essi mantengano generosamente per tutti gli altri Greci per pura convenienza, e non per obligo (Pro Memoria de Sudditti della Porta, Graeci Ritus in Vienna, 21. November 1760, HHStA, StaAbt, Türkei I/228, fol. 128r–133r, fol. 130r).
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Ideale frühneuzeitlichen Gehorsams: Maria und die Heilige Familie In den Christentümern der Frühen Neuzeit spielte Maria in vielfältiger Weise eine zentrale Rolle.1 Unübersehbar war, dass ihr ein ganz singulärer, herausgehobener Platz in der Heilsgeschichte zukam. Mit ihrer bedeutenden Rolle als Mutter Christi verbanden sich einerseits mehrere dogmatische Probleme, deren bekanntestes die lang anhaltende Diskussion um die Unbefleckte Empfängnis war. Andererseits wurde Status, Leben und Verhalten Marias zu einem zunehmend prominenten Gegenstand geistlicher Betrachtung und religiöser, bisweilen sogar mystischer Versenkung. Die intensive meditierende Beschäftigung mit Maria wurde zu einem prägenden Bestandteil insbesondere der katholischen Frömmigkeit. Schließlich ist zu erkennen, dass Maria außerdem in einer eher moralisch zu nennenden Perspektive als nachahmungswürdiges Vorbild für individuelles Verhalten in Alltagssituationen vorgestellt wurde. Hier ging es weniger um eine meditierende Versenkung in Marias Leben als Zugang zu unbegreiflichen Glaubensmysterien, sondern eher um die Präsentation einer – oft auch recht handfest gezeichneten – Idealfigur, der man nacheifern und deren Leben man gewissermaßen befragen konnte, um in Zweifelssituationen des eigenen Lebens Anleitung zu erhalten.2 Weitergehende mögliche dogmatische Spezialprobleme wurden gerade in solchen Kontexten aber eher selten angeschnitten.3 Wurde Maria in einer solchen moralisierenden Perspektive in Szene gesetzt, dann konnte sie zur Exemplifizierung unterschiedlicher Werte, Tugenden und Lebenshaltungen herangezogen werden: Armut, Demut oder Keuschheit waren eng mit Maria verbunden. In diesem Beitrag soll indes eine andere typisch marianische Verhaltensweise im Zentrum stehen: der Gehorsam. Es wird sich zeigen, dass 1 Grundlegende Übersicht jetzt bei Emanuele Boaga, Luigi Gambero (Hg.): Storia della mariologia. Bd. 2. Rom 2012. 2 Klaus Schreiner: Maria. Jungfrau, Mutter, Herrscherin. Revidierte und ergänzte Neuausgabe. Köln 2006, S. 128. Eine solche vergleichsweise einfache Applikation nach dem Schema ‚Schau, was Maria getan hat, jetzt überlege, was Du in Deinem Leben in Analogie dazu tun solltest‘ prägt etwa, aus jesuitischer Feder, Nicolaus Avancini: Vita et doctrina Christi, ex quatuor evangelistis collecta et in Meditationum materiam ad singulos totius anni dies distributa. Köln 1674. 3 Pierre d’Ailly zum Beispiel fragte, welcher Teil des Gottmenschen habe sich denn nun genauer den menschlichen Oberhäuptern unterworfen? Zur Antwort betonte er, dass sich in Jesus dem Kind zwar sehr wohl der Herr dem Knecht gehorsam unterwerfe, freilich nicht „in forma Dei, sed in forma hominis“, Pierre d’Ailly: De duodecim honoribus sancti Iosephi. Ed. Roland Gauthier. In: Cahiers de Joséphologie 1 (1953), S. 145–162, 319–332, hier S. 328. https://doi.org/10.1515/9783110665109-008
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Maria in den Augen spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Autoren in einem Geflecht von Sozialbeziehungen lebte, das durch und durch von Gehorsamsforderungen geprägt war. Entsprechend wurde Gehorsam – sowohl dem Begriff wie der Sache nach – immer mehr zu einem Kardinalthema der Auseinandersetzung mit Maria. Dass die Mutter Gottes in Gehorsam lebte, zugleich aber in bestimmten Kontexten auch Gehorsam erwarten konnte, wurde zu einem breit ausgefalteten Motiv in unterschiedlichen Medien und Genres der Beschäftigung mit Maria. Dies dürfte eine Entwicklung speziell des Spätmittelalters und dann insbesondere der Frühen Neuzeit gewesen sein, selbst wenn die Kindheit Jesu oder das Bild der Gottesmutter schon seit dem frühen Christentum immer wieder auch mit diesem zentralen Verhaltensmodell in Verbindung gebracht worden war. Zwar gab es auch in der Frühen Neuzeit durchaus Autoren, die den Gehorsam gar nicht oder nur am Rande thematisierten.4 Doch das Gros der Theologen und Schriftsteller betrachteten das realistisch imaginierte Alltagsleben Marias und ihrer Familie gerne und prominent durch die Linse des Gehorsams. Auch wenn sich die Absicht moralisch anleitender Verhaltensmodellierung bisweilen stark in den Vordergrund der Texte und Bilder zu schieben drohte, so ist doch zu betonen, dass die Präsentation Marias als alltagsrelevantes Leitbild für menschliches Verhalten sich kaum einmal wirklich verselbständigte: genau wie Mystik und Askese im spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Christentum insgesamt viel stärker aufeinander bezogen blieben als bisweilen behauptet, blieben auch im Fall von Marias Gehorsam die geistlich-spirituelle und die ethisch-soziale Komponente verbunden. Gerade der Gehorsam, der in modernen Betrachtungen häufig in beschränkter Weise bloß noch als Technik oder Form sozialer Machtausübung begriffen wird, wurde zumal in religiösen Kontexten der Vormoderne sehr viel umfassender aufgefasst.5 Insofern ist die Nähe von spirituell-geistlicher und ethisch-gesellschaftlicher Aufladung des Bildes von Maria exemplarisch. Mit Blick auf die konfessionelle Spaltung ist festzuhalten, dass ‚Maria‘ einerseits ein Thema ist, das im Katholizismus zweifellos besonders vielfältige und reiche Ausgestaltung erfuhr, ohne dass diese unhintergehbare Feststellung andererseits dazu führen darf, die ihrerseits keineswegs nur marginale protestanti-
4 Keinerlei Rolle spielt der Begriff etwa in der Wiedergabe der Meditationes Vitae Christi bei Adam Wallasser: Vita Christi et Mariae. Das Leben unsers Erlösers und Seligmachers Jesu Christi. Auch seiner gebenedeyten Mutter Mariae / von beyder Kindheit an / biß zu ihren herrlichen Himmelfahrten [zuerst 1573]. o. O. 1716, S. 1–91. Auch dort ist allerdings klar, dass Christus und seine Eltern als Inbegriff von Ehrsamkeit und Züchtigkeit anzusehen seien. 5 Der vorliegende Beitrag entstand im Zuge erster, noch tastender Überlegungen zu einer breiter angelegten ‚Geschichte des Gehorsams‘ in der Vormoderne.
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sche Beschäftigung mit und Begeisterung für Maria zu übersehen.6 Man wird deshalb genauer zu differenzieren haben, in welchen Bereichen des theologischen Gesprächs Maria welche Bedeutung in den verschiedenen Konfessionen hatte: War die dogmatische Problematisierung Marias ein vorwiegend katholisches Phänomen und war die mystisch-meditative Betrachtung Marias im Katholizismus zumindest ausgeprägter und vielfältiger als auf den Gegenseiten, so dürfte die alltagsnah-moralische Instrumentalisierung Marias im Protestantismus kaum weniger prominent gewesen sein als bei den Katholiken. Entsprechend sind die vorliegenden Ausführungen konfessionsübergreifend angelegt.
1 Die spätmittelalterliche Betonung der Menschlichkeit Christi und die Hinwendung zur Heiligen Familie Um die Heilige Familie überhaupt plausibel für die Modellierung idealen menschlichen Verhaltens heranziehen zu können, mussten die drei zentralen Figuren – Maria, Joseph, Jesus als Kind oder Knabe – erst einmal deutlich als Akteure profiliert sein und das obendrein in einer Weise, in der sie als Referenzpunkte für den Alltag gewöhnlicher Menschen und Familien dienen konnten. Beides war über lange Phasen der Christentumsgeschichte jedoch nicht der Fall oder bestenfalls ein Randphänomen gewesen. Erst seit dem ausgehenden Mittelalter rückte – kurz zusammengefasst – die menschliche Dimension von Christus, seine Existenz als Mensch mitsamt seinen sozialen Bezügen, stärker ins Zentrum der christlichen Religionskultur.7 Das führte nicht zuletzt dazu, dass das Alltagsleben Christi mitsamt seinen – im Zweifelsfall auch ganz gewöhnlichen – humanen Umständen wachsende Bedeutung für Frömmigkeitspraxis und Theologie erhielt. Bekannt ist insbesondere die Hinwendung zum Leiden des Menschen Jesu am Kreuz. Doch nicht nur das Ende, sondern auch der Beginn von Jesu Leben wurde im Zuge dieser ‚Vermenschlichung‘ Christi immer konkreter und lebensnäher imaginiert. Im Gefolge dieses generellen Trends kam es dann auch zu einer verstärkten Ausgestal-
6 Für Letzteres siehe insbesondere Bridget Heal: The Cult of the Virgin Mary in Early Modern Germany. Protestant and Catholic Piety, 1500–1648. Cambridge 2007. 7 Vgl. z. B. Pamela Sheingorn: Appropriating the Holy Kinship. Gender and Family History. In: Medieval Families. Perspectives on Marriage, Household, and Children. Hg. von Carol Neel. Toronto 2004, S. 270–301. Vgl. jetzt auch Stephen Kelly, Ryan Perry (Hg.): Devotional Culture in Late Medieval England and Europe. Diverse Imaginations of Christ’s Life. Turnhout 2015.
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tung des Familienlebens Christi während seiner Kindheit und Jugend. Die textuelle Basis dafür waren – neben den wenigen Stellen in den kanonischen Evangelien (insbesondere Lk 2,21–51) – vor allem die Apokryphen und eine sich im Lauf des Mittelalters verdichtende, aber auch verästelnde Tradition von Interpretationen und Ausschmückungen dieser Texte, die ihren wichtigsten Höhepunkt in den franziskanischen Meditationes Vitae Christi aus der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts erlangte.8 Durch die Meditationes, die ihrerseits nicht zuletzt Ludolfs von Sachsen Vita Christi und über diesen Zwischenschritt dann Ignatius von Loyola und den Jesuitenorden tief prägten, wurde die affekthafte Versenkung in das Alltagsleben Christi und Marias auch in die Frühe Neuzeit tradiert. Wenigstens vier miteinander verwobene, jedoch zugleich unterschiedlich akzentuierte frömmigkeitsgeschichtliche Entwicklungsstränge trugen dazu bei, dass die irdischen Lebensumstände Christi und seiner Bezugspersonen stärker ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückten und dabei zugleich spirituelle Aufladung erfuhren. 1. Der prominente Aufstieg des Kults des heiligen Joseph seit dem ausgehenden Mittelalter.9 Der lange Zeit zunächst eher stiefmütterlich behandelte irdische Vater Jesu trat spätestens mit Jean Gerson und dann besonders in der Frühen Neuzeit im Gefolge Teresas von Ávila sowie der Jesuiten und Kapuziner aus dem Schatten der anderen Protagonisten hervor.10 In der Josephsverehrung lag eine bald spezifisch katholisch konnotierte Frömmigkeit vor, die dem irdischen Nährvater Jesu eine zusehends herausgehobene Stellung zubilligte. Joseph, so hieß es etwa an der katholischen Peripherie Europas im irischen Galway 1768, habe eine „more than
8 Für eine frühneuzeitliche Version vgl. etwa Wallasser (Anm. 4), v. a. S. 91–96 zum Familienleben Christi. Zur außerordentlich komplexen Überlieferung der Meditationes und ihrer heftig umstrittenen Bewertung vgl. exemplarisch die beiden jüngsten, diametral einander gegenüberstehenden, jeweils reich dokumentierten Vorschläge von Sarah McNamer: The Origins of the Meditationes vitae Christi. In: Speculum 84 (2009), S. 905–955 und Peter Tóth, Dávid Falvay: New Light on the Date and Authorship of the Meditationes Vitae Christi. In: Devotional Culture (Anm. 7), S. 17–105. 9 Hierzu insgesamt Barbara Mikuda-Hüttel: Vom „Haumann“ zum Hausheiligen des Wiener Hofes. Zur Ikonographie des hl. Joseph im 17. und 18. Jahrhundert. Marburg 1997; Paul Payan: Joseph. Une image de la paternité dans l’Occident médiéval. Paris 2006. Klare, kurze Übersicht auch bei Cynthia Hahn: „Joseph Will Perfect, Mary Enlighten and Jesus Save Thee“: The Holy Family as Marriage Model in the Mérode Triptych. In: The Art Bulletin 68 (1986), S. 54–66. Die Theologen der Frühen Neuzeit diagnostizierten genau, dass der Josephs-Kult eine vergleichsweise rezente Entwicklung war, vgl. Paul de Barry: Speißkammer der Andacht gegen dem H. Joseph, Jesu Christi Zucht-Vattern. München 1650, Dedicatio, S. 44–61. 10 Christopher C. Wilson: „Living among Jesus, Mary, and Joseph“. Images of St. Teresa of Ávila with the Holy Family in Spanish Colonial Art. In: The Holy Family in Art and Devotion. Hg. von Joseph F. Chorpenning. Philadelphia 1998, S. 24–36.
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human dignity“.11 Nicht unähnlich zum Aufschwung des Josephskults ist auch eine wachsende und immer detailliertere Ausgestaltung des verehrungswürdigen Lebens der hl. Anna, Mutter Marias und Großmutters Jesu, ab dem fünfzehnten Jahrhundert zu beobachten.12 2. Der Aufschwung der Verehrung des Christuskindes.13 Noch in den 1630er Jahren meinte der Jesuit Louis Lallement zwar beobachten zu können, dass nur wenige Menschen eine eigene Devotion der Kindheit Jesu üben würden.14 Doch das ging an der Realität weit vorbei, denn schon seit dem Spätmittelalter hatte die Kindheit Christi enorm an Bedeutung gewonnen. Neue Perspektiven auf Kinder und Kindheit, die von wachsender Einsicht in die spezifischen Bedürfnisse und emotionalen Anlagen der Kinder geprägt waren, führten nach der Jahrtausendwende zusehends auch zu neuen Frömmigkeitsformen, in denen (biblische) Kinder und ihre Erfahrungen eine wichtige Rolle spielten – neben der hier vor allem interessierenden zunehmenden Beschäftigung mit der Kindheit Jesu wäre auch an eine wachsende Bedeutung des Bethlehemitischen Kindermords als Gegenstand der Frömmigkeit zu denken.15 Im devoten katholischen Milieu Frankreichs hieß es um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts dann: „Die Kindheit Jesu muss unser Leben und unsere Kraft sein“.16 Und die Jesuiten in Wien hielten 1723 fest, dass die Kindheit Jesu für die Frömmigkeit gleichwertig neben der Passion stehe.17 Interesse an Jesus als Kind bestand auch in den reformatorischen Kirchen, wenngleich sich bei weitem nicht jede fromme Betrachtung der Menschwerdung Christi speziell
11 Galway Diocesan Archives, Box 9, S. 181 unpaginiert. Die außerordentliche Würde des heiligen Joseph wird hier zunächst vor allem aus seiner außerordentlichen Aufgabe – die Erziehung und Aufzucht des Gottessohnes – begründet, vgl. z. B.: „In a word the lustre reflected on him by these two great Personages Jesus and Mary, must have made him a person of the most distinguished and exalted sanctity.“ Tom Kilgarriff vom Diözesanarchiv Galway schickte mir am 17.5.2016 freundlicherweise eine elektronische Kopie dieser Predigt. Der Text ist erwähnt bei Mary O’Dowd: A History of Women in Ireland, 1500–1800. Harlow 2005, S. 255 (Hinweis Dr. Martin Foerster). 12 Vgl. etwa Angelika Dörfler-Dierken: Die Verehrung der heiligen Anna in Spätmittelalter und früher Neuzeit. Göttingen 1992. 13 Hierzu insgesamt Mary Dzon: The Quest for the Christ Child in the Later Middle Ages. Philadelphia 2017; Mary Dzon, Theresa M. Kenney (Hg.): The Christ child in medieval culture. Alpha es et O! Toronto 2015. 14 Pierre Champion: La vie et la doctrine spirituelle du Père Louis Lallemant de la Compagnie de Jésus. Lyon 1735, S. 367. 15 Mary Martin McLaughlin: Survivors and Surrogates. Children and Parents from the Ninth to the Thirteenth Centuries. In: Medieval Families (Anm. 7), S. 20–123, hier S. 56. 16 Zit. bei Julie Tracz: „O Jesu vivens in Maria“. Devotion to the Infant Jesus and Imitation of the Holy Family Among the Discalced Carmelites of Beaune 1619–1700. M. A. Thesis Carleton University 2009, S. 1. 17 Die Hauß-Genossenschafft deß Heiligen Kind Jesu. Wien 1723, S. 1–5.
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dem Kindsein des Gottessohnes ausführlicher widmete.18 Doch der Reformierte Rudolf Gwalther in Zürich etwa hielt es 1553 für „billich / daß wir ouch sin kindtheit mit fleyß bedenckind“.19 Und die lutherische Dichterin Catharina Regina von Greiffenberg, die einen über 4000 Seiten umfassenden Zyklus an erbaulichen Betrachtungen zu allen Abschnitten von Christi Leben verfasste, widmete sich darin 1678 auf über tausend Seiten auch Der Allerheiligsten Menschwerdung, Geburt und Jugend Jesu Christi.20 Generell wurde konfessionsübergreifend mit besonderem Blick auf die KindWerdung Christi betont, dass hierin eine maximale Demütigung und Erniedrigung Gottes vorliege. Das sah etwa von Greiffenberg so, die gerade betonte, die KindWerdung Gottes zeige dessen „Demut“ nicht nur wegen der „armen“ Lebensumstände, in die Christus geboren wurde, sondern insbesondere auch wegen der für Kinder unverzichtbaren „Unterthänigkeit“.21 Auf katholischer Seite sah Teresa von Ávila im Christus-Kind besonders deutlich den Verzicht auf Selbst-Verfügung.22 Beim mystischen Jesuiten Louis Lallemant, der deutlich in der teresianischen Tradition stand, führte das zu einer Vertiefung in die Mysterien der göttlichen Selbst-Verbergung, ausgehend von einer spirituellen Verehrung des „verborgenen“ Lebens Jesu zwischen seinem zwölften und dreißigsten Lebensjahr.23 Kardinal Bérulle in Frankreich sprach sogar mehrfach von der Kind-Werdung als exempla18 Ohne spezielle Hinwendung zur Kindlichkeit Christi kommt aus Johann Förster: Hohe Festtagsschreinlein/ In welchem auff ein jedes Hohes Fest fünfferley zu finden, Als: 1. Vier Predigten/ 2. Außerlesene FesttagsSprüch der heiligen Schrifft/ 3. Geistliche Andachten/ 4. Lob/ Danck und BethPsälmlein/ 5. Sprüch aus den alten Kirchvätern/ und des Herrn Lutheri Schrifften […]. Wittenberg 1611, S. 1–167, obwohl er sich ausführlich mit der Christologie, v. a. der Menschwerdung sowie der natürlichen Geburt, befasst und die Menschlichkeit Christi also durchaus prominent als Betrachtungsgegenstände der Weihnachtszeit pointiert. Noch am ehesten in Richtung Selbstdemütigung Gottes in der Geburt geht die Bemerkung ebd., S. 103–105, der Geburtsort Bethlehem sei „arm“ und gering gewesen. Ebd., S. 144–146 auch der Hinweis auf die Ärmlichkeit der sozialen Umstände von Christi Geburt. 19 Rudolf Gwalther: Die Kindheit und Uferziehung unsers Herren Jesu Christi. Von rechter Christlicher Kinderzucht / zwo Predigten. Zürich 1553, fol. Dv v. 20 Catharina Regina von Greiffenberg: Der Allerheiligsten Menschwerdung, Geburt und Jugend Jesu Christi: zwölf andächtige Betrachtungen. Nürnberg 1678. Hierzu vgl. u. a. Cristina M. Pumplun: „Begriff des Unbegreiflichen“. Funktion und Bedeutung der Metaphorik in den Geburtsbetrachtungen der Catharina Regina von Greiffenberg (1633–1694). Amsterdam 1995. Kurze Zusammenfassung bei Cristina M. Pumplun: Andachtsbuch und Roman. Zur Struktur der „Geburtsbetrachtungen“ Catharina Regina von Greiffenbergs (1633–1694). In: Fördern und Bewahren. Studien zur europäischen Kulturgeschichte der frühen Neuzeit. Hg. von Helwig Schmidt-Glintzer. Wiesbaden 1996, S. 215–229. 21 Greiffenberg (Anm. 20), S. 833–835. 22 Giovanna Della Croce: L’Enfant Jésus au Carmel. Histoire & spiritualité. Toulouse 2005, S. 29. 23 Champion (Anm. 14), S. 369, 418 f.
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rischem „annéantissement“ Gottes.24 Maria Anna Lindmayr, eine Münchner Karmelitin und Mystikerin der Jahrzehnte um 1700, sprach ebenfalls davon, sie habe gesehen, wie „Christus in seiner Menschheit seinen Himmlischen Vater anbetete, wie er sich vor ihm erniedrigt“.25 Auch Autoren, die im Gegensatz zu den bisher genannten Autoren explizit für ein breiteres Publikum schrieben, betonten vielfach das Paradox, dass sich im Christuskind der höchste Herr zum Knecht gemacht und jahrelang völlig verborgen habe – eine Tatsache, die in geistlicher Betrachtung zur Nachahmung anregen sollte.26 Man müsse spirituell wie Jesus zum Kind werden, um dessen kindlich-göttliche Eigenschaften von Demut, Unschuld, Milde und Gehorsam in uns zum Ausdruck zu bringen.27 Lindmayr brachte diese Verschmelzung von Verehrung und Imitation des Christus-Kindes klar zum Ausdruck, als sie Jesus in einer Vision vom 23. Oktober 1714 sagen hörte, er könne sich noch nicht mit ihrer Seele vereinen, weil sie selbst noch nicht klein genug geworden sei und ihm noch nicht genug nachfolge. Sie sei noch nicht genug zum Kind geworden.28 3. Es verband sich mit der Hinwendung zu Christus als Kind eine zunehmende Verehrung von Maria als Mutter, was im Spätmittelalter und dann vor allem im Katholizismus zu einer eigenen „Muttermystik (mother mysticism)“ führte.29 Prominent war dabei die meditative Versenkung in die Schwangerschaft und Stillzeit Marias – eine Ausdehnung des Advents auf neun Wochen in Entsprechung zu den neun Monaten Schwangerschaft ist beispielsweise für karmelitische Milieus in Frankreich bezeugt.30 Über derartige spirituelle Nachahmung der Schwanger- oder Mutterschaft Marias sollte eine unio mystica erreicht werden. Eine interessante Weiterführung dieses Gedankens ist aus dem Wiener Kontext im frühen achtzehnten Jahrhundert belegt: hier schlugen Jesuitenpatres vor, eigene Meditationen über
24 Zu Bérulle vgl. Tracz (Anm. 16). Jacques Marx: Marguerite du Saint-Sacrement, le roi et le petit Jésus. In: Revue belge de philologie et d’histoire 83 (2005), S. 1133–1154, hier S. 1143 f. Ähnlich Louis Lallemant SJ, vgl. Champion (Anm. 14), S. 439 f., wo dies als Vorbild für menschliche Selbstpositionierung gesehen wird. Ein ‚Verbergen‘ überragender religiöser Qualitäten bei Joseph diagnostizierte ebenfalls Franz von Sales, vgl. Joseph F. Chorpenning: „The guidance and education of his divine infancy“. The Holy Family’s Mission in St. Francis de Sales. In: The Holy Family in Art and Devotion (Anm. 10), S. 39–52, hier S. 42. 25 Zit. nach Della Croce (Anm. 22), S. 181. 26 Z. B. Benignus Kybler: Palma Iosephina Das ist: Leben vnd Lob Deß hochheyligen Patriarchen Iosephs. Augsburg 1661, S. 144–147 (in Form einer Zitatmontage). 27 So Lallemant, vgl. Champion (Anm. 14), S. 368. 28 Della Croce (Anm. 22), S. 183. 29 Hierzu insgesamt Rosemary Hale: Imitatio Mariae: Motherhood Motifs in Devotional Memoirs. In: Mystics Quarterly 16 (1990), S. 193–203. 30 Beispiel bei Magdaleine de Saint Joseph: La vie de sœur Cathérine de Jésus. 4. Aufl. Paris 1656. S. 306. Vgl. a. Tracz (Anm. 16), S. 76–84. Hierzu auch Schreiner (Anm. 2), S. 47–59.
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den neunmonatigen Aufenthalt Christi im Mutterleib anzustellen.31 Protestantische Pendants wie Catharina Regina von Greiffenbergs umfangreiche Meditation der Schwangerschaft Marias sind im Vergleich zu dieser prominenten Rolle im Katholizismus insgesamt wohl eher selten.32 4. Die Aufwertungen des Josephs-, Marien- und Kind-Jesu-Kultes wurden seit dem Spätmittelalter ergänzt durch den Aufschwung der Heiligen Familie als eigenständigem Thema der christlichen Frömmigkeits- und Theologiegeschichte.33 Für katholische Barocktheologen bildeten Jesus, Maria und Joseph als „erschaffene Dreyfaltigkeit“ eine Art irdisches Abbild der göttlichen „unerschaffenen Dreyfaltigkeit“ der Trinität, der alle andere irdische „hierarchi“ untergeordnet sei.34 Anders als bei den bereits genannten Frömmigkeitsformen für einzelne Familienmitglieder war der Kult der Heiligen Familie als ganzer vergleichsweise wenig eigenständig spirituell aufgeladen. Hier dominierte weitgehend eine eher praktisch-moralisierende Perspektive. Grundsätzlich ist deshalb festzuhalten, dass es trotz aller Idealisierungen auch in dieser Familie im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit enorm menschelte. Die heilige Familie hatte einen hohen Wiedererkennungswert für die Menschen. Manche Theologen malten etwa im Detail aus, dass Maria und Joseph einen ganz direkten, alltagsbezogenen Ton im Umgang mit ihrem ungewöhnlichen Sohn pflegten. Sie scheuten dabei mindestens seit Bernhard von Clairvaux35 nicht davor zurück, die Körperlichkeit von Eltern-Kind-Verhältnissen abzubilden. In Pierre d’Aillys Joseph-Traktat ist etwa die Rede davon, dass der
31 Hauß-Genossenschafft (Anm. 17), S. 128–135: Dies wird zugleich als erster Akt des „Gehorsams“ Christi gedeutet. Zudem wird festgehalten, dass Christus gewissermaßen seine Zeit im Mutterleib besonders lange ausgedehnt habe (und dadurch ganz besonderen Gehorsam gezeigt habe), da er nicht erst am vierzigsten Tag nach der Entstehung des Embryos beseelt worden sei, sondern gleich bei seiner Erzeugung. 32 Greiffenberg (Anm. 20). Speziell hierzu z. B. Lynne Tatlock, Mary Lindemann, Robert W. Scribner: Sinnliche Erfahrung und spirituelle Autorität. Aspekte von Geschlecht in Catharina Regina von Greiffenbergs Meditationen über die Empfängnis Christi und Marias Schwangerschaft. In: Geschlechterperspektiven. Forschungen zur Frühen Neuzeit. Hg. von Heide Wunder. Königstein/ Taunus 1998, S. 177–190. Lynne Tatlock: Scientia divinorum. Anatomy, Transmutation, and Incorporation in Catharina Regina von Greiffenberg’s Meditations on Incarnation and the Gestation of Christ. In: German History 17 (1999), S. 9–24. Förster (Anm. 18), S. 19–21 benutzt immerhin die Tatsache der natürlichen Geburt Christi aus Maria, um werdenden Eltern unter seinen Lesern Hoffnung auf eine erfolgreiche Geburt ihrer eigenen Kinder zu machen. Schwangere und Gebärende sollen sich mit ihrer Angst vor dem Moment der Geburt an Maria halten. 33 Dazu insgesamt Hildegard Erlemann: Die Heilige Familie. Ein Tugendvorbild der Gegenreformation im Wandel der Zeit. Kult und Ideologie. Münster 1993. 34 Barry (Anm. 9), S. 39–41: Maria würde Gott Vater repräsentieren, Jesus den Sohn, Joseph den Heiligen Geist. 35 Diesen zitiert Dzon: The Quest (Anm. 13), S. 142 f. als Belegstelle.
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Nährvater Christi diesen „mit den Händen berührte, in die Arme schloss und dass er, gleich einer Amme, ihm immer wieder süße Küsse auf die Wange drückte“.36 Die Vermenschlichung der Heiligen Familie gab ihr stellenweise höchst realistische Züge, zu denken wäre etwa an die Tradition des Brei kochenden Josephs. Mit der menschlichen Nahbarkeit der Heiligen Familie wurden bald auch die Emotionen zum Thema, die – wie in jeder Familie – auch die Beziehung zwischen Jesus und seinen Eltern begleiteten. Das betraf positive Emotionen wie Liebe oder Zuneigung, aber sehr wohl auch negative Gefühle wie Sorge oder Zorn. Der reformierte Prediger Gwalther in Zürich notierte entsprechend 1553: „diewyl er [sc. der Sohn] ein warer mensch worden / so muß sin muter Maria mit jm nit nun [sc. nur] arbeit unn muy [sc. mühe] beston / sonder ouch so vil kumbers unn hertzleids ynnemmen.“37 Lutherische Exegeten des Zusammenlebens von Jesus und seinen Eltern betonten mehrfach im Anschluss an Martin Luther die bisweilen schwierigen Erfahrungen des Mutter- bzw. Elterndaseins, von denen auch Maria und Joseph nicht verschont geblieben seien, und zwar bereits lange vor dem Kreuzestod. Die Bitternis, die das Muttersein Maria einbrachte, war längst nicht nur auf die Mater dolorosa unterm Kreuz beschränkt. Auch und gerade der Familienalltag Marias, Josephs und Jesu zeige also, „das man musse durch viel trubsal jnns Reich der himel gehen.“38 Auch wenn viele Entwicklungsstränge des spätmittelalterlichen Christentums nach 1517 bald zu Markern einer erkennbar ‚katholischen‘ religiösen Haltung wurden (wobei das Fortbestehen solcher Traditionen bei den Protestanten nicht aus den Augen verloren werden darf), so ist doch zugleich unübersehbar, dass auch die protestantische Faszination für den Alltag Marias, Josephs und Jesu auf diesen breiten, seit dem Spätmittelalter beobachtbaren frömmigkeitsgeschichtlichen Entwicklungen basierte.
36 d’Ailly (Anm. 3), S. 156. 37 Gwalther (Anm. 19), fol. Cij r. 38 Antonius Corvinus: Kurtze und einfeltige auslegung der Episteln und Evangelien. Wittenberg 1541, fol. 97v–98r. Vgl. Beth Kreitzer: Reforming Mary. Changing Images of the Virgin Mary in Lutheran Sermons of the Sixteenth Century. New York, Oxford 2004, S. 81 (Luther), 83–85; Sabrina Heintzsch: O Mutter/ wie war Dir zumuht? Maria in der geistlichen Dichtung der Barockzeit am Beispiel von Johann Rist und Friedrich Spee. In: Daphnis 45 (2017), S. 58–82, hier S. 82 diagnostiziert ebenfalls eine betonte Fokussierung lutherischer Autoren gerade auf die Rolle Marias in den Kindheitserzählungen.
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2 Der Gehorsam von Maria und Joseph gegenüber Gott Zunächst konfessionsübergreifend unproblematisch war die Vorbildlichkeit von Maria und Joseph im Bereich tätigen und alltäglichen Gottesgehorsams. Die diesbezügliche Vorbildlichkeit Marias, die sich selbst als „Magd des Herren“ bezeichnet hatte, war biblisch wie außerbiblisch fest verankert.39 Immerhin, so hielten zahlreiche Exegeten beider Konfessionen fest, hatte Marias perfekter Gehorsam gegen Gott den dramatischen Ungehorsam Evas ausgeglichen.40 In der katholischen Welt wurde diese Sicht besonders weit ausgestaltet. Eine „Kette von Unterwürfigkeit“ (catena Mancipatus), in der sich Maria an Gott band, habe „die Unermesslichkeit und Unendlichkeit Gottes eng gebunden und vom Himmel auf die Erde herabgezogen“, so heißt es einmal aus jesuitischer Feder.41 Es war der vollständige, sofortige Gehorsam Marias, der sie zugleich über alle anderen Menschen, inklusive der Heiligen, hinaushob und sie zur Herrschaft über die Welt befähigte.42 Aus dieser Konstellation konnte katholischerseits die Forderung, ja geradezu eine Pflicht der Gläubigen abgeleitet werden, sich in vollständigem Gehorsam Maria zu unterwerfen. Noch in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts betonte der Würzburger Franziskanerkonventuale Modest Hahn in einer ausführlichen Passage, die gehorsame Gottesmutter würde nur solche „Diener“ dulden, die ihr auch im Gehorsam kompromisslos nachfolgten: […] sehet die erste Eigenschaft der Diener Mariä. Engel-Engel müssen sie seyn, damit sie sich durch ihren Gehorsam von aller Sündenmakel rein und unbefleckt erhalten […]. Ein einziger Ungehorsam in einer wichtigen Sache würde euch nicht weniger als Lucifer, den erhabensten Engel, und glänzendsten Himmelsfürsten, in Teufel verwandeln.43
39 Alphonso Salmeron: Commentarii In Evangelicam Historiam, et in Acta Apostolorum: in duodecim tomos distributi. Tomus 3: De Infantia Christi. Madrid 1599, S. 92 f. betonte, mit ihrem Gehorsam in „humilitas“ imitiere sie die maximale „humilitas“ Gottes in der Menschwerdung. Das Thema ‚Gehorsam‘ dort zwar erwähnt, aber nicht besonders stark herausgestellt. 40 Christopher Marianus: Puerperium Marianum: vnser lieben Braven Kindelbeth, das ist ein Vorrat erleßener Betrachtungen und Gebett / derer man sich nit allein in den frölichen Weyhenacht Predigen / sonder auch zu Entzündung eigener Andacht gebrauchen möge. Konstanz 1601, S. 17. Für protestantische Ansichten vgl. Kreitzer (Anm. 38), S. 88. 41 Franciscus Stanislaus Phoenicius: Mariae Mancipium sive modus tradendi se in mancipium Deiparae Virgini. Lublin 1632, S. 12, 13. 42 Bartolomé de los Rios: De Hierarchia Mariana libri sex. Antwerpen 1641. 43 Modest Hahn: Predigten auf die Festtäge der seligsten Jungfrau Maria. 2 Bände. Konstanz 1784–1786, S. 16 f. Zitat S. 17. Vgl. a. ebd., S. 117.
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Die Dienerschaft der Frommen gegenüber Maria konnte in der Frühen Neuzeit dabei im Katholizismus maximalisiert werden; es entwickelte sich die Praxis, dass Gläubige sich zu „Sklaven“ oder „Leibeigenen“ Marias (mancipium Mariae) erklärten.44 Eigene Bruderschaften von „Sklaven Marias“ wurden in ganz Europa eingerichtet.45 Kaiser Ferdinand II. hatte sich in seiner Jugend wenigstens als „Untergebener (cliens)“ der Himmelskönigin bezeichnet.46 Sein Glaubens- und Gesinnungsgenosse und Studienkollege in Ingolstadt, der bayerische Herzog Maximilian I., ging 1645 mit einer im eigenen Blut geschriebenen Selbst-Weihe als „Höriger“ Marias noch weiter.47 Einen analogen Gehorsam gegenüber Gott diagnostizierten die Kommentatoren für Joseph. Schon Johannes Chrysostomus betonte, vor und während der Flucht nach Ägypten habe sich Joseph als gottgehorsam erwiesen, eine Position, die beispielsweise im wichtigen Joseph-Traktat von Pierre d’Ailly (um 1400) pointiert fortgeführt wurde, wo insbesondere die humilis obedientia des Vaters Christi betont wurde.48 Besonders herausgestellt wurde der vielfache Gehorsam Josephs gegenüber Gott, den Engeln und dem Kaiser vom Jesuiten Alphonso Salmeron.49 „Joseph liesse sehen einen blinden Gehorsamb / in deme er nichts geantwortet / noch eintzige entschuldigung fürgewendet“, so eine zeitgenössische deutsche Version des Gedankens.50 Gerade Jesuiten konnten hieran dann eine regelrechte Gehorsams-Lehre anschließen. Benignus Kybler beispielsweise betonte mit Gregor dem Großen (Moralia XXXV, 10), dass Gehorsam die Voraussetzung für alle anderen Tugenden sei – entsprechend müsse der maximal gehorsame Joseph auch in allen anderen Tugenden ein vollkommenes Exempel sein.51 Das hatte durchaus Parallelen im Luthertum. Catharina Regina von Greiffenberg zum Beispiel betonte anhand der Flucht nach Ägypten nicht nur generell Josephs „genauesten Gehorsam“52 gegenüber dem göttlichen Befehl, sondern
44 Phoenitius (Anm. 41), S. 140–143 mit besonderem Bezug auf den Gehorsam. 45 Emanuele Boaga: Amplificazione della devozione verso la Vergine Maria. In: Storia della mariologia (Anm. 1), S. 452–477, hier S. 481–489. 46 Franz Matsche: Gegenreformatorische Architekturpolitik. Casa-Santa-Kopien und Habsburger Loreto-Kult nach 1620. In: Jahrbuch für Volkskunde NF 1 (1978), S. 81–118, hier S. 97. 47 Schreiner (Anm. 2), S. 403 f. Zusammenfassend Damien Tricoire: „Sklave sein heißt herrschen“. Die Münchner und Prager Mariensäule in ihrem religiösen und politischen Kontext. In: Transregionalität in Kult und Kultur. Bayern, Böhmen und Schlesien zur Zeit der Gegenreformation. Hg. von Marco Bogade. Köln 2016, S. 59–70. 48 Ad Mt 2,2, https://www.unifr.ch/bkv/kapitel417–2.htm. d’Ailly (Anm. 3), S. 161 f. 49 Salmeron (Anm. 39), S. 298. 50 Als Zitat aus Salmeron (oboedientia coeca), vgl. Kybler (Anm. 26), S. 204 f. 51 Kybler (Anm. 26), S. 205. 52 Greiffenberg (Anm. 20), S. 740. „Gesagt gethan“, „Sagen und Thun war eins bei ihm“.
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stellte die Unverzüglichkeit seines Handelns besonders heraus. Der „Gehorsam ist die höchste Gebühr der Diener Christi“ – und „Joseph / der sagte nichts / stunde aber gleich auf / antwortete mit dem Werk […] nicht inner 2. oder 3. Tagen / Wochen / oder Monaten / sondern noch dieselbe Nacht“.53 Zugleich betonte von Greiffenberg an dieser Stelle, dass der Befehl Gottes und damit die Gehorsamserwartung gegenüber Joseph präzise an dessen menschliche Kräfte angepasst waren. Gott befahl eben keine „Herculische Stärke“, sondern „fliehenden Gehorsam“, das heißt den Gehorsam der Flucht.54 Diese auf Demut, menschliche Schwäche und gerade nicht auf Heldentum hinauslaufende Anordnung Gottes passte zudem in ihrem Charakter zur göttlichen Selbsterniedrigung in der Inkarnation.
3 Der Gehorsam Marias und Josephs gegenüber den irdischen Obrigkeiten Der Gehorsam von Christi Eltern ihren legitimen Obrigkeiten gegenüber spielte eine sehr prominente Rolle. Zwar nicht so sehr bei Joseph, wohl aber bei Maria konnte ihre gehorsame Einordnung in die weltlichen Sozialhierarchien mitunter in breiter Ausführung als lebenslang beobachtbares Phänomen beschrieben werden. Schon in ihrer eigenen Kindheit, so wurde ohne jedwede biblische Textbasis bald berichtet, habe Maria dem Idealbild eines gehorsamen Kindes geglichen. Maria, die häufig als gebildet dargestellt wurde, bekam eine ideal unterwürfige und fromme Jugend angedichtet.55 Die alte Legende von der Jugend Marias im Tempel oder Kloster, die mindestens auf Elisabeth von Thüringen zurückgeht, wurde vielfach dahingehend ausgestaltet, dass Maria zum Inbegriff eines frommen und eben auch gehorsamen Kindes wurde.56 Natürlich, so wurde spätestens seit dem fünfzehnten Jahrhundert betont, habe Maria das Vierte Gebot gegenüber ihrer Mutter streng befolgt.57 Bei Modest Hahn liest sich dies Ende des achtzehnten Jahrhunderts in übersteigerter Verklärung wie folgt: 53 Greiffenberg (Anm. 20), S. 744 f. Es sei angefügt, dass dies zwar ungemein deutlich, aber nicht direkt das Zentrum der weiteren Entfaltung ist. 54 Greiffenberg (Anm. 20), S. 739. 55 Zum wichtigen Motiv des Unterrichts Marias vgl. Pamela Sheingorn: „The Wise Mother“. The Image of St. Anne Teaching the Virgin Mary. In: Gesta 32 (1993), S. 69–80. Allgemein zur Mutter Marias, der heiligen Anna, vgl. auch Kathleen M. Ashley, Pamela Sheingorn (Hg.): Interpreting Cultural Symbols. Saint Anne in late Medieval Society. Athens/GA 1990. 56 Leicht zugänglich in der Frühen Neuzeit war z. B. Wallasser (Anm. 4), S. 15–17 (dort keine explizite Erwähnung des ‚Gehorsams‘). Vgl. a. Hahn (Anm. 43), S. 314 f. 57 Dörfler-Dierken (Anm. 12), S. 197–199.
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Daß ihr doch, ihr Kinder! jenes Kind [sc. Maria] hättet sehen sollen! daß ihr doch selbst so tugendhafte Kinder wäret, Kinder, welche den Unterricht, und die Lehre des Heils allen Freuden ihres Alters vorziehen; die ihren Aeltern den willigsten Gehorsam leisten; die einen Fingerzeig, einen Wink, einen Blick des Augs für einen Befehl ansehen; die dem Vater nicht anders als mit Ehrfurcht, der Mutter nicht anders als mit Zärtlichkeit begegnen; die sich freuen, wenn sie Vater oder Mutter zur Beywohnung des Gottesdienstes ankleiden, die an der Hand der Aeltern in die Kirch eilen, den Herren anzubeten, der ihr Stammeln so gern, als den Gesang der Engeln hört. Kinder! wenn ihr solche Kinder wäret! – ihr würdet solche seyn, wenn ihr nur Maria nachamet, die euch mit ihrem Beyspiel vorgegangen.58
Prominenter – und besser biblisch verankert – war der Gehorsam Marias und Josephs gegenüber den politischen Obrigkeiten, insbesondere gegenüber dem Kaiser. Lutherische Predigten betonten zum Beispiel, Maria habe die Reise nach Bethlehem ungeachtet ihrer weit fortgeschrittenen Schwangerschaft angetreten, obwohl sie eigentlich nicht zwingend nötig gewesen sei, da sie auch in diesen schwierigen Umständen ihren Gehorsam gegenüber dem Kaiser und seinen Gesetzen ausdrücken wollte.59 Ähnliches galt auch für die jährlichen Reisen nach Jerusalem, von denen in Lk 2,41 die Rede ist. Auch durch diese jährliche Reise wollten Jesus und Maria das Gesetz erfüllen, obwohl sie nicht mussten, da dieses Gebot nur die Männer betroffen habe.60 Es mag scheinen, als wäre dieser Gesetzesgehorsam eine spezifisch lutherische Akzentuierung, um nicht zuletzt anhand der Heiligen Familie den tertius usus legum zu demonstrieren. Doch so theologisch präzise äußerten sich die hier herangezogenen lutherischen Texte zum Thema nicht, und obendrein ist zu betonen, dass auch die Katholiken anhand der biblischen Szenen zur Heiligen Familie stets betonten, dass hier freiwilliger Gehorsam obrigkeitlichen Vorgaben gegenüber erfolgte.61 Der Würzburger Kanoniker (und ehemalige Lutheraner) Christoph Marianus beispielsweise betonte mit zahlreichen anderen Autoren, dass Maria in der Reise nach Bethlehem aus eigenen Stücken und in einer schwierigen Situation der obrigkeitlichen Anordnung Folge geleistet habe.62 Marianus ließ sich durch diese
58 Hahn (Anm. 43), S. 316 f. 59 Kreitzer (Anm. 38), S. 113. 60 Corvinus (Anm. 38), fol. 96v–97r. Andere Nuancierung bei Greiffenberg (Anm. 20), S. 795, wo wenig von Gesetzerfüllung die Rede ist, dagegen bei Maria v. a. die „Freywilligkeit“ ihres Mitkommens betont wird, „Freywilligkeit ist die Seele der Liebe gegen Gott“ (799; gegen „pflichtigkeit“ ausgespielt). Wallasser (Anm. 4), S. 80 f. betont dagegen, Maria sei nicht jedes Jahr mit nach Jerusalem gegangen, was offenbar alleine Joseph so regelmäßig tat. 61 Bei Avancini (Anm. 2), S. 58–60 wird der Gehorsam der Reise nach Bethlehem direkt auf den (noch ungeborenen) Christus bezogen, der hierdurch seinen Gehorsam gegenüber den weltlichen Obrigkeiten ausdrücke („Primus ejus nascentis actus fuit obedientia“). 62 Zur Person: http://germania-sacra-datenbank.uni-goettingen.de/books/view/36/617.
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Ausgangskonstellation dann zu einer ausgreifenden allegorischen Textdeutung hinreißen. Für ihn spielte eine besondere Rolle, dass Maria durch den Gehorsam gegenüber dem Kaiser aus ihrer Wohnung und Heimat hinaus, nach „außerhalb“ geführt worden sei, nach Bethlehem.63 Daraus leitete er folgende Übertragung ab: Auch der gläubige Leser müsse wie Maria einen Gang nach draußen unternehmen, auch er solle Christus nicht nur ‚daheim‘ in seiner Seele, sondern auch „ausserhalb“ gebären. Nachfolge des Mariengehorsams bedeutete für die Gläubigen, wie die Gottesmutter „den äußerlichen Gehorsam auch in weltlichen Geschefften ihres Standes“ zu leisten.64 Das führte bei Marianus zu einer scharfen innen-außenDichotomie: Glaube dürfe sich nicht nur innen in der „andacht“ in der Seele zeigen, sondern er müsse nach außen drängen, in ein geordnetes Leben, eben in „gehorsam“ münden. Kurz zusammengefasst: „Wartung seines Beruffs ist besser als unzeitige Andacht.“65 „Andacht“ ist bei Marianus ein negativ konnotierter Begriff, den er mit Trägheit und Faulheit verband und gegen den echten Gehorsam im Gefolge Marias ausspielte. Dies kulminierte bei Marianus in einer bemerkenswerten Passage, die die hier eigentlich im Zentrum stehende Kindheitserzählung aus Lk 2 mit 1 Sam 15,22 überblendete, einer der wichtigsten Stellen christlicher Gehorsamsdiskussion überhaupt: man verwarloset das Haußhaben / sihet nit auff die Kinder daß sie wol erzogen werden / man will mit viel vorzeitigem Gebett Gott versöhnen / und erzürnet den man / man will vil Messen hören / und was der Mann oder die Obrigkeit schafft / will man nit hören geschweige denn thun […] Melior est obedientia quam victimae [1 Sam 15,22], Die Gehorsam ist besser als das Opffer. Wann die heilige Mutter Gottes were daheim bliben wegen der Ruhe und Andacht [unmittelbar vor der Niederkunft] / das were victima, ein Opffer / gewesen / das sie aber gehen Bethlehem gezogen / ist obedientia, ein Gehorsam gewesen / darum hat sie Gott allda erfrewet.66
Über die schwierige Beziehung zwischen innen und außen, geistlicher und irdischer Lebensführung ließ sich auch am Beispiel Josephs etwas sagen, wie der
63 Marianus (Anm. 40), S. 6, 254 f. Hinzu kommt ebd. das Argument, das Mitgehen nach Bethlehem habe dazu gedient, Argwohn von sich und der werdenden Heiligen Familie abzulenken – womöglich ist hier ein fernes Echo jener mittelalterlichen Tradition zu sehen, derzufolge die Ehe von Maria und Joseph vor allem aus pragmatischen Gründen, gewissermaßen also Normalitätsfiktion, notwendig gewesen ist. 64 Marianus (Anm. 40), S. 7. Insgesamt auch ebd., S. 13–18. 65 Marianus (Anm. 40), S. 14 (Marginalie). So ebd., S. 75 f. analog mit Blick auf die Hirten und die Frage, warum diese als erstes zur Betrachtung des Kindes ausgewählt wurden: „wer seinem Beruff fleissig gehorsam / demütig und liebreich außwarte / derselbe werde von Gott am ehesten heimgesucht und getröstet werden“. Ebd., S. 137 analog für die drei Könige. 66 Ebd., S. 14 f.
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französische Jesuit Paul de Barry illustriert, dessen umfangreiches erbauliches Oeuvre viele Werke über Joseph enthielt, die weite Verbreitung in Europa fanden.67 Der irdische Ziehvater Jesu sei der geeignete Ansprechpartner für jeden Gläubigen, der „seiner selbst nicht mächtig“ sei, also seine Laster und Begehrlichkeiten nicht beherrschen und deshalb auch „ihrer Arbeit unnd andern Verrichtungen […] nicht gedencken“ könne.68 Joseph sei das Gegenteil solcher unkontrollierten Unordnung im Leben und vielmehr von jener „innern ruhe deß Gemüths“ und der „ruhe des Gewissens“ gekennzeichnet gewesen, die auf einer gelungenen Balance inneren und äußeren Lebens basiere.69 So wie Gott Joseph das „stille“ Leben in Nazareth mit seiner Familie „anbefohlen“ habe, so befehle er auch den Gläubigen die Erfüllung ihrer alltäglichen Sorgen („dises Lebens beysorg“). Joseph war insbesondere ein Heiliger für diejenigen Menschen, „deren Tugend in disem Leben solte verborgen und unbekandt seyn“, da sie in stiller Erfüllung ihrer Aufgaben ihre übertragene Pflicht leisteten. Zugleich wurde Joseph von Barry als Heiliger inszeniert, der insbesondere die Rückkehr fehlgehender Menschen auf den rechten Weg der christlichen Tugend bewerkstelligen könne. Die Anrufung Josephs, so schildert er in zahlreichen Fallbeispielen, helfe, die „Schamhaftigkeit“ über die eigenen Sünden abzulegen, und sorge beim Gläubigen dafür, „damit er letztlich sich selbst uberwinde“.70 Ein Heiliger für die disziplinierte Gesellschaft.
4 Gehorsam und Ungehorsam in der Heiligen Familie Neben der Frage nach dem Gehorsam Marias und Josephs gegenüber der Obrigkeit stellte sich für die Zeitgenossen vor allem die Frage: Wie gestalteten sich die zwischenmenschlichen Beziehungen innerhalb der Heiligen Familie? Denn so ungewöhnlich die Heilige Familie einerseits hinsichtlich ihrer Entstehung und hinsichtlich der Qualitäten der beteiligten Personen war, so gewöhnlich war andererseits der Alltag des familiären Zusammenlebens gewesen, wie die Autoren aller Konfessionen stets betonten. Darin lag ja gerade das argumentative Potential der Heiligen Familie für die Moraldidaxe: Eben weil es sich hier mit Blick auf die Alltagspraxis um eine ‚ganz normale‘ Familie handelte, freilich durch die moralischreligiöse Integrität ihrer Mitglieder um eine idealtypische normale Familie, konnte 67 Barry (Anm. 9), S. 221–225. 68 Ebd., S. 239, 240. 69 Ebd., S. 226, 236, 237. Das Folgende nach ebd., S. 226 f. 70 Ebd., S. 249.
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sie als anschlussfähiges Vorbild dienen. Hinsichtlich des Gehorsams sind hierbei zwei Fragen zu unterscheiden: Wie gestaltete sich in der Heiligen Familie die Hierarchie zwischen Mann und Frau; wie gestaltete sich das Verhältnis zwischen Eltern und Kind?
4.1 Maria und Joseph Zunächst ist festzuhalten, dass die Hinwendung zu Maria in ihrer Mutterrolle grundsätzlich mit einer positiven Bewertung der Ehe verbunden war. Wenngleich es gegenteilige Ansichten seit der Alten Kirche gab, wurde die Beziehung zwischen Maria und Joseph doch insbesondere seit dem Spätmittelalter als vollwertige Ehe angesehen.71 Vom geschlechtlichen Vollzug abgesehen, konnte sie somit als Vorbild für die Gläubigen dienen. Eine wichtige paränetische Pointe am Leben und Verhalten Marias – genauso im Übrigen wie am Leben und Verhalten ihrer Mutter Anna – war denn auch gerade, dass sie als unübertrefflich vorbildhaftes Exempel präsentiert werden konnte, wie Frauen die potentiell widerstrebende Unterwerfung unter Gott und Ehemann vereinen konnten.72 Die Mutter und Großmutter Jesu schafften es, Ehe und Gottesdienst positiv zu integrieren, ganz im Unterschied zu vielen anderen weiblichen Heiligenfiguren, die ihre Heiligkeit oft eher im Konflikt dieser beiden Zielvorgaben beweisen mussten.73 Dabei wurde zusehends klarer herausgearbeitet, dass dieses positive Ehebild ein hochgradig hierarchisches war. Zwar bestand durchaus die Auffassung, Joseph habe seiner Frau und dem Christuskind als „Diener“ fürsorgend „gedient“, doch wurde die Vorstellung einer Überordnung Josephs über die gesamte Heilige Familie insgesamt dominierend.74 „Wem also war Gott und der Sohn Gottes untertan? Beiden, Joseph und Maria als seinen Eltern, und vorrangig selbst dem heiligen Joseph, dem nämlich auch Maria als seine Frau demütig untertan war“, so fasste schon Pierre d’Ailly zusammen.75 Diese Bemerkung zeigt, dass bei der genaueren Pointierung des kindlichen Gehorsams gegen die Eltern zusehends auch die Frage nach den Geschlechterrol71 Hahn (Anm. 9), S. 61–63. Francis L. Filas: Joseph and Jesus. A Theological Study of Their Relationship. Milwaukee 1972. 72 Zu Anna in diesem Sinn vgl. Dörfler-Dierken (Anm. 12), S. 212–227. Hier wird als Gegenbeispiel die Vita der hl. Dorothea von Montau präsentiert. 73 Wobei speziell bei Maria freilich zu betonen ist, dass diese Verbindung von Gottesdienst und Ehe dadurch gefördert wurde, dass sie und ihr Ehemann Joseph freiwillig in völliger Keuschheit lebten, der Wille zur Heiligkeit des einen Partners also nicht durch sexuelle Bedürfnisse des anderen infrage gestellt wurde, vgl. in diesem Sinne z. B. Wallasser (Anm. 4), S. 17–19. 74 Wallasser (Anm. 4), S. 29 f., 52. 75 d’Ailly (Anm. 3), S. 327.
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len in der idealen Familie eine wachsende Bedeutung erhielt. Damit wurde die Heilige Familie zum Spielfeld für die Artikulation von Gender-Identitäten, wie die Forschung bereits betont hat. Pamela Sheingorn hat zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit eine langsame Gewichtsverlagerung festgestellt: Von der vergleichsweise unabgeschlossenen, unfixierten heiligen Sippe – einer Großfamilie mit offenen Rändern, in der ursprünglich die Frauen dominierten – hin zur heiligen Familie – einer Kernfamilie unter zusehends männlicher Führung.76 Immer deutlicher wurde anhand der Beziehung von Maria bzw. Jesu zu Joseph die Rolle des männlichen Hausvorstandes modelliert. Frühneuzeitliche Exegeten betonten in diesem Zusammenhang zum Beispiel gerne die biblisch belegte Tatsache (Lk 2,48), dass Maria bei ihrer Frage an Christus, warum er so lange im Tempel geblieben sei, an erster Stelle Joseph und erst danach sich selbst genannt habe – sie habe, so die Erläuterung, die patriarchalischen Geschlechterbeziehungen schlichtweg anerkannt.77 Andere Texte betonten, dass Maria dem Joseph in „den übrigen gesatzen des Ehestandes unterworffen“ gewesen war.78 An der uneingeschränkten Dominanz des Vaters und Ehemanns über Frau und Sohn bestand in den Konzeptionen der Heiligen Familie im Grunde genommen nie ernsthaft Zweifel. Wie Maria selbst, habe auch Christus die Autorität Josephs unumwunden anerkannt: „Nicht nur die Mutter Gottes, nicht nur die Himmelskönigin und Herrin der Engel, sondern auch der Sohn Gottes, der König und Herrscher von allem, vor dem Himmel, Erde und Unterwelt das Knie beugen, unterwarf sich demütig gehorchend diesem Joseph“, so Pierre d’Ailly bereits um 1400.79 In Irland predigte ein katholischer Geistlicher noch 1768 wie selbstverständlich vom „dominion“ des Familienvaters Joseph über Maria und Jesus.80 Der juristische Fachbegriff des dominium klang hier ganz bewusst an, denn die Autorität Josephs als Familienvorstand wurde explizit verglichen mit der eines Gutsherren, der nicht nur über das verfügen kann, was er selbst gesät habe, sondern auch über das, was ohne sein Zutun auf seinem Land gewachsen sei – die Herrschaft über das Kind sei Joseph also sehr wohl auch gegeben, obwohl er Jesus nicht gezeugt habe.
76 Sheingorn (Anm. 7). 77 Marianus (Anm. 40), S. 180. Avancini (Anm. 2), S. 99. 78 Kybler (Anm. 26), S. 182. 79 d’Ailly (Anm. 3), S. 325. 80 Galway Diocesan Archives (Anm. 11), Box 9, unpaginiert.
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4.2 Schläge für Jesus? Der Gottessohn und seine Eltern Die Kindheit Jesu wurde zum Inbegriff für idealen Gehorsam stilisiert. Spätestens seit Cassian galt die „Rückkehr zur Kindheit Christi“ als Kurzformel für die strikte Selbstunterwerfung unter klösterlichen Gehorsam.81 Das Mönchtum des Abendlandes war, so verstanden, nichts anderes als eine einzige Variation über den zentralen Satz des Lukasevangeliums (2,51): „und er war ihnen gehorsam“.82 Der Jesuit Nicolaus Avancini beispielsweise leitete in seinen täglichen Meditationen zum Leben Christi, die er an seine Ordensbrüder adressierte, aus der Jugend Jesu neben der Demut vor allem den Gehorsam pauschal als vorbildliche Tugend ab, dem der Meditierende in direkter Applikation von Jesu Beispiel auf das eigene Leben nacheifern sollte.83 Doch die Kindheit Christi war in dieser Hinsicht auch für Laien ein entscheidendes Vorbild. Das ließ sich dann an den Details der biblischen Berichte ausführen. Der schon zitierte Christoph Marianus betonte zum Beispiel, der Knabe habe während der in Lk 2,41 berichteten jährlichen Reise nach Jerusalem zum Tempel stets seine ungewöhnliche Folgsamkeit bewiesen: „Sihe auch wie fleissig unnd gern das Jesuslein mit seinen Eltern gehn Jerusalem reyset und jnen volget / Es hat keines Meisters oder Underweyser bedörfft und dannoch gehorsamt es jhnen.“ Für Kinder wie Eltern, so der Autor weiter, sei ein solches Verhältnis das Beste.84 Beim Würzburger Prediger Modest Hahn war dann gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts davon die Rede, dass die mütterliche Gewalt Marias über Jesus Ergebnis des „Naturrechts“ sei – die sozialregulierende Bibelauslegung konnte nun auch mit vernunftbasierter Aufklärungsterminologie verschmolzen werden.85 Gottes Sohn selbst, der ja das Gesetz erfüllen, nicht aufheben wollte, habe sich diesem Naturgesetz unterworfen. Klar war für die Autoren wenigstens der Frühen Neuzeit zudem, dass sich die elterliche Autorität über Jesus keineswegs
81 Cassian Institutiones II, 3: „Wer dieser Welt entsagen will und wenn er auch noch so viele Reichthümer besitzt, der soll um die Aufnahme in das Kloster so nachsuchen, daß er sich weder auf das, was er zurückließ, noch auf das, was er in’s Kloster gebracht hat, Etwas einbildet; er muß in allen Stücken so gehorsam sein, wie es sich für Jene ziemt, die zum Kindesalter Jesu Christi zurückkehren wollen; er darf Nichts vor den Übrigen voraus haben wollen, weder wegen der Achtung, die er in der Welt genoß, noch wegen der größeren Zahl der Jahre, von denen er denken soll, daß er sie in der Welt vergebens zugebracht und verloren habe.“ 82 Die Vulgata hat an dieser Stelle übrigens ‚subditus‘, nicht ‚oboediens‘ o. ä. 83 Avancini (Anm. 2), S. 106. Dies ergab dann die Aufforderung: „Examina, quae tua sit obedientia, non tantum operis, sed etiam promptitudinis voluntatis, & abnegationis judicii.“ 84 Marianus (Anm. 40), S. 273. 85 Hahn (Anm. 43), S. 116.
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nur auf Maria beschränkte, sondern ausdrücklich auch – oder sogar: gerade – die Autorität Josephs umfasste, der so gesehen die Vaterrolle vollständig übernahm.86 Das hieß auch, dass der seinen Eltern stets gehorsame Jesus wie selbstverständlich an den alltäglichen Arbeiten im Haushalt und beim Broterwerb mitwirkte. Bei Vincent Ferrer am Beginn des fünfzehnten Jahrhunderts etwa findet sich ein völlig fiktiver Dialog zwischen Maria und Joseph, wer Wasser vom Brunnen holen solle, der durch Jesus unterbrochen wird, der sich dann selbst zum Brunnen aufmacht – und so allen zuhörenden Kindern ein Verhaltensbeispiel gebe.87 Diese Geschichte hatte noch ältere Wurzeln und sie tauchte noch im siebzehnten Jahrhundert bei etlichen Frömmigkeitsschriftstellern als Zitat auf.88 Zahlreiche weitere Formen von Handarbeit Jesu im Dienste einer gehorsamen Mitarbeit am Tagwerk der meist als „arm“89 geschilderten Heiligen Familie sind in literarischen und bildlichen Quellen belegt – Jesus fegt die Stube, Jesus hilft seinem Vater beim Zimmern.90 Physische Arbeit Jesu war für die Menschen der Frühen Neuzeit demnach selbstverständlich. Neben solchen Gehorsamsphantasien innerfamiliären Lebens standen allerdings verschiedene apokryphe Traditionen und wenigstens eine Stelle in der Bibel, die – zumindest bei vordergründiger Betrachtung – von Ungehorsam des kindlichen Jesu im familiären Kontext berichteten. Aus den Apokryphen entwickelte sich eine Tradition von Anekdoten, in denen der Knabe Jesus trotzig auf die Gehorsamsforderungen Josephs und Marias reagiert, den Tod von Spielkameraden in Kauf nimmt und sich insgesamt der elterlichen Autorität gerade nicht uneingeschränkt unterwirft. Mehrfach ist die Rede von körperlichen Züchtigungen des ungehorsamen Knaben durch Lehrer oder sogar durch Joseph, der freilich insgesamt dann oft als schwächliche Autoritätsperson erscheint.91
86 Speziell hierzu die – insgesamt aber wenig ergiebige – Arbeit von Filas (Anm. 71). 87 Mary Dzon: Joseph and the Amazing Christ-Child. In: Childhood in the Middle Ages and the Renaissance. The Results of a Paradigm Shift in the History of Mentality. Hg. von Albrecht Classen. Berlin, New York 2005, S. 135–157, hier S. 138 f. 88 Vgl. z. B. Kybler (Anm. 26), S. 142–144. 89 Z. B. Salmeron (Anm. 39), S. 555; Wallasser (Anm. 4), S. 66 f. 90 Kybler (Anm. 26), S. 157 hierzu, u. a. mit dem Hinweis, Jesus habe vielleicht das Handwerk eines Wagners gelernt, denn seine Gleichnisse würden stets mit den Themen von Joch und Wagen zu tun haben. Ebd., S. 159 dann der Hinweis, darauf sollten alle Handwerker und speziell die Zimmerleute stolz sein, denn gerade dieses, aber auch alle anderen Handwerke haben „goldenen Boden“. Wallasser (Anm. 4), S. 78 f. 91 Zum antiken und frühchristlichen Kontext dieser Jesus-Schilderungen vgl. jetzt Kristi UpsonSaia: Holy Child or Holy Terror? Understanding Jesus’ Anger in the Infancy Gospel of Thomas. In: Church History 82 (2013), S. 1–39. Zur späteren Situation siehe Dzon (Anm. 87), S. 146–157. Schreiner (Anm. 2), S. 124. Zum negativen Josephsbild des Spätmittelalters sehr prägnant auch
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Weit weniger extrem und doch beunruhigender, weil durch das kanonische Lukasevangelium (2,42–52) belegt, war der vermeintliche Ungehorsam und die wenigstens vordergründige Ungezogenheit des zwölfjährigen Jesu gegenüber seiner Mutter, nachdem er im Tempel verschwunden war. Wie jedes Jahr war Jesus mit seinen Eltern nach Jerusalem gereist, dann aber für drei Tage alleine im Tempel in Jerusalem zurückgeblieben, was schließlich zur Umkehr seiner Eltern, zu einer ausgedehnten Suche und zu einem wenigstens vordergründig heftigen Schlagabtausch zwischen Maria und Jesu führte (Lk 2,48 f.). Diese Stelle konnte in allen Konfessionen Anlass für umfangreiche Erörterungen über die Empfindungen der Eltern Jesu geben. Die meisten Autoren machten deutlich, dass sich Maria und Joseph stark um den verschwundenen Jesus gesorgt hätten. Adam Wallasser malte 1573 in seiner übersetzten Neuausgabe der Meditationes Vitae Christi die inneren Selbstanklagen Marias und die verzweifelte Suche nach dem Knaben breit aus.92 Beim Jesuiten Paul de Barry wird die Episode als einer der „sieben Schmerzen“ Josephs geschildert.93 Und sein Glaubensgenosse Christoph Marianus betonte, die Eltern Jesu hätten schon aus ihrer „natürlichen“ elterlichen Liebe heraus Schlimmes befürchtet, was durch ihre „übernatürliche“ Liebe zu Gott im Kind nur noch verstärkt worden sei.94 Der Lutheraner Corvinus betonte zur Sorge Marias in typisch reformatorischer Applicatio der Bibel auf das Selbst, Maria habe angesichts des vermeintlichen Verlusts von Jesu ihre eigene Fehlerhaftigkeit erkannt, was sogar bei der Gottesmutter zu existenziellen Glaubenszweifeln geführt habe.95 Solche Motive der Selbstanklage Marias an dieser Stelle finden sich bei sehr vielen Lutheranern. Häufig malten lutherische Autoren die Selbstzweifel Marias hinsichtlich ihrer Eignung zur Fürsorge für Christus breit und drastisch aus. Das konnte bisweilen soweit gehen, dass sich in ihrer Interpretation die Gottesmutter – angesichts des vermeintlichen Verlustes des Erlösers – als „zweite Eva“ selbst verurteilte.96 Der Reformierte Rudolf Gwalther dagegen ließ solche übernatürlichen Aspekte beiseite und fokussierte stattdessen ganz auf die gewöhnliche, natürliche Elternliebe. Er imaginierte nun im Detail, welche schrecklichen Gedanken Maria in Gabriela Signori: Die verlorene Ehre des heiligen Joseph oder Männlichkeit im Spannungsfeld spätmittelalterlicher Altersstereotypen. Zur Genese von Urs Grafs „Heiliger Familie“ (1521). In: Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Hg. von Klaus Schreiner, Gerd Schwerhoff. Köln 1995, S. 183–213. 92 Wallasser (Anm. 4), S. 81–86. 93 Barry (Anm. 9), S. 119 f.: Das Wiederfinden ist folglich die siebte der Freuden. Offensichtlich liegt hier eine Analogie zum schmerzens- bzw. freudensreichen Rosenkranz vor. 94 Marianus (Anm. 40), S. 276. Zu den Schmerzen Marias in dieser Verlustangst noch einmal ebd., S. 277 f. 95 Corvinus (Anm. 38), fol. 98r–v. 96 Nach Kreitzer (Anm. 38), S. 87. Vgl. Greiffenberg (Anm. 20), S. 808.
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dieser langen Zeit, in der sie von Jesus getrennt war, wohl gehabt hatte: der Junge könnte ertrunken, entführt worden oder den Häschern des Herodes in die Hände gefallen sein. Gwalther betonte mit Blick auf diese elterliche Sorge und Angst anschließend dann ganz ausdrücklich (und anders als viele andere Exegeten, die hier harmonisierten97), Maria habe ihren Sohn „angeklagt“ und „gescholten“, da sie sein Zurückbleiben im Tempel als „ungehorsam“ gedeutet habe.98 In einer umfangreichen Amplificatio schmückt der Schweizer Prediger die wenigen in der Bibel berichteten tadelnden Worte Marias an ihren Sohn über fast eine Druckseite aus. Jesus habe „widergeltung“ gegen die Eltern gezeigt, so schimpft seine Mutter laut Gwalther.99 Die Deutung des Dialogs zwischen Mutter und Sohn im Tempel als Streit, bei dem elterliche Sorge auf kindlichen Trotz stieß, fand sich auch anderswo. Bekannt ist beispielsweise eine Version dieser Szene, die Simone Martini 1342 malte. Auf dem Gemälde, das sich heute in Liverpool befindet, ist genau der Moment zu sehen, in dem Maria Jesus vorwurfsvoll fragend anspricht – ihre Worte sind auf dem aufgeschlagenen Buch zu lesen. Jesus, der von Joseph eher vermittelnd seiner Mutter vorgestellt wird, reagiert abweisend, mit vor der Brust gekreuzten Händen und distanziertem Gesichtsausdruck. Freilich befanden sich Gwalther und andere Autoren in einer argumentativen Zwickmühle, wenn sie die Sorge und den Ärger Marias über das Verhalten ihres Sohns ausmalten: denn so verständlich der elterliche Zorn war, so wenig konnte er letztlich gerechtfertigt sein, denn Jesus war selbstredend nicht wirklich ungehorsam gewesen, handelte er doch im Auftrag Gottes.100 Die Lösung Gwalt97 Marianus (Anm. 40), S. 279 f. sah hier in einer sehr klaren Passage nur Informationsbedarf Marias. Ganz ähnlich Greiffenberg (Anm. 20), S. 823, die ebenfalls ausdrücklich betonte, die Frage Marias sei „nicht Verhebungs-Weise / sondern nur Fragens-halber gemeinet“. Genauer gesagt wollte Maria angeblich wissen, wie es möglich gewesen sei, dass Jesus solche Schmerzen zufügen könne. Greiffenbergs Maria antizipiert bereits in der Frage, dass Christus wohl sehr gute, ihr freilich verborgene Gründe gehabt haben wird. Sie findet dann (S. 824) den Anschluss an die Kreuzes-Thematik, denn jedes Kreuz (wie der Verlust Jesu) berge einen „Göttlichen Gnaden-Glücks Kern“ in sich. Sehr harmonisierend auch die Auslegung des Zwiegesprächs bei Wallasser (Anm. 4), S. 87 f., und bei Avancini (Anm. 2), S. 88–95: Das Zurückbleiben im Tempel wird als vorbildhaft dargestellt, da es die überragende Gottesliebe Jesu anzeige; zugleich wird auf die Notwendigkeit der Distanzierung von Eltern und Freunden zur Ausübung wahrer Gottesliebe verwiesen. Ebd., S. 99 wird mit Bezug auf Dionysius den Karthäuser die Frage Marias als „amorosa conquestio, non est increpatio“ charakterisiert. Ebd., S. 100 die analoge Deutung der Antwort Christi. 98 Gwalther (Anm. 19), fol. [Dvj] r. 99 Ebd., fol. [Dvj] v. 100 Hier schloss sich bei Gwalther wie bei Marianus die Erörterung der Frage an, wie Maria und Joseph eigentlich das Fehlen des Kindes hatten übersehen können – hier nuancierte Unterschiede: Bei Gwalther ist das rein pragmatisch begründet; bei Marianus ist dieses Übersehen mit der Konnotation göttlichen Eingriffs versehen. Die Eltern hätten keine Chance gehabt, das Fehlen
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Abb. 1: Simone Martini (1342), Christus entdeckt im Tempel, Tempera auf Leinen, 49,5 cm × 35,1 cm, National Museum Liverpool
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hers bestand darin zu betonen, dass Marias Strafpredigt gegenüber Jesu vor allem deshalb Teil des Evangeliums sei, um allen anderen Eltern und Kindern einen Hinweis auf die elterliche Pflicht zur Züchtigung und Korrektur ungehorsamer Kinder zu geben. Eltern, die im Gegensatz zu Maria ihre ungehorsamen Söhne nicht schelten würden, würden ihre Pflichten verletzen.101 Andere Autoren nutzten die Stelle dazu, die richtige Hierarchie des Gehorsams herauszustellen: Jesus habe hier den höheren Gehorsam gegen Gott geübt, der in manchen Momenten die Forderung nach Gehorsam gegen die Eltern übertrumpfen müsse.102 Das bedurfte freilich bisweilen einer gewissen Verschiebung der Problematik. Corvinus erklärte anhand dieser Stelle beispielsweise, dass der Bruch des Gehorsams gegen die Eltern nur dann zulässig sei, wenn diese den Glauben des Kindes behinderten – davon war aber selbstredend bei Maria und Joseph nicht die Rede gewesen, als Jesus sich ihnen vorübergehend entzog.103 Hier herrschte, jedenfalls auf der Ebene der Bibelauslegungen, interkonfessionelle Einmütigkeit – der Jesuit Alphonso Salmeron beispielsweise löste die Stelle ganz ähnlich harmonisierend auf. Die schließlich ja erfolgte Rückkehr Jesu in die Obhut von Maria und Joseph sei als Übergang vom Gehorsam gegen Gott zum Gehorsam gegen die Eltern zu verstehen.104 Beides gemeinsam, in der richtigen Hierarchie, sei von guten Christenmenschen zu erwarten, das sei es, was die Bibelstelle lehre. Denn der Gehorsam des kindlichen Christus, so der Jesuit in monastisch-asketischer Tradition, sei ein Beispiel dafür, wie man den „eigenen Willen“, jene Ur-Sünde des fehlenden Menschen, zähmen könne.105 überhaupt früher zu bemerken, geschweige denn zu verhindern, Marianus (Anm. 40), S. 275. Bei Nils Hemmingsen dagegen wird Maria sehr wohl dezidiert verantwortlich gemacht, sie habe „unvleis“ in der Kinderaufsicht gezeigt, Kreitzer (Anm. 38), S. 24, 88, 90 und passim. Aus solchen Beobachtungen leitet die Autorin die weithin rezipierte These ab, dass sich die lutherischen Predigten gegen Ende des sechzehnten Jahrhunderts zusehends durch deutliche Kritik an Details von Marias Verhalten von dieser Figur distanziert hätten. Davon allerdings ist nichts zu spüren hundert Jahre später bei Greiffenberg (Anm. 20), S. 807–812, 830: Maria und Joseph waren so andächtig, dass sie ihre Umgebung nicht beachteten; hätte Maria die Gottsohnschaft Jesu wirklich ernst genommen, hätte sie keine Angst haben müssen. Letztlich ist bei Greiffenberg die Sorge der Eltern um Jesus nahe an die Unterstellung von Kleingläubigkeit gerückt. 101 Gwalther (Anm. 19), fol. [Dvij] r–E v. 102 Jesus folgte hier dem höhergewichtigen Befehl Gottes – diesem soll man eher gehorchen als Vater und Mutter. Wenn es hier Differenzen gibt, „so hört yetzunder die gehorsame der Elteren uf“, ebd., fol. Eiij r. Einen Absatz weiter fügt Gwalther vorsorglich gleich noch an, dass eine ähnliche Einschränkung im Konfliktfall auch für die Gehorsamspflicht gegenüber der Obrigkeit gelte, ebd., fol. Eiij v. 103 Corvinus (Anm. 38), fol. 99r–v. 104 Salmeron (Anm. 39), S. 554 f. 105 Ebd., S. 555.
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Doch damit waren Problem und Lehrcharakter der Stelle noch nicht erschöpft. Denn wie war die im Tonfall doch eher unfreundliche Antwort und Widerrede Jesu an seine sorgenvolle Mutter zu verstehen? Hatte Jesus hier nicht etwa doch seine Eltern „unziemlich“ und unfreundlich „angeschnouwt“, wie Gwalther fragte?106 Gwalther, der die Stelle sehr ausführlich kommentiert, findet zwar mehrere Gründe, weshalb Jesu Antwort doch nicht in den Bereich der unziemlichen Widerrede falle, sondern vielmehr auch und gerade die Härte seiner Replik in diesem einen Fall sogar notwendig gewesen sei.107 Doch interessanter als diese Überlegungen ist die Tatsache, dass Gwalther hier de facto einen richtigen Eltern-Kinder-Konflikt in der Heiligen Familie präsentierte – Maria war es, so betonte er mehrfach, in ihrer Schelte wirklich und ehrlich ernst gewesen. Und wenngleich Gwalther hier notgedrungen die letzte Konsequenz scheut, so bleibt doch beim modernen Leser – und blieb zweifellos auch bei den Zuhörern – der Eindruck zurück, dass Jesu Verhalten wenigstens nahe an kindlichem Ungehorsam lag. Gwalther betonte immerhin sehr deutlich (und erneut mit dem Bibeltext), dass Jesus „fürhin“, also „fürderhin“, den noch folgenden Rest seiner Kindheit in vorbildlichem Gehorsam verbracht habe – was als Umkehrschluss einen Rest Zweifel auf seinem Verhalten im Tempel zurückgelassen haben dürfte.108
5 Von der Bibelexegese zum zeitbezogenen Familienspiegel Der eine biblische Satz, Jesus sei seinen Eltern „gehorsam“ gewesen (Lk 2,51), wird unter Gwalthers Feder dann zum Ausgangspunkt einer breit angelegten Abhandlung über intergenerationelle Pflichten. Wie auch bei den anderen Teilen, schiebt Gwalther dieser Exegese der Bibelstelle zur Heiligen Familie nämlich eine umfassende Präsentation familienethischer Verhaltensforderungen nach:109 Gehorsam 106 Gwalther (Anm. 19), fol. Eij r. 107 Bei Salmeron (Anm. 39), S. 549 hat die zugegebene „Härte“ und „Schärfe“ Jesu gegenüber den Eltern pädagogische Gründe: der „affectum carnis“ bzw. die „consanguineos affectus“ wurden dadurch von Jesus gemäßigt. Zudem würde Christus dadurch den „Gehorsam“ seiner Eltern gegenüber dem Willen Gottes, der sich in Jesu Handeln ja zeige, lehren (ebd., S. 550). Zugleich entschuldigte der harsche Hinweis auf sein Handeln auch Maria und Joseph vom Vorwurf, sie hätten sich nicht genug um ihren Sohn und seinen Verbleib gekümmert. Andere lutherische Ausleger, etwa Christoph Vischer, sahen in Jesu Antwort jedoch keine Härte, vgl. Kreitzer (Anm. 38), S. 88. 108 Gwalther (Anm. 19), fol. Ev r–v. Bei Marianus dagegen erneut eine wesentlich verharmloste Interpretation der Schriftworte, Marianus (Anm. 40), S. 281 f. 109 Gwalther (Anm. 19), fol. Ev v–[Evj] r.
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der Kinder gegen die Eltern ist nötig, und das müsse weit über eine bloß „usserliche reverentz unn eerenbietung“ hinausgehen. Stattdessen müsse ein „willige[r] gehorsam“ geleistet werden, der „uß einem rechten grund unsers hertzens harfliesse“. Dieser Gehorsam dürfe gerade nicht „schwer“ sein, sondern die Kinder sollten „von hertzen geneigt und willig syn“. Das schloss widerspenstiges Verhalten aus, also „widersprechen / widerhäfftzen / schnertzen / anschnouwen“. Vielmehr würde sich der Gehorsam in einer bereitwilligen Unterstützung der Eltern bei ihrem Tagwerk, aber auch in Krankheit und Schwäche zeigen. Die Obrigkeiten, so Gwalther ausdrücklich und immer noch in der Exegese zum einschlägigen LukasVers, hätten deshalb im Zweifelsfall auch eine ausdrückliche Pflicht, die Eltern vor ihren Kindern zu schützen, etwa wenn diese gewalttätig gegen Vater oder Mutter würden.110 Mit Zustimmung verwies Gwalther auf die antike römische Strafpraxis des Säckens für Eltern- und Verwandtenmörder.111 Im gleichen Stil folgten umfangreiche Erörterungen zum Sinn und Lob der Arbeit – die Heilige Familie war dafür generell ein prominenter locus.112 Die Eltern sollen, wie im Falle von Jesu, ihre Kinder zur Arbeit anhalten, und die Obrigkeiten sollen sie dabei unterstützen. Die Arbeit sei Gott wohlgefällig. Spezifisch für die frühneuzeitliche Schweiz dürfte dann Gwalthers pointierte Abrechnung mit jenen jungen Männern gewesen sein, die ehrliche Arbeit scheuten und sich stattdessen für Geld in den Kriegsdienst bei fremden Herren verdingten.113 In Form einer Kritik des Schweizer Söldnerwesens formuliert Gwalther eine pointierte Verteidigung der von Gott gebotenen „handarbeit“ – und das Beispiel des gehorsamen Jesus, der sich seinen Eltern gegenüber dankbar und dienend verhält, ihnen bei der Hausund Handarbeit hilft, soll diesen Punkt vermitteln. Es habe „Gott die lybsarbeit nit nun mit sinem ußgetruckten wort befohlen: sonder ouch mit dem byspel sines furgeliebten sons Jesu Christi geheiliget und gewych“.114
110 Ebd., fol. Fiij r. 111 Zum Säcken Florike Egmond: The Cock, the Dog, the Serpent, and the Monkey. Reception and Transmission of a Roman Punishment, or Historiography as History. In: International Journal of the Classical Tradition 2 (1995), S. 159–192. 112 Gwalther (Anm. 19), fol. Fiiij v ff. Vgl. auch Kybler (Anm. 26), S. 160 ff., wo u. a. ein ‚richtiger‘ (menschlicher) von einem ‚falschen‘ (viehischen) Zugang zur Arbeit unterschieden wird. 113 Gwalther (Anm. 19), fol. [Fvij] r–v, [Fviij] v. 114 Ebd., fol. [Fviij] v.
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6 Schluss Blickt man auf die vorgestellten Beispiele zurück, so ergibt sich einerseits ein homogenes, andererseits doch ein in sich schattiertes Bild. Festzuhalten ist, dass der Gehorsam als Wert und Tugend den Alltag Marias seit dem Spätmittelalter deutlich prägte. Das Thema wurde immer direkter und häufiger erwähnt, und zugleich wurden insbesondere die Familienstrukturen Marias immer stärker auf das Modell einer hierarchisch aufgebauten Kleinfamilie hin organisiert. Die Betonung der sozialen Verhaltensnorm ‚Gehorsam‘ anhand Marias und ihres Alltags war dabei konfessionsübergreifend. Auch bei den Katholiken blieben die Hinweise auf familiären und partnerschaftlichen Gehorsam präsent: selbst wenn man für den gegenreformatorischen Marienkult insgesamt der These von Bridget Heal folgen mag, wonach gerade die Jesuiten in der barocken Marienverehrung insbesondere die außergewöhnlichen, überirdischen und quasi-göttlichen Aspekte der Gottesmutter betont und dadurch diese Frömmigkeit in neue Bahnen gelenkt hätten, so bedeutete dies doch keinesfalls pauschal den Verzicht oder die Verabschiedung der alltagsnäheren Einsatzmöglichkeiten.115 Mit Blick auf die historische Entwicklung im Bild von Maria ist an dieser Stelle deshalb nicht zuletzt grundsätzlich das Auftreten und die wachsende Prominenz des Themas ‚Gehorsam‘ selbst ein erster, wichtiger Befund, der die Frühe Neuzeit prägte. Daran anschließend sind dann jedoch durchaus Wandlungen in der Konfiguration, Formulierung und Ausprägung des Gehorsams zu beobachten. Lokale Zuschnitte des Themas – wie bei Gwalthers auf die Schweizer Verhältnisse bezogenen ‚Anwendung‘ der Heiligen Familie gegen das Söldnerwesen – waren dabei jederzeit möglich. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass sich zwar vielleicht nicht die geforderte soziale ‚Realität‘ des Gehorchens, wohl aber die Begründungen, die dafür angegeben wurden, auch mit Blick auf Marias Gehorsamsbeziehungen subtil wandelten. Das späte katholische Beispiel der Predigten von Modest Hahn bietet hierzu einige Hinweise. Dass er den Gehorsam in der Familie Jesu auch durch das Naturrecht gefordert sah, ist als zeitbezogene Anpassung zu verstehen. Ähnliches dürfte auch für seine Forderung nach „Zärtlichkeit“ gelten, mit denen sich der Gehorsam – hier von Maria als Kind ihren Eltern gegenüber – verbinden sollte. Hier wird man spezifische Modellierungen ausmachen dürfen, die mit dem Geist und der Sprache der Empfindsamkeit zusammenhängen. Generell gelten die Jahrzehnte um 1800 als eine Phase, in der Gehorsam verstärkt mit positiven Gefüh-
115 Heal (Anm. 6), S. 267–282. Dort auch deutlich der Hinweis, dass es innerhalb der katholischen Marienverehrung unterschiedliche Nuancen oder gar Strömungen gegeben habe.
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len einhergehen sollte.116 Auch aufklärerische pädagogische Ideale kritisierten zusehends die nun als vorherrschend gebrandmarkte Spirale von Gewalt, Furcht und Gehorsam, die vermeintlich in früheren Zeiten geherrscht habe. Auch diese neue Nuancierung, so scheint Hahns Beispiel anzudeuten, konnte im Verständnis der Heiligen Familie nachhallen.
116 Vgl. Peter N. Stearns: Obedience and Emotion. A Challenge in the Emotional History of Childhood. In: Journal of Social History 47 (2014), S. 593–611.
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Der Kampf der Katholizismen Binnenkonfessionelle Kontroversen um den Marienkult in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts Im Jahre 1673 veröffentlichte ein gewisser Adam Widenfeldt ein Buch mit dem Titel Monita salutaria B. V. Mariae ad cultores suos indiscretos, in dem sich die Heilige Maria unmittelbar an das Christenvolk wendet. Darin verkündet die Gottesmutter, dass jede Ehre Gott allein, nicht ihr, gebühre. Sie lehnt die hochtrabenden Titel ab, mit der das Christenvolk sie verehre. Sie stellt klar, dass es nur einen Mittler zwischen den Menschen und Gott gebe, nämlich Jesus Christus. Es sei Christus allein, der den Zorn Gottes lindern könne. Sie, Maria, könne keine Menschenseele retten; und es stimme nicht, dass sie barmherziger sei als Jesus Christus. Jedes Wunder komme von Gott allein.1 Einige Jahre später – 1685 – ließ Adam Gdacjusz ein anderes Büchlein drucken, in dem er den Ehrentitel der ‚allerheiligen Frau‘ (im Sinne von ‚Herrin‘) leidenschaftlich verteidigte.2 Ein mit den konfessionspolitischen Debatten der Frühen Neuzeit nur oberflächlich vertrauter Leser würde sicherlich ohne Zweifel das erste Buch als ein protestantisches und das zweite als ein katholisches Werk klassifizieren, gelten doch im Allgemeinen die Marienfrömmigkeit als ein Spezifikum des Katholizismus und die Ablehnung der Interzession der Heiligen als ein Merkmal der Reformation. Tatsächlich verhält es sich jedoch genau umgekehrt: Adam Widenfeldt, ein Kölner Jurist und Geheimrat des Herzogs von Neuburg, war Katholik; die französische Übersetzung seines Pamphlets wurde vom Bischof von Tournai und von Theologen der Universität Leuven approbiert.3 Adam Gdacjusz wiederum war ein
1 Hier wurde die Übersetzung ins Französische benutzt, die vielleicht aus den südlichen Niederlanden stammt: [Adam Widenfeldt:] Avis salutaires de la bien-heureuse Vierge Marie, a ses devots indiscrets. Fidèlement traduit du Latin en François. Lille 1674. 2 Adam Gdacjusz: Kwestyja, Jesli Maryja nayswietsza moze y ma bydz nazwana Panna? Ohne Ort [1685]. 3 Über Widenfeldt ist sehr wenig bekannt. Moderne Nachschlagewerke wiederholen die Informationen aus Dominicus de Colonia: Bibliothèque janséniste, ou Catalogue alphabétique des principaux livres jansénistes, ou suspects de jansénisme qui ont paru depuis la naissance de cette hérésie. Ohne Ort 1735. Vgl. Bernard Chédozeau, (Adam) Widenfeld. In: Dictionnaire de spiritualité ascetique et mystique 16 (1994) S. 1423–1431. https://doi.org/10.1515/9783110665109-009
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lutherischer Prediger aus Schlesien, der unter anderem im Königlichen Preußen und in Oberungarn, der heutigen Slowakei, wirkte.4 Widenfeldt und Gdacjusz wandten sich in ihren Schriften über die Heilige Maria gegen Autoren ihrer eigenen Konfession. Diese Beispiele lenken somit den Blick auf binnenkonfessionelle Differenzen und Auseinandersetzungen – und machen zugleich auf die Tendenz der Historiographie aufmerksam, von etablierten Konfessionskulturen in der Frühen Neuzeit auszugehen. Diese Tendenz ist besonders in der deutschsprachigen Forschung zu beobachten, wahrscheinlich aufgrund der Virulenz des Konflikts zwischen Katholiken und Protestanten noch im neunzehnten Jahrhundert. Soziologen, Historiker und Theologen aus dem neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert interessierten sich vor allem für interkonfessionelle Differenzen und Gegensätze. Sie richteten dagegen selten das Augenmerk auf die binnenkonfessionelle Pluralität und die damit einhergehenden vehementen Konflikte.5 Aber auch die Forschung zu Konfessionsbildung und Konfessionalisierung in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts schenkte den binnenkonfessionellen Differenzen keine weitere Aufmerksamkeit.6 Erst zu Beginn des Jahrtausends kam in Auseinandersetzung mit dem Konfessionalisierungsparadigma ein stärkeres Interesse für die binnenkonfessionelle Pluralität auf.7 Obwohl die Konflikte zwischen Gnesiolutheranern und Philippisten, Arminianern und orthodoxen Kalvinisten, Jesuiten und Jansenisten oder auch Pietisten und lutherischen Orthodoxen – um nur einige binnenkonfessionelle Konflikte zu nennen – vielfach untersucht worden sind, besteht die Tendenz, von einheitlichen Konfessionskulturen mit je einem Set von religiösen Normen auszugehen, noch in der neuesten Historiographie weiter fort. So liest man in einem viel beachteten und zweifellos sehr inspirierenden Aufsatz von Hillard von Thiessen zur Konkurrenz zwischen Normensystemen in der Frühen Neuzeit, dass „der Wille der Konfessi-
4 Zu Gdacjusz siehe Izabela Kaczmarzyk: Adam Gdacjusz. Z dziejów kaznodziejstwa śląskiego. Katowice 2003. 5 Pars pro toto seien folgende besonders berühmte Schriften genannt: Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt. München 1906; Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Tübingen 1904. Siehe weiter die Verallgemeinerungen über den Katholizismus in ders., Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Frankfurt a. M. 2008, z. B. S. 474 f. 6 Siehe z. B. die Beiträge in Wolfgang Reinhard, Heinz Schilling (Hg.): Katholische Konfessionalisierung. Wissenschaftliches Symposium der Gesellschaft zur Herausgabe des Corpus Catholicorum und des Vereins für Reformationsgeschichte 1993. Münster 1995. 7 Kaspar von Greyerz u. a. (Hg.): Interkonfessionalität – Transkonfessionalität – binnenkonfessionelle Pluralität. Neue Forschungen zur Konfessionalisierungsthese. Gütersloh 2003; Bridget Heal: The Cult of the Virgin Mary in Early Modern Germany. Protestant and Catholic Piety, 1500–1648. Cambridge 2007, insb. S. 207–261.
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onskirchen, das Verhalten der Gläubigen zu verändern […] wenig bestreitbar“ sei. Thiessen zufolge hätten die drei großen Konfessionskirchen ein Programm der Durchsetzung religiöser Normen gehabt, das mit der Existenz anderer Normensysteme kollidiert sei und die Frühe Neuzeit zu einer Epoche der verschärften Normenkonkurrenz gemacht habe.8 Eine solche Akzentlegung auf die Normenkonkurrenz und die damit verbundenen Umgangsweisen ist zweifellos fruchtbar und es ist zu wünschen, dass dieser Ansatz zahlreiche Forschungen anregen wird. Zugleich jedoch sollte nicht aus den Augen verloren werden, dass keineswegs alle kirchlichen Akteure in der Frühen Neuzeit religiöse Normen gegenüber sozialen unerbittlich durchsetzen wollten. Bis zu welchem Grad sich eine solche Durchsetzung verwirklichen ließ, war vielmehr Gegenstand heftiger Kontroversen zwischen kirchlichen Akteuren ein und derselben Konfession. Die Frühe Neuzeit war nicht nur durch das Bestreben gekennzeichnet, das Verhalten der Gläubigen im Sinne des Evangeliums zu verändern, sondern auch durch den vielfach zu beobachtenden Willen von kirchlichen Akteuren, religiöse Normen an soziale und politische anzupassen. So kann man kaum von einem allgemeinen Clash zwischen klar abgegrenzten Normensystemen ausgehen. Was die Frühe Neuzeit vielleicht am ehesten kennzeichnete, war der Konflikt zwischen denen, die eine Akkommodation der Religion an verschiedene soziale, politische und kulturelle Kontexte (sowohl in Europa als auch in Übersee) anstrebten und denjenigen, die für eine unflexible und strenge Durchsetzung von ewigen und sozusagen asozialen evangelischen Normen eintraten. Es war just dieser Konflikt, der zu heftigen innerkatholischen Kontroversen um die Marienverehrung im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert führte: zu Kontroversen, die im Zentrum dieses Aufsatzes stehen, zwischen Rigoristen und ‚Akkomodationisten‘, also ‚Normenharmonisierern‘. Diese Auseinandersetzungen um den Marienkult innerhalb des Katholizismus sind bislang in der Forschung aus den oben genannten Gründen wenig beachtet worden. Die letzten detaillierten Darstellungen dieser Kontroversen gehen auf die Kirchengeschichtsschreibung in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zurück. Hier ist vor allem der Abbé Bremond und seine monumentale Histoire littéraire du sentiment religion de la fin des guerres de religion à nos jours (1932) zu nennen. Der Abbé Bremond und die Kirchenhistoriker seiner Zeit diskutierten vor allem darüber, inwiefern die jansenistischen Schriften als rechtgläubig einzustufen seien.9 Der vorliegende Aufsatz 8 Hillard von Thiessen: Das Sterbebett als normative Schwelle. Der Mensch der Frühen Neuzeit zwischen irdischer Normenkonkurrenz und göttlichem Gericht. In: Historische Zeitschrift 295 (2012), S. 625–659. 9 Henri Bremond: Histoire littéraire du sentiment religieux en France depuis la fin des guerres de religion jusqu’à nos jours. Band 9: La Vie chrétienne sous l’Ancien Régime. Paris 1968, S. 259–270.
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soll dagegen die innerkatholischen Auseinandersetzungen um die Marienverehrung in der Geschichte des Umgangs mit dem Problem der Normenkonkurrenz kontextualisieren.
1 ,Akkommodationisten‘: Jesuiten, die Normenharmonisierung und der Marienkult Die Katholische Reform und vor allem die neuen Orden wie die Gesellschaft Jesu kämpften bei Weitem nicht nur gegen die sogenannte ‚Ketzerei‘ – wie der Begriff Gegenreformation es nahelegt –, sondern waren ungleich ambitionierter: Sie traten für die Vereinigung des gesamten Erdballs in der göttlichen Liebe ein.10 Die katholischen Reformorden nahmen diesen missionarischen Auftrag auf sich und versuchten, überall wo sie hinkamen, Überzeugungsarbeit zu leisten. Insbesondere die Jesuiten wählten dafür eine Missionierungsstrategie, die Alessandro Valignano, das Oberhaupt der Asienmission im späten sechzehnten Jahrhundert, auf den Begriff der ‚Akkommodation‘ brachte: Um die sogenannten ‚Heiden‘ sanft zu Christus zu führen, sollten die Missionare ihr Auftreten, ihr Verhalten und ihre Botschaft an den Erwartungshorizont der jeweiligen Gesellschaften anpassen. Diesem Ansatz folgend akzeptierten in der Frühen Neuzeit jesuitische Missionare die große kulturelle Vielfalt der Welt in einem erstaunlichen Maße.11 Sie nahmen oft fremde Kulturen und sogar Religionen als Spielarten einer ursprünglichen gemeinsamen Kultur und Religion wahr: Diese sei zwar vielerorts degeneriert, trage aber immer noch Spuren der ursprünglichen Religion und Sittsamkeit in sich.12 Aus all diesen Gründen brachten Jesuiten nicht nur ein neuartiges ethnographisches Wissen,13 sondern auch wahrhafte Synthesen zwischen dem Christentum und außereuropäischen Lehren hervor.14
10 Damien Tricoire: Mit Gott rechnen. Katholische Reform und politisches Kalkül in Frankreich, Bayern und Polen-Litauen. Göttingen 2013, S. 33–101. 11 Pedro Lage Reis Correia: Alessandro Valignano’s Attitude Towards Jesuit and Franciscan Concepts of Evangelization in Japan (1587–1597). In: Bulletin of Portuguese-Japanese Studies 2 (2001), S. 79–108. 12 Andreas Motsch: La Chine et la Nouvelle-France comme laboratoire du savoir. L’impasse du figurisme et la stratégie missionnaire jésuite. In: De l’Orient à la Huronie. Du récit de pèlerinage au texte missionnaire. Hg. von Guy Poirier u. a. Laval 2011, S. 215–228. 13 Andreas Motsch: Lafitau et l’émergence du discours ethnographique. Sillery 2001. 14 Ronnie Po-Chia Hsia: A Jesuit in the Forbidden City. Matteo Ricci, 1552–1610. Oxford 2010; Antje Flüchter: Pater Pierre Martin – ein ‚Brahmane aus dem Norden‘. Jesuitische Grenzgänger
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Der Ansatz, Überzeugungsarbeit durch eine Anpassung an den Erwartungshorizont der jeweiligen Bevölkerung zu leisten, wurde nicht nur in Übersee verfolgt. Auch in Europa fanden vielfach Akkommodationen statt. Diese gründeten auf einer Abkehr von der pessimistischen Anthropologie und der Verurteilung der Welt, die im Spätmittelalter und noch im sechzehnten Jahrhundert den öffentlichen Diskurs zahlreicher Kleriker dominiert hatten. Jesuiten verabschiedeten sich in der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts von rigoristischen heilstheologischen Ansätzen und verteidigten in aller Regel eine semipelagianische Gnadenlehre. Diese ging davon aus, dass der Mensch nicht so stark korrumpiert sei, um nicht aus eigenen moralischen Kräften heraus das Seelenheil finden zu können.15 Auf dieser Grundlage entwickelten die Jesuiten wiederum ab den 1570er Jahren die probabilistische Moraltheologie, derzufolge eine Handlung gerechtfertigt werden könne, wenn ein glaubwürdiger (,wahrscheinlicher‘) Gewissensgrund besteht, selbst wenn überzeugendere (,wahrscheinlichere‘) Gewissensgründe angeführt werden können.16 Eine solche Moraltheologie ermöglichte eine gewisse Toleranz gegenüber der Pluralität von konkurrierenden Normensystemen – eine Toleranz, die in berühmten kasuistischen Schriften ihren Ausdruck fand. So legte 1605 Leonhardus Lessius, ein jesuitischer Theologieprofessor an der Universität Leuven, dar, dass man ‚wahrscheinliche‘ Begründungen für den Fall finden könne, wenn ein ‚Ehrenmann‘ (vir honoratus), der geohrfeigt wird, den Aggressor mit seinem Schwert umbringt. Obwohl ein solches Verhalten in der Praxis keineswegs zu empfehlen sei, könne es seiner Meinung nach gerechtfertigt werden, wenn der Angegriffene nicht aus einem Rachegefühl heraus töte, sondern nur, um die Schande zu vermeiden, und wenn er keinen anderen Weg kenne, um seine Ehre wiederherzustellen. Lessius war dabei bei weitem nicht der einzige Moraltheologe, der denjenigen, die ihre Ehre verteidigen wollten, ein moralisches Recht zur Gewalt bis hin zum Totschlag zugestand. Er gehörte eher zum moderaten Flügel der jesuitischen Kasuisten. Auch wenn er Adligen die Annahme eines Duells gestattete, bestritt er zum Beispiel die Meinungen von anderen katholischen Kasuisten, wonach man auch einen Verleumder umbringen dürfe.17
in Südindien um die Wende zum 18. Jahrhundert. In: Zeitenblicke 11/1 (2012). http://www.zeitenblicke.de/2012/1/Fluechter. 15 Anthony D. Wright: The Counter-Reformation: Catholic World and the Non-Christian World. Aldershot 2005, S. 163–195. 16 Robert A. Maryks: Saint Cicero and the Jesuits. The Influence of Liberal Arts and the Adoption of Moral Probabilism. Aldershot 2008. 17 Leonhardus Lessius: De Justitia et Iure ceterisque Virtutibus Cardinalibus libri quaturo […], editio septima […]. Antwerpen 1637, S. 98–100. (Liber 2, Cap. 9, dub. 12, nr. 76–83). Zur Kasuistik
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Die Kasuisten, die moderaten wie die radikalen, stellten zwar das biblische Gebot, den Feinden zu vergeben, nicht in Frage. Dieses Gebot hatte ihrer Meinung nach gegenüber anderen Normen eine höhere Qualität und blieb der ‚wahrscheinlichere‘ Gewissensgrund. Doch daneben gestanden sie andere, weniger ‚wahrscheinliche‘ Gewissensgründe zu. Sie erkannten, dass ein Christ auch Familienvater sein könne und also die Ehre seines Geschlechts verteidigen müsse. So räumten sie dem Recht zur Verteidigung der eigenen Ehre den Status einer Norm ein, die neben der evangelischen Botschaft der Vergebung eine gewisse Gültigkeit beanspruchen konnte. Der kasuistische Umgang mit der Ehrverteidigung weist auf eine Methode hin, die Menschen in der Frühen Neuzeit entwickelten, um Normenkonkurrenz zu vermeiden: Sie erkannten die Normenpluralität als Normalzustand an und strebten eine friedliche Koexistenz zwischen den Normen an, ohne den evangelischen Botschaften den Vorrang abzusprechen. Die Marienverehrung der Katholischen Reform stand ebenfalls im Dienste einer Entschärfung des Problems der Normenkonkurrenz. Ihre Hauptfunktion war es, mit den Mitteln der Frömmigkeit eine gewisse Heilssicherheit für diejenigen in Aussicht zu stellen, deren Leben zwar nicht ganz im Einklang mit dem evangelischen Ideal stand, die jedoch eine aufrichtige Liebe gegenüber der Gottesmutter verspürten. Dies zeigt zum Beispiel das zweibändige Traktat des Jesuiten François Poiré La Triple Couronne de la bienheureuse Vierge Mère de Dieu.18 Poirés Betrachtungen entfalten sich anhand der Idee, die Heilige Jungfrau sei dreifache Königin des Himmels und der Welt. Er geht erstens auf ihre Vollkommenheiten (erste Krone) ein, dann auf ihre davon abgeleitete Macht (zweite Krone), um letztlich zur Güte (dritte Krone) zu gelangen, die sie ihren Dienern erweise. Dank ihrer Gottesmutterschaft besitze Poiré zufolge die Hl. Maria eine unbeschreibliche Macht. Als Mutter Gottes habe sie eine Verfügungsgewalt über ihren Sohn, Jesus Christus; sie habe nicht nur den Heiligen Geist empfangen, sondern sei aktiv am Mysterium der Inkarnation beteiligt gewesen. Dank ihrem Status als Mutter und als Gemahlin Gottes habe sie also Macht über Gott selbst. Sie sei die „Führerin der Kirche“, „Generalin ihrer Heere“, „Schatzmeisterin der Kirche und der Gnaden des Herrn“, „Generalanwältin aller Menschen“ und nicht zuletzt „Königin und Herrin des Universums“.19 Sie besitze also „eine Macht, die ewig in der Dauer, unveränderlich in den Rechten, ohne Grenzen, ohne Vorbehalt über die Untertanen und sowohl auf Erden als auch im Himmel anerkannt“ sei – eine Macht, die sowohl im barocken Zeitalter siehe Albert Jonsen, Stephen Edelston Toulmin: The Abuse of Casuistry. A History of Moral Reasoning. Berkeley 1988, S. 137–227; Rudolf Schüßler: Moral im Zweifel. Band 2: Die Herausforderung des Probabilismus. Paderborn 2006. 18 François Poiré: La Triple Couronne de la bienheureuse Vierge Mère de Dieu. 2 Bde. Paris 1630. 19 Ebd., Bd. 1, 2. Traktat, S. 1–231.
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weltlich als auch geistlich sei.20 Doch Maria sei nicht nur mächtig, sondern auch unendlich in ihrer Güte. Sie fungiere als „richtige Mutter aller Kinder der Kirche“, vor allem der besonders frommen.21 Sie sei „das Prinzip des ewigen Glücks“, und zwar aus mehreren Gründen: Erstens erlöse uns Gott nur durch das fleischgewordene Wort, das er uns durch die Heilige Jungfrau gegeben habe; zweitens habe sie sich am Erlösungswerk durch ihre Schmerzen bei der Kreuzigung Jesu beteiligt; drittens schließlich spende sie – ohne Ausnahme – alle Gnaden Gottes.22 Poiré zufolge war die Marienfrömmigkeit eines Individuums das Zeichen für seine Auserwähltheit: Jeder, der eine wahrhaftige Liebe für die Gottesmutter empfand, zählte seiner Meinung nach zu den Prädestinierten.23 Gewöhnlich gilt die Prädestinationsdoktrin als ein Merkmal des Kalvinismus. Doch Poirés Traktat zeigt, dass selbst Jesuiten an die Prädestination glauben konnten. Dabei war Poiré kein heterodoxer Denker innerhalb der Gesellschaft Jesu. So behauptete der portugiesische Jesuit Francisco Mendoça, es sei „sicher, dass diejenigen, die die Hl. Jungfrau verehren, nicht der Verdammnis preisgegeben werden können“.24 Sein polnischer Ordensbruder Franciszek Fenicki entwickelte seinerseits die Idee, jeder Mensch sei im Grunde genommen ein Diener der Heiligen Maria und brauche nur diese Tatsache anzuerkennen, um das Seelenheil zu finden.25 Viele jesuitische Autoren hatten also eine sehr optimistische Einschätzung der Möglichkeiten des Menschen, den Himmel dank der eigenen Liebe zu und Ehrerweisung für Maria zu erreichen. Der Bibliothekar des bayerischen Herzogs, Aegidius Albertinus, hing ebenfalls dieser Doktrin an. Ihm zufolge war Marias Barmherzigkeit so groß, dass sie niemanden abstoße. In seiner Erbauungsschrift Unser Lieben Frauen Triumph wollte er folglich ebenso wie Poiré zeigen, dass „der jenig, der ein wahre Andacht zu ihr hat, außerwöhlt und fürsehen seye“, wie bereits der Untertitel seines Buchs ankündigt. Nur vor drei Dingen solle man sich in der Welt fürchten: dem Tod, dem Jüngsten Gericht, und der ewigen Verdammnis. Vor letzterer aber „seind wir versichert, sofern die allerheiligste Mutter uns in ihren schutz nimbt, und eben
20 Ebd., Bd. 1, 2. Traktat, S. 232 f. 21 Ebd., Bd. 2, 3. Traktat, S. 259–263. 22 Ebd., Bd. 2, 3. Traktat, S. 270. 23 Ebd., Bd. 2, 3. Traktat. 24 Francisco Mendoça: Viridarium sacrae ac profanae eruditionis. Lugduni 1632, S. 40: „dico periculosam non esse, sed securam huiusmodi loquutionem, impossibile est damnari eum, qui B. Virginem colit. […] Virgini devotus in aeternum perire non potest.“ 25 Franciscus Stanislaus Phoenicius [Fenicki]: Mariae mancipium sive modus tradendi se in mancipium Deiparae Virgini. Lublin 1632.
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dises ist das jenig, darnach sie verlanget […].“26 Obwohl „mit schweren bürden der Sünden beladen“, dürften die Gläubigen sich „vor [der] Majestet“ der heiligen Gottesmutter „erzeigen“, sich „vor den Füssen dieser Jungkfrawen“ niederwerfen, und damit das Seelenheil erlangen.27 In diesem Zusammenhang ist es nicht uninteressant, auf das Phänomen der Konversion auf dem Sterbebett hinzuweisen, deren Geschichte Hillard von Thiessen in seinem Aufsatz über die Normenkonkurrenz erforscht. Für Albertinus stand es außer Frage, dass derjenige, der im Moment seines Todes seine Sünde bereut, in den Himmel aufgenommen werde. Die Mutter der Barmherzigkeit sei so gütig, dass sie niemanden abweise, der sie anruft.28 Gerade ein solcher Glaubenssatz aber entschärfte das Problem der Normenkonkurrenz entschieden, da er Abweichungen von der religiösen Norm während des Lebens ganz offen zuließ. Der Glaube an den ‚guten Tod‘ zeigt also zwar die Normenpluralität frühneuzeitlicher Gesellschaften, aber auch, dass Kleriker und religiöse Autoren in dieser Epoche Methoden propagierten, um Normenkonflikte zu vermeiden. Die Frömmigkeitsvorstellungen und -praktiken hoben das Primat der religiösen Norm nicht auf, begrenzten aber ganz klar die Notwendigkeit, sie stets anzuwenden. Eine solche optimistische Vorstellung der Bereitschaft des Himmels, trotz der Sündhaftigkeit der Menschheit Gnaden und Heil zu spendieren, fand in der Kunst ihren Niederschlag. Die Ikonographie der Himmelfahrt Mariens, ihrer Krönung und besonders ihrer Unbefleckten Empfängnis waren in der Barockzeit sehr verbreitet. All diese Motive heben ihre Glorie und ihre Universalherrschaft hervor.29 Sie transportierten eine Botschaft für den Gläubigen: Werde Diener der Himmelskönigin und du wirst von dem Gnadenfluss trotz all deiner Unzulänglichkeiten profitieren. Die Marienverehrung insgesamt hatte also eine ähnliche Funktion wie die Konversion auf dem Sterbebett: Sie diente dazu, trotz eines sündigen Lebens das Seelenheil zu finden, ja sogar eine gewisse Heilssicherheit zu genießen.
26 Aegidius Albertinus: Unser L. Frauen Triumph: Erstlich ihr Leben begreiffent; Folgents wirdt erwiesen, daß der jenig, der ein wahre Andacht zu ihr hat, außerwöhlt und fürsehen seye; Lestlichen werde schöne Gebett zu unser Lieben Frauen eingeführt. München 1620, S. 233. 27 Ebd., S. 243–244. 28 Ebd., S. 272. 29 Emile Mâle: L’Art religieux après le Concile de Trente: étude sur l’iconographie de la fin du XVIe siècle, du XVIIe, du XVIIIe siècle. Italie – France – Espagne – Flandres. Paris 1932, S. 29–48. Siehe auch Damien Tricoire: What was the Catholic Reformation? Marian Piety and the Universalization of Divine Love. In: The Catholic Historical Review 103 (2017), S. 20–49, hier S. 30–32.
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2 Rigoristen gegen den barocken Marienkult Mitte des siebzehnten Jahrhunderts gerieten jedoch solche Vorstellungen der Katholischen Reform – und vor allem ihre jesuitische Variante – von rigoristischer Seite in die Kritik. Rigoristen waren Katholiken, die von der augustinischen Theologie beeinflusst waren. Den radikalen Flügel des Rigorismus bildeten die sogenannten ‚Jansenisten‘. Laut den Rigoristen konnte der Mensch erst durch eine wahrhaftige Imitation Christi die göttliche Gnade erlangen. Die meisten Menschen seien jedoch weit davon entfernt und liefen auf ihre Verdammnis zu. Rigoristen traten somit für eine volle Durchsetzung der biblischen Gebote ein, ohne sich Illusionen darüber zu machen, dass die durch die Erbsünde korrumpierten Menschen zu einer solchen Vollkommenheit fähig seien.30 Die rigoristische Kritik der religiösen Vorstellungswelt der Katholischen Reform jesuitischer Prägung machte vor dem etablierten Marienkult nicht halt. Es war vor allem der Jansenist, Philosoph und Mathematiker Blaise Pascal, der die Kampagne gegen den barocken Marienkult eröffnete: 1657 unterzog er das Werk des französischen Jesuiten Paul de Barry Le paradis ouvert à Philagie par cent dévotions à la Mère de Dieu (1644), das die Erlangung des Seelenheils durch die Marienfrömmigkeit in Aussicht stellte, einer scharfen Kritik.31 In den folgenden Jahrzehnten entwickelten Rigoristen eine Fundamentalkritik der Marienfrömmigkeit der Katholischen Reform. Zwar gaben sie an, die Hl. Maria zu verehren, doch äußerten sie vielfach die Sorge, eine falsch verstandene Verehrung der Gottesmutter könne die Menschen von der Verehrung Gottes abbringen und den Menschen eine trügerische Heilssicherheit vermitteln.32 30 Zum Rigorismus und dem Jansenismus im Allgemeinen: Jean-Louis Quantin: Le Rigorisme chrétien. Paris 2001; Jean Orcibal: Les origines du jansénisme. Paris 1947; Louis Cognet: Le Jansénisme. Paris 1964; Monique Cottret: Histoire du Jansénisme, XVIIe–XIXe siècle. Paris 2016; Brian E. Strayer: Suffering Saints. Jansenists and Convulsionnaires in France, 1640–1799. Brighton 2008; Jennifer Hillman: Female Piety and the Catholic Reformation in France. London 2014. 31 Blaise Pascal: Les provinciales ou Lettres écrites par Louis de Montalte à un provincial de ses amis et aux RR. PP. Jésuites. Paris 1992, S. 153–170 (neunter Brief). 32 Zusätzlich zu den unten zusammengefassten Schriften von Bossuet und Widenfeldt siehe insbesondere folgende rigoristische Schriften über die Hl. Maria, die ähnliche Ideen propagierten: Gilbert de Choiseul: Lettre pastorale de monseigneur l’illustriss. & reverendiss. évesque de Tournay, aux fidèles de son diocèse sur le culte de la très-sainte Vierge & des Saints à l’occasion du livre des Avis salutaires de la bien-heureuse Vierge Marie à ses devots indiscrets. Lille 1674; Gabriel Gerberon (?): Lettre à monseigneur Abelly, evesque de Rodez, touchant son livre des „Excellences de la sainte Vierge, etc“. Pour servir de réponse dit-il, à un libelle intitulé: „Avertissemens salutaires de la B. Vierge à ses dévots indiscrets“. O Lille (?) 1674; [Adrien Baillet:] De la dévotion à la sainte Vierge, et du culte qui lui est dû. Paris 1693; Pasquier Quesnel: Prieres chretiennes en forme de meditations sur tous les mysteres de Notre Seigneur, et de la sainte Vierge. Paris 1695.
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Nicht nur Jansenisten, sondern auch moderate Rigoristen wie Bossuet33 – wohl der einflussreichste französische Kleriker während der Herrschaft Ludwigs XIV. – brachten eine solche Sorge zum Ausdruck. So verkündete Bossuet in einer Predigt im Jahr 1669, man solle in der Heiligen Maria „nur die Wunder des Allmächtigen verehren“.34 Maria könne nicht als eine autonome Quelle des Heils betrachtet werden und nur Christus könne als Mittler zwischen den Menschen und Gott gelten: „Wir haben nur einen Gott, also haben wir nur einen universalen Mittler und er ist es, der uns durch sein Blut errettet hat“.35 Auch sei es unsinnig, zu glauben, es sei einfacher, Gottes Barmherzigkeit zu erlangen, wenn man sich an Maria wende und ihr schmeichele. Maria und die Heiligen seien nicht wie gewöhnliche Menschen; sie seien ein Wille mit Gott und erwarteten nur tugendhaftes Verhalten. Wenn Menschen der Heiligen Maria und den Heiligen dienten, dann nicht, um deren Ruhm zu mehren – denn dieser Ruhm könne nicht durch die Handlungen von Menschen, wenig würdigen Wesen, vermehrt werden. Der einzige Zweck der Heiligenverehrung sei, die Gläubigen zur Nachahmung ihrer Tugenden zu animieren. Die große Mehrheit der Marienverehrer seien aber nur dem Anschein nach devot, weil sie sich kaum bemühten, die Gottesmutter zu imitieren. Stattdessen versuchten sie, die Hl. Maria für ihre irdischen Belange zu instrumentalisieren. Erst wenn eine Familie von Tod und Krankheit bedroht sei, würden die Menschen fromm. Doch solch eine eigennützige Frömmigkeit ekle die Hl. Jungfrau an.36 Eine heftige Kontroverse um die Marienfrömmigkeit brach jedoch erst mit den anfangs zitierten Monita salutaria Adam Widenfeldts (1674) aus. Um seinem Buch mehr Brisanz zu verleihen, hatte Widenfeldt nicht davor zurückgeschreckt, auf ein beliebtes Mittel der Pamphletliteratur zurückzugreifen: Er ließ die Heilige Gottesmutter unmittelbar sprechen. Die allgemeine theologische Ausrichtung der Monita salutaria unterschied sich nicht wesentlich von Bossuets Predigt. Doch der Ton dieser Schrift war ungleich aggressiver. Widenfeldt ließ die Hl. Maria sagen, man solle nicht „all den kleinen Geschichten über [ihre] Erscheinungen, [ihre] Offenbarungen, [ihre] Gnaden, [ihre] Privilegien“ glauben.37 Christen sollten keine Götzenanbeter sein und Vertrauen in Statuen und Bilder setzen. Menschen
33 Über Bossuets religiöse und soziale Zielsetzung siehe Fabrice Preyat: Le Petit Concile de Bossuet et la christianisation des moeurs et des pratiques littéraires sous Louis XIV. Berlin 2007. 34 Jacques-Bénigne Bossuet: Oeuvres de messire Jacques-Bénigne Bossuet, évèque de Meaux, […] Nouvelle édition revue sur les manuscrits originaux et les éditions les plus correctes […]. Band 4. Paris 1772, S. 277. 35 Ebd., S. 279. 36 Ebd., S. 281–288. 37 Widenfeldt, Avis salutaires (Anm. 1), S. 2.
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sollten auch nicht glauben, „zu den Prädestinierten aufgrund irgendeines kleinen Kultes“ zu gehören38 – ein Hieb auf Theorien wie die Poirés oder Albertinus’. Es sei der Teufel, der die Idee verbreite, „eine einfache und äußerliche Frömmigkeit“ führe zum Seelenheil.39 In Widenfeldts Buch verkündet die Gottesmutter, weder Barmherzigkeit noch Mitleid für diejenigen zu haben, die ihr Sohn zur ewigen Verdammnis verurteilt habe. Sie spottet über diejenigen, die sich auf „das schwache Schilfrohr einer äußerlichen Frömmigkeit stützen“.40 Die Hl. Jungfrau verkündet, angewidert und entsetzt über die Hoffnung derjenigen zu sein, die von sich meinten, Marienverehrer zu sein.41 Der rigoristische Angriff auf die barocke Marienfrömmigkeit ging auch mit einer Kritik an der religiösen Kunst einher. Bossuet sagt, die Maler ließen sich zu sehr von ihrer Einbildungskraft verführen. Die Heilige Maria zeichne sich durch ihre Demut und ihren Gehorsam aus, nicht durch den in der Kunst zur Schau getragenen Prunk. Wichtiger als Bilder der Gottesmutter aufzustellen, sei es, selbst zu Abbildern von ihr zu werden.42 In Widenfeldts Buch wendet sich die Heilige Jungfrau gegen den reichen Schmuck in den Kirchen, „während Jesus Christus in Gestalt der Armen leidet“.43 Die rigoristischen Schriften stimmen darin überein, dass Gott und Maria nicht von dem irdischen und äußerlichen Glanz der Kirchen und Kunstwerke berührt werden könnten, sondern dass sie vielmehr entsetzt darüber seien. Adam Widenfeldts Monita salutaria provozierten eine heftige Kontroverse. Dominicus de Colonia, der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts eine Bibliographie dieser Auseinandersetzungen zusammenstellte, konnte über 40 Titel allein aus den Jahren 1674 und 1675 identifizieren. Die Teilnehmer an der Kontroverse stammten vor allem aus dem deutsch-, niederländisch- und französischsprachigen Raum. Nicht nur Katholiken, sondern auch Protestanten meldeten sich zu Wort – letztere mit dem Hinweis, dass die Katholiken nun anfingen, ihre Fehler einzugestehen.44
38 Ebd., S. 2 f. 39 Ebd., S. 4. 40 Ebd. 41 Ebd., S. 6–14. 42 Bossuet, Oeuvres (Anm. 34), Band 4. S. 282. 43 Widenfeldt, Avis salutaires (Anm. 1), S. 15–17, Zitat S. 15. 44 Dominique de Colonia: Dictionnaire des livres jansénistes, ou qui favorisent le jansénisme. Genève 1968, S. 54–56. Es handelt sich um einen Reprint einer rigoristischen Aneignung des Werks von Dominicus de Colonia, die 1761 in Brüssel unter folgendem Titel erschienen ist: Dictionnaire des livres opposés à la morale de la Société des soy-disant Jésuites, condamnés par leurs intrigues et justifiés par le parallele qu’on en fera avec la morale de ceux condamnés par l’Arret du Parlement en date du 6. Août 1761. Bruxelles 1761, hier Band 1, S. 171–176. Das Werk von Dominicus de Colonia ist ursprünglich 1752 erschienen.
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Die Kontroverse verstummte auch in den nächsten Jahrzehnten nicht.45 Im frühen achtzehnten Jahrhundert gingen manche Prälaten wie der Bischof von Troyes Jacques-Bénigne Bossuet – ein Neffe des gleichnamigen berühmteren Predigers und Bischofs von Meaux – unter dem Einfluss des Rigorismus dazu über, die Liturgie zu vereinfachen und zahlreiche Mariengebete zu streichen.46
Schlussfolgerung Die Geschichte der Auseinandersetzungen um den Marienkult und ihres Niederschlags in unterschiedlichen Medien zeigt, dass der Katholizismus der Frühen Neuzeit von einer Spannung zwischen der Adaptation an die Erwartungen zahlreicher Gläubigen und den Forderungen nach einer strengen Durchsetzung biblischer Gebote durchzogen war. Sowohl Rigoristen als auch Akkommodationisten waren Katholiken. Doch sie vertraten diametral entgegengesetzte Meinungen über den Menschen, sein Verhältnis zu Gott, die Sakramenten- und Kultpraxis und die Gestaltung der Kirchen. Es gab keinen klerikalen Block, der versucht hätte, religiöse gegen soziale Normen durchzusetzen, sondern ein ganzes Spektrum an Meinungen innerhalb des Katholizismus, deren Anhänger oft einen verbitterten Kampf gegeneinander führten. Die Marienfrömmigkeit kann daher in diesem Kontext nicht als ein Merkmal des Katholizismus in Abgrenzung zum Protestantismus gelten. Es gab vielmehr unterschiedliche Marienfrömmigkeiten innerhalb des Katholizismus, von denen manche wohl nicht allzu weit von manchen protestantischen wie der von Gdacjusz entfernt waren. Die religiöse Landschaft Europas war in der Frühen Neuzeit weitaus komplexer, als es der Verweis auf die Konfessionen suggeriert.
45 Bremond, Histoire littéraire (Anm. 9), Band 9, S. 259–270. 46 Missale Sanctae ecclesiae Trecensis, illustrissimi ac reverendissimi D. D. Jacobi Benigni Bossuet, Trecensis episcopi autoritate, et ejusdem ecclesiae capituli consensu, editum. Trecis 1736.
Maria Schaller
„Meminisse et imitari“ Die Jungfrau Maria in den Insignien der Herforder Damenstifte
1 „Wie es mit der Religion eigentlich gehalten werde?“ Das Hochstift in Herford (monasterium Herfordense) wurde am Ende des achten Jahrhunderts eingerichtet und 823 zur Reichsabtei erhoben. Im zwölften Jahrhundert erlangte es die Reichsunmittelbarkeit und wurde somit ein eigenständiges Territorium des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation.1 Nach der Herforder Vision, die als früheste bekannte Marienerscheinung nördlich der Alpen gilt, war indessen bereits um das Jahr 1011 auf dem Luttenberg ein Tochterkloster zu Ehren der Mutter Gottes (monasterium in honorem sanctae Dei genitricis Mariae) gegründet worden. Die erstmalige Bezeichnung dieser Filiale als freiweltliches Damenstift ist für das Jahr 1570 belegt.2 Während die Aufnahme in das Hochstift ausschließlich fürstlichen und gräflichen Adelstöchtern vorbehalten war, konnten sich im Stift auf dem Berge die Damen des niederen Adels um vakante Stellen bewerben.3 An der Spitze beider Herforder Frauenstifte stand eine in der Fürstabtei residierende Äbtissin, die auf dem Reichstag vertreten war und bis zur Reformation neben dem Kaiser nur den Papst als übergeordnete Herrschaftsinstanz akzeptierte.4 1 Vgl. Hans Peter Hankel: Die reichsunmittelbaren evangelischen Damenstifte im Alten Reich und ihr Ende. Eine vergleichende Untersuchung. Frankfurt a. M. 1996, S. 38, 71, 76. Eine ausführlichere Darstellung bietet Martin Kroker: Kaiser, König und fromme Frauen – Das Reichsstift Herford in ottonischer, salischer und staufischer Zeit. In: Fromme Frauen und Ordensmänner. Klöster und Stifte im heiligen Herford. Hg. von Olaf Schirmeister. Herford 2000, S. 77–126. 2 Vgl. Philipp Claus, Tim Rahe: Versorgungsinstitut für adlige Fräuleins? Zur Funktion des Stifts St. Marien auf dem Berge vor Herford im Vorfeld der Säkularisation. In: Historisches Jahrbuch für den Kreis Herford 20 (2013), S. 173–191, hier S. 174; Christoph Laue: 1000 Jahre Marienstift auf dem Berge vor Herford. In: Historisches Jahrbuch für den Kreis Herford 19 (2012), S. 188–208, hier S. 189 f., 195, 205; Hankel (Anm. 1), S. 38 sowie Klemens Honselmann: Die Herforder Marien-Vision. Ein unbekannter Bericht aus der Mitte des 10. Jahrhunderts. In: Westfälische Zeitschrift 131/132 (1981/1982), S. 243–256. 3 Vgl. Hankel (Anm. 1), S. 28 f. sowie Thorsten Heese: Mit Schulterband und Schleife „… zum Lustre Unsers Stifts …“ Ehre, Eitelkeiten und Intrigen im Zeichen des Herforder Damenstiftsordens. In: Historisches Jahrbuch für den Kreis Herford 2 (1994), S. 65–100, hier S. 65. 4 Vgl. Teresa Schröder-Stapper: Fürstäbtissinnen. Frühneuzeitliche Stiftsherrschaften zwischen Verwandtschaft, Lokalgewalten und Reichsverband. Köln u. a. 2015, S. 32; dies.: Fürstäbtissinnen https://doi.org/10.1515/9783110665109-010
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Nachdem sich die lutherische Lehre in der Stadt Herford bereits seit 1530 durchgesetzt hatte, wurde sie 1548 auch im Marienstift auf dem Berge eingeführt. Das Hochstift hielt unterdessen noch bis zum Jahre 1565 am alten Glauben fest.5 In der Folge nahm die Herforder Reichsabtei als einziges freiweltliches adeliges Frauenstift, in das sowohl lutherische als auch reformierte Damen aus dem Hochadel aufgenommen wurden, einen Sonderstatus ein.6 So heißt es in einem „Pro Memoria Wie das Stift und die Stadt Herford beschaffen“, das wahrscheinlich aus dem Jahre 1744, zumindest aber aus der Regierungszeit der Äbtissin Johanna Charlotte von Brandenburg-Schwedt (reg. 1729–1750) stammt: „Wie es mit der Religion eigentlich gehalten werde? Lutheraner und Reformirte wohl, aber Catholiken gelangen nicht ins Stift.“7 Vor diesem Hintergrund muss die Gestaltung des Ordens verwundern, den die reformierte8 Fürstäbtissin zu ihrem Amtsantritt zunächst selbst anlegte und hierauf auch den ihr untergebenen Damen beider Herforder Frauenstifte verlieh.9 Das in diesem Beitrag zu untersuchende Kleinod kann in einem der zahlreichen Bildnisse Johanna Charlottes näher betrachtet werden (Abb. 1): Es handelt sich hierbei um ein Ölgemälde aus dem Besitz der Kulturstiftung DessauWörlitz. Ein anonymer Künstler hat es nach 1729 gefertigt und nahm – wie anzunehmen ist – hierzu ein anderes Porträt der Äbtissin zur Vorlage, das heute im Städtischen Museum in Herford ausgestellt ist. Als sitzende Halbfigur wird Johanna Charlotte in einem blauen Kleid und mit einem Witwenschleier auf dem Haupt präsentiert. Der Herforder Stiftsorden ist unterhalb ihrer linken Brust an einer leuchtend roten Schärpe befestigt. Auf der Vorderseite des Schmuckstückes mit den weiß-roten Kreuzarmen ist ein hochovales Medaillon angebracht, das bemerkenswerterweise ein Marienmotiv zeigt (Abb. 2).10 im Alten Reich. Möglichkeiten und Grenzen politischen Handelns (Essen, Herford, Quedlinburg). In: Neue Räume – Neue Strukturen. Barockisierung mittelalterlicher Frauenstifte. Hg. von Klaus Gereon Beuckers, Birgitta Falk. Essen 2014 (Essener Forschungen zum Frauenstift 12), S. 347–368 sowie Hankel (Anm. 1), S. 31, 79–81. 5 Vgl. Claus, Rahe (Anm. 2), S. 174; Laue (Anm. 2), S. 194; Helge Bei der Wieden: Die konfessionellen Verhältnisse in der Reichsabtei Herford. In: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 102 (2004), S. 267–279, hier S. 268, 271; ders.: Die Äbtissinnen der Reichsabtei Herford in der Neuzeit. In: Historisches Jahrbuch für den Kreis Herford 8 (2000), S. 31–54, hier S. 33 sowie Hankel (Anm. 1), S. 39, 86 f. 6 Vgl. Bei der Wieden: Verhältnisse (Anm. 5), S. 268 f., 271–279; ders.: Äbtissinnen (Anm. 5), S. 35; Hankel (Anm. 1), S. 88 sowie Heese: Schulterband (Anm. 3), S. 66. 7 Niedersächsisches Landesarchiv, Oldenburg, Best. 30–1–26 Nr. 1, fol. 177. Vgl. außerdem Bei der Wieden: Verhältnisse (Anm. 5), S. 278 sowie ders.: Äbtissinnen (Anm. 5), S. 48, Anm. 30. 8 Vgl. Bei der Wieden: Verhältnisse (Anm. 5), S. 274, 277 sowie ders.: Äbtissinnen (Anm. 5), S. 44. 9 Vgl. Heese: Schulterband (Anm. 3), S. 70–72. 10 Vgl. Museumsverband Sachsen-Anhalt e. V.: museum-digital: sachsen-anhalt. Johanna Charlotte von Brandenburg-Schwedt, (12.02.2018); Wolfgang Savelsberg: Katalogbeitrag I. 18. Bildnis der Johanna Charlotte Prinzessin von Anhalt-Dessau, Markgräfin von Brandenburg-Schwedt als Äbtissin von Herford (1682–1750). In: Kat. Ausst. Dazugewonnen. Neuerwerbungen, Schenkungen, Restaurierungen. Hg. von Thomas Weiss. Mosigkau, Schloss Mosigkau. Dessau 2001, S. 26 und Abb. Tafel S. 71. Zu dem Porträt, das in Herford aufbewahrt wird, vgl. außerdem Heese: Schulterband (Anm. 3), S. 94, Verzeichnis 2, C.3. 11 Die Mehrzahl dieser Porträts befindet sich im Städtischen Museum in Herford. Einen guten Überblick zu den Gemälden geben die Beiträge Heese: Schulterband (Anm. 3), S. 94, Verzeichnis 2
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grund zeitgenössischer Schriftquellen.12 So berichtet Carl Ludewig (auch: Karl Ludwig) Storch in seiner 1748 publizierten Herforder Chronica: Auf einer Seites dieses Orden=Stücke [der Vorderseite] stehet die Jungfrau Maria mit dem Kindlein JEsu, abgebildet, wobey sich folgende Worte finden: Meminisse et imitari. [Übersetzung: sich erinnern und imitieren] Und auf der andern Seite [der Rückseite] ist der Nahme der Durchlauchtigsten Stifterin nebst der Jahrs=Zahl M D CC XXIX befindlich.13
Während die öffentlich zur Schau gestellte Vorderseite des Herforder Stiftsordens das Bild der Mutter Gottes mit dem Christusknaben zeigt, diente die verborgene Rückseite Johanna Charlotte von Brandenburg-Schwedt zur Legitimation des eigenen Status. Wie Franz Varrentrapps Neuauflage des Genealogisch-schematischen Reichs- und Staatshandbuches von 1751 zu entnehmen ist, betonte die Fürst äbtissin an dieser Stelle explizit, dass sie als erste Herforder Äbtissin aus dem Witwenstand in ihr neues Amt erhoben wurde.14 Mit der Machtübernahme der späteren Vorsteherinnen der Herforder Damenstifte sollte die Reversseite immer wieder neu gestaltet werden. Ganz anders blieb die Aversseite des Stiftsordens über die Regierungszeit der drei letzten Herforder Äbtissinnen hinweg von jeglichen Veränderungen ausgenommen. So findet sich auch auf dem einzigen bekannten, noch erhaltenen Herforder Stiftsorden aus der Amtsperiode der reformierten15 Fürstäbtissin Friederike Charlotte von Brandenburg-Schwedt (reg. 1764–1802) das eben beschriebene Marienbild (Abb. 3). Nachdem ihre Großmutter, Johanna Charlotte, das Marienmotiv zur Gestaltung der Vorderseite des Schmuckstückes
sowie ders.: Trägerinnen und Träger des Herforder Damenstiftsordens. In: Beiträge zur westfälischen Familienforschung 51 (1993), S. 225–249. 12 Die Statuten des Herforder Stiftsordens vom 20. August 1729, in denen Thorsten Heese ebenfalls eine Beschreibung des Kleinods vermutete, sind entgegen seiner Behauptung nicht verschollen. Teresa Schröder-Stapper hat sie im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen Abteilung Westfalen in Münster unter der Signatur Fürstabtei Herford, Akten Nr. 1056 wiederentdeckt. Die Durchsicht zeigte jedoch, dass dieses schriftliche Zeugnis keine weiteren Hinweise bezüglich der bemerkenswerten Gestaltung des Ordenskreuzes gibt. Vgl. Schröder-Stapper: Fürstäbtissinnen (Anm. 4), S. 377 sowie Heese: Schulterband (Anm. 3), S. 72. 13 Carl Ludewig Storch: Chronica, Oder: Kurtzgefasste Nachrichten von der Stadt Herford, Im Westphälischen Creise gelegen; Nebst Einem Verzeichnis der Hochfürstl. Aebtissinnen daselbst. 6. Auflage. Bielefeld 1748, S. 86. Vgl. außerdem Heese: Schulterband (Anm. 3), S. 72, 97, Anm. 37 sowie ders.: Das ‚heilige Herford‘ und seine Chronisten. In: Fromme Frauen und Ordensmänner. Klöster und Stifte im heiligen Herford. Hg. von Olaf Schirmeister. Herford 2000, S. 37–70, hier S. 42 f. 14 Vgl. Franz Varrentrapp: Neues genealogisch-schematisches Reichs- und Staats-Handbuch, Frankfurt a. M. 1751. Vgl. außerdem Heese: Schulterband (Anm. 3), S. 72 f., 97, Anm. 37 und 42. 15 Vgl. Bei der Wieden: Verhältnisse (Anm. 5), S. 274, 279 sowie ders.: Äbtissinnen (Anm. 5), S. 46.
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Abb. 3: Stiftsorden der Herforder Damenstifte, aus der Regierungszeit der letzten Fürstäbtissin (nach 1764), Gold, mehrfarbig emailliert, Porzellan, 6,4 × 5,4 × 0,9 cm, Herford, Daniel-Pöppelmann-Haus.
ausgewählt hatte, war es auch von deren direkten Nachfolgerin, der lutherischen16 Fürstäbtissin Hedwig Sophie von Schleswig-Holstein-Gottorf (reg. 1750–1764) zur symbolischen Repräsentation der beiden Herforder Frauenstifte verwendet worden.17 Unabhängig von ihrer Konfession verband alle Damen der Reichsabtei wie des Tochterstifts St. Marien auf dem Berge, dass sie bis zur Säkularisation und Aufhebung beider Institutionen zu Beginn des 19. Jahrhunderts das gleiche Marienbild an ihrem Körper trugen.18
16 Vgl. Bei der Wieden: Verhältnisse (Anm. 5), S. 274, 279 sowie ders.: Äbtissinnen (Anm. 5), S. 34 f., 45. 17 Vgl. Heese: Schulterband (Anm. 3), S. 71 f., 78 f., 83; Rainer Pape, Lise Huchzermeyer: Wertvolles und Verborgenes aus dem Herforder Museum. Herford 1991 (Freie und Hansestadt Herford 8), S. 60–62; Günther Schlegtendal: Zum Orden der Fürstabtei Herford. In: Der Remensnider 12 (1972), S. 5, 7, hier ebd.; Otto Lewe: Orden der letzten Herforder Fürstäbtissin. In: Der MindenRavensberger 55 (1983), S. 106, hier ebd. sowie Hans Steinhäuser: Der Orden der Abtei Herford MEMINISSE ET IMITARI. In: Der Remensnider 3 (1982), S. 71, hier ebd. 18 Vgl. Bei der Wieden: Verhältnisse (Anm. 5), S. 278; Heese: Schulterband (Anm. 3), S. 88–91 sowie Hankel (Anm. 1), S. 104, 106 f., 137–146, 186–190.
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3 Das Marienbild als Verweis auf die Geschichte und Kontinuität der Herforder Damenstifte Vor der Folie der skizzierten konfessionellen Verhältnisse in den beiden Herforder Damenstiften mutet bereits die Tatsache, dass die Ordensstifterin ein Marienbild zur Gestaltung der Vorderseite des Ordenskreuzes auswählte, auf den ersten Blick äußerst befremdlich an.19 Mit Verweis auf die ältere Forschung bemerkte Thorsten Heese, dass der bisherigen Deutung zufolge das Marienmotiv der Erinnerung an die ursprüngliche Patronin des Hochstifts dienen sollte, deren Verehrung durch die Überführung der Reliquien der heiligen Pusinna nach Herford im Jahre 860 verdrängt worden sei.20 Die von Rainer Pape in diesem Zusammenhang geäußerte Vermutung, eine Hinwendung zum Pietismus könnte Johanna Charlotte von Brandenburg-Schwedt zu einer „Rückbesinnung auf die katholische Tradition“21 und die Auswahl der Jungfrau Maria mit dem Jesuskind als Ordensbild veranlasst haben, ist bisher unbelegt geblieben.22 Demgegenüber konstatierte Heese, dass sowohl das Kapitel des Hochstifts als auch das des Stifts auf dem Berge Darstellungen der Mutter Gottes mit dem Christusknaben kontinuierlich als Hoheitszeichen in ihren jeweiligen Siegeln verwendet haben.23 In den noch erhaltenen mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Siegeln der Herforder Damenstifte wird die Gottesmutter weitaus vielfältiger präsentiert, als Heeses Ausführungen vermuten lassen.24 Denoch erscheint die These, dass die Auswahl des Marienmotivs als Ausdruck eines Bewusstseins für die Geschichte und die Kontinuität der Herforder Damenstifte verstanden werden kann, vor dem Hintergrund der traditionellen Verwendung von Mariensiegeln in beiden Institutionen durchaus plausibel.25 Als problematisch erweist sich hingegen die Schlussfolgerung, zu der Heese in Bezug auf die Gestaltung der Vorderseite des Herforder Stiftsordens kam. Demnach enthülle die ikonographische Deutung des Ordensbildes im Wesentlichen ein mit-
19 Siehe auch Heese: Schulterband (Anm. 3), S. 72. 20 Vgl. ebd. 21 Pape, Huchzermeyer (Anm. 17), S. 60, 62. 22 Vgl. ebd. 23 Vgl. Heese: Schulterband (Anm. 3), S. 73. 24 Die mittelalterlichen Siegel, die Heese zur Unterstützung seiner Argumentation anführt, sind u. a. abgebildet bei Friedrich Philippi: Die Westfälischen Siegel des Mittelalters. Hft. 1. Münster 1882, Tafel 8, Nr. 5 sowie Theodor Ilgen: Die Westfälischen Siegel des Mittelalters. Hft. 3. Münster 1889, Tafel 113, Nr. 2 und Nr. 5–7 sowie Tafel 126, Nr. 9. Jüngere Abdrücke des Kapitelsiegels der Reichsabtei von 1686 bzw. 1750 finden sich demgegenüber im Landesarchiv in Münster unter der Signatur Fürstabtei Herford, Akten Nr. 274 bzw. Urkunden, Nr. 1714. 25 Heese: Schulterband (Anm. 3), S. 73.
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telalterliches Marienverständnis, von dem im 18. Jahrhundert nicht viel mehr als die äußere Form geblieben sei. So werde das alte Marienmotiv lediglich durch das lateinische Motto MEMINISSE ET IMITARI mit neuem Leben gefüllt, das die Stiftsdamen dazu aufrufen solle, gemäß den Tugenden der Jungfrau Maria ein keusches und züchtiges Leben zu führen.26 Ausgehend von einer Analyse der spezifischen Besonderheiten des Marienbildes wird im Folgenden erläutert werden, dass die für den Herforder Stiftsorden gewählte Präsentationsformel der Mutter Gottes keineswegs sinnentleert war, sondern vielmehr an sehr konkrete Darstellungstraditionen anzuknüpfen suchte.
4 Ein konfessionell kontroverses Marienbild am Körper der Stiftsdamen? Bei näherer Betrachtung des Marienbildes auf der Vorderseite des auf uns gekommenen Herforder Stiftsordens (Abb. 3) fallen zunächst die streng frontale Ausrichtung, Symmetrie und statische Haltung der stehenden Gottesmutter auf. Das Bild der Jungfrau Maria mit dem Jesuskind erhält durch diese Darstellungsweise einen besonders altehrwürdigen Charakter. Als weitere Besonderheit ist festzuhalten, dass die Mutter Gottes durch die goldene Krone und den Lilienzepter in ihrer Rechten als Himmelskönigin ausgezeichnet ist.27 Die sie umgebenen goldenen Zacken bringen den in ein blau-weißes Gewand gehüllten Körper Mariens förmlich zum Leuchten. Von diesem Strahlenkranz umfangen wird sie als das mit der Sonne umkleidete, apokalyptische Weib, die am Himmel erscheinende mulier amicta sole gekennzeichnet (Offb 12,1).28 In dem Marienbild des Herforder Stiftsordens ist ein traditionelles, ikonographisches Vokabular zu einem ‚Amalgam‘ verschmolzen, das meines Erachtens auf die Darstellungstradition der ‚Unbefleckten Empfängnis‘ Mariens anspielt, sich jedoch zugleich ganz eindeutig von dieser abzuheben sucht.29 Die Differenzen zu Bildern der Maria Immaculata treten besonders deutlich im Vergleich mit Insignien hervor, die im 18. Jahrhundert in katholischen Damenstiften in Böhmen bzw. Mähren verliehen wurden (Abb. 4–6). Während Maria Theresia von Österreich (1717–1780) 26 Vgl. ebd. 27 Siehe auch ebd., S. 72. 28 Siehe auch ebd., S. 72 f. 29 Zur Ikonographie der ‚Unbefleckten Empfängnis‘ Mariens vgl. Jean Fournée: Art. Immaculata Conceptio. In: Lexikon der christlichen Ikonographie. Band 2 (F–K). Hg. von Engelbert Kirschbaum. Freiburg i.Br. 1994, Sp. 338–344, hier: Sp. 340–343.
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Abb. 4: Stiftsorden des adeligen Damenstiftes am Hradschin in Prag, im Jahre 1755 verliehen, Gold, mehrfarbig emailliert, unbekannte Größe, Privatbesitz.
Abb. 5 und 6: Stiftsorden des adeligen Damenstiftes Maria Schul in Brünn, wahrscheinlich erst im Jahre 1792 verliehen, Abzeichen der Stiftsdamen: Meister AK, Gold, mehrfarbig emailliert, unbekannte Größe, Privatbesitz/Abzeichen der Stiftsdamen oder Präbendinnen (?): Silber, mehrfarbig emailliert, unbekannte Größe, Privatbesitz.
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den Orden des von ihr eingerichteten adeligen Damenstiftes am Hradschin in Prag bereits zur Gründung desselben im Jahre 1755 gestiftet hatte, wurde das Kleinod des 1654 begründeten adeligen Damenstiftes Maria Schul zu Brünn wahrscheinlich erst im Jahre 1792 von Leopold II. (1747–1792) verliehen.30 In der Gestaltung der Ordensdekorationen beider Damenstifte spiegelt sich die ‚Pietas Mariana‘ als wesentlicher Bestandteil der ‚Pietas Austriaca‘ des Barockzeitalters wider, wobei sich das Haus Österreich in seinem Einsatz für die katholische Kirche dezidiert unter den Schutz der Maria Immaculata stellte.31 Die in Prag (Abb. 4) bzw. Brünn (Abb. 5 und 6) getragenen Stiftsorden betonen die Eleganz und Grazie der als kindliche Frau mit zierlichen Körperproportionen und gefalteten Händen präsentierten Maria, die in dem erstgenannten Beispiel auf einer Mondsichel steht. Ganz anders besitzt Maria im Herforder Stiftsorden durch ihre wenig anmutige Pose, das zu kurz geratene Unterkleid und die klobigen Schuhe einen fast bäurischen Ausdruck, der das Bild der mit Hoheitszeichen ausgestatteten ‚Himmelskönigin‘ spannungsvoll bricht. Durch den aufrecht auf ihrem linken Arm sitzenden Christusknaben wird Maria in dem von Johanna Charlotte von Brandenburg-Schwedt gestifteten Orden in erster Linie als Mutter Gottes charakterisiert.32 Das leicht von der linken Schulter herabgerutschte Gewand könnte hierbei die Freilegung der Brust Mariens andeuten, um subtil auf ihre Rolle als Gottesgebärerin und -ernährerin, d. h. ihre fürsorgliche Mutterschaft, anzuspielen. Es stellt sich die Frage, ob die in dem Herforder Stiftsorden dezidiert hervorgehobenen Qualitäten der Gottesmutter einer Marienverehrung im Verständnis Martin Luthers und Johannes Calvins entsprechen.
30 Vgl. Johann Stolzer, Mario Strigl: Katalogbeiträge zum Adeligen Damenstift Maria Schul in Brünn. 6.1 Abzeichen der Stiftsdamen, 6.2 Abzeichen der Stiftsdamen oder Präbendinnen (?) sowie zum Adeligen Damenstift am Hradschin in Prag, 6.3 Abzeichen der Stiftsdamen. In: Kat. Ausst. Barock. Blütezeit der europäischen Ritterorden. Bearbeitet von Hermann Dikowitsch u. a. Schallaburg, St. Pölten 2000, S. 130–132; Maximilian Gritzner: Handbuch der im Deutschen Reiche, in Oesterreich-Ungarn, Dänemark, Schweden und den Russischen Ostseeprovinzen bestehenden Damen-Stifter und im Range gleichstehender Wohltätigkeitsanstalten, nebst den Ordenszeichen der Ersteren. Frankfurt a. M. 1893, S. 45–47 und Tafel III, Nr. 15 sowie S. 184–186 und Tafel XI, Nr. 76 a. 31 Zur ‚Pietas Austriaca‘ vgl. Anna Coreth: Pietas Austriaca. Österreichische Frömmigkeit im Barock. Zweite, erweiterte Auflage. Wien 1982, S. 6 f. 14, 45–47, insbesondere S. 47. 32 Siehe auch Lewe (Anm. 17), S. 106; Steinhäuser (Anm. 17), S. 71.
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5 Zur Marienverehrung im Verständnis Martin Luthers und Johannes Calvins In Bezug auf die der frühneuzeitlich-protestantischen Tradition zugrunde liegende Marienverehrung im Verständnis der Reformatoren erklärte Johann Anselm Steiger: „Die noch heute nicht selten anzutreffende Anschauung, protestantische Theologie und Frömmigkeit habe mit der Mutter Gottes nichts oder doch nur sehr wenig am Hute, ist unzutreffend.“33 Tatsächlich zeichnet sich in den Schriften der Reformatoren die besondere Stellung Marias deutlich ab.34 Insbesondere bei Martin Luther – etwa in seinem Kommentar zum Magnifikat (Lk 1,46–55) von 1521 – wird die Vorrangstellung der Gottesmutter explizit zum Ausdruck gebracht.35 In einer Predigt zum Weihnachtsabend des Jahres 1532 bezeichnete der Reformator Maria als „hochste fraw und das edlest kleinot post Christum in Christianitate“36 und pries sie 1537 in einem weiteren Sermon mit den Worten „Nulla femina dir gleich. Tu supra keiserin und konigin. Sive Eva, Sara, hochgelobt uber all adel, weisheit, heiligkeit.“37 Walter Tappolet stellte demgegenüber fest: „Auch für Calvin steht außer Zweifel, daß Maria als die Mutter des Herrn hoch zu loben ist.“38 Ein ‚gemeinsamer Nenner‘ bezüglich der Stellung beider Reformatoren zu Maria ließe sich wie folgt umreißen: Sowohl für Luther als auch Calvin bildet die Bibel die Grundlage für ihre Neukonzeption der Marienverehrung. Jegliche nicht in der Schrift begründeten Züge Marias werden scharf zurückgewiesen.39 Maria zeichnet sich demnach durch ihre immerwährende Jungfräulichkeit aus.40 Einhergehend mit der Betonung ihrer menschlich-geschichtlichen Rolle weisen beide Reformatoren auf die Niedrigkeit und Demut der Magd
33 Johann Anselm Steiger: Fünf Zentralthemen der Theologie Luthers und seiner Erben. Communicatio – Imago – Figura – Maria – Exempla. Mit Edition zweier christologischer Frühschriften Johann Gerhards. Leiden u. a. 2002 (Studies in the History of Christian Thought 104), S. 226. 34 Ein guter Überblick über die bisherige Forschung zu diesem Themenkomplex findet sich ebd., S. 221 f. 35 Vgl. Peter Meinhold: Die Marienverehrung im Verständnis der Reformatoren des 16. Jahrhunderts. In: Saeculum 32 (1981), S. 43–58, hier S. 44, 47, 49, 54–56; Walter Tappolet: Das Marienlob der Reformatoren. Tübingen 1962, S. 17. 36 Martin Luther: WA 34/II,497,9.; vgl. Steiger (Anm. 33), S. 246. 37 Martin Luther: WA 45,105,10 f.; vgl. Steiger (Anm. 33), S. 246. 38 Tappolet (Anm. 35), S. 194. 39 Vgl. Meinhold (Anm. 35), S. 51 f., 56 f.; Reintraud Schimmelpfennig: Die Geschichte der Marienverehrung im deutschen Protestantismus. Paderborn 1952, S. 11. 40 Vgl. Steiger (Anm. 33), S. 226, 248; Meinhold (Anm. 35), S. 51; Tappolet (Anm. 35), S. 41–54, 170–173; Schimmelpfennig (Anm. 39), S. 13 f.
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Gottes hin.41 Ein zentraler Aspekt der Mariologie Luthers und Calvins ist der exemplarische Glaube Mariens als Voraussetzung für die Empfängnis und Geburt Jesu Christi.42 Was hingegen die Vorstellung von der Jungfrau Maria als erhabener ‚Himmelskönigin‘ anbelangt, sind sich beide Reformatoren einig, dass die überhöhende Bezeichnung, Anrufung oder Anbetung der Mutter Gottes mit derartig stolzen Titeln zurückzuweisen ist.43 Im Hinblick auf die Lehre der ‚Unbefleckten Empfängnis‘ Mariens wurde Luthers Positionierung von Seiten der Forschung unterschiedlich bewertet, wobei sich ein Konsens dahingehend abzeichnet, dass der Reformator die immaculata conceptio nicht grundsätzlich ablehnte, jedoch genauso wenig die Notwendigkeit ihrer Dogmatisierung sah.44 Nach der Auffassung Calvins war Maria demgegenüber ganz eindeutig von der Erbsünde befleckt.45 Die Untersuchung der grundsätzlichen Standpunkte Martin Luthers und Johannes Calvins in Bezug auf die Verehrung der Mutter Gottes ergibt, dass einzelne im Herforder Stiftsorden hervorgehobene Qualitäten von den beiden Reformatoren dezidiert abgelehnt wurden oder zumindest keine besondere Bedeutung in der jeweils von ihnen vertretenen Mariologie spielen. Indem die Jungfrau Maria als ‚Himmelskönigin‘ charakterisiert ist und überdies augenscheinlich auf ihre ‚Unbefleckte Empfängnis‘ angespielt wird, scheint in der Gestaltung des Schmuckstückes ein gewisses Potential angelegt zu sein, die grundlegenden Lehrmeinungen beider in den Herforder Damenstiften vertretenen Konfessionen zu konterkarieren. Trotz der eben ans Licht beförderten Ambivalenzen konnte das Marienbild der Herforder Stiftsorden von seinen Trägerinnen wie auch seinen Betrachter*innen dennoch im Sinne der lutherischen und reformierten Lehre gelesen werden.
41 Vgl. Steiger (Anm. 33), S. 227–229, 243; Meinhold (Anm. 35), S. 47–49; Tappolet (Anm. 35), S. 66–75. 42 Vgl. Steiger (Anm. 33), S. 232–236, 241; Meinhold (Anm. 35), S. 51, 56; Tappolet (Anm. 35), S. 58–65, 174–179. 43 Vgl. Steiger (Anm. 33), S. 224 f., 228; Meinhold (Anm. 35), S. 52; Tappolet (Anm. 35), S. 22; Schimmelpfennig (Anm. 39), S. 9. 44 Vgl. Steiger (Anm. 33), S. 227; Meinhold (Anm. 35), S. 51; Tappolet (Anm. 35), S. 26–32; Schimmelpfennig (Anm. 39), S. 14 f. 45 Vgl. Meinhold (Anm. 35), S. 56; Tappolet (Anm. 35), S. 167–169.
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6 Mögliche Lesarten des Herforder Stiftsordens im Sinne der lutherischen bzw. reformierten Lehre Folgt man Tappolet weiter, hat Calvin Maria in besonderem Maße als ‚Lehrmeisterin‘ verstanden, die in mannigfacher Weise als Vorbild wirken kann.46 So ist anzunehmen, dass das lateinische Motto MEMINISSE ET IMITARI, welches das Marienbild in dem Medaillon begleitet, von der Ordensstifterin, Johanna Charlotte, und ihrer Enkelin, Friederike Charlotte sowie von allen weiteren reformierten Trägerinnen und Betrachter*innen des Herforder Stiftsordens auf die Vorbildhaftigkeit der Mutter Gottes, insbesondere im Hinblick auf ihre Schriftkenntnis, den Gehorsam, das Vertrauen, die Hingabe und ihr Gotteslob bezogen wurde.47 So wie die Jungfrau Maria für die reformierten Stiftsangehörigen zu einem ‚Spiegel des Glaubens‘ werden konnte,48 fühlten sich sehr wahrscheinlich auch die Äbtissin Hedwig Sophie und die übrigen lutherischen Trägerinnen und Betrachter*innen des Herforder Stiftsordens an Maria als exemplum fidei erinnert.49 Über ihre Rolle als Glaubensexempel hinaus besitzt die Jungfrau Maria für Martin Luther zusätzlich auch eine auf den Gottessohn verweisende Funktion.50 Diese manifestiert sich meines Erachtens im Herforder Stiftsorden in der Darstellung der Mutter Gottes als Christusträgerin und spielt so auf die geistlich-innerliche Empfängnis des Erlösers an, der doch zunächst von Maria unter dem Herzen getragen wurde, bevor sie ihn in den Armen halten konnte.51 Der Gedanke, Jesus Christus im Herzen zu tragen, und das ‚Sich Einbilden‘ des fleischgewordenen Logos waren für den ehemaligen Augustiner-Eremiten Luther von zentraler Bedeutung.52 So führt der Reformator in seiner Predigt zum zweiten Weihnachtsfeiertag des Jahres 1533 das Folgende aus: So wolt unser herr Gott auch gern, das wir sein wort vleissig inn unserm hertzen bewiegeten und so einbildeten, das schier natur draus würde, Sic in Canticis: ‚drucke mich inn dein
46 Vgl. Tappolet (Anm. 35), S. 180 f., 199 f., 218. 47 Zu den Aspekten der Vorbildhaftigkeit Mariens bei Calvin vgl. Meinhold (Anm. 35), S. 57 sowie Tappolet (Anm. 35), S. 182–193. 48 Zu Maria als ‚Spiegel des Glaubens‘ bei Calvin vgl. Meinhold (Anm. 35), S. 56 sowie Tappolet (Anm. 35), S. 184. 49 Zu Maria als exemplum fidei bei Luther vgl. Steiger (Anm. 33), S. 232–236, 241. 50 Vgl. ebd., S. 237–239, 243. 51 Zu Mariens geistlich-innerlichen Empfängnis des Gottessohnes und dem Motiv der Christusträgerin bei Luther vgl. ebd., S. 241. 52 Vgl. Steiger (Anm. 33), S. 123–126, 232 f., 241; Schimmelpfennig (Anm. 39), S. 17.
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hertz als ein siegel‘ und brandzeichen, das es nicht allein schwebe auff dem hertzen als ein schawm auff dem wasser oder geyfer auff der zungen, den man aussprieget, Vellem, dicit, das es ins hertz gedruckt wurde, das das malzeichen bliebe, das es niemand mocht auswisschen, als wer es drinn gewachssen naturlich, das sich nicht liesse auskratzen. Tale cor fuit Mariae, darinn die wort sind blieben als eingegraben […].53
Der Herforder Stiftsorden kann in diesem Sinne die Lutheranerinnen beider Stifte inspiriert haben, dem auf die Siegelmetaphorik des mariologisch gedeuteten Hoheliedes 8,6 bezugnehmenden Aufruf Luthers zur Imitation der Gottesmutter Folge zu leisten und eine Einschreibung Jesu Christi im eigenen Herzen anzustreben. Auf visueller Ebene hielt bald nicht allein das aus Porzellan gearbeitete Schmuckstück den Gedanken der Verschreibung an Maria und den Gottessohn präsent. Wie ein 1767 von dem Hofmaler Felix W. Güte gefertigtes Porträt der letzten Herforder Fürstäbtissin aus dem Städtischen Museum in Herford zeigt (Abb. 7), wiederholt sich das Marienbild des Ordenskreuzes auf einem gestickten Bruststern, durch dessen Stiftung die Großmutter Friederike Charlottes die Ordensdekoration noch kurz vor ihrem Tode erweitert hatte (Abb. 8 und 9).54 Durch ihre Anbringung auf bzw. unterhalb der linken Brust nehmen die Insignien der Herforder Damenstifte auf das Herz ihrer Trägerinnen Bezug. Wie der Stiftsorden wurde auch der Bruststern von den fürstlichen und gräflichen Adelstöchtern sowohl innerhalb als auch außerhalb der Reichsabtei auf den weltlichen Kleidern getragen und mit diesen an- bzw. wieder abgelegt.55 Als am Körper verschiebbare und nur temporär angebrachte Zeichen besaßen die Herforder Insignien damit lediglich symbolischen Verweischarakter. Etwa zeitgleich zu dem Porträt Friederike Charlottes entstanden demgegenüber Bildnisse katholischer Ordensschwestern, in deren Körperbild sich die Verschreibung an Maria bzw. Jesus in Form von unauslöschbaren Narben manifestiert. Ein besonders eindrückliches Beispiel hierfür stellt das Porträt der sizilianischen Nonne Suor Maria Sepellita della Concezione (1625–1692) von der Hand des Künstlers Domenico Provenzani (1736–1794) dar (Abb. 10 und 11). Die Benediktinerin, die auf ihrem Habit – den Regeln ihres Konventes entsprechend – ein gesticktes Bild der Mutter Gottes mit dem Christusknaben trägt, ist in dem Gemälde im Begriff, sich mit einem Messer den Namen Mariens in Höhe ihres Herzens in das nackte Fleisch einzuritzen.56
53 Martin Luther: WA 37,246,1–8. Vgl. auch Kurt Aland: Luther Deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart. Band 8 (= Die Predigten). Zweite und völlig neu bearbeitete Auflage. Stuttgart, Göttingen 1965, S. 52. 54 Vgl. Heese: Schulterband (Anm. 3), S. 76 f. 55 Vgl. Heese: Schulterband (Anm. 3), S. 73 f. 56 Zu dem Benediktinerinnenkloster in Palma di Montechiaro vgl. Biagio Alessi, Nicola Lupo, Fabrizio Messina Cicchetti: Nella Terra del Gattopardo e della Beata Corbera. Il Monastero Be-
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Abb. 7: Felix W. Güte, Friederike Charlotte Leopoldine Louise von Brandenburg-Schwedt, 1767, Öl auf Leinwand, 170 × 125,8 cm, Herford, Daniel-Pöppelmann-Haus.
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Abb. 8 und 9: Felix W. Güte, Friederike Charlotte Leopoldine Louise von Brandenburg-Schwedt (Details), 1767, Öl auf Leinwand, 170 × 125,8 cm, Herford, Daniel-Pöppelmann-Haus.
Im Rahmen der Untersuchung möglicher Lesarten des Herforder Stiftsordens soll abschließend noch ein Blick auf das Kreuz geworfen werden, auf dem das Medaillon mit dem Marienbild angebracht ist. Es handelt sich hierbei um eine gängige Form von Damenorden bzw. insbesondere von protestantischen Stiftsorden, deren Nähe zu zeitgleich verliehenen Männerorden Aushandlungsprozesse in Bezug auf die Visualisierung weiblichen Machtanspruchs widerspiegelt.57 Überdies könnte die Grundform des Herforder Stiftsordens als Sinnbild der lutherischen Kreuzestheologie verstanden werden.58 Damit würde die Betrachtung, ausgehend von dem Bild der Jungfrau Maria, nicht allein zur Geburt, sondern auch zur Passion des Gottessohnes führen. Vor diesem Hintergrund müsste auch die Inschrift auf der Vorderseite des Herforder Stiftsordens neu überdacht werden. Könnte durch nedettino di Palma di Montechiaro, Bagheria. Palermo 2001; Kat. Ausst. Arte e Spiritualità nella Terra dei Tomasi di Lampedusa. Il Monastero Benedettino del Rosario di Palma di Montechiaro. Hg. von Maria Concetta Di Natale u. a. 1999; Sara Cabibbo, Marilena Modica: La santa dei Tomasi. Storia di Suor Maria Crocifissa (1645–1699). Turin 1989. 57 Vgl. Hermann Dikowitsch: Die europäischen Damenorden des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Kat. Ausst. Barock (Anm. 30), S. 53–62; Gritzner (Anm. 30). 58 Vgl. Dietrich Herfurth: Was sind Orden und Ehrenzeichen? In: Orden und Ehrenzeichen. Handbuch der Phaleristik. Hg. von Eckart Henning, Dietrich Herfurth. Köln u. a. 2010, S. 23 f.
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Abb. 10 und 11: Domenico Provenzani, Suor Maria Sepellita della Concezione (und Detail), um 1760, Öl auf Leinwand, unbekannte Maße, unbekannter Aufbewahrungsort (wohl in Palma di Montechiaro).
das lateinische Motto MEMINISSE ET IMITARI möglicherweise nicht allein auf die Jungfrau Maria, sondern auch auf Jesus Christus verwiesen werden? Die Gestaltung des Marienbildes auf dem Herforder Stiftsorden zielt nicht allein darauf ab, die Geschichte und Kontinuität der Herforder Damenstifte zu betonen. Ganz im Sinne der lutherischen bzw. reformierten Lehre wird die Mutter Gottes auch zur Vorbild-, Symbol- oder Identifikationsfigur erhoben. Der Ordensstifterin dürfte es darum gegangen sein, die Gemeinsamkeiten, die lutherische und reformierte Stiftsdamen im Hinblick auf ihre Marienverehrung miteinander verbanden, mithilfe der Insignien der Herforder Damenstifte anschaulich zu machen. So konnte sich zur Repräsentation der Gemeinschaft der beiden Herforder Damenstifte gerade ein Bild der Mutter Gottes als überaus geeignetes Motiv für den von allen Stiftsdamen getragenen Orden erweisen. Da die Stiftsmitglieder der Reichsabtei mit Ausnahme der Äbtissin nicht permanent in Herford residierten, besaßen die Ordensinsignien mit dem Bild der Jungfrau Maria und dem Jesuskind nicht allein nach innen, sondern auch nach außen verbindenden Symbolcharakter.59
59 Vgl. Heese: Schulterband (Anm. 3), S. 73 f., 76.
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7 Ausblick Bis hierhin noch offen geblieben ist die Frage, warum die Jungfrau Maria in dem Herforder Stiftsorden als ‚Himmelskönigin‘ charakterisiert ist und überdies augenscheinlich auf ihre ‚Unbefleckte Empfängnis‘ angespielt wird. Sie kann zum derzeitigen Forschungsstand nicht hinreichend beantwortet werden. Mit Blick auf den Stiftsorden des Klosters Bergen auf Rügen, das nach der Reformation zunächst aufgehoben und 1560 als evangelisches Damenstift wiedereröffnet wurde, lässt sich jedoch festhalten, dass das konfessionell kontroverse Marienbild der Herforder Insignien keine Ausnahme darstellt.60 So zeigt das auf einem Passionskreuz angebrachte Medaillon auf der Vorderseite des Bergener Stiftsordens, der 1775 von Sophie Magdalene von Schweden (1746–1813) gestiftet wurde, ebenfalls die Jungfrau Maria mit Jesuskind (Abb. 12).61 Nach Axel Attula soll die Mariendarstellung wiederum an die Weihung des ehemaligen Zisterzienserinnenklosters an die Gottesmutter erinnern.62 Auch in diesem Beispiel wird durch die Krone auf die Herrschaft Mariens im Himmel verwiesen. Während die Mutter Gottes nun ein schwarzes Gewand trägt, deutet die Mondsichel unter ihren Füßen ebenfalls auf die Darstellungstradition der immaculata conceptio hin.63 Die Betonung der Mutterschaft Mariens, auf die beide protestantische Insignien abzielen, könnte schließlich im Fall des Herforder Stiftsordens, über den Hinweis auf die Inkarnation des Gottessohnes hinausgehend, ein sehr persönliches Motiv der Ordensstifterin offenbaren. So war Johanna Charlotte von Brandenburg-Schwedt von ihrer Vorgängerin, Charlotte Sophie Herzogin von Livland, Kurland und Semgallen (reg. 1688–1728) als Nachfolgerin im Äbtissinnenamt abgelehnt worden, da sie bereits vermählt gewesen war und Kinder zur Welt gebracht hatte.64 Auch nach ihrer Postulation blieb der Stand der neuen Vorsteherin der Herforder Damenstifte aufgrund ihrer Witwenschaft latent gefährdet.65 Vor diesem Hintergrund ist wahrscheinlich, dass Johanna Charlotte von Brandenburg-Schwedt das Marienbild des Herforder Stiftsordens auch zur Legitimation der eigenen Stellung wählte. Mithilfe der Ordensdekoration konnte sie ihren Witwenstand und die Mutterschaft nobilitieren und sich selbst als Vorbildfigur inszenieren. Hatte sie
60 Vgl. Gritzner (Anm. 30), S. 30 f. 61 Vgl. Axel Attula: Dekorationen für Damen. Evangelische Damenstifte Norddeutschlands und ihre Orden. Schwerin 2011, S. 78–80; Gritzner (Anm. 30), S. 31 f. und Tafel III, Nr. 13. 62 Vgl. Attula (Anm. 61), S. 79. 63 Vgl. Anm. 29. 64 Vgl. Heese: Schulterband (Anm. 3), S. 67. 65 Vgl. ebd., S. 68 f.
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Abb. 12: Stiftsorden des Klosters Bergen auf Rügen, im Jahre 1775 an die Konventualinnen und 1797 an die Priorin verliehen, möglicherweise jüngeres Exemplar (?), Gold, mehrfarbig emailliert, 3,8 × 2,8 cm, Bergen/Rügen, Stadtmuseum.
zunächst als körperliche Nährmutter für den leiblichen Nachwuchs gesorgt, sollte sie die Mutter Gottes nun auch in ihrer neuen Position als ‚geistliche Ernährerin‘ der ihr untergebenen Herforder Stiftsmitglieder in exemplarischer Weise imitieren.
Bildnachweis Abb. 1 und 2: Kulturstiftung DessauWörlitz, Bildarchiv Heinz Fräßdorf, DessauRoßlau, Inv.-Nr. I-670. Abb. 3: Daniel-Pöppelmann-Haus, Herford, Inv.-Nr. VIII 9/1982 (eigene Aufnahme). Abb. 4: Kat. Ausst. Barock. Blütezeit der europäischen Ritterorden. Bearbeitet von Hermann Dikowitsch u. a., Schallaburg, Schallaburg, St. Pölten 2000, S. 132. Abb. 5 und 6: Kat. Ausst. Barock. Blütezeit der europäischen Ritterorden. Bearbeitet von Hermann Dikowitsch u. a., Schallaburg, Schallaburg. St. Pölten 2000, S. 130 f. Abb. 7, 8 und 9: Daniel-Pöppelmann-Haus, Herford, Inv.-Nr. 92/93 (Abb. 7: zur Verfügung gestellt von Sonja Langkafel, Daniel-Pöppelmann-Haus, Herford; Abb. 8 und 9: eigene Aufnahmen).
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Abb. 10: Francesco Andreu, Pellegrino alle sorgenti. San Giuseppe Maria Tomasi. La vita, il pensiero, le opere. Rom 1987, zweite Farbtafel nach S. 16. Abb. 11: Calogero Gallerano: Giulio Tomasi di Lampedusa. Un testimone di santità nello stato coniugale, Palma di Montechiaro 1991, Farbtafel nach S. 96. Abb. 12: Axel Attula: Dekorationen für Damen. Evangelische Damenstifte Norddeutschlands und ihre Orden. Schwerin 2011, S. 79 (Foto: Thomas Helms, Schwerin).
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Sie ist mir lieb, die werte Magd Luthers musikalisches Marienbild zwischen Konkretion und Abstraktion Die machtvolle Geschichte der Marienverehrung lässt sich bis in die Frühe Neuzeit hinein als mythisch geformte Kulturgeschichte lesen. Über die biblische Authentifizierung hinaus, die Maria als religiöser Figur einen unmittelbaren Wahrheitsanspruch garantiert, sie also konkret macht, ist die Figur Maria zugleich und immer schon von genuin prä-christlichen Motiven beeinflusst und geprägt, die ihr als gleichsam abstrakte Persönlichkeitsmerkmale eingeschrieben sind. Sie sind weder greifbar noch biblisch oder kirchenväterlich beglaubigt, und gerade deshalb so wirkmächtig. Während Gott eine metaphysische Existenz zugeschrieben wird und er sich damit jenseits aller Konkretions-Optionen aufhält, war Maria beglaubigt physisch existent, aber dennoch von abstrakten, metaphysischen Geschichten und Ereignissen umgeben, deren Denkfiguren mythisch grundiert sind, da sie im Grunde Unmögliches beschreiben: von der Verkündigung durch einen Engel bis zur unbefleckten Empfängnis als Jungfrau, von der Mutterschaft eines göttlichen Sohnes über dessen Kreuzigung und Auferstehung bis hin zur eigenen, marianischen Himmelfahrt. Nur durch die Form des biblischen Berichtes und seiner institutionellen Ratifizierung durch die Kirche wird aus einer mythischen Konstellation religiöse Gewissheit im Glauben, verfestigt in der Identifikation der Kirche mit Maria als Mater Ecclesia (,Mutter Kirche‘) und Mater Ecclesiae (,Mutter der Kirche‘). Doch ebenso sind die in der Frühchristenheit begründeten Rituale der Anrufung Marias als Muttergottheit fundiert in weit älteren Glaubenspraktiken, die den mythischen Muttergottheiten in der Folge des babylonischen Kultes um die ‚Große Mutter‘ Ischtar (mit ihrem am 25. Dezember geborenen Sohn Tammuz) galten, die als Erdmutter oder Erdgöttin verehrt wurde und zugleich als Göttin der Fruchtbarkeit, des Himmels, des Krieges und der Liebe angerufen wurde. Und schließlich wurde in der katholischen Glaubenspraxis lange einer Volksfrömmigkeit Raum und Nährboden gegeben, in der Kulten um Reliquien, Marienerscheinungen und -wundern bis hin zu inszenierten Wallfahrtsorten – wie das vermutlich von Kreuzfahrern aus Palästina geraubte und in Loreto wieder errichtete Nazarener Haus der Heiligen Familie – ungehindert Raum gegeben wurde. Erst im Zuge der katholischen Reformen des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts begann man, diese volksfrömmigen Traditionen sukzessive einzudämmen, ohne sie freilich ganz abstellen zu können und zu wollen. Dass in den Jahren 1570/1571 sowohl https://doi.org/10.1515/9783110665109-011
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das reformierte Missale Romanum mit von späterer Prosa bereinigten Chorälen erschien als auch zeitgleich Choräle für ein neues Marienfest Unserer Lieben Frau vom Rosenkranz als Dankfeier für den Sieg der christlichen über die osmanische Seeflotte bei Lepanto eingeführt werden konnten, zeigt dies überdeutlich. Wahrscheinlich ist, dass besonders dieser changierende Reflexionsrahmen zwischen einer konkreten, menschlichen Maria und einer abstrakten, quasigöttlichen Himmelskönigin marianische Kunst inspirierte und sie zu einem Zentralthema religiöser Kunst werden ließ. Dieses Spektrum zwischen Mensch und Himmelskönigin, zwischen Mutter und Gottesmutter, zwischen angebeteter Idealfrau und unbefleckter Jungfrau wurde stets neu ausgelotet, nicht selten vermengt oder auch bewusst deutungsoffen gehalten. Im Gegensatz zu einer unüberbrückbaren Distanz zur Trinität Gottvater, Christus und Heiliger Geist konnte und durfte in der künstlerischen Auseinandersetzung mit Maria auch eine unmittelbare Nähe des Künstlers zu seinem Gegenstand Thema sein. Mehr noch: Bei genauerer Betrachtung scheint es, als sei das Setzen von Marienverehrung in Musik – eine musikalische dedicatio Mariae – immer eine persönliche Sache gewesen. Während im Katholizismus sowohl die konkret-menschliche als auch die abstrakt-heilige Deutung Marias in der Kunst legitim und stets aufeinander bezogen war, darf für den Protestantismus angenommen werden, dass beide nunmehr ausgeschlossen waren: Weder die Vermittlerin noch die Wirkerin Maria sind in der protestantischen Perspektive und ihren Kunstmedien vorstellbar. Dennoch ist auch das lutherische Marienbild zunächst noch von der Traditionstiefe mythischer Denkfiguren geprägt, ist eine Nähe zu Maria noch ausgesprochen, bis eine Lösung und Distanzierung einsetzt. Um diesen Prozess an einem Musikbeispiel zu diskutieren, sollen zunächst die möglichen Facetten von Naheverhältnissen in musikalischen Marienbildern um 1500 dargestellt werden, mit denen sich der Protestantismus konfrontiert sah. Ihnen wird sodann das Luther-Lied Sie ist mir lieb, die werte Magd gegenübergestellt, das textlich und musikalisch sowohl an ältere Deutungsmuster anschließt als auch sich davon zu distanzieren sucht, also ebenfalls noch – zumindest partiell – zwischen Abstraktion und Konkretion changiert.
1 Naheverhältnisse in musikalischen Marienbildern um 1500 Ohne das breite Feld musikalischer Marienbilder im vorgegebenen Rahmen auch nur ansatzweise ausschreiten zu können, genügen einige aussagekräftige Beispiele, um ihre enormen Gestaltungsspielräume um 1500 aufzuzeigen. Als Ausgangspunkt eignet sich Josquin Desprez’ vermutlich 1489/1490 für die päpstliche
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Kapelle in Rom komponierte Motette Illibata Dei virgo nutrix. Hier sucht der Komponist einerseits eine auffällige Nähe zu seinem Werk, indem er seinen Namen als Akrostichon der ersten Strophe (des möglicherweise selbst gedichteten Textes) verwendet, also die Marienanrufungen persönlich einrahmt (vgl. Tabelle 1). Tab. 1: Text der Josquin-Motette Illibata Dei virgo nutrix. (1) Illibata Dei virgo nutrix Olympi tu regis o genitrix Sola parens verbi puerpera Quae fuisti Evae reparatrix Viri nephas tuta mediatrix Illud clara luce dat scriptura Nata nati alma genitura Des ut laeta musarum factura Prevaleat hymnus et sit ave Roborando sonos ut guttura Efflagitent laude teque pura Zelotica arte clament Ave. (2) Ave virginum decus hominum Coelique porta Ave lilium, flos humilium Virgo decora. Vale ergo tota pulchra ut luna Electa ut sol clarissima gaude. Salve tu sola; consola, amica, consola la mi la canentes in tua laude. Ave Maria, mater virtutum, Veniae vena, ave Maria, Gratia plena, Dominus tecum, Ave Maria, mater virtutum. Amen.//
Makellose, jungfräuliche Gottesmutter, Den Olymp regierst Du, oh Königsmutter Durch die verkündigte Geburt die einzige Mutter, die die Sünde Evas geheilt hat, die von den Menschen kam, durch Deine Vermittlung, die Schrift sagte dies mit klarem Licht. O Tochter deines Sohnes durch seine Geburt, Gegeben sei, dass durch den freudigen Akt der Musen die Hymne erklingt und es sollte das „Ave“ sein. Und dass, mit verstärktem Klang, unsere Kehlen Sollen Gebet und Lob darbringen und Ave Dir zurufen mit reiner und eifriger Kunst. Ave, Schmuck der Jungfrauen und Männer Tor des Himmels, Lilie, Blume der Demütigen, Edle Jungfrau. Heil in der Tat, so schön wie der Mond, Gewählt und strahlend wie die Sonne, freue dich. Du allein sei gegrüßt; tröste, Freundin, tröste jene, die zu Deinem Lobe la-mi-la singen. Ave Maria, Mutter der Tugenden, Puls der Lebenden, gegrüßt seist Du, Maria, Voll der Gnade, Gott ist mit Dir, Ave Maria, Mutter der Tugenden. Amen.//
Andererseits enthält die zweite Strophe zwei Zeilen, die auf subtilere Weise ein Naheverhältnis herstellen: In Zeile 7 wird Maria als „amica“ („Freundin“) angesprochen, was als Zwiegespräch zwischen Maria und dem Gläubigen gedeutet werden kann. Hier wird ein für Mariengebete typisches Naheverhältnis gestiftet, das allerdings durch die erste Strophe mit der klaren Namenseinprägung des Komponisten einen latent subjektiven Zug erhält. In Zeile 8 folgt sodann die Einbindung der eigenen Komposition in den Text, eine in Mariengebeten m. W. singuläre Entscheidung. In der Zeile „Consola la-mi-la canentes in tua laude“ (,Tröste jene, die zu Deinem Lobe la-mi-la singen‘) wird auf die in der Motette elaborierte, zeittypische Solmisationstechnik, das Singen der Tonsilben „la-mi-la“, angespielt: eine
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fallende Wechselnote im Quartintervall, die nichts anderes als ‚Ma-ri-a‘, bedeutet. Maria nimmt also im Notentext selbst konkrete Gestalt an: Das „la-mi-la“-/,Ma-ri-a‘Motiv beherrscht den zweiten Motettenteil mit insgesamt 26 Wiederholungen im Tenor. Indem der Text der Zeile 8 also darauf anspielt, dass insbesondere die „lami-la“-Singenden von Maria gestärkt und getröstet werden sollen, so sind es eben jene, die die Josquin-Motette singen, in der „la-mi-la“ vorkommt. Während sich der Komponist also im ersten Motettenteil als lyrisches Subjekt zu erkennen gibt, das gleichwohl durch das Akrostichon dem Uneingeweihten geschickt verborgen ist, gibt er im zweiten Teil seiner Marienmotette einen exklusiven Zug, indem er die selbst gewählte Kompositionstechnik in den Text selbst einschreibt und damit seiner Musik eine exponierte Rolle zuweist. Allein in dieser Konstellation sind zahlreiche Marienbilder enthalten, von der angebeteten Heiligen über die exklusive Zuhörerin und Vermittlerin hin zum singenden, partizipierenden Menschen. Derart vermittelt sie Gott zugleich die ihr gewidmete Kunst und wirbt persönlich für Josquins Musik. Man kann in so einem Musikkonzept primär den selbstbewussten humanistischen Künstler sehen wollen, der nicht davor zurückschreckt, sich und seine Musik im Rahmen geistlicher Kontexte zu exponieren. Weit aufschlussreicher ist es für das musikalische Marienbild um 1500, das sich nicht in abstrakt-distanzierter Anbetung, sondern in subtilen Abstufungen von konkreten Naheverhältnissen in den musikalischen Strukturen selbst ereignet. Das zweite Beispiel stammt aus dem Umfeld der burgundischen Regentin und Tochter Maximilians I., Margarete von Österreich, genauer aus dem von ihr beauftragten musikalischen Gesangbuch von ca. 1516–1523. Das kostbar illustrierte Repräsentationsalbum zeichnet sich nicht nur durch eine für ein Chansonnier ungewöhnliche Größe aus – es ist mit 36,5 cm Höhe und 26 cm Breite beinahe so groß wie ein Chorbuch –, sondern wird auf der ersten Doppelseite eröffnet mit einer Ave sanctissima Maria-Motette des margaretischen Hofkomponisten Pierre de La Rue (komponiert ca. 1508), gefolgt von zumeist weltlicher Musik. Die im Initial als Witwe zu erkennende Margarete trägt einen Herrscherinnen-Mantel (vgl. Abbildung 11), agiert also klar erkennbar mit ihrem Wappen als weltliche Regentin, und spricht nun als reale Person die ihr gegenüber abgebildete Maria direkt an: „Memento mei“ (,Gedenke meiner‘) – entstammend der Schlusszeile des Ave Maria-Gebetes: „O Mater Dei, memento mei. Amen“. In diesem Bildprogramm wird die weltliche Herrscherin nicht als passive Bittende, sondern als die die religiöse Mittlerfunktion Marias selbstbewusst ansprechende Machthaberin
1 Margarete von Österreichs Chansonnier, Brüssel, Bibliothéque Royale, ms 228, fol. 1v–2r (Abbildung mit freundlicher Genehmigung).
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präsentiert.2 Beide Frauenfiguren, die sich trotz der knienden Margarete beinahe auf Augenhöhe befinden, sind eingefasst von ähnlichen Bordüren mit persönlichen Schmuckstücken der Regentin oder dem Blumen-Motiv der Margerite, die ihre Nähe visualisieren. Auch die Notation der Musik fügt sich in dieses persönliche Marienszenario: Während der linken Buchseite (Maria) eine Stimme der Motette zugeordnet ist, enthält die rechte Buchseite (Margarete) zwei Stimmen, eine mit dem beschriebenen Bildnis Margaretes selbst, eine mit ihrem Herrschaftswappen im Initial. Margarete erscheint hier sowohl als göttlich legitimierte Herrscherin (durch das Wappen) als auch als weltliche Frau (mit ihrem Witwenhabit) und tritt in dieser Doppelfunktion Maria gegenüber. Der Betrachter des repräsentationsmächtigen Buches erblickte in der Struktur des Notentextes somit einen doppelten Identifikationsanspruch Margaretes mit Maria, als Herrscherin (des Himmels) und idealisierte Heiligenfigur sowie als weltliche Frau und Vermittlerin zu den Menschen. Doch auch die Struktur der Musik selbst gibt einen Hinweis auf Margaretes angestrebtes Naheverhältnis zu Maria: Alle drei Stimmen sind mit einem Kanonzeichen versehen, werden also verdoppelt, sodass die Motette ihre sechs Stimmen erhält. Die Stimmen ähneln sich also nicht nur, sondern gleichen sich exakt: Deutlicher kann man musikalische Nähe nicht gestalten. Dennoch ist dies durch die Kanonsymbole wiederum gewissermaßen abstrahiert und für den Leser erst auf den zweiten Blick erkennbar. Erneut schlägt sich – wie in der Illibata-Motette – das Changieren zwischen Abstraktion und Konkretion in der musikalischen Faktur unmittelbar nieder und findet der Wunsch nach persönlicher Nähe Ausdruck in spezifischen musikalischen Formen. Das dritte und letzte Beispiel stammt aus der privaten Andachtsmusik und betrifft das berühmte katholische Lied Maria zart, das seit dem späten fünfzehnten Jahrhundert nachgewiesen ist; durch den Flugschriften-Druck um 1500 multiplizierte sich seine Verbreitung (vgl. Notenbeispiel 1 auf S. 2323).4 Es war als muttersprachliches Lied besonders beliebt, weil es eine doppelte Funktion erfüllte: Ohne 2 Vgl. dazu ausführlich von der Verfasserin: „Mediatrix nostra“ – „Unsere Vermittlerin“: Marianische Topoi in Pierre de la Rues Messen für Margarete von Österreich. In: Die Habsburger und die Niederlande. Musik und Politik um 1500. Hg. von Jürgen Heidrich. Kassel 2010 (troja. Jahrbuch für Renaissancemusik 2008/2009), S. 143–160. 3 Tenor-Melodie nach Liedblattdruck. Oppenheim (Köbel), ca. 1500–1511. 4 Vgl. zum Lied Maria zart, seiner Überlieferung, Funktion und Struktur vor allem die beiden Aufsätze von Birgit Lodes: „Maria zart“ und die Angst vor dem Fegefeuer und Malafrantzos. Die Karriere eines Liedes zu Beginn des 16. Jahrhunderts. In: Musikalischer Alltag im 15. und 16. Jahrhundert. Hg. von Nicole Schwindt. Kassel u. a. 2001 (Trossinger Jahrbuch für Renaissancemusik 1), S. 99–131; dies.: Multiple Erscheinungsformen einer Vorlage. „Maria zart“ kontrafaziert und bearbeitet. In: Die Kunst des Übergangs. Musik aus Musik in der Renaissance. Hg. von Nicole Schwindt. Kassel u. a. 2008 (Trossinger Jahrbuch für Renaissancemusik 7), S. 63–101.
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Abb. 1a: Pierre de La Rue: Motette Ave sanctissima Maria, fol. 1v.
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Abb. 1b: Pierre de La Rue: Motette Ave sanctissima Maria, fol. 2r.
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Notenbeispiel 1: Marienlied Maria zart.
aufwändiges Memorieren lateinischer, für den Laien schwer verständlicher Mariengebete konnte es Ablässe erwirken, die in verschiedenen Ablassordnungen zwischen 1504 und 1510 bis zu 40 Tage umfassten,5 und ganz nebenbei wurden dem Lied krankheitseindämmende Wirkungen in Bezug auf die grassierende Syphilis zugeschrieben. War Ersteres die konkrete religiöse Funktion des Liedes und daher greifbarer Natur, klammerte sich Letzteres an Behauptungen und Erzählungen von Wunderwirkungen und betraf die abstrakte Perspektive. Das Singen des Liedes bot beide, im höchsten Maße persönliche Effekte praktischerweise zusammen an und ist damit sicherlich ein seltenes Beispiel für eine konkrete und abstrakte Marienverehrung in ein- und derselben musikalischen Gestalt. Auch die Reformatoren entschieden sich, das Lied nicht zu ignorieren, sondern seine Bekanntheit als Folie 5 Z. B. Der Bischoff von Zeitz || hat geben. xl tag ablaß/ allen denen die || diß lyed mit andacht singen/ oder lesen.|| Maria zart mit xxj. gesetzen || Impressum: Straßburg: Hupfuff, Matthias, 1504; Maria zart. wie es am || ersten: mit der Tenor vñ xvj gesetzen: er||dicht: vñ wz ablaß dar zu gebẽ ist wordẽ.|| Impressum: Oppenheim: Köbel, Jakob, 1510; Das lied Maria || zart. wer es singt oder list mit an=|| dacht der hat .xl. tag ablaß von || dem Bischoff zů der Neuburg.|| Impressum: Augsburg: Froschauer, Hans, 1510.
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für die eigenen Zwecke zu nutzen, indem sie schlicht den Adressaten änderten: Hans Sachs publizierte 1524 Das liet Maria zart verendert und christlich korrigiert auf derselben Melodie, aber mit dem neuen Text „O Jesu zart, götlicher Art, ein Roß on alle doren“.6 Mit der Adressaten-Änderung an Christus verbot sich – auch im katholischen Rezeptionsraum – per se eine mythisch doppelte Lesart im alten Sinne, waren Ablass und Wunderheilung formal ausgeschlossen und die christologische Perspektive in ein Gewand wirkmächtiger und dem Volk gut bekannter Melodik gekleidet. Dass der textlich getilgte Bezug zu Maria nicht bedeutete, dass die berühmte Melodie im konfessionellen Erinnerungsraum dennoch marianisch und damit im höchsten Maße persönlich konnotiert blieb, leuchtet dagegen auch ein. Das musikalisch Einprägsame an der Melodie entsteht nur vordergründig durch eine simple Linienführung, denn es gibt auch einige Terz- und Quartsprünge und sogar – von Zeile 10 auf 11 – einen Oktavsprung, der sicher nicht von jedem musikalischen Laien treffsicher gesungen werden konnte. Es resultiert vielmehr aus der optimalen Anpassung an die Prosodie des Textes, denn die Musik folgt in anschaulicher, syllabischer Diktion den zwölf zweihebigen Kurzzeilen ebenso wie den sechs dreihebigen Langzeilen (alle jambisch): Kurzzeilen schließen mit einer langen Note, Langzeilen mit zwei gleichlangen Noten im Sekundabgang, und alle Zeilen sind durch Pausen zäsuriert. Der Text wirkt entsprechend weniger gesungen, denn rezitiert. Die musikalische Form passt sich somit einerseits der sprechenden Gebetshaltung und somit der Funktion des Textes an, der mit den Jahren und Jahrzehnten seiner Überlieferung stetig wuchs – von sechs Strophen (14887) bis hin zu 33 Strophen (16098). Andererseits hat die Musik durch die vielen Kadenzneigungen nach unten eine inwendige, immer wieder innehaltende Haltung und wirkt damit wie ein innerer Dialog des Betenden mit Maria als seinem gläubigen Alter Ego. Immerhin geht es textlich um nichts anderes als das Sterben und das „letzte End“, also erneut um eine existenzielle, höchst persönliche Ansprache an Maria.
6 Philipp Wackernagel: Das deutsche Kirchenlied von Martin Luther bis auf Nicolaus Herman und Ambrosius Blaurer. Stuttgart 1841, S. 168; August Heinrich Hoffmann von Fallersleben: Geschichte des deutschen Kirchenliedes bis auf Luthers Zeit. Hannover 1861, S. 457. 7 Philipp Wackernagel: Das deutsche Kirchenlied von der ältesten Zeit bis zu Anfang des XVII. Jahrhunderts. Mit Berücksichtigung der deutschen kirchlichen Liederdichtung im weiteren Sinne und der lateinischen von Hilarius bis Georg Fabricius und Wolfgang Ammonius. 5 Bde., hier Bd. 2. Leipzig 1867, S. 803 f. (Nr. 1035). 8 Jan Le Febures Rosetum Marianum, Mainz 1609, vgl. zu Text und Vertonung die musikwissenschaftliche Bachelor-Arbeit von Chantal Köppl, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, 2016 (https://publications.ub.uni-mainz.de/theses/volltexte/2017/100001259/pdf/100001259.pdf).
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Die drei Beispiele haben gezeigt, dass durch kleinste melodische Symbolik (,Ma-ri-a‘) und deren Verarbeitung, große mehrstimmige kanonische Formen oder auch eine schlichte prosodische Anlage und melodische Linienführung individuelle Naheverhältnisse zu Maria unmittelbar in der musikalischen Struktur einen Ausdruck finden konnten. Martin Luther sind die genannten Beispiele wahrscheinlich bekannt gewesen: Er verehrte den „Noten meister“9 Josquin und somit sicher auch eine seiner berühmtesten Motetten, die in diversen mitteldeutschen Quellen kursierte; er konnte Pierre de La Rue als Komponisten sowohl aus den später sogenannten ‚Jenaer Chorbüchern‘, die aus der Bibliothek seines Förderers Friedrichs des Weisen stammten, als auch in der Musikaliensammlung der Wittenberger Universitätsbibliothek kennengelernt haben, in der die auffällige kanonische sechsstimmige Ave sanctissima-Motette La Rues in einem Notendruck aus Paris des Jahres 1543 zugänglich war;10 und das berühmte Ablasslied Maria zart dürfte zu den überhaupt am meisten bekannten Melodien um 1500 gezählt haben. Zudem wurde Luthers Vorrede zum Walterschen Gesangbuch (1524) erneut als Vorrede zum Leipziger Enchiridion geistlicher Gesenge und Psalmen (1530) verwendet, in dem auf S. 55 Das lied Maria zart verendert in seiner christologischen Umtextierung zu finden ist. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ist Luther das Ablasslied also bekannt gewesen. Untermauern lässt sich diese These im Folgenden durch einen Text- und Musikvergleich zu Luthers Sie ist mir lieb, die werte Magd.
2 „Sie ist mir lieb, die werte Magd“ Die Luther-Forschung pflegt eine vorsichtige Distanz zu Sie ist mir lieb, die werte Magd, die phasenweise in einem Misstrauen gegenüber der Lesbarkeit als Marienlied, sodann in einer ungewöhnlichen, so gar nicht zur unmittelbaren Eingängigkeit der übrigen ‚Luther-Choräle‘ passenden Melodie (vgl. Notenbeispiel 211) oder auch bisweilen in einem Unbehagen gegenüber der apokalyptischen Thematik 9 „Josquin, sagt er [Luther], ist der Noten meister, die habens müssen machen, wie er wolt; die andern Sangmeister müssens machen, wie es die Noten haben wöllen“, nach Johann Mathesius: Die zwölffte Predigt von Doctor Luthers Historien, vom vierzigsten Jare, Anno 1540. In: Historien von des Ehrwirdigen inn Gott seligen theuren Manns Gottes D. Martin Luthers […]. Nürnberg 1583, fol. 124–138v, hier fol. 135v. 10 Die Motette wurde dort allerdings unter dem Autor ‚Verdelot‘ rubriziert. Zur Musikaliensammlung der Wittenberger Bibliothek vgl. Karl Erich Roediger: Die geistlichen Musikhandschriften der Universitäts-Bibliothek Jena. Textband und Notenverzeichnis. Bd. 1. Hildesheim 1985, S. 111 ff. 11 Melodie nach dem Bapstschen Gesangbuch 1545, Nr. XXXIII.
Sie ist mir lieb, die werte Magd
Notenbeispiel 2: Martin Luther: Sie ist mir lieb, die werte Magd.
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gründete.12 Auch das Reformations-Jubiläum 2017 hat daran wenig ändern können,13 das Lied will so gar nicht zu den anderen Luther-Liedern passen, und dies vor allem, weil es sich offensichtlich mit Maria bzw. ihrer symbolischen Personifikation mit der Kirche befasst. Der von Luther vermutlich frei gedichtete, aus der mittelalterlichen Vagantendichtung und den Lektüren der Johannes-Offenbarung 12, 1–6 inspirierte Text, der zuerst im Joseph Klugschen Gesangbuch von 1535 erschien und 1545 im Bapstschen Gesangbuch seine melodische Einkleidung erhielt, wurde entsprechend vielseitig interpretiert. Man las die erste Strophe als eine Art persönliches Bekenntnis Luthers zur ‚Magd‘ bzw. ‚Mutter Kirche‘, die zweite und dritte als Vertonung der apokalyptischen Texte, und man ist sich bislang uneins über seine Verwendung als Kirchen- oder privates Andachtslied (vgl. Tabelle 2). Die literarische Form legte mancher Interpretation gar die Frage nach einer Kontrafaktur eines existierenden, weltlichen Textes nahe, dies ist bislang jedoch ebenso wenig nachweisbar wie eine musikalische Vorlage. In der Tat fallen erster und zweiter Textteil (mit den Strophen zwei und drei) deutlich auseinander, was schon an der Ich-Form der ersten Strophe ersichtlich ist, die zugleich mit „kann ihr nicht vergessen“ und „hat mein Herz besessen“ eine Rückblende anzeigt: Das in der ersten Strophe Beschriebene ist damit für Luther, aber nicht nur für ihn, vergangen – sie bezeichnet die konkrete und persönliche (marianisch geprägte) Kirchengeschichte. Strophe 2 blickt sodann in den marianischen Mythos zurück, auf Goldgewand, Sterne, Krone, die Füße „stehen auf dem Mond“, sie ist die Mondsichelmadonna und die Himmelsbraut, die aber doch reale Schmerzen hat und gebären muss. Hier wird die mythisch grundierte Doppelgesichtigkeit des alten Glaubens beschrieben, inspiriert vermutlich auch bereits von der Johannes-Offenbarung (vgl. dazu den Textvergleich in Tabelle 2), allerdings auch als alleinige Auseinandersetzung mit dem Marien- bzw. KirchenMythos lesbar. Die apokalyptische Offenbarungs-Geschichte wird erst in Strophe 3 definitiv erkennbar, indem der wütende Drache und die rettende Christi Himmelfahrt als weitere mythisch strukturierte, indes nun biblisch authentifizierte Schichten in den Text eintreten. Mit den beiden Schlusszeilen „Die Mutter muß gar sein allein, doch will sie Gott behüten / und der recht Vater sein“ geht Luther über das lediglich befristete ‚happy end‘ der Johannes-Offenbarung hinaus, wo Gott die apokalyptische Frau in der Wüste zwar beschützt und ernährt, doch nur 12 Vgl. ausführlich zur Deutungsgeschichte: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe). Hg. von Joachim Karl Friedrich Knaake. Weimar 1883 ff. Hier Bd. 35. Weimar 1923, S. 254 ff. 13 Vgl. zuletzt dazu Martin Luther: Die Lieder. Hg. von Jürgen Heidrich, Johannes Schilling. Stuttgart 2017, S. 112–117: Das Lied „steht unter allen Liedern Martin Luthers einzigartig dar“ (S. 112). Die Publikation liefert ansonsten keine neue Deutung des Liedes oder seines Kontextes.
Sie ist mir lieb, die werte Magd
Tab. 2: Text Sie ist mir lieb, die werte Magd sowie Textauszüge aus der Johannes-Offenbarung 12, 1–6. (1) Sie ist mir lieb die werde Magt, und kan ir nicht vergessen, Lob ehr und zucht von ir man sagt, sie hat mein hertz besessen, Ich bin ir hold, und wenn ich solt, gros unglück han, da ligt nicht an, sie wil mich des ergetzen mit irer lieb und trew an mir, die sie zu mir wil setzen, un thun all mein begir. (2) Sie tregt von gold so rein ein kron, da leuchten inn zwelff sterne, ir Kleid ist wie die Sonne schon, das glentzet hell und ferne, Und auff dem Mon ir füsse ston sie ist die Brawt, dem HERRN vertrawt, ir ist weh und mus geberen ein schönes kind, den edlen Son und aller welt ein HERren, dem ist sie unterthon. (3) Das tut dem alten drachen zorn und wil das kind verschlingen, sein toben ist doch gantz verlorn, es kan im nicht gelingen. Das kind ist doch gen himel hoch genomen hin und lesset in auff erden fast sehr wüten. Die Mutter mus gar sein allein, doch wil sie Gott behüten und der recht Vater sein.
(Offenbarung 12, 1–2, 5) „[…] mit der Sonne bekleidet, und der Mond unter ihren Füßen und auf ihrem Haupt eine Krone von zwölf Sternen.
Und sie war schwanger und schrie in Kindsnöten und hatte große Qual bei der Geburt. […] Und sie gebar einen Sohn, einen Knaben, der alle Völker weiden sollte mit eisernem Stabe.“ (Offenbarung 12, 4, 5a–6) „[…] und der Drache trat vor die Frau, die gebären sollte, damit er, wenn sie geboren hätte, ihr Kind fräße. […] und ihr Kind wurde entrückt zu Gott und seinem Thron.
Und die Frau entfloh in die Wüste, wo sie einen Ort hatte, bereitet von Gott, dass sie dort ernährt werde […].“
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„tausendzweihundertsechzig Tage“.14 Was nach den dreieinhalb Jahren mit ihr geschieht, bleibt in der Bibel unklar. Luthers „Mutter“ wird dagegen von Gott nicht nur behütet, und dies offenbar dauerhaft und ortsungebunden, sondern er wirkt als ihr „Vater“ – sie wird also Teil der Gemeinde der Gläubigen, die sie zuvor symbolisiert hat. Sie ist nicht mehr Wirkerin, sondern Empfängerin, sie ist für Luther letztlich der vorbildliche Mensch. Der derart bearbeitete Text konvergiert mit zahlreichen Äußerungen Luthers zu Maria; schon in seiner frühesten erhalten gebliebenen Predigt über das Magnificat am 15. August 1516 machte Luther klar, dass Maria sich seiner Ansicht nach anders vorbildlich verhalten habe, als es die Volksfrömmigkeit oder die katholische Kirche behauptete: „Sie brüstet sich keines Verdienstes, sie zählt kein Werk auf, sie bekennt lediglich, dass sie passive Mutter und Empfängerin guter Werke sei, nicht deren Wirkerin.“15 Luthers Liedtext zeigt also erneut ein sehr persönliches Verhältnis zu Maria bzw. der durch sie verkörperten Institution (der alten) Kirche – er verbindet hier die autobiographische mit der mythischen und der neuen reformatorischen Perspektive zu einem dramaturgischen Narrativ mit gleichsam didaktischer Pointe. Nicht mehr im alten Glauben, im alten Hort der Kirche, nicht in den alten mythischen Geschichten: Die wahre Faszination Marias liegt für Luther in ihrer Demut. Möglicherweise als narratives Vehikel der Lösung von diesem alten Marienund Kirchenglauben greift Luther metrisch, formal und musikalisch auf das berühmte Maria zart zurück, nicht im strengen Sinne einer Kontrafaktur oder eines Zitates, aber doch in vielen Einzelaspekten, die eine Betrachtung lohnen. Der Vergleich der jeweils ersten Strophe (vgl. Tabelle 3) von Maria zart16 und Sie ist mir lieb17 zeigt zuerst die deutlichen Unterschiede: Maria zart umfasst 18 statt 12 Verse, vier statt drei Binnenstrophen, hat mit dem Schweifreim (aabccb) zu Beginn eine stärkere Binnenzäsurierung als das Gegenüber (abab) und wird durch das Enjambement zwischen Zeile 10 und 11 in seiner Syntax gestört (die Paarreime der Binnenstrophen 2 und 3 bleiben allerdings intakt).18 Doch es zeigen sich auch 14 Offenbarung 12, 6a, zitiert nach: Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung. Lutherbibel. Revidiert 2017. Jubiläumsausgabe 500 Jahre Reformation. Stuttgart 2016, S. 290. 15 Zitiert nach der Übersetzung von Christoph Burger: Martin Luthers Deutung des Magnificat. In: Maria „inter“ confessiones. Das Magnificat in der frühen Neuzeit. Hg. von Christiane Wiesenfeldt, Sabine Feinen. Turnhout 2017, S. 17–28, hier S. 21. 16 Hier nach der Textfassung von 1505, München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 808, fol. 1r–3r. 17 Hier nach der Textfassung des Bapstschen Gesangbuches 1545. 18 Die von Birgit Lodes gewählte Textgliederung des Maria zart in sechs dreiversige Strophen ist aufgrund der klaren Struktur des Abgesangs – zwei Paarreime und ein Binnenreim à jeweils vier Zeilen – nicht überzeugend, da sonst die Reimstrukturen auseinandergerissen werden, vgl. Lodes, Maria zart (Anm. 4), S. 112. Zudem ändert Maria zart mit jeder Strophe seine musikalische
– / – / – / – / – / – / – / – / – / – / – / – – / – / – / – / – / – / – / –
11 (3) mein sundt und schuld,
12 gewinn mir huld,
13 dann kain trost ist,
14 wo du nit pist.
15 (4) barmhertzigkeit erwerben;
16 am letzten endt,
17 ich pitt, nit wend’
18 von mir in meinem sterben.
A = Stollen B = Abgesang K = Kurzzeile (zweihebig) L = Langzeile (drei- oder vierhebig) / = Hebung – = Senkung
– / – / – / –
10 hilff, das nicht werd gerochen
e
– / – /
7 (2) Durch Adams fall – / – /
– / – / – / –
6 das vor lang was verlorenn.
– / – / – / –
– / – /
5 her wider pracht,
8 dir hat die wall
– / – /
4 Du hast auß macht
9 sanct gabriel versprochen.
e
– / – / – / –
3 ein roß an allen dorren.
a
i
k
k
i
h
h
g
g
f
f
b
c
c
b
a
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1 (1) Maria zart,
2 von edler art,
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K
K
L
K
K
K
K
L
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K
K
L
K
K
L
K
K
B
A
(3) sie wil mich des ergetzen
da ligt nicht an,
gros unglück han,
und wenn ich solt,
(2) Ich bin ir hold,
sie hat mein hertz besessen,
Lob ehr und zucht von ir man sagt,
und kan ir nicht vergessen,
(1) Sie ist mir lieb die werde Magt,
12 un thun all mein begir.
11 die sie zu mir wil setzen,
10 mit irer lieb und trew an mir,
9
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7
6
5
4
3
2
1
Tab. 3: Text- und Strukturvergleich Maria zart und Sie ist mir lieb, die werte Magd.
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Sie ist mir lieb, die werte Magd 231
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Christiane Wiesenfeldt
viele Gemeinsamkeiten: Beide verfügen über einen gleich langen, 30-silbigen jambischen Stollen (A), der nach dem Modell einer mittelalterlichen Vagantenstrophe gebaut ist, wie sie etwa aus den Carmina Burana des dreizehnten Jahrhunderts bekannt ist.19 Das bedeutet, dass der jeweils zweite und vierte Vers nicht männlich, sondern weiblich, also mit einer Senkung endet, so dass im Übergang der mittleren beiden Zeilen eine typische doppelte Senkung besteht. Dabei ist die vierhebige Langzeile 1 und 3 in Maria zart in je zwei zweihebige Kurzzeilen gegliedert, Luther verzichtet wiederum auf diese Zäsur und arbeitet nur mit Langzeilen im Stollen. Sodann enthalten beide Strophen im Abgesang (B) mehrere vierzeilige Binnenstrophen, von denen die vorletzte aus nur vier zweihebigen Kurzzeilen im Paarreim besteht: Binnenstrophe 3 in Maria zart, Binnenstrophe 2 in Sie ist mir lieb. Auf der musikalischen Ebene bestehen weitere Gemeinsamkeiten (vgl. dazu Notenbeispiel 1 mit Notenbeispiel 2): In beiden Liedern zerfällt der Stollen durch die Wiederholungsstruktur in zwei identische musikalische Teile. Zudem folgt Sie ist mir lieb insgesamt strukturell dem Modell von Maria zart, da Kurzzeilen stets mit einer langen Note und Langzeilen im Sekundabgang schließen. Auch bei Luther sind alle Zeilen durch Pausen zäsuriert, wodurch eine ähnliche inwendige Haltung entsteht. Besonders im Mittelteil klingen beide Lieder zum Verwechseln ähnlich: „dann kain trost ist“ ähnelt „Ich bin ir hold“, „wo du nit pist“ ähnelt „da ligt nicht an“, „gewinn mir huld“ (absteigend) wird zu „und wenn ich solt“ (aufsteigend). Weitere Übereinstimmungen wie der gemeinsame Oktavambitus c–c, der Liedbeginn mit einer charakteristischen kleinen Terz oder die von Terz- und Quartsprüngen durchbrochene melodische Linienführung wären zu nennen. Luthers Langzeilen sind melodisch gegen Ende allerdings oft ausgeziert20 und verlassen jeweils den syllabischen Duktus des Zeilenbeginns, ganz so, als entfernten sie sich bewusst von einer schlichten, inwendigen hin zu einer äußeren, expressiven Form – ganz im Sinne des erwähnten dramaturgischen Narrativs der lutherischen Lösung von überkommenen Marien- und/oder Kirchenbildern. Ohne behaupten
Gestalt, die Zäsuren sind klar zwischen den Zeilen 6/7, 10/11 und 14/15 und damit analog zur vierstrophigen Gestalt gesetzt. 19 Vgl. zu den Strophenformen und -typologien Dieter Burdorf: Einführung in die Gedichtanalyse. 3. Auflage. Stuttgart 2015, S. 103. 20 Bezogen auf die für Luther sonst eher unüblichen Verzierungen in Schlussmelismen wäre eine Untersuchung der seinerzeit modernen Liedvertonungen Ludwig Senfls möglicherweise aufschlussreich, mit denen Luther auch als Lautenspieler bestens vertraut war. Eine Überprüfung des dem Maria zart recht ähnlichen Stückes Von edler Art ein frewlein zart (aus: Drey geystliche lieder vom wort gottes durch Georg Kern Landtgraff Philips zu Hessen Gesangmayster. Der Juppiter verendert geystlich, durch Hans Sachssen Schuster, Anno 1525), das Senfl vierstimmig vertonte, ergab keine musikalische Übereinstimmung.
Sie ist mir lieb, die werte Magd
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zu wollen, Sie ist mir lieb sei eine intendierte Bearbeitung von Maria zart, ist eine konkrete Inspiration durch das seinerzeit wohl berühmteste Marienlied aufgrund der zahlreichen Ähnlichkeiten immerhin wahrscheinlich. Dass Luther dieses nicht einfach kontrafazierte oder seine strukturellen Anleihen in Text und Musik eindeutiger formulierte, leuchtet wohl ein, wollte er nicht die darin enthaltenen symbolischen Lesarten weiter befeuern. Stattdessen nutzte er das Lied – wie auch sein Thema der altgläubigen Marienverehrung – als Ausgangspunkt eines Narrativs hin zu einem eigenen, neuen Marienbild, wie oben beschrieben, und verwendete dessen strukturelle Partikel als Fundament und Fundus für diesen Neubau. So argumentiert – freilich immer vorausgesetzt, die Melodie ist von Luther selbst komponiert worden – entspricht seine musikalische Verarbeitung ‚alter‘ Musik seiner theologischen Verarbeitung des ‚alten‘ Glaubens: Umdeutung durch kritische Relektüre derselben Quellen. Dieser Beobachtung einer Konzeption eines eigenen, persönlichen Marienbildes in Sie ist mir lieb kann neben Text und Musik ein weiteres Medium unterstützend zur Seite gestellt werden: Lucas Cranachs Apokalypse-Darstellung für Luthers Übersetzung der Johannes-Offenbarung aus dem Jahr 1522 als Teil des sogenannten ‚Septembertestaments‘, das auf der Herbstbuchmesse in Leipzig präsentiert wurde. Cranach orientierte sich an Albrecht Dürers Zyklus der Apocalipsis cum figuris von 1496/1498, und das gilt auch für die Darstellung der apokalyptischen Frau und des Drachens (vgl. Abbildungen 221 und 322). Luther nahm neueren Forschungen zufolge vermutlich keinen Einfluss auf die Illustrationen des 1522er-Testamentes.23 Eindeutig ist dagegen, dass Cranach sich eng an Luthers Übersetzungen orientierte. Sie müssen ihm demnach vorgelegen haben.24 Die Apokalypse-Bilder Cranachs sind nicht mehr wie bei Dürer als autonome exegetische Bildkunst,
21 bpk / Staatliche Kunsthalle Karlsruhe (Abdruck mit freundlicher Genehmigung). 22 Staatsbibliothek zu Berlin – PK, Biblia sacra fol. 50 (http://resolver.staatsbibliothek-berlin. de/SBB0001467E00000000), (Abdruck mit freundlicher Genehmigung). 23 Christoph Walther, Korrektor in der Druckerei Hans Lufft, der selbst mit Luther zusammengearbeitet hat, berichtet, dass Luther Anweisungen zu den Illustrationen gegeben haben soll, in: Vom Unterschied der deutschen Biblien und andern Büchern des ehrwirdigen und seligen Herrn Doct. Martini Lutheri, so zu Wittenberg gedruckt, und an anderen Enden nachgedruckt werden. Wittenberg 1563. Vgl. dazu sowie generell zum Bildtypus der apokalyptischen Frau: Johanna Monighan-Schäfer: Offenbarung 12 im Spiegel der Zeit. Eine Untersuchung theologischer und künstlerischer Entwicklungen anhand der apokalyptischen Frau. Diss. Marburg 2005 (URN: https://archiv.ub.uni-marburg.de/diss/z2005/0126/). 24 Das zeigt sich an Übersetzungs-Details z. B. in Bild 8: Cranach lässt dort gemäß der neuen Luther-Übersetzung einen Engel anstatt eines Adlers im Himmel erscheinen, vgl. dazu ebd., S. 140 f.
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Abb. 2: Albrecht Dürer, Die apokalyptische Frau, 1496/98.
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Abb. 3: Lucas Cranach, Die apokalyptische Frau, Septemberbibel, 1522.
sondern aus der Auseinandersetzung mit dem Text heraus zu verstehen und allein in dieser lutherischen scriptura-Perspektive genuin protestantisch. Aufschlussreich ist ein Vergleich der Frauenfigur bei Dürer und Cranach: Beide auf den ersten Blick ähnlichen Darstellungen der apokalyptischen Frau zeigen alle Attribute vom Goldgewand, dem Mond, dem Strahlenkranz bis zum wütenden Drachen, dem himmelsfahrenden Christus und der ‚unten‘ zurückgelassenen Frau, auf die Gott schützend hinabsieht. Hier ist die „Mutter“ am Ende der Geschichte
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„gar allein“, wie es auch im Luther-Lied heißt. Allerdings unterscheiden sich die beiden Figuren bei genauerer Sicht doch in zentralen Bilddetails, und zwar in einer Lösung Cranachs von mythischen Aspekten. So erscheint der angreifende Drache bei Cranach nicht nur größer und bedrohlicher, sondern er steht auf festem Boden anstatt aus einer feurigen Unterwelt wie noch bei Dürer emporzusteigen. Er symbolisiert demnach eine tendenziell eher reale, zeitgenössische Bedrohung (etwa das Papsttum) anstatt eine abstrakte, vorzeitliche Geschichte.25 Entsprechend hat sich die Darstellung der Frau bei Cranach leicht verändert: Sie schaut die Gefahr nun direkt an, hebt die Hände abwehrend gegen sie und zeigt nicht mehr die inwendige, die Hände betend gefaltete Körperhaltung und den lächelnden Gesichtsausdruck wie noch bei Dürer. Beide Frauen strahlen für sich genommen zwar eine positive Heilsgewissheit aus, doch Cranachs Frau reagiert menschlicher, ihr Gesichtsausdruck wirkt schutzbedürftiger. Sie ist im Sinne Luthers und seiner Magnificat-Auslegung des Jahres 1521/1522 nun nicht mehr die unantastbare, übermenschliche, weil von einem eigenen Schutz(mantel) umgebene Marienfigur. Spannend ist zu beobachten, wie sich Cranachs Holzschnitt nun für die Version der Vollbibel von 1534 – dieses Mal vermutlich unter der Aufsicht Luthers26 – noch weiter konkretisierte (vgl. Abbildung 427). Nicht mehr Cranach persönlich erstellte den Holzschnitt, sondern der Monogrammist MS aus der Cranach-Werkstatt. Die Frauenfigur steht nun rechts im Bild einem linker Hand noch größeren Drachen und zwar auf Augenhöhe auf der Erde gegenüber; bei Dürer (1496/1498) und Cranach (1522) war die Frau noch in einer Zwischenebene von Erde und Himmel positioniert. Sie ist nun (1534) nicht mehr als geschmückte Jungfrau mit wallenden Locken, sondern als ältere Frau in schlichterer Gewandung mit Haube dargestellt, die Mondsichel ist abgeflacht, und die Strahlenglorie fehlt bzw. umgibt nun Gott im Himmel. Die Frau schreckt offenbar vor dem Drachen zurück, behält aber den gelassenen Gesichtsausdruck und verschränkt sogar die Arme in positiver Heilserwartung. Die Attribute der Mondsichelmadonna sind noch nicht ganz verschwunden, aber deutlich reduziert. Luthers hier ins Bild gesetzte ‚Mutter‘ zeigt nicht mehr die zwischen Menschlichkeit und Göttlichkeit polarisierende Maria, sondern die ideale Gläubige in vollendeter Demut. Es mag Zufall sein, dass der das eigene Marienbild reflektierende Luther-Text zu Sie ist mir lieb, die werte Magd mit 1535 just in jener Zeit entstand, als sich das lutherische Marienbild in der Vollbibel von 1534 endgültig gefestigt hatte. Deutlich
25 Ebd., S. 141. 26 Wie oben Anm. 23. 27 Lutherhaus Wittenberg, Abt. Historische Drucke, Ag 2°86 (Abdruck mit freundlicher Genehmigung).
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Abb. 4: Monogrammist MS, Cranach-Werkstatt, Die apokalyptische Frau, Vollbibel, 1534.
ist zumindest, dass Liedtext und Bild zeitgleich dieselbe Haltung zu Maria bzw. zu der ‚Mutter Kirche‘ zeigen und sich damit von Dürers katholischer Version einer übermenschlichen, jungfräulichen, mit allen mythischen Symbolen ausgestatteten Marienfigur sukzessive distanzieren, nicht ohne seinen prägenden gestalterischen Einflüssen, die wiederum in mythischen Konzepten wurzeln, in vielem auch weiterhin verbunden zu bleiben.
Schluss Deutlich wurde am Beispiel von Sie ist mir lieb, die werte Magd, dass auch Luthers Marienbild von Konkretion und Abstraktion geprägt ist, dass auch sein narratives Textkonzept von Maria bzw. der ‚Mutter (Kirche)‘ nicht ohne die Nennung und allegorische Darstellung des Mythos in Form der apokalyptischen Frau aus-
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kommt, um in der dramaturgischen Schlusswendung umso größere Wirksamkeit zu entfalten, indem Maria nun als ideale Gläubige in aller Demut erscheint und eine Vorbildfunktion optimierter Glaubenspraxis einnimmt. Im Unterschied zum möglichen Liedvorbild Maria zart oder zum Dürer-Holzschnitt, die beide noch die katholische Perspektive auf die Vermittlerin und Wirkerin anbieten, bleibt Maria in Cranachs Darstellungen und in Luthers Lied nicht als geschmückte, verehrungswürdige Gottesbraut, sondern als von Gott ausgezeichneter, konkreter Mensch in aller Schmucklosigkeit zurück, ohne indes ihre abstrakte Herkunft zu verleugnen. Luther benutzt den marianischen Mythos und seine Text-, Bild- und TonMedien damit als narratives Vehikel einer autobiographisch geprägten Relektüre und gezielten Dekonstruktion einzelner Aspekte. So konnte auch das lutherische (musikalische) Marienbild nicht ohne dessen wirkmächtige mythische Prägung und ein persönliches Naheverhältnis funktionieren, und sei es nur, um beides als argumentative Strategie ihrer Infragestellung zu nutzen. Bemerkenswert ist aus interkonfessioneller Perspektive, dass der Mythosentschlackte Wandel des lutherischen Marienbildes in weiten Teilen auch den katholischen Raum erfasste. Tatsächlich kann man schon im späten sechzehnten, und erst recht im siebzehnten Jahrhundert nicht nur das Aussterben großer marianischer Musikgattungen wie der Missa de Beata Virgine beobachten, deren letzte Vertreter im siebzehnten Jahrhundert in Portugal komponiert werden.28 Auch insgesamt wird weniger neues marianisches Repertoire komponiert, als das alte in Umlauf gehalten, und dies in beiden Konfessionen, die sich besonders beim Magnificat aus demselben Pool an Musiken bedienen. Existieren Neukompositionen im katholischen Raum, so sind sie mit wenigen Ausnahmen, die sich an weltlichen Opernidealen orientieren, oft schlichte Gebrauchsmusiken, die keine Anknüpfungen an ältere Hochphasen der musikalischen Marienverehrung probieren, sondern sich der Wortausdeutung unterordnen. Erst im Format neuer protestantischer Gottesdienstmusik des späten siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, die zugleich proto-konzertante Formen vorwegnahm – der protestantischen Kirchenkantate – konnte sich eine neue, festliche Marienmusik etablieren. Dass aber auch diese zahlenmäßig hinter andere, vor allem christologische Themen weit zurückfällt, überrascht kaum. Ob der spürbare Rückgang an Marienmusiken seit dem späten sechzehnten Jahrhundert als Reflex auf die Reformation zu lesen ist, kann pauschal freilich nicht beantwortet werden. Die Vermutung liegt indes nahe, dass Maria mit dem partiellen Verlust des Mythos ihre Exponiertheit einbüßte, sie nun in eine Reihe mit anderen biblischen Figuren rückte und damit auch das ehedem
28 Vgl. dazu von der Verfasserin: „Majestas Mariae“. Studien zu marianischen Choralordinarien des 16. Jahrhunderts. Stuttgart 2012 (Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft 70).
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geradezu existenzielle Interesse an einer künstlerischen Auseinandersetzung mit ihr deutlich nachließ. Angesichts der eingangs formulierten Überlegungen, die Macht der Marienverehrung als vom Mythos getragen zu definieren, erscheint dies nur folgerichtig.
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Das Verschwinden der Gottesmutter Maria in protestantischen Kirchenkantaten zu Marienfesten Die Geschichte der von Erdmann Neumeister initiierten Form der geistlichen Kantate1 erweist sich das ganze achtzehnte Jahrhundert hindurch als eine genuin protestantische Erfolgsgeschichte. Der Erfolg bezieht sich dabei nicht nur auf die Verwendung der Kantate im protestantischen Gottesdienst, meist vor oder nach der Predigt, oder in zweiteiliger Gestalt die Predigt umrahmend, sondern auch außerhalb des Gottesdienstes auf ihren Gebrauch als Andachts- und Erbauungslektüre. Dies gilt vorab für die Texte. Die Kantatendichter publizierten ihre Dichtungen nicht nur für die jeweiligen Aufführungen im Kirchenjahr, so daß sie wie Opernlibretti in der Kirche mitgelesen oder zu Hause vorbereitend rezipiert werden konnten, sondern auch unabhängig von geplanten Vertonungen und Aufführungen als reine Lektüretexte.2 Der Gebrauch außerhalb des Gottesdienstes gilt bis zu einem gewissen Grad sogar für die Musik. In den 1720er und 30er Jahren experimentierte Georg Philipp Telemann mit einer Reihe von Möglichkeiten, um die Kirchenkantate auch für die Andacht im häuslichen Rahmen zu adaptieren. 1725 erschien in Hamburg die erste Folge des Harmonischen Gottes-Dienstes,3 alle
1 Zu Erdmann Neumeister vgl. Henrike Rucker (Hg.): Erdmann Neumeister (1671–1756). Wegbereiter der evangelischen Kirchenkantate. Rudolstadt 2000 (Weißenfelser Kulturtraditionen 2); Ute Poetzsch-Seban: Die Kirchenmusik von Georg Philipp Telemann und Erdmann Neumeister. Zur Geschichte der protestantischen Kirchenkantate in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Beeskow 2006 (Schriften zur mitteldeutschen Musikgeschichte 13). Zur Kirchenkantate allgemein vgl.: Wolfgang Hirschmann, Peter Wollny (Hg.): Wilhelm Friedemann Bach und die protestantische Kirchenkantate nach 1750. Beeskow 2012 (Forum mitteldeutsche Barockmusik 1); Wolfgang Hirschmann, Dirk Rose (Hg.): Die Kantate als Katalysator. Zur Karriere eines musikalisch-literarischen Strukturtyps um und nach 1700. Berlin, Boston 2018 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 59). 2 So sind etwa Gottfried Behrndts Poetische Sonn- und Festtags-Betrachtungen, Magdeburg 1731, zunächst als Andachtsbuch erschienen. Erst einige Jahre später wurden die modifizierten Texte vertont: Vgl. [ders.]: Neuer musicalischer Wechsel. Stollberg 1737. Vgl. dazu Nina Eichholz: Georg Philipp Telemanns Kantatenjahrgang auf Dichtungen von Gottfried Behrndt. Ein Beitrag zur Phänomenologie von Telemanns geistlichem Kantatenwerk. Hildesheim 2015 (Studien und Materialien zur Musikwissenschaft 85), S. 41–79. 3 Zum Harmonischen Gottes-Dienst und seinen außerliturgischen Funktionen vgl. Inga Mai Groote: „Nicht bloß für Cantoren, sondern für reitende, sitzende, gehende“. Kantaten aus dem Harmonischen Gottesdienst als Andacht für Städter. In: Telemann und die urbanen Milieus der Aufklärung. Hg. von Louis Delpech, Inga Mai Groote. München 2017 (Musik-Konzepte Sonderhttps://doi.org/10.1515/9783110665109-012
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Kantaten jeweils für eine Singstimme, ein Melodie-Instrument und Generalbaß eingerichtet, „auf eine leichte und bequeme Ahrt […] verfasset“ wie das Titelblatt verspricht und „zu Beförderung so wol der Privat- Haus- als öffentlichen KirchenAndacht“4 geeignet. Im Vorwort betont Telemann, daß das Werk „mehr zum Privatgebrauche und zur Haus- als [zur] Kirchenandacht“ bestimmt sei.5 Während der Harmonische Gottes-Dienst also eher für die reine Hausandacht bestimmt war, sieht Telemanns Arien-Projekt von 17276 ein anderes Verfahren vor: In den Hamburger Hauptkirchen wurden die Kantaten in großer Besetzung musiziert. In dem wöchentlich ausgelieferten zeitschriftenartigen Druck erschienen jeweils zwei Arien aus der aktuellen Kantate für Generalbaß und Singstimme bearbeitet. Auf diese Weise konnten die Hamburger Gottesdienstbesucher die jeweilige Kantate im Gottesdienst mit Instrumenten und Chören hören und ein auf die Arien konzentriertes Substrat auch zu Hause musizieren. Die Kantate stellte somit auch ein zentrales Medium des protestantischen Glaubens außerhalb des Gottesdienstes dar. Ihre Erfolgsgeschichte zeichnete sich 1702, als Neumeister seinen ersten Band unter dem Titel Geistliche Cantaten7 publizierte, noch nicht ab. Neumeister hatte, wie Ute Poetzsch schreibt „etwas vollkommen Neues, das auch in der Rückschau noch irritiert, geschaffen“8, als er die italienische Form der Kammerkantate, die bis dahin dezidiert mit weltlicher Dichtung verbunden gewesen war, für den protestantischen Bereich des Gottesdienstes und der Hausandacht adaptierte. Obwohl die Frage nach den protestantischen Vorläufern der geistlichen Kantate im siebzehnten Jahrhundert so reizvoll wie legitim ist,9 darf dies nicht dazu führen, die Radikalität von Neumeisters Neuansatz zu nivellieren. Neumeister weist in seiner programmatischen Vorrede zu den Geistlichen Cantaten ausdrücklich darauf hin, daß die Machart seiner Kantaten
band), S. 87–109; Bernhard Jahn: Telemanns Harmonischer Gottes-Dienst – Marketingstrategien und Transkonfessionalität. In: Die Tonkunst 11 (2017), Heft 4, S. 469–474. 4 Vgl. das Faksimile in: Georg Philipp Telemann: Der Harmonische Gottesdienst. 72 Solokantaten […] Teil I: Neujahr bis Reminiscere. Hg. von Gustav Fock. Kassel, Basel 1953 (Telemann: Musikalische Werke 2), S. X. 5 Ebd., S. V. 6 Georg Philipp Telemann: Geistliche Arien (Druckjahrgang 1727). Hg. von Wolfgang Hirschmann (unter Mitarbeit von Jana Künich). Kassel u. a. 2012 (Telemann: Musikalische Werke 57), hier vor allem das Vorwort S. X–XV. 7 Im Folgenden zitiert nach der Ausgabe: Erdmann Neumeister: Geistliche Cantaten Uber alle Sonn- Fest- und Apostel-Tage / Zu beförderung Gott geheiligter Hauß- und Kirchen-Andacht […] Halle 1705. Die Erstauflage erschien o. O. 1702. 8 Poetzsch-Seban (Anm. 1), S. 29. 9 Vgl. dazu Irmgard Scheitler: Neumeister versus Dedekind. Das deutsche Rezitativ und die Entstehung der madrigalischen Kantate. In: Bach-Jahrbuch 89 (2003), S. 197–220.
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denen eines Operntextes entspricht: „Soll ichs kürtzlich aussprechen / so siehet eine Cantata nicht anders aus / als ein Stück aus einer Opera, von Stylo Recitativo und Arien zusammen gesetzt.“10 Im Gegensatz zu protestantischen Kirchenmusiktexten des siebzehnten Jahrhunderts, die in der Regel entweder aus biblischen Dicta (beispielsweise Psalmen, Hohelied-Versen) oder aus strophischen Kirchenliedtexten (Oden) oder einer Kombination aus beidem bestehen – Dieterich Buxtehudes von der älteren Forschung oft als Kantaten bezeichnetes Vokalwerk bietet hierfür ein gutes Beispiel11 – verzichten die Geistlichen Cantaten von 1702 auf beides: Wir finden weder Bibelzitate in direkter Form noch protestantische Kirchenchoräle. Am Beispiel der Kantate für das Fest Mariä Verkündigung am 25. März läßt sich veranschaulichen, wie Neumeister verfährt: Mariä Verkündigung. [Aria] FRohlocke du Himmel! Und jauchze/ du Erde! Denn Himmel und Erde wird heute vereint. Wir waren verstossen. GOtt tröstet uns wieder. Und sendet den Mittler und Heiland hernieder. Gott selber wird unser Verwandter und Freund. Frolocke du Himmel! Und jauchze du Erde! Denn Himmel und Erde wird heute vereint. [Rezitativ] Willkommen längst erwüntzschter Tag! Da wohl ein Engel mag Die gute Bothschafft bringen/ Und bald das Gloria Mit allen Himmels-Schaaren singen. Denn wie das Werck / so muß auch der Gesande seyn/ O Freuden-volles Fest! O Gnaden-reicher Schein! Wer ist nun wi[]der uns? Denn GOtt ist da. Zwar wollte GOtt im Garthen Eden Von Fluch/ von Tod und Hölle reden? Itzt kehrt sich alles umb.
10 Neumeister (Anm. 7), Bl. )(2vf. – Zu Neumeisters Vorrede vgl. Wolfgang Miersemann: Erdmann Neumeisters „Vorbericht“ zu seinen „Geistlichen CANTATEN“ von 1704: ein literatur- und musikprogrammatisches „Meister-Stück“. In: Rucker (Anm. 1), S. 51–74. 11 Zu Buxtehudes Texten vgl. Kerala J. Snyder: Dieterich Buxtehude. Leben – Werk – Aufführungs praxis. Übersetzt von Hans-Joachim Schulze. Kassel u. a. 2007, S. 169–177; ferner Wolfgang Sandberger, Volker Scherliess (Hg.): Dieterich Buxtehude. Text – Kontext – Rezeption. Kassel u. a. 2011.
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GOtt redet nun durchs Evangelium. Von unsers JEsu wegen Verwandelt sich der Fluch in lauter Seegen. Der Tod wird uns ein Leben/ Und vor die Hölle wird der Himmel nun gegeben.12
(Es folgen noch eine Arie, ein Rezitativ und eine abschließende Arie).
Aus der Operndichtung übernimmt Neumeister die Kombination von Rezitativ und Arie, im oben zitierten Beispiel eröffnet er die Kantate mit der um 1702 im deutschen Sprachraum noch neuen Form der Da-capo-Arie.13 Die Arien sollen wie in der Oper laut Vorrede „allemahl einen affect, oder ein morale, oder sonst etwas besonders in sich“ halten.14 Die Verse sind als madrigalische Verse gestaltet, in den Rezitativen immer in Jamben in variabler Zahl und ohne festgelegtes Reimschema. Wer bei dem Stichwort ‚protestantische Kirchenkantate‘ vor allem an die Kantaten Johann Sebastian Bachs denkt, wird bei Neumeisters Geistlichen Cantaten von 1702 einiges, um nicht zu sagen Wesentliches, vermissen. Schon wenige Jahre später, in seiner Sammlung Geistliches Singen und Spielen15, integriert Neumeister dann all jene Elemente, die schon für die Kirchenmusik im siebzehnten Jahrhundert typisch waren: biblische Dicta sowie protestantische oder sogar altkirchliche Kirchenlieder und Hymnen. Alle vier Elemente – Bibelworte, Kirchenlieder, Rezitative, Arien – konnten frei kombiniert werden und es gab keine festgelegte Reihenfolge. Diese Mischung verschiedener Textformen zog auch eine Mischung verschiedener musikalischer Stile nach sich. Noch 1739 bemerkt Johann Mattheson in seinem Vollkommenen Capellmeister abschätzig, daß solche Kantaten „ein aus viererley Schreib-Arten zusammen gestoppeltes Wesen“16 besäßen, die „wahre Natur“ einer Kantate hingegen nur aus Rezitativen und Arien bestünde. Wie dem auch sei, schon im zweiten Jahrzehnt des achtzehnten Jahrhunderts hatte sich die
12 Neumeister (Anm. 7), S. 151 f. 13 Zur Problematik von Da-capo-Arien in der Kirchenmusik vgl. Ute Poetzsch-Seban: Die Dacapo-Arie in der Kirchenmusik – ein Problem? Bemerkungen zur zeitgenössischen Argumentation um die theatralische Kirchenmusik und ihre Reflexion in der Musikgeschichtsschreibung. In: Adolf Nowak, Andreas Eichhorn (Hg.): Telemanns Vokalmusik. Über Texte, Formen und Werke. Hildesheim u. a. 2008 (Studien zur Musikwissenschaft 49), S. 253–266. 14 Ebd., Bl. 3v. Vgl. damit Barthold Feind: Gedancken von der Opera. In: ders.: Deutsche Gedichte […] Stade 1708, S. 74–114, hier S. 95: „Ich habe schon gesagt vor 2 Jahren/ […]daß dieselbe [Arien] ein Morale, Allegorie, Proverbium und Gleichnis im Antecedente haben müssen/ und die Application im Consequente…“. 15 Erdmann Neumeister: Geistliches Singen und Spielen. Gotha 1711. Vgl. dazu Poetzsch-Seban (Anm. 1), S. 90–152. 16 Johann Mattheson: Der Vollkommene Capellmeister. Hamburg 1739, S. 215.
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gemischte Form als Normalfall im deutschen protestantischen Raum, ja in ganz Nordeuropa, etabliert. Unter interkonfessioneller Perspektive betrachtet stellt die Etablierung der geistlichen Kantate im protestantischen Raum ein Paradox dar: Noch im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert war ein Großteil der Gottesdienstmusik zwischen den Konfessionen17 austauschbar: Psalm- und Magnificat-Vertonungen18 etwa in Motetten- oder Concerto-Form hatten ihren Ort sowohl im katholischen wie im lutherischen Gottesdienst, und zumindest die Protestanten übernahmen auch de facto katholische liturgische Musik.19 Mit der Kantate in der von Neumeister geschaffenen Gestalt, die ja als weltliche Kantate immerhin aus dem katholischen Italien stammte, waren diese Austauschprozesse nicht mehr möglich. Auch wenn dies sicherlich ein nicht intendierter Nebeneffekt war, verstärkte sich auf diese Weise die Trennlinie zwischen katholischer und protestantischer Musik, denn im katholischen Gottesdienst, sei es in der Messe oder in der Vesper, gab es keinen Ort für Kantaten in der Neumeisterschen Form. Erdmann Neumeister schlug mit seinen Geistlichen Cantaten von 1702 auch ein Schema vor, an welchen Sonn- und Festtagen Kantaten für den Gottesdienst vorzusehen waren. In der Regel umfaßt ein Kantatenzyklus 72 Kantaten,20 in den Geistlichen Cantaten bedenkt Neumeister noch zusätzlich die Apostelfeste, ein Angebot an die Komponisten, das sich allerdings bei diesen nicht durchzusetzen vermochte. Als potentielle Marienfeste kommen nun zunächst drei Feiertage in Frage: Mariä Reinigung am 2. Februar, Mariä Verkündigung am 25. März und Mariä Heimsuchung am 2. Juli.21 Diese drei Festtage wurden von den Dichtern im achtzehnten
17 Dies betrifft für den Gottesdienst Katholiken und Lutheraner, für die häusliche Andacht sind auch die Reformierten zu berücksichtigen. 18 Zu den frühneuzeitlichen Magnificat-Vertonungen vgl. jetzt: Christiane Wiesenfeldt, Sabine Feinen (Hg.): Das Magnificat in der frühen Neuzeit. Maria „inter“ confessiones. Turnhout 2017. 19 Man denke etwa an das Beispiel der Psalm- und Magnificat-Vertonungen Johann Rosenmüllers. Hinrich Elmenhorst verweist dazu in seiner Dramatologia antiqvo-hodierna. Das ist: Bericht von denen Oper-Spielen […] Hamburg 1688 auf den Fall eines Komponisten (eben Rosenmüllers), der wegen des Vorwurfs der Päderastie aus Leipzig hatte fliehen müssen, dann in Italien Werke zu „dem Päpstlichen GOTTES-Dienste componirte […] absonderlich zum aberglaubigen MarienDienste und heyligen [Meß] Feyer“, Werke wie seine „trefflich gesetzte Magnificat“, die „in Evangelischen Kirchen offt gehöret/ auch unter dem Evangelischen Gebrauch und Ausspendung des hochwürdigen Nachtmahls […] gemusiciret werden“ (S. 114). 20 Vgl. dazu Poetzsch-Seban (Anm. 1). 21 Zu den Marienfesten im Protestantismus vgl.: Christiane Eilrich: Gott zur Welt bringen: Maria. Von den Möglichkeiten und Grenzen einer protestantischen Verehrung der Mutter Gottes. Regensburg 2011 (Studien zur Spiritualität und Seelsorge 2), S. 109–128.
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Jahrhundert in allen Kantatenjahrgängen mit entsprechenden Kantaten bedacht. Betrachtet man die Vertonungspraxis, dann läßt sich etwa am Beispiel Telemanns, dessen rund 1700 Kantaten die weiteste Verbreitung fanden, feststellen, daß zwar in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts für die Marienfeste die Vertonungen noch bereitgestellt wurden, sie aber in den großen Abschriften-Sammlungen aus der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, wie denen, die das Frankfurter Kantatenschaffen Telemanns wiedergeben, schon weitgehend fehlen.22 Das Interesse, die Marienfesttage feierlich zu begehen, muß also in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts rapide geschwunden sein.23 Dies betrifft vor allem Mariä Verkündigung und Mariä Heimsuchung. Am Feste Mariä Reinigung steht schon vom biblischen Ausgangstext Lukas 2,22–32, der als Perikope für diesen Tag zugrunde liegt, nicht die Gottesmutter im Mittelpunkt, sondern der greise Simeon und sein Lobgesang. Im folgenden werden daher nun Kantaten zu den Festen Mariä Verkündigung (Perikope: Lk 1,26–38) und Mariä Heimsuchung (Perikope: Lk 1,39–56) näher zu betrachten und auf die Darstellung Marias hin zu befragen sein, Feste, in denen die Verkündigung der Geburt Christi durch den Erzengel Gabriel bzw. der Besuch Marias bei Elisabeth mit dem Magnificat im Zentrum stehen. Der Untersuchung liegen dabei für jeden der beiden Festtage rund ein Dutzend Kantatendichtungen zugrunde: Jeweils fünf von Erdmann Neumeister24, hinzu kommen je eine Kantate von Georg Christian Lehms25, Salomon Franck26, Gottfried Behrndt27, Daniel Stoppe28, Johann Friedrich Helbig29, und mit Johann Jacob Rambachs Geistlichen 22 Vgl. Christiane Jungius: Telemanns Frankfurter Kantatenzyklen. Kassel [u. a.] 2008 (Schweizer Beiträge zur Musikforschung 12). Hier wird im Anhang (S. 362–404) die Überlieferung vor allem der Frankfurter Kantatenzyklen Telemanns dokumentiert. Für die drei Marienfeste ist die Überlieferung jeweils signifikant geringer gegenüber der für die anderen Sonn- und Festtage. 23 Hier wären für das achtzehnte Jahrhundert eingehendere historische Untersuchungen noch zu leisten. Recht summarisch: Reintraud Schimmelpfennig: Die Geschichte der Marienverehrung im deutschen Protestantismus. Paderborn 1952, S. 52–80; Paul Graff: Geschichte der Auflösung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschlands, 2. Bd.: Die Zeit der Aufklärung und des Rationalismus. Göttingen 1939, S. 72–88. 24 Bequem greifbar in seiner Sammlung: Erdmann Neumeister: Tit. Herrn Erdmann Neumeisters Fünffache Kirchen-Andachten […] Leipzig 1716; ferner die Ergänzungssammlung: Erdmann Neumeister: Herrn Erdmann Neumeisters Fortgesetzte Fünffache Kirchen-Andachten, in Drey neuen Jahrgängen […] Hamburg 1726. 25 Georg Christian Lehms: Gottgefälliges Kirchen-Opffer […] Darmstadt 1711. 26 Salomon Franck: Evangelische Sonn- und Fest-Tages-Andachten […] Weimar, Jena 1717. 27 Behrndt (Anm. 2). 28 Daniel Stoppe: Geistliche Gedichte, auf die Sonn- und Festtage durch das ganze Jahr. Leipzig, Lauban 1742. 29 Johann Friedrich Helbig: Musicalisches Heb-Opffer. Stolberg 1729.
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Poesien30 auch Kantaten eines dezidiert pietistischen Autors. Unter quantitativen Gesichtspunkten stellen ein Dutzend Kantaten pro Fest sicherlich eine defizitäre Analysebasis dar, man wird für die erste Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts auf jeden Fall von der zwanzigfachen, vielleicht sogar von einer noch höheren Zahl an Dichtungen auszugehen haben, also von mindestens 250 Kantatentexten pro Fest. Gerade die Texte Neumeisters sind allerdings von einer Vielzahl an Komponisten vertont worden, so daß die ausgewählten Kantaten wenn schon nicht quantitativ, so doch vielleicht qualitativ repräsentativ sein könnten. Eine erste Musterung der Kantatentexte ergibt einen in seiner Eindeutigkeit dann doch etwas überraschenden Befund: In nur vier der Dichtungen wird Maria und ihre Funktion beim Erlösungswerk explizit oder wenigstens implizit erwähnt. Die Kantatendichter sind Meister in der Aussparung aller mariologischen Details: Das Wunder der jungfräulichen Geburt bleibt ebenso ausgespart wie die ja nicht ganz unwesentliche Rolle Marias bei der Menschwerdung des Gottessohnes. Daniel Stoppe leitet seine Arie auf das Fest Mariä Verkündigung mit folgender Arie ein: Selige Nachricht! o tröstliche Post! GOtt kommt ins Fleisch und bringt den Himmel auf die Erde. Der Herold unsrer Seligkeit Verkündigt lauter Wunder-Werke Und bringt der Schwachheit neue Stärke. Die Ewigkeit kommt in die Zeit, Damit die Zeitligkeit einst ewig-glücklich werde. Da Capo.31
Während der Erzengel Gabriel als „Herold unsrer Seligkeit“ metaphorisch Erwähnung findet, bleibt Maria ausgespart. Auf concettistische Weise wird die Menschwerdung Christi mit der Seligkeit der Menschen verknüpft: Indem der ewige Gott sich in die Zeitlichkeit begibt, kann der dadurch erlöste Mensch aus der Zeitlichkeit in die Ewigkeit gelangen. Im weiteren Verlauf der Kantate geht es um die direkte Beziehung zwischen den sündigen Menschenkindern und Gott Vater. ARIA Kommt wieder! ihr verlohrnen Kinder! Der Vater ruft euch. Scheut euch nicht!
30 Johann Jacob Rambach: Geistliche Poesien. Halle 1720; hier zitiert nach der zweiten Auflage, Leipzig 1734. Zu Rambachs Kantaten vgl. Julian Heigel: „Vergnügen und Erbauung“. Johann Jacob Rambachs Kantatentexte und ihre Vertonungen. Halle 2014 (Hallesche Forschungen 37). 31 Stoppe (Anm. 28), S. 40.
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Er hat die Ruthe weggelegt; Die Liebe, die er für euch hegt, Die Liebe für das Heil der Sünder Brennt ihm aus den Augen und Gesicht. Da Capo.32
Die Mutterschaft Mariens in Bezug auf Christus wird in den meisten Kantatendichtungen (auf die Ausnahme Salomon Franck wird noch einzugehen sein) ausgeblendet und durch die Vaterschaft Gottes in Bezug auf die Menschenkinder ersetzt. So heißt es auch bei Johann Friedrich Helbig: Seht das grosse Wunder an Das der HErr an uns gethan! Er schickt uns vom Himmels-Thron Seinen eingebohrnen Sohn, Daß durch Jhn, wenn wir nur wollen GOttes Kinder werden sollen.33
Wie die meisten Kantaten mündet auch Stoppes Dichtung in eine tropologische Applikation, die mit einem unmarkierten Sprecherwechsel einhergeht. Nach dem Erzähler spricht die einzelne gläubige Seele in der Ich-Form: O Jesu! melde dich doch auch in meinem Herzen an; Laß dich auch von mir empfangen! Daß dein wahres Ebenbild Meine Seele ganz erfüllt. Wohn in mir und unterbrich alles sündliche Verlangen.34
So, wie in Maria Christus Mensch wurde, soll er auf geistliche Weise in jedem einzelnen Gläubigen wiedergeboren werden. Der erste Teil der Gleichung muß von den Gläubigen allerdings implizit erschlossen werden, obwohl die Texte ansonsten alles recht explizit und deutlich formulieren. In gleicher Weise unternimmt auch Helbig eine tropologische Auslegung der Gotteskindschaft: Doch bilde sich die Kindschafft niemand ein Deß Hertze nicht von Sünden rein / Und GOtt nur halb ergeben denckt zu seyn.35
32 Stoppe (Anm. 28), S. 41. 33 Helbig (Anm. 29), S. 49. 34 Stoppe (Anm. 28), S. 41. 35 Helbig (Anm. 29), S. 49.
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Die in Bezug auf Mariä Verkündigung mögliche Thematisierung der geistlichen Wiedergeburt, sei es im lutherischen oder im spezifisch pietistischen Sinne, findet sich in den hier untersuchten Texten nur bei Behrndt36, mit ausgeprägt pietistischen Akzenten dann in den von Johann Friedrich Fasch vertonten Kantatentexten Johannes Caspar Manhardts.37 Die Rolle des Erzengels Gabriel im Zusammenhang mit der Verkündigungsszene wird in etlichen Kantaten gegenüber der Marias deutlicher herausgestellt. Bei Johann Jacob Rambach etwa heißt es in einer Apostrophe: Willkommen, Gabriel! Du Bote neuer Wonne, Du Herold unsrer holden Sonne, Du zeigst des Königs Ankunft an, Der Davids Thron besteiget, Vor welchem David selbst sich neiget. Und dem kein Salomo an Würde gleichen kan.38
Eine solche Apostrophe an Maria unterbleibt. Gelegentlich drängt sich der Eindruck einer regelrechten Tabuisierung auf, so in Stoppes Kantate zu Mariä Heimsuchung. Die Kantaten zu diesem Marienfest paraphrasieren meist das in der Evangelien-Perikope zum Hauptgottesdienst vorkommende Magnificat (Lk 1,46–56) und thematisieren in tropologischer Ausdeutung die rechte Art und Weise, Gott zu loben. Nachdem zunächst in der Eingangs-Aria betont wird, daß das gemeinsame Lob – gemeint ist das Lob Gottes, welches Elisabeth und Maria aussprechen – „unvergleichlich schön“ sei, wird dies im anschließenden Rezitativ vertieft und mit dem falschen Lob des Bauches kontrastiert. O wie selig ist die Stunde! HERR, da man dein gedenkt, Und Sinn und Geist auf deine Thaten lenkt; Da man mit vereintem Munde Voller Jauchzen für dir steht, Und dein wahres Lob erhöht. Die Welt vereinigt sich zwar auch, Nicht deinen Ruhm an Tag zu legen; Ach nein! der Sünden wegen;
36 Behrndt (Anm. 2), S. 103. Behrndt überschreibt seine Betrachtung zum Fest Mariä Verkündigung mit „Vom Geheimnisse der Wiedergeburt“. 37 Vgl. dazu die eingehende Analyse bei Elena Sawtschenko: Die Kantaten von Johann Friedrich Fasch im Lichte der pietistischen Frömmigkeit. Pietismus und Musik. Paderborn 2009 (Beiträge zur Geschichte der Kirchenmusik 14), S. 169–201, hier besonders S. 190 f. 38 Rambach (Anm. 30), S. 180.
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Ihr Abgott ist der Bauch, Den loben sie mit aufgesperrtem Munde, Mit dem verterben sie so manche schöne Stunde.39
Stoppe spart die Namen der beiden Lobenden aus und ersetzt sie durch das unpersönliche Pronomen „man“. Dieses „man“ bleibt doppelt unbestimmt, im Hinblick auf die Lukas-Stelle ebenso wie auch im Hinblick auf die vom Kantatentext zu fordernde Applicatio auf das Ich der gläubigen Seele. Nach diesem generellen Negativbefund seien nun die Ausnahmen näher betrachtet, jene wenigen Stellen in den Kantatendichtungen also, in denen Maria explizit erwähnt wird. Sie tritt zum einen – theologisch unbedenklich – als positives Exemplum im Zusammenhang mit dem Lobpreis Gottes auf. Das Magnificat, das sie bei ihrer Begegnung mit Elisabeth spricht, wird dabei Modell für das rechte Lob Gottes. Das rechte Lob Gottes ist in den meisten Kantaten zu Mariä Heimsuchung das Hauptthema, jedoch wird es in der Regel nicht an die Figur der Gottesmutter geknüpft, obwohl doch sie es ist, die das Magnificat spricht. In der vor allem wegen ihres Schlußchorals bekannten Kantate Herz und Mund und Tat und Leben, die auf einen Text von Salomon Franck für eine Kantate zum 4. Adventssonntag 1716 in Weimar zurückgeht,40 dann 1723 von einem unbekannten Textdichter so mit Rezitativtexten erweitert wurde, daß die Kantate zum Fest Mariä Heimsuchung aufgeführt werden konnte, heißt es im ersten der neu eingefügten Rezitative: Gebenedeiter Mund! Maria macht ihr Innerstes der Seelen Durch Dank und Rühmen kund; Sie fänget bei sich an, Des Heilands Wunder zu erzählen, Was er an seiner Magd getan.41
Maria als Positivexemplum wird im zweiten Teil des Rezitativs mit dem NegativExemplum der verstockten Sünder kontrastiert, nicht ohne daß zunächst noch einmal deutlich auf Christus als den eigentlichen Mittler und Erlöser hingewiesen würde: O menschliches Geschlecht, Des Satans und der Sünden Knecht, Du bist befreit
39 Stoppe (Anm. 28), S. 87. 40 Vgl. den Textdruck in Franck (Anm. 26), S. 7 f. 41 Text der Ergänzungen hier (in modernisierter Form) zitiert nach: Alfred Dürr: Die Kantaten von Johann Sebastian Bach. Mit ihren Texten. 5. Auflage. München 1985, Bd. 2, S. 742.
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Durch Christi tröstliches Erscheinen Von dieser Last und Dienstbarkeit! Jedoch dein Mund und dein verstockt Gemüte Verschweigt, verleugnet solche Güte; Doch wisse, daß dich nach der Schrift Ein allzuscharfes Urteil trifft!42
Der „gebenedeite Mund“ Mariens, der das Innerste der Seele zum Ausdruck bringt, bildet gegenüber dem schweigenden Mund des Sünders mit seinem verstockten Gemüt eine Antithese, die zunächst zu einer Drohung führt, im weiteren Verlauf der Kantate dann in eine positive Handlungsanweisung an die gläubigen Seelen aufgelöst wird. Das zweite Beispiel ist ebenfalls einer Kantate zu Mariä Heimsuchung entnommen und stammt aus Erdmann Neumeisters Fünffachen Kirchen-Andachten von 1716. Zunächst folgt ein Dictum mit dem Zitat aus Lukas 1,39 und 1,40, Maria besucht Elisabeth. Maria suchet ihre Freundin heim. Und ich besuche meinen Freund, Den meine Seele liebet, Ders ewig treu und hertzlich mit mir meynt, Der mir sein Wort, den süssen Honigseim, Zu meinem Labsal giebet. Mein Freund ist mein, Und ich bin sein, Mein Freund, der JEsus heißt. Zu Jhm soll sich mein Geist Jm Glauben schwingen. Last mich, last mich mit Lust von seiner Gnade singen.43
Neumeister zitiert hier Passagen aus dem Hohelied und deutet die Begegnung Marias mit Elisabeth etwas gewaltsam als eine Liebesbeziehung der Seele mit Christus um. Protestantische Schlüsselbegriffe wie der „süsse Honigseim“ des göttlichen Worts oder in der letzten Zeile der Hinweis auf die göttliche Gnade fallen und münden in den drei letzten Zeilen in das mit der Bibelstelle in Verbindung stehende Deutungsschema vom rechten Lob Gottes. Der Magnificat-Text in der Verdeutschung Luthers schließt sich an. Daß eine stärkere Berücksichtigung Mariens in der protestantischen Kantatendichtung immerhin möglich ist, zeigt Salomon Francks Kantate auf das Fest
42 Ebd. 43 Neumeister (Anm. 24), S. 752 f.
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der Verkündigung Mariä. (Francks Text ist von Johann Sebastian Bach entweder nicht vertont worden oder die Komposition ist verlorengegangen.) In der ersten Aria wird das Paradox der Menschwerdung Gottes im Körper Marias formuliert: Den die Himmel nicht umfassen, Der hat in Marien Leib Heute sich herab gelassen, Seht! den Mann umfaßt das Weib! Hat Marien Schoos getragen Den, der Welt und Himmel trägt, Den, der Satans Heer geschlagen, Den, der Erd und Meer bewegt?44
Das Paradox, daß das Schwache das Gefäß des Starken bildet, wird hier, wohl unter Rekurs auf das Magnificat, im Bild der zeittypisch bestimmten Geschlechterrollen formuliert, eine syntaktische Inversion spiegelt die Verkehrung der gewohnten Ordnung („den Mann umfaßt das Weib“).45 In der dritten Aria findet sich eines der selten gebrauchten, in tropologischer Funktion eingesetzten Bilder, die die Beziehung zwischen Seele und Gott als Mutterschaft formulieren: Seele! Du kannst auf der Erden Christi Mutter geistlich werden! Komm! mit glaubigem Verlangen Deinen Heyland zu empfangen! Laß dich Christi Geist verklähren, Deinen Heiland zu gebähren!46
Wie in dem eingangs zitierten Rezitativ des unbekannten Dichters der Bach-Kantate BWV 147 wird auch bei Salomon Franck Maria zum Vorbild für die lutherischen Gläubigen – zum Vorbild, freilich nicht zur Mittlerin. Abschließend sei wenigstens anhand eines Beispiels ein kurzer Blick auf die Musik geworfen, um zu demonstrieren, daß auch durch die spezifische Art der Vertonung Maria in das Zentrum der Betrachtung gerückt werden kann. Es geht um eine frühe Kantate von Georg Philipp Telemann: Im sechsten Monat ward der Engel Gabriel gesandt TVWV 1:927, eine Kantate auf den Text eines unbekann44 Franck (Anm. 26), S. 36. 45 Vgl. unter diesem Aspekt auch Luthers Das Magnificat Vorteutscht und außgelegt (1520/21) in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (WA), Bd. 7, Weimar 1897, S. 544–604, hier besonders S. 573 f., eine Stelle, in der es Luther um die Auslegung der „humilitas“ Mariens geht. Vgl. dazu Hans Düfel: Luthers Stellung zur Marienverehrung. Göttingen 1968 (Kirche und Konfession 13), hier besonders S. 113–134. 46 Franck (Anm. 26), S. 36.
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ten Dichters, die vielleicht in Leipzig entstanden sein könnte, also zwischen 1701 und 1705.47 Die Kantate zum Fest Mariä Verkündigung ist zunächst einmal insofern ungewöhnlich, als in ihr der Text der Perikope Lk 1,26 ff. wörtlich und nahezu vollständig vertont wird, und zwar in dialogischer Weise, d. h. die Worte des Evangelisten, des Engels und Marias werden wie in einem Oratorium jeweils einer Stimme zugeordnet, wobei alle Stimmen vom Basso Continuo, der Evangelist jedoch zusätzlich noch von zwei Violen begleitet werden. Dieses ältere Formprinzip eines Dialogus wird Telemann in späteren Kantatenjahrgängen48 dann wieder in verwandelter Gestalt aufgreifen. In den Evangelienbericht eingeschaltet sind frei gedichtete Arien, die den Inhalt des Evangeliums heilsgeschichtlich reflektieren. Der Text der ersten Arie lautet: Maria wird erwählt, das Heil der Welt, Gott selbsten zu gebären, denn Gabriel zeigt die Empfängnis an. Die schönste Freudenpost wird heute kundgetan. Der Ausgang will nunmehr verheißnes Gut gewähren, das unsre Hoffnung hat mit Tränen abgezählt.49
Im Rahmen der üblichen, bei der protestantischen Kantatendichtung zu konstatierenden Zurückhaltung wird in der ersten Zeile die Rolle der Gottesmutter als Erwählte deutlich herausgestellt. Die Vertonung Telemanns verstärkt diese Emphase. Die Arienvertonung folgt noch nicht dem neuen Typus der Da CapoArie, sondern älteren Aria-Modellen des siebzehnten Jahrhunderts, bei denen der Text, nur vom Basso Continuo begleitet, wie eine Liedstrophe vertont wird und von einem Instrumentalritornell abgeschlossen wird. Betrachtet man nun die Art der Textbehandlung, so wird deutlich, daß Telemann die erste Zeile musikalisch ins Zentrum rückt (vgl. Notenbeispiel 1). Zu Beginn erklingt der erste Vers zweimal, und am Schluß, ab Takt 15, wird er noch einmal wiederholt. Es handelt sich nicht um ein strenges Da capo, aber es entsteht dadurch dennoch eine variierte ABA-Form. Innerhalb dieser dreimaligen Präsentation der ersten Zeile wiederum wird der Name der Gottesmutter dreimal angerufen, eine musikalische Climax. Die ersten fünf Takte stellen die Erwähltheit Mariens an sich heraus, wobei es auf Takt vier und auf Takt sechs hin jeweils zu einer Kadenz nach C-Dur bzw. G-Dur kommt, d. h. musikalisch wird das Komma 47 Im Folgenden zitiert nach: Georg Philipp Telemann: Frühe Kirchenmusiken. Hg. von Wolfgang Steude. Kassel [u. a.] 2003 (Musikalische Werke 36), S. 23–42; zum Kontext vgl. S. XIV. 48 Zunächst im sogenannten oratorischen Jahrgang, Hamburg 1731/32, auf Texte von Albrecht Jacob Zell. Vgl. Ute Poetzsch: Oratorien als Kirchenmusik. In: Die Tonkunst 11 (2017), S. 480–485. 49 Text nach Telemann (Anm. 47), S. XXVIII.
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Notenbeispiel 1: Georg Philipp Telemann: Kantate „Im sechsten Monat ward der Engel Gabriel gesandt“ TVWV 1:927, Beginn der Aria Nr. 2. Zitiert nach: Georg Philipp Telemann: Frühe Kirchenmusiken. Hg. von Wolfgang Steude. Kassel u. a. 2003 (Musikalische Werke Bd. 36), S. 28. © Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle GmbH & Co. KG
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Notenbeispiel 2: Georg Philipp Telemann: Kantate „Im sechsten Monat ward der Engel Gabriel gesandt“ TVWV 1:927, Fortsetzung der Aria Nr. 2. Zitiert nach: Georg Philipp Telemann: Frühe Kirchenmusiken. Hg. von Wolfgang Steude. Kassel u. a. 2003 (Musikalische Werke Bd. 36), S. 29. © Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle GmbH & Co. KG
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des Textes durch einen Punkt ersetzt. Erst ab dem sechsten Takt erfahren die Hörer dann, warum und wozu Maria erwählt wurde. Dies eine musikalische Beispiel ist zusammen mit den Textbeispielen im vorhergehenden Kapitel sicher nicht geeignet, das Bild einer exuberanten protestantischen Marienfrömmigkeit zu evozieren, die Zurückhaltung, ja Vorsicht im Umgang mit der Gottesmutter bleibt als Haupttendenz der protestantischen Kantatendichtung im achtzehnten Jahrhundert festzuhalten. Da die Kantaten auch im Gottesdienst, also an prominentester Stelle in einem öffentlichen Raum erklangen, einem Raum, der in dogmatischer Hinsicht scharf überwacht wurde – als Telemann etwa in den 1750er Jahren protestantische Choräle in der Neufassung von Klopstock einsetzte, gab es Reklamationen und Verbote50 –, verhielten sich die Kantatendichter besonders zurückhaltend und vielleicht sogar vorsichtiger, als dies im Rekurs auf Luthers Positionen notwendig gewesen wäre. Der zu konstatierende Rückgang des Interesses an der musikalischen Ausgestaltung der Marienfeste im protestantischen Raum im Verlauf des achtzehnten Jahrhunderts hängt möglicherweise auch mit anderen, außerkirchlichen Faktoren zusammen, vielleicht spielen hier Positionen der Aufklärung mit hinein.51
50 Dazu Ralph-Jürgen Reipsch: Telemann und Klopstock. Annotationen. In: Telemann-Beiträge. Abhandlungen und Berichte. 3. Folge. Oschersleben 1997 (Magdeburger Telemann-Studien 15), S. 104–130. 51 Vgl. Schimmelpfennig (Anm. 23), S. 62–67.
Christine Büchner
Maria in der Mystik der Frühen Neuzeit 1 Einleitung: Marianische Spiritualität und Mystik Wenn man über Mystik spricht, wird erwartet, dass man zunächst definiert, was man unter Mystik versteht. Mystik lässt sich meines Erachtens beschreiben als die Reflexion der unmittelbaren Erfahrung einer letztgültigen Einheit der Tiefe des Selbst mit Gott als dem Grund aller Wirklichkeit. Angesichts einer solchen Erfahrung erhalten alle Wege und Mittel zu Gott, über die sich etwa die verschiedenen Konfessionen streiten, einen sekundären, da vorläufigen Charakter. Es ist nachvollziehbar, dass daher Mystikerinnen und Mystikern innerhalb des westlichen kirchlichen Christentums immer wieder vorgeworfen wurde, sie vernachlässigten gar die Heilsmittlerschaft Jesu Christi und bewegten sich deswegen am Rand zur Häresie oder auch bereits in ihr. Freilich führte oft der Umstand, dass einzelne Sätze ohne ihren textlichen Zusammenhang wahrgenommen wurden, zu solchen Vorwürfen. Ich erinnere an dieser Stelle nur an zwei berühmt gewordene Sätze des mittelalterlichen Mystikers und Theologen Meister Eckhart: „Wan got enhât des menschen heil niht gebunden ze deheiner sunderlîchen wîse.“ [Gott hat der Menschen Heil nicht an irgendeine besondere Weise gebunden.]1 Hier kommt die Relativität der verschiedenen Wege und Heilsmittel zum Ausdruck. Bzw.: „[d]â der vater sînen sun in mir gebirt, dâ bin ich der selbe sun und niht ein ander […]“ [Wo der Vater seinen Sohn in mir gebiert, da bin ich derselbe Sohn und nicht ein anderer […]].2 Damit ist die unmittelbare Einheit des eigenen Innersten mit dem eingeborenen Sohn und insofern mit Gott selbst zum Ausdruck gebracht. Betrachtet man auf dem Hintergrund dieser Vorbemerkungen die Entwicklungen des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts im Hinblick auf die Marienfrömmigkeit im katholischen Milieu, ergibt sich ein offensichtlicher Gegensatz zu diesen Entwicklungen und dem, worum es in der Mystik geht. Maria wird zum konfessionellen, bewusst und zum Teil polemisch eingesetzten Marker, an der sich
1 Meister Eckhart: Die rede der underscheidunge. Hg. von Josef Quint. In: Meister Eckhart: Die deutschen und lateinischen Werke. Hg. i. A. der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Die deutschen Werke [im Folgenden abgekürzt: DW]. 5. Band: Meister Eckharts Traktate. Hg. und übersetzt von Josef Quint. Stuttgart 1963, S. 137–376, hier S. 251 (Übersetzung: S. 522). 2 Meister Eckhart: Predigt Nr. 4. In: DW. 1. Band: Meister Eckharts Predigten (Pr. 1–24). Hg. und übersetzt von Josef Quint. Stuttgart 1957, S. 72 f. (Übersetzung: S. 444 f.). https://doi.org/10.1515/9783110665109-013
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die Zugehörigkeit zum ‚wahren Glauben‘ entscheidet. Es erfolgt dabei eine Konzentration auf die Heilsmittel, statt auf das Heilsziel, eine Konzentration, die erst mit dem II. Vatikanischen Konzil überwunden wurde. Maria wird zur notwendigen Figur der Gnadenmittlerschaft.3 Dabei steht noch beim Konzil von Trient Maria nicht im Zentrum. Außer ihrer Empfängnis ohne Erbsünde und der Legitimität ihrer Verehrung zusammen mit den anderen Heiligen der Tradition werden keinerlei weitergehende Aussagen über sie gemacht.4 Stefano De Fiores, langjähriger Präsident der Marianischen Akademie in Rom, deutet die Vermutung an, dass gerade diese Tatsache (dass hierzu keine Vorgaben gemacht wurden) zusammen mit einer insgesamten Stärkung der Katholizität, die das Konzil brachte, das Wachstum vielfältiger Formen der Marienfrömmigkeit begünstigt hat.5 Dem entspricht die Analyse des Jesuiten und Sozialwissenschaftlers Michel de Certeau: Er interpretiert die Ausbreitung mystischer Frömmigkeit innerhalb des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts als Ausdruck der spirituellen Suche nach einem Sinn, der sowohl in den alten wie in den neuen Institutionen des Glaubens als abwesend erfahren wird.6 Beides, der Aufschwung der Mystik und der Marienkulte, wäre dann, obwohl von ihrer Grundausrichtung verschieden, ja gegensätzlich, Ausdruck der Erfahrung einer Leerstelle. In den Marienkulten versuchte man, diese Leerstelle zu besetzen – etwa im Rahmen der Marienwallfahrten. Man ersetzte die Suche mit einem Ziel, das verbürgen soll, was es eigentlich (folgen wir de Certeau)7 nicht verbürgen kann: die Anwesenheit Gottes. Denn was die Leerstelle besetzt, wird zugleich zum Etikett des Sich-Unterscheidens, hier konkret: zum Ausweis des Katholischen, welches das, wofür es steht, notgedrungen verstellt.
3 Vgl. Stefano De Fiores: Maria in der Geschichte von Theologie und Frömmigkeit. In: Handbuch der Marienkunde. Hg. von Wolfgang Beinert, Heinrich Petri. Bd. 1: Theologische Grundlegung – Geistliches Leben. 2., völlig neu bearb. Aufl. Regensburg 1996, S. 99–266, hier S. 181. 4 Vgl. Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen = Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum. Hg. von Heinrich Denzinger, Peter Hünermann. 45. Aufl., verbessert, erweitert, ins Deutsche übertragen unter Mitarbeit von Helmut Hoping. Freiburg i. Br. u. a. 2017, Nr. 1516 und Nr. 1823. 5 Vgl. De Fiores (Anm. 3), S. 179. Vgl. auch Heiner Grote: Maria/Marienfrömmigkeit II (kirchengeschichtlich). In: Theologische Realenzyklopädie. Hg. von Gerhard Müller u. a. Bd. 22, Berlin, New York 2000, S. 119–137, hier S. 131 ff. 6 Vgl. Michel de Certeau: Mystische Fabel. 16. bis 17. Jahrhundert. Übersetzt von Michael Lauble. Berlin 2010, S. 124–140. 7 Vgl. ebd.
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Mystikerinnen und Mystikern indes geht es darum, die Leerstelle stattdessen freizuhalten für die Andersheit (und damit für das prinzipielle Fehlen) Gottes, um dessentwillen sie auf das eigene Ankommen am Ziel verzichten. In der Marienmystik kommen nun, so meine These, beide Strömungen zusammen: Zum einen das Verlangen nach einem Anhaltspunkt inmitten von zunehmender Orientierungslosigkeit, in dem man sich wieder gehalten weiß, zum anderen das Wissen darum, dass diese Anhaltspunkte nicht alles sind bzw. dass sie es prinzipiell nicht sein können. Marienmystik bewegt sich also im Spannungsfeld zwischen Suche und Positionierung.8 Während sich die Mystik des Mittelalters vornehmlich auf Jesus Christus als Identifikationsfigur bezog,9 ist in der Frühen Neuzeit die Tendenz zu beobachten, Christus nach und nach durch Maria zu ersetzen und so die Katholizität des Glaubens zum Ausdruck zu bringen. Diese Entwicklung lässt sich am stärksten bei jenen beobachten, die sich mit ihrer Spiritualität zugleich konfessionell polemisch positionieren, weniger stark dagegen bei jenen, die eine eigenständige katholische Spiritualität entwickeln, die erst im Nachhinein stärker in die interkonfessionellen Konflikte hineingezogen wird. Und es gibt auch nach wie vor solche, die am Rand stehen und bei denen das Suchen gegen die Etikettierung anarbeitet. Ein letzter Punkt ist in diesem Zusammenhang einleitend noch anzusprechen: Die Partizipation von Frauen innerhalb des religiösen Lebens nimmt innerhalb des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts zu.10 Wenn nun die Christusmystik sich in Teilen zu einer Marienmystik transformiert, dürfte dies auch damit zu tun haben, dass Frauen sich eher mit Maria als mit Christus identifizieren können. Ich möchte im Folgenden exemplarisch auf verschiedene Typen frühneuzeitlicher Mystik eingehen. Sie weisen bei aller Verschiedenheit zugleich eine wichtige Gemeinsamkeit in ihrem Zugang zu Maria auf, die mit der mystischen Grunderfahrung zu tun hat: Es geht weniger um eine devotio Mariae als um eine identificatio Mariae.
8 Vgl. auch hierzu de Certeaus Beobachtung einer im dreizehnten Jahrhundert beginnenden und dann bis ins siebzehnte Jahrhundert anwachsenden Tendenz zu einer Visualisierung des ‚Mysteriums‘ (z. B. in ‚vulgarisierten‘ Predigten, der Aussetzung der Hostie, den Heiligenviten), in denen gewissermaßen das unsichtbar im Inneren des Subjekts sich Ereignende wiederum zu einer objektiven Sichtbarkeit drängt (vgl. ebd., S. 137 f. sowie ders.: GlaubensSchwachheit. Hg. von Luce Giard. Aus dem Franz. von Michael Lauble. Stuttgart 2009, S. 49). 9 Bei Meister Eckhart z. B. geht es darum, selbst der Sohn zu werden (vgl. etwa Meister Eckhart, Nr. 16b. In: DW. 1. Band: Meister Eckharts Predigten (Pr. 1–24). Hg. und übersetzt von Josef Quint. Stuttgart 1957, S. 273). 10 Vgl. De Fiores (Anm. 3), S. 174 f.
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2 Unorthodoxe Einzelgestalten Beginnen möchte ich mit zwei unorthodoxen Gestalten, deren Mystik man sicher nicht als Marienmystik bezeichnen kann, aber in deren Denken Maria doch eine gewisse Rolle spielt: Es handelt sich zum einen um den Görlitzer Schuster Jakob Böhme und zum anderen um den von Böhme entscheidend beeinflussten Barockdichter und Mystiker, der sich selbst Angelus Silesius nannte.
2.1 Jakob Böhme (1575–1624) Obwohl Jakob Böhme keine akademische Ausbildung besaß, drängten ihn seine Erfahrungen dahin, was er erfuhr, in schriftlicher Form zu reflektieren, also eine mystische Theologie zu entwickeln. In ihr geht er von drei Ebenen der Wirklichkeit aus: erstens einer ewigen Wirklichkeit in Gott, welche die anderen Ebenen begründet, umfasst und trägt; zweitens einer heilsgeschichtlich-konkreten Wirklichkeitsebene; und schließlich gibt es drittens die Ebene unseres eigenen individuell-konkreten leiblich-seelischen Lebens. Die beiden zeitlichen Ebenen sind daher stets Ausdruck der ewigen, in der damit auch jedes individuelle Leben steht. So ist die Geburt Jesu durch Maria zeitlicher Ausdruck jener tieferen ewigen Wirklichkeit, in welcher diese Geburt ebenfalls geschieht, aber eben nicht als einmaliges historisches Ereignis, sondern ewig. Böhme geht es darum, das heilsgeschichtliche Ereignis für das eigene Leben bedeutsam zu machen, so dass es ihn bzw. jeden Menschen erfahrbar in die ewige Ebene hineinhebt. Er steht mit dieser Sicht in der Tradition einer spekulativen Mystik, die von den Kirchenvätern und Neuplatonikern bis hin zu den spätmittelalterlichen Dominikanern, vor allem Meister Eckhart und seiner Schule, geht.11 Bei Meister Eckhart spielt die ewige Zeugung des Sohnes in der Gottheit eine zentrale Rolle. Sie ist der Urgrund unseres Selbst, und es geht darum, diesen Grund meines Selbst zu entdecken und darin zugleich das Andere meiner Selbst. Insofern dies geschieht, gebiert der Mensch den Sohn bzw. Logos in sich (und wird zugleich selbst als der eingeborene Sohn geboren) – ein aktiver und passiver Prozess also, der den Men-
11 Vgl. dazu etwa Fritz Arnold: Wie Maria vor dem Geheimnis des dreifaltigen Gottes. In: Forum Katholische Theologie 16/4 (2000), S. 271–288, der diese Dreistufigkeit der Wirklichkeit für Johannes Tauler aufzeigt (ebd., S. 273 f.). Ich habe die drei Ebenen der Gottesgeburt im Bezug auf Meister Eckhart ausführlich beschrieben, vgl. Christine Büchner: Gottes Kreatur – „ein reines Nichts“? Einheit Gottes als Ermöglichung von Geschöpflichkeit und Personalität im Werk Meister Eckharts. Innsbruck 2005 (Innsbrucker theologische Studien 71), S. 232–259.
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schen zum Gebärenden und Neugeborenen zugleich macht. Maria spielt in diesem Prozess insofern keine Rolle, als der Mensch mit seinem Seelengrund selbst die Rolle der fruchtbringenden Jungfrau einnimmt, der seinen Eigenwillen aufgibt und so Gott in sich Raum gibt, dass er in ihm zur Welt kommen kann. Wir finden die Struktur dieses Konzepts bei Böhme wieder, in einer der Zeit entsprechenden, mehr soteriologisch dramatisierenden Sprache: Auch ihm geht es darum, dass der Mensch in Christus wiedergeboren und so gerettet werde – und zwar, so heißt es, durch die Geburt in der Jungfrau.12 Die Jungfrau ist bei Böhme, das zeigt bereits diese Formulierung, nicht wie bei Eckhart ausschließlich metaphorische Bezeichnung der auf Gott hin offenen Haltung des Menschen in seinem Grund, sondern eine reale Wirklichkeit auf der Ebene Gottes, die der Gestalt Mariens auf der zeitlichen Ebene entspricht.13 Böhme nennt sie (entsprechend der biblisch-hellenistischen Weisheitstradition) Weisheit oder Sophia. Sie ist „Spiegel der Gottheit“14, in ihr erkennt Gott sich selbst. Der Spiegel ist ein eminent mystisches Motiv: Bei Meister Eckhart, Mechthild von Magdeburg, Marguerite Porete und anderen wird es verwendet, um den Menschen in seinem Grund zu bezeichnen, der nichts anderes ist außer Empfänglichkeit für Gott, eine freie Fläche, in der sich Gott abbilden, also Gestalt annehmen und sichtbar werden kann. Dieses Moment von Empfänglichkeit kennzeichnet nach Böhme auf historischer Ebene
12 Vgl. Ferdinand van Ingen: Die Jungfrau Sophia und die Jungfrau Maria bei Jakob Böhme. In: Gott, Natur und Mensch in der Sicht Jacob Böhmes und seiner Rezeption. Hg. von Jan Garewicz, Alois Maria Haas. Wiesbaden 1994, S. 147–163, hier S. 150; bzw. Jakob Böhme: De Incarnatione Verbi, oder Von der Menschwerdung Christi. In: Theosophia Revelata. Das ist: Alle Göttliche Schriften des Gottseligen und Hocherleuchteten Deutschen Theosophi Jacob Böhmens. 21 Bücher in 7 Bänden. Hg. von Johann Wilhelm Ueberfeld. Leiden 1730, Bd. 3, I, 9, 9–12: „So auch der Mensch: Er war in der Jungfrauschaft in GOttes Weisheit erschaffen, war aber vom Grim und Zorn GOttes ergriffen, darum war er auch alsobald verderbet und irdisch […] Also auch der Mensch, er soll wieder in die Jungfrauschaft eingehen, darin er geschaffen ward. So aber das dem Menschen nicht möglich war, […] So mußte sich die Gottheit bewegen, und das Eingeschlossene wieder eröffnen und lebendig machen. Und das geschahe in Marien der verschlossenen Jungfrauen […]. Das Wort hat sich allenthalben eröffnet auch in iedes Menschen Lebens-Licht; und fehlet nur daran, daß sich der Seelen-Geist darein ergebe, so zeucht er die ewige Jungfrauschaft wieder an, nicht als ein Kleid, sondern aus seiner eigenen Essenz, ihme wird GOtt geboren […]“ Vgl. auch die weitere Fortsetzung des Kapitels, in der Böhme diesen Grundgedanken wiederholt und entfaltet, sowie ebd., I, 8, 5. 13 Vgl. Böhme, Menschwerdung (Anm. 12), I, 1, 12; I, 6, 14; I, 9, 5–6.14. 14 Ebd., I, 1, 12: „[…] das göttliche Centrum, als GOttes Herz oder Wesen, offenbaret sich in ihr. Also ist diese Jungfrau der Weisheit ein Spigel der Gottheit, darin der Geist GOttes sich selber sihet. […] Si stehet vor der Gottheit als ein Glast oder Spigel der Gottheit, da sich die Gottheit inne siehet, und in ihr stehen die Göttlichen Freudenreich des Göttlichen Willens, als die grossen Wunder der Ewigkeit, welche weder Anfang noch Ende, noch Zahl haben […]“
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Maria, auf ewiger Ebene Sophia; es macht zugleich jeden Menschen zum Spiegel Gottes bzw. zur Jungfrau.15 Folgerichtig bezeichnet Böhme das Abbildsein des Menschen auch als Jungfrausein und führt dieses auf die Wirkkraft von Sophia zurück, dem schöpferischen Prinzip in Gott selbst. Insofern der Mensch (exemplarisch: Adam) sich aber der Welt zugeneigt hat, hat er seine Ebenbildlichkeit verloren; seine Rettung bzw. Transformation in Gott geschieht – hierdurch wird die Komplexität der Gedankenführung noch einmal gesteigert –, insofern er selbst wiederum die Jungfrau in sich gebiert.16 Auch hier finden wir also einen Umschlag von der reinen Passivität (des Spiegels/der Jungfrau) in die Aktivität des Gebärens. Während die frühere Tradition eine Analogie zwischen dem ewigen Logos, Jesus Christus und der menschlichen Seele zieht, die sich metaphorisch durch das Jungfrausein vermittelt, wird hier eine Analogie gezogen zwischen Sophia, Maria und der menschlichen Seele. Das hat Konsequenzen, insofern auf heilsgeschichtlicher Ebene Christus und Maria nicht denselben Status besitzen. Diesen Unterschied betont Böhme auch, und er ist vielleicht sogar der Grund für diese eigentümliche Transformation des Gottesgeburtsmotivs. Denn Maria ist ein Mensch wie wir: „[…] wäre Maria kein Mensch von uns, was wäre mir denn der fremde Christus nütze?“17 fragt Böhme. Nur weil Maria ein ganz „normaler“ Mensch war, kann sie für uns mit ihrer Demut, mit der sie sich ganz auf Gott einließ, ein Vorbild sein, dem wir folgen können, so dass auch wir von Gott schwanger werden und ihn, das Leben, gebären, das sich uns so wieder neu aufschließt.18 Mit der Sophienfigur wird ein weibliches Prinzip in Gott hineingebracht und die männliche Identifikationsfigur weicht einer weiblichen. So wie Jesus von Nazaret der geborene Logos Gottes ist, so ist Maria die gebärende Sophia Gottes. Mit Maria ist dabei nicht nur das Muttermotiv (das Gebären), sondern, durch die Adaption der Hoheliedtradition, auch das Brautmotiv (die Sehnsucht nach dem Geliebten) verbunden. Die Mutter Jesu ist zugleich die mystische Braut Christi. In beide versetzt sich die Seele hinein, indem sie sich sowohl nach Gott sehnt als auch ihn empfängt. Insofern gerade das Sehnen Frucht bringt, ist das Brautsein mit dem Muttersein identisch.
15 Vgl. Anm. 14. Vgl. auch Bernard McGinn: Die Mystik im Abendland. Bd. 6/1: Verzweigung. Protestantische Mystik (1500–1650). Aus dem Engl. übersetzt von Bernhardin Schellenberger. Freiburg im Br. 2017, S. 223. 16 Vgl. van Ingen (Anm. 12), S. 152, mit Bezug auf Jakob Böhme, De tribus principiis, oder Beschreibung der Drey Principien Göttliches Wesens, XI, 35. 17 Jakob Böhme, Libri Apologetici, oder Schutz-Schriften wieder Balthasar Tilken. Zweyte SchutzSchrift, S. 235. Zit. bei van Ingen (Anm. 12), S. 160. 18 Vgl. Anm. 12 sowie van Ingen (Anm. 12), S. 161.
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Die Geschlechtlichkeit (respektive: Weiblichkeit) der Gottesbeziehung, die hier zum Ausdruck kommt, sagt auch etwas über Gott selbst aus: Böhme zufolge gibt es in Gott ein weibliches Prinzip, seine Liebe – sie wird symbolisiert und realisiert im Sohn; und es gibt in Gott ein männliches Prinzip, das zum weiblichen in einer gewissen Spannung steht – es wird symbolisiert und realisiert im Vater. Um an dieser Spannung quasi nicht zu zerbrechen, bedarf es eines weiteren Prinzips; es ist nach Böhme das androgyne Geist-Sophia-Prinzip – jenes Prinzip, welches erst die feministische Theologie unserer Zeit wiederentdeckt hat. Sophia ist also nicht etwa, wie Böhme öfter vorgeworfen wurde, etwas Viertes, das zur Trinität hinzukäme, sondern die weibliche Seite des Geistes.19 Sie verhindert eine Entzweiung Gottes mit sich selbst und ermöglicht gegen alle Sünde und Lebenszerstörung das Entstehen neuen Lebens: wie Maria von Nazaret. Und so besteht auch das Heilmachende der Inkarnation darin, dass der Sohn, das eigentlich weibliche Prinzip Gottes, ein männlicher Mensch geworden ist und damit die Geschlechterentzweiung auch auf unserer Ebene überwunden hat. Diese Überwindung geschlechtlicher Dualität ist ebenfalls Ziel für den Menschen. Wir erreichen es, indem wir uns, wie die irdische Maria es getan hat, die „himmlische Maria“ (also Sophia) „anziehen“, und, wie sie, eine „männliche Jungfrau“ werden.20 Anders gesagt: Auch der Mensch erreicht seine (mit Adam) verlorene Integrität wieder, indem er Gottes stets bereitstehende und um uns werbende Liebe annimmt und sich mit dem Sohn als seiner Braut oder seinem Bräutigam vereint.
2.2 Johannes Scheffler/Angelus Silesius (1624–1677) Johannes Scheffler wurde im selben Jahr geboren, in dem Böhme starb, und ist in mancher Hinsicht sein Erbe. Die Werke Böhmes hat Scheffler in seiner Studienzeit kennengelernt. In seiner zweiten Lebenshälfte wurde er katholisch, ließ sich zum Priester weihen und war mit polemischen Schriften für die Gegenreformation tätig. Dennoch fühlte er sich offensichtlich weder in der einen noch in der anderen Konfession mit seinem Denken und seiner Religiosität wirklich aufgehoben. Eines seiner bekanntesten Epigramme aus dem Cherubinischen Wandersmann (möglicherweise gar das bekannteste) lautet:
19 Ich folge hierin der Auslegung von van Ingen (Anm. 12), S. 148. 20 Vgl. van Ingen (Anm. 12), S. 160; bzw. Böhme, Menschwerdung (Anm. 12), I, 8, 12: „Wir müssen Gottes Jungfrau anziehen […]“ Denn in der Benedeiung „zog [Maria] die schöne Jungfrau GOttes an und ward eine männliche Jungfrau am himmlischen Theil.“ Vgl. ebd., I, 8, 16; I, 9, 24 f.
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Wird Christus tausendmal zu Bethlehem geborn / Und nicht in dir; du bleibst noch ewiglich verlohrn.21
Auch bei Scheffler finden wir, und zwar in höchstmöglicher Pointiertheit, das Motiv der Gottesgeburt, die ihre Relevanz für den Menschen erst dadurch entfaltet, dass sie sich in ihm vollzieht. Entsprechend werden in weiteren Epigrammen die Christus-, aber auch die Mariensymbolik auf die Seele übertragen. Wie soll die Seele sein, um Christus in sich zu gebären: nämlich „ohn warumb“ (ChW I, 289) und sie sich auftun „wie eine Ros’“ (ChW III, 87). Viele Verse sprechen zwar von der demütigen Jungfrau und Gottesmutter, so etwa ChW III, 23: Marien Demut wird von Gott so werth geschätzt, / Daß er auch selbst jhr Kind zu seyn sich hoch ergötzt: Bistu demüttiglich wie eine Jungfrau rein; So wird GOtt bald dein Kind / du seine Mutter seyn.22
Was den direkten Bezug auf Maria von Nazaret betrifft, heißt es in der für den Cherubinischen Wandersmann charakteristischen pointierten Schärfe aber: Maria ist hochwert: doch kann ich höher kommen / Als sie und alle Schaar der Heiligen geklommen.“ (ChW I, 286)
Auch sein Zugang bestätigt die einleitend benannte Leitthese, dass es für die mystischen Traditionen nur einen Zugang zu Maria gibt, nämlich den der imitatio, welche den Menschen in Gott bzw. die Gottheit selbst hineinhebt: „Ich muss MARIA seyn / und GOtt auß mir gebähren […]“ (ChW I, 23). Insofern scheint der mystische Ansatz dem der volkstümlich hyperdulischen Mariendevotion nach dem Motto „de maria numquam satis“ entgegengesetzt. Die Besonderheit der Gottesbeziehung im jungfräulichen Gemüt jedes Menschen macht die Anrufung einer Mittlerin mit einer besonderen Gottesbeziehung obsolet. Doch die Sachlage ist komplexer; denn der Bezug auf die Marienfigur ist – anders als bei den Mystikerinnen und Mystikern des Mittelalters – dennoch allenthalben vorhanden. Es ist ein Unterschied, ob, wie etwa bei manchen Stellen im Werk Meister Eckharts, die Gottesunmittelbarkeit des Menschen die exklusive Stellung Jesu Christi als Heilsmittler in Frage stellt oder, wie hier, die exklusive Stellung Mariens und der Heiligen. Auch die Verschiebung ex negativo ist eine Verschiebung, eine Verschiebung
21 Angelus Silesius (Johannes Scheffler): Cherubinischer Wandersmann. Kritische Ausgabe. Hg. von Louise Gnädinger. Bibliographisch ergänzte Ausgabe Stuttgart 2000 (im Folgenden zitiert als ChW für ‚Cherubinischer Wandersmann‘ mit Buch- und Epigrammzahl), I, 61. 22 Vgl. ganz ähnlich u. a. ChW I, 23; II, 23.33.
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von Christus in Richtung Mariens. Es handelt sich, ähnlich wie bei Böhme, auch bei Angelus Silesius um eine Verschiebung, zu der die Menschlichkeit Mariens (im Unterschied zur Gottmenschlichkeit Christi) quasi einlädt. Denn über einen Menschen wie Maria können wir besser sprechen und mit ihm können wir uns auch vergleichen. Auch wenn Angelus Silesius ein Meister der paradox apophatischen Rede ist, welche die Endlichkeit des Menschen und die Ewigkeit Gottes bis zur Vertauschbarkeit zueinanderbringt, so regt doch gerade die Marienfigur den Poeten dazu an, die Kurzform des Epigramms zu verlassen und den cherubinischen Weg (der Erkenntnis) durch den seraphinischen Weg (der überschwänglichen Liebe) zu ergänzen. So geschieht es in seinem ganz anders gearteten weiteren Werk Heilige Seelenlust oder Geistliche Hirtenlieder. Diese sowohl theologische als auch stilistische Kategorisierung der Schefflerschen Werke ist in der neueren Forschung etabliert und erlaubt zugleich auch, die Texte in einer inhaltlichen Kontinuität zu sehen. Es wurde bereits herausgearbeitet, dass die Barockmystik sich vor allem durch ihre positive Medialität auszeichnet. Es geht also nicht darum, dass die Sprache die unmittelbar erfahrene Einheit mit Gott nachträglich und naturgemäß ungenügend vermittelt, insofern sie die Unmittelbarkeit notwendigerweise wieder verstellt, sondern das Medium wird umgekehrt als Ausdruck, Ausfluss und Zeugnis dieser ihr zugrundeliegenden Unmittelbarkeit verstanden. Die Analogie strukturiert das Verhältnis zwischen Ewigkeit und Endlichkeit und führt zu einem gewissen Erkenntnisoptimismus. Dem entspricht nicht nur das Epigramm in seiner paradoxal-geschlossenen Vollkommenheit, sondern noch mehr die immer und immer wiederholte Lobpreisung (Gottes, Jesu, Mariens, der Engel etc.), die bereits Ausdruck der intensiven Nähe der Seele zu Gott ist.23 Die verliebte Seele besingt Jesus unaufhörlich. In immer neu sich annäherndem Lobpreis vergegenwärtigt sie sich sein Leben und Leiden und nähert sich ihm auf diesem Weg immer weiter an, sie will ihn berühren, umarmen, küssen. Dabei ist es naheliegend, dass sich die Seele auch immer wieder in die Situation der Maria hineinversetzt, in jene Frau, welche genau dies alles tat, welche die intensivst mögliche und unzerstörbare Beziehung, die Mutter-Kind-Beziehung, mit Jesus verband. Schon einige Überschriften der Seelenlust-Gedichte sind in dieser Hinsicht programmatisch: „Sie [die Psyche] sehnt sich nach der geistlichen Geburt
23 Vgl. etwa Sybille Rusterholz: Barockmystik. In: Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Bd. 4: Das heilige römische Reich deutscher Nation, Nord- und Ostmitteleuropa. Hg. von Helmut Holzhey, Wilhelm Schmidt-Biggemann. Unter Mitarbeit von Vilem Mudroch. Halbbd. 1. Basel 2001, § 3, S. 103–122, hier S. 115–118.
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Jesu Christi und bittet, daß solche in ihrem Herzen geschehen möge“ (I, 13)24 oder: „Sie singt ihm das Lied der Jungfrauen Mariae“ (III, 99). Auch bei Angelus Silesius wird das Mutterschaftsmotiv zugleich immer wieder ergänzt durch das Brautmotiv. Oft ist die Identifizierung mit Maria Ausgangspunkt des Liebesliedes; sie steigert sich aber in seinem Verlauf derart und die Seele eignet sich ihre Liebe so sehr selbst an, dass sie sich schließlich von der Marienfigur (wie von einem Sprungbrett) ablöst und das anschließende Lied sich der Brautmetaphorik bedient. So folgt etwa auf I, 13 (s. o.): „Sie bereitet sich zu seiner Geburt“ (I, 14); und schließlich: „Sie preist die jungfräuliche Mutter ihres Bräutigams“ (I, 15). Maria ist hier in größere Distanz gerückt; sie ist nun die Mutter des Bräutigams der Seele. Eine Ausnahme bildet das später zum Ganzen hinzugekommene 5. Buch; es konzentriert sich anfänglich relativ durchgängig auf Maria als Identifikationsfigur: Niemandem ist die Seele so verbunden wie ihr, denn sie empfindet dieselbe Liebe zu Jesus wie diese. Hier werden gleich im ersten Gedicht (V, 156) neben der Jungfrauschaft das Mutterschafts- und Brautmotiv zusammengefügt und beide auf Maria bezogen: 1 Sei gegrüßt, du Frau der Welt, Königin ins Himmelszelt, Reinste Jungfrau der Jungfrauen, Morgenstern, auf den wir schauen. 2 Sei gegrüßt, du göttlichs Licht Voller Gnad, schön zugericht. Komm zu Hilf dem Erdenkreis, Du, o aller Frauen Preis. 3 Dich hat Gott von Ewigkeit Ausersehn, gebenedeit, Dich zur Mutter auserkorn, Daß sein Wort von dir geborn.
24 Die Angaben in Klammern hinter den Zitaten aus der Heiligen Seelenlust hier und im Folgenden beziehen sich auf: Angelus Silesius: Sämtliche poetische Werke in drei Bänden. Hg. von Hans Ludwig Held. Band 2: Jugend- und Gelegenheitsgedichte. Heilige Seelenlust oder geistliche Hirten-Lieder der in ihren Jesus verliebten Psyche. Wiesbaden 2002 [= Nachdruck der 3. Aufl. von 1952], S. 293–297.
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4 Dich hat er ganz schön geziert Und zur Braut sich zugeführt, Dich, in der die sündig Art Adams nie gespüret ward. […]
Man hat dies zeitweise als Zugeständnis an Schefflers Konversion zum Katholizismus interpretiert; die Sündlosigkeit Mariens von Anbeginn wird explizit erwähnt. Zudem scheinen die identificatio und imitatio einer devotio gewichen und überhaupt das Ganze extrem konform mit der sich entwickelnden katholischen Marienfrömmigkeit. Auch die folgenden Strophen rufen Maria an als „Port“ und „Zuflucht“ der Christen (ebd., Strophe 8), erwähnt sei aber, dass von der Sündlosigkeit Mariens explizit gesagt wird, dass es ihr „Kind“ war, das sie „[v]or dem Erbfall hat behüt“ (ebd., Strophe 11), es sich also um eine Besonderheit handelt, der die Gnade Christi vorausgeht. Weitere Epitheta werden aufgezählt: Sie ist ‚gebenedeite Erde‘ (vgl. ebd., Strophe 15), „[p]riesterlich von Gott geweiht“ (ebd., Strophe 15); „alle Gnade wohnt in [ihr]“ (ebd., Strophe 16); sie ist „weise Jungfrau“ (ebd., Strophe 5). Auch im 5. Buch entwickeln sich die bukolischen Lieder im Mittelteil wieder von Maria weg, und Jesus rückt ganz ins Zentrum. Als exemplarische Figur der Christusunmittelbarkeit ist sie Türöffner, Angelus Silesius nennt sie auch „(zugeschlossene) Gottestür“ bzw. „(offenstehnde) Himmelstür“ (ebd., Strophen 10 und 28). Als Solche rückt sie gegen Ende des Zyklus, gewissermaßen als Rahmenfigur, wieder in den Blick, aber dort nicht mehr als Türöffner, sondern als Abschluss des Ganzen: Es scheint, dass die Berauschung der Seele an der Liebe zum Geliebten zur Ruhe gekommen ist und somit auch Maria wieder in die Position der Ausgezeichneten, die man bittet, der man aber nicht gleichkommt: „Gegrüßt sei, Mutter, die, erkorn, | Des vaters ewgen Sohn geborn! | Bitt, daß er uns auch woll beschern, | Daß wir den auch in uns gebärn.“ (V, 204). Der Spannungsbogen ist zu Ende, die normalen Verhältnisse nach der Liebesekstase sind wiederhergestellt. Beide hier nur sehr kurz vorgestellten Textcorpora kann man so – im Hinblick auf die Rede von Maria, aber auch darüber hinaus – als Ausdruck der Spannung sehen, in der sich Angelus Silesius befindet: einer Spannung zwischen der Suche nach einer konfessionellen Heimat einerseits und dem Finden der dichterischen Sprache als ein die Konfessionsgrenzen transzendierendes Medium der Ich-GottUnmittelbarkeit andererseits. Im Folgenden möchte ich nun noch einen Blick auf einen weiteren, ganz anderen Kontext werfen, der mir für die Marienrezeption in der Mystik der Frühen Neuzeit aufschlussreich zu sein scheint.
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2.3 Teresa von Avila und die Ausbreitung karmelitischer Mystik25 Meines Erachtens findet sich im Werk Teresas von Avila, der großen Ordensreformerin und Gründerin der unbeschuhten Karmelitinnen (die sich mit vollem Namen Orden der Allerseligsten Jungfrau Maria vom Berge Karmel nennen), keine dezidierte Marienmystik. Es ist aber auffällig, dass innerhalb des Karmelitenordens heute mit großer Selbstverständlichkeit von einer marianischen Spiritualität Teresas gesprochen wird. Eine ganze Reihe von theologischen Aufsätzen, vor allem spanischer und italienischer Autoren, geben davon Zeugnis und führen auch Belege für Ihre Sicht an.26 Was spricht also für diese Interpretation? In den Werken Teresas lassen sich zwei Motive ausmachen: zum einen Maria als Patronin des Ordens und zum anderen Maria als Mutter und Schwester. Mit dem ersten Motiv steht Teresa ganz in der Tradition des Karmel, in der das Verhältnis zu Maria in Analogie zu einem Lehensverhältnis verstanden wird. Folgerichtig taucht dieses Motiv fast ausschließlich im Zusammenhang mit der Legitimation bestimmter Reformen, die Teresa den Orden betreffend durchführt, oder im Zusammenhang mit Schwierigkeiten in den von ihr gegründeten Klostern auf.27 Es handelt sich also um kein eigentlich mystisches Motiv. In ihrer Vita erzählt Teresa allerdings, wie sie sich als Zwölfjährige nach dem Tod ihrer Mutter an die Jungfrau Maria gewandt habe mit der Bitte, diese möge ihr zukünftig Mutter sein; die Jungfrau habe sie daraufhin erhört und sie „an sich gezogen“ [„ha tornado a sí“] (V, Kap. 1, 7) – Teresa interpretiert dieses Ereignis als Vorausdeutung des späteren Ordenseintritts, und bringt darin zugleich eine besondere, vertraute Beziehung zu Maria zum Ausdruck. In der Folge finden sich immer wieder Bezugnahmen auf das weiße Gewand der Ordensfrauen als das Gewand Mariens (z. B. V, Kap. 36, 28 u. ö.). Das Gewand ist Symbol für jene schwesterliche Verbindung zur Mutter Jesu
25 Teile dieses Kapitels sind übernommen aus: Christine Büchner: Katholische systematische Perspektiven auf Reformation als Phänomen des Aufbruchs. Oder: Plädoyer für eine Theologie auf der Suche. In: Reformation, Aufbruch und Erneuerungsprozesse von Religionen. Hg. von Wolfram Weiße, Fernando Enns. Münster, New York 2017, S. 51–64, hier S. 43–48. 26 Vgl. z. B. Miguel Boyero: Maria en la experiencia mistica teresiana. In: Ephemerides mariologicae 31 (1981), S. 9–33; María del Sagrario Rollán: María, modelo de vida mística en el Carmelo. In: Revista de espiritualidad 60 (2001), S. 517–527; Enrique Llamas Martinez: La Virgen María en la vida y en la experiencia mística de santa Teresa de Jesús. In: Marianum 44 (1982), S. 48–87. 27 Vgl. Teresa von Avila: Das Buch meines Lebens. Vollst. Neuübertragung. Hg., eingeleitet und übersetzt von Elisabeth Peeters, Ulrich Dobhan. Freiburg im Br. 2001 (Gesammelte Werke. Bd. 1) bzw. Teresa de Jesus: Libro de la Vida. In: Santa Teresa de Jesús: Obras Completas. Hg. von Alberto Barrientos. 3. Auflage. Madrid 1984 (im Folgenden zitiert als V), Kap. 30, 7; 32, 11; 33, 14–16; 35, 2; 36, 6.28; 38, 13; 39, 26.
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und daher auch für die geschwisterliche Verbindung mit dem irdischen Jesus und seiner Familie. Zu diesem quasi familiär-freundschaftlichen Verhältnis passt, dass auch Josef in diesem Zusammenhang da und dort Erwähnung findet. Begründet ist dieses Verhältnis in Teresas Mystik des inneren Betens, welches ihre spirituelle Reformierung des Ordens kennzeichnet. Für das innere Gebet ist Teresas Erfahrung der Menschlichkeit Gottes in Jesus zentral, eine Erfahrung, die ihr Leben und Werk gänzlich bestimmt: Der unendlich hohe und entfernte Gott ist in Jesus einer von uns geworden, mit ihm kann man sprechen wie mit einem vertrauten Freund. In dieses Vertrauensverhältnis kann auch Maria einbezogen werden, und sie ist auch Vorbild für dieses Vertrauensverhältnis: „Parezcámonos, hijas mías, en alguna cosita a esta sacratísima Virgen, cuyo hábito traemos, que es confusión nombrarnos monjas suyas.“ [„Gleichen wir doch, meine Töchter“, fordert Teresa, „in dem ein oder anderen Punkt dieser allerheiligsten Jungfrau, deren Habit wird tragen, denn es ist beschämend, uns ihre Schwestern zu nennen!“]28 Aus der geringen Quantität der Aussagen zu Maria ist aber zu schließen, dass die Beziehung zu Jesus die entscheidende bleibt. Um bei ihm zu sein, bedarf es keiner Vermittlung (etwa durch Maria). Denn gerade als Freund ist er Gott. Maria ist hingegen Exempel und Vorbild der Gottes- und Jesusliebe bzw. Jesusfreundschaft (Jesus liebt sie, sagt Teresa, mehr als er seine Jünger liebt)29. Denn Demut vermag es, Gott „an einem einzigen Haar/de un cabello“ hinein in die Seele zu ziehen (C, Kap. 24, 2). Und Teresa betont dabei auch explizit, dass es eine Frau ist, die in diesem engsten Verhältnis zu Jesus steht; als solche lädt Maria Frauen zur Identifikation mit ihr ein und kann Teresa und ihre Schwestern in ihrem eigenen Weg (nämlich der vertrauten Jesusbeziehung) bestätigen und bestärken.30 Anders als in der Barockdichtung eines Angelus Silesius oder der komplexen Philosophie eines Jakob Böhme entwickelt Teresa so ein quasi natürlich familiäres Verhältnis zu dieser besonderen Frau in der Nähe Jesu und Gottes, aber ebenso wie bei ihnen bestätigt sich auch bei ihr die Leitthese, dass Maria für mystischspirituelle Traditionen ausschließlich als exemplarische Identifikationsfigur für das eigene Gottesverhältnis eine Rolle spielt. Wir sehen aber zugleich, dass es, mit der Ausbreitung des Karmelitenordens und dem Export teresianischer Spiritualität nach Italien, Flandern und Frankreich
28 Santa Teresa de Jesús: Camino de Perfección (Codice de El Escorial). In: Teresa. Obras Completas (Anm. 27) bzw. Teresa von Avila: Weg der Vollkommenheit. Kodex von El Escorial. Vollst. Neuübertragung. Hg., eingeleitet und übersetzt von Elisabeth Peeters, Ulrich Dobhan. 4. Auflage. Freiburg im Br. 2012 (Gesammelte Werke. Bd. 2) (im Folgenden zitiert als C), Kap. 19, 3. 29 Vgl. Teresa von Avila (Anm. 27), V, Kap. 22, 1. 30 Vgl. ebd., Kap. 36, 28.
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zu einer immer dichteren Vermischung der spirituellen Ebene mit institutionellpolitischer Aktivität kommt. Teresas Ansatz wird darin einerseits zu einer vita mariaeformis31, die auf eine Identifikation des Inneren mit Maria zielt, vertieft; andererseits wird er stets auch konfessionskonfrontativ eingesetzt. Das bringt mit sich, dass die Betonung der Menschlichkeit Mariens sukzessive in ihre Erhabenheit und Heilsnotwendigkeit umschlägt. Allerdings kann das nicht einfach als ideologische Vereinnahmung bewertet werden, denn die Dialektik zwischen Niedrigkeit und Höhe ist in der Tat theologisch unabweisbares Merkmal der Person Mariens. Für die weitere Entwicklung scheinen mir folgende Personen besonders interessant und exemplarisch: die flämische Karmel-Tertiarin Maria Petyt (1623–1677) und ihr Beichtvater Michael a San Augustino (1621–1684), die italienische Mystikerin und bereits einige Jahrzehnte nach ihrem Tod heilig gesprochene Maria Maddalena de Pazzi (1566–1607)32 und in Frankreich der einflussreiche Kardinal Bérulle (1575–1629). Diese Entwicklung der teresianischen Spiritualität könnte, so meine Vermutung, eine Erklärung für die selbstverständliche Betonung der Marienfrömmigkeit als karmelitische Tradition unter heutigen Theologen und Theologinnen karmelitischer Herkunft liefern. Es lohnte sich, die je eigene Ausprägung der Mystik der Benannten zu untersuchen. An dieser Stelle möchte ich im Sinne der Thematik dieses Beitrags lediglich auffällige Gemeinsamkeiten in Bezug auf Maria benennen. Erstens: Maria wird zum Maßstab des eigenen Lebens, es geht darum, das eigene Leben ihr zu übereignen, zu tun, ‚was Maria verherrlicht und ihr gefällt‘.33 Sie wird zu einer Art Erzieherin der Seele. Eine doppelte Verschiebung: Von der Freundschafts- zu einer hierarchischen Beziehung, von der Christus- zu einer
31 Vgl. dazu De Fiores (Anm. 3), S. 182 f. mit Bezug auf Michele di San’Agostino und seine Schrift ‚De vita mariaeformi et mariana in Maria propter Mariam‘ sowie den flandrischen Jesuiten Jan David und sein ‚Pancarpium marianum‘, in dem Maria mit fünfzig verschiedenen Beinamen geehrt und zugleich als unser Vorbild, nämlich als „geistliche Gebärerin“ gezeichnet wird. Vgl. die instruktive Dissertationsschrift von Anne-Katrin Sors: Religiöse Druckgraphik in Antwerpen um 1600 – Jan Davids Andachtsbücher und Theodoor Galles Illustrationen. Berlin 2015, S. 111, welche ebd. das Vorwort aus der deutschen Übersetzung von 1617 zitiert: Maria lehre, „wie wir uns in dieser geistlichen Geburt verhalten / vnnd was wir mit dem Kind / nach dessen Geburt wir vns söhnen / thun sollen / wie wir vns doch von innen vnd außen schicken sollen / biss das Christus in vns ein gestalt gewinne.“ 32 Vgl. dazu ausführlich: Clare Copeland: Maria Maddalena de’Pazzi. The Making of a Counterreformation Saint. Oxford 2016 (Oxford Theology and Religion Monographs). 33 Vgl. dazu die verschiedenen Hinweise bei De Fiores (Anm. 3) sowie konkret etwa Michele di San’Agostino, De vita mariaeformi et mariana in Maria propter Mariam, Cap. 1, zit. nach Stefano Possanzini: La dottrina e la mistica mariana nel ven. Michele di S. Agostino, Carmelitano. Rom 1998 (Institutum Carmelitanum, Collationes Mariales 2), S. 171 f.
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Mariabeziehung. Es geht nun darum, ‚in und durch‘ Maria in Einheit mit Gott zu leben – dies setzt voraus, dass Maria selbst in diese Einheit Gottes hineinversetzt wird. Es verwundert daher nicht, dass die eigens für den Sonderfall der hypostatischen Union, also eigentlich für die Christologie und Trinitätstheologie verwendete Sprache nun auch für Maria Anwendung findet. Es gehe, so der erwähnte Michael a San Augustino, darum, „Maria in Gott und Gott in Maria“ zu lieben und zu kontemplieren.34 Maria wird zwischen den Menschen und Christus geschaltet, wie dieser wird Maria eins mit Gott gedacht, insofern sie sich ganz seinem Willen überlässt und gerade so sie selbst wird. Denn Maria spiegelt in allem den Willen Gottes.35 Zweitens: Der Mensch kann sich in seiner Liebe zu Maria einschwingen in diese Bewegung Mariens, die eine demütige und zugleich ganz zu Gott emporhebende ist. Die Hingabe an Maria und ihre Haltung, in der Demut und Freiheit einander bedingen, weitet und reinigt die Seele, verschmilzt sie mit sich und zieht sie mit in Gott hinein.36 Dieses Geschehen wird also ganz parallel zum Geschehen in Jesus Christus und zugleich (bereits für die Person Mariens selbst) explizit als
34 Vgl. Michele di San’Agostino: De vita mariaeformi, Cap. 6, zit. nach Possanzini (Anm. 33), S. 177: „[…] vita Mariana unita divinae […] est quasi duplex, scilicet divino-Mariana in Deo et Maria, per simplicem contemplationem, dilectionem et quandam fruitionem Dei in Maria, et Maria in Deo: et quando pia anima a divino spiritu intus habitante constanter et passim movetur, ut haec duo objecta, Deum in Maria, et Maria in Deo […] contempletur, amet, respiret, tunc dici potest ducere vitam divino-Marianam in Deo et Mariano-divinam vitam in Maria; […]“ [„[…] Das marianische, mit dem göttlichen geeinte Leben […] ist gleichsam doppelt, nämlich göttlich-marianisch in Gott und in Maria, durch die einfache Betrachtung, Liebe und einen gewissen Genuss Gottes in Maria, und Mariens in Gott: und wenn die fromme Seele, in deren Inneren der göttliche Geist wohnt, beständig und allenthalben veranlasst wird, dass sie diese beiden Gegenstände, Gott in Maria und Maria in Gott betrachtet, liebt und atmet, dann kann man sagen, dass sie ein göttlich-marianisches Leben in Gott und ein marianisch-göttliches Leben in Maria führt“]. Um auf der Hand liegenden Missverständnissen vorzubeugen, hebt Michele (ebd., Cap. 7) zugleich hervor, dass die Einheit Gottes mit Maria, anders als die Einheit Gottes mit Christus keine personale („non quidem personaliter, sicuti humanitas in Christo Divinitati unita est“), sondern eine gnadenhafte sei („sed quasi substantialiter gratiose“). 35 Es sei erwähnt, dass auch hier (‚Maria in Gott‘ – ‚Gott in Maria‘) – ähnlich wie bei Böhme und vor ihm in der spätmittelalterlichen Mystik – das Spiegelmotiv auftritt, welches durchgängig das Einssein des Menschen mit seinem Ursprung zum Ausdruck bringt und in der Frühen Neuzeit – interessanterweise über die Konfessionen hinweg – insbesondere auf Maria Anwendung findet. Im Werk Michaels von San Augustino finden sich durchgängig solche spiegelnden Formulierungen im Bezug auf Maria und Gott. 36 Vgl. Handbuch Marienkunde (Anm. 3), S. 182; Christopher O’Donnell: Maria, Madre e sorella. Uno studio sull’eredità spirituale dell’Ordine, veröffentlicht auf: http://www.latheotokos.it/programmi/carmelitani.pdf; Michele di San’Agostino: De vita mariaeformi, Cap. 12. In: Possanzini (Anm. 33), S. 183.
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ein Geschehen der Gnade beschrieben.37 Die gnadenhafte Möglichkeit der Konformität mit Maria öffnet die Exklusivität des Gottesverhältnisses Jesu, zumal für Frauen. Hier haben wir also eine wirkliche Marienmystik. Ebenso betont etwa die florentinische unbeschuhte Karmelitin Maria Maddalena de Pazzi (1566–1607), dass der Glanz Mariens auf uns übergehen kann, da wir zu Maria eine noch größere Nähe haben können als zu Christus.38 Denn sie ist eben nicht auch Mensch (aber eben Gottmensch), sondern nur Mensch wie wir. Auch hier haben wir denselben Gedanken wie zuvor bereits bei Böhme. Und wenn Gott sich klein gemacht habe, um sie groß zu machen, dann, weil von ihr, der einfachen Frau, eine Attraktion auf Gott ausgegangen sei.39 Drittens: Es gibt eine Tendenz zu solchen spirituellen Ansätzen, welche weniger die magdliche Demut Mariens hervorheben als ihre bräutliche Würde und damit zugleich die bräutliche Würde und den ursprünglichen Gottesbezug des Menschen (auch der Frau) – vor allem aber: der Kirche.40 Auch wenn damit eine bereits seit dem frühen Christentum bestehende Tradition der Hoheliedinterpretation aufgegriffen wird (die Kirche als mystische Braut Christi), ist es doch auffällig, dass in dieser Zeit katholischer Renovatio nach Trient mit der Hoheit und Macht Mariens das individuelle Subjekt in seinem mystisch-marianischen Aufschwung mehr und mehr zum Symbol wird für die Kirche als dem eigentlichen mystischen Subjekt. Blicken wir auf das mystische Zentralmotiv der Gottesgeburt im Menschen zurück, können wir noch einmal eine weitere Stufe der Verschiebung beobachten: von der Identifizierung mit Christus (dem eingeborenen Sohn selber) über die Identifizierung mit Maria als der Braut und Mutter des inkarnierten Wortes, in deren Christusbeziehung ich mich hineinstellen kann, um neu geboren zu werden, hin zur Identifizierung mit der Kirche quasi als Maria prolongata, in der ich nun die Einheit mit Christus bzw. Gott vorfinde.41
37 Vgl. o. Anm. 34. 38 Vgl. Santa Maria Maddalena de’ Pazzi: I Colloqui 2. In: Dies.: Tutte le Opere. Bd. 3. A cura di Claudio Maria Catena. Florenz 1963, S. 339 f. sowie Luca M. di Girolamo: Spunti mariani nell’esperienza spirituale di Santa Maria Maddalena de’ Pazzi. In: Marianum 69 (2007), S. 503–548, hier S. 519. 39 Vgl. di Girolamo (Anm. 38), S. 517 – mit Bezug auf: Santa Maria Maddalena de’ Pazzi: I Colloqui 1. In: Dies.: Tutte le Opere. Bd. 2. A cura di Claudio Maria Catena. Florenz 1961, S. 269. 40 Dies finden wir besonders ausgeprägt bei Maria Maddalena de’ Pazzi. Vgl. dazu di Girolamo (Anm. 38), S. 519–521. 41 Maria Maddalena de’ Pazzi spricht in diesem Sinne auch von der Geburt der Kirche aus dem Seelengrund und der Geburt der Seele aus der Kirche und entsprechend von einer „anima eccesiale“. Vgl. di Girolamo (Anm. 38), S. 521 – mit Bezug auf: Santa Maria Maddalena de’ Pazzi: I Colloqui 2 (Anm. 38), S. 258.
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Einen Höhepunkt dieser Entwicklung finden wir bei Kardinal Bérulle, einem der Hauptvertreter der Gegenreformation in Frankreich.42 Bei ihm wird die Ambivalenz zwischen ernsthaftem theologischem Neuansatz und kirchenpolitischer Instrumentalisierung besonders sichtbar. Bérulle geht von einer theologisch durchaus bedenkenswerten und wichtigen Überlegung aus, nämlich von der Ohnmacht, Bedürftigkeit bzw. Passivität, in die sich Gott hineinbegeben hat, indem er Kind wurde; sie konkretisiert sich in der Abhängigkeit des Jesuskindes von seiner Mutter. Wenn Gott sich gerade so offenbart, dann muss das eine Bedeutung haben, nach Bérulle jene, dass die Beziehung zu Christus nur über Maria stattfinden kann. Daher können wir keine Beziehung zu einem oder einer der beiden haben, ohne Beziehung zum/zur anderen. Wie einerseits Jesus Maria durch seine Anwesenheit in ihrem Innern göttliches Leben verleiht, so verleiht Maria umgekehrt auch Jesus das Leben, nämlich ein Leben in der Welt, indem sie ihm in ihrem Inneren Raum gibt. So ist nicht nur Maria auf Jesus hingeordnet, sondern zugleich Jesus auf Maria. Bérulle nennt Maria in dieser Hinsicht auch „autorité suprème“ und „souveraineté“.43 Insofern nun wiederum Maria mit der Kirche identifiziert wird, ergibt sich zugleich eine polemische Zielrichtung, die Bérulle auch immer wieder explizit äußert: „Et il semble que Dieu est agréable, que le triomphe de l’Eglise contre l’hérésie moderne, commence par sa très-sainte Mère […].“44
42 Vgl. für das Folgende exemplarisch die deutsche Auswahl der Texte Bérulles von Hans Urs von Balthasar, die vor allem Auszüge der Œuvres de piété enthält: Pierre de Bérulle: Leben im Mysterium Jesu. Ausgewählte Werke übertragen und eingel. von Hans Urs von Balthasar. Einsiedeln 1984, bes. S. 52–60 (für das Original vgl. Œuvres de piété, n. 43; 48.4; 49; 51.4; 93. In: Oevres Complete de Bérulle. Hg. von Jacques Paul Migne. Paris 1856, S. 875–1332). 43 Migne (vgl. Anm. 42), n. 93.1, S. 1102 f. 44 Ebd., S. 1102. Vgl. die Übersetzung bei von Balthasar (Anm. 42): „Ja, es scheint, dass es Gott gefällt, den Triumph der Kirche gegen die Häresie mit seiner heiligen Mutter zu beginnen […]“.
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Le théâtre marial de Marguerite de Navarre Scènes dramatiques, langage de la contemplation et suggestion de l’invisible Les quatre pièces bibliques1 de la reine Marguerite de Navarre (1492–1549), sœur du roi François Ier, ont pour thème la petite enfance de Jésus et sont consacrées chacune à une des quatre étapes qui s’enchaînent en un ensemble cohérent : nativité (et adoration des bergers), adoration des mages, massacre des innocents et vie de la sainte famille au désert égyptien. Marie en est la figure principale. Ces pièces reposent sur les données du Nouveau Testament, augmentées de quelques rares détails de la tradition apocryphe2, et elles se caractérisent de manière originale par leur contenu spirituel, voire mystique3. Marguerite utilise en effet la tradition du théâtre sacré des mystères (celle des nativités dramatiques et des grandes « Passions ») qu’elle transforme en l’intériorisant : les scènes auxquelles le spectateur assiste sont rarement pittoresques ou anecdotiques, elles illustrent l’aventure spirituelle des divers personnages qui rencontrent le Verbe incarné. Parmi eux, Marie, la protagoniste4, est aussi la figure-clef de ce théâtre sur le plan spirituel, car elle est mise en scène surtout comme femme contemplative et émerveillée par l’événement du salut dont elle est l’instrument humain, souvent en prière, parfois en extase. Cette intériorisation spirituelle des thèmes reste cependant dramatique : 1 Leur première édition date de 1547. Voir Les Comédies bibliques. Éd. Barbara Marczuk avec la collaboration de Beata Skrzeszewska et Piotr Tylus: Genève 2000 ; nous nous référons à l’édition suivante : Œuvres complètes de Marguerite de Navarre. Sous la direction de Nicole Cazauran. T. IV Théâtre. Éd. Geneviève Hasenohr/ Olivier Millet. Paris 2002, avec les abréviations suivantes pour désigner les pièces : Nativité (Comédie de la nativité de Jésus Christ), Rois (Comédie de l’adoration des trois rois à Jésus-Christ), Innocents (Comédie des Innocents), Désert (Comédie du Désert), suivies des numéros des vers cités. Voir notre synthèse, ‘Staging the spiritual’ : the biblical and the non-biblical plays. In : A Companion to Marguerite de Navarre. Éd. Gary Ferguson/Mary McKinley. Leiden 2013, p. 281–321. Le terme de comédie signifie « pièce de théâtre ». 2 Rappelons que Marie était considérée comme source des traditions apocryphes sur l’enfance de Jésus non attestées par la Bible. 3 Voir Barbara Marczuk-Szwed : Les motifs mystiques dans le théâtre de Marguerite de Navarre. In : Marguerite de Navarre 1492–1992. Actes du colloque de Pau (1992). Éd. Nicole Cazauran/James Dauphiné. Mont-de-Marsan 1995, p. 403–421. 4 Ce fait est d’autant plus remarquable que Marguerite n’a pas choisi de composer une série de pièces consacrées à la vie de la Vierge, comme l’avait fait sur un mode à la fois narratif, pittoresque et classicisant Battista Spagnoli (Mantuanus) dans son œuvre latine Parthenice (14811) traduite en français (Parthenice Mariane) par Jacques de Mortière (Lyon, 1523), et dédiée à Marguerite. https://doi.org/10.1515/9783110665109-014
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malgré le rôle déterminant des discours (monologues, parties lyriques, etc.) dans l’écriture de ces quatre pièces, celles-ci montrent aux spectateurs ce que signifie l’événement du salut parmi les hommes au moyen de scènes où les personnages agissent, ou bien se décident, ou réagissent à ce qui se passe, et révèlent ainsi des attitudes spirituelles diverses face à l’enfant sauveur. Parmi eux, Marie apparaît alors comme le prototype et le modèle du fidèle contemplatif et de l’âme mystique5, et elle manifeste la conscience qu’elle a de son statut exceptionnel en formulant de manière poétique des méditations qui commentent l’ensemble des Écritures saintes pour les appliquer aux diverses situations qu’elle traverse comme mère du Sauveur. Nous ne nous intéresserons pas ici aux positions religieuses de Marguerite de Navarre dans son théâtre, même si ces pièces sont un témoignage important de son inspiration « évangélique » (au sens de christianisme spirituel non-confessionnel)6. Notre contribution concerne la dimension visuelle de ce théâtre dans le lien entre technique dramatique et thème spirituel7. Le lien entre la représentation visuelle de la vie de Jésus et la contemplation spirituelle par les fidèles des événements du salut fait partie de la tradition chrétienne, et il s’est développé, notamment en milieu laïc, dans les pratiques de dévotion contemplative de la fin du Moyen Âge sur des bases à la fois scripturales et plastiques8. Une méthode essentielle de cette dévotion contemplative consistait 5 Voir l’édition Marczuk (n. 1), p. 51–57 ; Nicole Cazauran : Marguerite de Navarre et son théâtre : dramaturgie traditionnelle et inspiration sacrée. In : Nouvelle revue du XVIe siècle 7 (1989), p. 37–52 ; Kasimir Kupisz : La Sainte Vierge dans les ‘Comédies religieuses’ de Marguerite de Navarre. In : Acta Universitatis Lodziensis, Folia litteraria 30. Romanica. Lodz 1990, p. 25–40 ; Nicole Cazauran : Entre mystique et ‘mystères’ : la Vierge au repos dans la Nativité et le Désert. In : L’Art du théâtre. Mélanges en hommage à Robert Garapon. Paris 1992, p. 25–34 ; Sur Marie chez Marguerite de Navarre, voir Christine Martineau-Génieys : La Vierge et son Dieu dans les Comédies bibliques de Marguerite de Navarre. In : Devis d’amitié. Mélanges en l’honneur de Nicole Cazauran. Éd. Jean Lecointe/Catherine Magnien/Isabelle Pantin/Marie-Claire Thomine. Paris 2002, p. 347–367 ; Darius Krawczyk : ‘Livre escrit plein de foy et d’amour’. Quelques remarques sur le rôle de la Vierge dans l’œuvre de Marguerite de Navarre . In : Romanica Cracoviensia 10 (2010), p. 127–138 et infra la référence de la note 18. 6 Voir à ce sujet diverses contributions dans A Companion to Marguerite de Navarre, op. cit., et, pour la Vierge, l’édition Marczuk (n. 1), p. 55–57 (abandon de la tradition ascétique, de la fonction de protectrice des pécheurs, et, peut-on ajouter - en suivant N. Cazauran 1992 (n. 5), du thème de la vie à venir ; minorisation de la fonction d’intercesseur). 7 N. Cazauran 1989 (n. 5), établit bien le caractère dramatique de ces pièces (contre Pierre Jourda, qui n’y voyait « rien de dramatique »), mais elle relativise son point de vue : « Il ne faut pas chercher du théâtre dans ce théâtre » et elle qualifie ces pièces de « petits drames métaphysiques » (p. 51). Christine Martineau-Génieys (n. 5, p. 352–353) est la première qui a attité l’attention, sur cette dimension, dans le cadre d’une étude thématique sur Marie femme, amante de Dieu et mère. 8 N. Cazauran 1989 (n. 5), mentionne cet arrière-plan culturel. Geneviève Hasenohr, Textes de dévotion et lectures spirituelles en langue romane (France, XIIe-XVIe siècle), assemblés et revus
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pour les fidèles à se rendre eux-mêmes comme présents aux événements de la vie de Jésus (notamment à ceux de son enfance et de sa passion) en en visualisant intérieurement les détails afin d’en faire autant d’objets de méditation personnelle. Les traditions franciscaines et cisterciennes insistaient en particulier sur les scènes, bibliques ou apocryphes, de l’enfance de Jésus, et la littérature spirituelle correspondante avait été traduite en langue vernaculaire afin d’aider le plus grand nombre (souvent un public féminin) à s’approprier cette méthode. Visualiser par l’imagination les épisodes de la vie de Jésus et de la vierge Marie, en percevoir pour son propre compte les personnages, les faits et les scènes, reconstruire intérieurement l’action correspondante, et s’en faire le témoin présent, était un instrument privilégié de la méditation9. On peut citer ici la version française de la Vie de JésusChrist de Ludolf de Saxe, que Marguerite de Navarre connaît, et qui invite ainsi son lecteur à adorer l’enfant Jésus et à rencontrer sa mère : Approche toi de lui par cœur piteux à ce que soies témoin avec l’ange comment il est descendu de la dextre du Père en sa vierge mère […] en contemplant la glorieuse vierge ayant en ses bénis flancs le souverain soleil de justice. Soies en sa nativité et circoncision comme le bon serviteur Joseph. Et va en Bethléem avec les trois rois pour adorer l’enfant toi comme eux. […] Accompagne les doux pasteurs […] en regardant des yeux de ton entendement les miracles glorieux qu’il fait. 10
Comme l’a montré récemment Mary Dzon, cette démarche de visualisation par l’imagination avait pour effet de souligner les aspects humains, matériels, affectifs et sensibles de l’enfant Jésus, notamment à travers le comportement concret de sa mère, de façon à souligner la dimension divine du Verbe fait homme. A cet effet, il convient au lecteur et au contemplateur d’avoir « an imaginatively tactile
avec la collaboration de Marie-Clotilde Hubert/Sylvie Lefèvre/Anne-Françoise Leurquin/Christine Ruby/Marie-Laure Savoye. Turnhout 2015 (Texte, Codex & Contexte. 21), p. 365–401 a étudié le contexte littéraire et spirituel de cette Nativité dans son article de synthèse : « Représentations et lectures de la nativité à l’aube de la Renaissance ». 9 Voir à ce sujet Mary Dzon: The Quest for the Christ Child in the later Midde Ages. Philadelphia 2017, notamment p. 45 et 55. 10 Le Grand Vita Christi translaté de latin en françois, Paris, Le Noir, 1531 (en ligne sur Gallica), « Prologue de l’acteur », f° A iii v° ; nous modernisons la graphie. D’autres passages de cette préface insistent sur la visualisation et sur la nécessité de se faire personnellement le témoin de tout cela. Par ailleurs, la préface des Méditations sur la vie de Jésus-Christ, du Pseudo-Bonaventure [Meditationes de vita Christi], déclare : […]: « Si vous désirez retirer quelque fruit de ces méditations, considérez-vous aussi présente à ce qui vous sera raconté des paroles et des actions du Seigneur, que si vous l’entendiez de vos oreilles, et le voyiez de vos yeux; et appliquez-vous-y de toute l’ardeur de votre âme » (trad. française in Œuvres spirituelles, traduction française par l’abbé Berthaumier, Paris, Louis Vivès, 1854, t. 1, « Avant-propos », p. 24–25).
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experience of [Christ] et de « enter into the drama of Christ’s earthly life »11. Cette spiritualité se manifeste également, à la fin du Moyen Âge, par la multiplication des images de dévotion, privées ou publiques, peintes, sculptées ou gravées, ou jouées sur scène, notamment celles qui montrent l’enfant Jésus et sa mère lors de la nativité, de l’adoration des bergers ou de celle des mages, etc. De ces images fait partie le théâtre religieux12 qui les dramatise sur la scène devant un public de spectateurs, parallèlement à la diffusion en langue vernaculaire de la littérature de spiritualité qui promeut ces mêmes images et thèmes mais pour les exploiter sur un mode discursif et littéraire. Or l’originalité des comédies bibliques de Marguerite de Navarre est de faire se rejoindre ces deux modes (ou media), le mode théâtral et le discours contemplatif, au moyen de la performance scénique d’une pièce dont le texte lyrique est joué devant le public13, en les articulant l’un à l’autre dans une problématique de la perception visuelle, laquelle est exprimée surtout par le personnage de la vierge Marie. Ce thème de la vision s’inscrit dans un dispositif scénique qui commande la perception du jeu par les spectateurs de manière à orienter la signification de ce qui est vu et entendu. Comme Marguerite utilise la dramaturgie traditionnelle des mystères, il n’y a pas de découpage des pièces en scènes ni en actes, mais simplement des « tableaux » qui se suivent. Les spectateurs suivent donc des yeux les acteurs qui changent de lieu, d’un « tableau » à l’autre, ou à l’intérieur du même décor14, sans référence à une durée temporelle réaliste. Sur le plan spatial, l’installation scénique comporte plusieurs niveaux : un plateau supérieur (traditionnellement, le « Paradis »), où se tiennent Dieu et ses Anges, et un plateau inférieur, avec ses personnages terrestres, lui-même compartimenté, si l’action l’exige, entre plusieurs lieux (« mansions ») distincts et simultanés, qui correspondent aux espaces scéniques successifs de l’action dramatique (une route pour les rois mages, une crèche pour la famille de Jésus, un palais pour Hérode, etc.)15. Devant ou plus bas
11 Dzon (n. 9), p. 59. 12 Emile Mâle avait imaginé que l’iconographie chrétienne de la fin du Moyen Âge était, en Occident, déterminée par le théâtre des mystères, mais il a ensuite relativisé et corrigé ce point de vue unilatéral et excessif. Voir Harry Bober (Éd.) : Religious Art in France. The late Middle Ages : A Study of Medieval Iconography and its Sources. Princeton 1986 (trad. De : L’Art religieux de la fin du Moyen Âge, 19081. Éd. révisée 19495). 13 Ces quatre pièces, comme les sept autres de Marguerite (dites « profanes »), ont été composées pour être jouées devant la petite cour de la reine, ou bien devant la cour de France. 14 Des didascalies indiquent parfois ces déplacements, mais la majorité des changements de lieu est signalée de manière implicite par le texte. 15 A la différence des mystères, le lieu de l’enfer est seulement évoqué (par Satan), comme lieu du « tourment de ton absence » (Nativité 1198, il s’agit de l’absence de Dieu) et peut n’être représenté que par une sortie hors de scène de Satan.
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se tient le public : dans le cas de nos pièces, il appartient à la cour de France ou bien à celle de Navarre. Dans un passage d’Innocents où Dieu parle (v. 31 : « Rois de là-bas, écoutez promptement »), « là-bas » désigne l’espace terrestre et scénique inférieur, où se trouve, dans son palais, le roi Hérode, et en même temps l’espace où se tient, un peu plus loin (un peu plus bas ?), le public des spectateurs. Dans Nativité (v. 1216), Dieu désigne au public autant qu’aux anges l’enfant Jésus, en utilisant les mots de la Bible : « Or voyez vous cy mon cher fils eslu ». La représentation a donc lieu selon une organisation matérielle et symbolique de l’espace qui hiérarchise le ciel et la terre, le temps et l’éternité et rend tout visible, de manière à intégrer dans le sens du spectacle la collectivité humaine contemporaine représentée par les spectateurs. Comme dans les mystères, les pièces s’ouvrent et s’achèvent par une scène de Paradis, à l’exception de Nativité qui s’ouvre par Joseph discutant avec Marie, et de Désert, qui s’ouvre par Joseph monologuant seul avant la scène de Paradis. Marguerite utilise cet instrument dramaturgique pour construire ses quatre pièces de manière chaque fois différente. Dans Nativité, par exemple, Marie, au moment de mettre Jésus au monde, est seule sous le regard de Dieu ; il n’y aura pas les sages-femmes traditionnelles. La naissance de l’enfant, qui a lieu pendant une scène de Paradis, suscite chez Marie une action de grâces, une illumination et un ravissement mystique (v. 183–203) qui précèdent et qui suivent l’accouchement. Les anges descendent alors auprès de Marie en chantant pendant que celle-ci adore Dieu dans un monologue lyrique. La partie suivante de cette Nativité est celle, traditionnelle dans les nativités, des bergers. Or chez Marguerite ils sont six, ils portent des noms, et parmi eux il y a trois femmes bergères16 : à côté de Sophron (le Sage), Elpison (celui qui espère), Nephalle (celui qui guette), il y a aussi Philétine (celle qui aime), Cristilla (élue du Christ) et Dorothée (donnée de Dieu). Marie trouve ainsi, parmi les bergers qui lui rendent visite, un écho symbolique de sa propre féminité spirituelle. La dernière partie est une innovation de Marguerite, qui n’a d’équivalent que dans une tradition ancienne (13e siècle), attestée seulement par un manuscrit17. Elle met aux prises les bergers avec Satan, qui s’efforce de tenter leur foi d’humbles élus par la séduction de la puissance terrestre et du savoir vis-à-vis de Dieu, au moyen de questions portant, dans un véritable débat, sur la grâce, le mal, la liberté, et l’interprétation des Écritures. Cette dernière question
16 Sur les rares cas antérieurs de bergères dans une nativité voir Hasenohr (n.8), p. 369–370. Ce sont des personnages très différents de ceux de Marguerite. 17 Voir notre édition, p. 33 et sa note 1.
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est notable, car les Écritures sont méditées, paraphrasées et citées dans les quatre pièces par les personnages et surtout par Marie, qui en est l’interprète essentielle18. Dans Rois, la démarche traditionnelle des trois mages orientaux devient une quête de la vérité et du salut déjà entreprise activement par eux avant leur départ en voyage ; contrairement à la tradition, l’étoile qui les guide ne se montre à eux qu’une fois qu’ils sont partis et alors qu’ils sont déjà en route. D’autre part, entre Dieu et eux, la lumière divine se transmet de manière médiatisée et hiérarchisée selon un modèle issu de la théologie mystique du Pseudo-Denys : les personnifications féminines Tribulation, Philosophie et Inspiration servent en effet d’intermédiaires célestes de niveau inférieur, ce sont autant d’anges appropriés à la diversité de ces trois rois, qu’elles conseillent et éclairent, alors qu’au niveau supérieur Intelligence divine, unie à Dieu, représente l’intermédiaire ultime et nécessaire à tous. Ces rois représentent aussi la progression dans l’échelle de perfection selon les trois degrés de saint Bonaventure : purgatio, illuminatio, perfectio, trois processus ici simultanés, puisque les trois rois cheminent sur scène de manière parallèle jusqu’à leur rencontre. Quand ils arrivent à Bethléem devant la crèche, dont la porte est fermée, ils voient l’enfant de loin puis à travers la porte, et Marie demande à Joseph de les laisser entrer. Marie leur explique alors le sens spirituel de leur démarche. Après leur départ, la Vierge rend grâces à Dieu, et la pièce s’achève, grâce à cette élévation, sur une scène de Paradis. Innocents s’ouvre par une scène de Paradis, qui fait la transition (avec la descente des anges protecteurs) vers une scène où Marie et Joseph partent se réfugier dans le désert d’Égypte ; ils disparaissent pour laisser place à Hérode et au drame humain du massacre, qui est représenté sur scène, puis commenté (innovation de Marguerite) par les lamentations lyriques de Rachel, nouvelle figure féminine. Rachel doit se trouver sur un plateau intermédiaire, entre la terre et le ciel, pour sa lamentation sur les enfants massacrés, qu’elle voit sans être près d’eux : cette mère symbolique d’Israël est en effet une personnification intemporelle de la maternité et d’Israël, et elle n’a sa place ni au Paradis ni sur terre parmi les vivants de l’époque de Jésus. Pendant son monologue, les enfants massacrés par les gardes d’Hérode peuvent disparaître de la scène et leurs âmes montent au Paradis, où elles arrivent en chantant. Rachel révèle l’arrière-plan eschatologique et la signification spirituelle de ce drame auquel le spectateur a assisté, arrière-plan montré par la scène finale de Paradis avec Dieu, les Anges et les Innocents. Rachel est donc la figure
18 Voir Violaine Giacomotto-Charra : La Vierge aux livres. Figures mariales et transmission du savoir biblique dans le théâtre de Marguerite de Navarre. In : Le Donne della Bibbia. La Bibbia delle Donne. Teatro, letteratura e vita. Éd. Rosanna Gorris Camos. Fasano 2012, p. 111–120 : Marie est « femme de la Bible ».
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vétérotestamentaire de Marie (presque absente de cette pièce) comme interprète féminine, humaine et autorisée des Écritures saintes. Désert, enfin, consacre le rôle central de Marie dans cette tétralogie. Marguerite innove en consacrant à cet épisode, seulement évoqué par l’évangile de Matthieu (2, 19–22), une pièce entière. Ses 1400 vers servent à « remplir » le silence de la Bible sur ce qui s’est passé durant ce séjour égyptien, situé ici au « désert ». On pense à la tradition iconographique, d’origine apocryphe, de la « fuite (ou repos) au désert », qui représente parfois la sainte famille isolée dans une nature protectrice19. Le principe de la réalité matérielle est rappelé au début de la pièce par Joseph, qui mentionne les besoins qu’il doit satisfaire pour sa famille tout en insistant sur la seule chose qui compte pour la foi, « la vie cachée sous la chair » (v. 53 sq.), thème central de cette pièce. Il ne se passe rien sur le plan terrestre à part le souci domestique de Joseph (il part en quête de nourriture), et le don de la nourriture et de la boisson offertes miraculeusement par les anges (motif d’origine apocryphe). Joseph revient vers la fin de la pièce chargé d’une nourriture devenue dès lors inutile. C’est le paradis sur terre (v. 1234 : « Ce désert est beau comme un paradis »). Entre le départ initial de Joseph et son retour, les seuls événements représentés sont spirituels, et ils donnent lieu à une mise-en-scène dramatique. On a d’abord une scène de Paradis, avec Dieu, Contemplation, Mémoire et Consolation. A travers ce tableau, Marguerite nous indique comment l’envoi du Saint-Esprit promis par Jésus à ses disciples peut se réaliser pour les fidèles : la méditation des Écritures saintes, permise par Contemplation (spécialiste du livre de Nature), par Mémoire (chargée de l’Ancien Testament) et par Consolation (chargée du Nouveau Testament), envoyées auprès de Marie, ravive continuellement chez elle ce à quoi sont appelés à entrer tous les fidèles. Le cœur de la pièce prend ainsi l’allure d’un chant partagé entre Marie et ses auxiliaires illuminatrices : Contemplation/Marie, Mémoire/Marie, Consolation/Marie. Marie incarne sur scène la compréhension du sens des Écritures, identifiée avec la vie contemplative. Le thème unificateur de cette méditation est la régénération de la création et la rédemption de la nature humaine, selon une vision christocentrique, qui constitue la vérité spirituelle voilée dans l’enveloppe matérielle des choses et dans la lettre des Écritures. La
19 Voir par exemple le panneau central du triptyque de Hans Memling (vers 1480) conservé au Louvre sous le titre « La fuite en Égypte » : Marie debout au premier plan tient et montre l’enfant Jésus, cependant qu’à l’arrière-plan, comme dans notre pièce, Joseph cueille des fruits sur un arbre (de Paradis) pour nourrir sa famille. Une route crée la perspective et ramène, à l’arrière-plan, vers le monde et l’histoire. C’est l’image la plus proche de notre pièce et de sa perspective. Sur ce désert, voir Simone de Reyff : ‘Pres des deserts où gist la terre morte’ : la fonction d’une image dans la méditation spirituelle de Marguerite de Navarre. In : Le Désert. Un espace paradoxal. Éd. par Gérard Nauroy, Pierre Halen, Anne Spica, Berne 2003, p. 211–234.
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pièce s’achève par le retour de la sainte famille en Galilée. Dans sa partie centrale, la plus longue de cette pièce, l’art théâtral consiste donc à rendre visibles les réalités invisibles en les exprimant poétiquement. C’est sans doute la raison pour laquelle, dans cette pièce, de manière exceptionnelle dans la tétralogie, le métadiscours du théâtre sert à désigner les vérités intérieures de la foi. Au vers 669, Marie s’exclame, à l’intention des spectateurs, à propos de l’arc (à la fois arc-en-ciel biblique de l’alliance avec Dieu et arc de l’Amour divin qui décoche ses flèches) : « De l’Eternel apprenez tous ce jeu », jeu (terme qui peut signifier en ancien français « pièce de théâtre ») auquel Marie se livre justement devant nous. Aux vers 1003 sq., la Vierge invite de nouveau les spectateurs à l’imiter dans ce qu’elle incarne elle-même sur scène, sa féminité spirituelle (la génération en l’âme du Verbe divin) en ces termes : Croyez, recevez, Portez, concevez Dieu par sa Parole ; Et sentez le en vous Père, frère, espoux, Qui joue son rôle.
De fait, le théâtre sert à montrer que la spiritualité évangélique et mystique incarnée par Marie est animée par le dynamisme de la vraie vie, rendu sensible et visible bien que purement intérieur. Dans les quatre pièces, le lexique très abondant de la vision et du regard est dès lors polysémique. Le verbe voir y désigne en effet la perception par les yeux, notamment pour les éléments successifs du scénario présenté sur scène aux spectateurs, et qui est appelé « histoire » (notion herméneutique qui correspond au sens littéral de la Bible et des événements qu’elle rapporte)20. Mais ce verbe signifie aussi la lecture et la compréhension des Écritures saintes, et enfin la perception spirituelle de l’invisible. Or Marie est au centre de « l’histoire », à la fois comme celle qui interprète les Écritures, contemple les mystères de Jésus comme Christ et enfante celui-ci dans son âme. Ce rôle de Marie est également signifié par la construction de l’action dramatique qui place la Vierge au centre d’un système de relais des regards, qui va de Dieu vers la scène et jusqu’aux spectateurs, lesquels sont invités à suivre ce jeu des regards. Je prendrai pour cela l’exemple de la Nativité. La pièce s’ouvre par un
20 Marie déclare aux rois : « Le Dieu qu’avez par foy en voz cœurs mis, / Vous a icy pour voir son Christ transmis […], / Princes et rois qui verront ceste histoire […] / Auront leur part en ce grand benefice » (Rois v. 1279–80 et 1285–88).
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dialogue de Joseph et Marie qui se rendent à Bethléem. « En allant », Marie déclare (à l’intention des spectateurs) : « Courez icy, vous la gent affamée / Courez icy, vous ame bien aymée » (v. 64–65). Après le refus de l’accueil de la sainte famille par trois aubergistes et après l’installation dans l’étable, Marie, seule, s’adresse à Dieu pour lui demander : « Assiste donc à l’admirable naistre […] / Du vrai salut […]. Tu es mon Dieu et ma vie et mon estre, / Regarde moy » (v. 189–190, 192–193 ; cf. Luc 1,48). Elle tombe alors en extase (« elle est ravie ») sous le regard de Dieu, qui déclare à ses anges : » Voyez ma fille eslue et mon espouse » (v. 212). Après le chant des anges, Marie en quelque sorte réveillée, c’est-à-dire accouchée de Jésus, adresse une longue prière à Dieu, et déclare : « [ta] pourtraiture / Voy en ton Fils » (v. 306–307 ; cf. Colossiens 1, 15). Plus loin, elle insiste sur ce qu’elle voit elle-même, le corps physique et humain de son fils : « Je vous voy tel / Qu’un autre enfant » (v. 350–351), qu’elle touche et baise. Après l’adoration de Jésus par les anges, Joseph de retour insiste sur ce qu’il voit ainsi : « Je voy Marie […] / Mais que voit-elle / Ceste pucelle ? », puis « Heureux je suis / Dont [= du fait que] voir le puis. / O heureuse et digne veue » (v. 464, 467–468, et 503–505). On pourrait poursuivre cette analyse, car ce système de relais des regards est récurrent. Marie apparaît ainsi dans la tétralogie, surtout dans Nativité, Rois et Désert, comme l’instance médiatrice des regards. Le regard divin (de Dieu et des Anges) se pose sur elle, et elle tombe en extase ; elle voit Dieu en son fils, et elle est vue par les autres personnages comme conduisant les regards vers Jésus, ce que les spectateurs sont à leur tour admis à contempler sur la scène. Quelle est la nature théologique de cette médiation visuelle ? Dans la spiritualité christocentrique de Marguerite de Navarre, Marie n’assume pas de rôle de médiatrice-protectrice des pécheurs, malgré une exception attestée dans l’ensemble de son œuvre littéraire, et qui se trouve justement dans une de nos pièces, Désert, où Marie prie ainsi Dieu : « Ouvre les yeux au peuple et qu’il s’amende / Helas, Seigneur, je te les recommande » (v. 508–509). S’agissant ici de la prière d’une Marie « historique », représentée de son vivant sur la terre au temps de la Bible, on ne peut pas en conclure que Marguerite de Navarre promeut ici auprès du public contemporain la pratique de la prière adressée à la sainte Vierge (et donc plus généralement aux saints) comme intercesseur, puisqu’elle place ici dans la bouche de la Vierge terrestre une prière que tout fidèle pourrait exprimer en son propre nom. Certes, elle montre bien une Vierge intercédant, mais elle ne dit pas que la Vierge intercède pour nous au ciel. La question de l’intercession de Marie, alors très discutée dans l’Europe de la Réforme et la France de l’époque, reste donc ici
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ouverte21. Il est également significatif que, dans ce seul passage de l’œuvre de Marguerite de Navarre où Marie est évoquée ou montrée comme priant pour les êtres humains, sa prière à Dieu insiste sur « l’œil de la foi » (v. 495) qui va au-delà de la nature à « l’œil visible » (v. 488–489), et qui « tout en tous ne voit rien sinon toy » (v. 496), thème théocentrique ensuite développé dans ce passage. Dans son théâtre biblique, Marguerite nous montre donc une Marie médiatrice en acte entre Dieu et les autres êtres humains : théologiquement comme mère du sauveur et de Dieu, et, sur le plan dramaturgique, comme centre de l’échange des regards qui vont de Dieu aux spectateurs et des spectateurs à Dieu. Ce dernier point me semble essentiel : Marguerite de Navarre résout les problèmes théologiques controversés de son époque (celui de l’intercession de la Vierge ou du refus de cette intercession) par une création artistique, un dispositif scénique et des discours qui permettent de dépasser (ou d’éviter) les positions dogmatiques controversées, en montrant une Vierge exemplaire par son théo/(christo)centrisme, elle qui peut « Voir par [s] on enfant, / Tout en tous, mon Dieu » (Désert v. 1093–1094). Il ne s’agit donc pas, dans ce théâtre, de dévotion à la Vierge, mais de la Vierge comme porte-parole et modèle de la foi authentique. Le texte d’Innocents est explicite à cet égard, où Marie prie ainsi Dieu : » Qu’ainsi que moy chacun par foy te voye » (v. 132). Ce statut central de Marie, qui résulte du relais des regards dans la pièce, est enfin confirmé par Dieu lui-même, qui déclare dans Désert (v. 97): « Je m’ayme en elle et me voy en ses yeux »22, yeux qui réfèrent bien sûr au Christ vu par Dieu à travers Marie.23 Le théâtre de Marguerite donne à voir l’invisible en insistant également sur ce qu’on ne voit pas. Sur le plan dramaturgique, par divers procédés, les tableaux invisibles sont seulement suggérés aux spectateurs : l’accouchement de Marie, par exemple, ou le contenu spirituel de ses extases mystiques quand elle est « Du vray repos d’amour endormie » (Nativité v. 214) sont objectivés pour les spectateurs (ou, restant ineffables, sont remplacés ?) par des scènes concrètes de Paradis, avec Dieu et le chant des Anges, par exemple dans Désert v. 295 sq. Ces scènes sont comme des projections dramatiques, avec paroles et chants, équivalentes à la vision béatifique anticipée dont bénéficie Marie. Marguerite n’hésite donc pas à utiliser sur scène la représentation physique traditionnelle de Dieu le Père (au Paradis) pour souligner paradoxalement, à travers Marie, son regard et ses extases,
21 Dans son Miroir de l’ame pécheresse (v. 137–138), elle rejette explicitement l’intercession des saints. L’Oraison de l’Ame fidèle contient un ample discours adressé à Marie, qui y répond. 22 Voir la note du texte, qui signale que l’idée, attestée ailleurs chez Marguerite de Navarre, provient du Pseudo-Denys, et B. Marczuk-Szwed (n. 3), p. 415. 23 Voir les échos de ce thème chez Marie rendant grâces à Dieu de ce qu’il la regarde (Désert v. 225, écho du Magnificat, Luc 1,48), et qui voit Dieu en Christ (Désert v. 238–241), cependant que Dieu regarde Marie « dormant » (en extase ; Désert v. 123–124).
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le caractère spirituel et invisible de l’union avec Dieu. Les Anges, eux, voient bien sûr la dimension invisible de l’incarnation, c’est-à-dire l’union, en Jésus, de Dieu et de l’homme (« Or voyons nous en un suppost uny / L’homme avec Dieu », Nativité v. 391–392). Comme il s’agit, pour les êtres humains, d’un objet de foi, ce lien de l’invisible avec la foi, et avec la Parole de Dieu, est souligné par eux. Le roi Gaspard, à l’inverse de saint Thomas dans l’évangile de Jean, déclare : « Je croy ce que ne voy » (Rois v. 403) ; personnage vivant, et modèle du croyant, il complète et commente cet énoncé en ajoutant immédiatement : « Je sens ce que je croy » (v. 404). L’invisible est donc désigné comme perçu intérieurement par des êtres vivants, grâce au théâtre et à ses acteurs-personnages. Balthasar, au moment où les trois mages arrivent devant la porte fermée de la crèche, exprime leur désir de « voir le thresor du dedens » (Rois v. 1086) : dans ce cas, le mouvement et l’action des personnages, bien réels sur la scène et devant la porte, sont donc immédiatement symboliques, la dimension invisible de ce qui est cru étant représentée ici par le thème de l’espace intérieur, qui désigne aussi bien l’intériorité spirituelle du regard que l’intérieur spatial de la crèche. Dieu, spectateur ultime et absolu du drame, est évidemment le maître de ce regard intérieur, comme il le dit dans le premier vers d’Innocents : « Mon œil divin, qui voit l’intérieur […]»24. Ce motif devient le thème majeur de Désert, où Marie l’introduit et l’illustre le mieux, d’abord dans le passage suivant, quand Marie se réveille de son extase (dont le contenu est représenté par des chants des anges) et décrit le désert qui l’entoure : Ce grand desert trop mieux qu’une cité Je voy remply de toute joye et bien. O Dieu, dessous ceste diversité Qui t’y peult voir, il n’a faute [= manque] de rien. (Désert v. 330–333)
Il s’agit de discerner, par un regard spirituel, ce qui se trouve sous une apparence sensible, qu’il s’agisse de cet espace vide du désert égyptien ou bien de l’enfant Jésus (toujours silencieux, et qui est seulement vu par les autres et par les spectateurs). Marie, grâce à son intimité avec l’enfant, est la porte-parole par excellence de cette vision qui déchiffre les signes sensibles, dans Nativité et dans Désert : O forte amour, ô semence promise […] Las, je te voy, bien que soyes couverte,
24 Cf. la reprise de ce thème du regard divin plus loin dans cette pièce : v. 21, 923 et 929–932, regard qui s’oppose à la perception visuelle des bourreaux, qui décrivent le massacre qu’ils voient et commettent, et des mères, qui assistent au massacre : v. 365, 374, 405 (« devant mes yeux »), 492, 494, 502, 504, 632.
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En mon enfant, qui dessus l’herbe verte Bien povrement ainsi qu’un pecheur gist. (Désert v. 658–663).
Ce regard, enfin, est possible parce que Marie, inspirée par le Saint-Esprit, médite la révélation divine dans les saintes Écritures. Un nouveau mode de relais de la vision apparaît alors, qui n’implique pas les différents personnages humains et célestes du drame et leurs regards croisés, mais les instances spirituelles qui se déploient dans Marie : son rapport affectif à son enfant, l’inspiration divine qui souffle en elle, et son interprétation de la Bible. Sa vision inspirée de Dieu à travers l’enfant repose sur l’incarnation : En luy te voy tout puissant, tout sçavant, Par cest esprit et tresgracieux vent Qui souffle en moy, Me faisant voir ton Filz né soubz la loy, Dedens lequel je congnois, par la foy, Divinité Soubz le manteau de ceste humanité […] (Désert 238–244).
Dans ce passage, la mention de la loi de l’Ancien Testament indique déjà que Marie est la figure par excellence de la personne qui médite les Écritures. La notion d’Écritures doit bien s’entendre au pluriel, car, dans Désert, il y a les trois livres distincts, apportés à Marie de la part de Dieu respectivement par Contemplation, Mémoire et Consolation. Le premier, le « beau grand livre » de la nature, est celui de la « peinture » du monde, où l’on peut contempler, avec la diversité du monde, sa beauté. Marie en énumère les éléments esthétiques pour y reconnaître, par la foi, la vertu de Dieu. Si chacun voyait comme elle, « En ton ouvrage, […] chacun verroit / Toy seul vivant et ta parole oyrait [= entendrait] » (v. 517–518). Le second livre, l’Ancien Testament, est articulé au premier car il s’agit aussi d’y découvrir la « vertu » de Dieu, mais cette fois en en « voyant » les histoires, d’Adam à David ; Mémoire montre à la Vierge ce livre, mais c’est l’Esprit qui lui en fait « voir le sens » (v. 626). Marie apparaît alors comme celle qui articule le sens littéral au sens spirituel. Enfin, le livre de grâce, livre « ouvert », révèle tout le secret de l’amour (v. 761, 856 sq.). Il est au-dessus de tous les livres par le « plaisir » qu’il procure (v.855), et Marie s’y reconnaît enfin elle-même : « De Dieu je me voy / De tous temps preveue, / Aymée et eslue » (v. 891–893). Elle peut donc appeler les spectateurs, et tous les hommes, à partager sa vision personnelle, qui se fait alors chant séducteur (« appeau ») pour les autres : « Venez, pecheurs, sans regarder derriere / Ne doutez point de mon celeste appeau » (v. 941–942). La représentation de Marie en exégète méditant les Écritures se réalise surtout par la manière dont ses paroles, dans les quatre pièces, paraphrasent constamment, et ainsi expliquent le sens spirituel de ces Écritures. Au-delà de la fonction
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didactique de ce langage exégétique, c’est sa dimension méditative, poétique et lyrique qui signifie l’unité des trois livres, de la nature, de la promesse figurée et de l’accomplissement. La dimension lyrique du théâtre biblique de Marguerite de Navarre est particulièrement développée, surtout dans la bouche de Marie et des Anges, et l’on a pu reprocher à ces pièces de représenter moins des drames que des méditations poétiques sur la rédemption chrétienne. Cet aspect esthétique du langage est sans doute un message essentiel, sur le plan marial, de ces quatre pièces, car le lyrisme sert à dire la beauté de Jésus, du salut, de l’amour, du monde et de Dieu, révélation dont Marie est la destinatrice-spectatrice première et privilégiée. Les anges lui déclarent, dans un langage platonicien : « Dedans ces fleurs la beauté vois du beau […]. / Tu le vois seul soubz diverses figures » (Désert v. 1157 et 1160), ce à quoi la Vierge répond : « Le Beau se voit en toutes les beautés /, […] / Je gouste et voy en tout l’homme nouveau / Par qui le Père à tous se communique » (v. 1166, 1176–7). Cette vision esthétique devient ensuite réalité sensible perçue par Joseph, quand il revient de sa quête de nourriture pour constater que le désert s’est transformé en paradis : « O que de fruit je voy ensemble / Pres de Marie sur la terre » (v. 1201), paradis qu’il désigne aux spectateurs en montrant l’enfant Jésus : « En ce desert voyez l’arbre de vie » (v. 1226). Il développe alors ce thème, en indiquant que ce spectacle de l’unité de tout dans la beauté exige que l’œil charnel s’élève à l’œil de la foi (v. 1306–1311). Cette perspective euphorique, qui conjoint dans la beauté la joie (et même le rire) avec le plaisir explique l’absence, dans ces pièces, des thèmes ascétiques si courants dans la littérature de dévotion et de méditation mariale de l’époque. Chez Marguerite de Navarre, il ne s’agit pas, pour les fidèles, de renoncer au monde en imitant des vertus pénibles (pauvreté, souffrances, anticipation de la Croix, etc.) et d’acquérir des mérites, mais de partager le regard heureux de Marie sur son fils et sur le monde créé et racheté, et de participer à l’anticipation, dont elle est privilégiée, de la vision béatifique. Ce qui conduit à Dieu, ce n’est pas la misère de l’homme et la conscience de son péché, mais la beauté, pourvu que le regard soit bien orienté. C’est pourquoi Marie est le thème central du théâtre biblique de Marguerite de Navarre. La Vierge y établit le lien entre le ciel et la terre, sur le plan dramatique comme spirituel, conformément à son titre traditionnel de « porte du ciel » (Désert v. 363). Incarnant le « Rien » que l’on doit être pour pouvoir être remplie du « Tout » qu’est Dieu, elle devient, dans ce théâtre, une icône dramatique de la vision de l’invisible : les moments les plus intenses de sa présence sont représentés par ses extases, c’est-à-dire son inaction totale sur la scène, préparées par ses monologues, et figurées par des chants angéliques correspondants. Comment imaginer le décor et la mise-en-scène d’un pareil théâtre ? Marguerite a-t-elle fait réaliser pour ses pièces des décors en partie illusionnistes, avec, par exemple pour Désert, des tentures représentant, comme dans les peintures
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dévotionnelles de l’époque, un désert-paradis ? C’est peu probable, car ce décor illusionniste aurait été en concurrence avec les scènes de Paradis, qui sont concrètement représentées au-dessus de la scène conformément à la dramaturgie traditionnelle et sans doute de manière très anthropomorphe. Il faut donc supposer plutôt une scène nue et sans aucune image ni décor matériel : ce vide abstrait (et bien distinct du Paradis) invite alors les spectateurs à imaginer ce monde nouveau encore invisible Dans ce cas, ce sont surtout les gestes des acteurs, leur manière de déclamer le texte, d’ouvrir et de fermer les yeux, qui devaient suggérer aux spectateurs ce qui ne peut pas être représenté et qui, dans les quatre pièces, a besoin du chant lyrique pour être suggéré. C’est le paradoxe ultime de ce théâtre : leur représentation scénique, et leurs thèmes esthétiques soulignés, conduisent à un aniconisme de principe. En conclusion, l’évangélisme de Marguerite de Navarre est spirituel (non doctrinaire), comme l’a montré la critique moderne ; il est aussi littéraire et esthétique. Dans la littérature de spiritualité, les Méditations sur la vie de Jésus-Christ de Ludolf le Chartreux ou du Pseudo-Bonaventure développent leurs thèmes théologiques en vue de leur appropriation dévote et spirituelle par les fidèles au moyen de la représentation concrète de scènes de la vie de Jésus et de Marie que le discours du méditant exemplaire analyse et commente dans le texte qu’il offre aux autres fidèles. Dans le domaine artistique, les images de dévotion correspondantes, peintes, gravées ou sculptées, donnent à voir ces détails concrets, matériels et symboliques, en vue de la même méditation spirituelle, mais sans discours directement attaché aux images. Marguerite de Navarre, elle, crée sur scène des « images » de dévotion de nature dramatique en s’inspirant de la dramaturgie traditionnelle des mystères, pour développer littérairement et poétiquement, notamment dans la bouche de Marie, les thèmes spirituels qui lui sont propres. Or chez elle, ces thèmes insistent sur la dialectique entre les deux dimensions du visible de l’incarnation et de l’invisible du salut christique : le visible n’est là que pour renvoyer à l’invisible, et la vie de l’âme consiste à assumer le visible en le déchiffrant, en s’en émerveillant et en le dépassant. La scène théâtrale devient ainsi, chez Marguerite, grâce au personnage de Marie, le moyen de représentation et le symbole du jeu de Dieu et de l’homme, et ce personnage féminin apparaît, en ce sens à la fois théologique et esthétique, dans ce théâtre si original, comme l’authentique médiatrice dramatique du salut.
Marc Föcking
„Vergine immaculata, senza emenda“ Petrarcas „Vergine bella“ und die Marienkanzonen des italienischen Petrarkismus Dass die Beschäftigung mit der Rolle Mariens im italienischen Petrarkismus des sechzehnten Jahrhunderts mit dem vierzehnten Jahrhundert beginnen muss, ist keine überraschende Erkenntnis. In einer Poetik, die ihre Normen aus der Imitatio von Klassikern speist und die Petrarcas Rerum vulgarium fragmenta (RVF), die zwischen 1342 und 1374 entstandene und auch schlicht als Canzoniere bekannte Lyriksammlung, zu einem (wenn auch nicht einzigen) solchen klassischen Modell erhebt,1 werden deren Strukturen und Themen zum unhintergehbaren Bezugsrahmen der rinascimentalen volkssprachlichen Lyrik: Die von Petrarca in 366 Texten ausgeschriebene Liebesgeschichte des lyrischen Ich zur Dame Laura, die Perpetuierung der Unerfülltheit dieser Liebe durch den Tod Lauras, das Pendeln des lyrischen Ich zwischen Hoffnung auf (auch erotische) Erfüllung, Reue über die eigenen Sünden der Luxuria und der nach dichterischem Ruhm strebenden Superbia in einer rekurrenten Lexik der ‚Anmutigkeit‘ („vaghezza“)2 bleiben für eine bereits von den Zeitgenossen mit der Bezeichnung des „art de petrarquizer“3 versehene Praxis der Liebeslyrik des sechzehnten Jahrhunderts Bezugsgrößen, die kein Dichter und keine Dichterin des sechzehnten Jahrhunderts ignorieren kann. Das gilt ganz unabhängig davon, wie weit und wie im Detail diese Modellvorgaben im konkreten Fall aufgegriffen und umgesetzt, aber auch nicht realisiert werden. Da Petrarca seinen Canzoniere mit einer Reuesequenz und diese mit einer großen Canzone auf die Jungfrau Maria (RVF 366) schließt, fügt er nicht nur als erster italienischer Dichter überhaupt4 ein Mariengedicht in Canzonenform in eine weltliche 1 Stellvertretend zur Autorisierung Petrarcas zum ‚modello di poesia‘ im Cinquecento siehe Gerhard Regn: Petrarca und die Renaissance. In: Renaissance – Episteme und Agon. Hg. von Andreas Kablitz, Gerhard Regn. Heidelberg 2006, S. 11–45, und Gerhard Regn: Petrarkismus und Klassizismus im italienischen Cinquecento. In: Klassizismus und Klassizismen in Römischer Kaiserzeit und italienischer Renaissance. Hg. von Marc Föcking, Claudia Schindler 2019 (im Druck). 2 So begründet Tasso im Anschluss an Bembo Petrarcas Überlegenheit über die „antichi lirici“, Torquato Tasso: Scritti sull’arte poetica. Bd. II. Hg. von Ettore Mazzali. Turin 1977, S. 342. Siehe dazu Regn (Anm. 1), S. 38–45. 3 So Joachim du Bellay im Gedicht ‚Contre les Pétrarquistes‘ 1558, siehe Joachim du Bellay: Œuvres poétiques. Édition critique publiée par Henri Cenard. Nouvelle édition mise en jour et complétée par Yvonne Bellenger. Bd. V. Paris 1983, S. 69–77. 4 Siehe Francesco Petrarca: Canzoniere. Hg. von Marco Santagata. Mailand 1996, S. 1402. https://doi.org/10.1515/9783110665109-015
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Lyriksammlung ein, sein Canzoniere nötigt mit dem äußerst prominenten Platz der Marien-Canzone und mit ihren sowohl literarischen als auch liturgischen, dogmatischen, mariologischen Implikaten auch die Rime-Sammlungen des sechzehnten Jahrhunderts, Stellung zu ihr zu beziehen. Wie das retrospektive Proömialsonett RVF 1 konstituiert auch die Mariencanzone RVF 366 für den italienischen Petrarkismus eine Systemstelle,5 und ein Fehlen dieser finalen Stelle ist vor dem Hintergrund der mariologischen Faktur bei Petrarca ein Statement, ja sogar ein Indiz für die Problematik der petrarkischen poetisch-mariologischen Hinterlassenschaft aus dem vierzehnten Jahrhundert unter den poetologischen wie dogmatischen Verhältnissen des italienischen sechzehnten Jahrhunderts. Dieses kennt zwar ein explosionsartiges Anwachsen mariologischen Schrifttums und eine Forcierung der Marienfrömmigkeit6, verbannt aber weitgehend und trotz der Angebote Francesco Petrarcas Canzonen auf die Vergine Maria aus der petrarkistischen Lyrik oder lässt sie in selteneren Fällen nur in deutlicher Transformation zu. Warum das so ist, versuchen die folgenden Ausführungen zu klären.
1 Dantes „Vergine Madre“ und Petrarcas „Vergine bella“ Petrarcas unausgesprochener Wettstreit mit dem eine Generation älteren Dante hat sich im Abschluss seines Canzoniere niedergeschlagen, denn auch Dantes Commedia endet mit einem Gebet an die Jungfrau Maria, oder besser: Das Gebet eröffnet den letzten Canto (Nr. XXXIII) des Paradiso: ‚Dante‘ ist unter Führung Bernhards von Clairvaux in der Raum- und Zeitlosigkeit des Empyreums angelangt, nachdem Vergil als Führer durch Hölle und Fegefeuer und Beatrice als Leiterin durch die ersten Bereiche des Paradiso zurückgeblieben sind. In Paradiso XXXIII nähert sich ‚Dante‘ dem unsagbaren, ewigen Licht Gottes, das Dante als Autor trotz aller „inef5 Zum Petrarkismus als System aus (konstitutiven wie fakultativen) Elementen und Relationen siehe Klaus W. Hempfer: Probleme der Bestimmung des Petrarkismus. Überlegungen zum Forschungsstand. In: Pluralität der Welten. Aspekte der Renaissance in der Romania. Hg. von WolfDieter Stempel, Karlheinz Stierle. München 1987, S. 253–277, und Gerhard Regn: Torquato Tassos zyklische Liebeslyrik und die petrarkistische Tradition. Tübingen 1987, S. 21–70. 6 Zur Marienfrömmigkeit im Italien des sechzehnten Jahrhunderts siehe Massimo Petrocchi: Storia della spiritualità italiana. II Il Cinquecento e il Seicento. Rom 1978, bes. S. 51–60; Marc Venard: Italien. In: Die Geschichte des Christentums. Religion, Politik, Kultur. Hg. von Jean-Marie Mayeur u. a. Band 8 Die Zeit der Konfessionen (1530–1620/30). Freiburg i. B. u. a. 1992, S. 573–617; Antonio Gentili, Mauro Regazzoni: La spiritualità della riforma cattolica. Bologna 1993 (Storia della spiritualità. Bd. 5/c), S. 90–92, S. 282–286.
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fabilità“ in Worte zu fassen sucht. Dieser letzte Schritt zur Gottesschau führt über Maria, an die ‚Bernhard von Clairvaux‘ ein 39 Verse umfassendes Gebet richtet, gegliedert in Anrede („Vergine Madre, figlia del tuo figlio“), Marienlob (4–21) und Bitte um Dantes Gottesschau („che possa con li occhi levarsi/più alto verso l’ultima salute“, V. 26 f.), die Maria wortlos und nur durch das Versenken ihres Blicks im „etterno lume“ Gottes vermittelt.7 Ohne auf die hier von Dante vorgenommene Synthese mariologischer Diskussionen des frühen vierzehnten Jahrhunderts eingehen zu können, lässt sich auf dogmatischer Seite feststellen, dass Dante Maria in extremer Nähe zu Gott platziert, und das nicht nur ‚räumlich‘ (wenn es sich auch nicht um wirkliche Räume handelt), sondern auch durch ihre sehr nahe, an die göttliche Eigenschaft der „divina bontà“ (Paradiso VII, V. 64) heranführende, unbegrenzt und ungefragt gespendete „benignità“ (Paradiso XXXIII, V. 16), „misericordia“, „pietate“ und „magnificenza“ (Paradiso XXXIII, V. 19).8 Auch durch die Qualifizierung ihres jeder „creatura“ überlegenen Blickes in das „etterno lume“ Gottes (Paradiso XXXIII, V. 44 f.) rückt Dante Maria hier wie an anderer Stelle, wo er sie als „umile e alta più che creatura“ (Paradiso XXXIII, V. 2) bezeichnet, an die extreme Grenze des von Gott Geschaffenen. Sie ist nach mittelalterlicher Lesart etwa Richards von Sankt Victor damit sogar den Engeln überlegen.9 Dante betreibt hier keine Vergöttlichung Marias, sondern ihre Entfernung vom Maß des Menschlichen und ihre maximale Nobilitierung zur unabdingbaren Vermittlerin göttlicher Gnade: Donna, se’ tanto grande e tanto vali Che quanto vuol grazia e a te non ricorre, sua disïanza vuol volare sanz’ali. (Paradiso XXXIII, V. 13–15)
Bernhard von Clairvaux, ‚Dantes‘ Führer in dieser finalen Szene und Sprecher des Gebets, hat ebendiese Position der Gnadenmittlerschaft nachhaltig vertreten: „Nihil nos Deus non habere voluit, quod per Mariae manus non transiret“.10 Die 7 Zu Dantes Mariologie und zum Mariengebet in Par. XXXIII siehe das Lemma ‚Maria vergine‘. In: Enciclopedia Dantesca. Hg. von Umberto Bosco. 6 Bde. Rom 1970–1978, Bd. 3, S. 835–839. 8 Dante Alighieri. Commedia. Bd. III Paradiso. Hg. von Anna Maria Chiavacci Leonardi. Mailand 1996, S. 901. 9 Vgl. ebd., S. 913, zur Nähe Dantes zur Mariendeutung Richards von Sankt Victor in In Cantica canticorum explicatio XXXIX. 10 Siehe Dante: Commedia (Anm. 8), S. 909, v. a. zu Bernhards In Vigilia Nativitatis III, 10. Zur Position der Gnadenmittlerschaft Mariens bei Bernhard von Clairvaux siehe Georg Söll: Mariologie. In: Handbuch der Dogmengeschichte. Hg. von Michael Schmaus u. a. Bd. III Christologie, Soteriologie, Ekklesiologie, Mariologie, Gnadenlehre. Teilband III.4. Freiburg i. Br. u. a. 1978, S. 168; zur Rolle Bernhards von Clairvaux für Dantes Mariologie und im Mariengebet in Par. XXXIII Celestino
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Gefahr der Grenzverwischung ist Dante aber bewusst, und deshalb rudert er an diversen Stellen wieder zurück, wenn er etwa gegen das „più che creatura“ (Paradiso XXXIII, V. 2) ein „in te s’aduna quantunque in creatura è di bontate“ (Paradiso XXXIII, V. 20 f.) setzt. Die Frage, ob Maria die durch den Sündenfall modifizierte menschliche Natur grundsätzlich teilt oder nicht, bleibt offen, denn der Vers „tu se’ colei che l’umana natura / nobilitasti sì, che ’l suo fattore / non disdegnò di farsi sua creatura“ (Paradiso XXXIII, V. 4–6) lässt unbestimmt, ob Maria durch das „etterno consiglio“ Gottes (Paradiso XXXIII, V. 3) die menschliche Natur nobilitiert hat – also selbst bereits aus diesem „etterno consiglio“ heraus immer schon durch ‚praeredemptio‘ nobilitiert war, oder nicht: Dante nimmt weder explizit und mit den einschlägigen Termini die Position der ‚immaculata conceptio‘ noch die der ‚maculata conceptio‘ ein. Wiewohl theologisch bestens informiert, umgeht er eine theologisch-dogmatische Entscheidung in der ‚conceptio‘-Frage und verschiebt deren Beantwortung durch die in Maria eingeschriebene Umspielung der Grenze des „Kreatürlichen“ und durch unmittelbare Gottesnähe auf eine implizite Ebene: Dante bleibt zurück hinter der klaren Gegnerschaft gegen das Immaculata-Theologumenon seines Gewährsautors Bernhard von Clairvaux11 und folgt vielmehr der unentschiedenen theologisch-dogmatischen Diskussion des späten dreizehnten Jahrhunderts bei gleichzeitiger „Logik des gläubigen Denkens, das immer mehr dazu drängte, Maria als die tota pulchra zu erweisen und die impeccantia auch auf die Immunität vom Erbübel auszudehnen“.12 Petrarcas Mariencanzone gewinnt vor der Folie Dantes ein Profil, das sich zwar auf das Gebet ‚Bernhards‘ bezieht, sich aber doch davon absetzt.13 Die negativieCavedoni: L’orazione di S. Bernardo alla Vergine nell’ultimo Canto del Paradiso di Dante esposta co’riscontri di quel santo padre e d’altri. In: Opuscoli religiosi, letterari e morali. Serie seconda. Tomo III. Modena 1864, S. 321–341; Steven Botterill: Dante and the Mystical Tradition. Bernhard of Clairvaux in the Commedia. New York 1994, zum Mariengebet vor allem S. 108 f., und Sheila J. Nayer: Dante’s Sacred Poem: Flesh and the Centrality of the Eucharist to the Divine Commedy. London u. a. 2014, S. 170 f. 11 Zu Bernhards kritischer Position zur Unbefleckten Empfängnis bei gleichzeitigem Bemühen, die Heiligung Mariens möglichst früh auf die Empfängnis folgen zu lassen, siehe Söll: Mariologie (Anm. 10), S. 171; ferner den Artikel ‚Unbefleckte Empfängnis‘. In: Marienlexikon. Hg. von Remigius Bäumer, Leo Scheffczyk. Bd. VI. St. Ottlien 1994, S. 521, Peter Dinzelbacher: Bernhard von Clairvaux. Darmstadt 1998, S. 71–75, und vor allem S. 214 f., mit der Darstellung der Gegnerschaft Bernhards gegen das Theologumenon der ‚Unbefleckten Empfängnis‘, „das der Ritus der Kirche nicht kennt, die Vernunft nicht billigt, die alte Überlieferung nicht empfiehlt“ (Bernhard von Clairvaux: Epistola 20, zitiert nach Dinzelbacher: Bernhard von Clairvaux, S. 214). 12 Söll: Mariologie (Anm. 10), S. 178. 13 Einen weitergehenden Vergleich liefert Georg Rabuse: Petrarcas Marienkanzone im Licht der „Santa orazione“ Dantes. In: Petrarca, 1304–1374. Beiträge zu Werk und Wirkung. Hg. von Fritz Schalk. Frankfurt a. M. 1975, S. 243–254.
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rende, überbietende Bezugnahme hat Petrarca gleich mehrfach untergebracht: Dantes Besetzung der Positionen in Paradiso XXXIII ist hier vertauscht, denn die Marien-Canzone folgt als letztes Gedicht auf vier an Gott gerichtete Reuesonette (RVF Nr. 362–365).14 Der Beatrice der Commedia setzt er Maria als „vera beatrice“ (RVF 366, V. 52, S. 1398) entgegen, und während Dante Maria ein Gebet von 39 schlichten Terzinen-Versen widmet (also 3 mal 13), schreibt Petrarca eine höchst kunstvolle, durch die jeweils mit „Vergine“ besetzte Anfangsposition des ersten und neunten Verses jeder Stanze litaneihafte Canzone mit zehn Stanzen à 13 Versen – also zehn mal 13 Verse, plus Congedo von sieben Versen.15 Es ist verschiedentlich darauf hingewiesen worden, dass der so formulierte artistisch-formale Überbietungsanspruch in merkwürdigem Kontrast steht zum theologischen Abstieg von Gott zu Maria, den Petrarca das lyrische Ich im Canzoniere, aber auch in Hinblick auf Dantes letzten Canto durchlaufen lässt:16 Warum hat er für die an Gott gerichteten Reuegedichte (nur) die Sonettform gewählt, für das Marienlob aber die Canzone, die traditionell höchstrangige Dichtungsform der italienischen Lyrik, spezifisch für hohe Themen im hohen Stil, die schon Dante als „nobilissime“ bezeichnet hat, während das Sonett für Dante einen deutlich niederen Rang einnimmt?17 Wenn man veranschlagt, dass Petrarcas lyrisches Ich anders als Dantes Jenseitswanderer keine lineare Reue- und spirituelle Aufsteigerbiographie hat, an deren Ende also auch nicht das positive Schauen Gottes und Wissen um seine Gnade (wie in Paradiso XXXIII), sondern nur das Hoffen und Flehen um die Befreiung von der eigenen Sündenneigung steht, die sich die Gewissheit eines tatsächlichen Abstreifens der Sündenneigung und der Gnadengewährung aber nicht
14 Alle Verweise auf Petrarcas Rerum Vulgarium Fragmenta (RVF) im Fließtext beziehen sich auf die Ausgabe von Marco Santagata (Anm. 4). 15 Zu dieser numerologischen Seite siehe Winfried Wehle: Maria Minnekönigin – Petrarca, Rerum Vulgarium Fragmenta 366: ein Gedicht über ein Gebet. In: Petrarca, Proust et.al. II. Reden und Schriften. Hg. von der Dr. Speck Literaturstiftung. Köln 2016, S. 25–45, hier S. 36. Wehle hat hier das Congedo der Canzone abrechnen müssen, um auf 10 mal 13 Verse kommen zu können. 16 Nachweise der Deutung der Canzone als „ontologischer Abstieg“ bei Joachim Küpper: Palinodie und Polysemie in Petrarcas Mariencanzone. In: Petrarca-Lektüren. Hg. von Klaus W. Hempfer, Gerhard Regn. Stuttgart 2002, S. 113–146, hier S. 115, und Anm. 7. 17 So Dante Alighieri: De vulgari eloquentia. Hg. und übersetzt von Claudio Marazzini, Concetto del Popolo. Mailand 1990, S. 84 (II, iii). Siehe zur frühen Stilhöhentheorie von Canzone und Sonett Bernhard Huss u. a.: Lyriktheorie(n) in der italienischen Renaissance. Berlin, Boston 2012, S. 138– 207. Zur ausgefeilten rhetorisch-metrischen Faktur der Canzone siehe Guglielmo Gorni: Petrarca Vergini. Lettura della canzone CCCLXVI Vergine bella. In: Lectura Petrarce 7 (1987), S. 201–218.
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anmaßen kann,18 könnte die Antwort auf diese Frage folgendermaßen aussehen: Die Humilitas des Sünders, die sich in den Reuesonetten ausdrückt, setzt sich nicht durch, der definitive Abschied von amor und fama, dem sich ja auch ‚Franciscus‘ in Petrarcas Dialog Secretum meum im Gespräch mit ‚Augustinus‘ entzieht,19 wird als bis zuletzt misslingend inszeniert, weil Petrarcas augustinisch-postlapsarische Anthropologie keinen voluntaristischen Ausstieg aus der verderbten menschlichen Natur kennt: „et veggio ’l meglio, et al peggior m’appiglio“, lautet nicht von ungefähr der Schlussvers der Canzone RVF 264, der die ‚In morte‘-Sektion einleitet und der auch der Haltung des lyrischen Ich in der Mariencanzone präludiert.20 Die Mariencanzone, die mit ihrer Nummer 366 auf das Ende eines mit dem Innamoramento des lyrischen Ich am Karfreitag (internes Datum 6. April 1327) beginnenden kalendarisch-liturgischen Zyklus hindeutet, wäre also kein Beleg für eine positive, die Sündenneigung überwindende Stillstellung des „dissidio fra Creatore e creatura“21, sondern für seine selbst in der écriture der Mariencanzone präsente Virulenz bis zum Schluss.22 Dass Petrarca den Canzoniere also nicht mit einem Sonett an Gott abschließt, sondern mit der Mariencanzone, liegt nicht daran, dass er kein Vertrauen in die Wirksamkeit seines Gebets an Gott hätte,23 und auch nicht daran, dass Petrarca seinem lyrischen Ich in den Sonetten RVF 362–365 „jedes Entgegenkommen von oben“ verweigert,24 denn das eine würde die Todsünde der Acedia bedeuten, das andere, Gottes tatsächliches Handeln dem lyrischen Ich gegenüber zu präjudi-
18 Zu den moralphilosophischen, augustinisch geprägten Basisannahmen negativer Anthropologie und zum „problema etico irresolto“ siehe Marco Santagata: I frammenti dell’anima. Storia e racconto nel Canzoniere di Petrarca. Bologna 1992, S. 39–104, S. 191–252, Zitat auf S. 199. 19 Zur verweigerten Conversio in Petrarcas Secretum siehe Santagata: I frammenti (Anm. 18), S. 56–59; Joachim Küpper: Das Schweigen der Veritas. Zur Kontingenz von Pluralisierungsprozessen in der Frühen Neuzeit (Francesco Petrarca, Secretum). In: Poetica 23 (1991), S. 425–475, und Marc Föcking: ‚Dyalogum quendam‘. Petrarcas Secretum und die Arbeit am Dialog im Trecento. In: Möglichkeiten des Dialogs. Struktur und Funktion einer literarischen Gattung zwischen Mittelalter und italienischer Frührenaissance. Hg. von Klaus W. Hempfer. Stuttgart 2002, S. 75–114. 20 Zum Konnex von Secretum und Mariencanzone siehe Pamela Williams: Canzoniere 366: Petrarch’s Critique of Stoicism. In: Italian Studies 51 (1996), S. 27–43, allerdings entgeht Williams, dass die Canzone keine univoke ‚Heilung‘ der Unentschiedenheit des Secretum ist, sondern selbst die Spuren eben der Sündhaftigkeit trägt, von der das lyrische Ich erlöst zu werden bittet. 21 Diese Position vertritt Marco Santagata, vgl. den Kommentar zu RVF 366, in Petrarca: Canzoniere (Anm. 4), S. 1402. 22 So auch Michael Bernsen: Die Problematisierung des lyrischen Sprechens im Mittelalter. Eine Untersuchung zum Diskurswandel der Liebesdichtung von den Provenzalen bis zu Petrarca. Tübingen 2001, S. 318. 23 So Küpper: Palinodie (Anm. 16), S. 115. 24 So Wehle: Maria, Minnekönigin (Anm. 15), S. 35.
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zieren. Es ist vielmehr das Wissen um die übergroße Sündhaftigkeit, die Petrarca in Anlehnung an Paulus, Rö 5,20, in die Mariencanzone hineinformuliert – „ove ’l fallo abondò, la gratia abonda“ (RVF 366, V. 62). Diese Übermacht der Sünde inszeniert Petrarca zum einen durch eine écriture, in der das (weltliche) Frauenlob durch das Marienlob hindurchschimmert, also durch die in der Canzone selbst angesprochene Attraktion der „mortal bellezza, atti et parole [che] m’anno tutta ingombra l’alma“ (RVF 366, V. 85 f.), und begründet so auch im Sinne Bernhards von Clairvaux die Hilfsbedürftigkeit des reuigen Sünders und die Mittlerposition Marias, die das lyrische Ich dieser übergroßen Gnade Gottes würdig machen soll: „Fammi, che puoi, de la Sua gratia degno“ (RVF 366, V. 37). Was Petrarca dann in seiner Canzone Maria zuschreibt, bedient sich – wie bei Dante – aus den traditionellen biblischen, theologischen, hymnischen und liturgischen Diskursen: Maria als Himmelskönigin, im Sinne der Apokalypse „di sol vestita,/coronata di stelle“ (RVF 366, V. 1 f.), als ‚mater misericordiae‘ (vgl. RVF 366, V. 9 f.), als kluge Jungfrau aus Mt 25,1–13, als Mutter und Tochter Christi (RVF 366, V. 28), als mystische Braut Christi („madre, figliuola, e sposa“, RVF 366, V. 47).25 Keines dieser Attribute ist der Tradition unvertraut, in ihr randständig oder heterodox.26 Die Forschung27 hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die meisten dieser Attribute auch auf die Geliebte Laura zutreffen und auch von Petrarca in den Texten zuvor auf sie angewandt wurden: Auch Laura wurde als „vergine casta“ bezeichnet, sie wurde zum „vivo sole“ (RVF 90, V. 12), war die schönste aller Frauen mit übermenschlichen Eigenschaften („non era l’andar suo cosa mortale“, RFV 90, V. 9). Wenn Petrarca die Canzone beginnen lässt mit „Vergine bella, che, di sol vestita“ (RFV 366, V. 1), dann hätte das ebenso zuvor über die extrem überhöhte, aber weltliche Geliebte Laura gesagt werden können, die Petrarca im Canzoniere durchgängig als ‚neue Sonne‘ stilisiert.28 Dass Petrarca die ganze Canzone hin-
25 Zur Aufschlüsselung der mariologischen, dogmatischen, mystischen etc. Bezüge der Canzone siehe schon Celestino Cavedoni: La canzone di Francesco Petrarca in lode della beatissima Vergine Maria, illustrata co’riscontri delle sacre scritture, de’santi padri e della liturgia della chiesa. In: Opuscoli religiosi, letterari e morali. Serie I. Tomo X. Modena 1861, S. 3–20; ferner u. a. Edward Williamson: A Consideration of ‚Vergine bella‘. In: Italica 29 (1952), S. 215–228. 26 Auch nicht die von Küpper: Palinodie (Anm. 16), S. 124, als derart bewertete Gleichung Mariasposa in V. 47 („madre, figliuola et sposa“), vgl. Söll: Mariologie (Anm. 10), S. 185, zu dieser vor allem auf die Kirchenurbildlichkeit Mariens zielende Attribution in hochmittelalterlichen Hoheliedkommentaren. 27 Vgl. Küpper: Palinodie (Anm. 16), S. 119–134; Wehle: Maria, Minnekönigin (Anm. 15), S. 36–39. 28 Zur sakralisierenden Überblendung Lauras mit ursprünglich christologischer Sonnen-Bildlichkeit im Canzoniere siehe Gerhard Regn: Hermeneutik der Minne: Liebesdichtung und religiöser Diskurs bei Dante und Petrarca. In: Romanistisches Jahrbuch 65/66 (2014/2015), S. 128–160, hier S. 149, mit Hinweis auf die Mariencanzone.
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durch diese Unschärfen forciert, ist vielfach beobachtet worden, so etwa dort, wo er das bei Dante auffälligerweise nicht bemühte semantische Feld des „innamoramento“, des Sich-Verliebens ansetzt: Gott ‚verliebt‘ sich in die „Vergine bella“ („Colui ch’amando in te si pose“, RVF 366, V. 6). Zu diesem Vers bemerkte schon Lodovico Castelvetro in seinem Canzoniere-Kommentar von 1582 trocken: „Ha del mondano“.29 Für den Großteil der Canzone lässt sich mit Winfried Wehle konstatieren, dass „Petrarca […] im marianischen Oberton seines ganzen Liedes den laureanischen Unterton […] vernehmbar anklingen“ lässt.30 Das widerspricht ganz offensichtlich dem erklärten Willen des lyrischen Ich, am Ende seines 31 Jahre währenden irdischen Liebesdienstes nun endlich von der irdischen Geliebten und der weltlichen Liebesdichtung, von „mortal bellezza, atti e parole“ (RVF 366, V. 85 f.) abzulassen und seine „pensieri e ’ngegno et stile“ in Marias Namen zu reinigen (RVF 366, V. 126 f.). Aber dieser Widerspruch zur Überblendung von Laura und Maria ist weder ein bewusster Akt der Subversion eines theologisch-religiösen Diskurses durch einen weltlichen noch eine unumgängliche Konsequenz der schon seit der Troubadour-Dichtung gängigen Osmose weltlicher und religiöser Liebessemantik und -lexik. Petrarca führt vielmehr auch hier die unvermeidbare und durch bloßen Willen nicht suspendierbare Sündenneigung auch unter den besten Absichten der Anrufung Mariens vor: Denn Maria ist – wie Laura – eine Frau, und als solche aktiviert ihr Lob einen immer auch weltlich kontaminierten Diskurs des – wenn auch religiös gewendeten – Frauenlobes. Die Mariencanzone ist also kein Exempel für die bereits stattgehabte Entwindung aus den Fängen Amors und der Sünde der luxuria, vielmehr bittet das lyrische Ich bis zum Schluss, dass eben das erst geschehen möge. Die trotz Reue immer noch durch Sündenneigung kontaminierte Bitte an Maria kann eine Entflechtung von weltlichem Frauenlob und geistlichem Marienpreis nicht leisten: Se dal mio stato assai misero et vile Per le tue man’ resurgo Vergine, i’sacro e purgo Al tuo nome et pensieri e ’ngengno et stile, la lingua e ’l cor, le lagrime e i sospiri. (RVF 366, VV. 124–127).31
29 Lodovico Castelvetro: Le rime del Petrarca brevemente sposte. Basel 1582, S. 167. 30 Wehle: Maria, Minnekönigin (Anm. 15), S. 37; vgl. auch Küpper: Palinodie (Anm. 16), S. 121. Ähnlich der Eintrag ‚Petrarca‘. In: Marienlexikon (Anm. 11). Bd. V, S. 171–172, hier S. 171. 31 Das bemerkt scharfsichtig schon Castelvetro: Le rime del Petrarca (Anm. 29), S. 167: „Propongo di voler cantare delle tue lodi non hora, ma come saro liberato dall’amore di L. pero aiutami a liberare, che senza tuo aiuto non posso, & di Dio.“
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Voraussetzung für diese (weitgehende) Polyvalenz von Laura- und Marienattributen aber ist nicht nur die den Canzoniere durchziehende Sakralisierung Lauras.32 Sie funktioniert auch deshalb, weil Maria selbst in den Bereich des Menschlichen zurückgeholt wird. Im Gegensatz zu Dantes in große Entfernung zur „creatura“ gerückten Vergine verschiebt Petrarca Maria wieder mehr zum Pol der „creatura“ und des „humano“. Das lässt sich schon an den ersten Worten der Canzone erkennen, denn anders als Dante, der sein Gebet direkt mit dem theologischen Inkarnationsparadox „Vergine madre, figlia del tuo figlio“ beginnt, kehrt Petrarca die „bellezza“ der Vergine hervor, was Maria in die Unschärfe des theologisch ausdeutbaren tota pulchra der Hoheliedallegorese und irdischer Schönheit, die sie mit Laura teilt, rückt. Petrarcas Vergine ist „humana“, wie es in deutlichem Unterschied zu Dante explizit in Vers 118 heißt. Wenn sie gleichzeitig „pura, d’ogni parte intera“ (RVF 366, V. 27) ist, kann das nur heißen, dass Petrarca zwar vom theologisch unumstrittenen Axiom der jungfräulichen Geburt Christi ausgeht, nicht aber von der Immaculata Conceptio, die Maria durch Praeredemptio von der menschlichen, postlapsarisch grundsätzlich mit der Sündenneigung infizierten Natur abgesetzt hätte. Implizit lässt sich aus Petrarcas Canzone also in mariologischer Hinsicht die Position der ‚Maculisten‘ ablesen,33 die in der theologischen Diskussion starke Vertreter von Petrarcas Gewährsmann Augustinus über Leo den Großen, Albertus Magnus, Bernhard von Clairvaux bis zu Thomas von Aquin34 hatte. Wenn auch die verästelten Argumente dieser makulistischen Position, die menschliche Natur Mariens mit ihrer höchsten Dignität als templum Gottes in Einklang zu bringen, in Petrarcas Canzone keine Rolle spielen, impliziert doch die Humanitas der „Vergine humana“ (RVF 366, V. 118, Hervorhebung M. F.) und damit ihre grundsätzliche, aber durch göttliche „gratia“ (RVF 366, V. 40) minimierte Verbindung zur „miseria extrema de l’humane cose“ (RVF 366, V. 10, Hervorhebung M. F.) eine makulistische Grundierung der Canzone.35
32 Dazu Regn: Hermeneutik der Minne (Anm. 28). 33 Castelvetro hingegen vermutet hier, Petrarca könnte („potrebbe“) mit dem Vers „Vergine pura, d’ogni parte intera“ auf die Freiheit Mariens vom „peccato originale“ anspielen, Castelvetro: Le rime del Petrarca (Anm. 29), S. 169. 34 Siehe Söll: Mariologie (Anm. 10), S. 149–151. 35 Auch Küpper: Palinodie (Anm. 16), S. 141, Anm. 71, bemerkt, dass Petrarcas sich mit dem Lauralob überblendendes Marienlob nicht kompatibel ist mit der Immaculata Conceptio, wobei er allerdings davon ausgeht, dass Petrarca dieses Theologumenon als „Moment der späteren Dogmengeschichte“ noch nicht zur Verfügung gestanden hätte. Doch auch wenn das Dogma der Immaculata Conceptio erst 1854 von Pius IX. in der Bulle Ineffabilis Deus verkündet wurde, reichen die Diskussionen für und wider um sie bis weit ins hohe Mittelalter zurück und bekamen besonderen Auftrieb ab dem elften Jahrhundert, dann besonders in der Scholastik des späten dreizehnten und frühen vierzehnten Jahrhunderts und der Frontstellung von Gegnern wie dem Dominikaner
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2 Abschied von der „Vergine bella“. Petrarcas Mariencanzone als Leerstelle im Cinquecento-Petrarkismus Petrarcas Canzone aus dem späten vierzehnten Jahrhundert hinterlässt der poetischen Produktion seiner späteren Nachahmer also ein dreifaches Problem: Erstens baut er Maria als Zielpunkt der Penitenza und die Mariencanzone als formalen Abschluss der lyrischen (Pseudo-)Autobiographie und des Canzoniere auf. Zweitens inszeniert er die Überblendung von weltlicher Geliebten und Maria als Kennzeichen einer andauernden Verstrickung in eine willentlich nicht abzuschüttelnde Sündhaftigkeit. Drittens impliziert er eine makulistische Positionsnahme in der dogmatischen Diskussion um die Immaculata/Maculata Conceptio. Sobald ab dem frühen sechzehnten Jahrhundert Petrarcas Canzoniere editorisch – durch die massenweise vertriebenen Petrarchini-Bände im Oktavformat ab 1501 und durch ungezählte Kommentare – und poetologisch durch die von Pietro Bembo und anderen betriebene Kanonisierung zum Modellautor für Lexik, Semantik und Sammlungsstruktur von Liebeslyrik wird und gleichzeitig in einer Vielzahl von Kommentierungen und praktischen Anverwandlungen in unzähligen Cinquecento-Canzonieri interpretiert, modifiziert und im Lichte der zeitgenössischen poetologischen, philosophischen und religiösen Diskurse aktualisiert wird, stößt Petrarcas Mariencanzone auf ein doppeltes Problem: Auf das seiner Inkompatibilität mit den Mainstream-Formen der (poetologischen wie philosophischen) Petrarca-Interpretationen des Cinquecento – hier greifen die ersten der beiden Hinterlassenschaften Petrarcas – und das seiner auf das dritte Problem zurückgehenden mangelnden Passform mit den dogmatischen Diskussionslinien der zeitgenössischen Mariologie. Beides führt dazu, dass Wiederaufnahmen der Petrarkischen Mariencanzone in Canzonieri des Cinquecento ganz im Gegensatz zur Obligatorik eines sich stets intertextuell auf Petrarcas RVF 1 beziehenden Proömialsonetts36 eher zur Ausnahme als zur Regel gehören. Guglielmo Gornis Einschätzung „Il Petrarca, sull’esempio dell’ultimo canto del Paradiso, resta quasi isolato
Thomas von Aquin und Befürwortern wie dem Franziskaner Duns Scotus, vgl. Söll: Mariologie (Anm. 10), S. 170–177. Petrarca konnten die Alternativen also sehr gut vor Augen gestanden haben. 36 Siehe zum Proömialsonett im Cinquecento-Petrarkismus etwa Francesco Erspamer: Il canzoniere rinascimentale come testo o come macrotesto: il sonetto proemiale. In: Schifanoia 4 (1987), S. 169–114, und Reiner Zeiser: Dichterische Selbstreflexion in den Einleitungsgedichten von einigen italienischen Renaissance-Canzonieri. In: Petrarca und die Herausbildung des modernen Subjekts. Hg. von Paul Geyer, Kerstin Thorwarth. Göttingen 2009, S. 183–200.
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(…) nella tradizione, che, con fedeltà tenace ma non adamantino, a lui fa capo“37, trifft voll und ganz zu. Aus systeminterner Perspektive liegt das daran, dass Petrarcas in der augustinischen Moralphilosophie gründende pessimistische und antivoluntaristische Anthropologie des „veggio ’l meglio, et al peggior m’appiglio“ (RVF 264, V. 136) im Cinquecento nicht weitergeführt wird. Vielmehr findet sich die sündenbeladene oxymoral-paradoxale Liebesverhaftetheit des Petrarcaschen lyrischen Ich auf der Ebene der Petrarca-Exegese des Cinquecento transformiert in einen „amore onesto“ als positiver „amore contemplativo“ oder weitergehend in einen „amore platonico“, der den „amore onesto“ in Richtung einer Kompatibilität von Gottesliebe und weltlicher Liebe ausbaut, so etwa in den Petrarca-Vorlesungen und den Sonetti Benedetto Varchis und im Umkreis der Academia Fiorentina.38 Eine ebenso in den Petrarca-Kommentaren vorgenommene Deutung als „amore lascivo“ ließ eine sinnliche Liebe des lyrischen Ich nicht dominant werden, weil einerseits durch Lauras „sittlichen Imperativ [diese] wieder in geordnete Bahnen“ zurücklenkt, oder/und weil diese sinnliche Liebe altersgerecht der „giovinezza“ zugerechnet wird, die mit dem reifen Alter aber abgelegt wird.39 Schließlich findet sich Petrarcas dem Canzoniere unterliegende augustinisch-negativierte Liebestheorie in Kommentaren wie imitativer Praxis von moralphilosophischen Erwägungen schlicht entlastet und transformiert zu einer „Phänomenologie der Liebe“40 oder zum höfischen Spiel.41 Auf die eine oder andere Weise wird so seine Mariencanzone als Manifestation persistenten Sündenbewusstseins für den Cinquecento-Petrarkismus überflüssig, weil dieser in seiner platonisierenden Variante die Sünde, in seiner die lascivia betonenden deren Persistenz und in der liebesphänomenologischen die moralphilosophische Dringlichkeit verabschiedet hat. Eben weil Pet-
37 Guglielmo Gorni: Il libro di poesia cinquecentesco: principio e fine. In: Il libro di poesia dal copista al tipografo. Hg. von Marco Santagata, Amedeo Quondam. Modena 1989, S. 35–41, hier S. 38. Siehe zu dieser Beobachtung auch Giorgio Forni: Vittoria Colonna, la Canzone alla Vergine e la poesia spirituale. In: Rime sacre dal Petrarca al Tasso. Hg. von Maria Luisa Doglio, Carlo Delcorno. Bologna 2005, S. 63–94, und Davide Dalmas: Letture e riscritture riformate della canzone alla Vergine di Petrarca nel Cinquecento. In: Les Muses sacrées. Poésie et Théâtre de la Réforme entre France et Italie. Hg. von Véronique Ferrer, Rosanna Gorris Camoes. Genf 2017, S. 203–221, hier S. 207. 38 Siehe Regn: Tassos zyklische Liebeslyrik (Anm. 5), S. 38–44. Zu Varchis Platonisierung Petrarcas vgl. Bernhard Huss: „Il Petrarca, che ordinariamente suole essere Platonico“. Die PetrarcaExegese in Benedetto Varchis Florentiner Akademievorträgen. In: Questo leggiadrissimo poeta! Autoritätskonstitution im rinascimentalen Lyrik-Kommentar. Hg. von Gerhard Regn. Münster 2005, S. 297–332. 39 Regn: Tassos zyklische Liebeslyrik (Anm. 5), S. 45, S. 38. 40 Regn: Petrarca und die Renaissance (Anm. 1), S. 43. 41 Siehe dazu Hempfer: Probleme der Bestimmung des Petrarkismus (Anm. 5), S. 267.
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rarca kein Petrarkist war, wird seine Mariencanzone im Cinquecento-Petrarkismus entbehrlich. Das lässt sich exemplarisch an Pietro Bembos Rime (1530/1535/1548) zeigen: Anders als Petrarca, der in seinem Proömialsonett durch das Imperfetto des retrospektiven „di quei sospiri ond’io nudriva ’l core“ (RVF 1, V. 2) die in die Gegenwart hereinreichenden „sospiri“ der Liebe eines eben nicht nur „giovenil errore“ (V. 3) thematisiert, setzt Bembos Einleitungsgedicht durch das dreifache Passato remoto „Piansi e cantai lo stratio e l’aspra guerra/ch’i’hebbi a sostener molti e molti anni“42 einen deutlichen Schnitt zwischen der Vergangenheit des Weinens im Liebeskrieg (und seiner heroisierenden Vertextung) und der von ihnen befreiten Gegenwart. Besonders in der zweiten (1535) und dritten (1548) Ausgabe der Rime kann Regn folglich ein Zunehmen von „systemneutralen“ Gedichten – also solchen ohne Liebesthematik – feststellen, die markieren, dass die Liebe in der „età matura“ ihre Relevanz eingebüßt hat.43 Die an die Struktur des Canzoniere angelehnten Reue-Gedichte der Sammlungsenden greifen zum einen diesen scharfen Schnitt zwischen Lebensaltern („età mia verde e calda“ vs. „’l verno in freddo e bianca falda/di neve“ und Passato remoto vs. Presente („offesi“ vs. „mi dona, ond’io con piena fede e salda,/Padre, t’onori“)44 auf, richten sich aber allein an Gott. Die Vergine Maria wird mit keinem Wort und keinem Text erwähnt, die Mariencanzone Petrarcas ist vollständig abwesend. Was bei einer Rime-Sammlung, die wie keine zuvor Petrarcas Canzoniere zum Modell zeitgenössischer Lyriksammlungen macht, auf den ersten Blick erstaunen mag, liegt in der Logik der ideologischen Distanznahme zum antivoluntaristisch-augustinisch funktionierenden Iter spirituale des Petrarkischen lyrischen Ich: Das finale Gedicht der Rime von 1530 und 1535 („Signor, quella pietà che ti constrinse“) ist sich zwar der menschlichen Sündenneigung und des „visco mondan […] tenace“ bewusst, weiß aber um die Gnadengarantie Gottes („ma gratia sopra noi larga discende“) und vermeidet durch Gott als einzigen autoritativen Adressaten dieser Gnadengewissheit den 42 Pietro Bembo: Le Rime. Hg. von Andrea Donnini. Vol. I. Roma 2008, S. 6. Damit hat Bembo nicht nur Petrarcas gleichlautendes „Piansi e cantai“ vom Ende des Canzoniere (RVF 344, V. 12) an den Anfang seiner Rime gezogen, sondern auch korrigiert: Bei Petrarca werden „piansi e cantai“ als sukzessive Tätigkeiten zur Zeit der lebenden Laura durch den „duol“ angesichts der toten Dame ersetzt, bei Bembo meint das Binom die simultanen, aber beendeten Aktionen Weinen/ episches Dichten. Zu weiteren Petrarca-Bezügen dieser Stelle siehe Bembo: Le Rime, S. 6, Anm. 1 sowie Lirici Europei. Ripensando la poesia del Petrarca. Hg. von Gian Mario Anselmi u. a. Mailand 2004, S. 146–147. Siehe auch die klassische Studie von Alfred Noyer-Weidner: Lyrische Grundform und episch-didaktischer Überbietungsanspruch in Bembos Einleitungsgedicht. In: Romanische Forschungen 86 (1974), S. 314–358. 43 Siehe Regn: Torquato Tassos zyklische Liebenslyrik (Anm. 5), S. 38. 44 Bembo: Le Rime (Anm. 42), S. 411.
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‚Fehler‘, der der Mariencanzone durch den performativen Rückfall in den Diskurs des Irdischen noch im Moment des konstativen Abschwörens innewohnt.45
3 Die Transformationen der „Vergine bella“ in den Mariencanzonen des Cinquecento Während die unterschiedlichen, aber doch auf einen gemeinsamen Abstand zu Petrarcas spezifischer Liebeslehre hinauslaufenden Fakturen des Cinquecento-Petrarkismus die Mariencanzone nur als auffällige Leerstelle, als Lotman’sches „MinusPrijom“,46 umspielen, tauchen integrale Übernahmen der Canzone „Vergine bella“ RVF 366 im Cinquecento nur in Sammlungen enger Petrarca-Imitatio auf.47 Die 45 Bembo: Le Rime (Anm. 42), S. 332–334. Zum im Effekt ähnlichen, wenn auch in der poetischen wie theologischen Begründung zum Teil anders gelagerten Ausfall der petrarkischen Mariencanzone in Vittoria Colonnas Sonetti in morte di Francesco Ferrante d’Avalos siehe Giorgio Forni: Vittoria Colonna, la ‚Canzone alla Vergine‘ e la poesia spirituale. In: Rime sacre dal Petrarca al Tasso. Hg. von Maria Luisa Doglio, Carlo Delcorno. Bologna 2005, S. 63–94. Da, wie Forni zutreffend bemerkt, Colonnas „poesia in morte del D’Avalos persegue invece una sublimazione dell’umano in visioni astratte di gloria e di luce che rifiutano ogni memoria e tratto corporeo“ (S. 77) und das den Rime zugrunde liegende Liebeskonzept „deutlich neuplatonisch fundiert“ und diese Liebe zum Gatten nicht als „errore“ perspektiviert ist (Ulrike Schneider: Der weibliche Petrarkismus im Cinquecento. Transformation des lyrischen Diskurses bei Vittoria Colonna und Gaspara Sampa. Stuttgart 2007, S. 204, S. 212), hat sie keine Verwendung für Petrarcas problematischen Marientext. Die Rime beschließen – wie bei Bembo – allein Gedichte an Gott (Christo/ Padre). Ihr in die Rime spirituali eingegangenes Sonett „Vergine pura, or de’ bei raggi ardenti“ (Vittoria Colonna: Le rime spirituali della illustrisima signora Vittoria Colonna […]. Venedig 1546) bietet zwar ein lexikalisches „rimando petrarchesco“ (Forni: Vittoria Colonna, S. 80), streicht aber das auch der weltlichen Lyrik verfügbare Liebesvokabular, so dass der als einziger nahe an die Canzone RVF 366 heranreichende Vers „l’adorasti Signor, figlio ’l nudristi,/l’amasti sposo, e l’onorasti padre“ (V. 10 f.) als mystisch grundiertes Inkarnations-Paradox und nicht als Element eines Feldes lexikalisch ununterscheidbar gewordener weltlich-geistlicher Liebessprache wahrgenommen werden kann. Zur Canzoniere-Struktur in Colonnas Sonett-Zyklus auf ihren verstorbenen Ehemann Francesco d’Avalos (Druck 1538) siehe Schneider: Der weibliche Petrarkismus, S. 156–234, und (unter Hintanstellung textstruktureller Fragen) Maria Serena Sapegno: The Rime: A Textual Conundrum? In: A Companion to Vittoria Colonna. Hg. von Abigail Brundin u. a. Leiden, Boston 2016, S. 140–194, hier S. 153–194. Zu Colonnas Mariendichtung in den Rime spirituali und ihrer Mariologie siehe den Beitrag von Daniel Fliege in diesem Band und seine Dissertation L‘Evangélisme poétique. La codification de la poésie spirituelle de Marguerite de Navarre et de Vittoria Colonna. Diss. Hamburg/Paris 2019. 46 Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. München 1993, S. 144 f. 47 Für einen ersten Einblick in enge geistliche Canzoniere-Imitationes siehe Marc Föcking: Correggere il Petrarca. Tre modi di riscritture teologiche del Canzoniere (Bembo, Malipiero, Salvatorino).
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enge Bindung an das Vorbild Petrarca tragen diese meist schon im Titel: Die Rime di diversi autori nelle lodi della Vergine. Centoni del Petrarca (o. J.), Girolamo Malipieros Petrarca spirituale (1536) oder Lodovico Paternos Nuovo Petrarca (1560) deuten aber gleichzeitig die korrigierende Überbietung Petrarcas durch „nuovo“ oder „spirituale“ an. Für die Marienkanzone zielt das auf Desambiguisierung und theologische Renovierung im Sinne der postreformatorischen Bestrebungen im Italien ab dem zweiten Drittel des Cinquecento, in dem sich die mariologischen Diskussionen merklich in Richtung immakulistischer Positionen entwickelten. Diese sahen, in äußerster Verknappung, so aus48: Die sich schon im vierzehnten Jahrhundert auf die Opposition zwischen Dominikanern und Franziskanern verteilenden Positionen von Makulisten und Immakulisten lieferten sich im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert vielfache, bisweilen hochpolemische und sich gegenseitig der Häresie zeihende Auseinandersetzungen, ohne dass eine der beiden zur verbindlichen katholischen Lehre werden konnte. Die Sorbonne etwa, an der beide Orden lehrten, duldete im vierzehnten Jahrhundert noch beide Meinungen, kannte aber heftige Auseinandersetzungen, so die vom Dominikaner Juan de Montesonos entfachte, der 1387 die Immaculata Conceptio in aller Schärfe als „contra fidem“ erklärte: Niemand außer Christus könne als erbsündenlos bezeichnet werden. Montesonos’ Thesen wurden vom Franziskaner Johannes Vitalis überprüft und Montesonos daraufhin durch die Sorbonne und den Erzbischof von Paris, Pierre d’Orgemont, unter Androhung der Exkommunikation verwarnt, seine Thesen nicht weiterhin mit dem Häresie-Verdikt gegen die immakulistische Position zu vertreten. Die Sorbonne begann hier, trotz Berufung auf Thomas von Aquin, sich in Richtung einer skotistisch begründeten Erbsündenfreiheit Marias zu bewegen.49 Das päpstliche Lehramt hielt sich in dieser Frage theologisch noch zurück, doch verurteilte Sixtus IV. (1471–1484) in der Bulle „Gravis nimis“ (4.9.1482) alle Ordensleute, die es wagten, die Immaculata Conceptio als häretisch zu bezeichnen, und erkannte offiziell das Fest der Immaculata Conceptio inklusive zweier neuer Offizien und Festoktav an. Das Objekt des Festes sah nach makulistischer Lesart so aus, dass Gott Maria in utero geheiligt und von der Erbsünde losgelöst habe, während die Immakulisten die Bewahrung Mariens vor der Erbsünde bei der Conceptio feierten. Das Konzil von Konstanz und Ferrara hatte das Problem zwar 1438 auf der Tagesordnung, kam aber ebenso wenig zu einem Entschluss wie das fünfte Lateranum (1512–1517), und selbst auf dem Tridentinum unterlagen die Befürworter der Immaculata Conceptio wie der spanische Kardinal In: Interdisciplinarità del Petrarchismo. Prospettive di ricerca fra Italia e Germania. Hg. von Maiko Favero und Bernhard Huss. Florenz 2018, S. 34–53. 48 Diese Zusammenfassung folgt Söll: Mariologie (Anm. 10), S. 177–205. 49 Ebd., S. 179 f.
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Pedro Pacheco im Mai 1548 knapp mit 11 gegen 13 Stimmen mit ihrem Antrag, in die Beratung über Erbsünde und Rechtfertigung auch die über die Immaculata Conceptio einzubeziehen. Das Argument der Gegner lautete, dass beide Meinungen kirchlich geduldet seien und die Protestanten nicht provoziert werden dürften. Letzteres entsprach der klaren Linie und Einflussnahme Karls V., der aus Gründen der Konfliktvermeidung mit den Protestanten keine dogmatische Festlegung auf die immakulistische Position wünschte.50 Dass dadurch die auch innerkatholisch vertretene makulistische Position in die Gefahr geriet, protestantischen Positionen in der Marienfrage zu sekundieren, gab den Vertretern der Immaculata Conceptio zusätzlichen Auftrieb.51 Letztlich kam das Tridentinum zwar zu keiner positiven Lehrentscheidung für die Immaculata Conceptio und thematisiert sie auch nicht explizit im offiziellen Catechismus ex decreto Concilii Tridentini ad Parochos Pius’ V.52 Aber unterhalb der Schwelle des Dogmas wurde die Bulle Sixtus’ IV. und die Position, Maria dort nicht einschließen zu wollen, wo von der Erbsünde gesprochen wird,53 fortgeschrieben. Das entsprach dem langsamen Bodengewinn des Immaculata Conceptio-Glaubens unterhalb einer dogmatischen Festlegung: Schon 1497 beschloss die Sorbonne, allen Bewerbern um einen akademischen Grad den Eid auf die Immaculata Conceptio abzuverlangen.54 1515 erklärte eine Delegation der Sorbonne angesichts eines neuen Streitfalls in Rom: „Wir billigen auch, daß Maria ohne Erbsünde empfangen wurde, und erachtet die gegenteilige Meinung als häretisch“.55 In der italienischen Volksfrömmigkeit des sechzehnten Jahrhunderts war die Sache ohnehin entschieden, ebenfalls im Gros des populären geistlichen Schrifttums56: Im sechzehnten Jahrhundert schossen Bruderschaften und Kongregatio-
50 Söll: Mariologie (Anm. 10), S. 192, und Hubert Jedin: Geschichte des Konzils von Trient. Bd. II. Freiburg i. Br. 1957, S. 111, S. 115, S. 133; John W. O’Malley: Trent. What Happened at the Council. Cambridge/Mass., London 2013, S. 105. 51 Zu den Positionen der Reformatoren, die auch die makulistische Lösung einer Sündenreinigung Mariens im Mutterschoß kurz nach der Empfängnis nicht akzeptierten, siehe Marienlexikon (Anm. 11), S. 522, und Franz Courth: Mariens Unbefleckte Empfängnis im Zeugnis der frühen reformatorischen Theologie. In: Im Gewande des Heils. Die Unbefleckte Empfängnis als Urbild der menschlichen Heiligkeit. Hg. von German Rovira. Essen 1980, S. 85–100. 52 Catechismus ex Decreto Concilii Tridentini ad Parochos Pii V. Pontifex Max. Turin 1925, S. 40 f. Hier wird allenfalls indirekt Marias Entbindung von der Erbsünde angedeutet, wenn es heißt: „Evae dictum est: In dolore paries filios. Maria hac lege soluta est, ut quae, salva virginalis pudicitiae integritate, sine ullo doloris sensu, ut antea dictum est, Iesum Filium Dei peperit.“ 53 Siehe Söll: Mariologie (Anm. 10), S. 192 f. 54 Ebd., S. 190. 55 Ebd., S. 200. 56 Siehe dazu Petrocchi: Storia (Anm. 6), S. 53–60.
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nen der Unbefleckten Empfängnis aus dem Boden, die Österreichischen Kaiser Ferdinand II. und III. weihten Österreich der Unbefleckten Jungfrau, wovon die große Marienstatue in Wien zeugt. Die theologische Diskussion zog langsamer nach: Der Jesuitenorden verschrieb sich spätestens ab seinem fünften Generalkapitel 1593 dem Glauben an die Immaculata Conceptio,57 der für die oberitalienische Kirchenreform so wichtige Kardinal Carlo Borromeo hing ihr an, und selbst die makulistische Front der Dominikaner begann ab der zweiten Jahrhunderthälfte des sechzehnten Jahrhunderts zu bröckeln.58 Unterdessen betrieb der Vatikan auch nach dem Konzil von Trient die Stillstellung der theologischen Debatten: Pius V. – Dominikaner – verurteilte am 1. Oktober 1567 den Satz des Löwener Professors Michael Bajus, der als Konzilsteilnehmer 1563 eine augustinisch geprägte Gnadenlehre vertrat, die franziskanische Mariologie bekämpfte und später (1587) den Jesuiten Leonhardus Lessius mit dem Vorwurf des Pelagianismus überzog: Niemand außer Christus ist frei von Erbsünde, also ist die selige Jungfrau wegen der aus Adam zugezogenen Sünde gestorben, und alle ihre Betrübnisse in ihrem irdischen Leben waren, wie bei den anderen Gerechten, Strafen für persönliche Sünden und für die Erbsünde.59
Drei Jahre später untersagte Pius V. mit der Bulle „Super Speculum“ alle öffentlichen, nicht-akademischen Diskussionen über die Immaculata Conceptio und auch, die jeweils gegenteilige Meinung als „irrig“ zu bezeichnen. Vor dem Hintergrund der sich dogmatisch in Richtung der Immaculata Conceptio zubewegenden, wenn auch lehramtlich nicht abgeschlossenen Diskussion, die aber in Frömmigkeitspraxis und Liturgie des italienischen sechzehnten Jahrhunderts bereits entschieden war, wird die Mariencanzone Petrarcas zum Problem, auf das in enger Realisierung des petrarkischen Modells zumeist durch die Desambiguisierung der Lexik und in letzter Konsequenz durch die terminologische Fixierung der Immaculata Conceptio reagiert wird. Formen der engen Petrarca-Nachahmung lassen sich skalieren vom PetrarcaCento60 – der Rekombinierung petrarkischer Syntagmen zu einem neuen Text –
57 Siehe Söll: Mariologie (Anm. 10), S. 199; Markus Friedrich: Die Jesuiten. Aufstieg – Niedergang – Neubeginn. München u. a. 2016, S. 163 f., zur Parteinahme der Jesuiten für die Immaculata Conceptio in der Frühen Neuzeit. 58 Siehe Söll: Mariologie (Anm. 10), S. 200. 59 Ebd., S. 203. 60 Zum Texttyp des Cento siehe Theodor Verweyen, Gunther Witting: The Cento. A Form of Intertextuality from Montage to Parody. In: Intertextuality. Hg. von Heinrich F. Plett. Berlin 1991, S. 165–178. Das sechzehnte Jahrhundert hat zur Erleichterung dieser Cento-Dichtung (wie der normgerechten Dichtung überhaupt) Nachschlagewerke wie La Fabrica del mondo di M. Francesco
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über die Beibehaltung von makrotextueller Struktur und partiellen mikrotextuellen Korrekturen bis hin zur aufschwemmenden Konservierung der petrarkischen Canzoniere-Struktur bei freier Ré-écriture der einzelnen Texte mit petrarkischem Sprachmaterial. Ein Beispiel für den ersten Typ ist das Marien-Cento aus den Rime di diversi autori nelle lodi della Vergine. Centoni del Petrarca von Giulio Bidelli (?) (o. J., ca. 1562–1575).61 Umrahmt von Petrarca-Centones auf das Kreuz, San Lorenzo oder Maria Magdalena nimmt das auf dem Grundgerüst von Petrarcas Mariencanzone basierende Gedicht „Vergine bella, che di sol vestita“ in 68 Ottava Rima-Stanzen prominenten Raum ein. Durch die petrarkische Invokation „Vergine bella“ wie auch durch alle weiteren Anrufungen aus der Canzone RVF 366 wird überdeutlich auf die Mariencanzone rekurriert. Aber bereits die Aufschwemmung der 137 Verse der Canzone auf 544 Verse des neuen Textes deutet den Impetus quantitativer Überbietung an. Die Wahl der Ottava Rima62 hingegen widerspricht der Artifizialität von Petrarcas Canzone und impliziert einen Gestus formaler Einfachheit und ‚humilitas‘ des Sprechers, der für seine Bemühung des neuen Marienlobs mit „miserere del mio ben degno affanno“63 um Anerkennung bittet und sich auch damit von Petrarcas Ausgangstexten und der Sündenbewusstheit seines lyrischen Ich absetzt: Sowohl von der Mariencanzone selbst (RVF 366), in der sich der Reim „affanno“ auf die Mühen des eigenen Lebens bezieht (V. 84) und das „miserere“ mit dem „cor contrito humile“ (V. 120) erfleht wird, als auch von dem früheren Pentimento-Gedicht RVF 62 „Padre del ciel, dopo i perduti giorni“, wo das lyrische Ich um „miserere del mio non degno affanno“ bittet (V. 12). Petrarcas Sprachmaterial ist hier durch eine geringe, aber entscheidende Modifikation vom pekaminösen Selbstbewusstsein des „non degno affanno“ (Hervorhebung M. F.) in ein sich der eigenen Rechtfertigung bewusstes „ben degno affanno“ (Hervorhebung M. F.) umgepolt worden, das der ‚humilitas‘ der gewählten Textform in Ottava rima entspricht. Als „degno“ kann der Sprecher sein Marienlob aber auch qualifizieren, Alunno da Ferrara nella quale si contengono tutte le voci di Dante, del Petrarca, del Boccaccio, & d’altri buoni autori. Venedig 1548 hervorgebracht. 61 Der in der Biblioteca nazionale centrale Vittorio Emanuele II in Rom aufbewahrte Druck trägt keinen Kolophon, eingesehen als https://books.google.de/books?id=B5Co8BFQIDcC&printsec =frontcover&hl=de&source=gbs_ge_summary_r&cad=0#v=onepage&q&f=false (1.3.2018). Der Text könnte vom Sieneser Autor Giulio Bidelli stammen. Siehe http://edit16.iccu.sbn.it/scripts/ iccu_ext.dll?fn=10&i=47606 (eingesehen am 1.3.2018). 62 Die italienische Stanze in Ottava rima diente als Strophenform der Epik, im Allgemeinen der metrisierten Narrativik, aber auch der Lehrdichtung, den (satirischen, paradoxal-enkomiastischen) Capitoli, also insgesamt der „poesia discorsiva (epica, narrativa, religiosa)“, Pietro G. Beltrami: La metrica italiana. Bologna 1991, S. 283. 63 Rime di diversi autori (Anm. 61), ohne Paginierung.
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weil er Petrarcas Überblendung von Amor- und Caritas-Diskurs korrigiert, indem er Petrarcas sakralisierendes Laura-Lob in den sakralen Gegenstandsbereich des Lobes Mariens zurückholt und diese gleichzeitig entkörperlicht: Spirto felice, che si dolcemente (RVF 352, V. 1) Il ciel di tue bellezze innamorasti, (RVF 366, V. 54) (RVF 143, V. 4) Tal ch’infiammar devria l’anime spente, Quanto in sembiante, e nel tuo dir mostrasti; (RVF 359, V. 22) (RVF 213, V. 2) Rara virtù, non gia d’humana gente, (RVF 366, V. 56) Santi pensieri, atti e pietosi, e casti, (RVF 352, V. 3) E formavi i sospiri, e le parole Non come Donna, ma com Angel suole.64 (RVF 352, V. 7)
Versweise zieht der Verfasser in dieser exemplarisch ausgewählten Stanze um die beiden Gerüstverse aus der Mariencanzone (VV. 2,6) Verse des Lobes der lebenden (VV. 3,5) und der toten Laura (1,4,7,8) zusammen und bedient sich so der Austauschbarkeit von Frauen- und Marienpreis bei Petrarca, korrigiert diese aber gleichzeitig durch ihre Desambiguisierung in Richtung des sakralen Diskurses: Der Petrarca-Vers „Rara virtù, non gia d’humana gente“, der in RVF 213, V. 2, die körperlichen Merkmale Lauras („biondi capei“, „cantar“, „belli occhi“) ins Übermenschliche hebt, aber nicht zum Verschwinden bringt (und deshalb auch gleichzeitig wieder auf die Ebene des „umano“ absenkt), wird hier passgerecht in ein Lob Mariens eingefügt, das auf das Über-Menschliche abhebt. Dazu passt, dass nicht wie in Petrarcas Mariencanzone die „Vergine sola al mondo senza exempio“ (RVF 366, V. 53 f.) den Himmel „di tue bellezze innamorasti“, sondern der „Spirto felice, che si dolcemente“ aus RVF 352, V. 1. Was sich dort auf den Geist der toten Laura bezog, hat in seinem neuen Kontext den Effekt der Entkörperlichung der „Vergine“ zum „spirito“ und tilgt so das von Castelvetro an diesem Vers der Mariencanzone monierte „mondano“.65 Das neue Mariengebet ist semantisch also dem ‚Bernhards‘ aus Dantes Paradiso XXXIII sehr viel ähnlicher als Petrarcas „Vergine bella“, und das, obwohl die Lexik durchgehend die Petrarcas ist. Nicht den Weg des Cento, sondern der geistlichen Kontrafaktur geht ein zweiter écriture-Typ der Petrarkistischen Mariencanzone. Er stammt vom Franziskaner Girolamo Malipiero aus dem 1536 erschienenen Petrarca spirituale, der eine durchgehende moralisch-ideologische Petrarca-Korrektur bei gleichzeitiger
64 Ebd., ohne Paginierung. 65 Siehe oben, Anm. 29.
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und mit Pietro Bembo geteilter Anerkennung der lexikalischen und stilistischen Qualitäten des Ausgangstextes vornimmt.66 Malipiero schreibt die Texte Petrarcas nur dort um, wo er ein moralisches oder dogmatisches Problem sieht: Das Ergebnis ist nicht nur die Tilgung der weltlichen Liebesthematik zugunsten der geistlichen, sondern ein tiefergehender Eingriff in die anthropologische Basis des Canzoniere durch die Umstellung von einem augustinischen Antivoluntarismus hin zu einem durch göttliche Gnade zur definitiven Umkehr befähigten menschlichen Willen: Aus Petrarcas durch den Imperfetto in die Gegenwart hereinreichenden „primo giovenil errore“ (RVF 1, V. 3) ist bei Malipiero die „memoria di quel cieco errore“ geworden, der im Rückblick beweint wird, aber im „hora“ der Gegenwart, in der sich das lyrische Ich „drizzato al ciel“ und in Hoffnung auf „pietà“ keine Macht mehr hat: In Malipieros Eröffnungssonett wirken menschlicher Wille zum „vero ben“ und göttliche Gnade zusammen.67 Damit zieht Malipiero – wie auch andere geistliche Lyriker nach ihm – den korrigierten Petrarca auf die Seite einer römisch-katholischen Rechtfertigungslehre, die sich neun Jahre später im Rechtfertigungsdekret der ersten Sessiones des Tridentiner Konzils 1545–1547 von den augustinisch geprägten Positionen Luthers distanzieren wird.68 Ist bei Malipiero von Maria die Rede, dann stets auf der Basis von Petrarcas Lauralob und – weniger problematisch – der Mariencanzone RVF 366. Zur Transformation genügt bisweilen ein bloßer Austausch der Namen im Verein mit Retuschen im Schönheitspreis. Das etwa geschieht im berühmten Loblied auf Laura in Sonett RVF 90 „Erano i capei d’oro a l’aura sparsi/ch’in mille dolci nodi gli avolgea“, das Malipiero weitgehend erhalten und etwa durch die Ersetzung des eindeutig sich auf weltliche Liebe beziehenden Verses „i’che l’esca amorosa al petto avea“ (V. 7) durch „quando su al ciel Maria il viaggio avea“ komplett auf die Schönheit der gen Himmel auffahrenden Gottesmutter übertragen kann.69 Wieder bestätigt die Mühelosigkeit dieser Konvertierung die von Petrarca vorgenommene Sakralisierung Lauras. Doch da Malipiero seine Umsematisierung möglichst ökonomisch durch den Austausch weniger Lexeme bewerkstelligt, bleibt der intertextuelle Untergrund der übernommenen integralen Verse Petrarcas palimpsestartig 66 Zu Malipieros Korrektur-Projekt siehe Ursula Schick: Malipieros Petrarca Spirituale als Canzoniere-Allegorese. In: Interpretation. Festschrift für Alfred Noyer-Weidner. Hg. von Klaus W. Hempfer, Gerhard Regn. Wiesbaden 1983, S. 272–287; Amedeo Quondam: Il naso di Laura. Lingua e poesia lirica nella tradizione del Classicismo. Ferrara 1991, S. 203–262; Marc Föcking: Rime sacre und die Genese des barocken Stils. Stuttgart 1994, S. 61–65 sowie Föcking: Correggere il Petrarca (Anm. 47), S. 41–50. 67 Girolamo Malipiero: Il Petrarca Spirituale. Venezia 1536, Bl. 9r, siehe dazu Föcking: Correggere il Petrarca (Anm. 47), S. 48 f. 68 Siehe O’Malley: Trent (Anm. 50), S. 107–116. 69 Ebd., S. 26r.
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erhalten: In der Kontrafaktur von RFV 90 sind das etwa die „capei d’oro a l’aura sparsi“ (V. 1), die bei Petrarca auf die im Winde flatternde Haarpracht der Göttin Venus („et comam diffundere ventis“, Aeneis I, 318)70 verweisen, in Malipieros Text stehenbleiben und ein für Malipieros Programm kaum willkommenes intertextuelles Band von Venus über Laura zur Jungfrau Maria bilden. Trotz der Eingriffe, die in der Canzone „Vergine bella, che, di sol vestita“ noch geringer ausfallen können als in Lauralob-Gedichten, kann Malipiero also die Reperkussionen des weltlichen Schönheitspreises auf Maria nicht verhindern, selbst wenn er die Semantik des Weltlichen getilgt zu haben glaubt. In seiner gleichnamigen Canzone71 korrigiert er lediglich die Stanze „Vergine, tale è terra“ (RVF 366, VV. 79–91) soweit, dass die autobiographischen Hinweise auf Petrarca („M’è dato bere non del fiume d’Arno“, RVF 366, V. 82) und die einem Franziskanermönch nicht entsprechende Verführung durch „Mortal bellezza, atti e parole“ (RVF 366, V. 85) verschwinden. Ansonsten aber bleibt der Canzonen-Text bei Malipiero unverändert und der Preis Marias folglich ebenso eingesenkt in die Osmose von weltlichem und geistlichem Liebesdiskurs wie bei Petrarca. Malipieros Maria ist so sehr viel körperlicher, sehr viel mehr „donna“ als im soeben besprochenen anonymen Cento-Text: Hier wird die Vergine ja zum „spirto“, während Malipiero den später von Castelvetro als „mondano“ inkriminierten Vers 54 („Vergine sola al mondo senza exempio,/che’l ciel di tue bellezze innamorasti“) identisch beibehält und Petrarcas Problem geistlich-weltlicher Überblendung in seine Petrarca-Korrektur übernimmt.72 Doch was bei Petrarca als Konsequenz andauernder Sündenverstrickung auf écriture-Ebene fungierte, ist bei Malipiero nichts als ein Widerspruch zum expliziten Voluntarismus des willentlich steuerbaren „far frutto“73 seiner Petrarca-Korrektur. Dass er im Unterschied zum Canzoniere seiner Mariencanzone die Canzone „Signor, che solo sei vero conforto“74, die als einziger Text des Petrarca spirituale keine Bearbeitung eines Petrarca-Gedichts, sondern ein genuin eigener Text ist, vorordnet, zeigt zum einen retrospektiv, für wie problematisch der petrarkische Chiasmus von ontologischem Abstieg (Gott/ Maria) und poetologischem Aufstieg (Sonett/Canzone) im sechzehnten Jahrhundert gehalten wurde und wie er gelöst werden konnte.75 Doch überdeckt diese
70 Petrarca: Canzoniere (Anm. 4), S. 442. 71 Malipiero: Il Petrarca Spirituale (Anm. 67), Bl. 151r–153r. 72 Forni, Vittoria Colonna (Anm. 45), S. 67, nimmt dagegen an, dass bei Malipiero „le celesti bellezze di Maria non conservano ora più alcuna memoria dell’incanto di Laura“. 73 Malipiero: Il Petrarca Spirituale (Anm. 67), Bl. 9r. 74 Malipiero: Il Petrarca Spirituale (Anm. 67), Bl. 150r–151r. 75 Je mehr einzelne italienische Autoren des sechzehnten Jahrhunderts zu reformatorischen Ideen neigen, desto problematischer wird der Petrarcasche Chiasmus und desto radikaler werden
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makrotextuelle Entscheidung die Persistenz der geistlich-weltlichen Diskursmischung in Malipieros ‚neuer‘ Mariencanzone nur oberflächlich. Die Vergine des Franziskaners Malipiero bleibt so der Petrarcas wiederum näher als der Dantes und begibt sich damit in die implizite Distanz zur besonders vom Franziskanerorden vertretenen Position der Immaculata Conceptio.76 Wie stark den geistlichen wie weltlichen Petrarkismus dieses Problem in den Jahren nach Malipiero beschäftigte, zeigen abschließend zwei Beispiele einer korrigierenden Neutralisierung des geistlich-weltlichen Konfliktpotentials im Verein mit dogmatischer Vereindeutigung: Im Il ritratto del vero amore in amorose et divine rime, con le virtú e gratie, et amore de Maria Vergine eines nicht weiter bekannten Federico Frezzelio (Genova 1553)77 findet sich eingebettet in Stanze in ottava rima auf die Tugenden Marias auch die Canzone „In laude, de Maria Vergine“ mit dem markanten, Petrarca aufrufenden Beginn „Vergine eletta, madre di Salute“ und der ähnlich wie in der Mariencanzone des Canzoniere gestalteten Wiederaufnahme der Invocatio „Vergine“ im zwölften Vers jeder Strophe. Auffälligerweise kombiniert Frezzelio den Petrarca-Bezug mit seiner deutlichen Korrektur: Die petrarkischen Unschärfen weltlichen und geistlichen Frauenlobs sind hier signalhaft getilgt – wie man bereits der Streichung des „bella“ der Vergine in RVF 366, V. 1, zugunsten der Heilswirksamkeit Marias im ersten Vers entnehmen kann: Vergine eletta, madre di Salute Chiesta dal sangue, delli sommi Regi Per contener’ ogni perfetto in Noi Fundamento di Gratie, e de vertute die Korrekturen der Mariencanzone: Antonio Brucioli, Autor einer Übersetzung der Bibel ins Italienische und einer ungedruckten Lyriksammlung Dello amore divino christiano, transformiert sie vor 1544 kurzerhand in eine Christus-Canzone, die damit aus dem hier gesteckten Untersuchungsrahmen herausfällt, aber dringend einer eingehenderen philologischen Recherche und Analyse als bislang im Rahmen spezifisch reformatorischer Ansätze in der italienischen geistlichen Lyrik des Cinquecento bedarf. Zu Brucioli siehe die älteren Arbeiten von Karl Benrath: Poesie religiose di Antonio Brucioli. In: Rivista cristiana 7 (1879), S. 3–10, und Giorgio Spini: Tra Rinascimento e Riforma. Antonio Brucioli. Florenz 1940, und die aktuellen von Antonio Corsaro: Manuscript Collections of Spiritual Poetry in Sixteenth-Century Italy. In: Forms of Faith in Sixteenth-Century Italy. Aldershot 2009, S. 33–56; Matteo Fadini: L’inquietudine in versi. Le opere di Marcantonio Cinuzzi e la letteratura religiosa eterodossa. Trient 2014 (Diss. Università degli Studi di Trento), S. 3–31 (http://eprints-phd.biblio.unitn.it/1342/1/Tesi-dottorato-Matteo-Fadini.pdf, 7.3.2018), und Dalmas: Letture e riscritture (Anm. 37), S. 209–221. 76 Zur Rolle des Franziskanerordens auf dem Weg zur Durchsetzung der Immaculata ConceptioLehre, besonders mit und nach Duns Scotus, siehe Petrocchi: Storia della spiritualità italiana (Anm. 6), S. 53; Söll: Mariologie (Anm. 10), S. 174–176, S. 178 f. 77 Il ritratto del vero Amore, in amorose et divine Rime, con le virtù, gratie, et amore de Maria Vergine composte per il virtuoso Milite Miser Federico Frezzelio nobile Minturnese. Genova 1553.
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E circundata, dalli eterni fregi & essaltata da celesti Eroi.78
Diese Vergine ist, anders als bei Petrarca, dann auch theologisch von aller Kreatürlichkeit freigehalten und erscheint in logischer Konsequenz daraus als „Vergine immaculata, senza emenda“ (V. 72), die das lyrische Ich Dante-gleich „nel puro, ciel fra lalte [sic] stelle/e scorta in sole“ (V. 59 f.) erblickt.79 Das ist übrigens der einzige mir bekannte Beleg einer expliziten lexikalischen Integrierung der Immaculata Conceptio in eine Mariencanzonen-Imitatio des sechzehnten Jahrhunderts. Wenige Jahre später stellt der Neapolitaner Ludovico Paterno in seinem auf über sechshundert Texte angewachsenen Nuovo Petrarca wie Malipiero das Selbstbewusstsein der Überbietung des ‚alten‘ Petrarca zur Schau, wenn er auch bei einer weltlichen Liebesgeschichte bleibt. Die Überbietbarkeit hat für Paterno nicht nur Gründe des Selbstbewusstseins der ‚modernes‘ des sechzehnten Jahrhunderts über die ‚anciens‘ des vierzehnten bzw. ihrer Befürworter im frühen sechzehnten Jahrhundert.80 Implizit lässt sich die Petrarca-Korrektur auch aus den dogmatischen Differenzen zu Petrarca ableiten, die sich in Paternos Mariencanzone „Vergine, le cui lode humana lingua“ zeigen. Sie präsentiert sich als weitgehende lexikalische und partiell semantische Korrektur bei identischem Canzonenformular inklusive der zeichenhaften 21-fachen Wiederholung von „Vergine“ und trägt so ähnliche Züge wie Frezzelios „Vergine eletta, madre di Salute“. Auch Paterno beginnt nicht mit Petrarcas ambigem Schönheitspreis der „Vergine“, sondern mit ihrer Unsagbarkeit und Überlegenheit über jede „humana lingua“: Vergine, le cui lode humana lingua Stender non può, che’l gran soggetto avanza I piu sublimi & sovr’humani ingeni.81
78 Ebd., Bl. 46v–48r. 79 Unübersehbar wetteifert der Verfasser hier mit Dantes Vision der Jungfrau Maria und der Beschließung der drei Cantiche der Divina Commedia durch den Reim der „altre stelle“, so im Paradiso XXXIII, V. 145. 80 Vgl. Lodovico Paterno: Nuovo Petrarca. Venezia 1560, (unpaginiertes) Vorwort. Mario degli Andrini spricht sich gegen den „circolo del Petrarca“ als „prigionia perpetua & povertà troppo dura“ aus, den Bembo durch die Verwendung von „voci pur non usate dal Petrarca“ durchbrochen habe. Zu Paternos Nuovo Petrarca siehe D. Marrocco: Il Canzoniere di Lodovico Paterno. Piedimonte d’Alife 1951; Giulio Ferroni, Amedeo Quondam: La locuzione artificiosa, Teoria ed esperienza della lirica a Napoli nell’età del manierismo. Rom 1973; Quondam, Il naso di Laura (Anm. 66), S. 181–197, hier S. 196 f. sowie Lirici europei (Anm. 42), S. 598–602. 81 Paterno: Nuovo Petrarca (Anm. 80), S. 346.
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So ist gleich zu Anfang signalhaft ein Ton der Differenz zwischen Maria und dem „Humanum“ angeschlagen. Konsequenterweise streicht Paterno den Anruf „Vergine humana“ aus RVF 366, V. 117, während er andere wie „Vergine saggia“ (RVF 366, V. 14) oder „Vergina santa“ (RVF 366, V. 40) übernimmt.82 Der kontroverse, auf ein weltlich-geistliches Innamoramento und eine aktive Rolle Mariens anspielende Petrarca-Vers „Vergine […], che ’l ciel di tue bellezze innamorasti“ (RVF 366, V. 53 f.) fehlt, stattdessen führt Paterno die dogmatisch unangreifbare Begründung der Wahl Mariens als „ab eterno eletta“83 aus und zieht damit den Gruß des Engels an Maria aus Lk 1,28 („Sei gegrüßt, du Begnadete“) heran. Durch die Betonung dieser Auserwähltheit „ab eterno“ hat Paterno schon das zentrale Thema dieser Canzonenstrophe angeschlagen: das der Immaculata Conceptio. Maria ist „sola per noi nata“ und „pria che nata fosti, alma e divina,/cosa tutta gentil, tutta perfetta“,84 was impliziert, dass sie erbsündenfrei („perfetta“) auf Grund der Wahl „ab eterno“ im göttlichen Heilsplan („sola per noi nata“) der Erlösung durch Christus ist. Die damit verbundene Entflechtung von weltlichem Frauen- und Schönheitslob und Eloge der Immaculata tilgt die sich der Perpetuierung eigener Sündhaftigkeit bewusste und daher kontaminierte Marieneloge Petrarcas und ersetzt sie durch einen ‚reinen‘ enkomiastischen Mariendiskurs. Entsprechend wird der Anruf der Vergine um Hilfe beim Lobgesang ihres „gran soggetto“85 als sehr viel erfolgreicher als bei Petrarca inszeniert, was an der selbstbewusst vorgetragenen endgültigen Quittierung der irdischen Leidenschaften dank göttlicher Hilfe liegt: Bereits nach „due lustri“86 hat das lyrische Ich die „Medusa ria“ – die weltliche Geliebte Mirra – abgeschüttelt, und zwar endgültig: Non mi può far danni, o scorni illustri, Ne piu temo il suo ciglio atro & indegno: Poi che Rettor del cielo, il mio sostegno Sei tu, che con tuo raggio ogni huomo illustri.87
Petrarca hingegen lässt das lyrische Ich nach 31 Jahren Liebesdienst immer noch um Beistand gegen seine „Medusa“ (RVF 366, V. 111) bitten. Eine die Kooperation menschlichen Willens betonende Rechtfertigungslehre und Immacolata-Glauben stützen sich bei Paterno so gegenseitig – eine doppelte und gut in das römisch82 Ebd., S. 347, S. 348. 83 Ebd., S. 348. 84 Ebd. 85 Ebd., S. 346. 86 Ebd., S. 344. 87 Ebd.
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katholische spanische Neapel der 1560er Jahre passende Petrarca-Korrektur.88 Paternos in maximaler theologischer Entfernung zu der Petrarcas gestaltete Canzone zeigt, dass sein Nuovo Petrarca stark auf die ideologische Reform des Modells aus dem vierzehnten Jahrhundert setzt und dass im Gros der italienischen Mariendichtung an der Immaculata Conceptio bereits dreihundert Jahre vor der Bulle „Ineffabilis Deus“ von Pius IX. aus dem Jahre 1854 kein Weg vorbeiführte.
88 Vgl. die Widmung des Nuovo Petrarca an den ‚Sereniss. Rè Catolico il gran Filippo d’Austria‘. Hauptverfechter der Immaculata Conceptio auf dem Konzil von Trient waren nicht von ungefähr spanische Kardinäle wie Pedro Pacheco, der mit seinem Antrag, die Immaculata Conceptio in die Beratungen über die Erbsünde 1546 einzubeziehen, nur knapp scheiterte, siehe Söll: Mariologie (Anm. 10), S. 191 f. Zur katholischen Reform in Neapel nach dem Tod Juan de Valdés und der Flucht Bernardino Ochinos siehe Venard: Italien (Anm. 6), S. 583–588.
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„Per formar vero il bel divino aspetto“ Vittoria Colonnas Interpretation der Lukasmadonna Als im März des Jahres 1535 der Kapuzinermönch und spätere Reformator Bernardino Ochino in der römischen Kirche San Lorenzo in Damaso predigt, befindet sich unter den Zuhörern auch die römische Dichterin Vittoria Colonna, wie der Erzbischof Agostino Gonzaga in einem Brief an Isabella d’Este zu berichten weiß: „La S[ignora] Marchesa di Pescara […] queste due mattine è stata alla predica in S[an]to Lorenzo in Damaso, ove è uno ex[cellentissi]mo predicatore de l’ordine de quelli Capuccini di S[an]to Francesco chiamato fra Bernardino da Siena, homo di santissima vita et molto dotto.“1 Diese Episode aus der Biographie Colonnas an dieser Stelle zu zitieren, entspringt einer Verlegenheit, die wohl am Anfang jeder Einleitung steht, erfüllt sie doch lediglich den Zweck zur Kirche San Lorenzo und einer in ihr befindlichen Marienikone hinzuführen, genauer zu einer sogenannten Lukasmadonna (s. Bildzitat 1). Einer seit der Antike weit verbreiteten Legende zufolge soll der Evangelist Lukas der erste Maler gewesen sein, der die Gottesmutter Maria bildnerisch dargestellt habe, und zahlreiche Ikonen in Rom beanspruchen den Status einer authentischen Lukasmadonna für sich, so unter anderen jene in San Lorenzo in Damaso oder jene in Santa Maria del Popolo, in dessen Chor wiederum der Maler Pinturicchio 1510 ein Deckenfresko fertiggestellt hat, das die Lukaslegende zum Thema hat (s. Bildzitat 2).2 Beispielhaft soll es kurz die altkirch-
1 Zitiert nach Veronica Copello: Edizione commentata della raccolta donata da Vittoria Colonna a Michelangelo Buonarroti (ms. Vat. Lat. 11539). Dissertation an den Università degli Studi di Pisa und Université de Genève 2016, unveröffentlicht, S. 48. Übersetzung: „Die Gräfin von Pescara [d. h. Vittoria Colonna] war an diesen beiden Morgen bei der Predigt in San Lorenzo in Damaso, wo ein äußerst herausragender Prediger aus dem Orden jener Kapuziner des Heiligen Franziskus mit dem Namen Bernardino da Siena, ein Mann von sehr heiliger Lebensweise und sehr gelehrt, [zu hören] war.“ Alle Übersetzungen stammen, wenn nicht anders vermerkt, vom Verfasser. 2 Verwiesen sei auf das umfangreiche Werk von Michele Bacci: Il pennello dell’Evangelista. Storia delle immagini sacre attribuite a san Luca. Pisa 1998. Siehe auch Gisela Kraut: Lukas malt die Madonna. Zeugnisse zum künstlerischen Selbstverständnis in der Malerei. Worms 1986; Crispino Valenziano: Evangelista e pittore. Discepolo e scultore. La Madonna di San Luca e il Crocifisso di Nicodemo miti verso l’autentica icone cristiana. San Leolino 2003. Vgl. Bacci, S. 329: „In Italia, Pico della Mirandola condannò ogni forma di adorazione della croce e delle immagini, ‚anche nella maniera definita da san Tommaso‘; questo provocò la risposta delle gerarchie attraverso le Disputationes magistrales [sic] di Pedro Garsia (1489), che incluse nelle sue argomentazioni, traendolo dalla tradizione tomistica, il richiamo alla storia dell’evangelista come prova a favore https://doi.org/10.1515/9783110665109-016
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liche und später katholische Auffassung über die Lukasmadonnen illustrieren: Der mit einer Aureole gekrönte Evangelist sitzt auf seinem Symboltier, dem Ochsen, und malt eine Marienikone, die auf seinem Schoß lehnt. Die rechte Bildhälfte wird vom Malerheiligen eingenommen, links von der Mitte lehnt die Ikone, unten links hinter dieser schielt dem Betrachter der Ochsenkopf entgegen. Das antikisierend drapierte rote Gewand über grünem Unterkleid bildet einen markanten Kontrast zum himmelblauen Hintergrund und zum tiefblauen Gewand der Jungfrau, die Lukas mit Hilfe eines Farbnäpfchens in der linken und einem Pinsel in der rechten Hand weiter koloriert. Der goldene Grund und antikisierende Rahmen der Ikone heben die Jungfrau zusätzlich hervor. Lukas’ Hand verdeckt das Christuskind, dessen auf dem Schoß der Mutter ruhende Beine jedoch zu erahnen sind. Die Wundertaten der Madonna werden dadurch angedeutet, dass ihr zum Gruß erhobener Arm den Bildrahmen verlässt. Verehrt wird hier also eindeutig Maria, weshalb nicht überraschen wird, dass sich das Fresko in einer Maria geweihten Kirche befindet, die sich darüber hinaus rühmt, eine eigene Lukasmadonna zu besitzen. Von katholischer Seite wurde die Lukaslegende gerne als Argument gegen die von protestantischer Seite geäußerte Kritik an der Bildverehrung verwendet. In Italien war schon Ende des fünfzehnten Jahrhunderts ein Bilderstreit in Florenz ausgebrochen, in dem der Philosoph Giovanni Pico della Mirandola in seinen Neunhundert Thesen religiöse figurative Darstellungen und deren Verehrung kategorisch abgelehnt hatte: „Nec crux Christi nec ulla imago adoranda est adoratione latrie etiam eo modo quo ponit Thomas [Weder das Kreuz Christi noch irgendein anderes Bild darf im Gottesdienst angebetet werden, auch nicht so, wie es Thomas darlegt].“3 Auf die Haltung Mirandolas reagierte Pedro Garcia im Auftrag der Römischen Kurie im Jahre 1489 mit seinen Determinationes magistrales, in denen die Bildverehrung mit einem Verweis auf die Lukaslegende gerechtfertigt wird: „beatus Lucas dicitur depinxisse Christi imaginem que Rome habetur [Der selige Lukas
della liceità e dell’antichità del culto cristiano degli oggetti figurativi [In Italien verurteilte Pico della Mirandola jegliche Form der Kreuzes- und Bilderanbetung, ‚auch die vom Heiligen Thomas definierte Weise‘. Dies forderte eine Antwort der [kirchlichen] Hierarchien durch die Disputationes magistrales [sic] von Pedro Garsia (1489), der den Verweis auf die Geschichte des Evangelisten, den er aus der thomistischen Überlieferung übernahm, als Beweis zugunsten der Gesetzmäßigkeit und des Alters des christlichen Kultes figurativer Gegenstände in seine Argumentationen einfügte].“ Bacci meint wohl die Determinationes magistrales. 3 Pico della Mirandola [Ioannis Pici Mirandulae]: Apologia tredecim quaestionum. In: Ders.: Omnia opera. Sine loco 1506, f° H iv r. Vgl. ders.: Conclusiones nongentae, in omni genere scientiarum. Nürnberg 1532, S. 123; ders.: Conclusiones in Theologia. XIV. In: Opera omnia. Basel 1572, Bd. I, S. 94. Vgl. Bacci (Anm. 2), S. 329. Zum Ikonoklasmus sei verwiesen auf Hartmut Feld: Der Ikonoklasmus des Westens. Leiden 1990 (Feld 1990).
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Abb. 1: Marienikone, Kirche San Lorenzo in Damaso, Rom, um 1100–1150.
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soll ein Bild Christi gemalt haben, das sich nun in Rom befindet].“4 Im Kontext des sich verschärfenden Bilderstreites im Zuge der Reformation wurde die Lukaslegende zwar nie Gegenstand längerer Auseinandersetzungen, jedoch wurde sie wie bei Garcia sporadisch immer wieder dazu zitiert, die eigene Argumentation mal zur Ablehnung, mal zur Verteidigung figurativer religiöser Darstellungen zu unterstützen.5 Kurz seien daher summarisch die Gründe für eine Ablehnung oder Verteidigung der Lukasmadonnen-Verehrung zusammengefasst. Von protestantischer Seite wurden sie erstens aus einer allgemeinen Ablehnung von Bildern heraus zurückgewiesen, ausgehend von den zehn Geboten, in denen es heißt: „Non facies tibi sculptile neque omnem similitudinem [du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen]“ (Ex 20,4).6 Stützte man sich auf diesen Vers, so konnten die Lukasmadonnen von protestantischer Seite nur auf Ablehnung stoßen. Denn zweitens, so argumentieren Bullinger und Calvin, entbehrten sie jeglicher biblischen Grundlage; Lukas werde dort nicht als Maler,
4 Pedro Garcia: Determinationes magistrales contra conclusiones apologeticas Joannis Pici Mirandulae. Rom 1489, f° C iij r. 5 Während Andreas Bodenstein von Karlstadt in Wittenberg mit seinem ‚Von Abtuhung der Bylder‘ aus dem Jahre 1522 die Bildverehrung kategorisch abgelehnt hatte, rechtfertigen Hieronymus Emser und Johann Eck als Antwort auf Karlstadt die Bildverehrung unter anderem mit einem Verweis auf die Lukaslegende. Johann Eck: De non tollendis Christi et sanctorum imaginibus. Ingolstadt 1522, S. 204. Vgl. auch Bacci (Anm. 2), S. 331. So erklärt Emser: „Furter schreybet Damascenus wie er von den alten gehort, Das der heilig evangelist Lucas, Christum und seyn werde muter Mariam mit seyn eigen henden abgemalt hab, welche bilder darnach gen Rom komen seyen, Verba Damasceni in prefato libro sunt hec. ‚Accepimus Lucam apostolum et evangelistam pinxisse dominum et matrem eius, quorum imagines famosam habere Romanorum civitatem‘ etc. [Die Worte Damasceni in dem vorgenannten Buch sind diese: ‚Wir haben gehört, daß Lukas, der Apostel und Evangelist, den Herrn und dessen Mutter gemalt habe, deren berühmte Bilder die Stadt Rom besitze‘ usw.].“ (Hieronymus Emser: Vorantwurtung auf das ketzerische buch Andres Carolstats. Hg. von Jörg Jochen Berns. In: Von Strittigkeit der Bilder. Texte des deutschen Bilderstreits im 16. Jahrhundert. Berlin 2014, S. 116–163, hier S. 123. Original von 1522). Auch zitiert Emser die Prozession der Madonnenikone aus Santa Maria Maggiore durch Papst Gregor und erwähnt die durch Maria vollzogenen Wunder: „Ouch so ist in orient und occident Laut |mher und Lantruchtig|, wie der heilig Bapst Gregorius in der grossen pestilentz die bey seynen zeyten zu Rom gewest, ein station oder proceß zu Maria Maiora gehalten, Und das bild Marie (welches Lucas wie oblaut gemalet hat) dem volck hoch an eyner stangen vortragen lassen, bey welchem bild die Engel gottes in den luften schwebende sichtiglich entschinen, im reverentz gethan und den frowlichen gesang Regina celi, angefangen welchen der heilig Gregorius mit der clausel ora pro nobis deum beschlossen hat.“ (Ebd., S. 124). 6 Zitiert nach: Vulgata biblia sacra. Hg. von Robert Weber. Stuttgart 1969. Die Übersetzung folgt: Die Bibel. Übersetzt von Martin Luther. Stuttgart 2012 (revidierte Übersetzung von 1984).
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Abb. 2: Pinturicchio, Deckenfresko, Chor der Kirche Santa Maria del Popolo, Rom, 1510.
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sondern als Arzt bezeichnet.7 Drittens, so ein Argument Calvins, lasse die schiere Anzahl an Ikonen, die für sich den Status einer Lukasmadonna beanspruchen, Zweifel an deren Wahrhaftigkeit aufkommen: „D’autre part, tous les anglets du monde sont pleins des images de la Vierge Marie qu’on dit qu’il [scilicet Luc] a faites [Zum anderen sind alle Ecken dieser Erde voll von Bildern der Jungfrau Maria, die Lukas angefertigt haben soll].“8 Viertens sei schließlich die bei den Lukasmadonnen zu beobachtende Frömmigkeitspraxis abzulehnen, nach der sich der betrachtende Gläubige Beistand, Fürsprache und Wunder von der Ikone versprach und so dem reformatorischen Prinzip des solo Christo widersprach.9
7 Heinrich Bullinger: Vom Ursprung aller Irrthumben. In: Von Strittigkeit der Bilder. Texte des deutschen Bilderstreits im 16. Jahrhundert. Hg. von Jörg Jochen Berns. Berlin 2014, S. 480–525, hier S. 514: „Lucas ist seines Berufs ein Artzt gewesen, wie Paulus sagt, und kein Mahler, er werde dann von wegen der Form und weiß seines schreibens ein Mahler genennet. Dann gleich wie die Mahler allerley Geschichten, so sich etwa zu haben getragen, mit Farben dermassen ausstreichen, als sehe man es vor Augen, also mögen die Historien, umb ihrer scharpfsinnigkeit willen nicht ubel ein Gemähle genennt werden. Und seitemal under allen Evangelisten, die Thugend der Jungfrawen Marie, und ihre Herrligkeit keiner so fleissig und weitleuftig beschrieben hat, als Lucas, hat dieser vieleicht etlichen zu solcher red ursach gegeben, Lucas hab die Jungfraw Maria abgemahlet.“ Das lateinische Original von 1539 lautet: „Lucas professione aut conditione fuit medicus, id quod asseruit Paulus, non pictor. Pictor forte dictus est ob evidentiam stili. Quemadmodum enim pictores res quaslibet olim gestas perinde ac si iam gerantur coloribus exprimunt et oculis subiiciunt, ita historia propter energiam picturi videri potest. Et cum nullus inter evanglicae historiae scriptores Virginis matris virtutes et gloriam copiosus et diligentius Luca historico descripserit, inde fortassis ortum videtur quod quidam dixerunt Lucam pinxisse virginem matrem.“ (Heinrich Bullinger [Heinrychi Bvllingeri]: De origine erroris libri duo. Zürich 1539, f° 140r). Jean Calvin: Traité des reliques (1543). In: La vraie piété. Divers traités de Jean Calvin et Confession de foi de Guillaume Farel. Hg. von Irena Backus und Claire Chimelli. Genf 1986, S. 186: „Je vous prie, quel blasphème de faire d’un saint Evangéliste un idolâtre parfait? Et même quelle couleur ont-ils pour persuader que saint Luc ait été peintre? Saint Paul le nomme bien médecin [1 Cor 4, 14]. Mais du métier de peintre, je ne sais où ils l’ont songé. [Ich bitte euch: Was ist dies für eine Blasphemie, die aus einem heiligen Evangelisten einen vollkommenen Götzendiener macht? Und welchen Grund haben sie denn, ihre Überzeugung zu behaupten, dass der heilige Lukas ein Maler gewesen sei? Der Heilige Paulus nennt ihn wohl einen Arzt [1 Cor 4, 14]. Aber ich weiß nicht, woher sie sich einbilden, dass er vom Beruf Maler gewesen sei].“ Übersetzung stammt vom Verfasser. 8 Calvin (Anm. 7), 1986, S. 186. Übersetzung stammt vom Verfasser. 9 Auch wenn Luther Bilddarstellungen an sich nicht ablehnte, konnten diese doch als Zeichen zur Unterstützung der Frömmigkeit gerade der Ungebildeten dienen, so ist doch zweifelhaft, ob er die Verehrung von Lukasmadonnen akzeptiert hätte. Vgl. Bacci (Anm. 2), S. 330: „benché [Luther] non si esprimesse chiaramente su questo punto, è evidente che il suo giudizio non potesse che essere estremamente negativo nei confronti del culto delle celebri icone miracolose di Roma e di altri luoghi. Questo non gli impedì in ogni caso di accettare l’impiego della figurazione a scopo didattico, basandosi sull’assunto che le immagini religiose sono semplici ‚segni‘ che svolgono la funzione di richiamare alla mente i personaggi sacri, senza identificarsi con essi. Quella che il
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Abb. 3: Gianfrancesco Penni (zugeschrieben), San Luca dipinge la Vergine, Accademia Nazionale di San Luca, Rom, ca. 1524.
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Von katholischer Seite wurde durch den Verweis auf eben jene Wunder dagegen argumentiert, bewiesen diese doch die Authentizität der Lukasmadonnen. Zudem wurde der Standpunkt vertreten, dass nicht alle christlichen Traditionen aus der Bibel stammten, wobei man sich vor allem auf Johannes von Damaskus10 und Thomas von Aquin berief, die als Autoritäten christlicher Tradition die Lukaslegende wiedergeben. Schließlich gibt es kein generelles Bilderverbot, unter dem von Augustin11 und Thomas von Aquin formulierten Vorbehalt, dass nicht das Bild an sich verehrt werden dürfe, sondern dieses als Zeichen und Verweis auf Gott dienen müsse und den Gläubigen in seiner Frömmigkeit auch durch sinnliche Anregung unterstützen könne. Nicht das Bild als Gegenstand darf verehrt werden, sondern das, was es abbildet. Schaut man nur auf Italien, so kann als ein Beispiel in diesem Streit Alberto Pio genannt werden, der im Jahre 1531 die Lukaslegende als Argument zugunsten der Bilderverehrung zitiert.12 In seinen Tres et viginti libri
riformatore tedesco predicava non era affatto una condanna della produzione figurativa a carattere sacro, quanto un invito a un suo uso corretto [obgleich Luther sich nicht eindeutig zu diesem Punkt geäußert hat, ist es offensichtlich, dass sein Urteil über die Verehrung der berühmten Wunderikonen aus Rom und anderen Orten nur äußerst negativ ausfallen konnte. Dies hinderte ihn jedenfalls nicht daran, die Verwendung bildlicher Darstellungen zu didaktischen Zwecken zu akzeptieren, da er sich auf die Behauptung stützt, dass religiöse Bilder einfache ‚Zeichen‘ seien, die die Funktion erfüllten, heilige Persönlichkeiten ins Gedächtnis zu rufen, ohne diese mit jenen gleichzusetzen. Was der deutsche Reformator predigte, war tatsächlich nicht eine Verurteilung der geistlichen bildenden Kunst, sondern vielmehr eine Einladung, diese zu korrigieren].“ Übersetzung stammt vom Verfasser. 10 Johannes Damascenus: De fide orthodoxa. Hg. von Eloi Marie Buytaert. Paderborn 1955, IV, 16: „Honor imaginis refertur ad prototypum [Die Verehrung eines Bildes wird auf dessen Prototyp übertragen].“ Übersetzung stammt vom Verfasser. 11 Aurelius Augustinus: De doctrina christiana. De vera religione. Hg. von Josef Martin. Turnhout 1962, III.9, 13, S. 85: „Sub signo enim servit qui operatur aut veneratur aliquam rem significantem, nesciens quid significet: qui vero aut operatur, aut veneratur utile signum divinitus institutum, cuius vim significationemque intellegit, non hoc veneratur quod videtur et transit, sed illud potius quo talia cuncta referanda sunt. [Unter einem Zeichen dient nämlich derjenige, der irgendeiner etwas bezeichnenden Sache dient oder sie verehrt, ohne zu wissen, was sie eigentlich bezeichnet. Wer aber einem nützlichen Zeichen dient oder es als göttliche Einrichtung ehrt und seine Kraft und Bedeutung kennt, der verehrt nicht das, was man sieht und was vorübergeht, sondern vielmehr das, worauf er all das erst beziehen muß].“ Übersetzt von Sigisbert Mitterer: Des Heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus ausgewählte Schriften. München 1925. 12 Alberto Pio: Tres et viginti libri in locos lucubrationum variarum D. Erasmi Roterodami, quos censit ab eo recognoscendos et retractandos. Paris 1531, f° 142r: „Cum patres illis proximi illus servarint et posteri continuata serie pariter receperint: sacras autem imagines formatas ab eorum usque temporibus expresse asserunt divus Augustinus, Eusebius, Caesariensis, sanctus Damascenus, tripartitae quoque historiae authores, et alii complures. Refert enim Augustinus memoriae proditum esse quod Lucas evangelista dominum nostrum et sacratissimam eius matrem depinxerit
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stützt sich Alberto Pio explizit auf das Bildverständnis des Heiligen Augustinus aus der Doctrina Christiana: Ähnlich wie später Thomas von Aquin argumentiert Augustinus, dass nicht das Bild an sich verehrt werden dürfe, sondern das, was es abbildet. Was hat dies nun alles mit Vittoria Colonna und der colonnaschen Marienverehrung zu tun? Rund fünf Jahre nach den Predigten Ochinos in San Lorenzo um das Jahr 1540 übergibt Vittoria Colonna ihrem Freund Michelangelo Buonarroti eine Gedichtsammlung samt einem Sonett, das sich in Form einer Ekphrasis der Marienikone und der Lukaslegende annimmt, wobei nicht aus dem Sonett hervorgeht, um welche der im Übrigen überaus zahlreichen römischen Lukasmadonnen es sich handelt. Aufschlussreich ist Colonnas Sonett über die Lukasmadonna deshalb, da es zum einen Rückschlüsse auf die Rolle Mariens in der Frömmigkeit Colonnas sowie zum anderen zur Funktionsweise von geistlicher Kunst im Verständnis Colonnas zulässt. Maria in den Konfessionen und Medien der Frühen Neuzeit wird hier exemplarisch greifbar: In dem kunsttheoretischen Sonett geht es um die Funktion und Stellung einer Mariendarstellung für die Frömmigkeit. Im Folgenden soll zunächst die Mariologie Colonnas zusammenfassend in den Blick genommen werden, bevor vor diesem Hintergrund das betreffende Sonett analysiert werden und in den Zusammenhang der Rime spirituali Colonnas gestellt werden kann. Anschließend soll es in einen Vergleich zu Gianfrancesco Pennis Darstellung des Motivs Lukas malt die Madonna gestellt werden, um in einem letzten Schritt die Reaktion Michelangelos auf die ihm zuteil gewordene Sammlung Colonnas in dessen eigenen Rime zu untersuchen. astruens ex his imaginum venerationem sumptam fuisse ex apostolicis traditionibus. Ita enim habet libro de doctrina Christiana: Nempe qui veneratur signum divinitus institutum cuius vim et significatione intelligit non hoc veneratur quod videtur et transit, sed illud ad quid talia cuncta sunt referenda etc. Quibus verbis subscribit eximius pater Damascenus libro quarto de fide orthodoxa inquiens: Imaginis enim honor ad prototypum exemplar imaginisque veritatem transfertur [Weil die Väter, die den Aposteln zeitlich am nächsten standen, jenen Punkt beachteten, [demzufolge es erlaubt sei, das, was nicht in der Heiligen Schrift steht, abzuleiten] und die späteren [Väter] dies gleichsam in einer ununterbrochenen Nachfolge übernahmen, verteidigten seit jenen Zeiten ausdrücklich der heilige Augustinus, Eusebius von Caesarea, der Heilige Johannes von Damaskus, auch die Verfasser der Historia tripartita und viele weitere mehr, heilige Bildwerke. Augustinus nämlich berichtet, dass nach der Überlieferung der Evangelist Lukas unseren Herrn und dessen überaus heilige Mutter gemalt habe, und fügt daher hinzu, dass die Bildverehrung durch die apostolischen Überlieferungen übernommen wurde. So behauptet er im Buch De doctrina christiana: ‚Denn wer ein durch die Gottheit eingerichtetes Zeichen verehrt, dessen Kraft und Bedeutung er erkennt, verehrt nicht das, was er betrachtet und übersteigt, sondern das, worauf all dies zu beziehen ist usw.‘ Diesen Worten pflichtet der erhabene Vater Johannes von Damaskus im vierten Buch seiner De fide orthodoxa bei, indem er erklärt: ‚Die Verehrung und die Wahrhaftigkeit eines Bildes werden nämlich auf den exemplarischen Prototyp übertragen‘].“
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Die hier im Mittelpunkt stehende Gedichtsammlung, ein Manuskript aus Pergament mit 103 Sonetten, befindet sich heute in der Biblioteca Vaticana in Rom (Città del Vaticano, Biblioteca Apostolica Vaticana, Vat. lat. 11539; in der Forschung zu Colonna und im Folgenden wird die Sigle V2 für dieses Manuskript verwendet) und wurde 2005 von Abigail Brundin samt einer englischen Übersetzung und Kommentaren ediert.13 Diese Ausgabe soll auch Grundlage der folgenden Textanalysen sein. In der Sekundärliteratur fand das Sonett derweil nur wenig Beachtung. Neben kurzen Anmerkungen von Abigail Brundin in ihrer Edition des Manuskripts von 2005, hat 2016 Veronica Copello eine neue kommentierte Edition im Rahmen ihrer Promotion fertiggestellt und darin die intertextuellen Bezüge in Colonnas Sonett deutlich gemacht.14 Doch bevor das Sonett analysiert werden kann, bedarf es noch eines weiteren Vorschrittes: Wie verhält es sich mit Colonnas Marienverehrung?
1 Die Marienverehrung Vittoria Colonnas Der Schweizer Theologe Emidio Campi hat unseres Wissens nach als erster die Mariologie Vittoria Colonnas im Kontext der Spiritualität von Bernardino Ochino und Juan de Valdés systematisch untersucht, wobei er das von uns noch zu analysierende Sonett über den Heiligen Lukas nicht gekannt hat.15 Campis Schlussfolgerung ist, dass die Darstellung Mariens bei Vittoria Colonna der Mariologie Bernardino Ochinos entspricht. So sei Maria bei Ochino und Colonna zwar durchaus präsent und wird als Gottesmutter verehrt, jedoch immer im Bezug zu Christus: Maria werde als Vorbild des Glaubens, als exemplum fidei, verehrt, trete Campis Interpretation zufolge aber nicht in einer vermittelnden Position als Fürsprecherin
13 Vittoria Colonna: Sonnets for Michelangelo. A Bilingual Edition. Hg. von Abigail Brundin. Chicago 2005. Zudem befindet sich das Sonett in einem Manuskript, das aus dem Besitz von Marguerite de Navarre stammt und das Datum 1540 auf dem Deckblatt trägt. Dieses befindet sich heute in der Biblioteca medicea laurenziana in Florenz (Ashburnham 1153). Zu diesem Manuskript sei verwiesen auf Domenico Tordi: Il codice delle Rime di Vittoria Colonna. Marchesa di Pescara. Appartenuto a Margherita d’Angoulême. Regina di Navarra. Pistoia 1900 sowie Tobia R. Toscano: La formazione ‚napoletana‘ di Vittoria Colonna e un nuovo manoscritto delle sue ‚Rime‘. In: Studi e problemi di critica testuale 57 (1998), S. 79–106. In keiner Druckedition des sechzehnten Jahrhunderts und in keinem anderen Manuskript ist es überliefert. Das Sonett kann damit grob auf den Zeitraum 1534, Colonnas Hinwendung zur religiösen Dichtung, bis 1540, Erstellung des Manuskripts für Marguerite de Navarre, datiert werden. 14 Copello (Anm. 1). 15 Emidio Campi: Michelangelo e Vittoria Colonna. Un dialogo artistico-teologico ispirato da Bernardino Ochino. Turin 1994.
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in Erscheinung. Dabei unterschätzt Campi unseres Erachtens nach die Bedeutung Mariens für die Frömmigkeit Colonnas. Denn neben dem Lukasmadonnensonett gibt es eine zusammenhängende Sequenz aus zehn Sonetten über Maria in der Druckausgabe der Rime spirituali von 1546, die darüber hinaus bedeutungsvoll und kompakt an den zentralen Positionen 101–110 (S1 100–109) stehen.16 Hinzu kommen zwei Prosastücke Colonnas über Maria: der Sermone sopra la Vergine Addolorata und die Parafrasi sopra l’Avemaria.17 Ersteres beschreibt die Gefühle Mariens über den Tod ihres Sohnes, letzteres paraphrasiert das Ave Maria.18 Campi
16 Vittoria Colonna: Le rime spirituali della ilustrissima Signora Vittoria Colonna Marchesana di Pescara. Venedig 1546. Über diese Edition siehe Tatiana Crivelli: The Print Tradition of Vittoria Colonna’s Rime. In: A Companion to Vittoria Colonna. Hg. von Abigail Brundin, Tatiana Crivelli und Maria Serena Sapegno. Leiden 2016, S. 69–139 (Crivelli 2016a); dies.: Godere di cattiva stampa: spunti per una rilettura della tradizione editoriale delle rime di Vittoria Colonna. In: Al crocevia della storia. Hg. von Maria Serena Sapegno. Rom 2016, S. 137–157 (Crivelli 2016b). Vgl. die Einleitung von Tobia Toscano in Vittoria Colonna: Sonetti in morte di Francesco Ferrante d’Avalos marchese di Pescara. Hg. von Tobia Toscano. Mailand 1998. Die Sigle S1 bezieht sich auf die Gruppe der Rime spirituali in der Gesamtedition von Alan Bullock (Vittoria Colonna: Rime. Hg. von Alan Bullock. Bari 1982), die auf der 1546 in Venedig erschienenen Ausgabe der Rime spirituali beruhen. Diese Ausgabe beruht wahrscheinlich auf einem Manuskript Colonnas und enthält im Gegensatz zu der Sonettsammlung, die Colonna um 1540 Michelangelo geschenkt hat, diejenigen Sonette, die sie während ihrer Zeit in Viterbo, d. h. in der Ecclesia viterbiensis geschrieben hat. So scheint Donato Rullo, Sekretär der Familie Colonna in Venedig, eine Handschrift Colonnas dem Verleger Vincenzo Valgrisi zur Veröffentlichung überlassen zu haben, der diese dann gegen den Willen Colonnas 1546 gedruckt hat. Vittoria war nicht erfreut, wie Donato Rullo in einem Brief vom 13. November 1546 an ihren Bruder Ascanio Colonna schreibt: „Io aspetto con desiderio che V. Ecc.tia habbi ricevuto le Rime Spirituali stampate, che io le mandai della Ill.ma sua sorella, et mia Patrona la quale intendo essere S. Eccent.ia mutinata contro di me perché io le hebbi date a stampare o perché non hebbi prohibito. [Begierlich warte ich darauf, dass Eure Exzellenz die gedruckten Rime spirituali erhält, die ich Ihnen von Eurer erlauchten Schwester und meiner Herrin geschickt habe, welche, wie ich höre, verärgert über mich sein soll, weil ich sie zum Druck gegeben habe oder weil ich es nicht verhindert habe]“ (zitiert in: Tordi (Anm. 13), S. 4 f.). Alan Bullocks Ausgabe wurde nach seiner Veröffentlichung und wird immer noch stark von der Forschung kritisiert. Da eine Kritik an dieser Stelle zu weit führen würde, sei auf den Artikel von Tatiana Crivelli verwiesen, die die Schwierigkeiten einer neuen Ausgabe und Probleme der Bullock-Ausgabe zusammenfasst (Tatiana Crivelli: Mentre al principio il fin non corrisponde. Note sul canzoniere di Vittoria Colonna. In: Marco Praloran. 1955–2011. Studi offerti dai colleghi delle università svizzere. Hg. von Silvia Calligaro und Alessia Di Dio. Pisa 2013, S. 117–136). 17 Paolo Simoncelli hat beide Texte in seiner Untersuchung zum italienischen Evangelismo ediert, Paolo Simoncelli: Evangelismo italiano del Cinquecento: Questione religiosa e nicodemismo politico. Rom 1979, S. 423–428 und 429–432. 18 Beide Texte wurden erstmals 1556, gut 9 Jahre nach dem Tod der Dichterin, unter dem Titel Pianto della Marchesa di Pescara sopra la passione di Christo, con un’Oration della medesima sopra l’Ave Maria gedruckt. Der Sermone stellt vermutlich einen an Bernardino Ochino adres-
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beobachtet vor allem, dass sich bei Colonna weder Spuren der zeitgenössischen altkirchlichen Marienverehrung in Italien zwischen, so Campi, „Götzendienst und Aberglaube“19 noch Hinweise auf die reformatorische Kritik daran fänden. Er erklärt, dass Colonna diese beiden Extreme zugunsten einer „verschwommenen Spiritualität“20 aufgebe. So konstatiert Campi eine nikodemitische Dissimulationsstrategie: Colonna verschweige ähnlich wie Juan de Valdés all diejenigen Elemente altkirchlicher Mariologie, denen sie nicht zustimmen konnte, ohne diese jedoch polemisch oder explizit abzuweisen. Stattdessen konzentrierten sich die Texte Colonnas über Maria auf die Figur Christi und die grundsätzliche Bedeutung des Glaubens für die Rechtfertigung, für dessen Beständigkeit und Kraft Maria als Vorbild diente.21 Die Maria beigemessene Bedeutung erkläre sich daher vielmehr durch die „Beispielhaftigkeit ihres Glaubens“.22 Im Gegenzug schweige Colonna sierten Brief von 1539 oder 1540 dar und reagiert auf die vierte venezianische Predigt Ochinos, wie Campi bereits deutlich machen konnte (vgl. Campi (Anm. 15), S. 49). Campi zufolge hätten die beiden Texte „un gran che dal punto di vista teologico e – ci permettiamo di dire sommessamente – neanche da quello letterario [von einem theologischen und auch – diese verhaltene Bemerkung sei uns erlaubt – literarischen Standpunkt aus betrachtet keinen besonderen Wert].“ (ebd.) Ebenso hat Paolo Simoncelli bereits festgehalten, dass der Pianto „keine große Bedeutung von einem doktrinären Standpunkt aus gesehen habe (er ist zwar inbrünstig aber gleichbleibend christozentrisch) [non ha molto importanza dal punto di vista dottrinale (è accesamente ma genericamente cristocentrico)]“ (Simoncelli (Anm. 17), S. 215). Während Cantù annimmt, dass der Pianto „neuen Lehren [dottrine nuove]“ (Cesare Cantù: Gli Eretici d’Italia. Turin 1866, Band I, S. 412 n. 28) anhänge, widerspricht Simoncelli dieser Deutung, ohne jedoch Gründe für seine Neubewertung zu liefern (Simoncelli (Anm. 17), S. 223 n. 10). Campi wiederum kann überzeugend zeigen, dass die im Pianto zum Ausdruck kommende Mariologie derjenigen Bernardino Ochinos entspricht (Campi (Anm. 15), S. 50). 19 Ebd.: „a metà strada tra l’idolatria e la superstizione“. 20 Ebd.: „spiritualità sfumata“. Campi zufolge deutet dieses „Schweigen [silenzi]“ (ebd.) darauf hin, dass Colonna den Lehren von Juan de Valdés angehörte. 21 Abschließend konstatiert Campi, dass „Dimostrerebbe dunque di non aver ben inteso il testo della Colonna chi leggendolo fissasse su Maria la propria attenzione indipendentemente dalla persona e dall’opera di Cristo, perché tutto quello che l’autrice dice della madre del Signore è sistematicamente subordinato alla cristologia e alla soteriologia [wer beim Lesen des Textes von Colonna seine Aufmerksamkeit unabhängig von der Person und dem Werk Christi auf Maria richtet, würde zeigen, Colonnas Text nicht richtig verstanden zu haben; denn alles, was die Autorin über die Gottesmutter aussagt, wird systematisch der Christologie und Soteriologie untergeordnet].“ (Campi (Anm. 15), S. 51). 22 Ebd., S. 52: „la esemplarità della fede“. Vgl. ebd., S. 53: „Ma soprattutto Maria è esemplare per l’anima credente a motivo della sua fede. La singolare associazione di innocenza, di umiltà, di sottomissione, di sofferenza che viene costantemente messa in rilievo, converge nell’atteggiamento di chi si pone totalmente sotto il giudizio e la grazia di Dio, cessa di essere l’artefice del proprio destino e lascia a Dio solamente l’iniziativa [Doch Maria ist vor allem aufgrund ihres Glaubens beispielhaft für die gläubige Seele. Die einzigartige Verbindung von Unschuld, Demut, Unter-
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über das Thema der Himmelfahrt Mariens und der unbefleckten Empfängnis, und Maria trete nicht als Fürsprecherin und Beschützerin in Erscheinung.23 Diese Behauptungen Campis lassen sich durch einen Blick in die Gedichte Colonnas widerlegen. Im zweiten Sonett (S1 101) der Mariensequenz geht es um das Mysterium der Empfängnis und Menschwerdung Gottes. Traditionell wird Maria hier als „stella del nostro mar“ (V. 1) bezeichnet, die den Gläubigen auf dem sinnbildlichen Meer der irdischen sündhaften Welt den Weg weist. Am Beispiel Mariens als exemplum fidei entzündet sich sodann auch der Eifer des Gläubigen. Erwähnung findet jedoch auch die Himmelfahrt Mariens, die sich „con la veste umana [in menschlicher Gestalt]“ mit ihrem Sohn zusammen im Himmel befindet. Colonna vertrat demnach sehr wohl den Glauben an die Himmelfahrt Mariens. Vom zentralen Stellenwert, den Maria innehat, zeugt auch die Tatsache, dass an der hundertsten Stelle ihres Canzoniere an Michelangelo ein Sonett an Maria steht, das zugleich eines ihrer theologisch bemerkenswertesten Gedichte darstellt und hier als eine Art Summa der colonnaschen Mariologie zitiert und analysiert werden soll: Eterna luna, alor che fra ’l sol vero e gli occhi nostri il tuo mortal ponesti lui non macchiasti e specchio a noi porgesti da mirar fiso nel suo lume altero.
Ewiger Mond, während du zwischen der wahren Sonne und unseren Augen deine sterbliche [Sonne, scilicet Jesus] gestellt hast, hast du ihn nicht befleckt und uns einen Spiegel gereicht,
werfung und Leiden, das ständig hervorgehoben wird, konvergiert in einer Haltung der völligen Unterwerfung unter das Urteil und die Gnade Gottes, der Aufgabe der Gestaltung des eigenen Schicksals zugunsten seiner Überlassung an Gottes alleinige Initiative].“ 23 Campi schreibt: „Né sorprende l’assoluto silenzio sull’‘Assunta’. Dato che l’idea di una celeste assunzione di Maria non è documentata dal Nuovo Testamento, è del tutto legittimo, dal punto di vista valdesiano, rimuoverla nicodemiticamente dal nucleo centrale della fede, senza strappi o aperte manifestazioni di dissenso dogmatico [Das völlige Schweigen über das Thema der Himmelfahrt Mariens ist nicht überraschend. Da die Vorstellung einer himmlischen Aufnahme Mariens nicht vom Neuen Testament dokumentiert wird, ist es von einem valdesianischen Standpunkt aus völlig legitim, es [das Thema der Himmelfahrt] nikodemitisch aus dem Kern des Glaubens zu entfernen, ohne Verstöße oder offene Bekenntnisse dogmatischen Dissenses]“ (ebd., S. 50). Campi führt zudem aus, dass „non vi è traccia alcuna di una partecipazione attiva della Vergine Madre all’opera mediatrice e redentrice del Figlio, né di una sua funzione protettiva ed assicuratrice [es keinerlei Spuren für eine aktive Teilnahme der Jungfrau Mutter am vermittelnden und erlösenden Werk des Sohnes, auch nicht für ihre beschützende und versichernde Funktion als Beschützerin]“ bei Colonna gebe (ebd., S. 50). In dieser Hinsicht lenkt Campi die Aufmerksamkeit auch darauf, dass Vittoria Colonna nur wenige Anreden für die Jungfrau Maria verwendet, andere typische Namen mariologischer Dichtung aber nicht benutzt wie „Madre dei credenti [Mutter der Gläubigen]“, „Sapienza di Dio [Weisheit Gottes]“, „Signora del mondo [Herrin der Welt]“, „Mediatrice [Mittlerin]“ oder „Avvocata [Anwältin]“ (ebd.).
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Non l’adombrasti, ma quel denso e nero velo del primo error, coi santi onesti tuoi prieghi e i vivi suoi raggi, rendesti d’ombroso e grave candido e leggero. Col chiaro che da lui prendi l’oscuro de le notti ne togli, e la serena tua luce il calor suo tempra sovente, che sopra il mondo errante il latte puro che qui ’l nudrì quasi rugiada affrena de la giusta ira sua l’effetto ardente. (V2 100, 1–14)
um sein erhabenes Licht fest zu betrachten. Du hast keinen Schatten auf ihn geworfen, sondern mit deinen heiligen ehrlichen Gebeten und seinen lebendigen Strahlen hast du jenen dichten und schwarzen Vorhang des ersten Irrtums von dunkel und schwer in weiß und leicht verwandelt. Mit dem hellen Licht, das du von ihm annimmst, nimmst du uns die Dunkelheit der Nächte, und mit deinem heiteren Licht milderst du oft seine Hitze, denn wie Tau [sich] über die irrende Welt [legend] zügelt deine reine Milch, die ihn hier ernährte, die brennende Wirkung seines gerechten Zornes. (Übersetzung durch den Verfasser)
In Anlehnung an die für ihren Canzoniere zentrale Metaphorik der Sonne als Sinnbild für Gott erhebt Colonna Maria zum Mond,24 der in diesem Sonett als Brücke zwischen Gott und den Menschen fungiert. Mit der Formulierung „non macchiasti“ übersetzt Colonna den lateinischen Begriff „im-maculata“ (ital. „machiare“